Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen . Zum Gebrauche für Vorlesungen von Dr. Friederich Theodor Vischer, ordentlichem Professor der Aesthetik und deutschen Literatur an der Universität zu Tübingen. Zweiter Theil : Die Lehre vom Schönen in einseitiger Existenz oder vom Naturschönen und der Phantasie. Reutlingen und Leipzig. Carl Mäcken’s Verlag. 1848. Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen . Zum Gebrauche für Vorlesungen von Dr. Friederich Theodor Vischer, ordentlichem Professor der Aesthetik und deutschen Literatur an der Universität zu Tübingen. Zweiter Theil. Zweite Abtheilung. Die Lehre von der Phantasie. Reutlingen und Leipzig. Carl Mäcken’s Verlag. 1848. Inhaltsverzeichniß. Zweiter Theil. Das Schöne in einseitiger Existenz . Zweiter Abschnitt. Die subjective Existenz des Schönen oder die Phantasie . §§. Seite. A. Die Phantasie überhaupt . a. Die allgemeine Phantasie 379—383 299—314 b. Die besondere Phantasie. Grundbegriff 384 315 α . Die Anschauung 385—386 315—320 β . Die Einbildungskraft 387—391 320—334 γ . Die eigentliche Phantasie . Die vorausgesetzte Persönlichkeit 392 335—338 Das Vorfinden des Naturschönen 393 338—344 Die Stimmung, Begeisterung 394—395 344—347 Die reine Formbildung 396—397 347—357 Das Ideal 398—399 357—370 c. Die Phantasie des Einzelnen. α . Die Arten . Eintheilungsgrund 401 370—371 Schön, erhaben, komisch 402 371—373 Landschaftlich, thierisch, menschlich 403 373—378 Bildend, empfindend, dichtend 404—405 378—384 Abartungen und Ausartungen 406 384—387 Die Verbindung im Individuum 407 387—388 β . Das Maaß . Grundbegriff 408 388 Das Talent 409 388—391 Das fragmentarische Genie 410 391—393 Das Genie 411—413 393—397 γ . Die Verbindung der Arten und des Maaßes 414—415 397—402 §§. Seite. B. Die Geschichte der Phantasie oder des Ideals . Verhältniß der allgemeinen und besondern Phantasie 416—424 403—414 a. Das Ideal der objectiven Phantasie des Alterthums. Grundbegriff 425 414—416 α . Die vorbereitende symbolische Phantasie des Morgenlandes . Dualismus. Symbol, Mythus, Sage 426—429 416—427 Verhältniß zu den Arten der Phantasie 430 427—432 Indier, Perser 431 432—436 Semiten, Aegyptier 432 436—440 Juden 433 440—445 β . Mitte: das classische Ideal der griechi- schen Phantasie . Aufhebung des Dualismus, Mythus, Sage 434—436 446—456 Verhältniß zu den Arten der Phantasie 437—441 456—465 γ . Ausgang: die römische Phantasie 442—446 466—473 Die Allegorie 444 467—471 b. Das Ideal der phantastischen Subjectivität oder die romantische Phantasie des Mittel- alters. Grundbegriff 447—450 473—479 Verhältniß zu den Arten der Phantasie 451—458 479—489 α . Vorstufe 459—460 490—492 β . Mitte Die Frucht der Verschmelzung der Volksgeister 461 493—495 Religiöser und weltlicher Sagenkreis 462 495—496 Die romanischen Völker und die Deutschen 463 496—497 γ . Ausgang 464—465 497—500 c. Das moderne Ideal oder die Phantasie der wahrhaft freien und mit der Objectivität ver- söhnten Subjectivität. Auflösung der zweiten Stoffwelt 466—469 500—506 α . Vorstufe 470—475 506—512 β . Mitte . Die Franzosen, die Classicität 476 512—513 Die Deutschen, die Sentimentalität 477 513—514 Naturalismus, Genialität 478 514—515 Reine Classicität, Humor 479—480 515—516 Romantik, Zerrissenheit, Blasirtheit 481 516—520 Die neue Aufgabe, Anfänge 482—484 520—524 Zweiter Abschnitt. Die subjective Existenz des Schönen oder die Phantasie. A. Die Phantasie überhaupt. a. Die allgemeine Phantasie . § 379. Dadurch, daß die Schönheit auch auf dem Schauplatze, wo sie am meisten verbürgt scheint, in einem so unstäten Verhältnisse zu den Zwecken der geschicht- lichen Bewegung steht, drängt sich die innere Haltlosigkeit dieser ganzen Exi- stenzform des Schönen jeder Beobachtung auf. Ueberhaupt aber leuchtet zunächst ein, daß die in §. 234 vorausgesetzte Gunst des Zufalls selten und, während die unmittelbare Lebendigkeit der Vorzug alles Naturschönen bleiben wird, eben durch diese höchst flüchtig ist, was darin seinen Grund hat, daß alles Naturschöne als solches nicht gewollt ist, sondern sich nur mitergiebt, während die allgemeinen Lebenszwecke verfolgt werden. Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 20 Zuerst eine vorläufige Bemerkung über die Aufschriften. „Die Phan- tasie überhaupt“: diese Bezeichnung unterscheidet den Inhalt dieser ersten Abtheilung des zweiten Abschnitts von der Geschichte der Phantasie (oder des Ideals), welche den Inhalt der zweiten bildet; ebenso handelte die Abtheilung von der menschlichen Schönheit zuerst von derselben überhaupt, dann von der concreten Versammlung und Bewegung aller ihrer Formen in der Geschichte. Als Unterabtheilung folgt dann: die allgemeine Phan- tasie. Darunter verstehen wir die Phantasie als Gabe der Menschheit, der Völker überhaupt, welche zwar natürlich einer Entwicklung und Bildung bedarf, aber von der besonderen Begabung oder Fähigkeit, das Schöne schöpferisch hervorzubringen, noch wohl zu unterscheiden ist. Man kann diese Phantasie die passive nennen; sie ist ein Sinn, das Schöne zu fin- den, aber nicht zu erzeugen. Allerdings ist auch dieses Finden, wie wir nun eben darzuthun haben, ein Erzeugen und nimmermehr blos passiv, aber verglichen mit der Phantasie des spezifisch begabten Subjects doch ein bloßes Aufnehmen. Sie enthält Alles auch in sich, was die Phantasie als besondere Gabe Einzelner enthält, aber in stumpferer und ungesammelter Weise, und ebendaher freilich auch nicht alle Momente in gleichem Maaße, daher wir auch in dieser Abtheilung diese Momente noch nicht zergliedern. Es ist durchaus nothwendig, diese allgemeine Form der Phantasie voran- zuschicken, welche das Schöne nur gelegentlich anschaut, wo und wann es gegeben ist, in welcher die Acte, die zur freien Erzeugung des Schönen gehören, noch nicht in klarer Scheidung hervortreten, diese Gabe, das Ur- bild der Dinge im Bilde zu schauen, die dem Menschengeschlechte gemein- sam ist, weil es selbst in der Mitte und dem Schooße des Alls wurzelt und daher einen Blick hat in das Centrum des Lebens, diesen „tief ver- borgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen Grund der Einhelligkeit in Beurtheilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden“ (Kant Krit. d. ästh. Urtheilskraft §. 17). Sobald man nämlich sich darauf einläßt, die Phantasie in ihrem ganzen Thun als besondere Gabe zu zer- gliedern, so bewegt man sich von der Anschauung auf geradem Wege bis zum Ideal, welches dann weiter fort zu seiner Verwirklichung in der Kunst drängt; man verläßt also Schritt für Schritt den Punkt, wo die Natur angeschaut wird, als wäre das Schöne in ihr wirklich gegeben. Ist das Ideal fertig, so ist keine Täuschung darüber mehr möglich, wo es zu su- chen sey. Dagegen die Phantasie als allgemeine Gabe bringt es nicht zum vollendeten (inneren) Ideale und bleibt dabey stehen, das Schöne in die Natur hineinzuschauen; ebendieß aber ist es ja, was die Lehre von der Phantasie zuerst zu erklären hat. Es liegt darin eine petitio principii: wir sehen Schönes in der Natur wesentlich vermittelst des Ideals, das wir zur Anschauung mitbringen, und: wir erzeugen das Ideal erst im Anschauen eines gegebenen Gegenstandes, den wir unbewußt zum schönen umbilden; wir finden das Schöne und wir tragen es in uns. Diese petitio principii nun ist erst dann ein unmöglicher Widerspruch, wenn von dem ganzen und vollen Ideale die Rede ist, das sich freilich nicht mehr mit einem in der Natur gegebenen Objecte verwechseln läßt; das noch un- reife Ideal aber, dessen Grenzlinien nicht zur klaren Scheidung gelangen, erzeugt sich je bei Gelegenheit in einer Wechselwirkung zwischen Finden und Schaffen; die Möglichkeit desselben liegt im Subjecte des Anschauen- den, die Anschauung befruchtet sie und in einem ungeschiedenen Acte legt sich das Subject mit seinem Innern in den Gegenstand, den es mit dem Urbilde verwechselt. Die Phantasie als besondere Gabe kehrt natürlich auf diesen allgemeinen Boden der dunkleren Verschlingung des Urbilds mit vorgefundenen Objecten, wovon auch sie ausgeht, zurück, wenn sie gelegentlich Naturschönes einfach genießt, aber ihr eigentliches Thun erhebt sich darüber in das freie, bewußte Schaffen. Die erste Aufgabe nun ist die Auflösung des Naturschönen. Absicht- lich wird hier empirisch begonnen und im gegenwärtigen §. Solches gesagt, was freilich obenhin Jeder weiß, was aber als Resultat und als wirk- liche Erfahrung etwas Anderes ist. Wir kommen von der drückenden Be- obachtung her, daß es eine Linie der Civilisation gibt, welche zur Linie der Schönheit gerade im umgekehrten Verhältnisse steht. Zwar ist es nicht die ächte Menschenbildung, welche alle anschauliche Fälle des Daseins ab- streift, aber Jahrhunderte sind mit jener halben und auflösenden, welche als Uebergangsform allerdings auch nothwendig ist, vollauf beschäftigt. Die Silberblicke des Schönen in der Geschichte sind daher wirklich selten, und so sind sie es in der ganzen Welt des Naturschönen. Raphael klagt in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di belle donne uud nicht alle Tage findet sich in Rom ein Modell wie die Vittoria von Albano zur Zeit Rumohrs. „Das letzte Product der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben “ u. s. w. (Göthe: Winkelmann). Jedes Lebende hat unzählige Feinde. Der Kampf mit ihnen kann erhaben oder komisch seyn; aber der Zufall, wo sich in der gegebenen Einheit der vorliegenden An- schauung das Häßliche in dieses oder jenes aufhebt, ist ebenfalls selten. Wir stehen im Leben und seinem unendlichen Zusammenhang. Das Na- turschöne ist daher wesentlich lebendig , und es wird dadurch auch nach seiner Auflösung in eine vermittelte, gesicherte Form seinen Werth behaup- ten, aber es wird in jenem Zusammenhang von allen Seiten gestoßen und gerieben, denn die Natur sorgt für Alles zugleich und ist auf Erhaltung, aber nicht auf Schönheit als solche bedacht. Im Schönen stellt eine ein- 20* zelne Erscheinung zunächst ihre Gattung und durch diese das Ganze der absoluten Idee dar. Sie tritt dadurch aus dem unendlichen Zusammen- hang heraus, ist ein Ausschnitt derselben, der jetzt für das Ganze gilt. Im breiten, großen Zusammenhange des unendlich ausgedehnten Ganzen selbst scheint es zunächst, als ob in seltenen Fällen ein Einzelnes die Feinde, die sich auf seine Kosten erhalten wollen, den Druck der Gesammt-Ab- hängigkeit so abschütteln könne, daß es für alle Andern stehe, die Fülle des Alls in sich zeige, demnach wirklich schön sey. Diesen Schein nun engen wir jetzt zunächst nur auf einen immer kleineren Punkt ein. Sorgt die Natur für Erhaltung und nicht für Schönheit als solche, so liegt ihr auch nichts daran, das seltene Schöne, dem sie Dasein gönnt, festzuhalten; das Leben geht weiter und fragt nicht nach dem Untergang der Gestalt oder erhält sie nur nothdürftig. „Die Natur arbeitet auf Leben und Dasein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geschöpfes, unbekümmert, ob es schön oder häßlich erscheine. Eine Gestalt, die von Geburt an schön zu sein bestimmt war, kann durch irgend einen Zufall in Einem Theile ver- letzt werden; sogleich leiden andere Theile mit. Denn nun braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wieder herzustellen und so wird den übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus gestört wer- den muß. Das Geschöpf wird nicht mehr, was es sein sollte, sondern was es sein kann.“ (Göthe zu Diderot). Merklicher oder unmerklicher gehen die Verletzungen fort, bis das Ganze aufgerieben ist. Rasche Ver- gänglichkeit ist die Klage, die alles Naturschöne umschwebt. Nicht nur die schöne Beleuchtung einer Landschaft, auch die Blüthe des organischen Le- bens ist ein Moment. „Genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.“ „Nur äußerst kurze Zeit kann der menschliche Körper schön genannt werden. Der Au- genblick der Pubertät ist für beide Geschlechter der Augenblick, in welchem die Gestalt der höchsten Schönheit fähig ist; aber man darf wohl sagen: es ist nur ein Augenblick!“ u. s. w. (Göthe: Winkelmann und zu Diderot). Und von diesem Augenblick sagt Schelling (Rede über d. Verh. d. bild. K. z. Natur), in ihm sei der naturschöne Gegenstand das, was er in der ganzen Ewigkeit sei. Die menschliche Schönheit ist aber weiter zu fassen; aus der verwelkten Jugendblüthe erhebt sich die höhere Schönheit des Charakters, der in seinen physiognomischen Zügen und seinen Handlungen vor die Anschauung tritt. Allein auch diese Schönheit ist flüchtig; denn dem Charakter ist es um den sittlichen Zweck und nicht darum zu thun, wie seine Gestalt und Bewegung dabei aussieht. Dieß ist schon in §. 237 ausgesprochen, dort aber nur, um zu zeigen, warum die sittlich menschliche Menschheit zum Naturschönen gehört; jetzt ziehen wir die Folge da- raus zur Auflösung des Naturschönen, die wir allerdings vorerst nur als Flüchtigkeit fassen. Bald ist die Persönlichkeit vom vollen Bewußtsein ihres sittlichen Zweckes erfüllt, erscheint ganz als sie selbst und ist schön im tiefsten Sinne des Worts; bald aber treibt sie etwas, was nur mittel- bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge- halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt, wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck verschüttet liegt. So ist es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten, mögen sie dem sittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles an diesem Pferde, die Ohren sind gespitzt, der Hals richtet sich auf und biegt sich schlank, wie belebter Stahl, die Nüster schnauben, die Augen sprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im nächsten Augenblick läßt es Alles hängen. Diese Gruppe kämpfender Krieger bewegt und baut sich, als wäre sie vom flammenden Kriegsgott befeuert, aber im nächsten Augenblicke ist sie zerstoben oder werden die Bewegungen unschön, rafft fernes Geschoß den Muthigsten weg. Diese Krieger sind ja kein tableau vivant ; sie stehen nicht unserem Auge Modell, was sie wollen, ist der Kampf, nicht seine Erscheinung. So sehr ist das Nichtgewolltsein Wesen des Naturschönen, daß nichts widerlicher ist, als wenn in seiner Sphäre eine Absicht auf das Schöne als solches sichtbar ist. Schönheit, die von sich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel einstudirt ist, ist eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im Sein ist das Gegentheil der wahren Grazie und es wird sich zeigen, daß in der Kunst, welche umgekehrt das Schöne mit Absicht hervorbringt, diese Unabsichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne sich fortbehaupten muß: als Ausdruck der Unabsichtlichkeit eben im dargestellten Gegenstande, denn dieser verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm ansieht, daß er auch vor und außer diesem Verhältniß zum Zuschauer es auf diese Wirkung berech- net habe und um sich wisse; ferner als Unabsichtlichkeit in der Absicht des Künstlers selbst, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwissen um sich ist so sehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturschönen, daß in der Sphäre, wo Bewußtsein ist, das Schöne in dem Momente zu Grund geht, wo es gesehen wird, wo man ihm sagt, daß es schön sei, wo es sich im Spiegel sieht. Sobald die Naturvölker von der modernen Civilisation entdeckt werden, ist es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks- lieder verschwinden, wenn man sie sammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit nicht so schön vor, wie der kokette Frack des Malers, der sie um jene beneidet und gekommen ist, sie zu studiren; nimmt die Civilisation sie auf und sucht sie zu befestigen, z. B. als Uniform, wie die ungarische, bergschottische Tracht, so nützt das nichts, sie ist bereits Maske geworden und das Volk selbst gibt sie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der Anrede u. s. w. geht ebenso zu Grunde oder dauert als widerliche Affectation fort. §. 380. 1 Allein die Gunst des Zufalls ist nicht nur selten und flüchtig, sie ist überhaupt nur relativ: der trübende Zufall (§. 40) ist, sobald hinter das Ver- klärende, was durch Ferne des Raums und der Zeit schon in der gewöhnlichen Wahrnehmung liegt, zurückgegangen und die Sache genauer besehen wird, nur in größerem Maaße überwunden; er wirft nicht blos in eine scheinbar schöne Zusam- menstellung mehrerer Gegenstände, unwissend um die Schönheit des Ganzen, das Störende, sondern er erstreckt sich auch auf den einzelnen begünstigten Ge- genstand und es verbirgt sich nicht, daß er in Wahrheit allgemein herrscht, 2 Daß es sich aber zuerst verbarg, dieß muß seinen Grund in einer zweiten. Gunst des Zufalls haben, nämlich in der glücklichen Stimmung, wodurch das Subject fähig war, den Gegenstand unter den Gesichtspunkt der reinen Form (§. 54. 55. 75) zu rücken. Zunächst ruft der Gegenstand selbst durch die obwohl nur relative Reinheit vom störenden Zufall diese Stimmung hervor. 1. Wir fahren in der Auflösung des Naturschönen rein empirisch fort, denn wir haben nur einen Schein aufzuheben, dessen Grund wo anders liegt. Das Naturschöne darf man nur näher ansehen, um sich zu überzeugen, daß es nicht wahrhaft schön ist; es liegt am Tage, daß wir uns eine offenbare Wahrheit bisher nur verborgen haben. Diese Wahrheit ist, daß der störende Zufall nothwendig überall herrscht. Nicht wir haben zu beweisen, daß er durchgängig über Alles sich erstreckt, sondern nur das Gegentheil wäre zu beweisen, daß und wie nämlich im unend- lichen Zusammensein der Dinge irgend eines sich den Störungen, Bedürf- tigkeiten, Verletzungen, all’ der Noth und Abhängigkeit des Lebens entziehen könne. Zu erforschen ist nur, woher denn dann der Schein komme, als ob Einiges davon eine Ausnahme mache, und dieses werden wir im Ver- laufe leisten. Diese Aufzeigung muß eine subjective sein, sie muß den Grund im Geiste aufsuchen, sie muß darthun, warum und nach welchem Gesetze dieser der frei erzeugten Schönheit den Schein einer ersten, unmittelbaren, vorgefundenen, voranschickt. Zunächst also ist nur einfach aufzuzeigen, daß dieß bloßer Schein ist. Einige schöne Gegenstände sind Einheit und Zusammenordnung mehrerer, und da wird sich bei genauerer Betrachtung immer finden, zuerst, daß wir diese Gegenstände in solcher Zusammenstellung nur sehen, weil wir einen bestimmten Standpunkt zu- fällig eingenommen oder unbewußt (denn von eigentlich künstlerischer Absicht ist noch nicht die Rede) gesucht haben. So namentlich die Land- schaft. Diese Flächen, Berge, Bäume wissen nichts von einander, es kann ihnen nicht einfallen, sich zu einem wohlgefälligen Ganzen vereinigen zu wollen: in dieser Verschiebung, diesen sich zusammenbauenden Umrißen und Farben sehen wir sie nur, weil wir hier und nicht wo anders stehen. Aber auch so werden wir da einen Busch, dort einen Hügel finden, der diese Zusammenstellung stört, dort wird eine Erhöhung, ein Schatten feh- len und wir werden uns gestehen müssen, daß ein inneres Auge heimlich thätig war, umzustellen, zu ergänzen, nachzuhelfen. Ebenso in einer Handlung mehrerer belebter Wesen. Eine Scene ist vielleicht voll Be- deutung und Ausdruck, allein die Gruppen, die wesentlich zusammen ge- hören, sind über trennende Räume zerstreut; dasselbe innere Auge über- springt diese, stellt zusammen, was zusammen-, stößt aus, was nicht hineingehört. Andere schöne Gegenstände sind einzeln; da verzichten wir auf Schönheit der Umgebung, wir lassen sie schon im Anschauen weg, wir vollziehen einen Act, wodurch wir sie von jener abheben, wie von einer Wand, einem Hintergrund, und zwar zunächst ohne Bewußtsein und Ab- sicht; tritt ein schönes Weib in eine Gesellschaft, so fallen aller Augen mit Erstaunen auf sie, man sieht jetzt alle übrigen Personen und Gegen- stände nicht oder nur als ihre Folie. Allein nun müssen wir den einzelnen Gegenstand näher ansehen und zwar sowohl im letzteren Falle, wo er allein Object der Schönheit ist, als auch im ersteren, wo wir mehrere zusammen als schön anschauen. Da wird sich denn an der Oberfläche des einzelnen Gegenstandes dieselbe Erfahrung wiederholen, wie dort, wo mehrere vereinigt den Gegenstand bilden: zwischen schönen Theilen werden sich unschöne finden und zwar an jedem, auch dem scheinbar schön- sten Gegenstande. Glücklicher Weise ist unser Auge kein Mikroskop, schon das gemeine Sehen idealisirt, sonst würden die Blattläuse am Baum, der Schmutz und die Infusorien im reinsten Wasser, die Unreinheiten der zartesten menschlichen Haut uns jeden Reiz zerstören. Wir sehen nur bei einem gewissen Grad von Entfernung . Die Ferne aber ist es eben, welche schon an sich idealisirt; nicht nur das Unreine der Oberfläche ver- schwindet durch sie, sondern überhaupt die Einzelnheiten der Zusammen- setzung des Körpers, wodurch er in die irdische Schwere fällt, die gemeine Deutlichkeit, welche die Sandkörner zählt; so übernimmt schon die Operation des Anschauens an sich einen Theil jener Ablösung und Erhebung in die reine Form (§. 54. 55). Wie die Raumferne, so wirkt die Zeitferne; Geschichte und Gedächtniß überliefern uns nicht alle Einzelnheiten eines großen Vorganges oder Mannes; wir erfahren nicht alle schleppenden Vermittlungen und nicht alle Schwächen, kleinen Nebenmotive der großen Erscheinung, nicht was Alles vorausgehen muß bei einer großen Schlacht, die Waffen- und Munitionsbestellung u. s. w., nicht, wie groß Menschen zwischen dem Großen, was sie thaten, mit Aus- und Ankleiden Essen, Trinken, Katarrh u. s. w. Zeit verloren. Dieß Verdämmern des Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demselben drängen sich der irgend aufmerksameren Betrachtung auch am scheinbar schönsten Ge- genstande sehr sichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf. Wären also z. B. an einer menschlichen Gestalt auch alle die störenden Zufällig- keiten der Oberfläche nicht, die zu einem guten Theile schon im einfachen Sehen das Auge verzehrt, so drängt sich doch in den Grundformen irgend eine Verletzung des Verhältnisses überall auf. Man sehe nur ein Gyps- modell über die Natur abgezogen, ganze Figur oder Maske, so wird dieß schlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abh. zu s. ital. Forschungen bei aller Feinheit des praktischen Kunstsinns eine ungemeine Verwirrung in allen hieher gehörigen Begriffen angerichtet; wir haben soweit auf die Sache einzugehen, als wir hier die einfachen Bestimmungen entwickeln, durch welche sich der Streit über Naturnachahmung selber lösen soll. Rumohr will den falschen Idealismus der Kunst, welcher die Natur in ihren reinen und bleibenden Formen verbessern will, in seiner Nichtig- keit aufweisen. Gegen ihn führt er mit vollem Rechte und ächter Wärme des Naturgefühls aus, daß die Kunst die unveränderlichen Naturformen nicht verrücken dürfe, daß diese nothwendig und schlechthin für sie gegeben seien, daß verfehlte Formen, Abweichungen von den Naturgesetzen jeder- zeit als etwas „Ungethümliches, Leeres oder Schauderhaftes“ erscheinen. Allein nun fragt es sich erst, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung natürlich vorausgesetzt, sich in der Natur auch wirklich in reiner Ausbildung vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müsse nur wohl unterscheiden, was Natur sei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht das einzelne Modell sei die Natur, sondern die Gesammtheit der lebendigen Formen, die „Gesammtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft selbst.“ An sie müsse sich der Künstler mit absichtsloser Wärme hingeben und unabhängig von einzelnen Vorbildern immer umherschauen. Ganz gut, und eben diese „Gesammtheit“ ist die Idee der Natur; in dieser Idee, als dem Ganzen, ist die Idee des einzelnen Naturwesens, wie es zeitlos und mangellos lebt, eingeschlossen, und so vermittelst der Idee des Ganzen in die einzelne Erscheinung ihr wahres Urbild, ungetrübt von den Störungen der Einzelnheit, Hinein- oder aus ihr Heraus-Schauen: dieß ist es, was der wahre, der ächte Idealismus verlangt. Dieser „ver- bessert“ die Natur nicht in dem verwerflichen Sinn, den Rumohr mit diesem Worte verbindet; oder er verbessert sie nur mit sich selbst, er appellirt von der getrübten Natur an die ewige Natur und bringt so „die Typen der Natur in ihrem ursprünglichen und eigenen Sinne in Anwendung.“ Soweit könnte man Alles für Wortstreit, Rumohrs Widerwillen gegen das Wort Ideal und selbst Schönheit für das begreifliche Gefühl des ächten Natursinns gegen den falschen Idealismus der Manieristen erklären, welcher „willkührliche, aus der Luft gegriffene, der Natur im Einzelnen entgegengesetzte Formen hervorzubringen sucht und an den Werken des größten und ältesten Meisters en ronde bosse und basso rilievo Altflickerei treibt.“ Allein Rumohr widerspricht sich selbst und geräth in Vorstellungen, aus welchen man geradezu den Naturalismus, den er doch wie jenen Idealismus verfolgt, ableiten könnte. Sein Satz, daß „schon die Natur durch ihre Gestalten Alles unübertrefflich ausdrücke,“ wird nämlich ganz gefährlich, wenn er gegen die obige Unterscheidung geradezu auch auf die einzelne Erscheinung angewandt, wenn behauptet wird, es gebe voll- kommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano, welche eine Frei- frau von Rheden nach Rom brachte, „alle Kunstwerke Roms übertroffen, den nachbildenden Künstlern durchaus unerreichbar geblieben sein soll.“ Darauf ließen wir es ohne Furcht ankommen, daß keiner der Künstler, welche dieses Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie er sie fand, denn diese Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt. Das Individuum kann nicht absolut sein, wehr brauchen wir nicht zu wissen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen gewesen, so war Blut, Wärme, Gährung des wirklichen Lebens mit all’ den trüben- den Einzelnheiten, die sie nothwendig auf der Oberfläche absetzen, hin- reichend, sie unendlich hinter die hohen Kunstwerke zu setzen, welche nur scheinbar Blut, Wärme, Hautleben u. s. w. haben. Wenn hier Rumohr nicht weiß, daß er naturalistisch spricht, so steht er dagegen in andern Wendungen ganz auf der Seite eines falschen Idealismus, wovon anderswo zu sprechen ist. 2. Es liegt also ein Gegenstand vor, der zu den seltenen Erschei- nungen der Schönheit gehört. Dieser Gegenstand ist, wie die nähere Be- trachtung zeigt, nicht wahrhaft schön, sondern nur dem Schönen näher, vom störenden Zufall freier, als andere. Das Reinigende, was schon in der Opera- tion des sinnlichen Anschauens liegt, kommt ihm zu gute, aber dieß kommt ebenso allen Erscheinungen, auch den gewöhnlichen, zu gute. Es ist daher bereits klar, daß auch eine Gunst des Zufalls im Subjecte eintreten müsse, um die wichtigere Hälfte, welche jene durch die Sinne nur halb und un- vollständig vollzogene Verklärung übrig gelassen, zu übernehmen. Nennen wir dieß zunächst ein Glück der Stimmung. Der Zuschauer findet sich in die Freiheit des Gemüths versetzt, den Gegenstand als reine Form zu betrachten und vom pathologischen Interesse (§. 75) sich loszusagen. Es fragt sich, ob diese Gunst der Stimmung aus anderweitig im Subject liegenden Ursachen eintreten könne und dann, wenn relativ Schönes dem so Gestimmten begegnet, diesem nachhelfe und es zum wahrhaft Schönen erhebe, oder ob dieser subjective Zufall aus dem objectiven folge, d. h. ob es die mächtige Wirkung des Gegenstandes sei, welcher durch das Maaß der Bedingungen der Schönheit, das er jedenfalls wirklich hat, uns so erhebe, daß wir, was ihm noch fehlt, in der Freude des Schauens ergänzen. Für Jenes spricht die Thatsache daß dem schlecht Gestimmten Alles häßlich scheint; für Dieses die andere, daß eine schöne Natur-Er- scheinung auch den Verstimmten umzustimmen fähig ist. Allein das Dilemma löst sich einfach so: ist die zweite Thatsache wahr, so ist die erste aus Ursachen zu erkären, um die sich die Aesthetik nicht zu kümmern hat, denn eine Fähigkeit des Gemüths, sich dem Schönen auch bei vor- handener Verstimmung zu öffnen, muß und darf sie ebenso gut vor- aussetzen, als wir voraussetzen, daß die Zunge nicht belegt sei, wenn wir Jemand sagen, er werde einen Trank süß finden. Eine völlige Lähmung des freien Sinns mag möglich sein, geht uns aber nichts an. Wir dürfen jedoch die erste Thatsache nicht blos negativ ausdrücken; es liegt auch der positive Fall vor, daß das Subject zu einem (relativ) schönen Gegenstande die freie Stimmung, die ihn zum wahrhaft schönen erhebt, schon mitbringt; diese Stimmung wird aber einem schon früher geschauten schönen Gegenstande ihren Ursprung verdanken. Dieß müssen wir annehmen, denn nicht jede gute Stimmung, sondern die spezifisch ästhetische ist es, wovon wir reden. Zustand des Sinnenglücks, moralische Erhebung, Erkenntnißfreude ist es gar nicht, was uns zur Aufnahme des Schönen, wo es begegnet, unmittelbar stimmt; im Gegentheil muß dann das begegnende Schöne erst auf uns wirken, um uns aus jener fremd- artigen Erhebung in die eigenthümliche ästhetische herüberzuziehen. Der Geist kann sich aus freiem Entschluß auf das Gute, auf das Wahre richten; um sich aber in die ästhetische Stimmung zu wenden, dazu braucht er einen Anstoß in einem Vorgefundenen, darum weil Sinnlichkeit und Zufälligkeit das Element dieses Gebiets ist. Es ist von der größten Wichtigkeit, festzuhalten, daß es einen schönen Gegenstand braucht, uns in die Stimmung versetzen, die denselben über das relative Maaß des Schönen, das ihm eigen ist, in das volle erhebt. Die ganze weitere Entwicklung gründet sich darauf. Wir gerathen ohne diese Erkenntniß nothwendig in falschen Idealismus, denn wir müssen ohne sie so fort- fahren: das Subject ist ästhetisch gestimmt und ergreift nun irgend einen Gegenstand, um ihn in die Schönheit zu erheben. Dann bringen wir das Subject und Object nicht zusammen; jenes wird seine ästhetische Stimmung in irgend einen Gegenstand legen, der nun ganz anderer Art und andern Gehalts sein kann, als jene Stimmung; daraus folgt ein äußerliches Verhältniß zwischen Gehalt und Bild, Allegorie und ihr ganzes Gefolge. Nein: dieser Gegenstand hat mich berührt und diesen verkläre ich durch meine Stimmung zur vollen Schönheit. Ist dieß ge- schehen, so ist diese Form der Stimmung zu Ende, die Erregbarkeit dauert aber fort. Dieß kommt einem neuen Gegenstande, der mir begegnet, zu gute, aber auch dieser muß mir ein (relatives) Maaß des Schönen entgegenbringen, die Stimmung ergreift auch ihn, verklärt ihn, aber wieder nur in seiner Weise, seiner Natur gemäß, und so befinden sich freilich oft Dichter und Künstler in einer Periode besonders glücklicher Stimmung, die in sprudelnder Ergiebigkeit eine Reihe von Gegenständen erfaßt und zur Schönheit bildet. Also ein Naturschönes ergreift das Subject, weckt die Stimmung in ihm und diese Stimmung macht freilich mehr aus dem Gegenstande, als er an sich ist; der Anfang ist objectiv, der Fortgang subjectiv; das Naturschöne ist nicht wahrhaft schön, aber es muß da sein , um im Subjecte das zu wecken, was wahre Schönheit schafft; so erhält es sich schlechtweg in seiner Auflösung und es wird bereits klar, warum wir den Schein, als gebe es in der Natur wahrhaft Schönes, so lange bestehen ließen. Das Subject ist ein Spiegel, der schaffend den Gegenstand in neuer Schönheit zurückgiebt, aber es muß einen Ge- genstand haben, es vollzieht diese Spieglung nur, wenn es von der Täuschung anfängt, der Gegenstand selbst sei so schön, wie das Spiegel- bild, und diese Täuschung muß — hier stehen wir zunächst noch — soweit im Object Grund haben, als dieses wirklich ungleich reiner ist vom trübenden Zufall, als der übrige Umkreis der Anschauung. §. 381. So lange jedoch die subjective Stimmung nur erste Wirkung des objecti- 1 ven Zufalls ist, wird sie ebensowenig rein sein, als der Gegenstand wirklich vollkommen ist, vielmehr (insbesondere im Komischen) mit Stoffartigem sich vermischen. Soll sie wirklich rein und frei den Gegenstand ergreifen und ver- 2 klären, so muß vielmehr dieser bereits etwas im Subjecte geweckt haben, was über jedes einzelne Object als ein freier, obwohl durch dieses in Thätigkeit gesetzter Act unendlich hinausgeht, und dieser Act muß ein inneres Bild des Gegenstandes schaffen, welches wirklich reine Form ist, in den Gegenstand hin- eingelegt wird, mit ihm verschmilzt. 1. Der Gegenstand ist also in Wahrheit nicht frei von den trübenden Einwirkungen des Zusammenseins seiner Gattung mit allen andern Gat- tungen in Einem Raum und Einer Zeit. So lange nun die Stimmung des Anschauenden sein einfacher Reflex ist, kann sie ebensowenig rein und frei sein; denn das Subject steht ebenso wie der Gegenstand im Ge- dränge des Einzelnen und bringt in dieser Abhängigkeit jeden Gegenstand in die Beziehung des Interesse’s, verhält sich also pathologisch. In dem Grade zwar, in welchem der Gegenstand sich über das Umgebende erhebt, wird auch die Stimmung verhältnißmäßig frei sein, aber keineswegs ganz: es ist hier die Sphäre der halb ästhetischen, halb stoffartigen, persönlichen, leidenschaftlichen Beziehungen, wie z. B. bei dem Anblick weiblicher Schön- heit, welcher dem lebendigen Weibe gegenüber nie ganz frei von sinnlichem oder überhaupt individuellem Wunsche ist, oder bei einem Schauspiel sitt- licher Handlung, wo die Unruhe der Privatleidenschaft, der Tendenz, der Standpunkt des Sollens, der Wunsch, Theil zu nehmen und zu verändern, sich stets in die reine Beschauung einmischt, statt daß wir den Gegenstand uns frei gegenüberstellen. Stoffartig ist ja auch das sittliche Interesse vergl. §. 76. Insbesondere ist es das Komische, was in diesem Stadium sich breit ausdehnt und stoffartige Einmischungen festhält, aus welchen eine ganze Reihe von Formen anhängender Schönheit hervorgeht, welche dann gemischte Kunstzweige begründen. Zu §. 227 wurde dieser Punkt vorläufig berührt. Es handelt sich hier um den großen Unterschied von Lachen und Verlachen oder Auslachen (vergl. auch Lessing Hamb. Dram. Nr. 28). Das Verlachen ist ein Lachen, wobei der Zuschauer nicht sich selbst in den Widerspruch als einen allgemeinen miteinschließt, sondern sein Ich zurückbehält, sei es egoistisch aus und mit Schadenfreude, sei es moralisch mit dem Stachel des Hasses gegen das Verkehrte, wobei aber ein Zug von Egoismus ebenfalls im Hintergrunde sitzt. Welche Form des Witzes in der Darstellung dieser Stimmung angewandt werden mag, es wird durch dieses stoffartige Verhalten jede zum Spott , der sich bis zum Hohn steigern kann. Als feine Zerreibung (Durchhechlung) einer einzelnen Persönlichkeit heißt der Spott Persiflage: eine Form, die wir daher nicht wie Ruge unter denen der eigentlichen Komik aufführen konnten. In der Kunst werden wir diese stoffartige Komik als Karikatur und Satyre auftreten und ihren relativen Werth behaupten sehen. 2. Der Umwandlungsprozeß, der das Object aus dem trübenden Zusammenhang heraushebt und als absolutes Individuum, in welchem alle Kräfte der Gattung gesammelt sind, hinstellt, kann also nicht mehr bloßer Reflex des Gegenstandes sein, denn er ist activ und macht aus die- sem etwas, was es an sich nicht ist. Er kann eben daher nicht blos Stimmung, sondern muß ein Bilden sein und zwar ein inneres, das sich in den äußern Gegenstand legt und ihn umschafft, ohne noch das Geschaffene und das Empfangene zu scheiden. Dieses Thun ist schlechthin mehr, als Reflex des Gegenstandes, aber es setzt diesen voraus; wir müssen hier aber- mals diesen Anfang streng festhalten, wollen wir nicht in die Willkühr eines objectlosen Thuns gerathen. Die freieste Schöpfung kann aus einem bedeutungslosen Object nichts machen; das Object wird darum, weil es einer Umwandlung unterliegt, niemals gleichgültig; das innere Bilden kann nimmermehr aus Häßlichem einfach Schönes, sondern nur aus furcht- bar Häßlichem ein vollendetes furchtbar Häßliches, aus unschädlich Häß- lichem ein komisch Häßliches u. s. w. machen, es kann nur immer den Gegenstand innerhalb seiner eigenen und gegebenen Natur über sich selbst und das Störende, was ihm noch anhängt, erheben. Vergl. §. 236 Anm. 3. §. 382. Das Subject hat also die Fähigkeit, zugleich mit der Anschauung ein 1 Bild zu erzeugen, das vorher als Möglichkeit oder Urbild in ihm angelegt gewesen sein muß, durch den entsprechenden naturschönen Gegenstand im Innern zur Wirklichkeit gerufen wird und nun als inneres Richtmaaß diesen umbildet, das der Idee Gemäße in ihm erhöht und das Ungemäße ausscheidet, ihn zur reinen Schönheit erweitert und dem Geiste überhaupt als das Muster dient, durch das er Schönes und nicht Schönes unterscheidet. In Wahrheit ist dem- 2 nach das Subject der Schöpfer des Schönen und die gesammte Naturschönheit verhält sich zu dieser Schöpfung als Object in dem Sinne des Stoffs einer Thätigkeit, wodurch es in die § 233 geforderte Bestimmung eintritt. 1. Die Idealbildende Phantasie soll erst in der folgenden Unterabthei- lung in ihre Momente auseinandergesetzt werden, wo sie denn in bestimmterer Scheidung dem naturschönen Objecte gegenübertritt und wo die Frage nach dem Vor und Nach erst ihre Schärfe bekommt. Die allgemeine Phantasie tritt noch nicht vom Gegenstande zurück, um ihn in der Tiefe zu verarbeiten und in geheimem Schaffen als Ideal wiederzugeben, nur im Schauen selbst wächst ihr etwas im Innern, was sie als Correctiv des Naturschönen anwendet, zugleich aber diesem selbst leiht, so daß sie das Schöne unbefangen in den Gegenstand hineinschaut. Dieses Correctiv nennt der § Urbild; es wird nicht unzweckmäßig erscheinen, wenn wir diesen Aus- druck im Unterschiede von: Ideal hier so brauchen, daß er das unent- wickelte, noch erst virtualiter vorhandene reine Schauen bezeichnet. In Plato’s mythischem Ausdruck ist das innere Schauen des reinen Bildes der Dinge aus der Präexistenz angeboren und das wirkliche, obwohl nicht lautere, Schöne erinnert die Seele an dieß in einem früheren Daseyn Geschaute, ein freudiger Schrecken ergreift sie. Das Unrichtige an dieser Darstellung ist, daß das reine Schauen zum Voraus als etwas Fertiges, nur Vergessenes erscheint: derselbe Einwurf, der überhaupt die Lehre von den angebornen Ideen trifft. Schelling wiederholte im Bruno diese my- thische Vorstellung, sofern sie etwas Oertliches hat, nur das Zeitverhält- niß schied er aus; in Gott sind die zeitlos ewigen Urbilder der Dinge, unbedingte, mangellose, leuchtende Typen; in Gott ist aber auch der ewige Begriff des hervorbringenden künstlerischen Individuums und dieser sein Begriff ist in diesem ewigen Daseyn mit jenen reinen Urbildern „verknüpft“: je näher, desto vollkommener vermag es in den zeitlichen Abbildern der Dinge ihr zeitloses Urbild darzustellen. Ziehen wir das Mythische ab, was auch hier in der Raumvorstellung einer zweiten, idealen Welt liegt, und beschränken wir die Thätigkeit der Phantasie nicht auf den Künstler im engeren Sinne, so bleibt die Wahrheit, daß der menschliche Geist, in ursprünglicher und unzerstörbarer Einheit mit den Dingen wohnend, ihr Inneres muß ergreifen und als freie Möglichkeit über die Verneinungen, die ihnen die Reibung mit anderen aufdrückt, emporheben, erweitern können. Den vorzüglich Begabten werden wir durch diese Fähigkeit eine zweite innere Welt schaffen sehen, die allgemeine Phantasie aber ist nur je im gegebenen Falle thätig, an den Grenzen eines angeschauten Gegenstands, welche ihm Noth, Mangel, Abhängigkeit, Krankheit aufgedrückt, zu rütteln, zu rücken und zu schieben und so sein reines Bild in das gedrückte und getrübte hineinzuschauen. Sie muß dies vor dem Schauen des wirklichen Gegenstands gekonnt haben, aber das Bild selbst wird erst im Schauen fertig. Ich sehe z. B. einen Mann, der auf Schönheit angelegt war, durch Noth, Mangel, Krankheit entstellt ist, aber in der Entstellung noch Spuren genug der Schönheit zeigt, um sich vor andern Gestalten auszuzeichnen; diese Spuren ergreift mein Geist, knüpft an sie an, und von ihnen als einem Mittelpunkt herausarbeitend stößt er, was Mangel und Noth der Gestalt aufgedrückt hat, aus und vollendet so zu einem Ganzen, was in der geschauten Gestalt als Möglichkeit lag ünd nicht wirklich geworden ist: ich habe mir das reine Jugendbild des Mannes erzeugt. Vorher, ehe ich den Mann schaute, hatte ich dieses Bild nicht; aber ich stamme aus der Einheit des Lebens, woraus es stammt, und mitten in Zeit und Raum — nicht in einem zweiten Raum und nicht in einer mythischen Vorzeit meiner Seele — schaue ich dem Lebendigen, was in Raum und Zeit sich drückt, in’s Herz und führe die Lebensfülle, zu der es angelegt war, zeitlos und raumlos über die Beschränkungen hinaus, welche sie in diesem Druck er- litten. Ich kenne diese Lebensfülle, denn ich und mein Gegenstand sind im Universum Ein Wesen. Ich kann zwischen den Linien lesen. Es er- hellt also auch, daß es dieses innere Correctiv ist, vermöge dessen ich nicht nur das gefundene durch ein höheres Maaß von Bedingungen der Schön- heit Ausgezeichnete in das volle Maaß erhebe, sondern wodurch ich es überhaupt finde, von nicht Schönem unterscheide. Wie in der Wahrheit der Mensch das Maaß der Dinge ist, so in der Schönheit; nur wer hat, dem wird gegeben, die Wünschelruthe ist nur in uns. 2. Das Naturschöne ist jetzt nicht mehr Object blos im bisherigen Sinne des Gegebenen, Vorgefundenen, sondern dessen, worauf, woran ich thätig bin, so daß es mir ein Stoff ist, den ich umbildend zu dem erst schaffe, was er seyn soll: Object der Thätigkeit und durch dieselbe Ge- schöpf meines Thuns; nicht absolutes Geschöpf, denn etwas war gegeben, ich schaffe nicht aus dem Leeren, ich habe einen Stoff, einen sogar ge- formten Stoff, aber die Form ist noch roh, ich schaffe sie zur reinen Form um. Was Stoff hier bedeute, ist in der Anm. zu § 233 auseinanderge- setzt. Object in diesem Sinne nun ist wesentlich Werk des Subjects, dieses also als der Schöpfer des Schönen erkannt. „Indem der Künstler“ — (dieß kann man aber schon von der allgemeinen Phantasie aussagen) — „irgend einen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe“ (Göthe Einl. in die Propyläen). §. 383. Demnach kehrt sich die Ordnung des bisherigen Systems um und auch 1 im ersten Theile tritt der Inhalt der Lehre vom subjectiven Eindrucke des Schönen (§ 70 ff. §. 140 ff. § 223 ff.) dem Inhalte der Lehre vom Schönen selbst voran. Dieß veränderte Verhältniß begründet aber keineswegs eine wirk- 2 liche Umstellung, denn das Wesen des Schönen fordert schlechtweg, daß der Act, wodurch es entsteht, diesen ersten Schein, als ob nämlich das Schöne ein Vorgefundenes sey, zu seiner Grundlage behalte. 1. Vorher schien das Naturschöne, jetzt also wird das Schönheit erzeugende Subject das Erste, der zweite Abschnitt tritt vor den ersten, das Nacheinander des Schönen und seines subjectiven Eindrucks im ersten Theile dreht sich demnach ebenfalls um. Nur meine man nicht, es sei dieß in der Lehre vom subjectiven Eindruck des Schönen (Erhabenen, Komischen) schon da, wo von dem Mitbegriffensein des Subjects im Ob- jecte die Rede war, bereits ausgesprochen und nur die Consequenz ver- heimlicht worden (vergl. §. 70). Aus dem folgt die Umkehrung, was in §. 53—55 von der nothwendigen Zusammenziehung, dem reinen Schein, der reinen Form gesagt ist; was darin schon ausgesprochen war, daraus das Resultat zu ziehen wurde hinausgeschoben. Der andere Satz aber, daß im Schönen ein Subject überhaupt mitgesetzt sei, beließ die Art die- ses Mitgesetztseins einfach bei einem Aufnehmen, Zusammengehen des Subjects mit dem Object. Erst jetzt fassen wir diesen Satz mit jenen ersten Sätzen zusammen und erkennen, daß das scheinbare Aufnehmen darum kein bloßes Aufnehmen ist, weil es reine Form in das Object hineinschaut. Auch das Leihen, das Unterlegen menschlicher Stimmung, Gestalt in die ungeistige Natur durfte dort ausgesprochen werden, ohne die eigentliche Phantasie zu anticipiren, denn dieser Act findet ungeläutert auch vor und außer derselben Statt, die Phantasie läutert mit dem Stoffe diesen Act selbst. 2. Das Hinausschieben war, um es hier, am eigentlichen Orte, noch einmal streng auszusprechen, schlechtweg eine wissenschaftliche Noth- wendigkeit. Ehe ich das Subject einführe, muß es seinen Boden, Stoff, Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum stellen, daß es aus dem Blauen stofflose Bilder spinne. Es ist Schein, als sey das Schöne ein Gegebenes, aber dieser Schein ist das Erste, ist nothwendig. Dieser Schein heißt im § erster Schein. Das wahrhaft Schöne selbst nämlich ist Schein, reiner Schein (s. § 54. 55.); zuerst nun scheint es, als sey dieses Scheinwesen ein wirkliches, in der Natur ohne Zuthun des Subjects vorhandenes: dieß ist erster Schein oder Schein des Scheins. Das schaffende Subject bedarf dieses ersten Scheins, um den zweiten, den von der Phantasie frei geschaffenen Schein darauf zu bauen, daraus zu entwickeln. Man könnte nun wohl sagen, die Aesthetik könne auch so aus dem Subjecte construirt werden, in folgendem Gange nämlich: ausge- gangen wird von der Phantasie und zuerst in abstract allgemeinen Zügen ihr Werk, das Schöne, entwickelt, dann wird die subjective Nothwendigkeit abgeleitet, daß sie sich zuerst den Schein entgegentreten lasse, als sey das Schöne ohne sie in der Natur gegeben, hierauf dieser Schein aufgelöst und das freie Schaffen der Phantasie dargestellt. Allein so fällt immer der ganze unentbehrliche Theil aus dem Systeme weg, der die Reiche der Welt durchwandelt mit der Frage, wo und unter welchen Bedingungen in ihr das Schöne (das freilich nie schlechtweg schön ist) sich ausbildet; man kann dann nie ein Kunstwerk darauf ansehen, ob es einen günstigen oder ungünstigen Stoff behandle, denn jeder Stoff ist gleich. Wir haben seines Orts diesen Hauptpunkt noch einmal aufzufassen. Zunächst berufen wir uns überhaupt auf den Satz, daß in einem Systeme dasjenige, was die Wahrheit des Vorhergehenden ist, darum nicht vor dasselbe gestellt werden darf. Das Subject ist uns jetzt das Erste geworden, das naturschöne Object das Zweite, dem Werthe nach nämlich, denn der Zeit nach bleibt das Object das Erste, das Subject das Zweite. Das Werthverhältniß kehrt das Zeitverhältniß um; allein dieses bleibt immer das Vorausgesetzte und ist selbst ein Begriffs-Verhältniß, denn es liegt in der Sache, daß die Phantasie immer erst einen Stoff sich geben lasse. b. Die besondere Phantasie . §. 384. Diese Thätigkeit (§. 382) des reinen Schauens heißt Phantasie . Das wahre Wesen derselben ist jedoch erst da wirklich, wo sie als vollkommener Prozeß ihre Momente in klarer Scheidung auseinanderhält und wieder vereinigt. In dieser Bestimmtheit erst ist sie wahrhaft schöpferisch, tritt aber auch als be- sondere Gabe weniger vom Zufalle der Naturanlage Begünstigter aus dem Bo- den der allgemeinen Phantasie hervor. „Besondere Phantasie“ hat (vergl. § 379 Anm.) einen doppelten Sinn; zuerst: die Phantasie in klarer Scheidung ihrer besondern Mo- mente, dann ebendaher in klarer Scheidung des inneren Bildes von dem naturschönen Gegenstande, der nun, wie sich zeigen wird, nicht mehr mit diesem, das ihm zu Hilfe kommt, einfach verwechselt wird; dieß eben ist der zweite, vom ersten freie, frei geschaffene Schein. In dieser Bestimmt- heit ist aber die Phantasie zugleich eine besondere Naturgabe Weniger, ein geistiger Unterschied, er als Anlage wesentlich ein Natur-Unterschied ist. Dieß Zufällige des Angebornen hat die Wissenschaft nicht weiter zu begründen und zu erklären. Zu § 379 ist gesagt, daß die Momente der Phantasie auch in der allgemeinen vorhanden seien, aber, weil stumpfer und ungeschiedener ineinander verlaufend, nicht alle in gleichem Maaße. Dieß wird sich nun finden, wir werden je am betreffenden Orte aufzeigen, wie weit die allgemeine Phantasie mitgeht, wie weit nicht. α . Die Anschauung. §. 385. Voraus geht die Anschauung als die thätige Erfassung einer Erschei- nung durch den Geist, der sich als Aufmerksamkeit in die sinnliche Wahrneh- mung legt und, während er mit scharfem Maaße die Form ergreift, sich mit inniger Empfindung in den ganzen Gegenstand und ihn in sich vertieft. Es ist dieß zunächst die gewöhnliche Anschauung, aber sie arbeitet nicht nur durch die vergeistigende Thätigkeit der sinnlichen Wahrnehmung überhaupt (§ 380, 1.), Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 21 sondern auch dadurch der Phantasie vor, daß sie ihren Gegenstand herausgreift und ihn dem Subjecte zugleich klar gegenüberstellt und kräftig aneignet. Aus der Psychologie wird als bekannt vorausgesetzt, wie sich die An- schauung von der sinnlichen Wahrnehmung als Erfassung, Apperzeption unterscheidet und was sie überhaupt ist. Allerdings wird gefordert, daß schon die sinnliche Wahrnehmung eine gesunde und volle sei; nicht ganz leicht aber ist die Entscheidung über die speziellere Frage, ob gut Sehen, fein Fühlen, gut Hören, im physischen Sinn, eine Bedingung der Phan- tasie sei. Ein großer Vorsprung wird Schärfe dieser Sinne immer sein, wiewohl natürlich, wer sie besitzt, darum noch nicht für die Phantasie or- ganisirt ist. Ungleich wichtiger aber und unentbehrliche Vorbedingung der Phantasie ist das Formen-Ergreifen und Umspannen im Sehen, Fühlen, Hören, was wir zunächst ganz allgemein ein Messen nennen wollen. Wer nicht bemerkt, daß jener Vorübergehende so oder so gebaut ist, solchen oder andern Gang hat, wer eine Farbenwirkung nicht schnell erfaßt, wer Klang und Ton der Menschenstimme, das Sprechende und die Klangverhältnisse in den Naturtönen nicht heraushört, ist für die Phantasie verloren. Der Tastsinn ist hier im Sinne von § 71 Anm. miteingeschlossen, allerdings soll er aber auch in seiner eigentlichen Bedeutung sammt Geschmack und Geruch, wiewohl diese Sinne nur mittelbar bei dem Schönen betheiligt sind, frisch und lebhaft seyn; wer für Reinheit oder Unreinheit umge- bender Luft, für Duft und Wohlgeruch, wer für die feinen Unterschiede des Geschmacks, wer für warm und kalt, fein und rauh, rund und eckig u. s. w. keine Fühlfäden hat, ist ebenfalls für die Phantasie verloren. Eine ganze und volle Sinnlichkeit ist Vorbedingung und Grund- lage derselben. Die Offenheit der einzelnen Sinne liegt natürlich bereits tiefer, als blos in der glücklichen Organisation ihrer bestimmten Organe, es ist Gesundheit und Erregbarkeit des allgemeinen Nervenlebens und seines unmittelbaren Reflexes im Selbstgefühle. Nichts stumpft dieß Sen- sorium mehr ab, als unser nordisches Stubenleben; man muß hier ver- suchen, sich in die Knabenzeit zurückzuversetzen, den offenen Nerv für Duft des Waldes, neue Thiergestalten, die Verwunderung bei dem Anblick des Rehs, des Raubvogels sich vergegenwärtigen. Eine solche Verwunderung über die Frische, Fülle, Neuheit der Erscheinung ist nun aber bereits An- schauung. Diese ist mehr, als alles bisher Genannte: sie ist der Act der Ergreifung durch die Aufmerksamkeit, wodurch das Angeschaute in ver- schärften Umrissen von seiner Umgebung wie von einem Hintergrund ab- gehoben und dem Anschauenden zugleich Eigenthum und zugleich gegen- ständlich klar gegenübergestellt wird; sie ist der Augenblick, wo Gegenstand und Ich wie Eisen und Magnet zusammenschießen, aber auch eben durch die Berührung erst ihre Entgegenstellung fixiren. In beiden Momenten, sowohl dem der Aneignung, als auch dem der Gegenüberstellung wirkt die Innigkeit der Empfindung und die Schärfe der nun gewollten, ihr natür- liches Messen und Umspannen der Formen zur Intensität des Interesses erhe- benden Wahrnehmung zusammen: Weichheit und Schärfe, Wärme und Kälte. Es ist ein Mißverhältniß, wenn die Wärme, das Gefühl überwiegt. Zwar sagt Herbart zu viel, wenn er (Psychologie als Wissensch. u. s. w. B. 2, S. 367) sagt: „die Anschauung ist desto vollkommener, je weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat“; aber allerdings verzittern in der allzuleb- haften Theilnahme des Gefühls die Grenzen und Maaße des Gegenstands, die Objectivität zerschmilzt im weichen Elemente. Herder z. B. ist eine solche fühlsame Natur, nach dem Einen Pole seines Wesens auch J. P. Fr. Richter; beide haben es daher nicht zum klaren Bilden der Phantasie gebracht. Zur Anschauung müssen wir nun aber auch das ziehen, was man Erfahren, Erleben nennt. Es ist dieß ein Anschauen der Welt als einer geschichtlich bewegten, welche in ihre Bewegung auch das Schicksal des anschauenden Subjects zieht und in energischen Stößen, welche in Lust und Freude mächtig erschüttern, periodisch bestimmt. In dieser erweiterten Anschauung ist die gewöhnliche, die Anschauung einzelner Gegenstände, ein Moment, die ganze Anschauung geht weiter auf die Zustände, Ver- hältnisse, Gesetze des Weltlebens und ebenso der eigenen Persönlichkeit; dabei ist zwar Abstraction, Denken schon vielfach thätig, schwimmt aber in der gesättigten Masse des thatsächlichen Erlebnisses nur mit, das sich zur Welt-, Menschen- und Selbst-Kenntniß ansammelt und das Gesammelte immer wie- der in der Form des eigentlichen ersten Anschauens zusammenhält, so nämlich, daß alles innere Leben mit den äußeren Formen, in denen es sich bewegt, zusammengefaßt wird. Reisen ist eine wesentliche Form, die Anschauung in diesem Sinne zu erweitern, aber das ganze Leben ist eine Reise, auf welcher der Wanderer Auge und Sinn offen haben muß, wenn er zum Ziele der schaffenden Phantasie gelangen soll. Man kann im Allgemeinen sagen, daß die jetzigen Menschen in dem einen Theile dieser erweiterten Anschauung, dessen Gegenstand das Innere des Lebens, Leidenschaften, Charaktere, Gesinnungen, Sitten, Verhältnisse der Menschen und die Zu- stände der eigenen Brust sind, ebensoviele Fortschritte, als in dem andern, der einzelnen sinnlichen Auschauung , Rückschritte gemacht haben. Allein im ästhetischen Zusammenhang soll jene weitere Anschauung durchaus mit die- ser ursprünglichen und ersten in Einheit bleiben und da gilt es nicht nur, z. B. fremde Volkszustände kennen lernen, sondern Himmel, Pflanzen, Thierwelt, Trachten, worin diese Zustände heimisch sind, lebendig mitan- schauen, und wie stumpf sind wir darin, die wir nicht einmal unsere ein- 21* heimischen Singvögel an Gesang und Federn kennen, Ahorn und Esche, Erle und Buche nicht zu unterscheiden wissen! Es kann nicht stark genug darauf gedrungen werden, daß die Phantasie vom Naturgefühl aus- geht und daß „ein idealischer Anfang in der Kunst und Poesie immer verdächtig ist“ (Hegel Aesth. B. 1, S. 362). §. 386. 1 Zur Anschauung gehört jedoch in diesem Zusammenhang auch die Aneig- nung des an sich zwar Anschaulichen, jedoch Entfernten und nur durch eine, zum Theil bereits vergeistigende, Kunde Ueberlieferten. Diese geht durch mehr oder minder abstracte Mittel vor sich, welche aber dem Begabten hinreichen, 2 das Ueberlieferte zu erfassen, als wäre es gegenwärtig. Allseitige, unbefangene Erregbarkeit, besondere Schärfe und Wärme, Fülle und treue Aufbewahrung im Gedächtnisse zeichnen den Letzteren in diesem wie im vorhergehenden Gebiete (§. 385) aus und die Menge des Gesammelten wird an sich schon ein Vor- schub für die höhere Verarbeitung. 1. Es handelt sich hier von der Geschichte im weitesten Sinne, auch die gleichzeitigen, aber in entferntem Raume geschehenen Ereignisse des Lebens miteinbegriffen. Sie werden durch das abstracte Wort, sei es in lebendiger Rede oder Schrift, überliefert. Wir begehen kein ὕςερον πρώτερον wenn wir nun sogleich die Vorstellung des Entfernten und zwar die lebendig vergegenwärtigende einer begabten Natur herbeiziehen; denn die Vor- stellung, wie wir sie im folgenden, zweiten Momente aufzuführen haben, ist schon die ungebundene, entfesselte, frei innerliche, welche in Abwesenheit des Gegenstands ihr Spiel beginnt. Abwesend ist nun freilich auch der geschichtlich überlieferte Gegenstand, aber jetzt reden wir noch von dem Falle, wo die Ueberlieferung anwesend ist, die uns bindet, uns den Ge- genstand so und nicht anders vorzustellen, also das Spiel der Imagination noch ferne hält. Nun hat freilich die Ueberlieferung (noch ganz abgesehen zwar von der Sage) schon an sich einen sichtenden, vergeistigenden Cha- rakter; da verschwinden die mikroskopischen Züge der Erdenschwere und sehr treffend sagt Ranke , die Geschichte berühre, jemehr sie in das Gedächtniß der Menschen übergehe, desto mehr das Gebiet der Mythologie. Allein trotzdem ist die Geschichte immer noch Prosa und wenn der Be- gabte, wie wir dieß bedingen, sich ihre Auftritte wie gegenwärtige vor- stellt, so bekommt er doch theils eine Masse von Vermittlungen mit in Kauf, welche eine Veranschaulichung gar nicht zulassen, theils ist auch die lebhaftere Vorstellung, die er sich vom Ueberlieferten macht, immer noch mit viel Stoffartigem, was den anschaulichen Theil des Inhalts trübt, beladen. Nicht genug jedoch kann es den Künstlern an’s Herz gelegt werden, sich mit der Geschichte vertraut zu machen; wie wenig noch diese Fundgrube benützt sei, ist schon zu §. 341 ausgesprochen worden. Nur die Geschichte giebt die großen Stoffe, das rechte Mark für den Künstlergeist. Die Ueberlieferung kann aber ihren Stoff bereits in eigentlich ästhe- tischer Weise vorgebildet haben; es kann eine Kunst den Gegenstand von einer andern Kunst oder einem andern Zweige, einer andern Bildungs- stufe (Volkspoesie, Sage) derselben Kunst schon zubereitet übernehmen. Dieß ist jedoch erst in der Lehre von den Künsten in Betrachtung zu ziehen. 2. Es fragt sich schon bei dieser Vorstufe, wie weit die allgemeine Phantasie mitgehe. Hier muß man nur nicht an die sinnlich abgestumpfte Bildung der jetzigen Zeit, sondern an die lebendige Auffassung naturfrischer Völker denken und dann ist keine Frage, daß sie jedenfalls in dieses Mo- ment sich mitbewegt. Sie schaut die Naturschönheit; sie könnte dieß nicht, wenn sie nicht auch das Gewöhnliche mit hellen Sinnen faßte, denn sie unterscheidet jene von diesem. Aber an Kraft und Umfang hebt sich aller- dings die begabte, besondere Phantasie hervor. Alle Griechen schauten hell und frisch, aber die Volksdichter der homerischen Gesänge heller und frischer, als alles Volk, und wunderbar steht in sinnlich stumpfer Zeit Göthe, der uns alle hier aufgestellten Forderungen veranschaulicht. Die Unbefangen- heit liebt er so auszudrücken: der Dichter soll das Object rein auf sich wirken lassen. Es gibt kein schöneres Bild allseitiger, offener Empfäng- lichkeit, als seine Jugend. Der Auserwählte der Phantasie soll aber viel geschaut, viel erlebt haben. Von der Intuition, die Göthe in sich selbst entdeckte, von dem Weltbilde, das die Ahnung schafft und die Erfahrung wunderbar bestätigt, haben wir jetzt noch nicht zu reden, wohl aber vor- zubauen, daß man nicht meine, es ersetze alle Erfahrung. Es ist nur vergleichungsweise wenig, was dem Genius den Anhalt giebt, die großen Kreise des Weltlebens prophetisch anzuschauen ohne sie wirklich angeschaut zu haben; wer in Zellen und engem Kreise lebt, dem fehlt dieser Anhalt, auch das sagt Göthe so schön im Tasso. Auch Schiller hatte nicht so wenig gesehen, als man annimmt; er konnte die Brandung der See voll Wahr- heit malen, ohne auch nur den Rheinfall, aber nicht, ohne wenigstens diesen und jenen Wasserfall, großes Wehr u. s. w. mit offenem Auge gesehen zu haben. Hatte er aber überhaupt immer noch zu wenig gesehen, so hat darunter auch seine Poesie gelitten. Tieck sagt irgendwo, wer keine Schlacht gesehen, könne eine solche poetisch besser darstellen, als wer eine ge- sehen. Es mag sein, das Getümmel der Einzelnheiten und das Verstrickt- sein in sie mag Freiheit und Ueberblick erschweren; aber wer nicht wenigstens Solches, was dazu gehört, Krieger und ihr Wesen, Waffenspiele, Wunden, Tod gesehen, mit Interesse angeschaut, der wird gewiß auch keinen Beruf zu ihrer Darstellung haben. Der Genius muß also das Glück eines reichen und weiten Lebens genießen; verweigert ihm sein Schicksal dieß Glück, so wird er dennoch durchbrechen und in die Welt eilen. Einige Noth, einiger Drang kann nicht schaden, aber er soll nicht im Engen verkümmern, sondern auf offener See sich mit den Wellen schlagen. Auch das Gedächtniß mußte in diesem Zusammenhang noch auf die Seite der erst aufnehmenden Anschauung gezogen werden. Zunächst wird Stärke desselben vorausgesetzt, damit überhaupt viel gesammelt werde. Die Menge des Gesammelten nämlich unterstützt die Reibung und Rütt- lung des Vorraths, welche eine Vorbedingung seiner höhern Sichtung ist. Es muß Auswahl unter vielen einzelnen Zügen und Formen sein, um die reinste zu finden; nur mit voller Schaufel kann man worfeln. Freilich, wo diese Auswahl sodann nicht vom genialen Instincte, sondern von der halben Reflexion unternommen wird, entsteht Aggregat, Mosaik von zu- sammengelesenen Zügen, die durch Naturwahrheit überraschen, aber kein Ganzes bilden; wir reden aber noch nicht von dem Gestaltungsprozesse des Gesammelten selbst. Vorläufig müssen wir nur sagen, daß das Ge- dächtniß des Phantasiebegabten vorzugsweise das sogenannte glückliche ist. Es bewahrt das Gesammelte auf, nicht um es im gemeinen Zu- sammenhange gegebenen Stoffes, sondern um es nach der Anziehung des Formgesetzes, nach neuen Gesetzen der Wahlverwandtschaft wieder hervor- treten zu lassen. Dabei denke man nicht etwa nur an die vergleichende Thätigkeit des Witzes, wiewohl es bei diesem vorzüglich klar wird, wie viel die Phantasie gesammelt haben muß, um ihre Verbindungen vorzuneh- men; mancher Witzige würde ungleich mehr Witz hervorbringen, wenn er mehr Stoff gesammelt hätte. Man denke vielmehr an organische Ver- bindungen, wie z. B. dem Begabten, wenn er ein gewisses Temperament darzustellen hat, aus der Menge des Beobachteten am rechten Ort die rechten, bezeichnenden Züge einfallen. β . Die Einbildungskraft. §. 387. 1 Der hellere und reinere Glanz des lebendig Angeschauten ist noch nicht Schönheit, denn die Anschauung erfaßt in den Formen der Dinge zwar unge- trennt auch die Idee, aber in der allgemeinen Trübung des störenden Zufalls, und selbst die beziehungsweise Freiheit von diesem, durch welche das Natur- schöne sich auszeichnet, ist im jetzigen Zusammenhang nicht, oder nur unter Anderem als Gegenstand vorausgesetzt. Allein die Anschauung ist der Anfang 2 der Umsetzung des Objects in ein inneres Bild, das, sinnlich und nicht stun- lich, unabhängig von der Gegenwart des ersteren und doch angeschaute Form, vom Geiste erzeugt wird. 1. Der vorliegende Abschnitt begann mit der Auflösung des Natur- schönen und der Darstellung der allgemeinen Phantasie; in der gegen- wärtigen Abtheilung nun, wo die Momente der besonderen Phantasie entwickelt werden, muß ganz vorne oder von unten begonnen werden. Während daher in der Lehre von der allgemeinen Phantasie das Naturschöne als Gegenstand vorausgesetzt wurde, lassen wir dieses nun vorerst ganz aus dem Spiele; die Aesthetik wendet sich zur gewöhnlichen Psychologie, welche von der Anschauung u. s. w. überhaupt handelt, gleichgiltig, welche Gegenstände ihr gegeben seien. Unter dem Stoffe, welchen die Anschauung ergreift, mag sich daher immer auch Naturschönes (wir brau- chen wohl nicht jedesmal hinzuzufügen, daß im strengen Sinne Solches nicht existirt, wohl aber relativ vom Zufall begünstigtere Erscheinungen) ein- reihen: das Geschäft, das dem Geiste bleibt, wird dann kleiner sein, als bei allem Uebrigen; aber wir sehen jetzt auf das Qualitative dieses Ge- schäfts und daher von diesem Unterschiede des Quantums ab. Es wird sich bald zeigen, an welchem Punkte wir das Naturschöne als gegebenen Stoff und jenen ersten Schein (§ 383) wieder aufzunehmen haben. Die Anschauung, von der wir reden, ist also die gewöhnliche; wir verlangen nur ursprüngliche und frische Thätigkeit derselben. Nun fragt sich: was ist es, das die Anschauung erfaßt? Es ist zunächst die Oberfläche der Dinge in den allgemeinen Medien der Erscheinung, Luft und Licht. Diese Ober- fläche ist das Gesammtresultat des innern Baues und daher des Wesens der Dinge, das diesen Bau ausführt, denn die Grenzen sind zwar negativ, aber das Bauen hört eben da auf, wo ich sie schaue, weil es das Innere so und nicht anders gebaut hat. Ich schaue aber auch die Bewegung und in ihr das Bewegende. Das Wesen, das sich seinen Körper gebaut, wirkt durch sie über seine Grenzen hinaus, doch so, daß diese Wirkung selbst ihre Grenze in demselben Umfang seiner Fähigkeiten hat, den mir seine Gestalt anzeigt. Ich schaue also allerdings sein Wesen und zwar ganz in Einem Acte mit seiner Erscheinung. Zwei Wege, hinter die Oberfläche in den inneren Bau zu dringen, bleiben uns bei dieser Betrachtung der Anschauung ganz zur Seite liegen; sie sind schon in § 54 erwähnt und werden hier nur wieder berührt, um sie schon auf der Stufe der Anschauung abzuweisen. Es ist dieß die praktische und die theoretische Auflösung; jene eine Zerstörung des Körpers, um ihn stoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten, diese eine anatomische, chemische u. s. w., um ihn zu erkennen. Daß uns die erstere den Gegenstand als Ausdruck seines Wesens zeige, wird Niemand behaupten; denn nur zufällig legt sie diese oder jene Theile des inneren Baues blos; die andere aber ist mit ihrer Erkenntniß nicht früher fertig, als bis sie alle Theile blos gelegt, durchsucht, dann in ihrer Zusammenwirkung begriffen, also die aufgelöste Gestalt sich wieder aufge- baut hat; dann erkennt sie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieser Bau allerdings auf seiner Gesammtoberfläche eben das ausdrückt, was er ist. In dieser Schlußerkenntniß hat sie also auf vermittelte Weise präsent, was die Anschanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geistes) auf unmittelbare Weise präsent hat. Vergleicht man aber die Anschauung nicht mit dieser Schlußerkenntniß, sondern mit der einzelnen Erkenntniß einzelner Theile der aufgelösten Gestalt, so ist sie vollkommener, als diese, denn sie hat den Gesammt-Ausdruck des Wesens vor sich, diese nicht; mit Recht schaudert sie daher vor der Auflösung, abgesehen von ihrem Endziele, als vor einem Grausenhaften. Künstler studiren Anatomie, Perspective u. s. w., um sie wieder zu vergessen, d. h. um das Einzelne der Erkenntniß als ein verschwindendes Mittel in den Instinct der Ge- sammt-Anschauung zurückzuführen. Soweit hätten wir also schon in der Anschauung den reinen Schein, den Ausdruck des Wesens in der Ge- sammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An- schauung das Einzelne in seinem unmittelbaren Dasein. Sie erfaßt es zwar, indem sie es als Ausdruck seines Wesens erfaßt, zugleich als In- dividuum seiner Gattung, sie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu fassen, dazu gehört so wenig die abstracte Begriffsbildung, als ihre naturwissenschaftliche Vorarbeit, jene physikalische, chemische, anatomische Analyse. Der Unter- schied des Begreifens und Anschauens ist nicht der, daß diesem das Allge- meine verschlossen, jenem offen wäre, sondern daß jenes auf begründete, durch Trennung, Entgegensetzung und Wiedervereinigung vermittelte und in Bewußtsein des Bewußtseins erhobene Weise dasselbe Allgemeine im Einzelnen hat, wie dieses auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte. Allein die Anschauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch den störenden Zufall, den wir als überall und immer herrschenden schon kennen. Das Begreifen begreift auch diesen in seiner Nothwendigkeit und in seiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anschauung aber über- schaut nicht den unendlichen Gang dieser Aufhebung. Der Geist soll auf dem Wege, den sie betreten, ein diesem Wege eigenes Mittel finden, die Trübung auszuscheiden. Die Anschauung als solche hat dieses Mittel noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, sofern sie vom Durchmesser absieht: aber diese Oberfläche selbst ist getrübt; das empirische Blut dieses einzelnen Körpers, das nie ganz gesund ist, setzt Unreinheiten auf der Haut ab, die Seele drückt ihre Stimmungen, der Wille seine Be- wegungen in seinem Organe nicht rein aus, denn nicht nur setzt ihm dieses im Drange der äußern Reibung Hindernisse entgegen, sondern jene Stimmungen, Willensacte selbst trüben sich im Dienste des Augenblicks. Dieses Individuum erscheint also getrübt und ebenso alle andern, die mir vorkommen können, also die Gattung. Schelling sagt (in der Rede über die Verh. d. bild. Künste z. Natur): die Kunst stelle, indem sie wirkliches Athmen, Blut, Wärme (gesetzt, sie könnte es auch wiedergeben) von ihrer Darstellung ausscheide, nur das Nichtseiende, worin der Keim des Alterns und Vergessens liege, als nichtseiend dar und hebe so das Unwesentliche, die Zeit auf, sie erfasse den lebendigen Gegenstand in dem Augenblick seiner höchsten Blüthe, außer welchem ihm nur ein Werden und Vergehen zukomme, hebe ihn so aus der Zeit heraus und lasse ihn in seinem reinen Sein, in der Ewigkeit seines Lebens erscheinen. Dieß bedarf erst der Berichtigung, daß die Kunst ganz wohl auch das Werden und Vergehen, das Kranksein, Altern Sterben, jede Art des Leidens darstellen kann und soll, und die Möglich- keit dieser wechselnden Zustände liegt ja eben in der unmittelbar einzelnen daseienden Lebendigkeit. Die Kunst verhehlt nicht, daß der menschliche Körper Blut u. s. w. hat, und die Anschauung, von der sie ausgeht, ist nicht deßwegen noch fern vom Schönen, weil sie der Gestalt den empirisch einzelnen Lebensprozeß ansieht: aber dieser Prozeß selbst ist durch das Ge- dränge des Zusammenseins dieses einzelnen Lebendigen getrübt, und dieß zeigt auch die Oberfläche, durch deren Ablösung vom innern Bau also keineswegs, wie Schelling im Zusammenhang derselben Stelle sagt, die Idealität schon gewonnen ist. Leiden, Untergehen erscheint durch die unzeitigen Reibungen jenes Gedränges selbst nicht rein in seinem Ausdruck (vergl. §. 40 Anm.). Nicht deßwegen, weil es Quelle des Werdens und Vergehens ist, hat die Anschauung am unmittelbar Lebendigen in der Gestalt ein Getrübtes vor sich, sondern weil alle Lebenserscheinungen in der unendlichen Ausdehnung des Seins an Hemmungen leiden, wodurch ihr Wesen, wäre es auch an sich eine Hemmung und diese Hemmung jewei- liger Stoff des Schönen, unrein zum Ausdruck kommt. Darum setzt das Schöne einen Tod der leibhaftig gegenwärtigen Lebendigkeit voraus, in welchem aber nicht der Schein seines Werdens und Vergehens untergeht, aus welchem es vielmehr sammt dem Scheine seines unmittelbaren Lebens- prozesses wieder hervortaucht, doch so, daß dieser Prozeß sich in Reinheit darstellt. Die Anschauung nun beginnt diese Tödtung durch das trennende Herausgreifen (§. 385); aber dieß genügt nicht, denn das Herausgegriffene trägt noch alle die Male an sich, durch die es auf seine störende Um- gebung hinausweist. 2. Will man sich den Uebergang der Anschauung in die Einbildung mechanisch vorstellen, so kann man sich die Sache so anschaulich machen, als bliebe nach der innigen Zusammenschließung, welche in jener Statt findet, ein Abdruck des Gegenstands, wenn dieser aus der Zusammenschließung wieder entlassen wird, im Subjecte zurück. In Wahrheit aber ist die Anschauung schon so activ, daß sie ein thätiges Abzeichnen des Gegenstands und ein Hereinnehmen dieses Abbilds in das Innere des Anschauenden ist. Das Subject könnte dieß nicht vollziehen, wenn es nicht mit allen Gegenständen ursprünglich Eines wäre und aus demselben Heerde des Lebens stammte, wie alle Gestalten; es kennt sie, weil es selbst die Ein- heit der Gestaltenwelt ist. Der Prozeß aber des Nachbildens bedarf einer physiologischen Erklärung, welche noch nicht gefunden ist. Die ganze ideal gesetzte Sinnlichkeit, die nun in der Einbildungskraft hervortritt, dieß innere Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken ist eine Operation so zu sagen auf dem Wege, den die Nerven von ihrem Centrum in die Sinnen- Organe und von diesen zurück in ihr Centrum nehmen, ein sinnlich unsinn- liches Wiederholen der Sinnen-Thätigkeit, dessen Möglichkeit offenbar ebenso- sehr Vorbedingung derselben ist; Alles, was sehen, hören u. s. w. kann, kann auch einbilden, alle Thiere erzeugen innere Bilder. Die Aesthetik muß aber die weiteren Untersuchungen der Psychologie und ihrem Verhältnisse zur Phy- siologie überlassen. Ist nun die Anschauung bereits der Anfang des inneren Bildens, so vollendet sich dieser Anfang des Hereinziehens im Seelenorganc, dem Nervencentrum selbst als ein fertiges Bild, das in dieses wie in eine camera obscura aufgenommen ist, aber bleibend innerlich schwebt, auch nach- dem sich der Gegenstand oder das Subject von ihm entfernt hat. §. 388. 1 Dieß Bild ist zunächst bloßes Nachbild, aber eine Menge stoffartiger Einzelnheiten ist in ihm verwischt und Gefühl der geistigen Unendlichkeit be- gleitet es, wiewohl es wahre Vergeistigung erst erfahren soll. Zunächst sinkt 2 die Masse der gesammelten Bilder in den Schacht der Vergessenheit zurück. Aus diesem taucht sie wieder auf durch die Erinnerung oder durch die Besinnung; jene ist zufällige, diese freie Wiedererzeugung. Allein sowohl bei jenem als bei diesem Anlaß bewegt sich die hervorgerufene Masse in ein gaukelndes Spiel unendlicher neuer Verbindungen, welche übrigens so wenig als jene Verwischung der einzelnen Züge eine qualitative Umbildung sind. 1. Die Verwischung einzelner Züge im Nachbilde ist ebensosehr Fortschritt als Rückschritt. Das Bild eines Bekannten z. B. schwebt uns vor; fragt man uns aber nach den einzelnen Zügen, so wissen wir viele derselben nicht anzugeben. Dadurch ist nun allerdings auch Vieles er- loschen, was zur trübenden Zufälligkeit gehört, aber aus zwei Gründen ist dieser Gewinn zugleich Verlust. Erstens wird zwar Störendes weg- gelassen, aber nicht eben am rechten Orte. Ich vergesse wohl einen schmutzigen Ton im Weißen des Auges, aber nicht eine schiefe Stellung des ganzen Auges, die nicht aus dem Charakter, sondern etwa von einem Steinwurfe, einem Druck bei der Geburt u. s. w. herrührt. Zweitens: es wird zwar ausgelöscht, aber wie auf der einen Seite zu wenig, so auf der andern zu viel; wesentlich bezeichnende Einzelnheiten werden vergessen. Wenn da- her der Künstler darin vor dem Laien sich auszeichnet, daß er sich auch dieser vollständiger erinnert und wohl sogar einen Todten aus dem Ge- dächtnisse darzustellen vermag, so verdankt er dieß einer Uebung der An- schauung und der Einbildungskraft, welche bereits wirkliche Kunstübung und dadurch gewonnene Schärfung dieser Prozesse voraussetzt: eine Rück- wirkung der Kunstthätigkeit auf die psychologischen Kräfte, deren wir erst im Anfang der Lehre von der Kunst zu gedenken haben. — Allerdings aber umweht nun das Abbild des Gegenstands, welches „in den eigenen Raum und die eigene Zeit des Geistes gesetzt ist“ (Hegel Encyclop. §. 452), weil es geistig geworden, ein Hauch der Unendlichkeit. Es ist ein Begleiten, ein Umwehen, ein „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert“, noch kein eigentliches Eindringen des Geistes, der sie umwandelnd von innen heraus umarbeitete. So sind wir z. B. bei der Entfaltung des inneren Bildes einer Schlacht, eines Raub-Anfalls einer Angst fähig, geisterhaft, fürchter- lich, ein Abgrund, wogegen alle Angst vor der gegenwärtigen Gefahr nichts ist. Dieser Unterschied macht sich weiterhin in idealer Wiederho- lung in der Kunst selbst geltend, indem sie oft viel furchtbarer wirkt durch ein verhülltes Furchtbares, das sie den Zuschauer nöthigt sich vorzustellen, als durch ein der Anschauung dargebotenes (vergl. die trefflichen Bemer- kungen J. Paul’s in d. Versch. d. Aesth. §. 7.) In der Kunst jedoch ist dann sowohl die gegenwärtige Darstellung als das hervorgerufene Bild schön, in der Einbildungskraft vor der Kunst aber (wie auch in der An- schauung) noch nicht; die Vergeistigung bemächtigt sich so zu sagen erst der Umrisse und macht sie erzittern, in unendlichen Wiederhall des subjec- tiven Gefühls verschweben. 2. Zuerst versinken die Bilder in den „Schacht“, die „einfache Nacht“ (Hegel) des Geistes, wo sie, vorhanden und nicht vorhanden, vergessen und der Erinnerung wartend, aufbewahrt sind. Die Psychologie führt nun in steigender Linie zwei Formen auf, in denen sie wieder hervorge- rufen werden; zuerst die Anschauung desselben Gegenstands, wobei mir von früherer Anschauung das Bild wieder auftaucht: die eigentliche Er- innerung, sodann die freie Hervorrufung durch das Sichbesinnen. Beide Formen, wiewohl mit der letzteren der Geist sich der Bilder frei zu be- mächtigen anfängt, sind sich darin gleich, daß eine Reihe entsteht, indem das erste Bild ein zweites hervorruft, dieß ein drittes u. s. w., wodurch nun jene unstete Jagd beginnt, die man sonst Ideen-Assoziation nannte. So lange wir nämlich den concreten Geist noch außer Augen lassen, der mit Weisheit Ordnung schafft, ist auch bei dem Besinnen nur der Anfang ein freier Act; die Einbildungskraft als solche, einmal in Bewegung ge- setzt, spielt fort. Nun fragt sich, nach welcher Ordnung die Bilder sich anziehen? Bekanntlich sowohl nach der objectiven Ordnung ihrer ur- sprünglich in der Anschauung gegebenen Verbindung, als auch nach allen Ka- tegorieen. Die Kategorieen sind zunächst subjectiv, aber auch sie ebenso- sehr objective Verhältnißformen. Welches dieser Anziehungsgesetze wirke, ist zufällig, unbestimmbar; sie schießen bunt und kraus durcheinander. Habe nun ich dieß Spiel in der Macht, oder es mich? Beides ist wahr und dieß eben ist der Begriff der Willkühr; ein Knäuel von Nachbarschaften und Wahlverwandschaften, worin die Dinge an sich stehen, wirrt sich zu- sammen mit einem zunächst von der Freiheit gegebenen Anfang, dann wiederholten schwachen Eingriffen derselben, schließlich aber mit allem dem, worin das freie Subject unfrei ist, mit seinen sinnlichen Wünschen und Einfällen, welche nach ihrem Belieben die Naturordnung durch falsche Einschiebungen der an sich objectiv gültigen Kategorieen durchbrechen und zu blauen Möglichkeiten mischen. Diese subjectiv stoffartige Seite ist im Folgenden ausdrücklich aufzunehmen; zunächst handelt es sich um die Ver- änderung, welche nun mit den Bildern vor sich geht. Die Naturformen werden durcheinander geworfen; das Thier kann reden, der Mensch kann fliegen, der Körper hat keine Schwere und dieser ganze Mischmasch jagt sich unstet in bunter Flucht; die Zeit wird nicht nur objectiv in den Ver- hältnissen des Vorgestellten übersprungen, sondern das ganze Schattenspiel huscht in sausendem Fluge am Geiste vorüber; der Geist macht sein Wesen, die zeitliche Bewegung, im ersten Rausche gewaltsam geltend an der Na- tur, wird daher trunken von seinem eigenen Zauber fortgerissen, der ihm über den Kopf schwillt, wie Göthe’s Zauberlehrling. Die Willkühr der neuen Verbindungen ist nicht Schönheit; diese hebt die Naturformen nicht auf, sondern läutert sie. Wird aber dennoch von diesen willkührlichen Verbindungen Einiges hinübergenommen in die wahre Schöpfung der Schönheit, wie Centauren, das Gefolge des Bacchus, Engel, Teufel, Ge- spenster, Wunder aller Art, so ist wohl zu bedenken: erstens, daß diese Geschöpfe zu den Stoffen gehören, welche die künstlerische Phantasie von dem Volksglauben überkommt, welcher in dieser Richtung noch nicht wahr- haft ästhetisch, sondern in der unreifen Weise der Einbildungskraft ge- dichtet: Stoffe, welche die Phantasie nun hinnimmt, wie Objecte der Na- turschönheit, so aber, daß sie sich thätig erweist, das wuchernde Uebermaaß zu beschneiden, die unstete Flucht zum Stehen zu bringen, das Wildfremde mehr und mehr zu vermenschlichen. Die nähere Betrachtung dieses wich- tigen Punkts gehört in die Lehre von der Geschichte der Phantasie oder des Ideals. Zweitens: die Phantasie selbst kann in diesen Taumel der Einbildungskraft zurückgreifen, der Dichter selbst Wunderbares ersinnen. Dann spinnt er aber entweder nur fort an jenem Volksglauben, auf dessen Boden er selbst noch steht, und dasselbe Verhältniß wiederholt sich, wie im vorhin genannten Falle; oder er steht nicht mehr auf diesem Boden, sondern erkennt die reine Nothwendigkeit und Zusammengehörigkeit aller Naturformen: in diesem Falle wird er aber entweder diese Spiele als untergeordnete und dienende an den Saum seines Thuns in gewisse bloß anhängende Zweige der Kunst (Mährchen, Fabeln, Arabesken u. s. w.) verweisen, oder es ist ihm so Ernst damit, daß er sie als eigentliche Schönheit behauptet, und dann ist er nicht zur ächten Phantasie gediehen, sondern in der Einbildung stehen geblieben. §. 389. Der Geist vermag durch dieses Spiel, das als Werk der freien Wieder- 1 erzeugung reproductive Einbildungskraft heißt, über jedes Gegebene hinauszugehen und sich eine zweite Welt zu schaffen; aber schön ist diese Welt nicht nur aus den in §. 388 genannten objectiven Gründen, sondern auch aus den subjectiven nicht, weil er sich hinter diesem Spiele zurückbehält und es in dieser schwankenden Synthese noch weniger, als in der Anschauung des Natur- schönen (§. 381), ohne stoffartiges Interesse abgehen kann, wo es denn zufällig ist, ob er vermittelst seiner Sinnlichkeit von den eigenen Bildern zur Begierde 2 nach ihrem Gegenstande gereizt wird, oder ob er mit wahrer Freiheit denselben ethisch zu bestimmen, theoretisch zu durchdringen und demgemäß dem Bilder- Getümmel ein Ende zu machen beschließt. Diese Formen des Interesse ’s 3 sind zur Entstehung der Phantasie vorausgesetzt, aber nur als Vorbedingungen, nicht als bleibende und bestimmende Bewegungen. 1. Die „verzärtelte Tochter Jovis,“ die uns über „den dunkeln Ge- nuß, die trüben Schmerzen des augenblicklichen beschränkten Lebens, das Joch der Nothdurft“ hinaushebt, ist doch nicht das, was wir im strengen Sinne Phantasie nennen. Sie ist Verschönerung des Lebens, noch nicht Schönheit; sie wird oft genug zur Beschönigung. Das Subject hat in ihr ein großes Gut, ein Asyl, eine Fata Morgana zur Flucht aus allen Hemmungen der eisernen Nothwendigkeit, einen Zaubermantel, der den Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunsches entführt, aber auch einen Chor von verlockenden Dämonen, die Mephi- stopheles „die Kleinen von den Seinen“ nennt. Der Mensch kann diesen zauberkundigen Diener in jeder Weise zu seinem Dienste verwenden und lebt durch ihn mitten im Leben immer ein zweites Leben. Der §. nennt dieß Verhältniß (nicht die eigentliche Phantasie, wie Hegel) eine Synthese. Wir gehen nämlich zunächst, ohne umzusehen , den geraden Weg, der von der Anschauung zur Phantasie führt, aber wir müßen doch den con- creten Geist, der so oder so mit Gehalt erfüllt ist, nebenherführen, die Beziehungen, in die er zu den uns getrennt vorliegenden Thätigkeiten treten kann, seitlich in’s Auge fassen, um dann am rechten Punkte beide Linien zu vereinigen. In der Einbildungskraft nun gießt sich der Geist noch nicht mit seiner erfüllten Unendlichkeit in seine Bilderwelt; sie umgaukelt ihn, sie reißt ihn fort, sie dient ihm und beherrscht ihn, wie es kommt. Dieß äußerliche Verhältniß ist (bloße) Synthese. 2. In dieser Synthese ist das Verhältniß des Subjects zu seinen Bildern zunächst ein stoffartiges, eine Beziehung des Interesse’s (§. 75), und die erste Form ist, wie schon berührt, das sinnliche Interesse, per- sönliche Neigung und Abneigung, Begierde und Abscheu. Jeder weiß, daß die Einbildungskraft sogleich in prickelnde Thätigkeit tritt und zu weben anfängt, wenn Hunger, Eitelkeit, lebhafter Wunsch des Besitzes, unmächtige Rachelust nach Mitteln sucht; da sehen wir uns selbst, wie wir zaubern und bezaubern, uns unsichtbar machen können, uns durch die Kuchenmauer des Schlaraffenlands essen. Aber nicht nur dieß: alle persönliche Leidenschaft und ganz abgesehen von Erdichtung dienstreicher Wunder ist nicht durch die bloße Anschauung, sondern wesentlich erst durch die Einbildungskraft vermittelt. Der Mensch versieht sich in sein Bild und jede Handlung der Leidenschaft ist Ausführung nach diesem imagina- tiven Concepte. Daher hat der lebhafte Mensch nicht einmal Freude am Gelingen, wenn es diesem Bilde nicht entspricht, wenn ihm sein Bild in’s Wasser fällt. Der sittliche Geist hält die gaukelnde Flucht der bestechenden Bilder an, das wahre Bild des Lebens durch berichtigende Vergleichung mit der Anschauung in seinen Mängeln fest, um darauf den Plan seines Handelns zu bauen; der denkende geht zunächst ebenfalls vom Willensacte dieses Einhaltens aus, bildet die Vorstellung im engern Sinne, eine Zusammen- fassung der wesentlichen, Ausscheidung der unwesentlichen Züge, doch nur zum Zwecke der weiteren Auflösung in den abstracten Begriff, den nur noch wie ein Schatten das bleiche „Gemeinbild“ begleitet. Auch diese beiden Arten des Interesse’s sind stoffartig und daher außer-ästhetisch (vergl. §. 76 u. 78). 3. Wenn diese drei Formen des Interesse’s ganz zur Seite liegen, warum führen wir sie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phantasie die- selben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege zu ihr führen, aber als seitliche Ströme, die ihr zugeflossen sein müßen, voraussetzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leidenschaft bewegt worden sein, er muß ihre tiefsten Stürme, er muß der Menschheit ganze Freude und ganzen Jammer an sich erfahren haben (Werther’s Leiden, Faust, Tasso: Selbstbekenntnisse). Der Genius muß aber auch von sitt- lichem Interesse für die großen Fragen der Menschheit und ebenso von Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt sein. Die Probe der Leidenschaften wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der sittlichen Heilkraft wird zur glücklichen Krisis führen (Shakespeare’s Jugendsünden, Tiecks Darstellung und Zusammenstellung mit R. Green und Marlowe im Dichterleben); aber vor Allem für das sittliche Leben im Großen muß die Brust voll Theilnahme sein. Reiche Kenntnisse, Verstand und Verständ- niß werden die Lebendigkeit des theoretischen Geistes bewähren. Aber Leidenschaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogischer, politi- scher Wissenstrieb darf nicht das Bestimmende im Charakter des Genius sein, insbesondere der Wissensdrang nicht auf die letzten Gründe , sondern nur auf ein Eindringen, Verstehen der Beziehungen und Ver- mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, schließlichen Anhalt stehen lassen. Der Dichter darf nicht Philosoph sein; Göthe war z. E. gelehrter Botaniker, träumte aber von einer absoluten Pflanze als etwas Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leidenschaft, was mit dem sittlichen und theoretischen Interesse vor sich gegangen sein muß, wenn diese Bewegungen in die Phantasie als aufgehobene Momente aufgehen sollen, wird sich zeigen. Hier fragt sich nur noch, wie weit auch in dieser Stufe des Prozesses die allgemeine Phantasie mitgehe. Das Spiel der Einbildungskraft ist es recht eigentlich, wo sie zu Hause ist; hierin ist jeder wohlorganisirte Mensch und sind vor Allem alle noch nicht verbildeten Völker Dichter. Das Interesse aber, sowohl das der Leidenschaft, als das ethisch praktische und theoretische ist dem Genius in besonderer Wärme und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Masse, und seine Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen Lebens, mit dem, was packt, erschüttert, den innersten Menschen mit tausend Fragen beschäftigt. Er scheint Eins mit dem Lebensblute des Menschenlebens, sein Herz erweitert sich zum Herzen der Welt und wenn seine Werke den Zuschauer im Innersten schütteln, so muß dieser sich verwundert fragen, wie stumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch- tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den Dichter und wissen wir, wenn wir sein bewegtes Herz kennen, noch nichts vom Geheimniß der Form, in die er das pathologisch Bewegende so ge- gossen, daß es zugleich den pathologischen Stachel verloren hat. — §. 390. Diese Synthese verschwindet im Traume , in welchem der Geist ganz in seine Bilderwelt aufgeht. Der Traum steht wegen dieser vollendeten Auf- lösung ästhetisch höher, als die wache Thätigkeit der Einbildungskraft; allein eben- sosehr auch niedriger, denn in ihm ist mit der Freiheit und der selbstbewußten Trennung der Subjectivität und Objectivität auch alle Beherrschung und Durch- bildung der sich drängenden inneren Gestaltungen unmöglich geworden. Indem wir die Stufe suchen, auf welcher der Geist seine Bilder zur reinen Form erhebt, tritt zugleich eine andere Kategorie von selbst in un- sere Untersuchung ein, nämlich die der Subjectivität und Objectivität, welche im folg. §. erst ausdrücklich hervorgestellt werden soll. Dieß verhält sich so: der Geist, der als Einheit und Allgemeinheit, als theilhaftig der ab- soluten Idee vorausgesetzt ist, soll die Gewißheit, daß diese wirklich ist, ehe er noch in der Form des Denkens diese Wirklichkeit als eine in un- endlichem Prozesse sich vollziehende (§. 10. 12. 52, 2.) begreift, in ein Einzelnes legen. Dieß kann er nur vermittelst eines inneren Bildes, das er sich von diesem Einzelnen macht (§. 381). Dieses Bild ist zunächst mit allen Mängeln seines Gegenstands, des empirisch wirklichen Einzelnen be- haftet. Der Geist muß es daher mit der Einheit und Allgemeinheit der Idee, die in ihm lebt ist, durchdringen und umbilden; er muß sich in dasselbe hinübertragen. Dann hat er ein reines Bild vor sich, aber er hat es auch dann erst vor sich, hat es (innerhalb seiner selbst) sich ge- genüber; denn erst, wenn sein Bild so viel ist, als er , wenn auf der anderen Seite dasselbe Gewicht ist, wie auf der einen, ist Gegen- überstellung. Das Bild ist erst ein Du, wenn das Ich auf seiner Seite ist. Erst die vollendete Einheit des Geistes mit seinem Bilde ist Zweiheit beider und umgekehrt; erst wenn sich der Geist an sein Bild ganz ent- äußert, sieht er in ihm sein Spiegelbild sich gegenübertreten. Die vollen- dete Durchleuchtung des Bildes ist daher zugleich seine vollendete Ob- jectivität (im Sinne einer überhaupt erst inneren Verdopplung des Geistes). In der Synthese der wachen Einbildungskraft nun (§. 389) behielt sich der Geist noch zurück; seine Bilderwelt blieb daher unrein, unstet, haltlos, bleich und grell zugleich. Man lasse sich daran nicht irre machen durch die Beobachtung, daß die Bilder ebensosehr stoffartig den Geist beherrschen, als auch frei von ihm verarbeitet werden; denn sie rächen sich an ihm gerade dafür, daß er sich nicht ganz in sie giebt, son- dern als seine Gaukler neben sich herführt. Das Entgegengesetzte dieser Synthese nun tritt im Traume ein, den die Aesthetik an höherer Stelle aufzuführen hat, als die Psychologie. Der Traum ist bekanntlich ein vollkommener Dramatiker; das Ich des Träumenden vertheilt sich so rück- haltslos an seine Personen, daß sie es oft genug mit Neuigkeiten über- raschen, mit Räthsel-Aufgaben in Verlegenheit setzen, die es ihnen doch offenbar selbst in den Mund gelegt hat. Es bläst ihnen ein und meint, sie blasen ihm ein (vergl. die geistreichen Bemerkungen J. P. Fr. Rich- ters Vorsch. d. Aesth. §. 57). Der Träumende behält wohl auch sich selbst, aber nicht außerhalb der Auftritte, die er sich vordichtet, sondern als Mithandelnden; ja so ganz objectiv ist die Sprache des Traums, daß man oft genug träumt, Jemand neben sich zu haben, der an einem Kör- perschmerz leide, ihn bedauert oder wohl schadenfroh betrachtet, bis man erwacht und findet, daß man selbst der Leidende ist. Man kann sich wohl auch als Träumenden träumen und über die Seltsamkeit des Traums verwundern; aber die sich wundernde Person ist ja jetzt selbst nur ein geträumtes, in eine Reihe von Traumscenen versetztes Bild des wirklich Träumenden; der geträumte, in den Traum selbst versetzte Gegen- satz von Subjectivität und Objectivität ist daher nicht der wahre; dieser wäre nur dann da, wenn ich, für mich bildlos, meinen ganzen Traum als bloßen Traum, also auch jenes im Traum sich wundernde Ich als mein blos geträumtes Ich wüßte. Wenn das Verhalten der wachen Einbil- dungskraft zu subjectiv war, so ist dieß Verhalten völlig objectiv. Allein wie dort der Vorbehalt der Subjectivität sich durch Selbstverlust an die Ob- jectivität (stoffartiges Hingerissenwerden) bestrafte, so ist hier, zunächst so zu sagen, zu viel Objectivität, um von wahrer Objectivität reden zu können. Hat das Objectivirte sich kein Ich gegenüber, so fällt es gegensatzlos ganz in das Ich: die Bilder springen mit dem Ich davon, gehen mit ihm durch, aber ebenso richtig ist, daß das Ich jetzt einfach, ungeschieden in sich, nur Ich ist. Es verliert sich selbst in sich, sinkt in sich hinein, läuft mit sich davon. Der Vorzug des Traums bleibe aber zunächst seine ganz bildliche, ganz objective, ganz plastische Sprache, eine „Hieroglyphen- Sprache, Ur- und Natursprache der Seele“, wie sie Schubert in dem ersten Cap. seiner Symbolik des Traums treffend, aber mit mystischer Ueber- schätzung dargestellt hat, so können wir die völlige Objectivität auch als völlige Unmittelbarkeit bezeichnen und werden auch diese Kategorie mit Nächstem ausdrücklich einführen. Indem nämlich der Geist nur in Bildern spricht, so ist damit auch schon gegeben, daß er in dieser Sprache keinen Umweg durch ein von der anschaulichen Darstellung getrenntes Denken und Wollen nimmt, sondern alles Denken und Wollen nur ganz und mit einem Schlage in die Darstellung selbst legt. Allein auch dieß Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 22 hat im Traume wieder seine Kehrseite. Es ist leicht unmittelbar verfahren, wenn zur Vermittlung die Bedingungen gar nicht vorhanden sind, wenn keine Vermittlung zu überwinden ist; die Unmittelbarkeit ist dann ein unfreies Einsinken in die Natur; das Einsinken des Ich in sich ist ein Einsinken in sich als Natur. So ergibt sich denn von selbst, was den Traumbildern zum Schönen fehlt. Im Schlaf fällt die Subjectivität in ihren Natur- grund zurück, der Gegensatz von Geist und Leib erlischt in die dunkel webende Einheit der Seele; dennoch kann der Gegensatz nicht schlechthin aufhören, er setzt sich fort, aber so, daß er selbst die Form der Unmittel- barkeit annimmt, der Geist reagirt gegen die Natur innerhalb derselben, tritt als Selbst seiner Natur so gegenüber, daß auch dieses Selbst Natur ist, vergl. Rosenkranz Psychologie zweite Aufl. 113 ff. Selbst Natur ge- worden stellt der Geist seiner Natur eine zweite Schein-Natur gegenüber, er will noch thätig sein, die Organe seines wachen Lebens sind ihm aber entzogen, er kann nach außen nicht wirken, so benützt er gleichsam die Zwischenzeit, sich im Innern eine Schaubühne, ein Theater aufzuschlagen, worin er, so gut es geht, sich unterhält. Weil ihm aber der wahre Ge- gensatz fehlt, sowohl innerhalb seiner selbst, der Gegensatz von Subject und Object im Bewußtsein nämlich, als auch außerhalb seiner, der Ge- gensatz seiner Welt und der wirklichen, wodurch er jene an dieser ver- gleichend messen und beobachten könnte, ob er die Erscheinungen der Natur in der Umwandlung, die er mit ihnen vornimmt, nicht über ihre unab- änderlichen Grundformen und Gesetze hinausgetrieben, so nimmt seine Gestaltenwelt den allgemeinen Charakter der völlig gesetz- und zusammen- hanglos Raum und Zeit und alle organische Einheit der Erscheinungen in wilder Jagd maaßlos überspringenden Geisterhaftigkeit an. Noch mehr als von den Bildern der Einbildungskraft gilt es daher von den seinen, daß sie zwar in Bewegung und Mischung die Natur überbieten, aber keine qualitative Umwandlung derselben, also keine Schönheit darstellen. Wohl nimmt der Geist seinen übrigen Gehalt, also, wenn er in Anlage oder wirklicher Bildung ein edler ist, auch seinen Adel in den Traum mit und es tauchen daher in seltenen Fällen entzückende, in Wonne noch in’s Wachen nachzitternde Bilder auf; allein auch hier umschwebt nur Unend- lichkeit der Ahnung, nicht arbeitet wahrhaft geistige Unendlichkeit sie zur klaren Form aus. So wenig ist der Geist seiner mächtig, daß er in demselben Zusammenhang zu den häßlichsten, eckelhaftesten Bildern der Wollust und jeder Schändlichkeit übergehen kann, wo er sich dann noch ungleich stoffartiger verhält, als in der wachen Einbildungskraft, ja dem brünstigen Thiere gleicht. Insbesondere sind wir im Traume durch die Unendlichkeit und Einfachheit, welche hier namentlich die Angst annimmt, über die Maßen feig. Freie Verarbeitung durch Denken aber können die Traumbilder natürlich während des Traumes nicht erfahren; im Wachen zwar kann sich der Geist auf sie zurückwenden, allein sie liegen seiner wachen Welt zu fern, um sie anders, als spielend, in die Betrachtung zu nehmen. Die Frage nach einem möglichen prophetischen Gehalte des Traums, Traum- deutung und gar einem Handeln infolge derselben, liegt uns hier ohnedieß völlig abwegs. Von dem Phantasie-Begabten kann man aus diesen Gründen nur soviel sagen, daß er lebhaft träumen und daß sich dadurch diejenige Thätigkeit, durch die er die Schönheit erzeugt, eine weitere Masse von Bildern voranschicken werde, die durch ihre sich reibende Fülle und Vielheit der wahren Umbildung, welche sie erfahren soll, vorausarbeitet. Eine besondere Thätigkeit derjenigen Nervengegend, welche bei der Ruhe des Gehirns die Träume vermittelt, der Ganglien, ist daher allerdings bei Phantasiebegabten Naturen anzunehmen. Der nüchterne Lessing träumte fast gar nicht. Schon Plato und Aristoteles sind geneigt, im Leben des Unterleibs die locale Vermittlung der Phantasie zu suchen; Plato verlegt den Sitz des dichterischen, prophetischen Wahnsinns in die Leber (Timäus); Aristoteles (Problem. 30, 1 ff.) leitet das Genie aus einer besondern Wärme der schwarzen Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Me- lancholiker (vergl. Ed. Müller Gesch. d. Theorie und Kunst bei den Alten B. 2. S. 32.) Soviel ist gewiß, daß die phantasievollen Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund immerhin in einer erregbaren Disposition der Or- gane suchen müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie neigen zur Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihnen schnell den Magen zu affiziren. Schreckhaft sind sie allerdings, weil ihnen die Ein- bildungskraft rasch das Drohende verdoppelt, der Phantasielose wird immer muthiger sein, denn es ist schon gesagt, daß wir das Bild mehr, als die Sache, fürchten; die schnelle, ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Ein- bildung muß aber eben durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens vermittelt sein. Meine man nicht, dieß heiße den Genius zu tief unten suchen, denn wir sind jetzt noch in dem Gebiete, wo die Freiheit und Be- sonnenheit abgeht; wir müssen wieder zu dem aufsteigen, was als höhere Thätigkeit durch das Gehirn vermittelt ist. Uebrigens versteht sich von selbst, daß die allgemeine Phantasie dem Ge- biete des Traumes noch lebhaft sich öffnet, daß der Traum als Natur- Act der Seele allgemein menschlich, nur reicher in den Begabten ist. §. 391. Subjectiv überhaupt ist zwar die Existenz des Schönen als Phantasie, aber schon innerhalb des Subjectiven soll volle Objectivität entstehen, denn 22* reine Form, also ein von der Idee, dem Gehalte des Geistes, ganz durch- drungenes Bild soll sich im Geiste dem Geist gegenüberstellen; behält er aber sich mit dem Gehalte der Idee zurück, so kann er diese nur auf vermittelte Weise zu dem Bild in Beziehung setzen. Jene Synthese (§. 389) ist daher zu subjectiv und vermittelt, der Traum aber zu objectiv und unmittelbar. Sub- jectivität, Freiheit, Bewußtsein und Objectivität, unbewußtes und nothwendiges Thun, Vermittlung und Unmittelbarkeit sollen in dem Prozesse der Erhebung des Bildes zur reinen Form in ungeschiedener Einheit wirken. Dieser §. stellt in gedrängter Fassung heraus, was zu dem vorher- gehenden in der Anmerkung vorgebracht wurde. Schon in der Abtheilung a wurde entwickelt, daß das Bild unreif bleibt, wenn es nicht von der Ver- wechslung mit dem Gegenstande sich ganz ablöst und nur im Geiste als das seinige sich von ihm gegenübergestellt wird. Eben wenn es in diesem Sinne ganz subjectiv wird, so wird es, im Sinne innerer Gegenüberstellung, erst ganz objectiv, und ebendaher sagten wir, das Traumbild sei zu ob- jectiv: es ist dieß, weil es ebensosehr nicht objectiv genug ist, weil es zwar nicht mit dem wirklichen Gegenstande verwechselt, aber doch in voller Täu- schung, in die sich der Geist verliert, für objectiv gehalten wird. Der wache Geist behält außer dem innern Bilde zugleich den Gegenstand, um jenes mit diesem zu vergleichen, und so ist allerdings mit der vollen innern auch eine, das Bild an der Sache messende, äußere Objectivität vorhan- den; wir haben die Natur im Rücken, dürfen sie aber nicht verlieren. Die uns entstandene Forderung können wir nun auch so ausdrücken: ein waches Träumen, Traum in Wachen (wenn man nur die ganz eigentliche Be- deutung dieses Ausdrucks, die auf Somnambulismus, Wahnsinn und das einschlägige Krankheitsgebiet weist, gehörig fernhält). Ein vorläufiges Beispiel aber mag uns Göthe geben. Er wollte mit Recht seine Dichter- Natur besonders daran erkennen, daß jeder Gegenstand von vorwiegend dialektischem Inhalt ihn von jeher alsbald nöthigte, das Für und Wider an vorgestellte Personen zu vertheilen und sich innerlich eine Scene aus- zumalen, wo diese Personen lebhaft, stehend, sitzend, aufspringend, ge- sticulirend über die Sache debattirten, ja, daß er sich ebenso und nicht anders die Aufgabe zur Klarheit zu bringen wisse. Dieß ist das Verfahren des Traums, dieses sich Eingebenlassen von Gebilden, denen man doch selbst eingegeben hat, aber mit der Freiheit des wahren Bewußtseins, denn die innere Bühne geht mit dem Dichter nicht durch, die Entwicklung folgt dem vernünftigen Inhalt und wird von einem Denken, — das sich doch keineswegs neben sein inneres Bild hinstellt, — überwacht. Eben diese Einheit aber des Denkens, Wollens und des unbewußten, nothwendigen Thuns suchen wir erst. γ . Die eigentliche Phantasie. §. 392. Zuerst ist Alles, was im Bisherigen als vorausgesetzt im Subjecte aus- 1 gesprochen wurde, dahin zusammenzufassen, daß dieses ein ganzer Mensch sein muß: eine Persönlichkeit, welche jedes Einzelne mit der Frische der Anschauung und Wärme des Gefühls ergreift, sich leidenschaftlich von ihr bewegen läßt, aber es auch in die Einheit der Idee zurückführt, die sein allgemeines, nicht in die Bestimmtheit des ethischen Handelns, noch der Religion, noch des reinen 2 Denkens sich legendes Pathos ist. 1. Dieser §. ist also die Zusammenfassung dessen, was wir vom Ge- halte oder von der Idee im Schönen nunmehr in der subjectiven Wen- dung, wie sie nämlich im Besitze des das Schöne erzeugenden Subjectes sein muß, vorauszusetzen und im Bisherigen nacheinander vereinzelt aus- gesprochen haben. Es braucht keiner neuen Versicherung, daß wir dadurch über das Spezifische des Verfahrens in der Erzeugung des Schönen noch nichts wissen, aber ebensowenig eines Beweises, daß diese Voraussetzung der Idee als Gehalt im Subjecte nothwendig sei. Der Phantasiebegabte muß nun also eine Natur sein, die das Einzelne im Reichthum seiner Mannigfaltigkeit liebreich und scharf erfaßt, aber auch jedes Einzelne im tiefsten Innern in Einheit mit der Idee („dem Gattungsbewußtsein“ sagt Schleier- macher Aesth. S. 146. 147) zurückführt; denn in jedes Einzelne soll das Uni- versum gelegt werden. Schiller sagt (Briefw. zw. Schiller u. Göthe n. 784): „Der Grad der Vollkommenheit des Dichters beruht auf dem Reichthum, dem Gehalt, den er in sich hat und folglich auch außer sich darstellt, und auf dem Grad von Nothwendigkeit, die sein Werk ausübt. Je subjectiver sein Empfinden ist, desto zufälliger ist es; die objective Kraft beruht auf dem Ideellen. Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichterischen Werke gefordert, denn jedes muß Charakter haben, oder es ist nichts; aber der vollkommene Dichter spricht das Ganze der Menschheit aus.“ Freilich in demselben Zusammenhange sagt er, daß mit „der dun- keln Idee des Höchsten“ noch nichts gesagt sei, daß er nur den, welcher seinen Empfindungszustand in ein Object zu legen im Stande sei, so daß dieses Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne, daß ihm gerade der Schritt vom Subject zum Object den Poeten mache. Jeder, der dieß kann, sei seiner Bestimmung gemäß Dichter der Art nach, der Reich- thum des Gehalts bilde den Grad-Unterschied. Hiezu ist nur zu setzen, daß der Grad nicht nur auf den Gehalt gehen kann; der größere Dichter ist nicht nur gehaltvoller, sondern vermählt den Gehalt auch tiefer und umfassender auf der Form. Jenen Schritt eben sollen wir nun kennen lernen; aber nach der Seite des Gehalts müssen wir uns hier das Sub- ject feststellen, das ihn thun soll. Der Genius soll Alles vermenschlichen, Alles unendlich machen, in Alles eine Welt legen, daher muß er zuerst selbst eine Welt sein. Der Stoff mag sein, welcher er will, in die unbe- seelte Natur muß er so gut eine innere Unendlichkeit legen, als in eine menschlich sittliche Erscheinung. Jenes könnte höher scheinen, als dieses; darüber ist für jetzt nur so viel zu sagen: es gehört freilich ein reiches Herz dazu, das Sprachlose zu beseelen, in Erde, Wasser, Licht, Luft eine menschliche Stimmung zu legen, aber es kann auch die Tiefe und der entfaltete Reichthum da nicht hingelegt werden, den ein Object aus dem menschlichen Leben im Geiste des Phantasiebegabten antreffen muß. Wir können auf der jetzigen Stelle diese Tiefe, diesen Reichthum immer noch unbeschadet des Unterschieds der Objecte als eine im allgemeinern Sinne ethische Größe fassen; die Fähigkeit des Genius, sich in die verschiedensten Lebensformen zu versetzen, ihnen so in’s Innere zu schauen, als hätte er sie selbst durchlebt, ist davon noch wohl zu unterscheiden und gehört bereits zum spezifischen Thun der Phantasie. Es handelt sich hier nur erst vom inneren Fond. Als einen ruhenden und fertigen Besitz dürfen wir diesen freilich auch hier nicht denken. In der Flüssigkeit und Wärme dieses Fond, in der reinen und allseitigen Theilnahme eines im Guten heimischen Gemüths haben wir den ersten Ansatz, die Vorbedingung der Selbstver- wandlung in die Objecte, diese Anlage des Dichters, daß „ihm das Universum leise in das Herz schlüpft und ungesehen darin ruht und der Dichtstunde wartet“ (J. P. Fr. Richter a. a. O. §. 57). 2. Die negativen Bedingungen waren hier ebenfalls noch einmal (vergl. §. 389, 2. ) zusammenzufassen und zu bestimmterer Vollständigkeit die Frage über religiöse Richtung mitaufzunehmen. Was nun zuerst das Sittliche betrifft, so liegen zweierlei Fragen vor. Die erste ist, ob der Phantasiebegabte spezifisch auf das Ethische gerichtet sein müsse oder dürfe? Er muß es nicht nur nicht, sondern darf es nicht. Dieß braucht nach §. 56 — 60 keiner weitern Auseinandersetzung. Der spezifisch sittliche Charakter, d. h. derjenige, der zum Handeln, sei es pädagogisch, philan- thropisch, sozial überhaupt oder politisch, so disponirt ist, daß dieß seine ganze Lebensbestimmung bildet und ausprägt, bringt Alles unter den Gesichtspunkt des Sollens und kann daher nicht zur Schöpfung des reinen Scheins, der die Verwirklichung der Idee mit Einem Schlage vorausnimmt, berufen sein. Die andere Frage ist, wie weit die Forderung der Sitt- lichkeit an das persönliche Leben des Phantasiebegabten zu spannen sei. Hier ist nun einfach zu sagen, daß die wesentliche Sittlichkeit eines jeden Menschen darauf gestellt sei, daß er seinem speziellen Beruf lebe, daß also der Phantasiebegabte um so sittlicher sei, je mehr Schönes und je Schöneres er hervorbringe. Vergeudet er seinen Geist in Genuß und unordentlichem Leben, so schafft er wenig und Mangelhaftes, und da ist in der ästhetischen Beurtheilung die sittliche von selbst miteingeschlossen. Große Gaben, die würdig gewesen wären, in den Himmel des Schönen gerettet und gesam- melt zu werden, können in einem eiteln Leben hinter dem Weinglas, im Salon und in liederlicher oder blasirter Gesellschaft verpufft werden; dieß ist bei spezifischem Berufe viel strenger zu beurtheilen, als die Leidenschaften des Privatlebens, von denen §. 389, Anm. 2 die Rede war. Was aber insbesondere das Politische betrifft, so liegt in jetziger Zeit eine große Schwierigkeit vor. Der Genius geht, wie im folgenden §. wieder auf- zufassen ist, von der Naturschönheit aus. Eine in der Wirklichkeit schon abgeschlossene Gestalt soll ihm Stoff sein, der naturschöne Stoff muß der Phantasie eine gewisse Reife schon entgegenbringen. Der sittliche Reichthum, den wir von ihm fordern, soll ihm freilich die rechten, die großen geschichtlichen Stoffe weisen, aber sie müssen auch Formfülle haben. Ihn zieht billig der Glanz an. Ist nun der Glanz da, wo die politische Berechtigung und im Zeitbedürfniß gegründete Größe ist, wie in den alten Republiken und in der jungen Monarchie zu Schakespeares Zeit, so ist es gut; ist aber das innere Leben nicht mehr da, wo der Glanz ist, sucht die politische Idee eine neue Form und hat sie noch nicht gefunden, so ist der Dichter übel daran: das Formbedürfniß zieht ihn zum ausgelebten Glanze und das Gehaltsbedürfniß findet keine Form. Da fordert nun unsere Zeit politische Kunst im Sinne eines Mittels, Begeisterung für das Ideal der Zukunft zu wecken; das Wahre kann nur sein, daß zu einer Blüthe der Kunst, wenigstens derjenigen, welche Stoffe von politischem Gehalte verar- beitet, ausgenommen gewisse blos anhängende Formen (Satyre u. s. w.), eine solche Zeit gar nicht gemacht ist. Vergl. hierüber den Aufsatz des Verf. über Shakespeare im literarhistor. Taschenb. von Prutz 1844, S. 94 ff. und die krit. Gänge Thl. 2, S. 283 ff. Allerdings kann man nun sagen, es könne vergangene Stoffe geben, deren Gehalt der modernen politi- schen Idee so verwandt sei, daß diese ungesucht in sie gelegt werden könne; da tritt aber noch ein subjectives Hinderniß ein, von dem am Schluß der Geschichte der Phantasie zu reden ist. Eine ergänzende Bestimmung aber tritt zu den obigen Sätzen allerdings dadurch, daß ja, wie schon zu §. 378 berührt ist, auch das vom Unwillen über die Gegenwart und der Idee als noch unverwirklichtem Gedanken lebhaft erregte Subject selbst Gestalt genug für die Kunst sein kann: für gewisse Arten derselben näm- lich. — Was die Religion betrifft, so darf ebenfalls nur §. 61—67 subjec- tiv gewendet werden, um zu begreifen, daß spezifisch auf Frömmigkeit gestelltes Pathos die ächte Phantasie ausschließt, daß ein Fiesole seine schönen Anschauungen nicht seinen Gebeten und Thränen verdankte, daß es sehr begreiflich ist, wenn uns ausgezeichnete Maler christlicher Mythen, wie Giotto, als sehr lustige und witzige Patrone geschildert werden, und daß der moderne Kunstpietismus, der den Künstler zum Mönch machen möchte, eine schwere Verirrung ist. Auch Schleiermacher spricht sich bestimmt genug über diesen Punkt aus (Aesth. S. 214 ff.); er nennt die religiöse Haltung der Meister in religiösen Stoffen eine bloße Wirkung des Ge- sammtlebens auf sie. — Endlich ist nur §. 68 und 69 subjectiv zu wenden, um die Richtung auf das reine Denken ganz von der Phantasie auszu- schließen. Nichts ist hierüber belehrender, als die vielen Aussprüche Schillers, worin er selbst klagt, wie der Philosoph in ihm den Dichter und umgekehrt störe, seine Betheurung, daß er all sein speculatives Wissen und Denken als Dichter gern um den gemeinsten technischen Handgriff eintauschen würde, sein Gefühl des Fortschrittes, als er an Göthe’s ungetheilter Natur die Speculation, welche dieser in ihrem Verhältniß zur Aufgabe des Dichters ganz mit Recht (aus anderweitigen Gründen frei- lich mit Unrecht) eine unselige nannte, in die Phantasie sich wieder aufheben fühlte. Ein Bruch blieb ihm aber immer. In der Lehre von der Besonnenheit in der Phantasie ist auf diesen Punkt noch einmal zurück- zusehen. §. 393. 1 Dieses Subject findet zufällig irgend ein Naturschönes, dessen Gehalt durch die Mitte der Anschauung die in seinem Gemüth lebendige Idee als eine 2 verwandte berührt und erfaßt. Die Wirkung wird (vergl. §. 381, 1.) zunächst mehr oder minder, kann aber auch im vollen Sinne stoffartig sein; dann muß aber, ehe der wahrhaft Schönes erzeugende Prozeß beginnen kann, die Leiden- schaft ihren Verlauf bis zur Nähe der Abkühlung genommen haben. 1. Wir haben das Naturschöne seit §. 385 zur Seite gelassen; jetzt ist der Moment, wo es wieder aufgenommen werden muß und für die ganze Entwicklung liegt die größte Wichtigkeit darin, daß dieß gerade hier geschieht. Wir haben als Forderung oder Voraussetzung ein mit der Idee erfülltes Subject aufgestellt. Jetzt entsteht die schwierige Grundfrage: wie dieses mit einem Objecte so zusammenbringen, daß es seine Idee so, wie wir in §. 391 verlangten, unmittelbar und in völliger objectiver Ge- genüberstellung in jenes legt? Hier ist es, wo sich erledigt, was in §. 383, Anm. 2 in Aussicht gestellt ist, der letzte Grund nämlich, warum der Aus- gang von der Phantasie eine falsche Anordnung der Aesthetik wäre. Zieht man nämlich nicht auf diesem Punkte ein gegebenes Object mit der vollen, ergreifenden, das Subject hinnehmenden Wirkung der Naturschönheit heraus aus der breiten Masse der Objecte, so wird man nie den Act der Zu- sammenschmelzung und Ineinsbildung finden können, den wir fordern. Das phantasiebegabte Ich hat als ein mit der Idee erfülltes auch bestimmte Ideen; eine oder andere dieser Ideen soll es in ein Object legen, — welche? und in welches Object? Wo da den Uebergang finden, wenn es nicht die Macht des Objects ist, die zuerst das Subject hinreißt, daß es eben diese Idee, die in diesem Object liegt, — nicht in es lege, sondern in ihm finde, zu der seinigen mache, dann, im eigenen Busen erwärmt, wieder in das Object gieße? Man wird, wenn man nicht so verfährt, immer das Subject behalten, das nun herumsucht, mit Absichtlich- keit irgend eine Idee in irgend ein Object legt, und es ist kein Grund da, warum es nicht die Idee der Freiheit in die Form eines Thiers, die Idee des Staats in den Körper eines Steins u. s. w. lege. Es wird wohl äußere Vergleichungspunkte suchen und etwas zweckmäßiger ver- fahren, so daß z. B. die Idee des Staats vielmehr in einen Bienenstock gelegt wird, aber die Idee der Gattung Biene ist ein für allemal nicht die des Staats, der Körper hat eine fremde Seele. In diesen bodenlosen Idealismus geräth man, wenn man vom Selbst ausgeht und es nicht nur unterlassen hat, ihm vorher die Naturschönheit unterzubreiten, sondern auch weiterhin unterläßt, ihm ein bestimmtes Naturschönes als jeweiligen Gegenstand so zu geben, daß es diesen Gegenstand und in ihm seine , des Gegenstands , Idee ergreift, in den eigenen Geist, dessen subjective Ideen eben die reinen Ideen der Gegenstände sind, aufnimmt und ihm hier den- selben Gehalt, der in ihm vorliegt, als einen subjectiv unendlichen zuführt. Ein Stoff zündet in dem Subject auf allen Punkten, worin dieses jenem verwandt ist. Man meint immer, wenn man den Gegenstand premire, so gerathe man in den Fehler, zu vergessen, daß Alles auf die Form ankommt. Dieß ist völlige Verwechslung. Die Idee des Gegenstands bringt im Gegen- stand selbst ihre Form mit; das künstlerische Subject findet natürlich nicht die Idee des Gegenstandes in der Trennung von ihrer Form, son- dern als Eins mit ihrer Form, richtiger als Form schlechtweg, nur als noch getrübte, der Umbildung harrende vor; wir streiten jetzt gar nicht darüber, wie sich Wesen und Form verhalten, sondern darüber, ob der Künstler das Ganze von Wesen und Form im Gegenstand finde, durch seinen Geist hindurchgehen lasse und erhöht wieder gebe, oder ob er ein ersonnenes Wesen in diese oder jene gefundene Form hineinzulegen habe. Da nun dieses zur Bildung von Larven führt, die eine fremde Seele im eigenen Leibe tragen, so ist es ja klar, daß es allerdings auf den Gegenstand , keineswegs nur auf das Subject des Künstlers, auf die Behandlung ankommt. Hierin nun ist es, (vergl. §. 381 Anm. 2 ), wo Rumohr , nebst schwankender Anerkennung des Gegenstands (z. B. a. a. O. S. 156), ganz gegen seine Absicht in den leeren Idealismus geräth, wenn er (S. 133) sagt, es heiße die Sache bei ihrem Ende ergreifen, wenn man „sich damit begnüge,“ den Werth oder Unwerth des Gegen- stands ermitteln zu wollen. Begnügen soll man sich allerdings nicht damit, aber darum ist es keineswegs „ nur “ die Auffassung und Darstellung, auf die es, wie er fortfährt, ankommen soll. Wenn von hundert Künstlern jeder denselben Gegenstand auffaßt, so darf ihn doch jeder nur nach einer Seite auffassen, die wirklich in ihm liegt, und ich erkenne aus der Ver- schiedenheit dieser Auffassung allerdings, daß sich wesentlich „die Seele des Künstlers im Kunstwerke zeigt“ (Schelling in s. Rede), aber die Seele des Künstlers, homogen zusammengegangen mit der gegebenen, freilich verschiedene Seiten bietenden, innersten Natur des Gegenstands, oder richtiger, der Gegenstand, eingegangen in die verwandte Seele des Künst- lers. Hettner ist in den §. 236, 3. angeführten Sätzen Rumohr gefolgt, mit ihm in Baumgartens aus Halbwahrheit unwahren Satz gerathen, die Kunst könne auch Häßliches schön darstellen (possunt turpia pulcre cogi- tari), und steigert nun diesen Idealismus bis zu der Loosung: die Kunst sei Ausdruck des Gedankens und nur dieses. Von dem Mißlichen, das in der Bezeichnung „Gedanke“ liegt, wollen wir absehen und nur fragen, ob denn dieser Gedanke nicht für das jeweilige Kunstwerk eben der Ge- danke dessen sein müsse, was im Gegenstande liegt? Und ob man dieß in der Aufstellung eines Hauptsatzes weglassen dürfe, ohne jeder Willkühr desselben vornehmen Gebahrens mit der Natur, wogegen Hettner auftritt, Thür und Thor zu öffnen? In der Kritik einer neueren Kunstausstellung zu Stuttgart las man, die Thiere seien als unreife Uebergangsform kein Stoff der Darstellung für die Kunst, dann weiter: „ da kann eine an- dere Idee, als die ihrer eigenen Existenz, nicht durch sie zur Erscheinung kommen, ohne in Conflict mit der Form zu ge- rathen .“ Hier, in diesem durch Gegentheil des Richtigen über das Richtige sehr belehrenden Satze, hat man die Folgen der rein subjectiven Ableitung des Schönen. Ein Gegenstand soll in dem Grade für die Kunst tauglich sein, in welchem er zuläßt, eine andere Idee, als die seines eige- nen Wesens, in ihn zu zwängen. Daraus folgt aber gerade, daß, je ärmer ein Gegenstand, desto vortheilhafter er ist. Ein Thier läßt sich viel eher gefallen, als Allegorie verwandt zu werden, als ein Mensch, und eine Lichtscheere leidet es mit aller Geduld als Sinnbild der Aufklärung das Ganze eines Kunstwerks abzugeben. Zufällig soll ein Naturschönes den Phantasiebegabten treffen und entzünden. Göthe sagt, jedes wahre Gedicht sei Gelegenheitsgedicht. Die Zufälligkeit, die wir bisher auf allen Punken festhalten mußten, geht hie- mit auch in das subjective Gebiet als Ausgangspunkt der Bewegung ein. Es folgt dieß nothwendig schon aus der eben aufgewiesenen Bedeutung des Gegenstands. Geht der erste Anstoß nicht von diesem aus, so erhal- ten wir immer einen Künstler, der einen Vorrath von Ideen fertig hat und herumsucht, in welche Körper er sie willkührlich lege. Die Persönlich- keit des Phantasiebegabten wird daher überhaupt etwas vom Charakter der Zufälligkeit annehmen; ein sich Gehenlassen, Warten auf gute Stoffe, periodische Unthätigkeit, dann gesteigerte Fruchtbarkeit werden ihn bezeichnen. Dennoch schließt der Begriff des Zufälligen gewisse Formen der Absicht nicht aus. Der Genius kann und muß nicht immer auf Stoffe warten, er muß sie aufspüren, suchen. Maler machen Wanderungen, Reisen, Dichter lesen Geschichtswerke, Novellen u. s. w.; absichtlich ist dabei nur die Durch- suchung des Gebiets, der gute Stoff findet sich dennoch zufällig, überrascht, erfaßt. Aehnlich verhält es sich mit der Bestellung. Die Phantasie, sagt man, läßt sich nicht commandiren. Allein sobald wir voraussetzen, das Bestellte sei ein guter Stoff, so ist die Bestellung nichts weiter als eine Hinweisung auf denselben und ebenso ein Zufall, wie wenn der Künstler den Stoff selbst gefunden hätte. Die erste Richtung seines Geistes auf denselben ist ein Willensact, allein dann wird die Natur des Stoffes selbst zu wirken beginnen und der unwillkührliche Fortgang, das einmal eröffnete Spiel seines Innern, wird den willkührlichen Anfang aufheben. Man muß ja hierin nicht zu haikel sein, Künstler sind gern weichlich, sie müssen geschoben werden, es schadet ihnen gar nicht, wenn sie mitunter invita Minerva an’s Werk müssen; verwerflich und vom Künstlerstolze billig ab- gewiesen sind nur Bestellungen von Stoffen, welche ihnen nichts entgegen- bringen, d h. keine Naturschönheit enthalten, elend war die Gelegenheits- dichterei im früheren Sinne, das handwerksmäßige Verfertigen von Hoch- zeits-Tauf-Leichen-Carmina um’s Geld. Wenn wir nun so von dem künstlerischen Schaffen die Absichtlichkeit, nur nicht allzuängstlich, ferne hal- ten, so ist damit keineswegs gesagt, daß dieses ganze, auf Zufall gestell- tes Thun nicht ein freies sei. Wir haben nur hier noch nicht zu unter- suchen, in welchem Sinn der Künstler frei handle, in welchem nicht; aber es versteht sich, daß, so wenig wir die eigene Idee des Künstlers aus- schließen, wenn wir auf den Gegenstand dringen, der ihm seinen Ideen- gehalt entgegenbringen soll, ebensowenig die Freiheit aufgehoben ist, wenn wir Zufälligkeit der Anregung verlangen; ein Gegebenes, Gefundenes umbilden beweist mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag. Dennoch dürfen wir die naheliegende Einwendung nicht überhören: kann und darf denn die Phantasie gar nicht frei erfinden? Wenn z. B. der dramatische Dichter, bewegt vom Geiste seiner Zeit, eine Fabel durchführt, worin dieser ergreifenden Ausdruck findet, muß er denn einen wirklichen oder erzählten Vorgang zu Grunde legen? Genügt es nicht, daß Ein- führung einzelner Personen, daß einzelne Scenen, Züge auf Erinnerung an unmittelbar oder (durch Ueberlieferung) mittelbar geschaute Naturschön- heit beruhen? Wir antworten zunächst: besser ist es gewiß immer, wenn die Fabel eine gegebene ist. Schiller fühlt sich durch den streng geschicht- lichen Stoff seines Wallenstein heilsam beschränkt und gespornt; aber selbst dem Don Carlos liegt Geschichte zu Grunde. Wird aber der Stoff, die Fabel auch vermeintlich ganz ersonnen, so wird bei genauerer Selbstprü- fung der Dichter immer finden, daß die einzelnen Personen, Scenen, Züge, die er auf der Grundlage der Anschauung gebildet hat und nur einzu- flechten meint, es vielmehr sind, die den Gedanken der Fabel durch Ent- faltung der in ihnen liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein Dichter sieht eine Gestalt, eine Scene; daran schießt ihm wie an einen Magnet seine innere Welt an, er erweitert den unscheinbaren Keim zum Baume des Kunstwerks; aber der Keim, der Magnet war gegeben. Dieß kann völlig in der Weise geschehen, wie wir sie später als die des My- thus werden kennen lernen, nämlich es kann eine Erfindung entstehen als erläuternder Commentar einer Anschauung. Dafür stehe hier folgendes merkwürdige Beispiel: Zschocke erzählt in seiner Selbstschau, wie er mit H. von Kleist und einem Sohne Wielands irgendwo einen französischen Kupferstich sah: la cruche cassée. „Wir glaubten ein trauriges Liebes- pärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolika-Kruge und einen groß- nasigen Richter zu erkennen. Für L. Wieland sollte dieß Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung wer- den.“ So ist Kleists meisterhafte Komödie: der zerbrochene Krug ent- standen. Die Fabeln des Aristophanes und der Komödie überhaupt sind meist ersonnen, aber sie sind Expositionen von Charakterbildern und Zeit- motiven, die sich vielfach und mit starken Eindrücken dem Dichter in der Wirklichkeit dargestellt hatten. Immer jedoch wird, wenn nur diese Ele- mente gegeben sind, nicht aber eine ganze Fabel durch Anschauung, Ge- schichte, durch Sage dargeboten ist, die Gefahr da sein, daß in den Cha- rakteren und einzelnen Zügen zwar Phantasie, in der Fabel aber Willkübr, bloße Combination, bloße Einbildungskraft thätig ist. Uebrigens soll da- durch die Freiheit der Umbildung im Ganzen keineswegs verkümmert werden, nur sind in abstracto die Grenzen nicht zu bestimmen. Ein ver- einzelter, socialer, novellenhafter Stoff z. B. läßt totale Umänderung der Katastrophe (aus einer unglücklichen in eine glückliche und umgekehrt) zu, ein großer geschichtlicher nicht. Die griechische Tragödie hatte den großen Vortheil, an großen, durch Sage schon gehobenen und vereinfachten Fabeln aus der vorgeschichtlichen Zeit sich thätig erweisen zu können. Dieß Bei- spiel ist aus einer schon sehr reichen Sphäre der Kunst genommen. Ein anderes, aus der Landschaftmalerei, ist einfacher. Die sogenannte historische Landschaft war gewöhnlich ganz frei componirt, nur einzelne Studien nach der Natur wurden eingewoben. Sie hatte ebendarum zu wenig Local- physiognomie, Individualität, war abstract, und es ist als ein großer Fortschritt zu erkennen, wenn jetzt nicht stofflose Erfindung, sondern nur freie Durchbildung eines vorgefundenen Ganzen als Gesetz gilt. Noch ein Beispiel aus der Plastik: Thorwaldsen hatte ein Modell; zufällig, um auszuruhen, setzt sich der müde nackte Junge und hält naiv ein Knie mit beiden Händen; Thorwaldsen hieß ihn so verbleiben und hatte ein Motiv von unnachahmlich glücklicher Naturschönheit als Stoff eines ursprünglich gar nicht beabsichtigten selbständigen Werks gefunden. 2. Alles Naturschöne wirkt mehr oder weniger stoffartig (§. 381), die Anschauung, da sie die Mängel desselben noch nicht tilgt (§. 387), ist ebendaher nicht frei von pathologischer Affection. Diese Wirkung wird natürlich am stärksten sein, wenn Selbsterlebtes den ästhetischen Stoff bildet. Ein schönes Weib kann einem Bildhauer Vorbild werden; liebt er sie aber und hat diese Liebe schon erschütternde Schicksale gehabt, so ist eine pathologische Verwachsung so starker Art da, daß zum Standpunkte der reinen Form der Uebergang schwer ist. Hier müssen wir denn eine bereits eingetretene Abkühlung der Leidenschaft fordern; auch diese freilich mit Unterschied. Soll ich nur den Gegenstand darstellen, so kann und darf die stoffartige Leidenschaft ganz abgekühlt sein, soll ich aber meine Leidenschaft selbst (z. B. in einem Roman) darstellen, so muß sie noch in die eingetretene Kühle nachwirken, fortzittern, eine Mitte zwischen Gegenwart und Erinnerung. Da die Darstellung selbst es wesentlich ist, welche die Leidenschaft vollends be- sänftigt, so haben wir hier allerdings einen begreiflichen Zirkel vor uns: die Ablösung der Leidenschaft vom eigenen Selbst muß vorangehen, wenn dieselbe objectives inneres Bild und dieses Bild reine Form werden soll, und: die Gabe der Phantasie bewerkstelligt diese Ablösung aus ihrem eigenen Bedürfniß, so daß sie dem sittlichen Leben, selbst abgesehen von der Kunst, erleichternd die Hand bietet. So heilte sich Göthe von der Leidenschaft, um sie darstellen zu können und zugleich beförderte die Darstellung seinen Heilungsprozeß. Uebri- gens sind die Leiden Werthers noch durch einen weitern Umstand für unsern Zusammenhang merkwürdig. Die dargestellte Leidenschaft ist selbst erlebt; zum Schlusse aber hat das Ende des jungen Jerusalem als Stoff gedient. Göthe wußte einen solchen anfangs nicht zu finden; nun kam die Kunde von diesem Selbstmord und er wußte Rath: das absolute Pathos der Sentimentalität mußte mit dieser That der Selbstzerstörung endigen und der Dichter selbst war, indem er fingirte, wie das Selbsterlebte ohne sitt- liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in’s Objective hinüber warf, völlig frei. — Aber auch was nicht unmittelbar selbsterlebt ist, eine vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenschaftlich für oder wider Theil genommen, muß mir erst so weit wieder zurück- und gegenüber treten, daß ich sie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig und unbefangen betrachten kann, daß daher selbst die feindlichen Kräfte, die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, so fest ich auch an der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert, sagt Hippel, kann das Fieber nicht darstellen. — §. 394. Das Subject und Object müssen aber in Eines zusammengehen und diese Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des Subjects in sich beginnen: ein Zustand der Stimmung , worin das erste Bild des Gegenstands in einen gestaltlosen Uebel versinkt, aber in der unter- scheidungslssen Verschmelzung desto inniger das ganze Leben des Selbst mit ihm in Eines aufgeht; eine reine Lust, worin sowohl die Erhebung und Entrückung aus der Welt des getrübten Daseins empfunden, als auch die neue Gestaltung geahnt wird; ein Insichsein, das als Außersichsein erscheint; bewußtlose und unwillkührliche Trunkenheit der Begeisterung : der Anfang des dichterischen Wahusinns. Der vorhergehende §. sprach von den so zu sagen nur historischen Voraussetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be- greiflich zu machen. Das Erste ist die Stimmung. Wer diesen Zustand nicht kennt, von welchem sich Göthe und Schiller so viel schreiben, dieses durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren Grund und Gegenstand man zunächst nicht zu sagen weiß, die Alles rings umher in einem unbekannten und doch so bekannten neuen Lichte leuchten sieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, sondern nur tief in sich selig ist, der kennt nicht die Geburtsstätte und Mysterien der schaffenden Phan- tasie. Dieß erste Moment ihres Prozesses ist also zunächst ein völliges Zurücktreten von Object, denn dieses soll nicht wiederholt, sondern es soll sterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „stille Schat- tenland,“ in dieß Grab ein, worin es zuerst erlöschen soll. Wenn schon der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unsterblich im Gesang soll leben, muß im Leben untergehn“), so muß nun auch das erste, schon dem Geist gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenschwere be- fleckte Bild des Gegenstands einsinken und sterben, um neu zu erstehen. Das Subject scheint nun allein zu sein, ohne den Gegenstand; allein es hat ihn nur so innig in sich heineingenommen, daß sein eigenes Selbst und er ganz in einander aufgehen. Das Object wird flüssig in ihm wie Erz im Schmelzofen, weil es selbst flüssig wird und mit seinem ganzen, von seiner ganzen Bildungskraft ungeschiedenen, Gehalte in es einströmt. In Wahrheit ist diese dunkle Stätte, diese Brautnacht da, wo mit der reinen Anlage aller Gattungen des Seins die Anlage des Ich, bildende Natur und bildender Geist, ursprünglich Eins sind. Der Phantasiebegabte ist nun aber allerdings mitten in der Welt einsam, denn das Eine, was er jetzt an seinem Busen still erwärmt, ist eine Welt, die empirische Welt hat alle ihre Bedeutung an diesen Mikrokosmus abgegeben; er ist daher gegen das Umgebende zerstreut und scheint außer sich, weil er zwar ganz in sich ist, aber so, daß er in sich selbst nicht Object und Subject scheidet, sondern es ihm angethan ist, daß das Object mit seinem subjectiven Leben ineinandergährt und er nun diesem innern Singen, Klingen, Weben be- wußtlos zuhört. Ein Schmerz der Trennung von der Behaglichkeit der gemeinen Welt, eine Angst der Geburt liegt wohl in diesem Zustande, aber auch die reinste Freude und Seligkeit der Entrückung aus der Breite des störenden Zufalls, „des Erdenlebens schwerem Traumbild“, und der Vorempfindung des leise Werdenden. Aeußerer Reiz darf nicht stören; Göthe mochte keinen Prunkt in seinem einfachen Zimmer; unschuldige Mittel, wie Schillers scharlachrother Vorhang, können wirksam stimmen, narkotische trügen, die eigentliche Trunkenheit steigert nur die gemeine und wirre Einbildungskraft. Da nun in diesem Zustande das Subject sich in das Object so ergießt, daß es sich eines Unterschieds von diesem gar nicht bewußt ist, daher die Macht des Subjects vielmehr die Macht des einströmenden Objects zu sein scheint, so fühlt sich jenes wie von einem fremden Geist dahingenommen, gezogen, besessen; es kann nicht anders, ein Geist ist über es gekommen. Wir nennen dieß mit einem noch an die nahe liegende mythische Vorstellung erinnernden Ausdruck Begeisterung, deren Zug zwar hier nur beginnt und erst mit einem weitern Schritte zum Strom anwächst. Die Alten, denen an der Grenze der Selbster- kenntniß überall das unerkannte, weil unmittelbare Eigene als Werk des Gottes erschien, stellten sich hier wirkliche Eingebung, Inspiration vor. Der Dichter ist von der Muse erfüllt, er ist ἔνϑεος ϑεόπνευςος χάτ- εχόμενος, ἐκςαπκὸς, er ist durch göttliche Entrückung, ὑπὸ ϑείας ἐξαλλαγῆς, außer sich, ἐξω ἑαυτȣ῀, es ist ihm angeweht (ἐπίπνοια). Diese Begriffe faßten sich in dem der ϑεία μανία, des göttlichen Wahnsinns zusammen, wobei man freilich den weitern Verlauf der Phantasiethätig- keit, von dem wir hier noch nicht reden, das wirkliche Gestalten, sofern es traumähnlich ist, schon hieher zu ziehen hat. Wenn nun Plato’s Lob dieser μανία, die er als eine Gattung neben der prophetischen, mystischen (Dionysischen) und erotischen zählt, von der beigegebenen Ironie sehr schwer zu scheiden ist, so kommt dieß daher, daß der μανία eine doppelte Besonnenheit gegenübersteht: die gemeine, und ihr gegenüber ist die μανία göttlich, eine Entrückung aus dem Geleise der Gewöhnlichkeit (τῶν εἰωϑότων νομίμων), ihr gegenüber hat sie ihre Besonnenheit; dann aber die höhere philosophische, und ihr gegenüber sind die Dichter blind, weil sie keine Einsicht in das haben, was sie sprechen, und „wie eine Quelle, was immer herbeikommt, willig dahin strömen lassen.“ (Die Stellen vergl. in Ruge’s Platon. Aesthetik S. 87 ff. Ed. Müller a. a. O. B. 1, S. 42 — 56). Plato zieht aber nirgends in strengem Zusammenhang jene Unterscheidung, daher das Schillern zwischen Ernst und Ironie. §. 395. Dieser schwebende Zustand verbirgt aber bereits den Anfang einer Form- thätigkeit in sich. Das aufgenommene Bild geht mit der Masse der sonst gesammelten, demselben Kreise angehörigen Bilder eine geheime Gährung ein, worin sie sich mit unbefestigten Umrissen durchkreuzen und einen Act vorbereiten, der zugleich Verbindung und Scheidung ist. Die ganze Thätigkeit, die hier im ersten Stadium ihres letzten und höchsten Schrittes vor uns tritt, geht rein im Gebiete der Form vor sich. Man kann sich nicht genug hüten vor einem Anfang, der das falsche Verfahren vorbereitet, das Schöne daraus zu erklären, daß das Subject, mit der Idee erfüllt, zuerst den Gegenstand an der Seite des Ideengehalts ergreife und von da aus erst die Form erfasse, um sie zu läutern. Hegel ist von diesem falschen Wege allerdings nicht ganz freizusprechen. Hier nun, wo wir jetzt noch stehen, hat das Subject, freilich mit seiner geisti- gen Fülle, aber mit dieser wie sie von Anfang an Eins ist mit seinem Formsinn, das Object, das ebenfalls Gehalt und Form in Einem, aber beides in getrübter Weise ist, ergriffen, sich ein Bild davon genommen, und dieses Bild gährt mit der Masse dessen, was wir überhaupt als gesammelt (§. 386) und aufbewahrt voraussetzen, in einem verhüllten Prozesse zusammen. Aus dieser Masse wird das Bild durch die einfache Attraction seiner Gattung diejenigen Bilder anziehen, die zu derselben Gattung gehören; dieser Kreis wird sich aber zugleich verengen bis zu der näheren und nächsten Sphäre — z. B. bei einer geschichtlichen Person Nation, Volksstamm, Stand, Thätigkeit, Verhältnisse, Temperament, Cha- rakter. In der Mitte der verwandten Bilder aus diesen näheren und nächsten Kreisen schwebt das ursprüngliche, eben jetzt als naturschöner Stoff der eingetretenen Stimmung gegebene Hauptbild. Die Umrisse aller dieser Bilder werden, geistig wie sie sind, gleichsam durchsichtig erschei- nen, so daß das innere Auge durch das eine auf das andere hindurchsieht und unbehindert ist, von einem in das andere herüberzunehmen und ebenso abzugeben, zu verbinden und auszuscheiden. Bestimmteres kann von dieser Stufe nicht gesagt werden; sie ist noch ein Chaos, und was darin vor sich geht, erschließen wir rückwärts aus dem kenntlichen, durch sein Pro- duct offenbaren Prozesse, der nun folgt. §. 396. Der Uebergang zu bestimmter Gestaltung kann nur durch einen Act der 1 Csucentrirung geschehen, worin ein Anfang von Denken und Wollen oder Be- siunung, ebendaher von objectivem Gegenüberstellen, jedoch nicht als gesonderter Act, sondern ungetrennt von der Begeisterung auftritt. Die Gährung faßt sich 2 nun zusammen zu der bestimmten Thätigkeit, welche die im naturschönen Gegen- stand schon gegebene, aber unvollkommene Zusammenziehung (vergl. §. 53, dazu 48, 2 .) an ihm fortsetzt und so vollendet, daß in seiner ganzen Form, was individuelle Bindung der Idee ist, durch ein verhülltes Zuzählen aus den um- schwebenden Gattungsbildern ergänzt wird, was diese Bindung stört, durch ein verhülltes Abzählen ausgeschieden unter diese zerfließt, und so dieselke in voller Reinheit hervortritt. 1. Das Unbewußte und Nothwendige, das Bewußte und der Wille müssen in der Entwicklung des Acts der Phantasie wieder aufgenommen und ihr Verhältniß dargestellt werden. Auf der vorhergehenden Stufe lag nun das zweite Moment, das wir in der Besonnenheit zusammenfassen, noch ganz verhüllt. Jetzt tritt es in derselben Bedeutung hervor, wie die Aufmerksamkeit in der Anschauung; diese Aufmerksamkeit ist kein gesonder- ter Vorsatz mit dem Bewußtsein, dieß oder jenes mit den Sinnen ernstlich fassen zu wollen, es ist eine Intensität der Wahrnehmung, der Geist drückt darauf, ohne daß dieses Drücken, dieß Dabeisein irgendwie als ein getrenntes Bewußtsein und Wollen neben den Act sich stellte. So macht auch auf der jetzigen Stufe der Geist dem Bilder-Chaos (§. 395) durch eine Fassung, Sammlung ein Ende. Diese strengere Einkehr in den eige- nen Busen wird ebenso sehr dem Künstler zugemuthet, als die volle Be- wegung und Munterkeit des Weltkindes ihm eingeräumt wird. Trüber Mißverstand aber ist es, dieses Moment zum Ganzen, mönchische Isolirung dem Künstler zum Gesetz zu machen. — Die straffere Anziehung nun wirkt einem Messer gleich, welches das Hauptbild aus den umschwebenden herausschneidet. Jeder Künstler wird sich erinnern, daß ihm bei seinen Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 23 Schöpfungen sozusagen eine Menge von Abschnitzeln zur Seite fiel, nicht nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, sondern von verwandten Bil- dern, die in unbestimmter Mischung das Hauptbild umgaukelten und in einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abstoßung mit ihm spielten; daß er dann endlich Ernst machen und diesem Spiel einen Abschluß geben mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung seines Faust eine Geisterschaar von Jugenderinnerungen in sich auftauchen, aus denen er einst das Ganze schuf, deren unbestimmterer Schattenzug aber dieses noch in der Erinne- rung ahnungsvoll umschwebte. Worin nun jener Abschluß bestehe, dieß ist das Geheimniß der Phantasie. 2. Zuerst geben wir die zu §. 53 schon angedeutete Stelle von Kant (Krit. d. ästh. Urthlskr. §. 17): „Es ist anzumerken, daß auf eine uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von langer Zeit her, zurückrufen, sondern auch das Bild und die Gestalt des Gegenstands aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Arten oder auch einer und derselben Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen lassen und durch die Congruenz der mehreren derselben Art ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tau- send erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungs- weise zu schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dieß ist die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte eben dasselbe mechanisch herausbekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addirte und die Summe durch tausend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen dynamischen Effect, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des inneren Sinnes entspringt.) — Diese Normal-Idee ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als bestimm- ten Regeln abgeleitet, sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf mancher- lei Weise verschiedenen, Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht zu haben scheint.“ Dann fährt er fort, diese Normal-Idee sei keineswegs das ganze Urbild der Schönheit in dieser Gattung, sondern nur die Form, welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die Richtigkeit in der Darstellung der Gattung ausmache, ihre Darstellung sei nur schulgerecht, habe nichts Charakteristisches (unter diesem versteht er die individuelle Eigenheit s. uns. §. 39 und die zu diesem §. gegebene Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Bestimmung des Individuel- len in diese abstracte Gestalt aufzunehmen suchen und so das eigentliche Ideal, die Schönheit, entstehen lassen. Statt dessen vergißt er nun das „Charakteristische“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entstehung des Ideals den „sichtbaren Ausdruck sittlicher Ideen“! Als ob jene sogenannte Normalidee blos vom plastischen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt von jeder Art des Daseins, den Ausdruck seines Wesens, im Menschen also des Sittlichen, so daß er in einem gewissen, abstracten Durchschnitte genom- men wird, miteingeschlossen, müßte gebildet werden können. In unserer Entwicklung ist das innere Leben des Gegenstands, also auch das sittliche, als ergossen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, son- dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch- wärmtes, mit dem in es eingeströmten Leben des phantasiereichen Subjects verdoppeltes. Nicht also sittlicher Ausdruck, denn dieser gehört an sich schon zur Sache, fehlt jener sogenannten Normalidee, sondern Individualität. Daß dieß die Aufgabe sei, — die Einheit des Allgemeinen und Indivi- duellen im Schönen zu erklären —, hat auch Winkelmann übersehen, wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder stehen läßt: die schöne Bildung ist entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder „ideal, eine Wahl schöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung in Eins.“ Dann setzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieser Bestimmung hinzu: „jedoch mit dieser Erinnerung, daß etwas idealisch heißen kann, ohne schön zu sein,“ und führt dafür die ägyptischen Figuren an, in wel- chen weder Muskeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet sind. (Kunstgesch. B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus- einander, ein Uebelstand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir den ganzen Prozeß der Entstehung des Schönen von einem individuellen Naturschönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener Kantischen Erklärung aus einer verhüllten Division prüfen, so ist die Ge- staltbildung, von welcher dieselbe gelten soll, für uns eine ganz andere. Vor Allem nämlich müssen wir jene sogenannte Normalidee oder was Winkelmann auch idealisch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon ist etwas ganz Abstractes, was wirklich und buchstäblich gemessen werden kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, sondern nur eine Vorstellung, 23* die von der bildenden Kunst als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße, in denen sie sich bewegen soll, fixirt ist, und er gilt ja zudem nur von der menschlichen Gestalt, während hier eine Erklärung der Phantasiethä- tigkeit für das ganze weite Reich schöner Objecte gesucht wird (vergl. §. 35—38). Wir gehen also aus von einem Naturschönen und dieses ist bereits eine Concentrirung oder Zusammenziehung der zerstreuten Vollkom- menheiten seiner Gattung in einem Einzelwesen und zwar auf eine un- endlich eigene Weise. Soll nun diese individuelle Bindung zur wahrhaften Schönheit erhoben werden, so scheint ein Widerspruch vorzuliegen: die Individualität soll innerhalb ihrer selbst zum reinen Ausdruck erhöht und: sie soll allgemein werden. Geschieht jenes: so wird das unend- lich Eigene bis zur Abtrennung von dem Gemeinsamen der Gattung ge- trieben; geschieht dieses: so wird die Eigenheit geopfert. Es wird ent- weder „das Geschlecht in das Individuum versenkt“ ( Lessing Hamb. Dram. N. 94 nach Hurd ) oder das Individuum in das Geschlecht. Lessing bewegt sich a. a. O. von N. 87 — 95 um diesen schwierigen Punkt, indem er den von Diderot an die mißverstandene Stelle des Ari- stoteles Poet. C. 9 gelehnten Satz bestreitet: die tragische Poesie habe In- dividuen, die komische Arten darzustellen. Er beweist, daß jene wie diese das Allgemeine, daß sie Arten darzustellen habe. Nun kommt er zwar nirgends auf die volle Begriffsbestimmung, daß die Tragödie und Komödie (die letztere freilich vielmehr gerade mit noch viel stärkerem Uebergewichte des Individuellen), ebenso aber alle Kunst das Allgemeine im Indivi- duellen zu fassen habe, aber der Satz des Aristoteles, daß die Tragödie geschichtliche, also ganz individuelle Charaktere zu Grund lege, hält ihn doch, während er nur für das Moment des Allgemeinen sprechen zu müssen glaubt, am Individuellen fest, und dieß drückt er mit einem „Zu- gleich“ deutlich aus in der inhaltsvollen Stelle: „wenn es wahr ist, daß derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene Physiog- nomieen geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre Kindheit zurücksetzen und in Satyre verkehren würde: so ist es auch ebenso wahr, daß derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den Menschen, nur den Cäsar, nur den Cato, nach allen den Eigenthümlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des Cäsar und Cato zusammenge- hangen, der ihnen mit mehreren gemein sei , daß, sage ich, dieser die Tragödie entkräften und zur Geschichte erniedrigen würde“ (a. a. O. N. 89). Später (in N. 91) sagt er nach Aristoteles, der Tragiker lege geschichtlich bekannte Charaktere zu Grunde, nicht um das Gedächtniß dessen, was ihnen begegnet ist, zu erneuern, sondern um uns mit solchen Begeg- nissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be- gegnen können und müssen. „Nun ist es zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahirt haben; es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse führen müsse; er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natür- licher auf andere bringen, mit welchen jene wirklichen nichts gemein haben, als daß sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuver- folgenden Umwegen und über Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterkeit verdorben haben .“ Diese trübenden Um- wege im weitesten Sinn schneidet die Phantasie ab; die Bezeichnung ist trefflich, nur ist darin die Frage, wie sich das Allgemeine und Individuelle in dieser idealen Abbreviatur zueinander verhalte, wieder im Unbestimmten gelassen. Dagegen ist diese Grundfrage in den Stellen aus Hurds Com- mentar der Dichtkunst des Horaz, die Lessing auführt, im Mittelpunkt er- griffen: „wenn ein großer Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern der nämlichen Art nur so weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten “ (— dies ist zu viel —) „ eigen- thümlichen Zuges geschehen kann “ (N. 92) und (N. 93): „der gute Porträtmaler muß die Züge der vorgebildeten Leidenschaft gut ausgedrückt, aber die mitverbundenen Eigenschaften nicht vergessen haben.“ In der That müssen alle abstracten Vorstellungen vom schönen Ideal schon durch die einzige Erwägung ausgeschlossen werden, daß auch das eigent- liche Porträt, wenn es Lob verdienen soll, ideal sein muß. Auf die Grundlage dieser feinen Stellen können wir nun die richtige Bestimmung bauen. Zu wiederholen ist also, daß von einem Naturschönen, das bereits individuelle Bindung des Allgemeinen ist, die Phantasie aus- geht. Göthe und Schiller konnten nicht genug darauf dringen: vom Engen in’s Weite, vom Besondern zum Allgemeinen, vom einzelnen Fall zu großen Gesetzen, die in demselben geschaut werden, und ja nicht umgekehrt vom Allgemeinen zum Besondern fortzugehen. Schiller selbst nennt den Act, der mit dem Besonderen vorzunehmen ist, eine Reduction empirischer Formen auf ästhetische, — dasselbe, was wir zunächst eine Zusammenziehung nennen. Eine solche ist aber bereits das besondere Naturschöne, von wel- chem ausgegangen wird: es ist eine, aber noch unvollkommene, Bindung der in die Breite zerstreuten und vielfach getrübten Formen des Gehalts seiner Gattung. Diese Zusammenziehung, Bindung ist es zunächst, wodurch die unendliche, nur sich selbst gleiche Eigenheit des Indi- viduums entsteht. Allein gerade durch diese Eigenheit ist die Gattung, wie schon §. 48, 2 . gezeigt wurde, nur um so energischer ausgedrückt, denn was dort von bedeutenden Menschen gesagt ist, gilt, obwohl mit minderer Straffheit der Individualität, von den tüchtigen Einzelwesen aller Sphären des Daseins. Nun ist aber der Mangel auch der bedeutenden Individua- lität im Reiche des Naturschönen dieser: erstens gewiße Züge der Gattung kann das Individuum, zunächst überhaupt und abgesehen von seinen zeit- lichen Entwicklungsstufen, allerdings in ihrer vollen Bestimmtheit nicht haben, weil sie mit den andern, die es hat, in Einem Wesen nicht ver- einbar sind; Cato kann nicht weich, Tasso nicht praktisch sein u. s. w. Determinatio est negatio. Doch können diese Züge, obwohl sie mit seinen wesentlichen Zügen unvereinbar scheinen, nicht völlig fehlen; jedes Indi- viduum ist eine schwierig verschlungene Einheit, denn es weist auf die ganze Gattung hinaus: Cato ist also kein weicher Charakter, aber er kann auch weich sein u. s. w. Diese „mitverbundenen Züge“ nun drücken im unmittelbaren (naturschönen) Dasein störend auf die Hauptzüge. Die letzteren müssen also verstärkt werden, ohne jene auszuschließen. Es muß demnach aus den umschwebenden Gattungsbildern Solches aufgenommen werden, worin gerade die Hauptzüge sich voller und ungestörter ausdrü- cken, und es muß die zu volle Stärke der mitverbundenen Züge hinaus- gewiesen werden in das Weite, wo sie unter die Gattungsbilder mit allem dem, was diese von Solchem darboten, das dieser Form der individuellen Bindung widerspricht und daher ausgestoßen werden muß, in Vergessen- heit zerfließt. Dann ist in diesen Hauptzügen die Gattung, denn es sind gesammelte Kräfte der Gattung, in Reinheit ausgedrückt; da aber die anderen, miteingeschlungenen darum nicht fehlen, wird zugleich auf die Unendlichkeit der Gattung außerhalb dieses Individuums hinausgewiesen. Zweitens in der zeitlichen Entfaltung seines Wesens sinkt das Individuum durch die stete Einmischung des störenden Zufalls unter sich selbst herab und stellt, statt sich und sein Gesetz, seine Lebens-Idee, Anderes, was hierher nicht gehört, mit dar. Unter den umschwebenden Bildern des Le- bensverlaufs verwandter Individuen mit den hieher gehörigen Zufällen müssen also diejenigen heraufgenommen werden, welche eine, sei es durch Förderung oder Hinderniß, zur glücklichen Entwicklung reizende Sollizita- tion enthalten, und ausgeschieden müssen die entgegengesetzten werden. Dieß gilt also vom Individuum, welchem Reiche es angehören mag, und unter Individuum ist ebenso ein eigentliches Einzelwesen wie eine Einheit mehrerer zur Bethätigung einer Idee in der Zeitfolge einer Hand- lung zusammentretender zu verstehen. Daß nun dieser Act nicht durch Absicht und Reflexion vollzogen wer- den kann, bedarf keines neuen Beweises, deßwegen nicht, weil die ganze Bewegung im Gebiete der vom Gehalte schlechtweg ungetrennten Form vor sich geht und der so gestaltende Geist mit sich und seinem gan- zen Gehalt in die Formbildende Thätigkeit ohne Rückhalt versenkt ist. Ebendeßwegen ist nun dieser Act so schwer zu fassen, weil das Fassen ihn aus seiner dunkeln Einheit reißt, Denkbestimmungen hineinträgt und nur hinzusetzen kann: der so gefaßte Gegenstand selbst sei jedoch kein Den- ken. So sagt Hallmann (Kunstbestrebungen der Gegenw.) fein, aber schließlich nichts aufhellend: ein Denken in Formen. Die gewöhnlichen Bilder sind vom Läutern im Feuer, — (Bettina an Göthe: meine Phan- tasie hatte schnell das Irdische an dir verzehrt —), vom chemischen Schmelz- tiegel, von örtlicher Erhöhung, vom Sieben, vom Reinigen durch Waschen oder Rütteln genommen. Kant nun nennt dieses Thun ein dynamisches Dividiren. Hegel weist diese Auffassung oder vielmehr ihre Grundlage, die Annahme eines Aufeinanderfallens vieler ähnlicher Bilder, wobei „eine Attractionskraft der ähnlichen Bilder oder deßgleichen angenommen werden müßte, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche der- selben aneinander abzureiben“, als zu physikalisch ab und setzt die Thätig- keit einzig in die Intelligenz (Encyclop. §. 455); allein da spricht er von der Erzeugung der allgemeinen Vorstellungen, diese sind in Wahrheit der Uebergang nicht zur Phantasie, sondern zur Bildung des abstracten Begriffs und da tritt freilich die Intelligenz schon herein; im Prozeß der reinen Formbildung aber erklärt die allgemeine Berufung auf die Intel- ligenz gar nichts. Intelligenz, aber ganz eingehüllte, wirkt auch in diesem Act, aber ich weiß noch nicht, wie beschaffen derselbe sei, wenn ich weiß, daß sie in dem Convolut der wirkenden Kräfte dunkel wirkt. Wir haben wesentlich ein Verhältniß Einer Gestalt zu vielen Gestalten; diese leihen jener von dem Ihrigen und umgekehrt giebt jene an diese von dem Ihrigen ab: ein Prozeß, der offenbar einem Verfahren mit Zahlen verwandt ist. Kants Divisionstheorie darf so wenig für unwürdig gehalten werden, als es gewiß ist, daß alle Musik auf verborgenen Zahlenverhältnissen beruht. Musik freilich ist vergleichungsweise gestaltlos, aber das Ineinanderüber- gehen von Gestalten zur Schöpfung des für das Auge bestimmten Ideals hebt ja zuerst ihre Umrisse auf, so daß sie wie körperlos durcheinander schweben und eine geheime Abrechnung miteinander vornehmen. Dieser Prozeß ist freilich, wie gezeigt ist, viel verwickelter, als Kant meint. Zunächst ist er doppelt, nicht einfach. Kant hat nicht ein bereits individuell gebun- denes Naturschönes vor sich, sondern nur die unbestimmte Menge gewöhn- licher Erscheinungen aus einer Gattung, aus welcher die Phantasie durch ihre verhüllte Division ein Abstractum gewinnt. Wir dagegen haben z. B. einen schönen Mann, welcher der Anschauung begegnet, und zwar schön in dem näheren Sinne z. B. athletischer Schönheit. Dieser Mann stellt an sich schon eine von der Natur (wozu für uns auch seine athletische Uebung gehört) in dynamischem Sinne vollzogene Division dar. Seine Schönheit ist aber mangelhaft, die Division unvollkommen, es ist nicht der richtige Quotient. Die Phantasie nun nimmt sein Bild, aber auch die vielen Bilder der anderen Männer, deren besondere Schönheiten er in sich gesammelt darstellt, auf, und sie muß nun den Divisionsprozeß, um den wahren Quotienten aus diesen zu finden, erneuern. Der Prozeß ist also zuerst darum verwickelt, weil die vorgefundene Division aufgehoben und reiner wiederhergestellt werden muß. Allein er ist verwickelt noch in einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenschaften in Form, Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieser Eigenschaften muß die Di- vision vorgenommen werden, aber alle diese verschiedenen Divisionen zu- gleich immer mit Rücksicht auf das Maaß, in welchem Eigen- schaften verschiedener, bis zum Widerspruch sich verwickelnder Art in einem Individuum vereinbar sind. Diese schwierige Verschlingung fand schon statt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als sie eine unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenschaften zu einem Indivi- duum vornahm. Theilweis irrte sie, indem sie Störendes in die Einheit warf. Die Phantasie muß ihr Werk also eben in diesem Sinne wieder- holen und von seinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab- zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur schon gegebenen, individuellen Zusammenziehung abzuweichen. Können wir diesem ver- schlungenen Prozeß nicht weiter folgen, so dürfen wir mit Recht sagen: die bisherigen Versuche, die Phantasie zu begreifen, haben nichts erklärt, wir aber weisen wenigstens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen muß; klingt diese Weisung seltsam, weil der Geist sich des Zählens oder zählenden Messens in dieser Operation nicht bewußt ist, so erwäge man, daß ein mit den Gesetzen der zur Vergleichung schon angeführten Musik unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wissen, daß die Formen der Gestalt zwar Raumverhältnisse sind, aus geheimen Bau- gesetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältnisse Ob- jecte des Messens und Zählens; daß ebenso Farbe und Licht auf zählbarer Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es seien Zahlen, mit denen man zu thun hat, so wie ich bei jeder körper- lichen Handlung aus Instinkt unbewußt die Entfernung messe, die mein Arm zurücklegen muß u. s. w. Klingt sie zu niedrig, so erwäge man, daß in die Factoren dieses Zählens und in das Zählen selbst eine geistige Welt eingegangen ist, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver- gesse nicht das schon Gesagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende Geistige müsse vielmehr in gedankenartiger Operation als das Bestimmende des Prozesses gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei- dung von Körper und Seele im Gegenstand, Sinnlichkeit und Geist im Subjecte zerstört wird. §. 397. Wenn dieß Gestalten im Zuge ist, tritt auch die Begeisterung in vollen 1 Schwung, die das Subject wie ein ihm unbewußtes Gesetz des Objects fort- reißt, aber die Besonnenheit als weise Durchführung der Idee in maaßvoller 2 Anordnung eines Ganzen und seiner Formverhältnisse, nur in zweiter Linie be- gleitet von besonderer Reflexion über die Anordnung des Einzelnen, steht auf gleicher Höhe oder ist vielmehr als ihre eigene Bestimmtheit identisch mit ihr und in Vergleichung mit der gemeinen und mit der philosophischen Besonnenheit immer bewußtlos. 1. Das Unbewußte und Willenlose wächst mit der Stärke der Be- wegung, wodurch die reine Form erzeugt wird; daß dieß immer das Erste bleibt, muß gerade hier, wo sofort ebenso stark die Forderung des Gegentheils aufzutreten scheint, mit vollem Nachdruck festgehalten werden. Die Traumnatur, daß das Subject von seinen Gestalten fortgezogen wird, daß es sich ganz in sie zu verlieren scheint, als gäben sie ihm ein, nicht es ihnen, tritt in volle Kraft. Schiller (Br. 784 an Göthe) knüpft an eine (mißverstandene) Stelle Schellings die nachdrückliche Forderung, daß der Dichter nur mit dem Bewußtlosen anfange, ja sich glücklich zu schätzen habe, wenn er durch das (nachträgliche) klarste Bewußtsein seiner Opera- tionen nur so weit komme, um die erste dunkle aber mächtige Totalidee in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wiederzufinden; er selbst, der „als eine Zwitterart zwischen dem Begriffe und der Anschauung zu schweben“ gestand, beklagt sich, daß Theorie und Kritik ihm die lebendige Gluth ge- raubt haben; er sehe sich jetzt erschaffen und bilden, er beobachte das Spiel der Begeisterung und seine Einbildungskraft betrage sich mit minderer Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeu- gen wisse . Das bewußtlose Thun der Phantasie erscheint als ein Zug des (mit den Kräften des Subjects geschwängerten) Objects zugleich mühe- los , und Lessing, indem er sich das wahre Organ der Dichtkunst abspricht, gesteht, er fühle die lebendige Quelle nicht in sich, die durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschieße, er müsse Alles durch Druckwerk und Röhren in sich heraufpressen. 2. Das Chaos (§. 395) gestaltet sich, der Nebel gerinnt, das neue Bild soll eine reiche Einheit wohlgeordneter Maaße und Verhältnisse werden. Dieß ist in der That ohne Anstrengung des Willens in seiner ganzen Freiheit, ohne Tiefe des Denkens nicht möglich und der Traum soll zugleich volles Wachen des seinem Bilde hell gegenüberstehenden Sub- jectes sein, das Unmittelbare durch gründliche Vermittlung zur Bestimmt- heit reifen. Es ist schwer, dieses Wachen im Träumen, das im Begriffe der Besonnenheit sich zusammenfaßt, mit allem Nachdruck festzuhalten, ohne in einer Trennung dieses Moments von dem der Begeisterung, wo- durch es sich als Abstraction von ihr isolirt und in das Philosophische und Etische hinüberführt, hineinzugerathen. Dort sollte sich der Schöpfer in sein Geschöpf verlieren, hier soll er ebensosehr über demselben stehen. Zuerst ist diese Besonnenheit von der gemeinen zu unterscheiden, mit wel- cher auch die philosophische nichts zu thun hat. J. Paul bezeichnet sie (a. a. O. §. 12) kurz und gut als die geschäftige und sagt von ihr, sie sei vielmehr immer außer sich und nie bei sich. Wenn nun die höhere Besonnenheit des Dichters ebenso auch von der philosophischen streng geschieden und ganz Instinct bleiben soll, so ist dieß aus dem Gesetze zu begreifen, daß Unbewußtes und Bewußtes überhaupt in unendlichen Stellungen sich überbauen. So in der Bildungsgeschichte, was der Ge- genwart als die bewußteste Bildung erscheint, wird der folgenden Gene- ration naiv, sie sieht, daß es noch ein Unbewußtes war, ein Instinct der Geschichte. Die Besonnenheit der Phantasie ist höchstes Bewußtsein, gehalten gegen die sinnliche Wahrnehmung, die Anschauung, die Ein- bildungskraft und auf der Willensseite gegen Trieb und sinnliche Leiden- schaft; sie ist bewußtlos, gehalten gegen das reine Denken und die ethische, auf den Begriff des Gegenstands gegründete That, in sich aber geht sie so sicher, als das Thier wissend ohne zu wissen das seiner Gattung Gemäße thut, rasch, frisch, ohne Zweifel. Gerade das volle Licht der eigentlichen Besonnenheit stört sie, wie den Hamlet, und treffend sagt J. Paul (a. a. O.): „Das Genie ist in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler; in seinem hellen Traum vermag es mehr, als der Wache, und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumerische Welt, so stürzt es in der wirklichen“, und (§. 13): „Ueberhaupt sieht die Besonnenheit nicht das Sehen und das Spiegeln spiegelt sich nicht.“ — „ Der Instinct ist blind, aber nur wie das Ohr blind ist gegen Licht und das Auge taub gegen den Schall ; er bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso, wie die Wirkung die Ursache.“ Es ist aber eine doppelte Form der Besonnenheit in der Phantasie selbst zu unterscheiden. Ihr Bilden im Großen und Ganzen geschieht mit der Art von Besonnen- heit, welche ein großer, starker Traum-Instinct ist; zugleich aber ist das Bild im Einzelnen anzuordnen, Verhältniß, Aufeinanderfolge der Theile zu bestimmen. Hier kann und muß eigentliches Denken, eigentliches wäh- lendes Wollen eintreten, nur daß es den Instinct des Ganzen immer zur Basis und zum leitenden Bande behält. Z. B. der Dichter entwirft ein Drama: die Handlung, die Personen müssen ihm vom Instincte gegeben, da darf er sich der letzten Gründe nicht bewußt sein, er darf nicht defini- ren können; wie diese Person dieses Moment der Idee darstelle u. s. w., er darf nicht wählen müssen, ob er den Charakter im Entscheidungsfalle so oder anders handeln lassen wolle. Allein über die Folge einzelner Auftritte, über die Anordnung ihrer kleineren Theile, Wendungen des Gesprächs, wo es sich nicht um schlagende Hauptstellen handelt, und der- gleichen, kann er mit deutlicher Reflexion angestrengt nachdenken, oft und wiederholt reiben und feilen, bis das Detail seines innern Bildes ganz offen daliegt. Rechenschaft von den Gründen im Einzelnen, aber nie von den letzten im Großen und Ganzen ist sein Naturgesetz; das Kind springt wie Minerva in voller Rüstung aus seinem Haupte und ist doch ein Schmerzenskind; das Unmittelbare legt sich in eine Summe reicher Ver- mittlungen, die oft, ja immer ganz mühevoll, aber von dem mühelosen Grundbilde getragen sind und wieder in es zurückfließen. Nicht ganz richtig ist daher Jean Pauls Ausdruck (a. a. O. §. 12): „Nur das Ganze wird von der Begeisterung erzeugt, aber die Theile werden von der Ruhe erzogen“, wenn Ruhe gleich Besonnenheit sein soll; diese ist schon in der Begeisterung selbst, die das Ganze erzeugt, ungeschieden mitenthalten, in den Theilen löst sie sich nur vorübergehend von ihr ab, ohne aber das Band zu zerreißen. §. 398. 1 Durch diese Thätigkeit der Phantasie und nur durch sie entsteht die reine 2 Schönheit, welche nun Ideal heißt im Sinne des zunächst innern Bildes, das der Geist als sein durch Umbildung eines Naturschönen frei geschaffenes Werk sich in vollendeter Objectivität gegenüberstellt. Es hat vom Naturschönen die ganze sinnliche Lebendigkeit und die ganze unendlich eigene Bindung der ewigen Gattungsformen zur Individualität, vom freien Geiste die ganze Aus- scheidung des störeuden Zufalls durch die positive Macht der reinen, in den Gegenstand eingedrungenen und ihn in’s Unendliche hebenden Idee. Das Ideal ist die subjective Verwirklichung des in §. 14 aufgestellten Begriffs des Schönen durch die Phantasie. 1. „ Nur durch sie.“ Im ersten Theile hieß, was in das Schöne aufgehoben ist, das Gute und Wahre; jetzt heißt das Schöne Phantasie und das Gute und Wahre, das in sie aufgehoben ist, Wille und Denken. Nur darf man sich, aller bisherigen Erörterung zufolge, dieß nicht als eine Zeitfolge vorstellen, wie wenn Wollen und Denken vorher getrennt wären und nachher in die Phantasie eingiengen. In Kritiken und Ur- theilen allerwärts vernimmt man trübe Verwirrung über diesen Punkt: „Dieser Dichter hat Phantasie, aber schlechte Gesinnung, wenig Em- pfindung, wenig künstlerischen Verstand“ u. s. w.: „er ist ein philosophischer Dichter“ und dergl. Das Schöne entsteht nur durch Phantasie, sonst durch gar nichts; die Phantasie schließt Gefühl, Gesinnung, Verstand, Sinnlichkeit, Alles ein. Wer schlechte Gesinnung hat, bringt es von der Einbildungs- kraft gar nicht oder nur in Augenblicken, wo die Gesinnung sich erhebt, zur Phantasie; ohne Gefühl, ohne Verstand ist keine Phantasie denkbar, Philosophie ist von ihr rundweg ausgeschlossen, denn sie verzehrt ihre Naivität. Phantasie ist das spezifische Organ des Schönen. Schiller sagt von Göthe: alle seine denkenden Kräfte haben auf die Ein- bildungskraft (er gebraucht die jetzige Terminologie, welche die Phan- tasie streng von dieser unterscheidet, noch nicht) als ihre gemeinschaft- liche Repräsentantinn gleichsam compromittirt , und Göthe selbst darf von seiner Natur rühmen, daß sie nach jeder Scheidung wie getrennte Quecksilberkugeln sich schnell und leicht immer wieder vereinige. Nun gibt es freilich die verschiedensten Mischungsverhältnisse in der Phantasie der Einzelnen, von denen wir hier noch nicht reden, aber es sind Mischungs- verhältnisse der Phantasie, während jene landläufigen verworrenen Re- flexionen immer noch etwas neben und außer der Phantasie setzen zu müssen glauben. Weil der Kritiker die Bindung des Allgemeinen und der Gestalt auflöst, kehrt ihm bei seichter Reflexion immer auf’s Neue die Meinung zurück, die Phantasie selbst habe von jenem aus diese ge- sucht. „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu den- ken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ (Göthe, Maximen und Refl. Abtheil. 4, Werke B. 49, S. 96.) Wer das Allgemeine in Gedankenform ausspricht, ist kein Dichter, und wer es in’s Bild legt, kein Philosoph. Einzelne Wahrheiten, Sentenzen, Erfahrungssätze, gehören nicht hieher; sie wälzen sich als Stoff mit und die Träger der Schönheit sind die Personen, die sie aussprechen, die Sentenzen, die Gedanken aber sind die Exposition dieser Personen und ihrer gemeinschaftlichen Handlung. 2. Das reife Bild muß fertig, ganz, abgehoben von den umschwe- benden Bildern dem Geiste in seinem Innern gegenüberstehen: es muß ihm scheinen, als sehe er es leibhaftig mit dem geistigen Auge. Die Alten gingen in der Erkärung der Phantasie immer vom rechten Wortbegriffe, dem eines innern φαίνεσϑαι aus, einem Erzeugen von εἴδωλα. Plato nennt sie im Philebus einen innern Maler, ρωγράφος. Aristoteles verlangt (Poet. B. 17) vom Dichter vor Allem das πρὀ ὀμμάτων τίϑεϐϑαι, dann setzt er hinzu, er müsse sogar so viel als möglich mit den Gebärden mitarbeiten, denn er wirke desto mehr, je mehr er sich in die darzustellende Leidenschaft versetze (ἐν τοῖς πάϑεϐιν εἶναι). Die letztere Seite brauchen wir nicht besonders zu verfolgen, da wir eine Vermählung des Phanta- siebegabten mit dem innersten Leben des Objects zum Ausgangspunkte nahmen, die Leidenschaft aber nur einer der unendlichen Stoffe ist, welche die Phantasie ergreift. Das Bild, das dem Subjecte gegenübersteht, ist Bild der Sache mit seinem ganzen Gefühlsleben vermehrt. Je vollen- deter das Bild, desto erfüllter auch in diesem Sinne, desto mehr wallt also auch das Gemüth des Anschauenden selbst und er mag im innerlichen Schauen selbst den Bewegungen desselben folgen, laut mit sich reden, in- dem er die Stimme einer dargestellten Person übernimmt; aber um so sicherer tritt auch die nöthige Kälte der Unterscheidung des eigenen Ich vom Bilde, die Lösung des pathologischen Verhältnisses, kurz Besonnenheit in die Be- geisterung. Diese wesentliche Bedingung der Objectivität des inneren Bildes hat weder Aristoteles an der genannten Stelle, noch Quinctilian in der ganz ähnlichen Aeußerung VI, 2, 26., welche Hartung (Lehren der Alten über die Dichtkunst u. s. w. S. 52) anführt, in’s Licht gesetzt. Der Letz- tere führt einen bei affectvoller Stelle weinenden Schauspieler an, was an die bekannte Scene im Hamlet erinnert. Allerdings ist der Zustand des Schauspielers im leidenschaftlichen Spiel hier besonders belehrend; er muß ganz in sein Bild ein- und aufgehen und doch darf seine Leidenschaft nicht eigentliche Leidenschaft sein, er muß sich ebenso zurückbehalten: und beides wächst in gleichem Verhältniß mit der Klarheit, Objectivität seines inneren Schauens. Longin περὶ ὕψȣς Sect. 15, 1 . spricht jenen Begriff der Phantasie mit den schlagenden Worten aus: ἰδίως δ̕ἐπὶ τȣ´των κεκράτηκε τȣ῍νομα (φανταϐία), ὅταν, ἃ λέγῃς, ὑπ̕ ἐνϑȣϐιαϐμȣ῀ καὶ πάϑȣς βλέπειν δοκῇς καὶ ὑπ` ὄψιν τιϑῇς τοῖς ἀκȳ´ȣϐιν. Dann sagt er von einer Stelle im Orestes des Euripides: ἐνταῦϑ̕ ὁ ποιητὴς αὐτὸς εἶδεν ἐριννύας. Dieses innere Bild nun ist durch die von uns darge- stellte Verwandlung reiner Ausdruck der Idee geworden. Plato’s Feind- seligkeit gegen die Kunst ruht auf einer falschen Logik, die sich gerade in diesen Punkt eingenistet hat. Die Phantasie, so argumentirt er (Staat C. 10) gibt ein Abbild des Gegenstands, dieser selbst ist ein Abbild der Idee des Ge- genstands, wie sie im göttlichen Verstande wohnt. Nun nimmt er die objective Darstellung des Phantasiebilds durch die Kunst, von der wir noch nicht reden, hinzu und sagt, diese sei wieder ein Abbild des Phantasiebilds. Folglich, schließt er, sei das Kunstwerk das Bild von dem Bilde eines Bildes. Lassen wir das letzte Glied, das Kunstwerk weg, so ist also das Phantasiebild Bild des Bildes; es ist zwar nicht, wie Plato vom Kunstwerk sagt, aus der dritten, aber doch immer nur aus der zweiten Hand. Allein gerade diese zweite Hand hebt ja die Mängel des Bildes erster Hand (des Naturschönen) auf und kehrt zum göttlichen Urbilde zurück; das Naturschöne ist die Mitte zwischen diesem und seiner Herstellung durch den Menschengeist; gerade weil das zweite Bild Scheinbild ist, tilgt es die Mängel des ersten und nie steht Plato mit seiner Ideelehre in gröberem Widerspruch, als wenn er so den Schein verkennt. Das so erzeugte Schöne nun ist das Ideal, zunächst das innere der Phantasie; nach Kant (a. a. O. §. 17) „die Vorstellung eines einzelnen als einer (richtiger: seiner) Idee adäquaten Wesens.“ Wir brauchen keine weitere Definition, als den Zusatz zu unserem §. 14, daß das Schöne, wie es dort bestimmt ist, seine wahre Wirklichkeit durch die Thätigkeit der Phantasie erlange, eine Thätigkeit, welche aber das Naturschöne als Stoff voraussetzt. Nach der zu §. 379 angeführten Klage über die Seltenheit schöner Weiber fährt Raphael in seinem Briefe an Castiglione fort, er bediene sich um dieser Theurung des Stoffes willen di certa idea, che mi viene nella mente. Das Naive davon ist, daß es danach scheint, als bilde der Künstler entweder nach schönen Modellen, oder in Ermang- lung derselben nach einem Phantasiebilde; und ebenso steht es mit der bekannten Aeußerung Cicero’s ( Orat. 3), welche von Phidias sagt, daß sein Jupiter, seine Minerva nicht nach einem Modell geschaffen wurde: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quædam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. Das Phantasiebild ist immer das lebendige Ineinander eines naturschönen Stoffs und des ganzen Gehalts mit der ganzen Formthätigkeit des Künst- lergeistes. Freilich Raphael hat dort seine Galathea, Cicero hat Götter- bilder im Auge, und diese sind kein in der Natur gegebener Stoff. Allein wir haben zum Stoffe auch Solches gerechnet, was durch Kunde überlie- fert wird, zunächst das Geschichtliche. Zu diesem werden wir im folg. Abschnitt eine neue Stoffmasse treten sehen: das ganze Gebiet der religiö- sen Vorstellung, welche, zunächst selbst eine Art von Production des Schönen durch Phantasie, doch selbst wieder ihre noch unreifen Bilder als Stoff der freieren, rein ästhetischen Phantasie überliefert. Hier ist also das über- lieferte Sagenbild das Naturschöne, in dessen Umbildung die Phantasie thätig ist. Soll nun diese ihr Bild zur objectiven Ausführung bringen, so entsteht die Frage, ob sie sich nicht noch außerdem nach eigentlich naturschönen Objecten als Vorlagen umsehen soll: diese Frage gehört aber nicht hieher, sondern in die Kunstlehre. Es handelt sich da von dem nachträglichen Benützen von Modellen, und erst, wenn das Natur- schöne auch in dieser zweiten Instanz zur Sprache kommt, ist die Frage über Naturnachahmung in der Kunst spruchreif; vorbereitet aber haben wir allerdings die Sache zur leichten und raschen Lösung. Das Ideal ist also Natur und nicht Natur: es ist gefunden und geschaffen, der Künstler gibt „dankbar gegen die Natur, die auch ihn her- vorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück“ (Göthe zu Diderot). Sein Bild ist das wohlbekannte Alte und das unbekannte Neue, Fleisch und Blut von dieser und doch Wesen aus einer andern Welt, von Geisterhauch umweht, „gleich weit entfernt von logischen Wesen wie von bloßen Individuen; der Künstler erhebt sich über das Wirkliche und bleibt innerhalb des Sinn- lichen stehen“ (Schiller an Göthe N. 360); „er scheidet am Wirklichen aus das zufällig Wirkliche, an dem wir weder ein Gesetz der Natur noch der Freiheit entdecken, d. h. das Gemeine “ (Göthe Werke B. 49 S. 45) und verstärkt in’s Unendliche seine ganze Eigenthümlichkeit als Con- centration der ewigen Natur- und Freiheitsformen in ein Individuum; dieses ist daher Repräsentant der bestimmten Idee. „Das Ideal wandelt das Erscheinende auf allen Punkten seiner Oberfläche zum Auge um, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt; — es setzt seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein, zieht ihn jedoch wie das Bereich des Aeußern zugleich zu sich zurück, — dadurch steht es im Aeußerlichen“ (als Kunstwerk, zunächst aber im Geiste umgeben von Bildern des gemein Aeußerlichen,) „mit sich selbst zusam- mengeschlossen frei auf sich beruhend da als sinnlich seelig in sich, seiner sich freuend und genießend“ (Hegel Aesth. B. 1, S. 197 ff.). Die Phan- tasie als Idealbildend ist so die reine und volle Mitte des menschlichen Geistes; dieser Begriff ist aber in Hegels Darstellung trotz der Trefflich- keit der einzelnen Bestimmungen nicht zum Rechte getommen, weil er an der Stelle, wo er die Phantasie eigentlich behandelt, in der Encyclopädie, von ihr aussagt, die Intelligenz gebe in ihr einem aus ihr selbst ge- nommenen Gehalt bildliche Existenz (§. 457). Der Gehalt ist ja, wie wir sehen, im Stoffe auch gegeben, und nur so eine reine Einheit des Geistes mit der Natur möglich. Haben wir schon die Intelligenz, die eigenen Gehalt schlechtweg frei erzeugt und dann in ein Bild legt, so sind wir schon weit über die Phantasie hinaus: sie ist dem encyclopädischen Fortschritte geopfert. §. 399. Da jede Idee eine Einheit von Momenten in sich begreift (§. 21), deren reale Erscheinung aber im Naturschönen eine verworren sich verlaufende Masse darstellt (§. 380, 1.) so wirkt die bindende und scheidende Thätigkeit der Phantasie (§. 396) im Ideal als organische Gliederung, welche das Fließende einschneidend theilt, das Zerstreute einigt, so das Viele als ein Geordnetes um die Einheit der Idee versammelt und das Ganze an seinen Grenzen scharf ab- schneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, desto mehr stellt sich im Ideals diese Massenorganistrende Wirkung der Phantasie in’s Licht. Eigentlich ist, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der zusammenziehende Act §. 396. Indem er das Positive im Gebilde in’s Unendliche verstärkt, so zieht er die Formen, worin sich dieses dar- stellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So sind im menschlichen Kör- per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, stecken und kleben ineinander; was der Italiener desinvoltura nennt, ist sehr selten, voll- kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende ausscheidet, rückt er die Formen zugleich ebenso energisch zusammen. Dieß findet selbst bei dem geringsten Gegenstande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung, eine Pflanze, denn jedes Seiende ist Einheit in Vielheit; die ganze Be- deutung dieses Gliederns aber tritt in dem Grade erst in volles Licht, in welchem der Gegenstand ein so erfüllter und großer ist, daß die Momente außerhalb dieses Zusammenhangs selbstständige Ganze wären, am meisten also in einer menschlichen Handlung, welche durch Zusammenwirken vieler Personen sich bildet, die selbst wieder zu Gruppen, welche untergeordnete Ganze im Ganzen darstellen, sich zusammenordnen. Dieß Binden und Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Einschneiden und ebenso fließend Vereinigen ist zugleich wesentlich ein strenges Abschließen der Grenze. Zwar greift schon die Anschauung (§. 385) ihren Gegenstand aus der Masse heraus, allein sie nimmt doch eine unbestimmte Menge gemeiner Erscheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung mit auf. Die Phantasie wirft diese weg, schneidet, dem Handwerker gleich, der heraushängende Reste eines Stoffes mit scharfem Messer löst, die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die sichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in diesem Zu- sammenhang nichts ist, anfängt. So verläuft sich eine Begebenheit in der Geschichte unbestimmt. Die Phantasie schüttelt alle anklebende Erde streng ab und hebt das Wesentliche aus dem Geschlinge umgebender Wurzeln. Dieß Alles erhält jedoch seine ganze Bedeutung in der Kunst, wo die Phantasiethätigkeit, indem sie praktisch wird, erst auf die eigentlichen Schwierigkeiten stößt. Will man sich davon ein rechtes Bild machen, so lese man Göthe’s treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci’s Abendmahl; das erschöpfendste Beispiel aber gibt das Drama. Zu jenen Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren setzen: Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt? Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, Wo es in herrlichen Accorden schlägt? Wer sichert den Olymp, vereinet Götter? Des Menschen Kraft im Dichter offenbart. §. 400. Die Grenzfrage über das Recht des Objects und das Recht der Freiheit der Phantasie im Eingießen dessen, was dem Subject und seiner Zeit, und in Ausscheidung dessen, was dem Object angehört, läßt in abstracter Allgemein- heit keine nähere Lösung zu, als wie solche im Bisherigen enthalten ist. Be- sonders wichtig wird sie bei geschichtlichen Stoffen, kann aber auch hier nicht anders beantwortet werden, als durch Aufstellung des Gesetzes, daß der natur schöne Gegenstand, indem er Stoff wird, jeder Erweiterung und Ausscheidung sich unterwerfen muß, so lange sie nicht seiner Gattung widerspricht. Was insbesondere die Formen der Cultur und umgebenden Natur betrifft, so genügt zur sogenannten historischen Treue die Einhaltung des allgemeinen Typus. Es könnte scheinen, dieser Gegenstand sei erst in der Kunstlehre aufzunehmen, und wir werden allerdings finden, daß das innere Ideal auf dem Uebergang in das Kunstwerk noch auf viele Lücken stößt, wo es erfährt, daß es mit seinem Stoffe sich noch lange nicht genug ausein- andergesetzt hat, daß es ferner hier erst in ein Verhältniß zu dem Zu- schauer zu treten hat, der außer dem Ideal auch den Stoff desselben kennt und beide vergleichen wird, dem man daher, noch abgesehen von der Sympathie, die das Kunstwerk überhaupt für sich haben muß, gewisse besondere Rücksichten schuldig sein wird. Inzwischen ist doch das Kunst- werk im innern Ideale seiner ganzen Anlage nach da; hier liegt der erste und eigentliche Wurf, und fehlt uns noch ein eigentlicher Zuschauer, so haben wir einen solchen doch im Subjecte der Phantasie selbst, das sich, seine Anschauungsweise, seine Zeit und ihre Forderungen zum ersten Entwurfe der Phantasie schon mitbringt; wir haben im Dichter auch den Zuschauer. Die Frage über die objective Treue und ihre Grenze betrifft eigent- lich alle Sphären von naturschönen Stoffen, tritt aber erst bei den geschicht- lichen in solcher Bedeutung auf, daß sie die Antwort, welche anders als in den allgemeinen Sätzen der bisherigen Entwicklung eigentlich nicht gegeben werden kann, bestimmter zu fordern scheint. Aber auch hier kann dem allgemeinen Gesetze einer Bindung und Scheidung nur so viel bestimmtere Wendung gegeben werden, daß man ihm einen diesem besondern Inhalt Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 24 entsprechenden Ausdruck gibt. Im geschichtlichen Stoffe ist zu unterschei- den zuerst die Grund-Idee oder der sittliche Lebens-Gehalt, wie solcher in dem Volke und der Zeit, darin der Stoff spielt, gemäß der Art und Stufe ihres ganzen Bewußtseins ausgebildet sein konnte; sodann die Charaktere, als deren Pathos er auftritt; ferner das Schicksal als Ge- sammtproduct ihrer Handlungen; dann die Culturformen; endlich die um- gebende Natur, worin das Ganze vorgeht. Dabei ist nun zunächst eine große, eine in die Geschichte wesentlich eingreifende Handlung vor- ausgesetzt; allein der Stoff kann auch dem stillern Kreise der Familie, des Privatlebens angehören, oder es kann an demselben mehr die Sitte, Ge- wohnheit, der Mensch, als Kind der Natur, der Verhältnisse, der Bedürf- nisse zum Gegenstand der Phantasie erhoben sein, als die freie That. Dieser Unterschied im Stoffe und seiner Auffassung wird sich in ver- schiedenen Kunstzweigen niederschlagen (historisches Bild, Genrebild, Drama, Roman, Epos), und dabei wird es überall wieder auf die Aus- dehnung ankommen, in welcher das Komische in einem Kunstwerke herrscht. Geht man nun die aufgeführten Momente des Stoffes durch, so muß man dabei immer diesen sehr wichtigen Unterschied mit im Auge behalten; denn sogleich leuchtet ein, daß ganz andere Ansprüche die Bedingungen der Zeit, des Volkes und seiner Lebensformen da machen, wo der Mensch als Kind der Natur, Zeit, Sitte, als da, wo er als Urheber der straffen und freien Handlung auftritt. Es kann demnach von einer concreten Erörterung dieser Fragen um so weniger hier die Rede sein, da der Grad der Strenge, in welchem das Gesetz der objectiven Treue sich geltend macht, erst da sein Licht erhalten kann, wo diese verschiede- nen Auffassungen sich in verschiedenen Kunstzweigen befestigen. Es ist also doppelter Grund, das Wenige, was mit Rücksicht auf bekannte De- batten hier gesagt werden kann, nur ganz allgemein und unbestimmt zu zu halten; man kann überhaupt keine Rezepte geben und man kann ins- besondere deßwegen keine geben, weil jede Kunstsphäre ein anderes braucht. Die Grundfrage in dieser ganzen Angelegenheit ist aber durch neuere Verhandlungen in’s Schiefe gerathen. Rötscher (Kunst der dramat. Dicht. Thl. 3 oder Cyclus dramat. Charaktere Thl. 2: „das Recht der Poesie in der Behandlung geschichtlichen Stoffes“) widerlegt zuerst die Vorstellung, als könne irgend die geschichtliche Wahrheit Probirstein und Maßstab sein für die Beurtheilung eines poetischen Ganzen; die Geschichte sei nur das Material, die Phantasie sei frei, autonomisch, souverän, habe ihre eigenen Gesetze. Hier erläutert er die berühmte Aeußerung des Ari- stoteles (Poet 9), daß der Geschichtschreiber nur das Geschehene darstelle, der Dichter das, was nach der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit hätte geschehen können, oder das Nothwendige, daß daher die Dichtkunst philo- sophischer und gewichtiger (φιλοϐοφώτερον καὶ σπȣδαιότερον) sei, als die Geschichte; daß jene an diese sich nur anschließe, weil sie das Glaubwürdige bedürfe, die Möglichkeit aber glaubwürdiger sei, wenn sie bereits wirklich geworden; daß aber der Dichter, auch wenn er wirklich Geschehenes darstelle, doch um nichts weniger (frei schaffender) Dichter sei. Dann führt er bekannte Aeußerungen von Schiller und Göthe an, worin diese sehr zuversichtlich von den wenigen Umständen reden, die der Dichter mit der Geschichte zu machen habe. Nachher aber faßt er die Geschichte in ihrer höheren Bedeutung als Manifestation des Weltgeistes auf, ein Standpunkt, den Aristoteles, der von einer ganz trockenen Ansicht der Geschichte als bloßer Aufzählung des Geschehenen ausgeht, nur bei- läufig mit der Schlußwendung berührt, es könne Einiges von dem, was geschehen ist, sehr wohl von der Art sein, wie es wahrscheinlicher oder mög- licher Weise hätte geschehen können. Nun stelle sich die Sache anders, nun dürfe der Dichter nur sorgen, daß er nicht hinter der Geschichte zu- rückbleibe, noch mehr, daß er ihr nicht widerspreche, sondern den Kern ihres Pathos und ihrer Charaktere festhalte. Dieß gelte insbesondere von den großen Brennpunkten der Geschichte, wo das Gold des allgemein Menschlichen schon fest geprägt und nur geringer Nachhilfe bedürftig zu Tage liege. Aber auch von diesem Standpunkt sei es nicht Respect vor der historischen Wahrheit, sondern vor der geistigen Würde und Bedeutung der Stoffe, also das eigene Interesse des Dichters, was ihn in ein an- deres Verhältniß zu der Geschichte stelle. Dieser Darstellung macht A. Stahr (Poesie und Geschichte. Jahrb. d. Gegw. Febr. 1847) den ge- gründeten Vorwurf, daß durch die letztere Wendung der Widerspruch des Schlusses mit der Behauptung absoluter Autonomie des Dichters im An- fang sich nicht verhüllen lasse. Allein Rötschers Fehler liegt nicht, wie Stahr meint, in dieser Behauptung, sondern er liegt gerade darin, daß er glaubt, sie da wieder aufgeben zu müssen, wo er die Ge- schichte in ihrer höheren Bedeutung, als Offenbarung des göttlichen Gei- stes, faßt. Auch bei der erhöhten Ansicht von der Geschichte als einem Drama des Weltgeistes darf man nicht, wie Stahr, vergessen, daß der Weltgeist keine dramatische Absicht hat, daß daher seinem Werke noch alle Schlacken des Naturschönen anhängen: der Dichter bleibt daher schöpferisch auch dem großartigsten Stoffe gegenüber, er ist niemals der dienende In- terpret der Geschichte. Allerdings ist aber auch dieß wieder einseitig, das Recht des Dichters als eine absolute Autonomie zu behaupten. Das Wahre liegt gerade in der Mitte zwischen den Vordersätzen Rötschers und zwischen Stahrs Ueberschätzung der Geschichte in ihrem Verhältniß zum Dichter —: 24* Unser Gang bestätigt sich auch hier als der rechte, der diese Anti- nomie löst; wir schickten die Naturschönheit voraus, stiegen erst von da zur Phantasie auf, stellten den Zufall des Ergriffenwerdens von einem naturschönen Objecte auf den Uebergang, fiengen daher nicht mit dem Begriffe der Autonomie der Phantasie an, schlossen das Wählen , an welchem Rötscher noch hält, aus und ließen die Autonomie als Umgestal- tung des in das Subject eingegangenen Stoffes erst werden . So er- ledigt sich nun im Prinzip Alles durch den Begriff, daß der naturschöne Gegenstand Stoff wird. Es folgt daraus sogleich, daß der Gegenstand zwar seine ganze zum Individuum gewordene Gattungsnatur behalten, daß er aber ebensosehr auf allen Punkten geläutert und gehoben werden muß. Er bleibt ebensosehr, was er ist, als er ganz ein anderer wird; das Subject erfüllt ihn mit seiner ganzen Tiefe und diese wurzelt ganz in der Zeitbildung des Subjects, aber dieser Gegenstand ist in diese Tiefe eingegangen und es kann gar nicht gefragt werden, ob es auch er- laubt sei, ihn gegen seine Natur zu behandeln. Ebensowenig, als ich, wenn mich der Frühling begeistert, die Stimmung des Winters in ihn kann legen wollen, ebensowenig kann ich, wenn mich ein griechischer Stoff be- geistert, die Stimmung des Subjects, wie sie wesentlich durch den Bruch mit der objectiven Lebensform bedingt ist, in ihn legen wollen, sondern nur in allem dem, was als allgemein Menschliches trotz dem Unterschied der Zeiten die Herzen noch heute so bewegt, wie die der Griechen, kann ich ihn zu unmittelbarer Sympathie mit unserer Zeit erhöhen, nur so weit kann ich ihn in die zartere Sitte, die tiefere Resonanz der Empfindung, die strengere Moral meines Jahrhunderts herüberheben, als möglich ist, ohne den Grundton zu verletzen. Ich bin Kind meiner Zeit, aber jetzt lasse ich nur die Saiten des Zeitbewußtseins spielen, welche in einer gei- stigen Linie mit dem antiken Leben zusammenhängen. So ist im englischen Charakter Vieles, was dem Antiken direct widerspricht, der barockste Ei- gensinn der originellen Individualität u. s. w., aber auch viel dem römi- schen Charakter Verwandtes, die praktische Schärfe, die unbarmherzige Politik, die pralle Größe, die energische Herrscherkraft; als nun Shakes- peare von römischen Stoffen begeistert wurde, legte er dieß, nicht aber jenes in sie, und seine Römer blieben Römer, während sie „ganz Eng- länder wurden.“ Einen weiten Sprung über die Zeiten nahm ebender- selbe Dichter, als er die gebrochene germanische Innerlichkeit, die skeptische Subjectivität der neuen Zeit in den altergrauen Stoff von dem Prinzen Hamlet legte; aber dieser Stoff gab ihm doch germanische Natur, Ahnungs- tiefe und List unter scheinbarem Blödsinn, an die Hand und da waren die Fäden der Anknüpfung gegeben. Uebrigens läßt ein dunkler Sagenstoff na- türlich mehr Eintragung zu, als ein heller geschichtlicher. Göthe hat den großen Gehalt, der im Götz von Berlichingen lag, nicht erfaßt, nicht erschöpft, das Ende der Ritterzeit, der Bauernkrieg, die Reformation boten ganz andere Mo- tive; da er aber doch als wahre Dichternatur von seinem Stoffe begeistert war, so faßte er andere, ebenfalls wesentliche Seiten in demselben auf und diese wa- ren ganz geeignet, in die Stimmung der Sturm- und Drangperiode als er- höhende Kraft gehoben zu werden: die Natürlichkeit, die derbe Treu- herzigkeit auf der einen, das Ende der Einfalt des Herzens, die Willkühr, die Weltlichkeit, der Kampf der Neigung mit der Pflicht auf der andern Seite. Dagegen hat Lessing aus purer Reflexion einen Stoff aus der römischen Geschichte gewählt , um gegen die Natur desselben eine mo- derne sociale und sittliche Frage, und ebenso einen Stoff aus den Kreuz- zügen, um gegen die Natur desselben die Idee der Toleranz, Aufklärung, Humanität hineinzulegen. Nicht ebensogroß ist der Widerspruch des Stoffs des Don Carlos und der von Schiller in ihn gelegten Zeit-Ideen. Hier war vom ganzen Zeitbewußtsein die Rede. Es muß noch hinzugesetzt werden, daß dafür gesorgt ist, daß die wahrhaft phantasiebe- gabte Natur die Stoffe in diesem Sinn recht behandle; denn ist sie erfüllt vom Pathos ihrer Zeit, so werden auch eben die Stoffe, die diesem ver- wandt und Vorläufer desselben sind, in ihr zünden, und so z. B. den jetzigen Dichter gerade die Stoffe ergreifen, in denen eine gährende Zeit wie die unsrige zu Tage liegt. Man muß dem Naturgesetz der Anziehung etwas zutrauen; der ächte Jagdhund frißt kein Geflügel. Ebenso verhält es sich mit dem Charakter . Sein Pathos darf und muß in Reinheit herausgebildet, seine Motive müssen erweitert, aber kein anderes Pathos, keine wesentlich anderen Motive dürfen ihm geliehen werden, wie wenn z B. ein an Entstellung der Geschichte gewöhntes Subject einen Luther, Gustav Adolf nach extrem katholischer Ansicht behandeln wollte. Belehrend ist Göthes Behandlung des Egmont. So wie er war, konnte er ihn nicht brauchen, aber so wie er ihn idealisirt hat, durfte er ihn nicht idealisiren. Das schöne Jünglingsbild widerspricht dem Bilde des Familienvaters, der aus Sorge um die Seinen, aber auch aus Mangel an politischer Energie in sein Verderben rennt, zu sehr; gleich sind sich beide nur durch den Mangel an Intensivität für den politischen Zweck. Göthe hat freilich nicht nur die Geschichte, sondern zugleich das Wesen der Tragödie verletzt. Konnte Egmont anders nicht gehoben werden, als so, so war er gar kein dramatischer Stoff. Was nun die Begebenheit und das Schicksal betrifft, so hat die Phantasie das gute Recht, Solches, was in nicht allzuferner Zeit der Haupt- handlung Verwandtes geschah, heranzurücken, gleichzeitiges Fremdartiges aber auszustoßen. So wäre z. B. ein schöner dramatischer Stoff Franz von Sickingen, sein zu frühes Losschlagen für den großen Plan, die päbst- liche Macht und die vielen Landesherren in Deutschland mit Gewalt ab- zuwerfen. Alle großen Männer der Zeit könnten um ihn gruppirt werden. Der Bauernkrieg war schon im Ausbrechen, wurde aber erst zwei Jahre später unterdrückt; es wäre aber nicht nur erlaubt, sondern gefordert, hier einen Anachronismus zu begehen und Sickingen auch diese tragische Ka- tastrophe noch erleben zu lassen. — Das Endschicksal nun wird in den großen Stoffen meist in der Hauptsache so gegeben sein, daß wesentliche Umänderung Sünde wäre, wie wenn Julius Cäsar, Wallenstein glücklich endigen sollten. Sagenstoffe dagegen werden eher, aber auch nur in sel- tenen Fällen, eine Freiheit abweichenden positiv oder negativ tragischen Schlusses zulassen. Antigone, Macbeth, Othello, Lear mit glücklichem Ende nur zu denken ist verkehrt; die Hamletsage aber ließ eine Umbildung ihres glücklichen Schlusses in einen unglücklichen deßwegen zu, weil sie die Eintragung eines zerrissenen Innern in das Seelenleben des Helden zuließ. Natürlich hindert aber überall nichts, das Ende reiner zu moti- viren und zu gestalten, wie z. B. den Tod der Jungfrau von Orleans, oder wenn Jemand Ulrich von Huttens Tod als Verzehrung aus Gram darstellen wollte, der doch aus einem zufälligen Uebel hervorgieng. In kleineren, engeren Stoffen aber, in welchen die Zustände der Gesellschaft, der Familie, des Privatlebens, an sich zwar höchst bedeutend, aber doch abliegend vom großen Schauplatze der Geschichte, sich spiegeln, hat die Phantasie durchaus freiere Hand in der Gestaltung des Endschicksals. Da spielt der Zufall eine andere Rolle, da kann in der Wirklichkeit etwas offenbar tragisch Angelegtes glücklich auslaufen und umgekehrt, während dagegen im politischen Leben so reiche und mächtige Kräfte wirken, daß Schuld und Schicksal mit strengerer Nothwendigkeit zusammenhängen (nur daß man darüber, wie oben erinnert ist, nicht vergessen darf, wie Vieles auch hier für die schöpferische Phantasie im Ganzen des Stoffes noch zu thun bleibt). Zudem legt sich natürlich in die Stoffe aus engerer Sphäre ungleich mehr mit ihren eigenen Erfahrungen die Persönlichkeit des schaf- fenden Subjects und benützt das geschichtlich Gegebene nur als frucht- baren Keim. Was nun die Culturformen betrifft, so gewinnt Hegel (Aesth. B. 1, S. 339—360) aus einer sehr belehrenden Gegenüberstellung der Extreme archivarischer Genauigkeit und schreiender Verletzung der historischen Treue aus Unwissenheit oder Hochmuth den Begriff des rechten Maaßes. Vom zweiten gibt die beste Anschauung das classische Theater der Fran- zosen zur Zeit Ludwigs XIV; es war freilich nicht nur das Kostüm ver- fehlt, sondern mit der Sitte und Anschauungsweise des Alterthums über- haupt sein ganzer Ton und Habitus und davon ist der französischen Darstellung immer etwas anzufühlen, sie bringt in Alles einen Schnitt, eine Bewußtheit des Effects, was wenigstens den Charakter der alten Zeit und naturwüchsiger Bildung überall aufhebt. Wenn der §. sagt, es genüge, den Typus einzuhalten, so ist damit gemeint, es müsse das in den Formen einer Zeit, eines Standes, Volks, was ihre Gefühlsweise, Stimmung, Bildungsstufe wesentlich ausdrückt, festgehalten werden, und dieß reicht hin. Wer z. B. aus der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts einen Stoff nähme und wäre unbekannt mit dem leidenschaftlichen, wilden, in Kleidern weitschweifigen, gebauschten, betroddelten, geschlitzten, bebänder- ten Wesen desselben, der würde einen Grundfehler begehen, ob er aber um ein paar Jahre und Moden fehlt, hat natürlich Nichts zu sagen. Wer den schroffen Geist altbürgerlicher Sitte in einer Handwerkerfamilie zum Stoffe nimmt und ihr Gewohnheiten, Kleider raffinirter und win- diger Art beilegt, hat am Wesen des Stoffes sich vergriffen. Es kann in diesem Gebiete die Kunst nach Umständen auch einigen gelehrten Appa- rat bei dem Zuschauer voraussetzen, so gut sie eine historische Notiz vor- aussetzt oder mitgiebt, was der Forderung, daß das Kunstwerk sich ganz aus sich selbst erklären soll, gar nicht widerspricht; Göthe hat aber im Faust etwas zu viel Zauberwesens, auch unverständliche Zeitbeziehun- gen eingewoben (schon dem ersten Theil, der zweite existirt für uns gar nicht). Etwas ganz Anderes ist es natürlich mit Kunstwerken aus alter Zeit, welche deßwegen einen Apparat der Erklärung fordern, weil die Zeit- formen des Künstlers selbst verschwunden, Object der Gelehrsamkeit ge- worden sind. Unter die Culturformen gehört namentlich Bewaffnung und Kostüm und eben an diesen läßt sich am besten zeigen, wie weit die Treue gehen muß. Die Schießwaffen z. B. in eine Zeit zurückversetzen, wo die individuelle Tapferkeit in der unmittelbarsten Bethätigung körper- licher Kraft und Behendigkeit noch Charakter des Kriegs ist, oder umge- kehrt, wäre lächerlich; allein einige Jahre um die Neige des Mittelalters hin oder her schadet nichts, die neue Erfindung wurde so schnell nicht durchgeführt, ritterliche Waffen und Büchsen gingen lange nebeneinander. Ueber das Kostüm in besonderer Anwendung auf das Theater sagte schon Tieck in seinen dramatischen Blättern beherzigenswerthe Worte, Rötscher (die Kunst der dram. Darstellung S. 362 ff.) hat dem rechten Grundsatze seine Stelle im Ganzen angewiesen. Auf dem Theater zeigt sich recht, daß gelehrter Kleiderpomp den wahren Körper des Schönen erdrückt, der sich in einer allgemeinen Beobachtung des Typus einer Zeit leicht und bequem bewegt. Allerdings ist aber eine, nur nicht allzuängstliche, Ein- haltung des Kostüms auch eine Probe für die Objectivät des Kunstwerks. Seit z. B. der Wallenstein im richtigen Kostüm des dreißigjährigen Kriegs aufgeführt wird, fühlt man recht, wo der Dichter diese gestiefelte Zeit richtig angeschaut, wo er dagegen zu viel Philosophie und Senti- mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit ist ein Mensch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Oberst ein Unding. — Endlich soll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur Gelehrsamkeit des Botanikers, Zoologen, Geognosten, mitwirken. Die Winter- nacht im Hamlet bei der Erscheinung des Geistes, die Nachtigall und der Granatbaum in Romeo und Julie sind hinreichende Scenerie zu dem nordi- schen Hauche, der dort, dem südlichen, der hier durch das Ganze geht. c. Die Phantasie des Einzelneu . α . Die Arten. §. 401. Die Wissenschaft kann zunächst nur einen Unterschied von Arten aus dem allgemeinen Gesetze ableiten, daß jede geistige Thätigkeit als Gabe der Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der Eintheilung der individuellen Phantasie wiederholen sich daher die Theile des bisherigen Systems und geben die Eintheilungsgründe für verschiedene Reihen von Arten. Diese Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter sich treten. Kein ächter Günstling des Schönen hat eine Phantasie wie der andere; so gewiß diese die Blüthe sämmtlicher, nur in ihm so verschlun- gener Kräfte der Persönlichkeit ist, so gewiß ist er an einem nur ihm eigenen Zuge in seinen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun so wenig, als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbestimmt werden. Wohl aber lassen sich die Arten der Phantasie bestimmen und eintheilen. Es muß deren so viele geben, als das bisherige System in seinen einzel- nen Theilen Momente unterscheidet. Indem wir diese Eintheilung vor- nehmen, ist nur vorauszuschicken, daß diejenigen Unterschiede hier noch keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem geschichtlichen Bildungs- gange der Phantasie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen Eintheilung zwar vielfache Arten der Phantasie berühren, welche in der Geschichte der Phantasie sich zu Hauptgestalten des Ideals ausbreiten; allein diese sind als geschichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten im Großen unterscheidet, beschäftigt uns jetzt nur als ein Unterschied indi- vidueller Organisation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann. Ebendaher gehen uns hier auch diejenigen Formen nichts an, welche als unreife an den Anfang, als Zeichen der Auflösung an das Ende der Zeitalter gehören: Symbol und Allegorie; blos sofern sie auch im Bildungs- wege der Phantasie des Einzelnen, nur schwächer angedeutet, hervortreten, haben wir sie schon in der jetzigen Abtheilung, in der zweiten Unterabtheilung derselben nämlich, welche von den Graden der Phantasie handeln wird, zu berühren. Auch die eigentlichen Verirrungen der Phantasie werden wir in Verfolgung dieser Arten überall zu den Seiten uns begleiten sehen, und diese Verirrungen haben freilich auch ihre Zeitalter; doch nicht in diesem Sinne, sondern nur in dem der allgemeinen Möglichkeit beschäftigen sie uns jetzt. Wesentlich aber ist, daß die gegenwärtige Abtheilung den Grund zu der Kunstlehre zu legen hat; denn die Verschiedenheit der Künste realisirt sich durch die Verschiedenheit der Organisation der Phan- tasie; es ist ja nicht das verschiedene Material, worauf sie beruht, sondern dieser wählt Stein, jener Farbe u. s. w., weil er zum Voraus den natur- schönen Stoff anders anschaut, als der Andere, und sich darnach ein an- deres Ideal in der Phantasie schafft. Von dieser Seite eröffnet die jetzige Abtheilung allerdings auch eine Aussicht auf die geschichtlichen Formen des Ideals, die zwischen den eben erwähnten unreifen Anfängen und überreifen Ausgängen in der Mitte liegen, denn eine gewisse Art anzu- schauen liegt ihnen zu Grunde, daher bringen sie Alles unter den Stand- punkt einer gewissen Kunst (das classische Ideal ist plastisch, das roman- tische malerisch, musikalisch, das moderne poetisch); aber auch dieß kann jetzt nur als Vorandeutung auftreten und es bleibt dabei, daß wir vom Unterschiede der Epochen eigentlich noch nichts erfahren, sondern nur Un- terschiede vor uns bringen, wie sie immer und überall sich hervorstellen können. — Der Schluß des §. spricht von einer gegenseitigen Berührung der Eintheilungslinien, die uns sofort entstehen werden. Was damit ge- meint ist, wird sich im Einzelnen zeigen. §. 402. Die erste Reihe entsteht dadurch, daß der Inhalt des ersten Theils des Systems als Theilungsprinzip auftritt: einfach schöne, erhabene, komische Phantasie. Diese drei Arten theilen sich wieder nach den verschiedenen Stufeu der betreffenden Grundformen in Unterarten und es bilden sich, wo die eine Art in die andere übergreift, dadurch neue Reihen; je reicher aber eine Phan- tasie, desto mehr Stufen oder sogar Grundformen wird sie umfassen. Für die einfach schöne Phantasie ist es nur dann schwierig Bei- spiele zu finden, wenn man nicht erwägt, daß sie, obwohl die einfache, die harmlose Schönheit und milde Grazie ihr Standpunkt und Boden ist, doch in ihrer Weise allerdings auch in das bewegte Gebiet der Kämpfe übergeht. So kann Raphael neben Mich. Angelo, Homer und Sophokles neben Aeschylus, R. Green neben Marlowe und Shakespear, Gotfr. von Straßburg neben Wolfr. v. Eschenbach, Göthe neben Schiller einfach schön heißen; und doch haben sie alle eine Welt von Kämpfen, von schnei- denden tragischen Momenten zur Darstellung gebracht. Die im strengsten Sinn einfach schöne Phantasie ist allerdings auf kampflos heitere, jugend- liche Gestalten, ruhige Landschaft, liebliches Genre u. s. w. angewiesen. Für die erhabene und komische Phantasie braucht es keiner Erläuterung, noch Anführung. Die erste nun findet in dem vorliegenden Eintheilungs- prinzip keinen Grund weiterer Unterschiedsbestimmung; wohl aber muß die erhabene und komische Phantasie in Unterarten zerfallen nach den verschiedenen Formen des Erhabenen und Komischen. Für das objectiv Erhabene ist eine Phantasie organisirt, welche colossale Naturscenen, wild bewegte Thier-Erscheinungen liebt; das Erhabene des Subjects gelingt manchem großen Charakterzeichner, der darum noch nicht ebenso zur Dar- stellung einer ganzen Handlung und ihres tragischen Gesetzes berufen ist, ja selbst die untergeordneten Formen dieser Sphäre haben wieder ihre besonderen Repräsentanten, wie denn z. B. ein Schauspieler für die polternde Lei- denschaft, ein anderer für Intriganten-, ein anderer für Helden-Rollen einseitig Talent hat. Wer aber zum Tragischen berufen ist, wird freilich auch des einfach Schönen und des Erhabenen des Subjects, nur nicht in gleich breiter Ausdehnung wenigstens des erstern, mächtig sein, es wäre denn vorzüglich die erste Stufe, das Tragische als Gesetz des Uni- versums, worauf er beschränkt wäre, und dann würde er im Uebrigen auf dem Standpunkte des einfach Schönen stehen. Vielfach verzweigt sich namentlich das Komische; ein Talent bewegt sich fast nur in der Posse, ein anderes im Witz, oder hauptsächlich nur in Einer Form dessel- ben, denn Viele haben abstracten, aber sehr wenig bildlichen Witz u. s. w.; ein drittes erhebt sich zum Humor, beschränkt sich aber auf eine Form desselben, den naiven, den gebrochenen, doch wenn es sich zum freien erhebt, wird es auch diese zwei andern Formen in seiner Gewalt haben; so hat J. Paul neben hochkomischen drollige und zerrissene Menschen und Erscheinungen. Mit diesen Bemerkungen haben wir denn schon mehr- fach den Schlußsatz des §., zugleich aber auch den Schlußsatz des vorhergehenden, wie nämlich die verschiedenen Theilungslinien auch aufein- andertreffen, berührt. Sehen wir dieß etwas genauer an: die einfach schöne Phantasie wird, soweit sie in das Erhabene übergeht, das objectiv Erhabene am wenigsten ausschließen, vom Erhabenen des Subjects aber nur das der Leidenschaft, vom Tragischen nur die einfache Elegie seiner ersten, unmittelbarsten Form ergreifen; soweit sie (wiewohl schwer, vergl. Th. 1, S. 485) in das komische Gebiet übertritt, wird sie die Posse, den bildlichen Witz, den naiven Humor sich aneignen. Die erhabene Phan- tasie hat selten Sinn für das einfach Schöne; Schiller z. B. ist unglücklich im ächten weiblichen Ideal; zum Komischen hat sie zwar nur „einen Schritt“, allein keineswegs vollzieht sie ihn darum immer selbst, nicht jeder erhaben Gestimmte vermag sich selbst zugleich zu ironisiren, häufig über- läßt er dieß, wie Klopstock ganz, Schiller zum Theil (denn einigen Ueber- gang zum Komischen hat er allerdings sehr glücklich vollzogen) der Phan- tasie eines Andern. Doch sie kann es und dann wird sie, wenn mehr auf das objectiv Erhabene eingeschränkt, dieselben Sphären des Komischen aufsuchen, wie die einfach schöne Phantasie, wenn mehr auf das Erha- bene des Subjects, den Witz, insbesondere den abstracten nebst der Ironie und den gebrochenen Humor, wenn aber mehr auf das Tragische, den freien Humor lieben. Die komische Phantasie wird sehr wenig Sinn für die ruhige und einfache Schönheit haben, doch eher noch, wenn sie von der burlesken Art ist, den bildlichen Witz und den naiven Humor anbaut. Sinn für das Erhabene setzt sie aber entschieden voraus, denn das ist ihr Stoff und Ausgang und das soll sie mitten im Lachen noch verehren, doch am wenigsten wird sie diesen vorausgesetzten Sinn besitzen, wenn sie auf den Witz, der lieblos das getroffene Subject stehen läßt, beschränkt ist. Der Humor aber wird vollen Sinn für das Erhabene hegen, der naive für ein handgreiflich vorliegendes, der gebrochene für das mehr innerlich Erhabene des Subjects und die negative, zerstörende Seite des Tragischen, der freie für das Erhabene des Subjects und das ganze Tragische. §. 403. Ein zweiter Theilungsgrund ist durch die verschiedenen Reiche des Natur- 1 schönen gegeben: landschaftliche, thierische, menschliche und zwar entweder allgemein menschliche oder geschichtliche Phantasie . Auch diese Arten verzweigen sich zu einer reichen Reihe von Unterarten, die den engeren Kreisen dieser Reiche zugetheilt sind. Eine dreifache Reihe neuer 2 Verbindungen entsteht hier theils dadurch, daß die einzelne Art und Unterart in die andere übergreift, theils durch die Vereinigung der Arten des vorhergehen- den §. mit den vorliegenden, theils durch die Uebergriffe der so verbundenen Arten und Unterarten ineinander. Auch hier umfaßt je die reichere Phantasie mehr Arten und Unterarten. 1. Schon hier erhalten wir eine der Grundlagen der verschiedenen Künste und Kunstzweige, was im vorh. §. noch nicht ebenso oder nur in schwacher Andeutung der Fall war, denn die Grundformen des Schönen ziehen sich durch alle Künste hindurch, nur freilich so, daß einige vom Komischen ausgeschlossen sind und daß das Tragische und Komische sich be- sondere, selbständige Kunstzweige schaffen. Es liegt jedoch ein Nachdruck darauf, daß es sich hier nur von einer der Grundlagen handelt; gewisse Künste und Kunstzweige werfen sich zwar wesentlich auf gewisse Stoffe, dennoch aber theilen sie dieselben auch mit andern und hier entscheidet nicht der Stoff, sondern die Auffassung in dem Sinne, wie der folg. §. das Eintheilungsprinzip für sie geben wird. Die durch den jetzigen Ein- theilungsgrund entstehenden Arten der Phantasie nun konnten nur in Kürze angegeben werden. Genauer betrachtet fragt es sich sogleich, wohin wir die Schönheit der Pflanze gebracht. Es leuchtet aber ein, daß sie derje- nigen Phantasie zufällt, welche sich auf die unorganische Schönheit wirft und nicht ohne die Mitaufnahme derselben die landschaftliche heißen kann. Doch gibt es große Meister der Landschaft, welche Licht, Luft, Wasser, Erdleben mit Meisterschaft auffassen, Pflanzen aber nicht ebenso, während es sich bei anderen umgekehrt verhält. Es gibt ferner eine Phantasie, die vorzüglich zu Auffassung des Thierlebens organisirt ist; die großen Thierbildner, Thiermaler (Snyders, Potter und and.) sind bekannt. Was nun die menschliche Schönheit betrifft, so konnte der §. nur die oberste Haupteintheilung hervorheben. Sieht man die Sache näher an, so zeichnen sich deutlich die bestimmten Richtungen ab. In der Abtheilung von der menschlichen Schönheit überhaupt im ersten Abschnitt, die wir hier der „allgemein menschlichen“ Phantasie zutheilen, traten zuerst in §. 317 ff. die Formen hervor, die den Menschen schlechtweg als Gattung charakterisiren, seine Gestalt, die Unterschiede des Alters, Geschlechts u. s. w. Es giebt eine Phantasie, welche auf diese reinen Formen angewiesen ist, wir werden ihre Heimath besonders in der Plastik finden, aber auch in der Malerei, der Poesie ist sie zu Hause und Göthe z. B. umfaßt zwar noch ganz andere Gebiete, aber die sinnliche Seelen- form der Gattung ist vorzüglich sein Element. Die harmlose Situation (§. 336) wird es besonders sein, in welcher diese Phantasie ihre Stoffe hinstellt. Wir zogen zu diesem Kreise die Liebe, Ehe, Familie (§. 322 ff.). Die erste mehr als natürliche Leidenschaft gefaßt zeigt uns das erotische Gebiet, worin noch dieselbe Phantasie, die überhaupt vorzüglich auf na- türliche Schönheit angewiesen ist, sich bewegt; in ihrer höheren Bedeu- tung, in ihren tieferen Kämpfen aber ist sie freilich für verschiedene Arten der Phantasie Stoff auf verschiedene Weise. Ehe und Familie konnten vollends nicht aufgeführt werden, ohne das sittliche Ganze der ausgebil- deten menschlichen Gesellschaft vorauszusetzen, und so werden sie Stoff bald für die tiefere Phantasie, welche sich für das sittliche Leben als solches bestimmt und seine ernsteren Kämpfe behandelt, aber doch zugleich mit besonderer Vorliebe für die natürlichen Formen wie bei Göthe, bald aber für diejenige, welche Gewohnheiten, Sitten, Culturformen in’s Kleine ver- folgt und welche das sogenannte Genre oder Sittenbild schafft. Eben diese letztere Phantasie nun wird sich vorzüglich in diejenigen Stoffe legen, die wir sofort unter der Bezeichnung: „die besonderen Formen“ (§. 324 ff.) zusammenfaßten: Völker, Stämme, Thätigkeiten, die dem Bedürfniß und Genusse dienen, Krieg, Tracht, kurz Culturform. Die Weise der Phan- tasie, die sich damit beschäftigt, liegt ganz nahe an der vorigen; so ist es z. B. eben auch Göthe, der das Gattungsmäßige, Geschlechtliche, Ero- tische, die Kämpfe der Neigung und Leidenschaft und die Sitten, Gewohn- heiten, Naturell der Völker gleich genial behandelt. Hier treten nun auch die vorgeschichtlichen Naturformen des Staates auf und aus den reiferen die Typen der Stände. Wir sehen das Gebiet des Epos aufgeschlagen, zu dem aber das eintheilende Prinzip noch nicht ausgesprochen ist. Wir können an verschiedene Kunstzweige denken; Göthe hatte besonderen Sinn für Genremalerei und ebenderselbe war besonders zum Epos berufen. Da- rauf folgten nun im ersten Abschnitte die individuellen Formen (§. 331 ff.); soweit sich diese noch im natürlichen Gebiete bewegen, fallen sie der Phan- tasie der natürlichen Schönheit und der genre-artigen zu, je mehr wir aber zum Charakter aufsteigen, desto mehr fordert der sich vertiefende Ge- genstand die tiefere Phantasie, welche das Innere, das Psychologische in’s Auge faßt und den so gefaßten Stoff auf die verschiedenste Weise, z. B. für Darstellung der Bildungsgeschichte des Individuums im Roman, für ein geistig bewegteres, mehr innerliches Genre, aber auch für die Personen im Drama, das jedoch seinem Hauptkörper nach eine ganz an- dere Form der Phantasie fordert, verwenden kann. Wir haben aber nicht umsonst dieß Alles unter dem Begriff der allgemein menschlichen Phantasie zusammengefaßt, denn wir trennen alle diese Sphären jetzt von dem con- creten Schauplatz der Weltgeschichte. Im ersten Abschnitte dieses zweiten Theils der Aesthetik zwar führten wir die Zustände des Privatlebens, die Geltung des Individuums, die Culturformen durch das ganze geschichtliche Gebiet mit fort und auch die geschichtliche Phantasie braucht sie ja bestän- dig zur vollendeten Anschauung ihres Stoffes; allein sie braucht sie nur als Momente in der concreten Bewegung der eigentlich geschichtlichen Begebenheiten und Thaten. Diese Formen lassen sich aber von der in die Tafeln der Geschichte eingezeichneten That und Begebenheit auch tren- nen und an einen allgemein menschlichen Gehalt, der wohl auch in einer Begebenheit, aber nicht in einer der eigentlichen Geschichte angehörigen sich darstellt, anlehnen; und dieß bildet dann das Gebiet eben für jene Art der Phantasie, welche nicht auf den Sinn der Geschichte gegründet ist, welche das Datum und Factum, das Unerbittliche der Thatsache, die rauhen Bedingungen der Wirklichkeit im Großen als Fessel fühlt und demjenigen nachgeht, was man vorzugsweise das allgemein oder rein Menschliche nennt. Göthe z. B. war so organisirt, er hatte eine gewisse Scheu vor der Herbheit der Geschichte, Schiller aber war ganz politischer Geist. Einem Solchen nun ist die Geschichte aufgeschlagen, die großen Männer, Thaten und Schicksale mit bestimmten Namen, aus bestimmten Zeiten überliefert. Hier brauchen wir nur anzudeuten, wie den Einen die alte, den Andern die mittlere, den Dritten die neuere Zeit anziehen, wie es wieder für den Charakter besonderer Perioden einen besondern Sinn geben wird, um auf die Mannigfaltigkeit der Organisationen, in die sich diese Art verzweigt, hinzudeuten. 2. Hält man zuerst die Reihen, welche durch die Arten innerhalb dieses Eintheilungsgrunds entstehen, zusammen, so bilden sich auch hier neue Combinationslinien. Die landschaftliche Phantasie kann sich mit der thierischen und menschlichen verbinden und wird im letzteren Fall gern die Culturformen der Völker in Verbindung mit der Thierwelt, Hirtenleben, Jagd, wandernde Horden, Schlachten und dergl. zum Stoffe nehmen. Schreitet die allgemein menschliche Phantasie auf den Boden der geschicht- lichen über, so wird sie das rein Menschliche an das Leben der Staaten knüpfen, wie Shakespeare in Romeo und Lear, Göthe in Hermann und Dorothea, leicht aber die politische Grundbedeutung der Epochen über- sehen, wie Göthe im Götz und in den fatalen Lustspielen, deren Stoff die französische Revolution ist; sie wird aber auch die Naturvölker und das Alterthum besonders lieben, es wäre denn die Unterart, die das Psy- chologische des individuellen Lebens in die Tiefe verfolgt: diese wird Fa- milien-, Bildungs-Stoffe in der neueren Geschichte suchen. Legt sich aber die geschichtliche Phantasie in die Landschaft, in die thierische Schönheit, in die Culturformen und das Privatleben, so wird sie alle diese Sphären in einem großartig monumentalen oder stark und mächtig bewegten Geiste behandeln. Interessante Beziehungen ergeben sich weiter, wenn man die eben schon berührten engeren Kreise oder Unterarten weiter zusammenhält: die Phantasie z. B., welche der natürlichen menschlichen Schönheit (der Gestalt) nachgeht, wird, wenn sie in Familienscenen übergeht, idyllische, naive lieber, als kampfvolle, wenigstens als zerrissene Scenen, wenn sie sich auf den Boden der Stände begiebt, solche suchen, die geruhig mit der Natur verkehren, Fischfang und dergl. Wir überlassen weitere Combina- tionen dem Leser. Nun stellt sich aber dieses ganze Gebiet mit dem des vorh. §. zu- sammen und da kommt in diese Masse schon schärfere Bestimmtheit, aber auch zugleich so viel neuer Reichthum, daß wir nur Winke geben können. Sogleich ist klar, daß die landschaftliche Phantasie sich bald mit der einfach schönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch- gebirge, Einöden, Stürme der stillen Milde des Naturlebens vorziehen, in der weicheren Form Mondschein-Scenen u. s. w. In der Thierwelt findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren, der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In der Sphäre des allgemein Menschlichen bietet sich der Phantasie der schönen Ge- stalt, wenn sie sich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragischen (Herkules, borghesischer, sterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszustände und Culturformen organisirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd als Stoff dar. Diejenige Phantasie, welche in den durchgearbeiteteren Zuständen der Gesellschaft heimisch ist, hat in der Ehe, Familie, den Collisionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches Feld für einfach schöne Situation und, wenn sie erhaben oder komisch gestimmt ist, für Kämpfe und Widersprüche aller Art; auch das schöne Naturleben des Menschen bietet sich der Komik so gut, wie der einfach schönen und erhabe- nen Phantasie, nur überall wesentlich der naiven Komik als Fundgrube an. Daß aber das geschichtliche Gebiet der erhabenen und komischen Phantasie die reichsten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweises; vielmehr hier eben ist das Feld, wo beide Formen der Weltanschauung sich zu selbst- ständigen großen Standpunkten (und daher Kunstgattungen) gestalten. Man meine nicht, die komische Phantasie sei bloß auf das Privatleben angewiesen, das wir, wie gesagt, im gegenwärtigen Zusammenhang vom Politischen zu den besonderen Formen zurückstellen; die Geschichte im Großen ist wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222). Auch dieses Feld der Combinationen erschöpft aber noch nicht den ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen Arten der Phantasie zusammengestellt, welche aus den Reichen des natur- schönen Stoffes als Eintheilungsgrund entstehen, wir haben ihre verschie- denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt, zur jetzigen geschlagen und so wiederum eine Linie neuer Mischungen auf- gezeigt. Nun entsteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten oder Unterarten dieses §. sammt der schon dazugeschlagenen Weise ihrer Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf ansieht, wie sie sich gestalten, wenn sie sich mit dieser Stimmung auf den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem einfach Schönen nachgeht und so unter den Stoffen der besonderen mensch- lichen Formwelt vorzüglich für naive Volkssitte Sinn hat, der wird, wenn er in das geschichtliche Gebiet übergeht, Volksscenen besser darstellen, als Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderselbe liebt unter den allgemeinen Formen das Erotische, so macht Göthe eine Liebesgeschichte zum Mittel- punkte einer geschichtlichen Handlung im Götz und Egmont. Zugleich kann aber dieselbe Phantasie, obwohl auf das einfach Schöne gestellt, den Bildungsgang der Individualität mit Vorliebe zum Gegenstand ma- chen und dieser geht vielfach ins Erhabene, sie wird ihn aber mit dem Elemente schöner Sitte umgeben und zur schönen Rundung der Persönlich- keit führen: wiederum Göthe. Schiller ist vorzüglich für das Erhabene des Subjects und das Schicksal in der Geschichte organisirt, doch gelingt ihm auch Volksleben und Culturform, aber mehr drastisch bewegte (Sol- datenleben), als einfach schöne (ländliche — im Tell), und auch im Roman, also dem Gebiete des rein Menschlichen, wirft er sich auf den drastischen Streit geschichtlicher Mächte (Geisterseher). Kaulbach ist für große geschicht- liche Stoffe im Sinne des Erhabenen organisirt, aber ebenderselbe be- handelt mit tiefer Komik die Thierwelt als Parodie der menschlichen, mit ergreifender Charakteristik psychologisch erschütterndes Genre. Wir ent- halten uns weiterer Griffe in ein Feld unendlicher Mischungsverhältnisse. Je reicher nun eine Phantasie, desto mehr wird sie nicht nur Arten und Unterarten des einfach Schönen, Erhabenen, Komischen, nicht nur Arten und Unterarten der landschaftlichen, thierischen, menschlichen Phantasie umfassen, sondern desto mehr wird sie auch fähig sein, erstens, einen Stoff aus derselben Sphäre letzterer Art einfach schön, erhaben oder komisch (wenn er dazu sich darbietet, denn das muß er und er kann es, wenn er mannigfach verschlungen ist) anzuschauen; zweitens, mehrere Stoffe nach- einander wechselnd unter den einen oder andern Standpunct zu bringen, drittens, in einem Ganzen der Phantasie mit den Betrachtungsweisen zu wechseln. Aristophanes verbindet wunderbar diese Stimmungen in An- schauung des griechischen Lebens, reicher aber in der Fülle der Phantasie, welche alle Lebensformen in wechselnder Tonleiter aller ästhetischen Grund- formen (§. 402) durchläuft, ist keiner, als Shakespeare. §. 404. Das dritte Prinzip der Eintheilung liegt in den Momenten der Phan- tasie selbst. Dieses begründet zwei Eintheilungsreihen: zuerst eine solche, wo jedesmal die ganze und ungetheilte Phantasie vorausgesetzt ist, die sich aber wesentlich auf den Standpunkt eines oder des andern ihrer Momente stellt, und zwar entweder auf die Anschauung (§. 385) und Einbildungskraft (§. 387 ff.), oder auf die Empfindung (§. 385) und Stimmung (§. 394), oder auf die eigent- liche Phantasie (§. 392) als reine innere Formthätigkeit. So entsteht eine bildende , eine empfindende , eine dichtende Phantasie. Die erste ist unter den anschauenden Sinnen (§. 71) auf das Auge , und zwar entweder auf das messende , oder auf das tastend sehende, oder das nach dem Aus- druch der Licht- und Farbenwirkung, also eigentlich sehende, die zweite auf das Gehör organisirt, die dritte auf die ganze ideal gesetzte Sinn- lichkeit und die reichste geistige Bewegung aller ihrer Mittel gestellt. Auch diese Arten verbinden sich theils unter sich, theils mit den beiden Reihen der vorher aufgeführten, in den mannigfaltigsten Mischungsverhältnissen. Man meine nicht, es sei hier der Kunstlehre zu sehr vorgegriffen: es ist von einer objectiven Ausführung des Ideals durchaus noch nicht die Rede, sondern nur von einer Bestimmtheit, die es bereits in seiner erst inneren Gestaltung an sich trägt und welche freilich dann im Ueber- gang zur Objectivität der Kunst den Unterschied der Künste begründet. Der Eintheilungsgrund dieser neuen Reihe von Arten der Phantasie ist also genommen aus den Momenten der Phantasie selbst. Jedes dieser Momente aber tritt doppelt auf. Allen weitern Stadien der Phantasie- thätigkeit liegt die Anschauung und die zu dieser geforderte Innigkeit der Empfindung zu Grunde. Nun könnte man so eintheilen: die bildende Phantasie ruht auf der Anschauung, die empfindende auf dem Momente der Innigkeit der Anschauung, in der dichtenden wiederholt sich die Ein- bildungskraft. Allein im Leben der Phantasie selbst sahen wir diese ersten Stufen sich auf höhere Weise wiederholen: in der Einbildungskraft die An- schauung, in der Stimmung (§. 394) die erste Empfindung, in der idealen Formthätigkeit der Phantasie die Einbildungskraft. Man könnte nun sagen, es sei gleichgültig, ob die Eintheilung auf die erste oder zweite dieser Reihen jetzt begründet werde; nennt man aber nur die zweite, so hat dieß das Schiefe, daß in dem Begriffe der Einbildungskraft neben der deutlichen Gestalt auch das Willkührliche liegt; nennt man nur die erste, so scheint übersehen, daß es sich hier überall schon von einem innern Bilden und Schaffen handelt. Der §. begründet daher die Eintheilung auf die sich entsprechenden Momente beider Reihen. Zählen wir nun mit deutlicher Bezeichnung die Arten auf: a. Die bildende Phantasie, begründet auf den Standpunkt der Anschauung und der Einbildungskraft. Legt sich die ganze Phantasie auf diesen Standpunkt, so wird Alles in ihr darauf hinarbeiten, mit scharfen Zügen ein Bild, das zu sächlicher Selbstständigkeit wie das mit dem äußeren Auge geschaute und sofort in der Synthese der Einbildungskraft immer noch wie ein Gegenständliches vorschwebende Object sich verfestigt, dem Geiste (zunächst innerlich) gegenüberzustellen. Es ist die Form des Sehens , welche hier herrscht, denn dieses läßt sein Object ganz als Object. Wer innerlich so bildet, der muß schon in der Anschauung wesentlich die Dinge so betrachtet haben. Er ist auf das Auge organisirt und diese Organi- Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 25 sation setzt sich als bestimmend in das innere Leben der Phantasie fort. Nun treten deutlich unterscheidbar sogleich die Unterarten hervor. Das Auge sieht in dreierlei Weise: es mißt durch ein verhülltes Zählen Ver- hältnisse, es umspannt durch ein verhülltes Tasten organisch geschwun- gene Formen, es sieht den reinen Schein der Oberfläche in Licht und Farbe, d. h. es sieht im vollkommensten Sinne, ist aber auch schon auf jene verschwebenden Medien gerichtet, welche an die Anschauungs- weise eines andern Sinns hinrühren. So theilt sich also die bildende Phantasie in eine α. auf ein messendes Sehen, β. auf ein tastendes Sehen, γ. auf ein eigentliches Sehen begründete. Man erkennt leicht: hier ist die Reihe der bildenden Künste vorge- zeichnet: Baukunst, Bildnerkunst, Malerei. Nimmt man nun die nach den Sphären des Stoffes gebildeten Arten (§. 403) hiezu, so erhellt deut- lich, welcher Zusammenhang hier waltet. Das messende und tastende Auge wird mit den großentheils unbestimmten Formen des Gegenstandes der landschaftlichen Phantasie nichts zu thun haben, das erstere etwa nur insoweit, als es die allgemeinen Grundformen der Raumerfüllung daraus in unbewußter Ahnung sammelt, um sie zu einem Gebilde ganz eigener Art, von dessen dunklem Verhältniß zum Naturschönen seiner Zeit die Rede sein wird, zu verarbeiten; dem tastenden Auge aber wird sein Reich in der Thier- und Menschenwelt aufgehen. Da es aber diese Welt ganz nur auf die festen Formen ansieht, so wird es dieselbe keineswegs gleichmäßig in alle ihre Sphären verfolgen können. Was sich in die Tiefe der Menschenbrust zurückzieht und nicht Muskel und Glieder formt und in Bewegung setzt, wird ihm verschlossen sein; daher wird es vorzüg- lich im allgemein Menschlichen, in der Sphäre seiner allgemeinen und beson- deren Formen nur auf beschränkte Weise, noch weniger in der Sphäre der in- dividuellen Formen (Physiognomik der tief in sich zusammengefaßten Indi- vidualität) sich bewegen, die Geschichte aber nur soweit begleiten können, als ein sehr einfaches Pathos leicht übersichtliche Gruppen in Bewegung setzt. Ebendaher wird die so organisirte Phantasie als messende einfach schön und erhaben, dem Komischen aber ganz fremd, als tastende vorzüglich auf das einfach Schöne angewiesen sein, das Erhabene der Kraft suchen, dem Erhabenen des Subjects nicht in die Tiefe folgen, vom Tragischen nur die erste und zweite, nicht die verwickelte dritte Form aufnehmen und vom Komischen nur einen naiven Auflug sich aneignen können. Dagegen das eigentlich sehende, auf den flüssigen Licht- und Farbenschein der Oberfläche angewiesene Auge wird ein unendlich weiteres Feld sowohl in Rücksicht der Ausdehnung auf Stoffe, als auch auf die Grundformen des Schönen gewinnen und gerade die Beruhigung bei den einfachen Erscheinungen, welche ein noch bruchloses Seelenleben ganz in die festen Formen ergossen zeigen, wird ihm am meisten fremd sein. Daher wird es unter den ge- schichtlichen Stoffen am wenigsten die der objectiven antiken Lebensform aufsuchen, welche dagegen dem tastenden Auge ein homogener Gegenstand sein werden. b. Die empfindende Phantasie. Wir unterschieden also schon im Acte der Anschauung das scharfe Fassen und das innige Gefühl des Gegenstands. Da dieser sein innerstes Leben in Bewegung und Laut kund gibt, so ist die zweite dieser Formen zwar nicht allein, aber doch besonders durch das Gehör vermittelt: es ist das Organ der unmittel- baren Theilnahme des subjectiven Lebens am Leben des Objects. Die Phantasie nun, welche von dieser Form der Anschauung ausgeht, stellt sich im Fortschritte zum innern Schaffen auf den Boden des Moments der Stimmung . Als Moment des Ganzen bringt es diese noch nicht zur Gestalt, sondern webt in der dunkeln Gährung des Gemüths im Subjecte mit dem Gehalt im Objecte; legt sich aber die ganze Phantasie in den Standpunkt dieses Moments, so wird sie innerhalb desselben auch gestalten und zwar im Elemente des Hörbaren. Kurz hier ist die Musik vorgezeich- net. Die empfindende Phantasie nun wird sich mit allen Arten des vor- herigen §. verbinden können, nur aber so, daß sie von jeder Sphäre des Stoffs, worauf diese Arten gerichtet sind, nicht die Gestalt, nicht die Gegenstände, sondern nur den Eindruck derselben auf das Gefühl zur reinen Form erhebt; ebendaher aber wird sie vorzüglich die Sphären aufsuchen, wo volles und vertieftes inneres Leben sich kund gibt: wie sie selbst die empfindende ist, so ist der empfindende Mensch ihr Stoff, und je mehr eine Sphäre des Stoffs Erregungen des innersten Lebens mit sich führt, desto willkommener muß sie ihr sein: so die Liebe, die Freuden und Genüsse, die sich mit den „besonderen Formen“ verbinden, die See- lenkämpfe des Individuums, die Freundschaft; an allen geschichtlichen Stoffen aber wird sie eben diese Resonanz im Individuum aufsuchen, sich also auch hier auf den Boden des allgemein Menschlichen und zwar in der Form der bewegten Individualität stellen. Das einfach Schöne und Erhabene ist ihr im reichsten Umfange, das Komische nur in sehr einge- schränktem Sinne offen. c. Die dichtende Phantasie. Wir können sie die Phantasie der Phantasie nennen, denn es ist diejenige, welche, verglichen mit der An- schauung, im Elemente der innerlichen Gestaltung, der Einbildungskraft, bestimmter aber, da diese auf zweiter Linie nur die Anschauung wieder- holt, im Element der eigentlichen Formthätigkeit, also im vollendeten letzten Schritte des ästhetischen Organs ihren Standpunkt nimmt. Wären wir 25* schon so weit, den Uebergang vom innern Ideale zum Kunstwerk anzu- treten, so wäre Alles mit dem einen Worte gesagt, daß diese Form der Phantasie in keinem andern Materiale, als dem der Phantasie (des Zu- hörers) arbeitet, also nicht aus der Phantasie in die Welt der äußeren Ge- staltbildung übergeht, oder richtiger, daß sie sich von dieser in die rein innere Gestaltbildung zurücknimmt. Allein so viel folgt schon hier, daß damit eine Form der Phantasie gegeben ist, die, weil sie sich in keines der ein- seitigen Momente legt, alle anderen Formen auf geistige Weise in sich vereinigt. Sie zeichnet also innerlich wie die auf das Auge organisirte Phantasie, aber da sie ebensosehr die auf das Ohr organisirte empfindende in sich schließt, diese aber Alles als ein von innen heraus Bewegtes und das Gemüth Bewegendes auffaßt, so führt sie ihre Gestaltenwelt im vollen Fluße der geistigen Bewegung vorüber. Nun können aber auch die üb- rigen untergeordneten Sinne, Geschmack, Geruch mitwirken, denn ihre stoffartige Spitze ist gebrochen, indem sie in dem Ganzen der so ideal gesetzten Sinnlichkeit nur mitwirken. Hier ist denn die Poesie vorge- zeichnet. Da nun diese Phantasie alle anderen hier vorliegenden Arten in sich vereinigt, so ist sogleich klar, daß sie die Standpunkte der letzteren in sich wiederholt, und so ist bereits die epische Poesie als entsprechend der bildenden, die lyrische als entsprechend der empfindenden, die drama- tische als Rückkehr der dichtenden zu sich selbst vorgezeichnet. Hiemit ist auch schon gesagt, daß die dichtende Phantasie mit allen Arten von Phan- tasie, die nach den Sphären des Stoffes, ebenso mit allen Arten, die aus den Grundformen des einfach Schönen u. s. w. sich bildeten, auf die vielfachste und ungehemmteste Weise sich verschmelzen kann. Im Vorhergehenden haben wir die Verbindungen, welche die durch die jetzige Eintheilung gegebenen Arten der Phantasie mit den Arten der vorh. §§. eingehen können, bereits angedeutet, aber nur von der dichten- den hervorgehoben, wie sie sich durch Wiederholung der bildenden und em- pfindenden innerhalb ihres Standpunkts gliedert. Wie auch die andern Arten die Weise der übrigen in sich aufnehmen, kann hier nur mit Wenigem an- gegeben werden. Am schwersten natürlich kann die Phantasie des messenden Auges übergreifen in die benachbarten Formen, die plastische, die malerische; doch läßt sich in gewissem Sinne sagen, daß die orientalische Architektur streng blos messend, die griechische plastisch, die gothische malerisch sei. Hier also würden aus diesem Uebergreifen nicht verschiedene Zweige, sondern histo- rische Style entstehen. Die Phantasie des tastend sehenden Auges, die plastische, kann in gewissem Sinne eine architektonische oder eine malerisch bewegte Anschauung sich zu Grunde legen, ohne ihre Grenzen zu verlassen; von den eigentlichen Fehlgriffen nämlich reden wir hier überhaupt noch nicht. Dieß kann nun in doppeltem Sinne geschehen; entweder Zweige begrün- dend, so daß die architektonische Art das ruhende Götterbild, die malerische Art das menschliche Genre und die bewegte handelnde Gruppe zum Ge- genstand hat, oder historische Style begründend als eine Weise, alle Zweige zu behandeln, wie solche in der Geschichte der Plastik sich zeigen wird. Die malerische Phantasie kann in mancherlei Sinn die plastische, die em- pfindende, die dichtende in sich aufnehmen, ebenfalls noch abgesehen von Verletzungen ihres Wesens. Plastisch verfährt sie theils überhaupt, wenn die Zeichnung vorwiegt, theils wenn sie das, ihr zwar fremdere, Gebiet der von bruchlosem Seelenleben ruhig erfüllten Gestalt anbaut, musikalisch in der Landschaft, in allen Werken, wo in der höchsten Magie des Hell- dunkels, des Licht- und Farbenscheins die Bedeutung der Gestalt zurück- tritt, dichtend in großen, episch geordneten Cyklen, in dramatisch bewegten historischen Stoffen. Auf andere Weise werden wir in der Geschichte der Style, wie er den Haupt-Epochen des Ideals entspricht, den Unterschied dieser Standpunkte wiederkehren sehen. Die empfindende Phantasie wirkt objectiv, der bildenden ähnlich, als einfache religiöse Musik, subjectiv- objectiv, der dichtenden ähnlich, als Oratorium (Epos) und Oper (Drama); in geschichtlicher Beziehung erscheint die alte Musik, wo der Rhythmus vorherrscht, bildend oder plastisch, die Herrschaft der Harmonie in der neueren ächt musikalisch, dem Malerischen verwandter. Auf die weiteren Verbindungen in den Unterarten können wir nicht eingehen, sondern nur andeuten, wie z. B. die dichtende Phantasie da, wo sie die empfindende in sich wiederholt, wieder innerhalb dieses Bodens den Standpunkt der bildenden in der Romanze und Ballade, in anderem Sinn in der Hymne und Ode, den der dramatisch dichtenden in den bewegten dialogischen Balladen hervortreten läßt, den der rein subjectiven Empfindung aber dem Liede vorbehält, ferner wie z. B. die sogenannte historische Landschaft plastisch, die individuelle, localere ächt malerisch, oder wenn man will, mehr musikalisch, mehr dichterisch ist. §. 405. In der dichtenden Phantasie tritt vermöge der Innerlichkeit ihrer ganzen Gestaltung, unbeschadet der Grund-Einheit von Idee und Bild im Ganzen des ästhetischen Körpers, eine relative Trennbarkeit dieser Elemente ein: sie kann als vergleichende auch eine fremde Idee in ein fremdes Bild legen. Hier wird zum erstenmal von einem Verfahren der Phantasie die Rede, das sonst in seinen verschiedenen Formen schon in die allgemeine Lehre von diesem Organe des Schönen aufgenommen zu werden pflegt. Man führt nämlich sonst die symbolisirende, allegorisirende, semiotische Phantasie als Formen der ästhetischen auf. Wir haben aber schon ge- sagt, daß dieselben als Formen der Unreife oder Auflösung durchaus nur den Epochen des Bildungsgangs der Phantasie angehören. Alle nun haben das gemein, daß die Phantasie, statt diesen Stoff in der unge- schiedenen Einheit seiner Idee und seines Körpers in die Schönheit zu erheben, irgend eine Idee des Subjects in den Körper irgend eines Stoffs, der eigentlich eine andere Idee zur Seele hat, hinüberlegt. Sie thun dieß aber ungestandener Maßen und sind daher ästhetisch schlechte Formen. Dagegen thut die Vergleichung zwar ebendieß, aber gestan- dener Maßen und ist, wenn sie nur nicht das ästhetische Ganze zu sein behauptet, sondern in einem wahrhaft schönen Ganzen unterwegs, mit- unter , als Mittel vorkommt, berechtigt. So viel darüber, warum wir diese, aber auch nur diese Form der blos beziehenden Phantasie hier aufführen dürfen ; eigentlich aber fragt es sich, ob die Phantasie, wie sie uns bis jetzt vorliegt, diese Form bilden kann . Die dichtende kann es, weil sie als die geistigste Art einen Kreis von Phantasie in Phan- tasie beschreibt, worin sich das schaffende Subject über den einzelnen Stoff hinweg und mit einem anderweitigen Ideen-Gehalte zu ihm zurückbewegen kann, wo denn dieser auf jenen fällt und, ohne ihm eigentlich zu gehören, auf den Grund eines bloßen tertium comparationis frei mit ihm zusam- mengehalten werden kann. Daher ist von den Formen der komischen Phantasie hier eigentlich allein der Witz möglich. In der Lehre von der Poesie wird sich zeigen, daß die Sprache das Vehikel der dichtenden Phan- tasie ist; diese aber ist das Mittel der blos vergleichenden Uebertragung. §. 406. 1 Eine andere Theilungsreihe ergibt sich aus diesem Prinzip (§. 404), wenn sich die Phantasie auf Kosten ihres Ganzen in eines ihrer Momente legt: 2 dann wird sie, auf die Anschauung beschränkt, stark in Naturwahrheit, aber arm an Idealität, fruchtbar zum Nachtheil der Einheit, auf die Einbildungs- kraft beschränkt, ebenfalls fruchtbar ohne Ordnung, wild, nebelhaft, verworren, 3 meist stoffartig leidenschaftlich; wenn sie von dem Gehalte der Persönlichkeit (§. 392), der hier nun auch als Theilungsgrund auftreten muß, den rechten Fortgang zur Gestattung nicht findet, bei guter Gesinnung ethistrend, bei schlech- ter häßlich, bei ächtem Denken belehrend, bei verkehrtem Denken hohl und 4 lügnerisch; wenn sie in der Empfindung und Stimmung stehen bleibt, gestaltlos 5 innig; wenn sie sich einseitig im Momente der Begeisterung und Besonnen- heit bewegt, planlos pathetisch oder planvoll absichtlich. 1. Es entstehen aus diesem Eintheilungsgrunde sowohl Einseitigkeiten und Verirrungen der Phantasie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen- der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn sie nicht mehr, als dieß, sein wollen. Beide Formen, sowohl die Mängel und Unarten, Aus- artungen , als auch die Abarten werden hier nur erst in der allge- meinsten Weise gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber, welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt sind, lassen wir uns hier nicht ein, sie können ihre nähere Darstellung erst in der Lehre von den Künsten und ihrer Geschichte finden. 2. Die erste Einseitigkeit entsteht, wenn das Bild der Einbildungskraft auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geist so eben noch von der An- schauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des Naturschönen hat. Der Phantasie, die auf starker und strenger Anschau- ung ruht, liegt Realität auf Kosten der Idealität nahe; es gibt aber bis herab zum gemeinen Copisten der Natur der Abstufungen viele. Wir haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber darum den Ausdruck Realismus nicht gewählt. Was man so nennt, ge- hört in die Geschichte des Ideals. Zugleich sammelt der reiche Beobachter der Natur viel , er ist fruchtbar in Massen, aber es fehlt ihnen die in- nere Einheit. Ebendieß findet zunächst statt, wo sich die Phantasie im Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß drängt sich Bild an Bild in regelloser Fülle, es entsteht üppige, breite Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beispiele der Ueberschwängerung mit Fabeln, Figuren, Beschreibungen bietet die Kunstgeschichte in Menge, wir fänden aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf einlassen wollten. Ariost z. B. steht nahe an der Schwelle der Ausar- tung, die meisten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil- der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unsteten Vermischungen: herrscht dieß Moment, so entsteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene. Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö- nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, musikalisches Phan- tasiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen stoffartig: sinnliche, unfrei leidenschaftliche Phantasie. Es gibt eine doppelte Sinn- lichkeit der so auf das Stoffartige der Einbildungskraft gestellten Phantasie: die frische und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche, onanistische; aber auch die erstere ist Verirrung, denn es fixirt sich ein Mo- ment, das in die Interesselosigkeit der Objectivität aufgehoben werden sollte (Heinse). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher Grund. 3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Substantialität der Persönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede sein, jetzt zählt auch dieses Moment als ein durch seine Isolirung Ein- seitigkeit begründendes. Es könnte unlogisch erscheinen, daß wir neben Gehalt ohne Form auch Form mit verkehrtem Gehalt eben hier auffüh- ren; allein auch bei schlechtem Gehalte verhält es sich in unsrem Zusam- menhange so, daß das Subject ihn als solchen an Mann bringen will, also die Form ihm nicht Selbstzweck ist. Mit guter Gesinnung ist wahres Denken, mit schlechter Gesinnung verkehrtes Denken natürlich bei- sammen, obwohl sie unterscheidbar sind. Jenes Paar bildet die schwer- löthige, auf den baaren Gewinn an guten Willensbewegungen oder Wahr- heiten arbeitende Abart des praktisch oder theoretisch Didaktischen. Sie ist mehr oder minder absichtlich, hat mehr oder weniger unorganisches Verhältniß zwischen Idee und Bild, verfährt direct ernst und witzig oder indirect ironisch, wird zur Satyre u. s. w. — das Alles gehört in con- cretere Theile des Systems. Die schlechte Gesinnung und die innere Lüge aber ist zwar auch didaktisch, sucht Proselyten, wirft sich aber ebendarum mit voller Eitelkeit, doch immer unorganisch und absichtlich, in die bestechende Form und wird häßlich, indem sie Mißbildungen, Mißverhältnisse, insbesondere die Entstellung durch Lüsternheit, was Alles sich in’s Erha- bene oder Komische aufheben sollte, ohne diese Aufhebung fixirt. Sie ver- bindet sich daher mit der Einbildungskraft als einseitiger Kraft, ihrer Ueppigkeit, ihrem Gaukeln, ihren stoffartigen Erregungen. Sie besonders wirft sich gern in das Traumartige und legt Wahnsinn der Verzweiflung in ihre Larven. Aber sie sucht heuchlerisch auch devote, blöde, demüthige Formen, wie der moderne Kunstpietismus. Gespenster sind diese so gut wie die reizenden oder grausigen Larven; das rothe Mäuschen springt allen aus dem Munde, Eckel und Grausen lauert hinter allen. Auch dieses Gebiet zeigt sich concret erst in erfüllteren Theilen des Systems. 4. Gefühlsweben, worin keine feste Gestalt möglich ist, ein Fortzittern der Stimmung, das nur unreife Bildungen von zerfließenden und ver- klingenden Umrissen erzeugt: sentimental im tadelnden Sinne. Auch hier liegt eine Form vor, die zwar in jeder Zeit auftreten kann, (Herder z. B. und Hölderlin gehören unter diese „passiven, weiblichen Genies“ wie sie J. Paul nennt, und sie hätten auch in einer anders gestimmten Zeit den Uebergang zum vollen Gestalten nicht gefunden); allerdings aber hat sie erst in der Geschichte der Phantasie ihre rechte Stelle. 5. Begeisterung, die planlos fortreißt, ist von der Zerflossenheit des Gefühls zu unterscheiden. Sie wird es zwar auch nicht zu reifen Gestal- ten bringen, ja sie wird, da ihre Gestalten sie mit dem unfreien Zuge sittlicher Stoffartigkeit fortnehmen, ganz leicht in formloses Ethisiren fal- len; aber die Gefühls-Phantasie ist trunken auf andere Weise, zerstört gerne den Plan mit der subjectiveren Willkühr des empfindseligen Hu- mors. Auch von der gewichtigen Persönlichkeit, die zu substantiell ist, um den Gehalt organisch in das Bild aufzuheben (Anm. 3 ) ist der Ueber- schuß der Begeisterung wohl zu unterscheiden. Der Ethisirende und der Pathetische können wohl, aber müssen nicht in Einer Person vereinigt sein. Der andere Pol, zu viel Besonnenheit, wird oft von philosophi- scher Richtung und Beschäftigung herrühren und dann allerdings mit dem Didaktischen zusammenfallen, doch muß man einen Charakter des Gemachten in der Anlage des Ganzen, wie z. B. in der Emilia Ga- lotti, zunächst nur der Reflexion überhaupt, die stärker ist, als die Be- geisterung, zuschreiben und als besondern Mangel hinstellen. Es würde zu weit führen, wenn wir auch hier die Combinationen, zunächst blos dieser Mängel und Störungen miteinander, verfolgen woll- ten. Interessant wäre es namentlich, zu sehen, wie nicht blos der ver- wandte Fehler mit dem verwandten, sondern auch scheinbar sich abstoßende: z. B. altkluge Moral und kalte Besonnenheit mit allen Verirrungen der Einbildungskraft (so Wieland und viele Romantiker, auch Eugen Sue) sich verbinden. Das Zusammentreffen dieser Uebel mit den normalen Arten der Phantasie ist im folg. §. zu erwähnen. §. 407. Die Phantasie des Individuums nun ist niemals auf eine der entwickel- ten Arten beschränkt, sondern stellt irgend eine der unendlichen möglichen Ver- bindungen derselben unter sich dar, so jedoch, daß eine Art das Bestimmende in der Verschlingung bildet. Aber auch die zuletzt unterschiedenen Mängel und Fehler verbinden sich in unendlichen Kreuzungen mit jenen Arten und jeder individuellen Phantasie liegt daher irgend einer derselben nahe. Nun also erst haben wir die Bedingungen der individuellen Phan- tasie beisammen, soweit sie nämlich im Allgemeinen bestimmt werden kön- nen, denn es fehlt noch eine ganze Welt von concreten Bedingungen. Doch versuche man immer mit diesem Schlüssel irgend eine bedeutende Künstlerphantasie zu öffnen und man wird finden, wie er sich bewährt. Was die Mängel und Fehler betrifft, so zeigt ein Blick, welche unab- sehliche Menge von Combinationen möglich ist; man bilde sich nur einige Linien: welche Einseitigkeiten werden sich vornämlich mit den Arten von §. 402, dann von §. 403, dann von §. 404, und welche ferner mit den verschiedenen Combinationen dieser Arten verbinden? Z. B. mit der dich- tenden Phantasie werden sich offenbar zwar auch alle andern, am leichte- sten aber die Verirrungen des Gehalts ohne Form, der bloßen Stim- mung, der überwiegenden Besonnenheit verbinden, und warum? Wir dürfen uns näher in dieses Geschlinge nicht einlassen, denn wir haben noch andere Aufgaben vor uns. β. Das Maaß der Phantasie. §. 408. Welche der normalen Arten auch den Mittelpunkt in der Verschlingung der individuellen Phantasie bilden mag, so ist dieselbe, da sie Geist in Natur- form, also angeboren ist, wesentlich als ein gegebenes Maaß bestimmt. Von der Ausdehnung über verschiedene Arten ist zunächst wieder abzusehen und ebendieß festzuhalten, daß in jeder Art verschiedenes Maaß der Phantasie sich hervorthun kann. Was dem engeren Maaße zum volleren fehlt, ist verschieden von den in §. 406 aufgeführten Mängeln und Fehlern, denn es ist jedesmal ein Mangel, womit die ganze Phantasie behaftet ist; doch stellen sich mit die- sem in mancherlei Weise auch jene ein. Daß die Phantasie als wesentlich unmittelbar und (beziehungsweise) unbewußt wirkendes Organ Naturgabe ist, braucht keiner weiteren Nach- weisung. Das Zufällige des Naturschönen setzt sich als Zufall angebo- rener Ausstattung in das subjectiv Schöne fort. Das Maaß ist die mittlere Kategorie zwischen Geist und Natur, unter welcher die Phantasie in den Individuen wirklich wird. Maaß ist Einheit der Qualität und Quantität. Nun sehen wir zwar zunächst von der Ausdehnung über die Arten wieder ab, um sie erst nach diesem wieder aufzunehmen; allein von dieser Ausdehnung ist zu unterscheiden die Fülle oder Spärlichkeit, welche sich ganz in Einer Art zeigen kann und als Quantum immer zu- gleich Quale ist, Intensität, Kraft, welche äußerlich so und nicht anders bestimmt ist, weil sie es innerlich ist. Ist nun das Maaß nicht voll, so wird es der Phantasie auf allen Punkten fehlen, sie wird also von allen Mängeln und Einseitigkeiten, die in §. 406 auftraten, etwas an sich haben, doch aber muß auf verschiedenen Stufen des Maaßes der eine jener Mängel und Fehler leichter eintreten als der andere, wie sich dieß sogleich zeigen wird. §. 409. Die Phantasie ist reine Formthätigkeit, in welche der volle Gehalt der Idee ununterscheidbar aufgeht. Die erste Stufe der spezifischen Begabung für dieses reine Formgebiet ist nun diejenige, worin die Formthätigkeit mit einer schnell zur Fertigkeit steigenden Leichtigkeit so geübt wird, daß der Gehalt im reinen Scheine der Form zwar nicht fehlt, aber nicht selbstthätig, sondern durch Anempfindung an fremde Selbstthätigkeit erzeugt wird. In diesem Sinne trennt sich der Gehalt von der Form und tritt eine isolirte Gabe für die Tech- nik der Phantasie auf. Diese isolirte Gabe der Technik der Phantasie ist das Talent . Es folgt nachahmend der vollen Phantasie in alle ihre Formen, ohne eine neue zu schuffen, bewegt sich an der Oberfläche, und die Mängel und Fehler, die ihm vorzüglich nahe liegen, sind die der Einbildungskraft. Die Bezeichnung Talent brauchen wir hier in dem Sinne, den sie hat, wenn man von Jemand sagt: er ist ein Talent. Hegel (Aest. Th. 1, S. 365) und Andere verstehen unter Talent die besondere Befähigung zur Ausübung eines Kunstzweigs; das Genie soll demnach einen Umfang von Talenten haben, aber ein bloßes Talent es nur in einer ganz ver- einzelten Seite der Kunst zu etwas Tüchtigem bringen können. Versteht man unter einer solchen vereinzelten Seite nur einen Theil der Technik eines einzelnen Kunstzweigs, z. B. in der Malerei nur die Zeichnung oder nur die Farbengebung oder nur eine Art derselben, wie Auftrag al fresco oder in Oel, so ist dieß gewiß falsch, denn Mancher ist nur ein Talent und doch sowohl in verschiedenen Arten des Farbenauftrags, als auch im Zeichnen durch natürliche Begabung gewandt. Es kann dagegen ein Genie auf einen, zwar verschiedene technische Bedingungen umfassen- den, aber doch vereinzelten Kunstzweig beschränkt und doch in ihm ganz Genie sein. So war Mich. Angelo in mancherlei Kunstzweigen thätig, wahrhaft groß aber nur in der Malerei und wieder nicht in mehreren Zweigen derselben, sondern nur in der Freske, im Grund also war er Genie wesentlich als großer Zeichner. Das Talent kann vielmehr gerade in der Technik mehrerer ganzer Zweige einer Kunst gewandt sein, nur ist es in keiner groß. Wilh. Schlegel bewegte sich mit Leichtigkeit in ver- schiedenen Formen der Dichtkunst und war doch nur Talent. Da nun Talent und Genie auf dem Boden der Technik nicht gemessen werden können, so müssen wir uns auf einen ganz anderen Boden begeben. Ohnedieß sind wir noch gar nicht an der Ausübung, der Ausführung des Ideals in einem Material, vielmehr noch im Gebiete des Ideals als innern Phantasiebildes; die äußere Technik hat eine lernbare und eine nicht lernbare Seite, das Talent leistet etwas nicht blos in der lernbaren (dann wäre es blos mechanisches Geschick), sondern auch in der nicht lernbaren, aber was es darin leistet, ist toto genere von der Leistung des Genies verschieden. Da muß also der Grund in der innern Conception liegen und von dieser, gleichgiltig zunächst, wie weit die Aus- dehnung über Kunstzweige (für uns vorläufig noch Arten der Phantasie) gehe, reden wir. Wenn wir das Talent einen bloßen Techniker der Phantasie nennen, so ist also ja nicht an die äußere Technik zu denken, sondern daran, daß die Verschiedenheit in dem, was die Technik in gei- stiger Gewalt der Formen leistet, ihren Grund in der Verschiedenheit der innern Formthätigkeit hat, daß in dieser selbst der ideale Gehalt, der in die Form aufgeht, relativ trennbar ist von der letzteren, und daß die so getrennte bloße Form es ist, die dem Talente zufällt. Dieß hat seine Schwierigkeit. Ausdrücklich haben wir ja dargethan, daß die Idee, d. h. die in das Subject eingegangene und durch dessen Idee-Gehalt in’s Un- endliche befreite und erfüllte Idee des Gegenstandes, ganz und rein in die Form aufgehe, daß also die Form gar nichts Anderes ist, als form- gewordener Gehalt. Wie kann es nun eine Beschränkung geben auf die Formthätigkeit ohne den Gehalt? Wir dürften, scheint es, nur antwor- ten: geringerer Gehalt und daher auch geringere Form unterscheide das bloße Talent, und damit die schon in anderem Zusammenhang erwähnte Aeußerung Schillers (Brief an Göthe N. 784) ergänzen: der Art nach sei jeder ein Poet, der seinen Empfindungszustand in ein Object legen könne, der Grad aber beruhe auf dem Reichthum, dem Gehalt, den er in sich habe und folglich hineinlege; dieser Grad nun, würden wir hin- zusetzen, müßte eben auch ein geringerer Grad der Form sein. Allein dieß ist nicht das Rechte; es findet bei dem Talente ein Bruch zwischen der Form und dem Gehalte statt, der so beschaffen ist, daß jene mehr an Gehalt verspricht, als sie leistet, ein täuschender Schein der Tiefe, eine Anziehung, die uns weiter und weiter führt, bis endlich zum Großen und Ganzen nur ein Härchen fehlt, und eben dieses Härchen ist das Große und Ganze selbst. Daher bleibt nur die Auskunft, die der §. gibt: das Talent ist angeborne Leichtigkeit der spezifischen Formthätigkeit der Phantasie; da nun diese vom schweren Gewichte des Gehalts nicht zu trennen ist, so muß sich dieß bei dem Talente so verhalten, daß es mit dem Scheine der Form freilich auch den Gehalt produzirt, aber nicht selbst und ursprünglich, sondern so, daß es sich in den Gehalt, der eigent- lich einem Andern gehört, hineinempfindet, sich ihm anempfindet, nicht dem Gehalte blos, sondern auch der Form, sofern sie groß ist durch Ge- halt. Dabei ist freilich vorausgesetzt, daß Formen, welche durch ihre Großheit Größe des Gehalts aussprechen, vom Genie schon in wirklicher, äußerer Kunst-Darstellung gegeben seien. Das Talent ergreift diese, faßt den Prozeß der Phantasie von außen, macht sich von außen mit Gewandtheit in ihn hinein, fühlt auch den Gehalt nach, der darin liegt, aber weil er blos nachgefühlt ist, ist er nicht wahrhaft da, daher ist seine Form nicht erfüllter Schein, Erscheinung, sondern leerer, schließlich im Stich lassender Schein. Das Talent gibt nicht nur mittelmäßige Formen, nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen Gehalts fehlt, so fehlt ihnen selbst etwas, ein letzter Druck, das Tüpf- chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah- mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt im Auge, und so ist es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller nachahmten, Ernst Wagner, Beer, Schenk und Andern. In diesem Sinn ist das Talent der isolirte Techniker der Phantasie. J. Paul sagt von ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poesie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und ergreift gewaltig mit seinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerseele ist, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geist u. s. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen; dieses kann bequem und rund sein, es fehlt in allem Einzelnen und am meisten in den Hauptstellen (Hauptgruppen, schlagenden Katastrophen u. s. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen sollte. Es begreift sich nun, wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem Ueberschuß an Gehalt rühren, am wenigsten gerathen wird, doch kann ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich versiegen und die so entstehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt prosaisch und dürftig aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwischenein predigt, lehrt. So wird auch Ueberschwang des Gefühls, gewaltsame Trunkenheit oder fühlbare Absichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemisch im Gebiete des Talents herrschen, sind die der Einbildungskraft; denn da es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, so bewegt es sich in ihrer Synthese mit vorherrschender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit, schweifendem Taumel, stoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect ist ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich; es kann sich ja jeder, also auch der verkehrte Gehalt in seine leicht ge- arbeiteten Masken stecken, dieser wird sie aber auch zu Larven verdrehen. Daher behält es aber immer die gemeine Besonnenheit und bewahrt sich leicht vor einzelnen Nachlässigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen. Nun ist auch klar, warum Beschränkung auf einen vereinzelten Zweig am wenigsten das Talent charakterisirt; anempfindend wirft es sich leicht in die verschiedensten, legt aber in keinen eine neue Weltanschauung, schafft daher, nachahmend wie es ist, auch keine neue weltbezwingende Form. §. 410. Dringt in diese relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte Fülle der Phantasie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und tiefen Gehaltes sind, zunächst nur das eine oder andere Mal, oder nur da und dort ein, so entsteht das fragmentarische Genie , dem die Fehler des Ueberschusses an Gehalt näher liegen. Es pflegt sich nicht gesund zu entwickeln, sondern zerfällt leicht mit sich und der Welt. Mit der Unterscheidung von Talent und Genie reicht man nicht aus; man kann alle die Erscheinungen nicht unterbringen, welche stellen- weise im Mittelpunkte der Schönheit stehen und dann wieder seicht, ver- worren, breit, irivial, selbst häßlich werden. Wir nennen nur Walter Scott und Heine; beide haben Goldadern, aber daneben zerfließt jener in das Seichte, Breite, Triviale und desorganisirt dieser sein Werk in bewußte und gewollte Häßlichkeit. Nicht so verhält es sich bei diesen fragmentarischen Genie’s, daß zwischen eine Schönheit der Form, die nicht Wort hält, der baare Gehalt formlos durchbräche, sondern wahrhafte Schönheit, Einheit vollen Gehalts und urgewaltiger Form bricht stellen- weise durch und dann erlahmen die Schwingen wieder; aber weil in den seichten Stellen der selbsterzeugte Gehalt vermißt wird, so scheinen die Silberblicke, obwohl sie Einheit von Gehalt und Form haben, auf die Seite des bloßen Gehalts zu fallen und der Mann selbst, im Gefühle der Ge- theiltheit und Punctualität seiner Natur, wird, indem er die Quellen der ganzen Schönheit in vollere Strömung zu bringen sucht, wirklich absicht- lich und pumpt häufig statt voller Schönheit nackten Gehalt oder bloßen Drang des Gehalts herauf. Doch gewöhnlich wird das fragmentarische Genie da, wo es nicht Genie ist, mit der Leichtigkeit des Talents wir- ken, es gibt aber auch fragmentarische Genie’s, welche daneben nicht Ta- lente sind, denen daher die Leichtigkeit fehlt, da, wo sie nicht wahrhaft schön sind, bequem, gefällig, bestechend zu sein. Diese sehnen sich nach der guten Stunde, die selten kommt. Phantasie-Menschen überhaupt sind als Stimmungskinder reizbar, launisch; die aber, bei denen es beinahe und manchmal ganz zur Phantasie streckt und welche in den Zwischen- stunden das Talent nicht zur Verfügung haben, sind besonders launisch, reizbar, bitter, unglücklich. Sie können die wirkliche Welt nicht ertragen, weil der reine Fluß, der ihre Härte in Schönheit verklärt, nur stockend in ihnen sickert; die Ungleichheit zwischen ihren einzelnen Gebilden oder den einzelnen Theilen desselben Gebildes ist daher zugleich ein Zwiespalt ihres Innern mit der Welt. Sie fallen daher leicht in Wahnsinn, wie Lenz, Hölderlin. Oder sie affectiren die Eingebung, machen ihre Natur- seite, den Zufall und die höhere Trunkenheit, zum Lebensgesetz im ge- meinen Sinne, werden geniesüchtig, liederlich. Sie bleiben auf diese oder jene Weise in den Entwickelungskrisen der Persönlichkeit stecken, denn in ihnen wirkt nicht das Naturgesetz des vollen Geistes, der durch alle Hin- dernisse und Verirrungen sich des rechten Weges wohl bewußt ist. Sie werden immer von geringer Fruchtbarkeit sein. Beispiele sind Marlowe, Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, springende und unharmonische Form des fragmentarischen Genie’s ist es, die man ge- wöhnlich geistreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs, der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt. §. 411. Das reine und ungetheilte Wirken der Phantasie in einem Individuum ist Genie . Sein inneres Thun ist daher vor Allem ein geistiger Prozeß, der durch ursprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein- falt und stille Tiefe, die sich als Naivetät in der ganzen Persönlichkeit kund gibt, ebensosehr ein Naturprozeß ist und daher, obzwar vom ersten Sturm und Drang durch Kampf und Mühe, doch sicher zum Ziele, zur freien Nothwen- digkeit, die sich selbst das Gesetz gibt, zur Besonnenheit, die doch Eingebung bleibt, sich hindurcharbeitet. Eigentlich hätten wir mit dem ersten Satze des §. Alles gesagt, denn was die Phantasie ist, haben wir gesehen. Doch bildet sich der allge- meine Begriff zu bestimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Persön- lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig- keit hieß, heißt jetzt wesentlich zuvörderst ein Angebornes. Angeboren ist auch das Talent, das fragmentarische Genie; aber was diesen angeboren ist, ebendieß ist bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei diesem ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entsteht außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes Machen. Das Genie aber ist Vollblut. Interessant ist, daß es meist Erbe von der Mutter ist; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt, ist sein geheimnißvoller Schooß. Das Genie ist eine Urkraft, kündigt sich an wie eine Naturmacht. Es muß schaffen und Schönes schaffen, es kann nichts dafür, es verwundert sich selbst über seine Gebilde und ist daher naiv in allen seinen Aeußerungen. Geisterschauer umweht diese Naturen und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch sind sie, wie andere Leute auch, zutraulich, kindlich, reine Menschen; „still, einfach, groß und noth- wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim- mung kommt dem Genie nicht selten, sondern ist sein natürlicher Zustand, es sprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien, der griechischen, spanischen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro- ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens ist wunderbar. Der Drang steigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die Gebilde stehen da, als hätten sie sich selbst gemacht, als verständen sie sich von selbst: das Ei des Columbus; ihre Tiefe ist still und ruhig, ihre Gewalt so sanft und mäßig, als stark und übermenschlich. Wir haben aus dem Wesen der Phantasie ersehen, wie sich Nothwendigkeit und Freiheit, Bewußtlosigkeit und Besonnenheit in ihr verhält. Diese Einheit der Gegensätze hat aber selbst wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerst, auch durch äußere Lebenshindernisse, wie ein wilder Strom durch und seine ersten Gestaltungen sind stürmisch, leidenschaftlich, überschwellend, oft formlos, doch kündigt sich die Grazie schon an. Es folgt die Selbsterkenntniß, daß es so nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentarische, seine Ge- sundheit ist unzerstörbar und so heilt es sich durch eine glückliche Krise. Der erste Sturm der Production war zugleich noch mit persönlicher, stoff- artiger Leidenschaft verwachsen; auch aus dieser ringt sich das Genie heraus und sammelt Stoff aus ihr. Nun aber ist die Naturdichtung zu Ende, die freie Selbstbeschränkung und Besonnenheit, die Bildung durchdringt, was dunkle Natur war. Diese Bildung ist zugleich Fleiß, Mühe der Arbeit am äußeren Stoffe: diese Seite lassen wir noch liegen, sie ist ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher hatte das Genie alle heteronomische Gesetzgebung über den Haufen ge- worfen, ohne eine neue zu schaffen, jetzt gibt es sich selbst sein Gesetz erhebt sich zur reinen, freien Gesetzmäßigkeit. Diese dritte Stufe ist aber kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es ist durchleuchtete Na- tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloses Bewußtsein. Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Masche fallen, es ist nicht so correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro- ßen Massen umschlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte sehen. §. 412. 1 Das Genie ist originell. Originalität als ein Schaffen dessen, was nie dagewesen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, schließt eine nur dem genievollen Subjecte eigene Weltanschauung, ein schlechtweg neues Weltbild in sich. Allein dieß Weltbild ist, indem es das Allersubjectivste ist, vollkom- men objectiv, die Sache selbst; denn das Eigenste des Genie’s ist eben dieß, daß es ein objectiver Mensch ist. Genie ist im Centrum und das Centrum; weil es in sich die reine Menschheit findet, durchschaut es auch das Innerste der Menschheit außer ihm. Daher ist das absolut Neue, was es schafft, zu- 2 gleich das Uralte, was in jedem Zuschauer geschlummert. Dadurch reißt das Genie hin, bezwingt, wird „als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (Kant) exemplarisch und bildet Schulen. 1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine Verschlingung von Kräften, Arten der Phantasie ist, wie sie nur Einmal, nur in diesem Individuum vorkommt. Damit scheint allerdings die behauptete Objectivität seiner Schöpfung ein Widerspruch. Nun bietet aber der Stoff ebenfalls eine Erscheinung dar, in welcher die Bestandtheile nur einmal wie nie wieder verschlungen sind; dieses Ganze läßt die verschiedensten Auffassungen zu, aber von jeder Seite kann man in sein Innerstes dringen und die ächt originale Auffassung ergreift es von einer Seite, von der es nie gefaßt worden, und bemächtigt sich von da aus des reinen Wesens, der Sache selbst. Was also in der Individualität des Genies nur sich selbst gleich ist, dem entspricht im Object eine der faßbaren Seiten, die noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im Subject reiner und allgemeiner Menschengeist ist, das dringt eben durch diese Mitte zum reinen Wesen der Sache und gibt so in der bestimmten Idee die schlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten Phantasiebildes rufen wir aus: so ist es und nicht anders! Der Nagel ist auf den Kopf getroffen! Die Gestalten, die einzelnen Ausdrücke gehen typisch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil schlagender, packender, körniger eine Summe von Erscheinungen nicht zusammengefaßt werden kann. Die Erscheinungen sind nicht nur an sich in solchem Werke verewigt, sondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der Menschen. Der Genius sieht der Welt in’s Herz. „Wir erfahren bei Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie. Er gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden ist nichts verborgen; aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der That zu bewahren, so ist es der Sinn des Dichters, das Geheimniß zu verschwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der wohldenkende Beschränkte, der leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, Alle tragen ihr Herz in der Hand, — das Geheimniß muß heraus und sollten es die Steine verkündigen“ (Göthe, Shakespeare und kein Ende). 2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte trotz der Vorausnahme der Kunst hier eintreten; die hinreißende, Kunst- styl schaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung der Kunst beruht ja darauf, daß sie zuerst die Phantasie der Andern zwingt, ebenso zu schauen, wie das Genie. Das Wesentliche in dieser Definition, wodurch Kant so hoch über die Enge seines Dualismus hinausgeht, die Anerkennung der Einheit von Natur und Geist, brauchen wir nach allem Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, sondern nur die Wirkung, die von dieser Einheit ausgesagt ist. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivste bleibt das Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 26 Subjectivste. Mich. Angelo’s titanische Formen bestachen zu seinem Nach- theil selbst Raphael, der doch selbst Schulbildendes Genie war, und die eine Richtung der allgemeinen Ausartung der Malerei, das Gewaltsame, rührt von jenem. Aber neben dem Unnachahmlichen bleibt auch Nach- ahmliches; Bahn ist gebrochen, Formen sind verstanden, Grundgesetze und Grundverhältnisse sind entdeckt; das zeigt in der Geschichte der Malerei vorzüglich Masaccio und Leonardo da Vinci. Unsere Ordnung kehrt sich nun um, das Genie nimmt das Talent an die Leine und zieht es mit sich. Das Genie sagt: die Regel bin ich, es ist lebendige, Person gewor- dene Regel und wird daher Gesetzgeber. Dieß Alles findet jedoch aller- dings seine Bestimmtheit erst in der eigentlichen Ausübung, denn das Genie wirkt allerdings auch umwälzend auf die Technik. §. 413. Der volle Blich in die Tiefe ist ein ebenso voller in die Weite, zunächst über die Stoffe, in welchen sich die den Mittelpunkt in den Kräften des Genies bildende bestimmte Art der Phantasie ausbreitet. Das Genie erzeugt sich aus wenigen Mitteln der Anschauung ein Weltbild, es erweitert sich zur Na- tur und Menschheit, als hätte es ihre verschiedenen Formen selbst durchlebt. Seine gereiften Phantasie-Gebilde fassen einen Ausschnitt des Weltganzen und in ihm dieses selbst in einen Ring, woraus kein Glied genommen werden kann. Die Intuition, welche Göthe in sich entdeckte und wovon früher schon die Rede war. Das Genie kennt die Welt ohne Weltkenntniß, nimmt wie ein Proteus alle Formen an, scheint aufzuhören, ein Individuum zu sein, und sich in die Gattung jedes Lebendigen und der Menschheit zu verwandeln. So kennt Shakespeare alle Stände, Lebensalter, die Geschlechter, Charaktere, Sitten, Verhältnisse, Geist der Zeiten und Völker, und selbst die Natur scheint ihm ihre Geheimnisse zuzuflüstern. So schrieb Göthe z. B. das herrliche Ge- dicht: der Wanderer, ehe er Italien gesehen. Daß diese Intuition, deren divinatorischer Blick sich nachher durch die Erfahrung bewährt, ohne alle Erfahrung oder Anschauung nicht entstehen könnte, ist schon früher bemerkt; auch das Genie, wenn es in Einsamkeit verschlossen lebte, könnte sich die wahre Gestalt der Dinge nicht imaginiren; aber es genügt ihm der kleine Finger, um die ganze Hand zu nehmen, wie Cüvier aus einem Gelenke oder Zahn das ganze Thier erkannte. Natürlich ist dieß Weltbild kein Ersatz für die gemeine Erfahrung als Schule des praktischen Lebens, denn es schaut ja die Dinge in’s Schöne, ist eine Weltkenntniß nur im innern Schein und leicht erkennt der Dichter im discursiven Umgang mit den Din- gen das ästhetisch wohl Erkannte nicht wieder. Er stellt mit Feuerblick, der Herzen und Nieren prüft, den Bösewicht dar, und wenn er ihm in der Wirklichkeit begegnet, wird er leichter, als ein Anderer, von ihm be- trogen werden. Das kleine Stück Erfahrung, das dem Genie gibt, was dem Andern die weiteste Erfahrung, weil sie doch kein Ganzes bringt, nicht gibt, ist auch nicht zu verwechseln mit dem besondern Naturschönen, das wir je im Falle des Schaffens als ein Sollicitirendes voraussetzen (§. 393). Göthe z. B. hatte aus wenigen Mitteln sich ein Bild italienischer Na- tur gemacht, ehe er sie gesehen; ein Zufall, eine Beschreibung, Erzählung. Zeichnung gibt ihm den Stoff zu dem Gedichte: der Wanderer, und jenes schon vorbereitete Bild lebt auf, gestaltet sich zu einem Ganzen, Das bloße Talent dagegen liest bei gegebenen Anregungen zum Schaffen aus einer großen Menge wirklicher Beobachtungen Züge zusammen, die sich mit dem dargebotenen Hauptbilde nicht zu einem Ganzen durchdringen. Das Werk des Genies dagegen hat diese Nothwendigkeit und ist untheil- bar. Nur diese Glieder und nur so können die Glieder verbunden sein. Dieß ist besonders in der Schauspielkunst überzeugend nachzuweisen an dem Unterschiede des Mosaiks, das ein reflectirendes Talent, und des ganzen und vollen Wurfs, den der geniale Schauspieler gibt. γ Die Verbindung der Arten und des Maaßes der Phantasie. §. 414. Das Genie ist, weil es in Einem Punkte die höchste Kraft sammelt, mehr, als das Talent und das fragmentarische Genie, auf eine der in §. 404 aufgestellten Arten der Phantasie, ja nach Beschaffenheit auf die Unterart einer Art beschränkt. In verschiedenen Graden des Uebertritts wendet es sich auch zu anderen Arten oder schärfer getrennten Unterarten, wirkt aber in diesen nur als Talent. Dagegen bestimmt es sich selbst wieder zu einem Unterschied von Stufen, worin je die tiefere Gewalt zugleich eine größere Ausdehnung auf die in §. 402 und 403 aufgestellten Arten ist, so daß nun die Schlußsätze dieser §§. ihre, durch die Schranke, welche im Anfangssatz des gegenwärtigen §. auf- gestellt ist, näher bestimmte, concretere Anwendung finden. 1. Das Talent absorbirt sich nicht, kann daher sehr vielseitig sein, ein Tausendkünstler in bildender Kunst, Musik und Poesie. Das frag- mentarische Genie wird zwar seine Kernschüsse nur in Einer dieser Formen der Phantasie thun, wenn es aber übrigens Talent ist, kann es sich wie 26* dieses nebenher in verschiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber ist concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, sondern die Bestimmt- heit des Instincts, der so sicher wie im Thiere nur der Einen rechten Nahrung nachgeht, und wir müssen es nun, um seine Beschränkung ein- zusehen, mit dieser Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409 nur erst bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir nun mit den in §. 404 aufgestellten Formen beginnen müssen, zuerst drei Arten: bildende, empfindende, dichtende Phantasie. Diese haben Unter- arten, die erste aber so scharfe, daß sie sich in drei selbstständige Sphären: messende, sehend tastende, eigentlich sehende Phantasie (Architektur, Plastik, Malerei) theilt. Keineswegs ebenso selbstständig stellen sich die Unterarten der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen zu §. 404). Die Unterarten haben aber selbst wieder Unterarten, welche theils durch einen weitern Unterschied in der Organisation der Phantasie überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. s. w., theils durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben sind, also bereits auf das Feld führen, auf das der zweite Theil unseres §. übergeht; so theilt sich die Malerei als Unterart der bildenden Kunst in Landschaft, Genre, Historie u. s. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur in Einer Art groß sein: Leonardo da Vinci war Musiker und Dichter, Michel Angelo machte Verse, Göthe malte, wie er denn auch in der Poesie vorzüglich auf das Auge, also das Epos organisirt war, aber in die- sen andern Künsten waren diese Genies nur Dilettanten, höchstens Talente. Sehen wir nun die ersten Unterarten an, so wird da die Vereinigung mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, „nach Beschaffenheit“ der Art, also nach dem Grade der Selbstständigkeit dieser ihrer Hauptzweige. Viel leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß sein (doch schwerlich wohl im ersten und dritten, eher im ersten und zweiten oder zweiten und dritten), oder ein Musiker in den verschiedenen Zweigen der Musik, als ein bildendes Genie in der Baukunst, Plastik, Malerei zumal, denn diese Unterarten sind so selbständig, daß jede einen ganzen Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, sondern Nützliches, modellirte, doch nur Ein Werk dieser Art von ihm wurde gerühmt, Ra- phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Plastik be- bandelte er zu malerisch und obwohl er dagegen in der Malerei plastisch genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als Kupferstecher und Holzschneider genial, doch dieß sind ganz nahe angren- zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter Linie. Wird z. B. derselbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern, bewegten tragischen Gruppen, wird derselbe Maler in Landschaft, Genre, Historie gleich sehr Genie sein? Derselbe Dichter in der Tragödie und Komödie und wieder in der hohen Tragödie und im bürgerlichen Drama, der hohen Komödie und dem sozialen Lustspiel? Diese Frage zieht sich wie gesagt in die zweite, im §. aufgeführte Materie hinein. 2. Es sind im Genie selbst wieder Stufen zu unterscheiden und von die- sen gelten dann die Schlußsätze von §. 402 und 403: je reicher eine Phan- tasie sei, desto mehr der Arten werde sie umfassen. Allein diesem Umfang ist nun durch die nothwendige Beschränkung des Genies seine Schranke gegeben und erhalten nun alle zu jenen §§. gegebenen Bemerkungen nähere Bestimmung. Ueber die Arten nämlich, welche durch jene zwei ersten Eintheilungsprinzipien gegeben sind, kann sich das Genie nur soweit ausdehnen, als diejenige Sphäre, auf die es durch das Eintheilungsprinzip §. 404 beschränkt ist, sich auf dieselben ausbreitet, und auch dieß wieder nur in der besondern Begrenzung der aus diesem Prinzip abgeleiteten Un- terart. So kann also ein bildendes Genie nur entweder ein bauendes, plastisches oder malendes sein. Der Baukünstler nun mag wohl das Anmuthige in Tempel und Pallast mit dem Großen und Erhabenen in Burg und Tempel gleichmäßig umfassen. Ein plastisches Genie hat mit dem Komischen wenig zu thun; ob es zugleich in mächtigen Götterbildern, im Genre, in epischen Scenen, in tragisch rührenden Auftritten groß sein werde, ist nicht leicht zu beantworten; gewiß eher wird es das erste und dritte, etwa dazu das vierte Feld umspannen, als das erste und zweite, und, theilen wir das letztere noch einmal in naives und ernstes, immer noch eher das große Götterbild und das ernste, als das naive Genre. Ein Maler wird etwa Landschaft und Historie umfassen, ebenfalls aber schwerlich das Genre dazu, und wieder von diesem eher das ernste, als das komische, außer sofern dieses bedeutende geschichtliche Beziehungen hat. Der Genremaler wird eher zugleich Landschaftmaler, als Historienmaler sein, doch auch jenes schwerlich, wenn er das ergreifendere, reflectirtere soziale Genre, leichter, wenn er das idyllische anbaut. Ein Musiker wird schwerlich in Kirchenmusik, liederartiger Melodie und Oper zugleich groß sein, eher in den beiden letztern und ihren verschiedenen Stimmungen, der ernsten und heitern. Vom Dichter ist schon zu 1 angedeutet, daß er nicht leicht in Epos, Lyrik, Drama gleich genial sein kann, wohl aber in Epos und Lyrik oder in Lyrik und Drama. Nun sondern sich auch hier die einzelnen Zweige wieder nach der Eintheilung von §. 402 und 403, und was diese weitere Ausdehnung betrifft, so vergleiche man die bisheri- gen Bemerkungen. §. 415. Es entstehen noch drei Fragen: gibt es Genie auch in der Sphäre des Guten und Wahren? Kann das ästhetische Genie zugleich auch in diesen Ge- bieten als Genie wirken? Kann das praktische und wissenschaftliche Genie, 1 wenn es ein solches gibt, zugleich ästhetisches sein? Die erste ist mit Ein- schränkung auf den ersten, der Handlung und dem Beweise vorangehenden Wurf des Geistes, also auf eine blos vorbereitende Berechtigung des Instincts der 2 Phantasie zu bejahen, die zweite mit Ausnahme der dem Schönen verwandtesten 3 Gebiete im Object und der Vorstufen des Genie’s im Subject (des Talents und fragmentarischen Genies), die dritte ganz zu verneinen. 1. Die Religion wird hier nicht aufgeführt, denn was sie vom Sitt- lichen und vom Denken des Wahren unterscheidet, ist eine unselbständige Beimischung der Phantasie, welche verlangt, daß sie, aber nicht hier, sondern an ganz anderem Orte, wie sich nun mit Nächstem zeigen wird, in die Lehre von der Phantasie aufgenommen werde. — Es scheint nun, wir dürfen, was zuerst das Gute betrifft, nur auf §. 56—60 hinweisen, um das Ergebniß zu haben, daß die Thätigkeit, die dieses (das Nützliche §. 23 gehört dazu) erzeugt, ganz außer das Genie falle. Was schon Kant gesagt, daß das Genie, da es als Natur die Regel gebe, nicht dürfe beschreiben und wissenschaftlich anzeigen können, wie es sein Pro- duct zu Stande bringe, können wir einfach in den Begriff des Beweises fassen und so auch auf das Gute und alle Sphären des zweckmäßigen Thuns anwenden. Die Handlung nämlich muß sich beweisen können. Sie ist zwar ein ganz in Realität übertretender Gedanke, ein Thatsäch- liches, aber ihr Werth oder Unwerth besteht nur für den, der den Zweck und das Verhältniß der Mittel zu ihm begreift und die Folgen übersieht, und eben davon soll der Handelnde selbst Rechenschaft geben; sie umschließt eine Kette scheinloser Vermittlungen von Ueberlegung, Ausführung, beab- sichtigten und unbeabsichtigten, aber auch so als Möglichkeit in die Ueberle- gung aufzunehmenden Wirkungen: scheinloser, denn hier ist nicht das Vollkom- mene im reinen Bilde vorauszunehmen, sondern die Welt, wie sie ist, als un- vollkommene in Rechnung zu nehmen. Die Phantasie scheint also vom Guten ausgeschlossen, nach ihr Handeln Narrheit. — Noch gewisser scheint die Wissen- schaft sich vor der Phantasie zu sträuben, denn mag sie gegebenen Stoff in Be- griffe auflösen oder voraussetzungslos als Philosophie sich im reinen Begriff bewegen, sie hebt überall das Einzelne in das Allgemeine auf, um es aus ihm wieder zu begreifen. Sie hat jeden Schritt durch den Beweis zu ver- mitteln und ist je bildloser, desto vollkommener. Und dennoch muß der große Praktiker, der Erfinder, der Judustrielle, der Staatsmann, der Feldherr, der Erzieher geboren sein und nicht minder der in’s Große wirkende wissenschaftliche Geist. Ist er geboren, so muß in seinem Thun etwas Unmittelbares sein; da aber dieses Thun in der Ausführung sich Schritt für Schritt vermitteln muß, so kann es nur der Entwurf sein, worin das Un- mittelbare gilt. Hier muß ein Moment sein, wo der Geist in Einem untheilba- ren Blicke den Stoff zusammengreift und die Reihe der Thätigkeiten, die die- ser Stoff fordert, in einem Zukunftbilde vor ihm aufblitzt. Im praktischen Gebiete ist dieß anerkannt; Napoleon und seine Schlachtplane, selbst seine politischen Entwürfe sind das beste Beispiel; er soll sogar einen wunderbaren Instinct für eine divinatorische Anschauung unbekannten Terrains gehabt ha- ben. Hamlet hat das Genie der Handlung nicht, ihm entgeht Alles, was Mo- ment heißt, daher geht er zu Grunde. In der Wissenschaft muß das Genie als totaler Zweifel am Gegebenen als Solchem, dann als fliegender Blick, der die neue Schöpfung des Gedankens vor der Ausführung in schwebenden Umrissen vorausgreift, dem Beweise vorangehen, die Reihe der Gründe als Ge- dankenbild wie aus der Ferne herdämmern; wem diese Phantasie des denkenden Geistes abgeht, der ist und bleibt zum Famulus Wagner be- stimmt. So auf den Instinct als vorbereitende Macht gestellt sind alle großen Praktiker und Denker von jeher naiv gewesen und von jeher hat ein Geist, der über den Beweis hinausgeht, ein Unergründliches, eine Zukunft zwischen den Linien ihrer Werke gezittert. Aber allerdings nur vorbereitend, vorausgehend wirkt hier der Instinct; sobald er seinen Wurf gethan, sobald es an die Ausführung geht, löst sich das Bild der voraus- fliegenden Ahnung auf, zerlegt sich in die Reihe der Vermittlungen, wo scheinlos jeder Schritt bewiesen werden muß. Der Instinkt wirkt zwar als geheimer Faden der Ariadne fort, aber so, daß er jeden Moment sich wieder aufhebt und, was in seinem Dunkel schlummerte, an das Licht tritt. Dabei bleibt der wesentliche Unterschied vom ästhetischen Genie der, daß dieses die Aufgabe hat, bei dem Instincte vielmehr zu bleiben und, wie es immer zur Besonnenheit fortgeht, diese doch nie in die zerlegende aufzulösen, und daß daher das erst nur dämmernde Bild immer Bild bleibt und sich als solches nur immer heller gestaltet, während in jenen Sphären das zuerst nur dämmernde Bild ganz aufzugeben ist und dem auseinandersetzenden Thun und Denken Platz macht. Plato und Schelling zeigen zu viel eigentlich ästhetisches Genie, lösen das erste Bild halb auf und bleiben halb dabei, lassen es im Glanze der Phantasie und ebenda- her als störenden Körper zwischen den Beweis schimmern. 2. Sophokles war kein besonderer Feldherr, schlechte Haushälter und mit wenig Sinn der Zweckmäßigkeit begabt sind fast alle ästhetischen Ge- nies, Rubens war Diplomat, aber gewiß darin nicht Genie, wie in der Malerei, sondern nur etwa Talent. Dabei kommt es immer darauf an, ob das Gebiet dem der Kunst näher oder ferner liege; Leonardo war sehr bedeutend in der Wasser- und Festungs-Baukunst, in der Mechanik, da ist Alles noch greiflich, und doch war er auch hierin nicht Genie, wie in der Malerei, sondern ebenfalls nur Talent. Göthe verlor viel Zeit mit Staatsgeschäften, die ein Anderer ohne sein Genie mindestens ebenso- gut verwaltet hätte. Wie das praktische Leben hat auch die Wissenschaft ihre Sphären, die der Kunst nahe liegen; Göthe war in der Naturwis- senschaft Talent, etwa fragmentarisches Genie, sofern er einzelne Epochen- machende Blicke that. Noch näher liegt natürlich die Theorie der künst- lerischen Technik, und da sind anatomische Studien, Forschungen über Pro- spective, Proportionen u. s. w. wohl ein Feld für den Phantasiebegabten, doch hat auch dieß seine Grenze und die Ausdehnung dieser Studien hat gewiß einen Leonardo und M. Angelo in der Fruchtbarkeit und Raschheit der Production gestört. Ganz seitab liegt, wie wir schon sahen, Philosophie, Göthe war wie der Fisch am Land, wenn er speculiren sollte. Diese Beispiele brauchen keine Erläuterung und Begründung. 3. Was nun umgekehrt das Verhältniß des praktischen und wissen- schaftlichen Genies zum ästhetischen betrifft, so hat die Unruhe des Sollens und der scheinlosen Thätigkeit, die streng zerlegende Wissen- schaft sicherlich keinen Beruf zur Erzeugung des Schönen; sie steht zu ihm im Verhältniß der allgemeinen, blos aufnehmenden Phantasie. Doch wird das praktische Genie und in der Wissenschaft das empirische, historische immer noch eher eine ästhetisch productive Stunde haben, als das philo- sophische. Antonio freilich macht ebenso geringe Verse, als Tasso schlechter Oekonom, Diätetiker, Hofmann, Diplomat ist; Napoleon that gute Blicke in die Poesie und Göthe rühmt von ihm einen genialen Fund eines Plan- fehlers in Werthers Leiden: da zeigt sich der Taktiker; die Hohenstaufen waren zum Theil glücklich im Minnelied. Plato, Schelling waren in dem Grad nicht spezifisch vollendete Philosophen, als sie einige glückliche Ge- dichte produzirten. Von Schillers Kampfe sprachen wir oben. Hegel und Jedem, der in strenge Philosophie übergeht, versiegt die mäßige poetische Ader, die etwa in der Jugend geflossen. B. Die Geschichte der Phantasie oder des Ideals. §. 416. Die besondere Phantasie erhebt sich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384), und es fragt sich nun, wie weit diese der besondern Phantasie auch in ihr drittes Moment (§. 394—399) folge. Ist sie fähig, das Naturschöne zu finden, nimmt sie am ersten und zweiten Momente der besondern Phantasie (§. 385 ff. 387 ff.) Theil, so kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verschlossen sein. Sie erzeugt also allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit, aber diese bleibt ein massenhafter Instinct, der das durch Uebergang von Mund zu Mund angewachsene Gesammtproduct nicht als freies Erzeugniß von seinem Gegenstande unterscheidet, sondern stoffartig mit ihm verwechselt. Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgesehen, ob und wie weit die allgemeine Phantasie mitgehe. Vom Traume, der damals zunächst aufgeführt wurde, verstand es sich von selbst. Aber in das dritte und reinste Moment der besonderen Phantasie, das schien sich ebenfalls von selbst zu verstehen, konnte sie ihr nicht folgen. Dennoch ist nun, am Schlusse der Lehre von der Phantasie des Einzelnen, auf dem Uebergang zur Geschichte der Phantasie diese Frage aufzunehmen und es erhellt so- gar von selbst, daß, wo überhaupt Phantasie ist, unmöglich eines der Momente ihr ganz verschlossen sein könne, daß also irgendwie auch der Phantasie der Massen eine reine schöpferische Thätigkeit zukommen müsse, aber freilich nur mit gewissen einschränkenden Bedingungen. Vor Allem nämlich kann hier die schöpferische Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel- nen, sondern nur ein dunklerer Gesammt-Act der unbestimmt Vielen sein, deren Phantasie eben die allgemeine ist. Sie erzeugen gemeinschaftlich. Das Angeschaute ist in ihre Einbildungskraft eingegangen; nun soll das Chaos ihrer Bilder gestaltet werden, da bringt der Eine den, der Andere jenen Zug bei, ein Dritter läßt jenen weg, und der Instinkt, der in diesem Zusammentragen thätig ist, baut mit jener Sicherheit, mit welcher Thiere ihre geselligen Thätigkeiten ausüben, ein organisches Ganzes. Die Bei- träge sind nicht willkührlich, denn die Beitragenden schwimmen reflexions- los in der Masse mit. Es wird an Auswüchsen und Lücken des Lawinen- artigen Phantasiegebildes nicht fehlen, aber der Zusammenhang, der im Ganzen waltet, wird wie organische Heilkraft selbst diese wieder für den Ausbau des Gebildes verwenden. Nun verwechselt aber die allgemeine Phantasie immer das, was sie in den Gegenstand hineingeschaut, mit diesem (§. 379 ff.); davon kann sie auch jetzt, trotz dem Rücktritt vom Gegenstand und seiner Anschauung und dem Fortschritt zum selbstthätigen innerlichen Gestalten, sich nicht befreien. Sie glaubt also an ihr eigenes Geschöpf, sie hält das Erdichtete für einen neuen, wirklich existirenden Gegenstand, für Geschichte. In dieser Blindheit ist sie ebendarum festge- halten, weil sie nicht selbstbewußter Act eines Einzelnen, sondern Werk des dunkeln geistigen Bautriebs Vieler ist. Sie ist ebendarum durch ihr eigenes Gebilde stoffartig bestimmt, fürchtet es, liebt es, bittet es u. s. w. §. 417. Der unfreie Schein, den sie sich so erzeugt, ist kein anderer, als der der Religion (vergl. §. 24—27. §. 61—67). Der wahre Gehalt der Religion ist die absolute Idee, wie sie in denselben Reichen der Wirklichkeit, welche den Umfang der Stoffwelt des Naturschönen bilden, als gegenwärtig angeschaut wird. Die allgemeine Phantasie aber schafft aus dieser Stoffwelt ein der je- weiligen Bildungsstufe des Bewußtseins entsprechendes Bild, welches vermöge des unfreien Scheines zu den Gegenständen geschlagen wird und für einen neuen, zweiten Umkreis von vorgefundener Schönheit gilt (vergl. §. 24 und 25). Hie- bei zeigt sich, daß die allgemeine Phantasie als schöpferische sich aus der bloßen Einbildungskraft nicht rein herausarbeitet; fortgerissen von ihrem eigenen Werke, das ebendaher trotz seiner absoluten Bedeutung mit den Mängeln des Natur- schönen behaftet und nicht wahrhaft schön ist, wird sie stoffartig von ihm be- stimmt, und dieses Werk wartet daher auf die besondere Phantasie, um erst von ihr zur reinen Schönheit erhoben und wie das ursprünglich Naturschöne Stoff einer freien Thätigkeit für sie zu werden. In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerst füglich die ganze Sagenwelt eines Volkes, Heldensage, Mährchen und was verwandt ist, zusammenfassen. Den Unterschied von Mythus und Sage werden wir im Folgenden einführen. Man sehe nun auf die §§. des ersten Theils, welche von der Religion handeln, zurück; es bedarf keiner neuen Aus- einandersetzung, sondern nur der Fortführung des dort Entwickelten, hier wieder Aufgefaßten. Diese Fortführung liegt also darin, daß die neue Welt von vermeinten Gegenständen, die doch nichts Anderes ist, als eine Weise, das Ganze der wirklichen Gegenstände sich vorzustellen, ein Werk der allgemeinen Phantasie, für eine andere Phantasie, für die wahrhaft ästhetische der besonders Begabten, wiederum Stoff wird. Stoff aber zu werden ist sie bestimmt, weil sie allerdings, obwohl subjectives Pro- duct, die Mängel der Naturschönheit hat. Wir sagten zwar zu §. 416, daß die Volksphantasie ein organisches Ganzes baue, dessen Mängel ihr bildender Instinct überheile, zu Motiven benütze. Verfährt sie aber dabei eben wie eine blinde Naturkraft, so kann es ohne eine Menge von störenden Zufälligkeiten auch dabei nicht abgehen; es entsteht wohl ein Ganzes, über dem aber ein Nebel, ein Schleier von Bewußtlosigkeit, „Dummklarheit“ liegt, unter welchem nur die großen Züge leserlich, die kleinen halbleserlich sind, ein Ganzes, worin die Phantasie noch nicht völlig aus der chaotischen Einbildungskraft herausgearbeitet erscheint, das daher auf seinen eigenen Urheber, wie wir zum vorh. §. sahen, stoffartig wirkt. So entsteht der Bilderkreis der Religion: er ist da, er scheint vorgefunden, das Bewußtsein hält ihn für gegeben, geoffenbart; und so findet die wahrhaft schöne Phantasie ihn vor und greift hinein, um sich Stoffe daraus zu nehmen, wie aus der Welt der eigentlichen Natur- schönheit. §. 418. Diese von der allgemeinen Phantasie gebildete neue Welt von Stoffen legt sich also zwischen die ursprüngliche Stoffwelt und zwischen die besondere Phantasie. Dieß ist Vorschub und Zuwachs, aber ebensosehr Verlust und Hin- derniß, denn die zweite, neue Stoffwelt tritt als dichter Schleier vor die ursprüng- liche, von der sie ein Auszug ist. Die ursprüngliche Stoffwelt wird zwar dadurch, obwohl verengt, doch nicht völlig verhüllt; es entstehen zwei Kreise, ein religiöser und ein weltlicher oder natürlicher. Aber weil die Zweiheit der Kreise an sich ein Widerspruch ist (vergl. §. 62), so wird dem weltlichen Ge- walt angethan, er wird von der in die höhere Thätigkeit der Phantasie sich fortsetzenden Einbildungskraft durchlöchert und verschoben. Auch die besondere Phantasie wird sich, da das schöpferische Individuum selbst im Boden der all- gemeinen wurzelt, eines Theils ihrer Freiheit begeben, sie hängt selbst an der Verwechslung und nur unter der Hand hebt sie dieß Verhältniß in ihrer reinen Formthätigkeit auf (vergl. §. 63). In diesen Sätzen mußte das schon in §. 62. 63 Gesagte ausdrück- lich wieder aufgefaßt werden. Es bedarf keiner neuen Auseinandersetzung, ist vielmehr durch die ganze bisherige Lehre von der Phantasie bereits entwickelt und begründet, insbesondere dadurch, daß sich nun gezeigt hat, wie die Phantasie der Völker von der chaotisch unfreien Einbildungskraft auch in ihrem höheren Bilden sich nicht befreien kann. Daraus entsteht die traumartig gaukelnde Verrückung der Naturformen der ursprünglichen Stoffwelt, deren anderweitiger negativer Grund die Unwissenheit über die Naturgesetze und der unzerreißbaren Kette ihrer Wirkungen ist. Es wird sich zeigen, wie die Phantasie der Völker, so oft sie von dem Kreise der überirdischen Gestalten, die sie bildet, auf die wirkliche Naturwelt zurück- blickt, jene in diese so einmischt, daß ihr Nexus aufgehoben wird; es wird sich zeigen, wie vor diese eine prachtvolle Mauer geschoben wird, vor der man sie theils nicht sieht, theils wie durch Fenster mit Scheiben aus buntem Glase. In dieser Weltanschauung seines Volkes wurzelt auch der Genius, er überwindet sie, aber unvermerkt; er zieht unendli- chen Vortheil, aber ebensoviel Nachtheil aus ihr. Einer weiteren Aus- führung dieses Verhältnisses enthalten wir uns um so mehr, da das Folgende von selbst mit sich bringt, daß in der Darstellung der zwei ersten Epochen die Vortheile, der dritten die Nachtheile des Dazutritts jener zweiten Stoffwelt in’s Licht gesetzt werden. §. 419. Es ist vorausgesetzt, daß das Werk der besondern Phantasie sich an die allgemeine Phantasie mittheilt, und diese kann zwar reine Schönheit nicht erzeu- gen, aber, und dieß ist ein weiterer wesentlicher Schritt, worin sie der eigent- lichen Phantasie folgt, empfinden und genießen. Dieser Genuß ist nicht rein äflhetisch, aber er wirkt befreiend (vergl. §. 66). Arbeitet nun das Denken (§. 67) gleichzeitig mit, so wird die allgemeine Phantasie aufhören, jenen un- freien Schein zu erzeugen, und soweit sie noch fortfährt, die besondere ihn nicht mehr als zweite Stoffwelt anerkennen; dann fällt die Schranke zwischen dieser und ihren ursprünglichen Stoffen und der allgemeinen Phantasie bleibt vom drit- ten Momente der besondern nur noch der Genuß ihres mitgetheilten Erzeug- nisses. Das äußere Hinstellen des innern Ideals im Kunstwerke dürfen und müssen wir hier voraussetzen. Die Masse der Anschauenden nun kann ein reines Ideal nicht erzeugen, aber, wo es gegeben ist, genießen; dieß ist eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantasie aussagen, denn bisher wußten wir nur, daß sie das Naturschöne findet und genießt. Kann sie das Letztere, kann sie sogar in der Weise der Gesammt-Erfindung, die wir vorläufig schlechtweg Sagenbildung nennen wollen, Schönheit selbst schaffen, so muß sie nothwenig auch für den Genuß des Ideals empfänglich sein. Nun bleibt sie freilich auch hier stoffartig, sie verwechselt es mit dem Gotte selbst, es ist ihr Vehikel der Andacht (§. 64. 65); aber je schöner es ist, desto zerstreuter wird als solche die Andacht und geht in die Sammlung des rein ästhetischen Ge- nusses über, desto mehr befreit es auch das Volk vom unfreien Scheine. So war die Kunstblüthe Italiens im sechzehnten Jahrhundert eine Art von Surrogat für die Reformation. Gleichzeitig wurde diese durch das freie Denken in Deutschland erzeugt. Die Reformation zeigt nun auch, wie allerdings das Volk selbst nach einer Umwälzung, welche den un- freien Schein in der Wurzel erschüttert, fortfährt, diesen zwar nicht pro- ductiv zu erweitern, aber doch seine Trümmer festzuhalten; aber die ächte, die rein ästhetische Phantasie kann nun nicht mehr davon getäuscht wer- den, die Welt selbst liegt ihr aufgeschlagen, der verhüllende Körper der zweiten Stoffwelt ist ihr nicht mehr im Lichte. Hält dennoch auch sie noch an jenem Auszuge der Welt, den die allgemeine Phantasie als Religion geschaffen hat, so entstehen Aftergebilde, die wir kennen lernen werden. Die Volksphantasie hört allerdings niemals ganz auf, in ihrer Weise zu produziren; erzeugt sie keine Göttersagen, keine Heldensagen mehr, so erhöht sie doch dieß und jenes Geschehene in der Erinnerung, zieht seine Züge in ein energisches Bild zusammen und überliefert so der besondern Phantasie allerhand Stoffe; doch dieß will wenig heißen, der Genius hält sich vielmehr jetzt im Großen an die reine Geschichte und die Natur selbst, nur in engerem Gebiete können ihm Stoffe des Privatlebens, welche überhaupt nicht die Geschichte, sondern die Ueberlieferung einer Stadt, Provinz so oder so durch Phantasie schon zubereitet überliefert, in sagenhafter Gestalt noch dienlich sein. Was aber die Volksphantasie in der Weise des die Natur- und Geschichtsgesetze durchlöchernden Dichtens im Großen noch festhält, kann ihm Stoff werden nur in dem Sinne, daß er das psychologische Schauspiel des Glaubens, nicht das Geglaubte zum Gegenstande nimmt. Im Ganzen aber bleibt es dabei, daß die all- gemeine Phantasie nicht mehr Stoff bildet, sondern jetzt nur noch das Zu- sehen hat. §. 420. Hieraus erhellt, daß die Geschichte der Phantasie mit der Geschichte der Religion Hand in Hand geht, daß aber der Bund kein dauernder ist (vergl. §. 27, 3. ). Dadurch theilt sie sich sogleich in zwei große Abschnitte, die Epoche der religiös bestimmten und der weltlich freien Phantasie. Man könnte gegen das, was der vorh. §. aufstellt, sagen, die Be- freiung der Phantasie zur reinen Anschauung und Umbildung der ursprüng- lichen Stoffwelt sei nicht eine Lösung von der Religion, sondern eine Förderung durch die wahre Religion; schon die Reformation, die doch eine Verjüngung der Religion gewesen sei, habe der Phantasie ihre eigentlichen Stoffe ohne Rückhalt freigegeben. So sagt Göthe von Shakes- peare, er habe den Vortheil genossen, in einem protestantischen Lande wirken zu dürfen, wo der bigotte Wahn eine Zeit lang schwieg, so daß „einem wahren Naturfrommen“, wie ihm, die Freiheit blieb, sein reines Inneres ohne Bezug auf irgend eine bestimmte Religion religiös zu ent- wickeln. Allein wenn Shakespeare für das Positive im Protestantismus irgend ein spezifisch religiöses Interesse gehabt und in seine Werke gelegt hätte, so sähe es mit diesen ganz anders aus. Nennt Göthe und nen- nen mit ihm Viele die Phantasie, welche rein von der Anschauung der ursprünglichen Stoffwelt ausgeht und ohne alle Dazwischenkunft des Bil- des, womit ihr die Religion zuvorkommt, sie umschafft, religiös, so kann dieß zu einer Untersuchung führen, die vielleicht ein Wortstreit scheint, in Wahrheit aber zu der Frage auffordert, ob es eine Religion ohne das Hinüberzeichnen (§. 61) geben könne. Darauf aber kann es keine Antwort geben als die, daß die Zukunft es lehren müsse. Bis dahin nennen wir die weltlich freie Phantasie ausdrücklich die nicht religiöse, und enthalten uns auch, sie die protestantische zu nennen. Die zwei Ab- schnitte, die der §. aufstellt, werden sich aber nun näher bestimmen und einer weiteren Gliederung Platz machen. §. 421. Die allgemeine Phantasie ist näher die Phantasie eines Volks in der Be- wegung seines geschichtlichen Lebens. Würde die zweite Stoffwelt nicht da- zwischen treten, so wäre die Geschichte des Ideals nichts Anderes, als die Geschichte der Phantasie, wie sie sich in den Volksgeistern und ihren Epochen (§. 341—378) bestimmen muß, und dieser Bestimmtheit gemäß eben die Stoffe auffaßt, welche jedem derselben sein Gesichtskreis zeigt. So aber theilt sich die Phantasie vor der Auflösung jenes Bundes in Ideale, welche durch verschiedene Religionsformen bestimmt sind, und erst nach derselben ist ein Ideal möglich, worin die Volksgeister nach den Bildungsstufen ihrer Zeit un- mittelbar sich und ihre ursprüngliche Stoffwelt niederlegen. Wir hätten also nach Obigem zwei große Hauptperioden bekommen, die erste vor, die zweite nach dem Ende des Mittelalters. Die erste würde sich von der zweiten dadurch unterscheiden, daß ihre einzelnen Ab- schnitte nach den Religionen der Völker, nicht unmittelbar nach dem Cha- rakter und der Geschichte derselben, sich bestimmen und nennen müßten; statt orientalisch: symbolisch, statt griechisch: mythisch, statt mittelalterlich: christlich phantastisch; die zweite dagegen darf nur das, was über die Völker und Zeiten gesagt ist, wieder auffassen, und sagen: weil diese so waren, mußte ihre Phantasie auch so sein. Wirklich ist der Weg dort ungleich weitläufiger; da darf man nicht einfach sagen z. B.: wie die Völker des Mittelalters innerlich, dualistisch, winterlich u. s. w. waren, so muß also auch ihre Phantasie dem entsprechend beschaffen gewesen sein, sondern man muß das Mittelalter als die mystische und phantastische Form des Christenthums bezeichnen, man muß den religiösen Kreis seiner Phantasie darstellen. Hier dagegen, in der Darstellung des modernen Ideals, kann man sich zwar mit der Frage beschäftigen, ob und wie die Phantasie sich noch an veraltete religiöse Kreise wenden könne, etwa so, daß sie moderne Ideen darin niederlege, z. B. communistische in eine Er- zählung des N. T., moralische, politische in die alten Götter? aber solche Fragen enthalten im Zweifel schon ihre Verneinung; diese Zeit hat einmal keinen selbsterzeugten religiösen Gehalt mehr und ihr Ideal ist einfach als Summe ihrer allgemeinen Bildungszustände zu fassen. — Uebrigens ver- steht sich, daß die Phantasie der Völker, sei sie nun religiös bestimmt oder weltlich frei, nicht blos die Stoffe ihrer eigenen Geschichte und Na- tur verarbeitet. Auch verhältnißmäßig abgeschlossene Völker treten, na- mentlich durch den Krieg, mit fremden in Verbindung, mehr und mehr erweitert sich bei den gebildeten der Gesichtskreis über die ganze Erde und die Geschichte ihrer Bewohner. Zum Ideal eines Volks und einer Zeit gehört also auch die Weise und der Umfang der Anschauung des Fremden. Daher heißt es im §.: „die Stoffe, welche jedem derselben sein Gesichtskreis zeigt.“ §. 422. Die religiös bestimmte Phantasie theilt sich jedoch wieder in zwei gänzlich entgegengesetzte Hauptformen, deren zweite gerade darauf begründet ist, daß sie nur durch einen Widerspruch die neue Weltanschauung, die ihr aufgegangen, abermals zu einer zweiten Stoffwelt verdichtet. Dieser Gegensatz ist entscheidend genug, um vielmehr drei große Abschnitte aufzustellen, und so ordnet denn die Wissenschaft, da sie überhaupt das Unfreie im Scheine und als Grund der Re- ligionen den Charakter der Völker und Zeiten erkennt, die Geschichte des Ideals dennoch nach den drei Haupt-Epochen des Völkerlebens an sich und folgt daher der Eintheilung von §. 341—378. Die zweite Hauptform der Phantasie ist die des Mittelalters. Es ist hier vorläufig mit Kurzem ausgesprochen, warum sie der antiken als eine neue Epoche begründend gegenübertritt, und der Verlauf wird voll- ständig zeigen, daß sie gerade die nach beiden Seiten scharf abgeschnittene mittlere von drei Epochen bilden muß; denn was sie von der antiken unterscheidet, ist das Prinzip der christlichen Religion, in den germanischen Geist aufgenommen, was sie von der modernen unterscheidet, ist das Heidnisch-Mythische, wodurch sie dieses Prinzip zu einer transcendenten Welt ausbildet. So haben wir schon dieselben Eintheilungen, wie in der Lehre von der geschichtlichen Schönheit. Nun wissen wir ja aber über- haupt, daß die Religion nichts Anderes, als ein Ausdruck des Bewußtseins der Menschheit, der Nilmesser ihres Geistes ist; als eigentlicher Einthei- lungsgrund steht für uns auch hinter dem religiös bestimmten Ideale der ursprüngliche Geist des Volkes und der Zeit, und so ist die ganze Ein- theilung wieder da, wie in der geschichtlichen Schönheit. In dieser fragten wir: wie viel und was für Stoff geben die Völker und ihre Zeitalter dem Schönen ; jetzt fragen wir: was für und wie viel Schönes muß die Phantasie der so bestimmten Zeiten und Völker selbst hervorbrin- gen ? Die Benennungen der Hauptformen der Phantasie können wir, da wir so auf die Völker und Zeiten selbst als Subject und Grund der Unterschiede zurückgehen, ebensowohl von diesen, als, wo das Ideal noch religiös bestimmt ist, von dem Standpunkte der Religion entnehmen; am besten wird es sein, beides zugleich in die Bezeichnungen aufzunehmen. §. 423. Die Phantasie ist also, gleichviel, ob sie die ursprünglichen Stoffe nur durch die Mitte der zweiten Stoffwelt oder unmittelbar in die Schönheit erhebt, immer die Frucht der Gesammtkräfte eines Volkes und Zeitalters, in dem begabten Individuum zusammengefaßt, und hiemit tritt eine Masse von neuen, geschichtlichen Bedingungen ein, durch welche sich, indem sie mit den Arten §. 402—404 sich durchdringen, die individuelle Phantasie noch concreter verschlingt. Als diese lebendige Zusammenfassung gibt sie der Nation und Zeit ihr eigenes erhöhtes Bild mit der unendlichen Kraft rückwirkender Bildungs- mittel wieder. So viele Theilungsgründe wir in der Lehre von den Arten der Phantasie fanden, so blieb uns doch die Phantasie des Individuums immer noch abstract. Jetzt erst können wir sie dahin stellen, wo sie con- cret wird, in die Mitte der geschichtlichen Bedingungen. Das Genie erscheint nun als geistiger Flügelmann eines Volks, eines Zeitalters, dessen Kräfte in ihm zusammenfließen, zu einem Centrum, Brennpunkt sich sam- meln, als Seher der Zeit. So „hält es der Natur den Spiegel vor, zeigt der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt.“ Es ist aber nicht nur eine weitere Bestimmung der allgemeinen Art, unter welche nun das phantasievolle Individuum tritt, wie: antik oder classisch, ro- mantisch, modern. Diese Epochen haben, wie sich zeigen wird, selbst wieder ihre verschiedenen Stadien. Und nicht nur dieß; die Phantasie des Einzel- nen ist immer so bestimmt, daß sie mehrere der so entstehenden neuen Arten in sich vereinigt, während freilich eine derselben den Mittelpunkt bildet. So hat das Klassische seine Romantiker, das Romantische seine Klassiker, das Moderne wird im Einen mehr klassisch, im Andern mehr romantisch, ein Dritter vereinigt wieder Beides. Die Ilias z. B. ist mehr klassisch, die Odyssee romantisch im Klassischen u. s. w. Nun nehme man hiezu wieder alle in dem Abschnitt von den Arten der Phantasie gefundenen Einthei- lungen, Reihen auf und erwäge, wie sie sich mit den jetzt gefundenen neuen Arten in unendlichen Mischungen verbinden müssen, so hat man erst die ganze Summe der concreten Bedingungen beisammen. Mußten wir ja schon dort vielfach auf die Geschichte der Phantasie voraus hinweisen; anders verhält sich jede geschichtliche Form des Ideals zu dem einfach Schönen, Erhabenen, Komischen, anders zu den auf verschiedene Sphären des Stoffs gerichteten, anders zu den auf die verschiedenen Momente der Phantasie selbst gestellten Arten, und wir werden bald sehen, wie sich die geschichtlichen Unterschiede namentlich mit den letztern berühren. 2. Das Bild, durch welches das phantasievolle Individuum der Zeit und Nation ihr eigenes Angesicht zeigt, gibt dieß Angesicht in Rein- heit umgeschaffen. Die Menschheit erfährt dadurch, wie sie ist, also etwas Altes, aber dieß Alte ist zugleich schlechtweg neu und auch dieß Erfahren ist neu. Wie daher die Strahlen zum Brennpunkt gesammelt mit anderer Intensität wirken, als in der Zerstreuung, so gibt jenes Bild dem Volk und seiner Geschichte einen unberechenbaren Schwung. Die Nation richtet ihre Wirklichkeit an ihrem eigenen idealen Bilde auf und erzieht sich da- ran. Homer hat unendlich auf die Griechen, Schiller auf die Deutschen gewirkt, ja eine solche Wirkung verbreitet sich auf die Menschheit in alle Zeiten. Diese Wirkung ist nicht rein ästhetisch, sie ist sittlich, intellectuell, sickert in alle Zweige des geistigen Lebens; was aber vor dem strengen Grundgesetze des Schönen eine Auflösung seiner Elemente ist, kann vom Standpunkt des Guten immer noch unendliche Wohlthat sein (vergl. §. 76, Vischer’s Aesthetik. 2. Bd. 27 Anm. 1 ). Auch lösen sich diese fördernden Wirkungen doch keineswegs vom schönen Bilde ganz ab; dieses bleibt für die Masse mindestens ihr Ve- hikel, für die Zahl der Phantasiebegabteren aber immer in ganzer Ein- heit mit dem Gehalte und die getrennt sittliche, intellectuelle tritt bei ihnen immer nur als Nachwirkung der vollen ästhetischen ein. §. 424. Da aber die Phantasie immer eine gewisse Vergangenheit ihres Stoffes fordert, so ist die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden, nicht der Boden, worin sie blüht, sondern die bewegliche Erregung, welche die Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks ist, die Glanzperiode der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls schon in sich birgt. Während des Kampfes der Kraft und bei schon eingetretenem Verfall kann die Phantasie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufgestellten Abarten und Ausartungen sich thätig erweisen. Daß der Stoff in eine gewisse Entfernung (des Raums und) der Zeit von der Phantasie zurücktreten muß, haben wir auf verschiedenen Punkten aussprechen müssen: so §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56—60; aus der Abweisung der materiellen Sinne (§. 71) und alles Interesses (§. 75) vom sub- jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen- stande, durch den die Anschauung zur Einbildung wird §. 387, 2 , aus dem Erlöschen der Leidenschaft, welche §. 393, und der Einkehr in sich, welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks ist nicht die seiner ästhetischen Production, da herrscht die Unruhe des Interesses, der stoffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings ist nur Gesundheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit sich das Schöne nährt, aber dieses Wohlsein blüht eben in dem Augenblick auf, wo die herben Kämpfe schweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukünstler traten nicht während der Perserkriege, sondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord- neten Monarchie u. s. w. Durch diese Thatsache erfährt der erste Satz von §. 421 eine Beschränkung: die Parallele zwischen der geschichtlichen Schönheit und zwischen der Geschichte der Phantasie ist keine vollständige, auch abgesehen davon, daß die energischen Völker, deren Geschichte reich an Stoff ist, und die phantasiereichen, welche selbst viel Schönes produci- ren, keineswegs durchaus dieselben sind; die Periode, worin die Geschichte eines Volks stoffreich ist, muß schon einen Abschluß gefunden haben, wenn dasselbe Volk subjective Productivität soll entwickeln können. Erst wenn der Kampf schweigt, stellt sich die Muse ein; nun erst kann sich das subjective Leben zu der Erregbarkeit, Weichheit, Nervosität, Resonanz erweichen und erweitern, welche der Phantasie vorausgehen muß, und nun erst hat man Zeit, die Darstellung dieser feinern Zustände sowohl mit der nöthigen ästheti- schen Freiheit von Seiten der Gebildeten, als auch in den Massen mit vielseitiger pathologischer Erregbarkeit zu betrachten. Man muß sich hüten, direct einen sittlich musterhaften Zustand der Nation als Bedingung äst- hetischen Berufs aufzustellen. Die sittlichen Kräfte müssen durch ihre Strenge einen glücklichen Zustand herbeiführt haben, wie in Athen nach den Persersiegen; dieß Glück ist zugleich Aufgang der Bildung , in der Bildung wirken freilich die sittlichen Kräfte fort, aber ein unendlicher Reichthum von Fähigkeiten überhaupt hat sich entfaltet, und da nun Alles heraus soll, was im Menschen liegt, kommt auch das Willkührliche, das Böse, Verdorbene, die nationalen Laster heraus, zuerst freilich noch in Banden gehalten vom guten Mittelpunkte, aber bereit, ihn zu überwu- chern; der Keim des Verfalls ist mit der höchsten Blüthe da, in der Wirklichkeit wie in der Phantasie. Freilich kann dieser Verfall, wenn das Volk dauerhaft ist, Uebergang zu späterer neuer Blüthe sein. Dabei ist noch zu merken, daß ein Volk oft nur nach Einer Seite einen Höhe- punkt erreicht hat und demgemäß eine Blüthe der Phantasie treibt, aber auch eine einseitige. So war die deutsche Nation politisch todt, als sie die klassische Zeit ihrer neueren Poesie feierte, aber ihre innere Bildung war an einem bedeutenden Abschluß angekommen. Jetzt ringt sie nach politischem Leben; wird sie dieß errungen haben, so wird eine Phantasie möglich sein, welche ein volleres, objectiveres Leben zum Stoffe hat, als die unserer verstorbenen großen Dichter. Zur Naturgeschichte des Genies ist hier noch nachzuholen, daß die Glanzperioden der Völker geheimnißvoll productiv sind in Hervorbringung phantasievoller Menschen; ein Blick auf die Griechen, auf Deutschland gegen den Schluß, auf Italien am Schluß des Mittelalters, auf Spanien nach der Gründung seiner absoluten Monarchie, auf England am Ende des sechszehnten, Belgien und Holland im siebenzehnten Jahrhundert, auf die deutsche Dichterwelt am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bezeugt es. Die erhöhte Stimmung der Zeit scheint in die geheime Stätte der Zeugung zu wirken. Dazu kommt aber, daß das bloße Talent, das in anderen Zeiten von Wissenschaft, von prak- tischen Sphären absorbirt wird, in diesen Festzeiten der Völker, vom Ge- nie angezogen, großentheils der Kunst zufällt und den Wald großer Namen vermehrt. 27* Der Schluß des §. erwähnt neben den Abarten und Ausartungen, in welche die Phantasie außer jenen Glanzperioden zerfällt, in unbestimm- ter Weise „unreife Formen;“ die ersteren scheinen dem Verfall, die letz- teren den Kämpfen vor der errungenen Fülle zugewiesen. Dieß ist ab- sichtlich unbestimmt gehalten. Zunächst ist die Meinung die ebengenannte; was die unreifen Formen seien, dieß auseinanderzusetzen, ist der nächst- folgenden Darstellung vorbehalten. Aber es stellt sich auch das Verhält- niß ein, daß kämpfende und vorbereitende Zeiten, welche auf einen Ver- fall folgen, in ihrer Unmündigkeit Abarten von diesem herübernehmen, wie Dante die Allegorie, daß sie ferner Ausartungen, die nur der Ver- fall hervorbringen zu können scheint, Verwilderungen, selbst Häßlichkeit erzeu- gen. Alle diese Verschiebungen können hier noch nicht verfolgt werden. a. Das Ideal der objectiven Phantasie des Alterthums . §. 425. 1 Die Phantasie des Alterthums schafft entsprechend der objectiven Lebens- form (§. 342), der sie angehört, ein Ideal, in welchem Inneres und Aeuße- res, Individualität und Gesammtleben unmittelbar im engeren Sinne eines bruchlosen Zusammenfallens Eins sind. Dieß Ideal ist daher als religiöse Auf- werfung einer zweiten Stoffwelt das der Naturreligion , d. h. es enthält eine Vielheit von Göttern, welche ebensosehr Naturwesen als sittliche Wesen 2 sind, und die ursprüngliche Stoffwelt, wie sie nach diesem Auszuge übrig bleibt, 3 wird idealisirt im Sinne der Vergötterung. Es folgt von selbst, daß es unter den in §. 404 aufgestellten Arten der Phantasie vorzüglich die bildende ist, in welcher dieses Ideal sich bewegt. 1. Der Begriff des Unmittelbaren in der Idealgestalt bedurfte schon deßwegen eines erläuternden Zusatzes, weil alles Ideal eine unmittel- bare Einheit von Idee und Bild darstellt. Es ist aber innerhalb dieser Unmittelbarkeit wieder ein Unterschied des Unmittelbaren und Vermittel- ten, des Gebrochenen und Ungebrochenen im Ausdruck. Wir werden darauf zurückkommen, wenn von dem griechischen Ideal, wo die Auf- gabe der antiken Phantasie ihre wahre Lösung erst fand, die Rede sein wird. Hier sagen wir nur kurz, daß dieselbe keinen Bruch im geistigen Ausdruck zur Darstellung zu bringen hat. Wie das Bewußtsein der Na- turreligion als Erscheinung überhaupt einfach, dieses geistige Leben noch ein Naturleben ist, so gilt ihm auch in seinen Projectionen („Aufwerfung“ sagt der §., ein gutes Wort, das Luther gebraucht, vergl. Stuhr die Relig.-Systeme der heid. Völker des Orients Einl. x ) das Sinnliche als affirmatives Gefäß des Geistigen, die Naturform als absolut. Was im- mer in der Gestalt, die dieser einfache Geist als Gestalt des Absoluten vor sich stellt und verehrt, inbegriffen und ausgedrückt sein mag, es wird angeschaut unter der Kategorie des natürlichen Seins und zwar stets in der Bestimmtheit der örtlichen Natur, denn die Völker, um deren Ideal es hier sich handelt, sind geschlossene Localgeister. Die Naturreligion ist aber wesentlich zugleich Polytheismus. In der freien Schönheit ist es kein Widerspruch, daß es vielerlei Gebilde der Phantasie gibt; hier weiß man, daß in jeder derselben die absolute Idee nur vermittelst einer be- stimmten Idee, deren es viele gibt, sich ausdrücken kann. Wäre der Schein ein unfreier, wie er es in der reinen, nicht religiös bestimmten Phan- tasie vielmehr nicht ist, so hätte alle Phantasie überhaupt ebensoviele Götter, als sie schöne Gestalten erzeugt. Zu erklären ist also vielmehr nur, warum die Phantasie des unfreien Scheins nicht noch viel mehr Götter hat, als sie deren thatsächlich aufweist. Der Grund liegt eben darin, daß sie Naturreligion ist. Sie geht nämlich, wie wir sehen wer- den, immer von Erscheinungen der nicht begeisteten Natur aus und die Kategorie des Seins oder der blinden Kraft, die in diesen wirkt, bleibt die Grundlage auch dann, wenn geistig sittliche Bestimmtheiten in sie hineingelegt und als menschliche Göttergestalt mit größerer oder geringerer Ablösung auf diese Basis gestellt werden, was eben deßwegen möglich ist, weil das geistige Leben selbst einfach, ein wenig verwickelter, bruchloser Prozeß ist. Der Kreis der Natur-Erscheinungen nun, welche solche Grund- lagen abgeben können, ist nicht groß: die Wirkungen der Elemente, der Saftdrang der Pflanze, die wesentlichsten Lebensformen des Thiers geben eine um so mehr übersichtliche Sphäre, da überall nur das herausge- griffen wird, was die heimische, umgebende Natur an besonders auffal- lenden Erscheinungen darbietet. Die Mythenwelt ist allerdings reich, aber ohne diese Beschränkung wäre sie unendlich. — Nur dieß Wenige ist hier im Allgemeinen zu sagen, um der folgenden Entwicklung nicht vorzu- greifen. 2. Es kann, nachdem sich die Phantasie der Naturreligion ihren Göt- terauszug aus der Welt gemacht, nicht an Aufforderung fehlen, die ganze Welt, die doch daneben übrig bleibt, da und dort zu ergreifen und zu idealisiren. Dieses Idealisiren, meint man, könne dann ein reines, freies, nicht religiöses sein. Allein dieß wäre Widerspruch gegen das Prinzip; vielmehr ist hier jede Erhebung irgend eines Stoffs in die ideell umbildende Phantasie ein Vergöttern: der Heros stammt von einem Gotte ab, durch die Statue, die ihm errichtet wird, genießt er göttliche Ehre u. s. w. Dadurch muß freilich ein anderer Widerspruch entstehen: es bekommt eine Lebenssphäre einen vergötterten Menschen zu ihrem Repräsentanten, wel- cher ohnedieß schon ein Gott vorsteht, und so nicht nur Eine, sondern mehrere, ja es entsteht ein Durcheinanderhandeln von Göttern und Men- schen, worin füglich die Einen oder Andern erspart werden könnten. Die- ser Widerspruch stört aber die Phantasie der Naturreligion um so weni- ger, da er in der That schon in ihrem Götterkreise selbst herrscht; denn es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Sphären durch mehrere Götter repräsentirt werden, wie umgekehrt Ein Gott mehrere Sphären repräsen- tirt. Jenes Durcheinanderhandeln tritt übrigens ebenso im Verhältniß zu den Naturkräften ein: die Phantasie sucht eine Naturerscheinung an sich, ohne Vergötterung, in die Schönheit zu erheben, allein der Prozeß schließt immer mit einer Zurückführung auf einen Gott: so ist auch hier dasselbe Doppeltsetzen, woraus sich diese Art von Phantasie ein logisches Gewissen zu machen noch gar nicht die weiteren Bildungsmittel hat. Dieß ganze Doppeltsetzen ist aber eben nichts Anderes, als die schon oben als wesent- liches Moment aufgenommene „Durchlöcherung“. 3. Es bedarf keines Beweises, daß diese Epoche der Phantasie sich in der bildenden Art bewegen, daß sie vorzüglich auf das Auge organisirt sein wird. Dieß soll sich im Einzelnen erst näher bestimmen und erst dann zugleich die Beziehung dieses Ideals zu den übrigen allgemeinen Arten der Phantasie (§. 402. 403) zur Sprache gebracht werden. Es versteht sich, daß die empfindende und dichtende nicht fehlt, aber der Standpunkt der bildenden wirkt bestimmend in diese hinüber. α. Die vorbereitende symbolische Phantasie des Morgenlandes. §. 426. Dualistisch und ohne wahre Persönlichkeit, wie der ganze Charakter des 1 Orients (vergl. §. 343), ist auch seine Phantasie. Der Mangel der Persön- lichkeit äußert sich zunächst überhaupt darin, daß sie unter den in §. 403 auf- gestellten Arten auf diejenigen beschränkt ist, welche nur die Sphäre der unor- 2 ganischen Schönheit und der organischen bis zur thierischen umfassen. Ebendeß- wegen aber, weil diese Phantasie kein anderes Bild hat, um die absolute Idee mit Inbegriff des, obwohl noch unreifen, menschlich sittlichen Gehalts in ihm zu sinden , als die Gestalten der bewußtlosen Natur, so macht sich der Dualis- mus dieser ganzen Lebensform als symbolisches Verfahren der Phantasie geltend. Das Symbol ist ein Bild, welches für die bewußtlos verwechselnde Phantasie durch das äußerliche Band eines bloßen Vergleichungspunkts eine an- dere, als die ihm wirklich inwohnende Idee ausdrückt. 1. In der Anm. 1 zum vorhergehenden §. wurde gesagt, daß auch für die Bildung menschlich gestalteter sittlich bedeutungsvoller Götter die Erscheinungen der bewußtlosen Natur, von deren Auffassung und Erhe- bung zu absoluter Bedeutung die Naturreligion ausgeht, noch die Grund- lage bleiben. Alle griechischen Götter tragen noch diese Reminiscenz an sich. Allein die Religion, die zur menschlichen Götterbildung fortschreitet und sie zu ihrem Mittelpunkte macht, nimmt dann doch noch einen zwei- ten Ansatz und setzt jene Grundlage zu einem bloßen Nachklang herab; die orientalische Religion aber bleibt auf jener Grundlage stehen und er- hebt sich, wie sich im folg . §. zeigen wird, nur halb zu dem genannten zweiten Ansatz. Man kann die Sache sehr einfach so ausdrücken: alle Religion sucht einen Ausdruck für das Allgemeine, Herrschende, Ueber- greifende. Um nun dieses als geistige Macht in der menschlichen Gestalt als wirklich anzuschauen, dazu ist dem sinnlichen Auge des Orien- talen der Mensch zu klein ; der Himmel, das Licht, die Luft, die Berge, die Wasser, die Bäume, die Thiere sind umspannend, umwehend, über- strahlend, überragend, Alles nährend, weitschattend, stark und in ein Dunkel des Instincts gebannt, das auf einen geheimnißvollen Abgrund hinweist; der Mensch scheint dagegen ein geringer und schwacher Punkt, er hat alles Leben und Gedeihen erst von den allgemeinen Naturmächten zu empfangen und seine Reflexion, sein Wille ist nichtig gegen diese dun- keln Mächte. Wohl ist Gefühl des Guten, der sittlichen Sphären da, wohl sucht die Phantasie eine Form, worin sie auch diesen Gehalt nie- derlege; aber die sittliche Ordnung hat ja selbst Naturbedingungen zur Voraussetzung; der Staat ruht auf dem Ackerbau, dieser hängt von Wind und Wetter ab: diese Beziehung ist die erste, welche den Naturvölkern in’s Auge fällt, und so liegt es ihnen z. B., um eine mythische Form zu anticipiren, ganz nahe, den Gott des Firmaments zum Gründer der Staa- ten zu machen. Fast könnte man sagen, das Wetter sei überhaupt der Gott der ältesten Naturreligion. Doch es ist jetzt noch nicht von Göttern die Rede; genug, die Phantasie der Völker, deren Lebensform noch un- persönlich genannt werden muß, denen die ethische Einheit noch abgeht, wird nach den Erscheinungen der unpersönlichen Natur greifen, also zur landschaftlichen und organischen thierischen Art der Phantasie (§. 403) gezählt werden müssen. Wie sie sich zu den Reihen anderer Arten der Phantasie verhält, davon nachher. 2. Nun würde, wären wir auf rein ästhetischem Boden, nichts folgen, als daß die Phantasie des Orients vorzüglich darauf angewiesen war, landschaftliche und thierische Schönheit darzustellen, denn wenn wir auf jenem Boden uns befänden, so gälte es nur, die Erscheinungen aus dieser Sphäre der Stoffwelt so zu idealisiren, daß ihre Gestalt zugleich mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön- heit erhoben würde. Allein wir sind davon vielmehr soweit als möglich noch entfernt und mit einer Phantasie beschäftigt, welche in jene so be- grenzten Erscheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee, und daher nichts weniger zu schaffen berufen ist, als landschaftliche und thierische Schönheit im unbefangen ästhetischen Sinne. Was ist denn nun dieß Andere? Wir müssen zuerst zurücktreten von der Formthätigkeit der Phantasie als solcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject voraussetzten, so hier Volksgeister, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie sie ihn kennen und verstehen, voraussetzen. Dazu müssen wir dann den Dualismus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientalischen Cha- rakter überhaupt aufstellten, und zwar von diesem zunächst die Seite des brütenden Insichseins, der abstracten Sammlung des Geistes. Dieser Geist, der, wenn er sich auf die Einheit der Dinge besinnt, die Be- stimmtheit verliert, wird die absolute Idee nur wie einen unendli- chen Abgrund ahnen. In diesen Abgrund versenkt er, wie die Be- stimmtheit der Natur, so auch die sittlich menschliche Bestimmtheit, was ihm von ihr bekannt ist, und bekannt ist ihm das sittliche Leben nur als ein solches, das selbst wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat. Dieser Abgrund ist abstract, aber nicht abstract im Sinne eines logischen Gedankens, sondern abstract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin- den, dunkeln unterscheidungslosen Macht. Doch die abstracte Besinnung setzt allerdings auch Momente, Unterschiede; diese sind aber selbst wieder abstracte Kategorieen des Naturseins: Sein, Werden, Vergehen, Her- vorbringen, Nähren u. s. w. Mit solchem Gehalte erfüllt geht der Mensch an die Natur, findet sie als eine bestimmte örtliche Umgebung vor. Nun scheint es, da er nur von der unbegeisteten Natur zur Phan- tasiethätigkeit sollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abstracten Mo- menten passe dazu, mit den Existenzformen des unbewußten Lebens sich zu einem Producte der Phantasie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu- sammenzuschmelzen. Allein jede Naturerscheinung ist individuell, ist be- stimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Also deckt sich nicht, was der Geist hinzubringt und was ihm die Naturerscheinung entgegen- bringt; also kann die Phantasie den Gegenstand nicht innerhalb der be- stimmten Idee, deren individuelle Bindung er in Wirklichkeit ist, zum Ideal erheben; also muß sie unter seinen Eigenschaften irgend eine heraus- greifen, welche als äußerlicher Vergleichungspunkt ihn mit der hinzuge- brachten Idee in Eins knüpft. Es versteht sich, daß dieß Zusammen- bringen von Extremen, die sich nicht decken, unbewußt vor sich geht: die abstracte Kategorie ist nur geahnt, das Bild wird als erste Aushilfe gesucht, sie sich deutlich zu machen, zu übersetzen; diese Phantasie hat die Einheit des Schönen noch nicht , sie ist unreife Phantasie. Sie weiß nicht um die Incongruenz, sie fühlt sie wohl dunkel und wir wer- den sehen, wozu sie dadurch getrieben wird. Dieß Verfahren nun ist das symbolische . Gleichgiltig ist uns zunächst, ob es die Ahnung der absoluten Idee oder eines der nackten Momente, die erst in ihr unter- schieden werden, ist, was in eine Erscheinung gelegt wird: in beiden Fällen ist die Idee zu weit, das Bild zu eng. In einem gewissen Sinne wird natürlich immer Beides hineingelegt, wie die Idee der allgemeinen Kraft ergriffen von der Seite des Segens in den Nil, in die Sonne; es sind aber allerdings Symbole zu unterscheiden, die nur ein (zwar bereits an sich zu abstractes) Moment der Urkraft und vermittelst desselben diese darstellen, wie der Käfer, die Lotosblume das Moment des Wer- dens aus sich, und Haupt- oder Grund-Symbole, die das Ganze, wo möglich durch mehrere Eigenschaften, ausdrücken, wie der Apis durch seine Färbung, seine Stärke, seine Zeugungskraft, seine Hörner den Nil, die Sonne, den Mond, die Urkraft überhaupt. §. 427. Die zuerst nur vorgefundene Erscheinung wird nun in die innere Form- 1 thätigkeit der Phantasie hereingezogen und in dem Sinne umgestaltet, daß der Vergleichungspunkt an ihr hervorspringt. Zugleich hat aber schon vorher eine 2 andere Art von Thätigkeit begonnen; auch die symbolische Phantasie nämlich begeistet die Naturerscheinung, muß sich daher für dieß in sie hineingetragene Innere nach der menschlichen Gestalt umsehen, wird Personbildend, schafft Götter, setzt sie in Handlung und schreitet so zum Mythus fort, denn dieser ist Dar- stellung einer Idee als der Handlung eines absoluten persönlichen Wesens. Allein dieser Fortschritt stockt, es kommt nicht zur reinen Ablösung der Göttergestalt vom unpersönlichen Bilde, das Symbol verhindert den Ansatz zum Mythus, sich auszubilden. 1. Die symbolische Phantasie hat sich schon in ihrem ersten Schritte an einzelne, besonders hervorragende Erscheinungen gehalten, was sich für uns nach unserer Lehre von der nothwendigen Sollizitation der Phantasie durch ein Naturschönes (§. 393) so von selbst versteht, daß wir die Einzelnheit des Objects im Symbole (vergl. Baur Symb. und Mythol. Th. 1 S. 7) nicht besonders hervorzuheben brauchen. Die großen Berge, Ströme u. s. w. sind das Erregende für die symbolische Phantasie; Ormuzd ist das Licht im Lichte, aber vorzüglich die Sonne, Osiris Urkraft, aber vorzüglich der Nil. Man kann sich das Staunen der Naturvölker über die gewaltigen Natur-Erscheinungen nicht lebhaft, naiv genug, die Isolirung dieser Objecte durch die Unkenntniß der Ge- setze des allgemeinen Naturzusammenhangs nicht deutlich genug vorstellen. Aber das Hineinschauen des Schönen in ein gegebenes Object genügt auch der allgemeinen Phantasie nicht (§. 416); auch sie setzt es innerlich und gestaltet das Abbild zu einem Anderen um, stellt das Urbild in ihm her, aber sie thut es in einem andern Sinn, als die besondere, die freie Phantasie, nicht im Sinne der reinen Schönheit; der Gegenstand wird nur in der Richtung des Symbols erhöht, der Vergleichungspunkt ver- stärkt, und wie wenig dadurch die Schönheit als solche gewinnt, werden wir sehen. Innerhalb dieser Richtung aber ist der Schritt zum Herein- nehmen des Gegenstands in’s Innere, das Setzen eines Abbilds wichtig; es vollziehen ihn zwar irgendwie alle Natur-Religionen, aber sie stehen je um so viel höher, als die Anschauung nur der Ausgangspunkt bleibt, von welchem zur selbstthätigen Abbildung (der innern und daher natür- lich auch der äußern) geschritten wird (vergl. Hegel Aesth. B. 1, S. 429 und die Unterscheidung von Natur- und Kunst-Symbol Baur a. a. O. Th. 1, S. 9). Wir verlassen jedoch zunächst diese Linie der Phantasiethätigkeit, die Symbolbildende, um erst eine ganz andere aufzunehmen. 2. Es ist eine ganz verschiedene, zweite Reihe von Phantasiethätig- keit, ein Weg zu einem ganz andern Ziele, was hier eingeführt wird. Der Natur einen Menschen unterlegen , in Quellen, Bergen, Sternen, Meer und Himmel, Bäumen schlagende Herzen ahnen ist nicht symbolisch . Zunächst ist es überhaupt ein Act der Phantasie, der be- sondern wie der allgemeinen, der freien wie der unfreien, vergl. §. 240. 271; aber die allgemeine, die unfreie Phantasie unterscheidet sich hierin von der freien dadurch, daß sie aus diesem Leihen Ernst macht und in den hervorragenden Erscheinungen der Natur Geister, Dämonen, Genien wirklich und ohne den stillen Vorbehalt, es nicht in bitterem Ernste zu glauben, der die freie Phantasie begleitet, zu vernehmen überzeugt ist, und in der unfreien Phantasie ist es wieder die symbolische, welche eigentlich am nöthigsten hat, daraus Ernst zu machen; denn menschlich sittlichen Gehalt begreift ja auch sie in ihrer Idee vom Absoluten, das eigentliche Gefäß aber, in das sie ihn lege, die menschliche Gestalt, hat sie nicht bereit, denn dahin geht ja ursprünglich ihr Umfang nicht; sie muß also Gemüth, Güte, sittlichen Willen und somit einen Willen über- haupt, eine Person hinter dem suchen, worauf ihre Richtung geht, hinter der unpersönlichen Natur. Legt sie aber eine Seele in diese, so muß sie auch einen menschlichen Leib hineinlegen. Also muß sie sich freilich auch nach der menschlichen Gestalt umsehen und wenigstens einen Schatten von ihr jener Seele zulegen. Was haben wir nun? Ein Object aus der bewußtlosen Natur und dieses Object deutet symbolisch einen Gehalt an; aber zugleich steckt in ihm wie ein Saame in seiner Kapsel ein beseeltes persönliches Wesen mit einem Leib. Daß dieser Leib in dem nicht mensch- lichen Körper keinen Raum hat, das stört diese Phantasie so wenig, als noch heute der Aberglaube durch den körperlosen Körper seiner Gespenster in logische Verlegenheit gesetzt wird. Diese Seele mit ihrem Leibe, den keine Raumgesetze drücken, ist der Gott. Der Gott mit seiner Gestalt nun ist durchaus nicht mehr blos symbolisch. Man könnte zwar sagen, die Kluft zwischen der Gestalt und der Bedeutung sei nun in’s Unend- liche erweitert, denn nun solle eine lebendige Person mit der reichen Concretion des Geistes, die sich in ihrer Gestalt ausdrückt, nur das Ab- stractum einer Naturkraft bedeuten. Wir haben vom Symbole gesagt, die Bedeutung sei zu weit, das Bild zu eng; wir hätten es auch um- gekehrt sagen können, denn das Bild hat viele Eigenschaften und nur Eine gilt, als tertium comparationis nämlich. Beides ist richtig, und so scheint es auch von der Göttergestalt gesagt werden zu müssen: sie ist zu reich für die abstracte Einfachheit der Bedeutung, also zu weit; sie ist aber individuell, die Naturkraft dagegen waltet weit in der Welt, jene fällt in diese wie in einen zu weiten Behälter; ist also zu eng. So haben nun wirklich Baur (a. a. O. Th. 1, S. 9), O. Müller, der doch (Pro- leg. S. 243) selbst sagt: „nicht die Kräfte der Natur wurden ϑεοὶ ge- nannt, sondern die geglaubten Götter erschienen in der Natur lebendig,“ (a. a. O. S. 261), ja auch Hegel, der doch nachher den Götterglauben ganz anders auffaßt, (Aesth. Th. 1, S. 454) die Menschengestalt des Gottes für symbolisch erklärt. Allein in Wahrheit verändert sich, sobald diese eintritt, das symbolische Verhältniß: die Bedeutung ist zwar wohl abstract, aber der Gott nimmt sie als seinen Zweck und Willen in sich herein, er lebt, er erhebt sich über die kahle Einfachheit der Bedeutung, ist um seinetwillen da, fühlt, denkt, will, der Gehalt des Symbols ordnet sich ihm unter, erwärmt sich in seiner Brust zum Gefühlten, Gewollten. Der Wille wird That, der Gott handelt; dieß ist nothwendige Folge, sobald ein Gott gesetzt ist, denn mit dem Persönlichen ist die Thätigkeit, mit der menschlichen Gestalt der Gebrauch ihrer Organe schon gegeben. Die Idee, die hinter dem Symbole lag, wird also jetzt vom Gott als Handlung in der Succession der Zeit ausgeführt, sie wird ideale Geschichte und dieß ist Mythus . Mythus ist Vorstellung einer Idee, welche zu allgemein oder abstract, zu losgetrennt aus der Gesammtheit der Ideen ist, um die bewegende Seele einer wirklichen Geschichte zu sein, als einer für sich und in dieser Abstraction Geschichte constituirenden. Trotz dieser Abstraction wird die Idee doch als hinreichende Seele, als Zweck eines Gottes vorgestellt. Es ist daher ganz richtig, den Mythus als das in Handlung auseinandergelegte Symbol zu fassen, wie Baur (a. a. O. Th. 1, S. 39 ff). Das treffendste Beispiel des eigent- lichsten Eintreffens dieser Bedeutung des Mythus gibt der Schlauch des Marsyas nach O. Müller (a. a. O. S. 113). Allein die Aus- einanderlegung ist zugleich Aufhebung des Symbols als eines solchen: was todte Bedeutung des ruhenden, räumlichen Symbols war, ist warm- blütiger Wille einer Person geworden. Der Orient nun begnügte sich ebensowenig damit, die lebendige Person hinter der Natur-Erscheinung zu ahnen, als er zufrieden war, die todte Bedeutung in der bloßen Anschauung der letzteren zu suchen; vielmehr wie er sie als Symbol zum innern (und sofort äußern) Bilde erhob, ebenso nahm er auch den geahnten Gott heraus, stellte ihn sich getrennt von ihr als ein Wesen mit menschlicher Gestalt vor und setzte diese in Bewegung, die Person in Handlung. Der Orient hatte also mehr, als Symbole, er hatte Mythen, und zwar selbst die einfache persische Religion hatte solche im Kampfe des Ormuzd und Ariman u. s. w. Allein es blieb dennoch bei dem bloßen Ansatze, die Personbildung blieb unvollkommen, unreif, die Ablösung, die Herausschälung des Gottes aus dem Symbol unvollständig, oder, wie Hegel sagt, die Personifica- tion oberflächlich. Die Beweise dieses Zurücksinkens aus dem Mythus in das Symbol liegen darin, daß die Gestalt wieder aus der menschlichen Form gerückt wurde durch Hinzufügen solcher Züge, Bildungen, welche nur symbolisch sein können, wie Darstellung in elementarischen Farben (Siwa roth, Wischnu blau u. s. w. als Symbol eines Elements); daß ferner einzelne Organe zu mißverhältnißmäßiger Größe aufgetrieben wur- den, was ebenfalls sogleich die symbolische Absicht verräth: so namentlich die Zeugungs-Organe, und es war zwar mythischer Fortschritt, Katego- rieen wie Causalität u. s. w. als Zeugung vorzustellen, allein dieß daran war blos symbolisch, daß man die Zeugung und ihre Organe selbst wieder isolirte und ihr Verhältniß zum Ganzen der Gestalt und Person umkehrte; weiter, daß die organisch nothwendige Zahl der Organe (Arme, Füße, Brüste, selbst Köpfe,) vervielfältigt oder gar mit thierischen vertauscht wurden; endlich aber vorzüglich darin, daß die erdichtete Handlung nicht wahre Handlung, sondern theils Naturact (wie eben das Zeugen) war, theils vorherrschend an ihre Stelle das Leiden trat (Osiris, Adonis), theils daß sie nur symbolische Handlung war. Mit diesem letzten Be- griffe weichen wir, so scheint es, von dem richtigen Sinne des Symbols als eines räumlichen, ruhenden Körpers, der eine ihm fremde Idee be- deutet, ja von unserem eigenen Satze, der den Mythus in das successiv Bewegte des Thuns setzt, völlig ab; allein wir verstehen die symbolische Handlung so: dem Gotte soll es mit seinem Thun ein Ernst sein, der Zweck sein Gemüth bewegen; Handlungen aber wie die Verstümmlung des Osiris durch Typhon, das Durchbohren des Stiers durch Mithras geschehen nicht oder nicht im Ernste mit Gemüthsbewegung, da ist das Einzelne, das verstümmelte Glied, der Dolch, die Wunde, das Blut u. s. w. das Wesentliche, es ist nur eine, durch kein innerlich lebendi- ges Thun in beseelten Fluß gebrachte Reihe von Symbolen, und so ver- hält es sich auch mit den religiösen Ceremonien, die der Priester verrichtet und die wir ohne Widerspruch mit dem wahren Sinne des Symbols sym- bolische Handlungen nennen. Um dieses Zurücksinkens in das Symbol willen kann man nun aller- dings die Göttergestalten der orientalischen (nicht der griechischen) Reli- gion noch symbolisch nennen, wenn man nur hinzusetzt, daß sie dieß durch einen Widerspruch sind. Osiris bedeutet die Sonne, den Nil (den Ackerbau, die Staatengründung eigentlich nicht, darin ist er wieder mythisch, denn das ist sittlicher Zweck), Ormuzd das Urlicht, die Sonne u. s. w. Und so haben wir schon hier die Ineinanderschachtelung von Symbolen: der Gott bedeutet eine Naturerscheinung, diese eine Naturkraft und die Naturkraft überhaupt. Allein dieß Ineinanderschieben verviel- fältigt sich auch abgesehen davon durch die Vielfältigkeit der rein symbo- lischen Bilder, die, um verschiedener Vergleichungspunkte willen, dasselbe Naturobject bedeuten, während dieses wieder die Naturkraft und die Na- tur überhaupt bedeutet. §. 428. Neben der Göttersymbolik ergreift die orientalische Phantasie allerdings 1 zunächst unbefangen auch die ursprüngliche Stoffwelt und hier erweitert sie sich in mehr zusammenhängender Weise zu der Richtung auf die menschliche Schön- heit, insbesondere in der Sage , welche die gegebenen Anfänge der Geschichte idealisirt, während der Mythus eine bestehende Ordnung dadurch zu erklären sucht, daß er die Idee derselben als Geschichte in die Urzeit wirst. Allein 2 jeder Zusammenhang dieser Richtung der Phantasie wird dadurch wieder zerbro- chen, daß theils die Einmischung des symbolischen Halbmythus die Naturgesetze jener ursprünglichen Stoffwelt durcheinanderwirft, theils die Sage für sich schon durch unvermittelten Ruck ihres Stoffs in die Idee dasselbe thut. 1. Man weiß, wie viele menschlich schöne Darstellungen sich im Orient neben den symbolischen finden; wir dürfen nur an die Bilder der Gewerbe, des Cultus, des Kriegs in den ägyptischen Hypogäen, in indischen, persi- schen, babylonischen Tempeln und Pallästen, an die Sakontala, an die Helden- gedichte erinnern, die keinem Volke des Orients fehlten. Der ursprüngliche Stoff wurde theils direct, theils in der Weise der Sage in das Schöne erhoben. Hier findet der Unterschied von Mythus und Sage, wie ihn George (Mythus und Sage) scharfsinnig entwickelt hat, nachdem wir den Ausdruck Sagenbildung zu §. 419 allgemeiner gebraucht haben, ihren Ort. Dieser allgemeinere Gebrauch war erlaubt, weil der Mythus wie die eigentliche Sage ein Gewächse der von Mund zu Mund gehenden Ueberlieferung ist; nun aber sind die Begriffe genauer auseinanderzuhal- ten. Der §. nimmt zur allgemeinen Begriffsbestimmung des Mythus, als Bildung einer geschichtlichen Thatsache aus der Idee heraus, wie sie George gegeben, sogleich die weitere herauf, daß der Mythus „auf die Uranfänge der Erscheinungen zurückgehen will, von denen der jetzige Zu- stand herkommt“, daß er daher mit dem wunderbaren Bilde, das er ohne Rücksicht auf die Gesammtwelt der Erscheinungen aus seiner vereinzelten Idee herausspinnt, den leeren Raum der dunkeln Urzeit bevölkert, die dem Heroenalter eines Volks vorhergeht. Hier haben wir nur noch einen naheliegenden Einwurf gegen unsere ganze Grundlegung der Phantasie- thätigkeit zu berücksichtigen. Der Mythus geht von der Idee aus, wir aber forderten schlechtweg für die Phantasie überall ein Ausgehen von der Erscheinung, und so könnte man nun sagen, da der Mythus dieser Be- stimmung gemäß von der Idee ausgeht, warum die Phantasie überhaupt, also auch die freie, nicht denselben Weg sollte einschlagen können? Allein man bemerke wohl: gegeben ist auch dem Mythus sein Ausgangspunkt, die vorliegende Naturordnung, die vorliegende Ordnung des Staats und aller menschlichen Thätigkeit, Ackerbau, Gesetz u. s. f, oder der Gottes- dienst, seine symbolischen Handlungen. Das ist sein Stoff (Süjet), das sucht er aus einer göttlichen Handlung, Einsetzung in der Urzeit zu erklären und zu begründen. Auch die freie, nicht mythische Phantasie verfährt oft in dieser Weise der Erläuterung; ein interessantes Beispiel davon, die Entstehung von Kleists zerbrochenem Kruge, gaben wir zu §. 393, im Kleinen entsteht noch täglich Mythenartiges auf diesem Wege, wie wenn Einer eine rothe Nase hat, leicht der Mythus sich bildet, daß er trinke. Nur hält die freie Phantasie ihre erläuternde Erfindung nicht für Geschichte, wie der Mythus. Hier aber reden wir von dem Gemeinsamen, daß der Mythus so wenig wie diese unmittelbar von der Idee ausgeht und indem er ein Bestehendes erläuternd, Geschichte aus der Idee spinnt, so nimmt er zudem wieder eine aus der Erfahrung in die Einbildungskraft gesammelte Bildermasse menschlicher Schönheit zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er sich der Idee als solcher kei- neswegs bewußt, daß sie nur ein treibender Instinkt in seiner Erfindung ist. Die Unterscheidung eines philosophischen und historischen Mythus müssen wir schon deßwegen verwerfen. Sie hat nur soweit Grund, als es neben Mythen, welche ein Bestehendes in dieser Weise erläutern und so mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher sehr erkennbar die Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogonischen Mythen (O. Müller a. a. O. S. 71), auch solche gibt, welche nicht unmittelbar Bestehendes erläutern, sondern von Bestehendem, wie z. B. den jetzigen Sitzen der Volksstämme, zuerst auf geschichtliche Thatsachen, namentlich die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha- ten der Urzeit zurückgehen und dann diese Thatsachen erst auf göttliche Handlungen zurückführen: so z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt von Aulis, die Pest im Lager vor Troja. Allein was der Mythus zum Behuf dieser Zurückführung erzählt, ist ja auch hier immer erdichtet und historisch nur dieser Rückgriff auf Thatsachen, der in die Mitte geschoben wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die historische That- sache schon vorher auf einem andern Wege von der Phantasie ergriffen war, in der Weise der Heldensage nämlich, und daß also der sogenannte historische Mythus nichts ist als „Mythus an der Sage“ (George a. a. O. S. 102): diese hat das geschichtlich Gegebene ergriffen und der My- thus, der Bestehendes durch reine Erfindung einer Geschichte erläutert, faßt einen ihrer Punkte wie eine bestehende Gegenwart oder wie eine Thatsache, die einst bestand, die er erklären müsse, auf, also z. B. jene Pest. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatsachen der Zeit aus, da es noch keine kritische Geschichte gibt, also der heroischen Vorzeit. Es sind diese Thatsachen, die sie weiter erzählt, aber je länger je mehr umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müssen, daß diese Um- bildung in einem steigenden Mißverständniß der Idee und daraus fol- gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatsache bestehe; es genügt, auch hier die Vereinzelung der Idee, die Trennung vom Umfang der Ideen und der Erscheinungen, also von der strengen Be- dingtheit alles Geschehenden als Grund der Umbildung in das Unmög- liche anzunehmen. Das Verdienst der großen Führer der Völker, der Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich- tig, aber sie vergißt, daß dieß Verdienst nur in den Bedingungen der Natur und aller Geschichte handeln konnte, isolirt es, nimmt für voll auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienst Vieler möglich war, und erweitert ihre Gestalten über alle Schranken der menschlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, sie hängt alles Verwandte an ihn. So fließen in Faust alle Zauberer, in Eulen- spiegel alle Schwänkemacher des Mittelalters zusammen, so hängen sich an Odysseus die Schiffermährchen der Griechen u. s. w. Ja sie verän- dert wohl rascher die Schicksale, als den Typus; so muß Dieterich von Bern, damit sich die Sage das Bild des geprüften, besonnenen Helden bewahre, ein unglücklicher Verbannter werden. An die Sage hängt sich dann überall da der Mythus, wo eine Grenze der Selbsterkenntniß oder der Naturkenntniß auszufüllen ist: so die Selbstbezwingung des Achilles im Streit mit Agamemnon, so die Pest im griechischen Lager. 2. Die Sage hat also wirkliche Menschen zum Stoffe, steigert sie aber bereits in die Transcendenz der zweiten, fictionären Stoffwelt, der Mythus hängt sich an sie und vollendet diese Steigerung. Ebenso greift aber der Mythus in Alles und Jedes ein, was die unfreie Phantasie irgendwie aus der ursprünglichen Stoffwelt aufnimmt, und so haben wir eben die Durchlöcherung der ganzen Wirklichkeit, von der wir schon mehr- mals gesprochen. Man sehe die Sokontala an; sie beginnt rein mensch- lich, führt dann ein übernatürliches Motiv der Katastrophe, Verlust des Gedächtnißes durch Verlorengehen eines Rings undramatisch ein, führt Held und Heldinn in die Lüfte und stößt allen Boden der Wirklichkeit unter den Füßen weg. Es ist unter 1 . gesagt, daß der ursprüngliche Stoff theils direct, theils in der Weise der Sage ergriffen werde; allein des direct Ergriffenen bleibt unter den Einmischungen mythischer und sagen- hafter Phantasie wenig oder nichts übrig, das wenige wunderlos Mensch- liche und Natürliche verliert sich in dem allgemeinen Zuge zum Wunder- baren. §. 429. Dualistisch ist aber die Phantasie des Morgenlands nicht nur in ihrer symbolischen Methode, sondern auch in der Art des Stoffes, den sie erdichtet. Dieser Dualismus spricht sich als herrschendes Gesetz der zweiten Stoffwelt theils dadurch aus, daß neben den leeren Abgrund einer vorgestellten höchsten Einheit ein reicher Gestaltenkreis von Göttern fällt, theils in der Gegenüber- stellung männlicher und weiblicher Gottheiten, theils aber und besonders in dem Kampfe eines guten und bösen Gottes. In Indien ist Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden Atma genannt) das unterschiedslose Urwesen, ihm gegenüber steht die Trimurti und die üppige Fülle untergeordneter Götter und Geister. Das Brahma hat die Maja, der Brahma die Saraswati, Wischnu die Lakschmi, Siwa die Parwasi u. s. w. zum weiblichen Gegenbilde, das immer das empfangende Prinzip gegenüber dem zeugenden (Erde und Sonne u. s. w.) darstellt. Der eigentliche Dualismus tritt dann im verzehrenden Siwa und den, das zerstörte Band mit der übersinnlichen Welt herstellenden Awataren Wischnu’s auf. Das dunkle Urwesen ist in Persien Zeruane Akerene gegenüber der concreten Götterwelt, weibliche Form spielt in dem männlichen Geiste dieser Religion allerdings keine Rolle, aber der volle Dualismus ist in dem Kampfe des Ormuzd und Ariman um so stärker ausgesprochen. Den vorderasiatischen Semiten fehlt nicht das eigen- schaftslose Urwesen: so verehrten die Babylonier die Allmutter Omoroka; in der persönlichen Götterwelt herrscht hier durchgängig der Gegensatz einer männlichen und weiblichen Hauptgottheit, Sonne und Mond, Him- mel und Erde (Baal und Mylitta der Babylonier u. s. w.); der eigent- liche Dualismus aber als Kampf eines guten und bösen Gottes tritt bei Syrern und Phöniziern ebenso auf wie bei Aegyptiern: dort ist es Ado- nis und Typhon, hier Osiris und Typhon. Das dunkle Urwesen ist bei den Letzteren unter der Form des Ammon, Ptah, vorzüglich aber der Neith mit der geheimnißvollen Inschrift ihres Tempels zu Sais zu er- kennen und den Gegensatz einer weiblichen und männlichen Hauptgottheit (Isis und Osiris) theilen sie ebenfalls mit den Semiten. Die Juden selbst haben sich keineswegs vom Dualismus befreit; Satan ist Ariman, Typhon. Dieß Prinzip gegenüberstellender Theilung entspricht ganz der verstei- nerten Scheidung der Stände und Thätigkeiten in den orientalischen Staaten, deren harte Nothwendigkeit selbst wieder in der Vermengung des Gött- lichen und Weltlichen ihren Grund hat. Der Despot ist unbegriffene Macht wie die dunkle Urgottheit, aber ebensosehr erkennt man in ihm den obersten persönlichen Gott mit seinen Geistern und Heerschaaren. In Indien stehen über den Königen die Bramanen, sie stammen aus dem Munde Brama’s, die Krieger und Könige sind aus den Armen, die Ge- werb- und Ackerbautreibenden aus der Hüfte, die Dienenden aus dem Fuße entsprungen. Man sieht sogleich, wie solche theilende Symbolik dem In- teresse des Schönen, das wir nun wieder aufnehmen, im Innersten widerstreitet. §. 430. Diese Gegensätze sind aber nicht zugleich ästhetische, denn die unreife 1 Phantasie ist überhaupt noch vom Interesse des Symbols gebunden. Von den in §. 404 aufgestellten Arten nun muß ihr vorzüglich die bildende und in dieser die messende zufallen, von den in §. 402 aufgeführten die erhabene . Allein der Dualismus als Symbolik bestimmt diese messende Erhabenheit zu dem 2 Drange, die fehlende Qualität durch Quantität zu ersetzen, und treibt sie in das Formlose und Ungeheure, in das überladen Prachtvolle, insbesondere, wo Vischers’s Aesthetik. 2. Band. 28 sie in das Gebiet der dichtenden tritt, in Häufung der Vergleichungen- der Dualismus im Sinne von §. 429 wirst sie aus allem Maaß hinaus in das Weite einer schweifenden, verschwimmenden Gestaltenbildung. Aus beiden Gründen ist ihre Welt ebenso ungemessen, als gemessen, und artet vom zufällig gefundenen Schönen traumartig (§. 406) in’s Häßliche und Abgeschmachte aus. In 3 allen ihren Formen aber bleibt sie dunkel . Zugleich hindert die Unfreiheit den Fortschritt und fesselt die unreife Gestalt durch die Satzung als Typus. 1. Wären wir in einem rein ästhetischen Gebiete, so hätten wir die Gegensätze des genannten Dualismus sogleich auf ästhetische Formen redu- ziren müssen. Bei dem dunkeln Urwesen hätte die Frage nach dem Tra- gischen zur Sprache kommen müssen, die Gegensätze in der Götterwelt hätten auf männliche oder weibliche Idealbildung, gut und bös auf schön und häßlich geführt. Allein was immer der Inhalt sei, die Behandlung bleibt symbolisch und da kann das Gute ebenso häßlich erscheinen, als das Böse. Das Gestaltenbilden ist zwar dieser Phantasie ein ganzer Ernst, sie hat die Wahrheit nicht auf andere Weise; aber es ist ihr damit auch zu sehr Ernst, sie hat dabei das Interesse, die Wahrheit zu finden, da- her ist ihr das Schöne nicht Zweck. Wir ziehen jetzt das Resultat dieser Stufe der Phantasie für den rein ästhetischen Gesichtspunkt, indem wir dieselbe, nachdem wir sie zuerst an die in §. 403 aufgestellten Arten ge- halten haben, nun auch an die übrigen halten. Daß sie überhaupt bil- dend ist, braucht keines neuen Beweises. Der sinnliche Mensch ist wesent- lich auf das Auge gestellt und die ganze Naturreligion ist ein Augen- Aufschlagen über die großen Naturwunder. Nur an der Grenzscheide wird sich uns ein subjectiver Eingang in’s Innere und daher die Gestalt der empfindenden Phantasie aufthun. Allein nicht auf das tastende Sehen wird diese Weltanschauung organisirt sein: dieses ist schon voll Formsinns und zwar vorzüglich für die menschliche Gestalt, welche ja nur sehr kärg- lich von der orientalischen Phantasie unter die Sphären ihres Stoffs ge- zogen wird; noch weniger auf jenes eigentliche Sehen, das im Licht- und Farbenschein der Oberfläche den Reflex des Innern erfaßt. Nur das messende Sehen bleibt also übrig. Nicht organische Verhältnisse, sondern Größen-Verhältnisse sind es, was die symbolische Phantasie erfaßt und fortbildet. Der Umfang imponirt dem Naturmenschen, das Weite, Breite, Hohe in der Wirkung der Naturkräfte. Nun muß aber seine Phantasie auch thätig sein und diese Thätigkeit ist im Schaffen immer zugleich be- grenzend. Der symbolische Standpunkt zwängt aber in das Bild eine ihm fremde Idee; diese kann jenes nicht organisch beseelend durchdringen, sie kann ihm nur abstracte Grenzen geben und es so binden, wie die tropische Pflanzenwelt (§. 278) nach der einen Seite krystallisch streng gebunden erscheint. In der Kunstlehre dürfen wir nur die Schlußfolge- rung daraus pflücken, so wird einleuchten, daß die eigentliche Kunst der orientalischen Völker die Baukunst war. Die dichtende Phantasie nun muß, weil sie alle andern Arten (§. 404) in sich begreift, natürlich auf allen Stufen hervortreten; das Verhältniß wird aber dieß sein, daß je die Art, welche den Standpunkt einer Stufe bestimmt, in der dichtenden, soweit sich dieselbe in sie erstreckt, den spezifischen Charakter bedingt. Es versteht sich ferner, daß, an die Arten von §. 402 gehalten, die symbolische Phantasie wesentlich eine erhabene sein muß, denn das Bild ist in ihr als negativ gegen die Idee gesetzt (vergl. Hegel Aesth. Th. 1. S. 392). Freilich wird die Idee selbst wieder als sinnliche Ausdehnung gefaßt, diese Phantasie als messende bildet daher zunächst im Sinne des Erhabenen des Raums und der Zeit (§. 91 — 94), zwar auch des Erhabenen der Kraft, doch so, daß sie dieses unter die Verhältnisse des ersteren stellt, indem sie es in colossale Raum- und Zahlen-Maaße setzt. Auch so weit sie auf das Erhabene des Subjects sich einläßt, woraus Göttergestalt und Heroensage entsteht, muß sie, weil ihr die sittliche oder überhaupt geistige Größe immer wieder Naturmacht ist, es unter denselben Verhält- nissen anschauen: der Gott, König, Held ist immer von übermenschlicher Größe u. s. w. Das Tragische muß in dieser Phantasie eine große Rolle spielen. Da auch die persönlichen Götter nur flüchtige Schattenbilder vereinzelter Momente der Idee sind, so haben sie, was Götter eigentlich nicht haben sollten, ein Schicksal, das dunkle Urwesen ist ihr Despot (Götterdämmerung und die verwandten Vorstellungen des Orients). Sie kämpfen tragisch unter sich. Die Menschenwelt aber, soweit sie aufge- nommen wird, hat ebenso ihr finsteres Schicksal nicht nur in ihrer eige- nen Sphäre, durch die Despotie, sondern auch durch die göttlichen Mächte; sie schlagen sinnlos ein, wie in Nal und Damajanti. Da nun aber auch diese Macht nur dürftig mit den Keimen der sittlichen Idee schwanger, vielmehr dunkler Naturschooß ist, bleibt es im Tragischen überall bei der Form, die wir (§. 130) das Tragische als Gesetz des Universums nann- ten. Aber diese Form ist hier selbst nicht rein; ein blindes Gesetz darf herrschend erscheinen über das Blinde im Menschen, seine Jugend, sein Leben, sein Glück, seine Schönheit, aber nicht über Geist und Willen in ihm, die doch im Orient irgendwie immer thätig erscheinen, aber vom finstern Schicksal grundlos miterdrückt werden. Hier ist nur noch die Frage zu beantworten, ob eine so dualistische Phantasie nicht wesentlich auch des Komischen mächtig sein werde; allein es erhellt alsbald, daß dazu eine Freiheit des Bewußtseins und daraus fließende wirkliche Ergrei- fung sowohl als Versöhnung des Widerspruchs vorausgesetzt ist, die dieser Weltanschauung noch durchaus mangelt. Es tritt zwar hie und da her- 28* vor; so enthält die Sakontala einige kurze Scenen fast in Shakespeares komi- scher Manier, Duschmanta hat sogar einen Hofnarren; aber dieses Ele- ment hat nur einen schmalen Spielraum da, wo die Götterwelt einen Augenblick vergessen wird. Die maaßlose Sinnlichkeit des Gottesdiensts mag wohl auch ihre ungeheuern Obscönitäten mitunter komisch gewendet haben, doch erst da sie schon aufhörten heilig zu sein, wie denn die Zoten algierischer Theaterpossen noch heute an den Lingamdienst erinnern. Ferner trat das Komische in der Fabel hervor, diese gehört aber ihrem Begriff nach ebenfalls an das Ende dieses Ideals und wir können die ganze Form der Phantasie, wozu sie gehört, erst am Schluße der Phantasie des Alter- thums überhaupt einführen. 2. Es ist falsch, wenn Hegel das Erhabene erst mit der symbolischen Kunstform (theils überhaupt, theils insbesondere mit der mosaischen Re- ligion) einführt. Jede geschichtliche Hauptstufe der Phantasie hat ihre Erhabenbeit ; die orientalische unterscheidet sich allerdings dadurch, daß sie das Erhabene zu ihrem Hauptstandpunkte macht, allein es ist nicht das Erha- bene überhaupt, sondern es ist ein unreif Erhabenes, wie alle ihre Formen. Sie setzt das Bild negativ gegen die Idee, aber nur in der Weise des Symbols. Die Idee ist nicht als Geist gefaßt, daher nicht als Persön- lichkeit, daher hat sie nicht ihren menschlichen Leib, den sie immanent einwoh- nend auf ächt erhabene Weise beherrschen könnte. Wohl tritt menschliche Ge- stalt auf, aber sie sinkt ja wieder in’s Symbolische, ebenso Thier- und Pflan- zengestalt. Da nun diese Leiber und so alle Gebilde hier nicht sich selbst bedeuten, so treibt die Phantasie, was Hegel nicht bloß als Zug der indi- schen (a. a. O. S. 436) hätte anführen sollen, ihr Bild in’s Maaßlose auf, wie z. B. das Zeugungsglied, das Weltei, häuft Zahlen, Glieder in’s Ungeheure. Das Aeußerste dieser Auftreibungen erschien noch spät im Talmud. Als Häufung kostbaren Schmucks wirkt diese Maaßlosigkeit im Sinne des Prachtvollen (vergl. §. 98) und eine besondere Wen- dung nimmt dieß in der dichtenden Form. Die Grundlage wird auch hier, wie gesagt, immer der Standpunkt der bildenden Phantasie sein, das Geistige selbst wird in der Form bauender Naturkräfte erscheinen. Hier besonders aber wird der Weg des Prächtigen eingeschlagen werden, das Unzulängliche des Symbols auszufüllen, und zwar durch die Verglei- chung (vergl. §. 405). Das Subject, das verglichen wird, ist symbolisch dunkel; um das Dunkel aufzuhellen wird nun Bild um Bild herbeige- bracht und prachtvoll gehäuft. Noch heute ist Ueberfluß der Vergleichungen in der Dichtung ein Beweis unzulänglicher Phantasie, welche eine fehlende Qualität durch Quantität zu ersetzen sucht. 3. So wirkt der Dualismus als Symbolik; dazu kommt aber noch der Dualismus in der erdichteten Stoffwelt. Das Urwesen ist leer, die persönliche Götterwelt übervoll. Es ist, wenn einmal die Natur vergöttert wird, keine Grenze abzusehen; zwar hält sich (vergl. §. 425 Anm. 1 ) der Polytheismus an die bedeutendsten Erscheinungen als Grundlagen, aber neben diesen besteht die ganze übrige Welt. Wie soll sich die nicht vergötterte Welt zu dem vergötterten Theile verhalten? Jede andere Er- scheinung kann wieder als Symbol der vergötterten Haupterscheinungen gefaßt werden. Das Symbol wird nicht als bloßes Symbol gewußt, das Lauern der Bedeutung hinter den Erscheinungen ist geisterhaft: so schimmert Alles in Alles, nichts ist fest und wie im Traum die Gestalten schwellend quellen und gaukeln, verwandelt sich die Welt in ein wirres Gaukelspiel. Der §. nennt daher, und weil schon in jenem Auftreiben und prachtvollen Häufen das Maaßlose liegt, die Welt dieser Phantasie ebenso ungemessen, als gemessen. Dieß will sagen, theils, daß Einiges gemessen, Anderes ungemessen, theils aber auch, daß das Gemessene selbst ungemessen sei. Drückt nämlich diese Phantasie ihre symbolischen Ahnungen im eigentlichen Messen (in der Baukunst) aus, so muß sie wohl auch das Ausgedehnteste noch messen, ein Abschluß muß also da sein, aber häufig wird es an regelmäßiger Anlage, wie namentlich in den indischen Höhlentempeln, an einem ästhetisch befriedigenden Abschluß fehlen, was insbesondere der ägyptische Tempelbau zeigen wird, oder wird zwar das Ganze wohl abgeschlossen, aber in sich zu wenig gegliedert sein (wie die Pyramiden und And.). Ferner in organischen Bildungen wird zwar auch das Maaßlose gemessen sein: so sind die Köpfe, Arme der irdischen Götter freilich gezählt, werden Maaße des Welteis u. s. w. anzugeben versucht; aber der gemessene Stoff ist doch so übertrieben, daß die wahre Form des Gegenstands aufgehoben und das Maaß nur äußere Grenze des in sich verworren Maaßlosen ist. So ist auch in einem Menschenleib mit Thierkopf jedes wahre, von innen gegebene Maaß auf- gehoben. Neben diesem äußern Messen des innerlich Maaßlosen gährt nun aber eine unendliche Masse von Bildern auf, die gar kein Maaß mehr haben und wild ineinander übergehen. In dieser Ueppigkeit glaubt man dann die andere Seite der Pflanzenwelt heißer Zonen, die bunte, wuchernde Pracht zu erkennen. Eine solche Phantasie aber muß nothwendig in das Häßliche und Abgeschmackte haltlos übergehen. Dieß Häßliche ist dann nicht etwa eine ästhetisch beabsichtigte und ebendaher sich in’s Furchtbare oder Komische rein auflösende Häßlichkeit. Nicht bloß die bösen Götter, Siwa, Ariman, Typhon werden häßlich dargestellt, sondern häßlich werden auch die Darstellungen des Guten und Heilsamen durch die Incongruenz des Bildes. So ist der Phallus ein Bild der heilsamen Kraft, aber diese Isolirung eines sinnlichen Organs empörend häßlich. Nun wurde wohl in §. 108 Anm. 1 zugegeben, daß die wahre und ganze Häßlichkeit nur diejenige sei, in welcher das Böse sich darstelle, und in §. 406, a . die schlechte Gesinnung als innerer Grund der häßlichen Phantasie gesetzt; die symbolische Phantasie aber ist ja unschuldig, da ein solches Bild auf eine ehrwürdige Idee hindeuten soll. Allein eine Zuchtlosigkeit kommt hier doch zum Vorschein und der scheußliche Gottesdienst, der dazu gehörte und den wir namentlich bei Syrern und Phöniziern finden, erscheint allerdings als Verwilderung des Menschen, weil wir auch der Menschheit vor der Bil- dung ein Gefühl und Ahnung des sittlichen Maaßes, das sich zum schönen ge- stalten müßte, zutrauen dürfen; es gibt in gewissem Sinn doch eine Sünde vor dem Sündenfall und ein wüstes Wühlen im Schmutze, wo schon An- sätze der reineren Anschauung sind, die es Lügen strafen. Auch eigentlich wilde Völker bilden Larven und Fratzen, die eine Ausartung mitten in der rohen Natur selbst zu erkennen geben; die liebe Natur hat auch ihre Laster der Cultur. So bewährt sich, was am Schluß der Anmerkung zu §. 424 gesagt ist. Aber auch das Häßliche, wo es hingehört, das Häß- liche der bösen Götter, ist nicht wahrhaft ästhetisch häßlich; der zähne- fletschende Siwa mit dem Halsbande von Schädeln, der Drache Ariman u. s. w. sind gespenstisch schauderhaft, ohne sich, wie der christliche Teufel, komisch oder durch eine Untiefe geistig bösen Ausdrucks in das wahrhaft Furchtbare aufzulösen; denn das Böse selbst ist ja wieder nur die zer- störende Naturmacht und das Häßliche muß das Auge verletzen, um diese Leerheit zuzudecken. — Daß in dieser Welt Alles dunkel bleibt, folgt von selbst; dunkel nicht nur für die späte Nachwelt, sondern für die Mit- welt und den hervorbringenden Geist selbst. Das Schöne aber soll sich selbst erklären. Wir werden den Begriff des Typus in der Kunstlehre wieder aufnehmen müssen, aber sein innerer Grund liegt in der Fesslung der Phantasie durch den unfreien Schein der Religion. Unreife Formen er- scheinen gerade wegen ihres Dunkels ehrwürdig und heilig, da entsteht eine Scheue, oder, wie in Aegypten, eigentliche Priestersatzung, welche die Phantasie auf dem Standpunkte einer bis zu einem gewissen Grade vor- gedrungenen Entwicklung hemmt. Natürlich ist es dann die Ausführung, worin man den Fortschritt nicht zuläßt, aber das Phantasiebild selbst, das dieser darstellen wollte, gilt für frivol. Gebundenheit in allem Ueberschwel- len ist der weitere Charakter dieser Phantasie. §. 431. 1 Die indische Phantasie legt das stärkste Gewicht auf den dunkeln Ab- grund der höchsten Einheit (§. 429) und indem die Bewegung aus ihm und zu ihm das erste Gesetz einer reich hervorsprudelnden Gestaltenwelt ist, so ver- schwimmt diese unstet in allgemeiner Flüsstgkeit. Hier vorzüglich erscheint daher im Uebergewicht des Ungemessenen über das Gemessene das Traumartige als der Grundcharakter, in welchen alle Züge, auch der des seelenvollen Natur- gefühls und schwungvolleren Formsinns, in kraftlose Weichheit aufgelöst zusam- mengehen. Dagegen kommt die persische Phantasie kaum in Betracht; der 2 Dualismus, der ihr Grundzug ist und von noch nicht symbolischer Anschauung der Lichtwelt durch sparsame Symbole zu einer einfachen Mythenbildung fort- schreitet, verkündigt das zum Handeln bestimmte Volk, dessen Formsinn aller- dings mehr zur ursprünglichen Stoffwelt sich neigt und dem Schwunge strengerer Schönheit nahe kommt. 1. Wir haben also wieder jene Völkerpaare vor uns, von denen je das eine Volk mehr Subject, das andere mehr Object der Phantasie ist, das eine mehr Schönheit, das andere mehr Stoff für Schönheit er- zeugt, das eine contemplativ, das andere praktisch ist. So verhält es sich in der folgenden Gruppe mit den Aegyptiern gegenüber den Semiten, von welchen letzteren jedoch die Juden in anderer Beziehung sich unterschei- den und wenigstens negativ, als die Grenzscheide der Naturreligion bildend, für die subjective Seite bedeutender werden. Am wichtigsten bleiben die Indier und Aegyptier; sie verhalten sich zu einander wie erstes, ursprüng- liches Hervorquellen der symbolischen Phantasie in üppigem Erguße und besonnene Sistirung dieses Flusses. Hegel hat die indische Religion über- haupt von dieser Seite gefaßt, hat ihren ästhetischen Charakter zum Definitionsgrunde ihres Wesens überhaupt erhoben und sie als Religion der Phantasie, ihren Standpunkt als den der phantastischen Symbolik bestimmt. Wir stellen dieser Bestimmung eine andere, neuerdings hervor- getretene gegenüber. E. Meier (die ursprüngliche Form des Dekalogs S. 89 ff.) will vielmehr das innerste Prinzip des so gestaltenden Bewußt- seins zu dem den Ort dieser Religion bestimmenden Grund erhoben wissen und dieses faßt er (gegenüber der chinesischen Religion) als Erhebung des Geistes aus dem Taumel des Naturlebens, in das er einerseits versenkt ist, in die reine Einheit des Universums (des Brahma). Diese Einheit, unterschiedslos und dunkel, kann nicht Object sein, nicht verehrt werden, die Erhebung dahin ist brütende Abstraction von allem Sinnlichen, Ver- senkung in sich, bewußtlos, dumpf, weil das Absolute nicht als Geist gefaßt, sondern selbst nur dunkler Naturschooß, trüb ascetisch, weil das Wirkliche seine Negation ist. Die Versenkung in das Mannigfaltige, der Tau- mel der Sinnlichkeit ist der andere Pol und das Band zwischen beiden ist für den Menschen von unten nach oben die Seelenwanderung, für die Welt überhaupt von oben, von Gott aus nach unten die Awataren, die ihren höch- sten Abschluß in der Geburt Wischnu’s als Buddha, als Mensch, der durch reine Contemplation identisch mit Brahma ist, finden. Um dieses Zwie- spalts willen nennt er die indische Religion die des radicalen Bösen. Für unsern ästhetischen Zusammenhang ist jedenfalls das bildende Verfahren in dieser Religion zu wichtig, als daß wir nur vom Endzwecke des Be- wußtseins, das diesem Verfahren zu Grunde liegt, ausgehen dürften; in der That aber lassen sich beide Bestimmungen, wie im §. geschehen, zusammenfassen. Der Grund nämlich, warum die bunte Götterwelt, die sich aus dem dunkeln Urwesen durch Ansammlung von Local- und Sec- tenculten von der Trimurti durch die Götter zweiten Rangs bis zu der Masse untergeordneter guter und böser Geister herab fortspann, durch- gängig den traumartig gaukelnden Charakter hat, worin Alles schwimmt, schwillt, ineinander übergeht, Jedes jeden Augenblick in das Göttliche aufgähren und dieses in jeden noch so sinnlichen Zusammenhang wie mit gleichen Füßen hereinspringen kann: der Grund davon ist eben im ethi- schen Bewußtsein der stete Ausgang von und Rückgang zu der dunkeln Einheit in Brahma; die Festhaltung des gestaltlosen Grundes ist es, die alles Gestaltete in stetem Fluß erhält; sie ist die dunkle Grotte, worin der Geist in Traum sinkt und seine trunkenen Gestalten in geisterhaftem Wechsel, steter Metamorphose an sich vorüberschweben läßt. Der bewegungs- los sinnende Brahma, der brütende Buddha und der wilde, tanzende Siwa sind recht die Repräsentanten beider Pole dieses zwiespältigen Geistes, der jedoch seine Gegensätze nicht trennt, sondern fließend erhält, daher die Bezeichnung: radicales Böses jedenfalls zu viel sagt. Wir halten uns nun nicht weiter bei dem auf, was diese Phantasie mit aller orientalischen ge- mein hat, nicht bei den unorganischen, botanischen, thierischen Symbolen, ihrer krausen Zusammensetzung mit der Menschengestalt, ihrer colossalen Größe. Was aber mit jenem schwebenden Charakter ganz stimmt, ist die auffallende Weichheit des indischen Formgefühls. Wir reden hier nicht von der Süßigkeit und Anmuth rein menschlicher Züge, nicht von dem seelenvollen Natursinn, der sich nothwendig in der eigenen Darstellung ebenso zeigen wird, wie im Leben dieses Volkes selbst (vergl. §. 346, 1 .), sondern näher von der speziellen Auffassung der Gestalt. Der indische Formsinn erreicht im Einzelnen einen Schwung, der an der Schwelle des Schönen steht, besonders in den breithüftigen Weibergestalten; für das Weibliche ist überhaupt das feinste Gefühl vorhanden, die heiße Sehn- sucht, der üppige und süße Wollust-Drang der Liebe ist das eigentliche Element dieser keimvollen Religion, die uns von der Brautnacht der Seele mit Gott in das irdische Brautbett und zurück in jene zieht. Doch auch männliche Formen zeigen oft Fluß und Schwung, dem griechischen nahe, auch in Bewegung und Thun, wie denn in Nala und Damajanti die Wagenfahrt des Ersteren offenbar etwas vom Geiste Homers hat. Allein das Straffe und Geschwungene zerfließt überall mitten im Ansatz wieder in breiige Weichheit und Schlaffheit und wie die Glieder der ein- zelnen Gestalt teigig und gelenklos in jede unmögliche Stellung sich ver- biegen, als könnten sie auch weggeworfen werden, so bauscht sich auch das Ganze der Erfindungen in tolle und freche Verwirrung auf, worin namentlich die Symbolik des Zeugens die häßlichsten, die Trübheit der Ascese mit dem Ueberschwang der Zahl die abgeschmacktesten Bilder er- zeugt. Beispiele geben namentlich die Heldengedichte Ramayana und Mahabharata. 2. Die Grundlage der persischen Religion ist allerdings einfache, noch nicht symbolische Anschauung des Positiven und Guten im Lichte, des Ne- gativen und Bösen in der Finsterniß; Ormuzd ist das Fruchtende und Lebenschaffende im Lichte u. s. w. Allein es gibt keine Religion, welche nicht auch den Ansatz zur Personbildung nimmt, und die persische ist ge- rade darin besonders stark, wie sich aus dem ethisch persönlicheren Cha- rakter des Volkes schon schließen läßt. Geister sind es, welche im Lichte und in der Finsterniß wohnen, diese Geister haben wieder ihre Geister, die Amschaspand, Ferwer, Ized und Dew, ja jedes wirklich Lebendige hat wieder seinen Dämon. Zwischen jene unmittelbare Anschauung und diese Personification ist eine sparsame, verglichen mit der indischen Ueppigkeit und Zuchtlosigkeit keusche Symbolwelt gestellt, es sind nament- lich Thiere, natürliche und wunderbare, Stier, Pferd, Einhorn, Löwe, Adler, Greif, worin die einzelnen Momente der Weltkräfte angeschaut werden. In der hellen Deutlichkeit dieses Gestirndienstes nun spielt das ursprüngliche dunkle Allwesen (Zeruane Akerene) nicht mehr die Rolle, wie in Indien. Die concrete Welt leuchtet in ruhiger Pracht, in den vollen Umrissen des Lichts, in der scharfen Absetzung gegen das Dunkel. Eben diese Helle und Bestimmtheit aber drückt auch die ausgebildete Phan- tasiewelt der Personification in den Hintergrund, die Geister sind eine dünne, durchsichtige Gestaltenbildung, die nach keiner vollen Verkörperung strebt; die Götter werden nicht abgebildet, nur die wenigen Symbole. Spielt nun das dunkle Urwesen kaum eine Rolle, so tritt dagegen in dieser scharfen Anschauung des Concreten, des wirklichen Lebens, das aus seinem Schooße hervorgegangen, der offene Gegensatz um so voller und als das Bestimmende hervor: die persische Religion ist vorzugsweise dualistisch. Schon darin, im Kampfe des Ormuzd und Ariman, drückt sich die Span- nung des Sollens, der Standpunkt des Willens aus. Dieser Kampf ist aber wesentlich ein Kampf des Guten und Bösen. Zwar darf man kei- neswegs die reine Idee des Ethischen darin suchen; Naturreligion ist auch die persische, das Gute ist Förderung des Lebens, des Seins, das Böse ist das Schädliche, das Zerstörende in der Natur. Der Mensch soll mit Ormuzd für jenes gegen dieses, das Reich Arimans kämpfen. Allein umgekehrt ist dieß auch eine Grundlage, woran sich das eigentlich Ethische, soweit es in dieser Naturform des Willens zum Bewußtsein kommen kann, von selber ansetzt und baut. Die Völker umspannen wie die Sonne und segensreich beherrschen ist Ziel dieses handelnden Volkes, das ebendaher mehr objectiv Stoff für die Aesthetik ist, als daß es subjectiv solchen schafft. Soweit es nun dennoch auch im letzteren Sinne thätig ist, wird es die Idealwelt seiner Phantasie wesentlich durch das Medium der objectiven Stoffwelt darstellen: der König, sein Hof, seine Siege, sein Wirken, die Ceremonien, worin sich seine Größe repräsentirt, sind das rechte Bild für das Reich des Ormuzd, Städtebau in der Zahl seiner Ringmauern u. s. w. Symbol des Planetensystems. Eine reiche Helden- sage bildet sich aus. Man sieht, wie die gesunde Einfalt dieses Volks sich zur ursprünglichen Stoffwelt hindrängt. Daher ist sein Formgefühl gemessener, als das indische, ruhig, würdig, edel, repräsentativ und feier- lich, Pracht und Majestät sein Grundcharakter. §. 432. 1 Aehnlich verhalten sich die semitischen Völker Vorderastens (die Ju- den ausgenommen) zu den Aegyptiern (vergl. §. 347). Jene sind zu thätig, um in der ästhetischen Formbildung bedeutend zu sein; ihre kargen, übrigens zugleich wild ausschweifenden und melancholischen Religionsvorstellungen arbeiten 2 den ägyptischen vor. In der Phantasie der Aegyptier legt sich der indische Taumel und im Ungemessenen herrscht das Gemessene als beruhigendes Gesetz. Der wahre Grund des Erhabenen, die Negativität des Sinnlichen, tritt als die Vorstellung eines sterbenden Gottes, und zugleich die wahre Idee des Sittlichen als Vorstellung seines Todtengerichts ein, doch hat die letztere nicht die Kraft, den Geist über die abstracte Festhaltung des Todes zu erheben Diese Phantasie wird daher wesentlich todtenhaft . Je näher nun der Auf- gang der Persönlichkeit und daher der menschlichen Schönheit liegt, desto stär- ker äußert sich die Stockung an dieser Schwelle durch das Bedürfniß der Erfin- dung, aber auch durch die bedachtsame Wahl ineinandergeschobener, besonders im Thiere das Geheimniß des Geistes suchender Symbole, deren bunte und doch streng gefesselte Welt in räthselhaftem Schweigen den Charakter des Todtenhaften vollendet. 1. Wir stellen hier die semitischen Völker außer den Juden, Ba- bylonier, Phönizier, Syrer voran, denn was an ihnen allein wichtig ist, das leitet zur ägyptischen Religion hinüber; übrigens verhalten sie sich zu den Aegyptiern wie die Perser zu den Indiern: sie sind ästhetischer Stoff und machen selbst dessen wenig. Wodurch sie nun zu den Aegyp- tiern hinüberführen, dieß ist die Idee eines sterbenden und wieder auf- lebenden Gottes, in welchem zunächst der Wechsel der Sonne, der Natur überhaupt, dann aber auch gewiß eine Ahnung des durch die Negation des Sinnlichen zu seiner Freiheit sich bewegenden Menschengeistes (vergl. Stuhr, die Religionssysteme der heidn. Völker des Orients S. 444) aus- gesprochen wurde: es war Adonis oder Tammuz, um den alljährlich die wilde Klage, dann der helle Jubel erscholl. Noch bestimmter erkennt man diese Sage in Melkarth, dem phönizischen Herkules und seinem Flammentode. Spricht sich so auf der Grundlage der Natursymbolik das erwachte Freiheitsgefühl dieser praktischen und rührigen Stämme aus, so warf sich der gegensätzliche orientalische Geist in ihnen auch mit dem gan- zen verbissenen Eigensinn semitischen Naturells in den Taumel des Na- turlebens, wie um sich das ganze Bewußtsein der Knechtschaft in seinen Banden und daher den ganzen Schmerz darüber in den Untiefen der gründlichsten Wollust zu geben (vergl. E. Meier a. a. O. S. 101). Hier war jener zuchtlose Lingamdienst, jene Preisgebung der Weiber zu Ehren der Astarot, Mylitta, hier Sodomiterei und alle Greuel des Heidenthums. Eine solche Stimmung mußte sich in der bildenden Phantasie die häß- lichste Gestalt geben. In der eigentlich messenden Thätigkeit konnte sie erhaben und prachtvoll sein wie bei allen Morgenländern; dagegen konnte sie in ihrem Uebertritt auf organische Schönheit nur Fratzen erzeugen. Seltsam zusammengesetzte Wunderthiere, Baal oder Moloch mit Kalbskopf und glühendem Rachen, der Fischmensch Dagon, die Zwerggestalten der Pätaken oder Kabiren, meist ithyphallisch wie wohl überhaupt gewöhnlich die Götterbilder dieses Cultus, geben Zeugniß davon. Es tritt übrigens in den Assyrern ein Volk auf, das, wiewohl stark mit Semiten versetzt, doch indogermanischer Abkunft war wie die Perser. Dieses Volk entfaltete für die ursprüngliche Stoffwelt dieselbe gesunde Phantasie wie die letz- tern; daß sie hier eine den persischen Darstellungen verwandte Würde, einen Anklang reinerer Schönheit erreichte, das zeigen die großen neuen Entdeckungen in den Trümmern von Ninive. 2. Die ägyptische Phantasie ist die versteinerte Traumwelt Indiens, ein Haus voll schlafender, auf den weckenden Königssohn wartender Ge- stalten wie im Mährchen vom Dornsröschen. Die Schilderung des ägyp- tischen Charakters, wie er durch die Natur des Landes bedingt ist (§. 347), macht begreiflich, da sich eine sinnende Gemessenheit auch in die Phan- tasie fortsetzen und zwar die Erzeugung unendlicher Symbole und Halb- mythen keineswegs verhindern, wohl aber Ruhe, Sistirung des wirren Gestaltenwechsels und größere Tiefe in sie einführen mußte. Fangen wir mit der Tiefe an, so dürfen wir die Bedeutung des Mythus von Osiris, Typhon und Isis, wie sie Hegel als Mittelpunkt dieser Religion aufge- faßt, als anerkannt voraussetzen. Der sterbende Gott ist nun freilich der sinkende Nil, die fliehende Sonne, aber Osiris ist auch der Gründer der Gesittung, des Ackerbaus, des Staats, jedes Guten, jeder Ordnung; da er also sittliche Bedeutung hat, wie sein Feind Typhon nicht nur der verzehrende Gluthwind und alles Schädliche, sondern auch das ethisch Böse ist, so muß das Sterben, die Negation des Sinnlichen, mehr als blos Naturbedeutung haben, es muß der sittliche Gehalt des Gottes eine Frucht davon tragen, und so steht Osiris im Reiche der Geister, einer Welt des vorgestellten Jenseits, deren Sinn aber einfach die Zurücknahme aus dem Unmittelbaren in das Innere ist, als Todtenrichter wieder auf und richtet hier die ebenfalls den sinnlichen Tod geistig überlebenden Men- schen. Auch die persische Religion kennt ein Todtengericht und Geister, die ihm obwalten, aber sie kennt nicht den Uebergang eines Hauptgottes aus sinnlichem Tode in dieses geistige Amt. Hätte nun die ägyptische Weltanschauung diese Bewegung aus dem sinnlichen Sein durch seine Negation in die sittliche Innerlichkeit in Einen Begriff zusammengefaßt, so wäre sie keine Naturreligion mehr, die Persönlichkeit wäre aufgegangen; allein der sinnliche Tod ist ein Geschehen von außen (die Zerstücklung durch Typhon) kommt von außen an das Subject, ist nicht Ueberwindung des Endlichen durch Freiheit, und nur successiv, in einem Nachher, in einem vorgestellten andern Ort, trägt er seine Frucht, den Aufgang der sittlichen Bedeutung. Die Naturgrundlage bleibt, Osiris ist der Nil, die Sonne, das Jahr. Es fehlt die Sammlung des im Fortgang Gewonnenen in Eins und so bekommt der Tod als nackte Thatsache einen Werth, das Todtsein wird zum Höchsten, der Leichnam, nicht der Geist, der nach der Vorstellung ihn überlebt, recht verstanden aber von Anfang an seine Wahrheit war, ist heilig. Es ist eine große Wahrheit, daß man bildlich gestorben sein muß, um etwas, um ewig zu sein, aber eine traurige Verkehrung derselben, daß das todte Residuum des buchstäblichen, unbild- lichen Gestorbenseins das werthvolle Bleibende sei. So legt sich Leichen- geruch, todtenhafter Charakter über die ganze Welt dieser Phantasie, nicht nur über jene Todtenstädte und Mumien, sondern über Alles, was die Phantasie bildet: Gestalten, die eben, da sie den Schritt zur Freiheit thun wollen, verzaubert, in Todesschlaf gebannt wurden. So nah an der Lösung des Räthsels, daß die absolute Idee die Persönlichkeit als Menschheit und ihre Erscheinung die Schönheit sei, ar- beitet sich die Phantasie in brütendem, saurem, vergeblichem Drange ab, durch Häufung und Ineinanderfügung von bildlichen Darstellungen das Wort des Räthsels zu finden. Das Symbol tritt hier in seine ganze Bedeutung als Nothhilfe. Man wird mit Fragen von Symbol zu Sym- bol geschickt und kommt nie mit der Antwort zurück: die Sonne, der Nil, das Jahr bedeuten einander, Osiris, zwar Person, also mythisch, aber wieder nur symbolisch, bedeutet alle und dazu den Ackerbau, die Gesittung überhaupt und die sittliche Idee des Lebens als Todtenrichter, aber um- gekehrt bedeuten sie wieder ihn, denn es ist die Ahnung da, daß die Naturkräfte nicht das Wahre seien, sondern das Subject, in welchem die ganze Natur sich zusammenfaßt und negativ aufhebt. Osiris ist aber wieder nicht wahrhaft das Subject, er schickt abermals zu den Naturkräften fort, er hat daher selbst wieder sein Symbol im Sperber (der mit offenem Auge in die Sonne sehen kann, daher diese bedeutet), ebenso im Stier Apis, der Symbol des Jahrs, der Sonne, des Nils ist. Sein und der Isis Sohn Horus, zunächst der Frühling, fällt auch wieder mit ihm zu- sammen. Er lebt in der Unterwelt fort, da hat er sittliche Bedeutung, er lebt aber auch im Horus fort und im Apis, da hat er wieder blos Naturbedeutung. Man sieht allerdings, wie hier der Ansatz zum Mythischen stärker ist, als irgendwo. Da dieses die Person, also die menschliche Gestalt voraussetzt, so erweitert sich keine orientalische Phantasie so bestimmt zum Sinne für menschliche Schönheit; es fehlt zwar der seelenvolle indische Sinn für das menschliche Empfindungsleben, aber der Formsinn ist desto stärker. Um so weher muß es daher thun, wenn eben jetzt, da diese Blüthe aufgehen will, die messende Phantasie sich auf sie wirft, ihr den Ausdruck der Lebendigkeit und Individualität nimmt und sie behan- delt, wie man unorganische Formen mißt. Aber nicht nur dieß; der my- thische Ansatz sinkt auch hier wieder so tief in das Symbolische, daß gerade der menschlichste Theil, das Haupt, mit einem Thierhaupte, Sperberkopf, Hundskopf, Widder-, Kuh-Kopf u. s. w. vertauscht wird. Dieß müßte gerade um des übrigen Fortschritts willen unerträglich sein, wenn man nicht sogleich wüßte, daß nicht Schönheit, sondern die Bedeutung der Zweck ist. So erkennt man denn bei den Aegyptiern leichter, als irgend- wo, die symbolische Absicht, ohne daß darum irgend ein getrenntes Be- wußtsein der Bedeutung da wäre, wodurch das Symbolsche sich aufhöbe. Man sieht den Symbolen an ihrer bedachtsameren Wahl (Hegel Aesth. Th. 1, S. 452), an ihrer ruhig geordneten Wiederkehr an, daß siie Symbole, aber man sieht auch, daß sie Nothhilfe einer unklaren Ahnung sind, daß sie ihren Urhebern selbst die Antwort des Räthsels schuldig blieben, daher der §. das räthselhafte Schweigen als weiteren Grundzug hervorhebt. Besonders das Thierleben diente dem Aegyptier als Symbol. Nutzen oder Schaden der Thiere konnte nicht der letzte Grund ihrer Erhebung zu religiöser Bedeutung sein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen- leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen erscheint noch heute ein Wahnsinniger als ein höheres Wesen, das Traum- leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zustand, der einen Blick gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geist kommt. Das wache Ich scheint durch die Reflexion von seinem Grunde sich zu trennen, ein Abfall zu sein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle zur geistigen stand, mußte nun die Lebensform, welche zwischen der un- beseelten Natur und dem Ich, gefesselt an das Dunkel des Instincts, in der Mitte steht, unendlich bedeutungsvoll erscheinen. Das Thier scheint so eben etwas sagen zu wollen und nicht zu können; ebenso diese Religion. Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier ist einfach, Eine Haupt- eigenschaft drängt sich hervor; wie für die verständige Fabel, ist es daher für die dunkel suchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo- ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den ersten Grund, so hat man die zwei Seiten: das Thier eignet sich zum Symbol um seiner Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, scheint ihm als dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Dasein des Gottes verehrt. Dieß ist mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Wesens wird, ist Fortschritt über das Symbol; weniger: denn das so von seiner Bedeu- tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Wesen soll zwar (auf dem Standpunkte der Religion) geglaubt sein, als existire es, aber mit der Einschränkung, daß es in einem Jenseits lebe, und diese Einschränkung hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun versteht sich, daß dieses ideale Wesen nur ein als absolut vorgestellter Mensch sein kann, aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgestellt, sondern auch in seiner unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren ist tief unter der Sym- bolik selbst, ist Fetischismus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernst; wenn der Apis krepirte, so war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam- mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver- einigt die ägyptische Phantasie sämmtliche Arten der Naturreligion von der gröbsten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in sich, steht tief unter sich und sieht weit über sich; sie gleicht ganz der eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwischen Thier und Mensch einnimmt. §. 433. 1 Das jüdische Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Rest von ihr stehen, welcher zur Folge hat, daß sich der Dualismus nun auf das Ver- hältniß Gottes zur Welt wirst. Das Gebiet der menschlichen Schönheit ist seiner Phantasie, welche das Symbol bis auf wenige Nachklänge aufgegeben und ganz den Weg eines, zwar sparsamen, Mythus betreten hat, offen; dennoch macht der ausschließlich erhabene Zwiespalt, von dem sie ausgeht, der bil- 2 denden Thätigkeit ein Ende; sie kann nur als empfindende und empfindend dichtende die Herrlichkeit des Schöpfers und die Heiligkeit des Gesetzgebers, 3 die Sehnsucht nach Versöhnung mit ihm sich zum Inhalt nehmen oder, in eine objcetive Form der dichtenden übergehend, die ursprüngliche Stoffwelt, die sie keineswegs wahrhaft gewonnen hat, um den Preis des Wunders in Idea- 4 lität erheben. 1. Die Stellung der jüdischen Religion ist für die Geschichte des Ideals sowohl, als für die Religionsphilosophie, sehr schwierig. Es führen von dem Punkte, wo die ägyptische Religion steht, zwei Wege weiter, welche getrennt nebeneinander gehen und nachher, wie sich zeigen wird, in der christlichen sich auf gewisse Weise vereinigen: der eine ist Aufhebung des Symbolischen sowie des Polytheismus überhaupt und abstracte Gegenüber- stellung eines Gottes und der Welt, der andere ist Fortbildung jenes Ansatzes zum Mythus, der auf symbolischer Grundlage hervortrat, und Entwicklung eines sittlichen Polytheismus, dessen Götter durch das Natur- Element, von dem die Personbildung ausgieng, noch sinnlich sind, aber harmonisch sittlich und sinnlich, den Menschen vertraut, in der Welt heimisch. Jenen Weg schlugen die Juden, diesen die Griechen ein. Es scheint nun zunächst, die griechische Religion gehöre, weil sie mit dem Symbol und dem Ausgange von einer physikalischen Bedeutung der Götter nicht eigent- lich bricht, sondern nur fortbauend diesen Ausgang verbessert und umbildet, entschieden zur Natur-Religion, die jüdische aber, weil sie offenbar bricht, jedoch von der Negation, der Ausschließung, nicht zur Position, der geistigen Immanenz Gottes in der Welt, fortschreitet, als eine isolirte Form in die Mitte zwischen Naturreligion und Christenthum, als eine Grenzscheide, welche nicht mehr Naturreligion und noch nicht Religion des Geistes ist. Obwohl nun eben jene Ausschließung, jenes Stocken bei der Negation selbst wieder seinen Grund in einem doch noch mitgeführten Reste der Naturreligion hat und obwohl es auch an mancherlei sehr offen- baren Nachklängen derselben im ganzen Umfang der jüdischen Religions- vorstellungen nicht fehlt, so ist doch allerdings dieser Grund hinreichend, in der Religionsphilosophie das Judenthum in der genannten Weise nach der griechischen Religion, nicht vor ihr, wie Hegel that, aufzuführen. Die Aesthetik aber hält sich an den Fortschritt im Schönen und da stehen die Griechen ungleich höher und vollkommener, als die Juden, während zugleich die Reste der Naturreligion in ihrer Phantasie immer noch stark genug sind, um auch sie zu dieser zu zählen, wobei wir im Uebrigen aus dem genannten Grunde der Hegelschen Ordnung folgen. Dem Christenthum aber steht die jüdische und griechische Religion gegenüber als ein Gegensatz, den es zu lösen hat; es mußte zum starren Monotheismus der Juden die menschliche Nähe, den Wandel des griechischen Gottes unter den Menschen nehmen, also beide Wege vereinigen, um zu seiner Grund-Anschauung der Immanenz zu gelangen. Der Polytheismus, sahen wir, ruht auf der Naturgrundlage; denn wenn die Phantasie Natürliches unmittelbar für göttlich hält, so vereinzelt sie nothwendig einzelne Naturkräfte, es dringen sich deren immer mehrere als herrschend, Lebengebend auf, sie werden in Symbolen verehrt, aber zugleich sucht die Phantasie Geister hinter ihnen und so entstehen, indem noch weiter einzelne sittliche Bestimmungen je ihrer Verwandtschaft gemäß auf den Naturgrund eingetragen werden, viele Götter. Die jüdische Weltanschauung nun hebt die Naturgrundlage und mit ihr das Symbol auf, damit fällt auch der Ausgangspunkt, der zur Göttervielheit führt. Allein nicht hebt sie das Mythisiren, jene Personbildende Thätigkeit der Phan- tasie auf. Sie ist die Religion eines mehr, als alle Orientalen, ethischen Volks; dieses Volk zieht die Gesammtheit der sittlichen Kräfte, deren es sich bewußt ist, in die Vorstellung Eines persönlichen Wesens zusammen, das nun als absoluter Wille die Natur und den Menschen in ihr frei schafft und diesen Gesetzgebend, erziehend leitet. Allein dieser Gott hat allerdings in der Vorstellung und muß haben einen Leib und menschliche Neigungen, Leidenschaften. Es heißt wohl, der Mensch solle sich kein Bild und Gleich- niß machen von ihm; aber nur, um nicht Holz und Stein anzubeten, die Phantasie dagegen nährt allerdings und hält fest ein Menschenbild von ihm. Das Neue ist nur dieß, daß der Gott nicht äußerlich abgebildet werden soll, innerlich ist er ganz anthropomorphisch abgebildet. Der Po- lytheismus ist aufgegeben und nicht aufgegeben, seine Götter sind in Einen zusammengegangen, aber dieser Eine hat noch wesentlich das an sich, was den heidnischen Gott ausmacht: Menschengestalt und Succession menschlicher Neigungen, Gedanken, Entschlüsse. Er ist der letzte Heidengott, der wider- sprechender Weise seine Brüder überlebt. Als Reminiscenz an diese um- gibt ihn wie Ormuzd ein Geisterheer, steht im Ariman als Teufel ge- genüber, bezeichnen ihn symbolische Wunderthiere, fährt er auf Wetter- wolken u. s. w. So wenig ist das Mythische in ihm aufgehoben, daß es vielmehr gerade erst recht eingetreten ist, denn der Mythus ist erst aus- gebildet, wo der Gott ganz Person ist und handelt. Zwar wird es in den Mythen des Politheismus neben Acten des Handelns auch an passiven Zü- gen nicht fehlen, welche bestimmter auf die Naturgrundlage zurückweisen; seine Götter entwickeln sich in der Zeit, sie werden geboren, verwundet u. s. w. Allein das Verändern der Entschlüsse, die Leidenschaft, die Wohnung im Himmel, die Erscheinung an einem irdischen Ort, das Leben zuerst ohne Welt, dann nach ihrer Schöpfung mit und neben ihr, das Alles schließt nothwendig die Kategorie des Zeitlebens und hiemit der Natur ein, dieß wird wegen des übrigen Fortschritts nur doppelt fühlbar und Strauß hat daher (Leben Jesu §. 14) zu viel zugegeben, wenn er das Mythische nur auf der Seite des Weltbewußtseins, des Wunders sucht. Sparsamer aber ist der mosaische Mythus natürlich, als im Polytheismus, denn da der Gott keine Götter neben sich hat und absolut sittlicher Wille ist, so kann er nicht von außen, sondern nur von innen, oder wenigstens nur sofern von außen leiden, als die neben ihn gesetzten Menschen seine Plane kreuzen. Ein Rest von Na- turreligion ist aber insbesondere auch der Particularismus. Die Götter der- selben waren Localgötter; ein Stamm legte in ihnen die Natur seines Wohn- sitzes, Temperaments, geselligen Zustands nieder dann vereinigten sich diese örtlichen Geister: das ist ein wesentliches Moment in der Entstehung des Po- lytheismus. Allein local und in seiner Einzigkeit gerade doppelt local ist auch der Gott der Juden; sie waren zäh genug, sich allen andern Völ- kern gegenüberzustellen, ihr Gott, auf den sie so sehr pochten, war diese Selbständigkeit als Person vorgestellt, und er trat nicht mit andern Göttern zusammen, weil und wie die Juden sich von allen Völkern trennten. 2. Der unendliche Fortschritt war die sittliche Geistigkeit dieser vor- gestellten Menschengestalt, aber die Gestalt schloß diesen Gott von der Welt und die Welt von ihm aus, das war die Stockung im Fortschritt. Das Sinnliche trennt, schließt aus; reiner Geist kennt keine Schranken, Geist mit Leib steht gegenüber. Hier kehrt der allgemeine Dualismus des orientalischen Charakters zurück: statt Götter einander gegenüberzustellen, wirft er sich auf das Verhältniß Gottes zur Welt, gibt jenem das herbe Gesetz, dieser den Eigensinn und vereinigt sie äußerlich, juristisch in einem formellen Rechtsvertrage, statt einzusehen, daß ja die Erfüllung des Vertrags selbst nur aus dem absolut Guten, aus Gott kommen kann, also der Vertrag keinen Sinn hat. Dieser Dualismus ist nun allerdings erhaben und vorzugsweise erhaben, man kann daher diese Religion allerdings mit Hegel die der Erhabenheit nennen; allein auch hier ist nicht zu übersehen, daß es ein ächteres Erhabenes gibt: das absolut Er- habene, das sich einläßt in die Welt als deren tragische Bewegung. Das kannten die Griechen, nicht die Juden. Diese fixiren das Erhabene des bloßen Subjects, und zwar auch dieses immer noch unter der Kategorie des objectiv Erhabenen in räumliche und zeitliche Größe ausgedehnt, in ihrem Gott. Die Griechen hatten mehr, als Jupiter, sie hatten das Schicksal als tragischen Conflict, die Juden hatten keine Tragödie, denn ihre Welt stand starr dem jenseitigen Gott gegenüber. Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 29 3. Allerdings ist nun die hebräische Phantasie auf den Boden der menschlichen Schönheit getreten, ihr Gott ist ein Riese mit wallendem Mantel auf dem Sinai, und der Mensch ist persönlich geworden, ein würdiger Stoff der Phantasie, allein jene Vorstellung bleibt im Gefühl, daß sie inconsequent sei, schwebend, unbestimmt, am Menschen aber be- schäftigt nur das innere Leben, das ringende Herz und es folgt schon daraus, noch mehr aus dem Verbot der Abbildung Gottes, daß diese Phantasie nicht mehr die bildende sein kann. Sie ist vielmehr empfindende (§. 404), oder, da sie vermöge ihrer geistigen Bewegtheit namentlich auch als dich- tende auftreten wird, empfindend dichtende (lyrische). Diese Form tritt nun freilich auch in den andern orientalischen Religionen auf; das Hym- nische ist in ihnen ein starker Bestandtheil, doch keineswegs die Hauptform. Bei den durchgängig subjectiveren semitischen Völkern tritt sie aber mehr und mehr in den Vordergrund, namentlich in dem berühmten Klaggesang über den Tod des Adonis (Osiris: Maner ô s), und bei den Juden wird sie zur spezifischen Form, worin die Phantasie ihren entsprechendsten Ausdruck findet. Das menschliche Gemüth ringt hinauf zu dem fernen Schöpfer und Gesetzgeber, es preist seine Herrlichkeit, es seufzt im ganzen Schmerz der gefühlten dualistischen Spannung, desto tiefer gebrochen, je härter sein durch das Gesetz gespannter Eigensinn ist, aus seinen Tiefen zu ihm, es hofft auf Erlösung, es ist durch den ganzen Widerspruch dieser Reli- gion auf die Zukunft gestellt. Diese Bewegung des inneren Menschen ist das eigentliche Gebiet dieser ganz subjectiven Phantasie. Hat sie aber nicht durch die Entgötterung der Welt die ursprüngliche Stoffwelt ge- wonnen, so daß sie nun hier den aufgegangenen Sinn für menschliche Schönheit entfalten könnte? Die hebräische Phantasie ergreift allerdings den Stoff der wirklichen Menschenwelt, sie hat ihre Sage, wie ihren Mythus, sie hat eine Verbindung beider. Sie hat die Begründer des Zustands der Nation, Patriarchen, Gesetzgeber, Propheten, Helden, Könige in der Ueberlieferung erhöht und eine Menge wahrhaft schöner, rein menschlicher Züge bewahrt; allein die wahre Idealität erreichen auch bei ihr die mensch- lichen Gestalten nur durch unmittelbares Hineinrücken in das Absolute. 4. Dieses Hineinrücken aber muß ein anderes sein in der hebräischen, als in den bisherigen Formen der orientalischen Phantasie; es tritt, wie Hegel gezeigt, hier zunächst der Begriff des Wunders in seine volle Bedeutung ein. Das Causalitätsgesetz, der Zusammenhang des Weltver- laufs ist anerkannt; es gibt eine Geschichte. Die absolute Ursache aber, deren Wirklichkeit nirgends anders sein kann, als in der Gesammtheit der relativen Ursachen, ist als einzelne Person in einen vorgestellten jenseitigen Raum hinübergeworfen. Soll also die Erscheinung einer bestimmten Idee idealisirt werden, so muß sich jene erst ein Loch in die Welt machen. Alle Religionen haben, wie gezeigt, diese Durchlöcherung, sie schieben die ab- solute Ursache und die Vermittlung der einzelnen Ursachen nebeneinander, springen von dieser auf jene über, dann in diese zurück, aber in den bisher betrachteten ist über diese Sprünge nichts zu verwundern; sie sind so sehr der eigentliche Standpunkt, daß es zu einer Anerkennung des Weltzusammen- hangs und seiner Ordnung gar nicht kommt. Wo aber diese im Uebrigen da ist, da tritt der Widerspruch eines Geschehens in der Natur gegen die Ge- setze der Natur an Tag, d. h. nicht als solcher in’s Bewußtsein, sondern er tritt als Verwunderung in’s Gefühl. So wird die Sage, indem sie durch- gängig mit dem Mythus sich vermischt, hier zur Wundergeschichte. Man sieht nun, in welchem Sinne die ursprüngliche Stoffwelt der Phantasie wieder- gegeben ist: im beschränkten Sinne eines Hinüberbeziehens auf Jehovah. So geht ihr denn zuerst der landschaftliche Sinn in ganz anderer Weise auf, als wir ihn von den anderen Naturreligionen aussagen konnten, denn diese vergötterten nur Theile derselben in symbolischem Sinne, den Hebräern aber geht der Sinn für ihre Schönheit auf, sie beginnen sie ästhetisch zu betrachten, doch wieder nicht rein ästhetisch, denn statt unbe- fangen die Empfindungen des menschlichen Gemüths in sie zu legen, legen sie dieselbe als Prachtgewand, als Ehrenteppich und Schemel ihrem Gott zu Füssen; da ist sie nicht selbständiges ästhetisches Ganzes. Der Phan- tasie menschlicher Schönheit ist neben dem vorgestellten Leibe Gottes die Schönheit der wirklichen Menschenwelt aufgegangen; die Sage muß daher auch zu der bildenden Form der dichtenden Phantasie (der epischen) grei- fen; diese hatten auch die andern Orientalen, aber man erwartet eine reifere Ausbildung derselben von den Hebräern, und doch hat ihr Geist innerhalb dieser Form wieder die Ruhe nicht, bei einer geschlossenen Welt zu verwei- len, er eilt auf die Momente des Wunders los und außer den Organen der Offenbarung erscheinen die übrigen Menschen als gedrückte und zu- gleich hartnäckige Knechte des Herrn; die Spannung des ganzen Stand- punktes bringt eine Bewegtheit in die gesammte Darstellung, welche durch directe Ausströmung des Innern wieder zur empfindenden Phantasie, sogar zu Anklängen der dramatischen sich wendet, denen jedoch, wie schon ge- sagt, die rechte Grundlage einer abgeschlossenen, tragischen Bewegung fehlt (Hiob). 29* β . Mitte . Das classische Ideal der griechischen Phantasie. §. 434. 1 Die Phantasie der Griechen als eines sinnlich sittlichen Volkes (§. 348. 349) erhebt ohne Bruch in stetigem Fortschritte die Naturreligion in die ethische, das Symbol in den Mythus. Sie bleibt also Polytheismus, aber auf die Naturgrundlagen, woraus Vielheit der Götter entsteht, trägt sie nicht bloß ober- flächlich sittliche Bedeutung ein, sondern kehrt im Fortgang den Ausgang um, so daß die sittliche Bedeutung, schon an sich über mehrere Sphären sich erstreckend, zum lebendigen Pathos einer mit dem ganzen Umkreis menschlicher Empfindun- gen und Interessen erfüllten Persönlichkeit wird, deren leibliche Erscheinung 2 sich selbst deutet. Die halb mythischen, halb blos symbolischen Naturgötter werden als durch die neue Götterordnung besiegt dargestellt, das Symbolische der Naturgrundlage der letzteren ist vergessen; was davon übrig bleibt, ist theils zu einem leichten Nachklange in der Gestalt herabgesetzt, theils als sinnliches Interesse in eine Handlung aufgegangen. 1. Dieß also ist der zweite der von der ägyptischen Religion weiter führenden Wege (vergl. §. 433 Anm. 1 ), es ist der humane Fortschritt im Uebergange der Religion nach Europa, während die scharfe monotheisti- sche Scheidung in der jüdischen Religion noch asiatische Starrheit ist. Die griechischen Götter sind ursprünglich asiatische, (indische, semitische, ägyptische) Naturgötter, erscheinen in Griechenland vorerst als Localgötter und ihre Vereinigung zu einem Olymp ist vorerst Zusammenfluß örtlicher Culte, dann geistige, der Meinung nach universelle Erhebung in sittlich politische Bedeutung. Diese tritt nun in Vordergrund, wird zum Ersten, und was vorher das Erste war, tritt zurück in die Perspective. Die sittliche Be- deutung aber kann, weil es hier Ernst mit ihr ist, als Seele und Willen einer Person angeschaut werden, zu deren weiteren, sinnlicheren Gemüths- bewegungen so wie zu ihrer Gestalt die ursprüngliche Naturbedeutung den Grund gelegt hat, so daß z. B. Göttern der Fruchtbarkeit, des Natursegens der weichere und üppigere Körperbau, das liebeslustige Gemüth, Göttern des scharf bescheinenden Lichtes, der feineren, aus Wasser und Feuer sich entwindenden Materie der schlankere, straffere Leib, das ernstere, kältere Gemüth geliehen wird. Das symbolische Verhältniß ist zu Ende; Posei- don bedeutet nicht das Meer, sondern das Meer ist ein Geist und dieser Geist ist Poseidon. Der Gott ist nicht eine Devise, auf eine Lebenssphäre geklebt, sondern jener Genius mit Menschengestalt, den schon der Orient in der Naturerscheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter Schaale nicht herausschälen konnte, ohne ihn zu zerstückeln und mit Trüm- mern der Schaale nothdürftig wieder zusammenzukleben, löst sich heraus, der Gott steht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach seiner Herkunft. Er deutet sich selbst, er ist, was er bedeutet, er will es, es ist seine Lei- denschaft, sein Zweck. Sein Hauptzweck ist irgend ein sittliches Pathos, Eid, Gastfreundschaft, Civilisation, Städte- und Staatengründung, Ver- kehr, Handel, Wissen, Kunst; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo Wissen der Zukunft, Wissen um Geheimnisse der Erkenntniß überhaupt, Gesang und Musik, Offenbarung und Bestrafung verborgener Verbrechen, Zeus Gastfreundschaft, Eid, Vertrag u. s. w., und schon dadurch ist von der Abstraction einer symbolischen Bedeutung die Erweiterung zu einem ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein diesen Hauptzweck hat ihm das Volksbewußtsein darum geliehen, weil es selbst sittlich ist; weil es sitt- lich ist, ist es persönlich und weil es persönlich ist, hat es überhaupt den gan- zen Gott als lebendige Persönlichkeit erdichtet, und so hat dieser Gott alle Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menschen. Er kann Alles empfinden, Alles denken, wollen, also auch das, was Hauptzweck anderer Götter ist, nur daß der seinige immer sein Kern bleibt und seine ganze Temperatur bestimmt. Diese Temperatur rührt allerdings zunächst von der Naturgrundlage: der unruhige und wilde Poseidon hat die Stimmung seines Elements, dann aber erscheint er leidenschaftlich bewegt in Interessen der Städtegründung u. s. w. Dieselbe Naturgrundlage setzt sich auch in den Mythus so fort, daß die Götter nicht nur handeln, sondern auch unter dem Gesetze des Werdens stehen, geboren werden, wachsen, leiden, und zwar anders, als Jehovah, von außen nämlich durch andere Götter, durch Menschen selbst bis zur körperlichen Verwundung. Diese Nachwirkung des Symbolischen im My- thischen hebt sich aber, wie wir sehen werden, in der kummerlosen Selig- keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Passivität jedoch, deren Symbolik auch in mythischer Behandlung abstoßend bleibt, wie die Verstümmlungen, das Verschlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt. 2. Was die Ueberwindung der symbolischen Naturreligion überhaupt, die Aufhebung und den Nachklang derselben in diese ethische Phantasie betrifft, so dürfen wir auf Hegel verweisen, der „den Gestaltungsprozeß der classischen Kunstform“ so weitläufig behandelt hat (Aesth. Th. 2, S. 24—66). Er zeigt zuerst die Degradation des Thierischen auf, dann wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, schlan- genfüßigen Ungeheuer selbst wieder mythisch als ein Kampf der geistigen und sittlichen Götter gegen die finstern Naturmächte in die Vergangenheit verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts in den Mysterien als esoterisch gewordenen, durch ihr geheimnißvolles Dunkel den Geist befangenden Culten symbolischer Art, in der Aufbewah- rung der alten Götter in der Kunstdarstellung, endlich in Allem dem, was in der Darstellung der neuen Götter an ihre Naturgrundlage mahnt. Wir haben bereits von der individuellen Stimmung gesprochen, die sich als Reminiscenz der Naturbedeutung in die Persönlichkeit des Gottes fort- setzt: die Naturgrundlage wird Naturell. Sie setzt sich ebenso, wie wir sahen, als Begebenheit in den Mythus fort. Hier nun zeigen die Grie- chen ihre ganze Liebenswürdigkeit; es ist ihr unendlicher Fortschritt, daß sie den geistreichen Leichtsinn hatten, aus symbolischen Acten Geschichtchen zu machen und den Grund, die ursprüngliche Bedeutung, zu vergessen . Die Bedeutung ist zum lebendigen Interesse des Gottes geworden, er fragt nichts mehr nach ihr als bloßer Bedeutung. Die Metamorphosen, die Liebesge- schichten des Zeus sind das beste Beispiel. Verfestigt sich nun die Persönlich- keit des Gottes in der Phantasie zu bestimmterer Gestalt, so finden sich nur wenige Reste symbolisch roher Bildung, wie die Ephesische Diana, die priapischen Naturgötter, Ungethüme wie die Harpyien u. s. w. In einigen verbessert der Schönheitssinn die Zusammensetzung des Menschlichen und Thierischen, wie in den Faunen und Centauren. Wesentlich aber ist, daß das Symbol als Attribut , als thierischer Begleiter, als Waffe u. s. w. neben die Gestalt tritt, dienendes Mittel demselben wird; so der Adler des Zeus, der Panther des Bacchus, der Delphin der Aphrodite, so der Kö- cher des Apollo und der Diana, der an Sonnen- und Mondesstrahlen erinnert, der Donnerkeil des Zeus, der Dreizack des Poseidon. Endlich aber setzt sich der symbolische Nachklang in die Gestalt selbst fort und so, daß er das Motiv zu einer Schönheit wird, entweder als unmittelbarer mit ihr ver- bundene Zierde, wie der Halbmond der Diana, die Epheu- und Trau- benguirlanden, die volleren Haarknoten, die man dem Bacchus gab, um die symbolischen Stierhörner der ältesten Darstellung zu verbergen — wie denn das Haar überhaupt und seine Behandlung, z. B. die ungeord- neteren Jupiter-Locken des Poseidon, besonders symbolischen Nachklang zeigt — oder als Haltung und Charakter der Gestalt selbst und einzel- ner Organe. So war Diana zunächst Mondsgöttin; die ahnungsvolle Wirkung der irrenden Mondstrahlen in Wald-Einsamkeit mochte Anlaß sein, ein anderes Wesen, einen Waldgeist, eine Göttin des Waldes und Wilds mit ihr zu vereinigen; in der griechischen Phantasie wird nun so das Schlüpfende der Mondbeleuchtung, das Säuseln, Rascheln, Hallen und Wiederhallen im Wald zum Bilde der schlanken, leichtfüßigen Jägerinn, die mit ihren Nymphen und ihrer Meute durch die Wälder streift. Athene ist zunächst das Licht, nicht als Sonne, sondern das Leben des Lichts überhaupt, wie es sich aus dem gröbern Elemente, dem Wasser, entbin- det und entringt (vergl. Baur a. a. O. Th. 2, Abth. 1 S. 162), der Lichtgeist in der Natur, dann die Intelligenz. Das Allgemeine, das Reine des Lichtes geht homogen in diese geistige Bedeutung über, wird als Jungfräulichkeit, als kalte und strenge Sinnigkeit persönlich vorgestellt und bedingt so ihre ganze Gestalt, insbesondere aber Farbe und Ausdruck ihrer Augen: das feucht Durchsichtige, der wasserhelle Glanz, das scharfe Erfassen des Gegenstands ist es, wodurch sie sich auszeichnen. Daher ist die γλαυκῶπις zugleich die Göttin, die das Augenlicht den Menschen erhält, und ihr Attribut die in der Nacht sehende hell- und großaugige Eule. §. 435. Wenn so der Dualismus im Verfahren aufgehoben ist, so kann er auch 1 nicht mehr im orientalischen Sinne (§. 429) Gesetz der zweiten Stoffwelt sein. Der Gegensatz eines dunkeln Urwesens gegen die bestimmten Götter ist wesent- lich verändert in der Vorstellung vom Schichsale, der Gegensatz männlicher und 2 weiblicher Gottheiten geht auf in ein rein menschliches Wechselverhältniß, der 3 Kampf einer guten und bösen Hauptgottheit muß verschwindend am Saume hin- spielen, noch mehr der Dualismus zwischen Gott und Welt, denn die Götter der realen Sittlichkeit sind dem Menschen vertraut: dieser trifft, wie sein Sin- nenleben, so auch seine Willensbestimmungen in ihnen wieder. 1. Wir werden den Schicksalsbegriff sofort wieder aufnehmen, hier ist nur sogleich zu sagen, daß das griechische Schicksal nicht eigentlich eine Alles gebärende Urgottheit ist, ein Parabrahma, Zeruane Akerene u. s. w. Solche Vorstellungen dunkler All-Einheit des Lebens sind mit der symbo- lischen Naturreligion zurückgelegt; es treten in den orphischen Kosmogo- nien und in der Hesiodischen oberflächlich personifizirte Wesen auf, welche den unterschiedslosen Schooß der Dinge als einen Abgrund der unent- falteten Naturkräfte darstellen, das Chaos, die Erde, Tartaros, Eros, Erebos, die Nacht, dann Aether und Hemera, Uranos, dann das Reich des Kronos; auch unter den concret persönlichen Göttern erkennt man noch in mehreren den Charakter einer allgebährenden und nährenden dunkeln Urkraft, den sie in den symbolischen Localculten, aus denen sie erst als Glieder in den ethischen Götterkreis übergingen, als absolute Gottheiten besaßen, so die Ephesische Diana, Demeter, Kybele oder Rhea „die große Mutter“. Allein nachdem die Götter ethisch geworden, konnte die Vorstellung eines dunkeln Grundes im alten Sinne keine Kraft mehr haben. Das Sittliche steht auf eigener Basis, fängt von sich selbst an, man fragt nicht mehr viel darnach, wie die Dinge als Naturdinge geworden, die Antwort, welche die Kosmogonie darauf gibt, genügt, ohne daß man ihr weitere Aufmerksamkeit schenkt. Ist aber der sittliche Lebens- gehalt an die Götter vertheilt, so muß der Urgrund alles Lebens auch Grund des Sittlichen sein, und dieß ist es, was daran nun wesentlich interessirt. Die absolute Einheit kann auch dem Polytheismus nie ganz verloren gehen, sie schwebt hinter oder über den Göttern, nun aber ist sie sittliche Bestimmung des Lebens. Allein diese Bestimmung ist schlecht- weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtseins liegt, an die Vielen schon vertheilt ist, und solches Dunkel ist freilich wieder Rest von Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und schließt Vorherwissen des Schicksals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei- tend den Zufall auf: dieß ist noch nicht im Bewußtsein der Griechen, daher ist ihr Schicksal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene Knoten, finster wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, sittlich. 2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge- liebte, Mann und Frau, Bruder und Schwester. Dieß waren sie zwar auch in den orientalischen Religionen, aber es war nicht Ernst damit; jetzt, bei den Griechen, sind es die Liebschaften, die Ehe-Scenen, das Zusammenwirken, womit sich ein rein menschliches Interesse beschäftigt; zudem gibt es, durch den Zusammenfluß der örtlichen Culte, viele sol- cher Paare. Das abstracte Grundgesetz eines Dualismus männlicher und weiblicher Götterkraft ist daher flüssig geworden, aufgehoben. So war Here ursprünglich symbolische Personification dessen, was im Naturleben überhaupt als empfangende Seite erschien, insbesondere eine Mond- und Erd-Gottheit; Zeus verführt sie als Kukuk unter stürmischem Frühlings- regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als seine Gemahlin wird sie die Gottheit der Ehe und in ihrem launischen Wesen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienst sich widerstrebend mit dem des Zeus vereinigte. 3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böse ebensowenig zum hartnäckig reflectirten Eigensinn der subjectiven Empörung sich zusammen- fassen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem sinnlichen ruht. Zeigt also das Leben der Griechen die eigentliche Ge- stalt des Bösen nicht, so können sie auch keinen bösen Gott dichten. Zwar sagten wir von dem Gegensatze guter und böser Götter in der orienta- lischen Religion, daß es nicht eigentlich ein sittlicher, sondern ein Kampf des Heilsamen und Schädlichen sei; allein der schädliche Gott wird doch dargestellt als ein solcher, der das Schädliche will , und zwar mit sol- chem Grimme, daß man sogleich das größere Talent zum eigentlich Bö- sen erkennt, das im Charakter dieser Nationen, besonders der Semiten, lag. An die Stelle des Bösen trat bei den Griechen, dem Volke des schönen Maaßes, zunächst das Ungeordnete, Ungemessene: das sind eben die wilden Kräfte, die Titanen, die besiegt sind; dann das Sinnverwir- rende, das zwar eine ethische Gefühlsbewegung ist, aber eine dunkle und in die Organisation des Vernunftreichs, des menschlichen Staatslebens nicht in klarer Gesetzesform eingeführte. Sehr treffend weist Hegel ver- mittelst dieses Grundes nach, warum die Nemesis, Dike, Erinnyen zu den finsteren Mächten des besiegten Götterreichs, den Kindern der alten Nacht gehören (Aesth. Th. 2, S. 49 ff.). Die Scene in den Eumeni- den des Aeschylus, wo Apollo jene mit zorniger Rede von seinem Tem- pel jagt, zeigt deutlich, was die Griechen sich bei jener Stellung dachten: die dunkeln Aufregungen des Gewissens können falsch sein und sind es in der Collision mit dem rechtlich politischen Gewissen und seinen klaren Empfindungen. An die Stelle des Bösen trat ihnen ferner das Unheim- liche, Tod und Unterwelt, der Hades und seine Beherrscher, dann die chthonischen Gottheiten nach ihrer einen Seite, Demeter, Kora, Bacchus. Wir müssen aber die allgemeine Frage aufwerfen, welche Stellung das Schädliche, da es nicht mehr in dem Willen einer Hauptgottheit zusam- mengefaßt wurde, in dieser Phantasiewelt erhielt? Es mußte in ethischen Zusammenhang treten, es mußte als Strafe aufgefaßt werden, die eine gute, aber beleidigte Gottheit verhänge. Als reizbare Gottheiten, welche ebenso leicht verderblich, als heilsam wirken, wurden insbesondere Apollo und Artemis angeschaut. Die jüdische Phantasie, die in strengerem Sinn ethisch war, mußte diesen Standpunkt noch strenger festhalten und aus- bilden; Jehovah erzieht durch Strafen. Allein dem eifrigen Gott gegen- über stellte sich hier auch das Subject auf die Spitze seines Eigenwillens und faßte eine Welt der Empörung, im Widerspruche mit dem Mono- theismus, im Bilde des Teufels zusammen. Hieran knüpft sich von selbst die Frage, wie es sich mit dem Dualismus zwischen Gott und Welt bei den Griechen verhielt. Die juristische Trennung, welche die Juden zwi- schen beiden aufstellten, ist einem freundlich vertrauten Wandeln der Göt- ter unter den Menschen gewichen. Freilich ist die jüdische Anschauung der erste Schritt zur wahren Einheit der sittlichen Idee, dieser Schritt bleibt aber so abstract, daß die beste Frucht wieder verloren geht. Dieser über der Welt thronende Gott erläßt zwar und sanctionirt sittliche Ge- setze, allein wenn das menschliche Subject sich zu ihm wendet, verschwin- det ihm in der Allgemeinheit seiner Heiligkeit das Concrete des sittlichen Lebens und es ist eine Frömmigkeit ohne Sittlichkeit möglich ebenso wie nachher im Christenthum. Der Grieche dagegen trifft in seinem Gotte, der ihm freundlich und menschlich verwandt ist, ein bestimmtes sittliches Pathos an und da muß Frömmigkeit auch Tugend sein. Welche lange Deduction braucht es z. B., um die Gymnastik als sittliche Pflicht von dem jüdisch-christlichen Gott abzuleiten! Dem Griechen aber steht an sei- ner Palästra der schlanke Hermes, er sieht sein Bild an und die wichtige Pflicht der Körperbildung ist ihm in ihrer ewigen Geltung unmittelbar gegenwärtig. Man muß entweder viele sinnlich sittliche Götter haben, um die Sphären des Lebens zu heiligen und das rein Menschliche zu ehren, oder man muß auf allen Anthropomorphismus verzichten und die absolute Idee als flüssige Gegenwart erkennen, um für die Sittlichkeit das wahre Motiv zu haben; mit dem Einen übersinnlich sinnlichen Gott, den man vom Polytheismus stehen läßt, verliert man die ächte Begründung dersel- ben und lernt das Verdienst des Glaubens bei schlechten Handlungen erjagen, lernt den Fanatismus, der dem Griechen so fremd war. §. 436. 1 Durch eine Reihe untergeordneter Genien knüpft sich leicht und offen an die zweite Stoffwelt, den von einem Hauptgotte liberal beherrschten und in flüs- sigem Tausche seine Aemter wechselnden Götterkreis, die ursprüngliche Stoffwelt in Form einer reichen, die Geschichte des Volks in großen Typen verherrlichen- den Sage, welche mit dem Mythus ohne Wunder zusammenspielt, und ungehemmt 2 legt sich in alle Lebenssphären die veredelnde Phantasie. Allerdings bleibt dennoch die in §. 418. 425, 2 (vergl. §. 62) aufgezeigte Scheidewand, aber zugleich hebt der Geist des Fortschritts den Typus auf und die Phantasie löst den Widerspruch, mitten im unfreien Schein frei zu sein, macht die entbindende Natur des Schönen (vergl. §. 63 — 66) unschädlich geltend und bildet, wozu die Bedingung nun gegeben ist, das Schöne um des Schönen willen, jedoch in völliger Naivität, zur Reife. 1. Den Kreis der Zwölfgötter beherrscht Zeus in einer Form der Zufälligkeit, welche deutlich genug zeigt, daß es dem demokratischen Volke mit der Monarchie auch auf dem Olymp nicht mehr Ernst war. Wenn nun schon die zwölf Hauptgötter nichts weniger, als ein pedantisches Sy- stem, darstellen, wenn der Eine oft genug in das Amt des Andern über- greift, so läßt sich zudem der Grieche durch den Anschein eines Abschlus- ses nicht abhalten, besondere Natur- und Lebenssphären, welche im Grunde unter Einen der Zwölfgötter schon befaßt sind, noch besonders zu vergöt- tern. Der Dionysosdienst drang ein mit seinem heitern Kreise von Sa- tyrn, Silenen, Mänaden, in welchen das Grobsinnliche und Thierische der menschlichen Natur seine besondere Idealität innerhalb seines Bodens durch orgiastischen Schwung erhält; das Geschlecht der Centauren, dann der Waldgötter, Pane, schließt sich an sie an. Aphrodite sammelt den erotischen Kreis um sich, die Grazien sind in seinem Gefolge. Das Ge- murmel der Quellen wird in den Musen mit der Macht des Gesangs zu- sammengeschaut; halb Menschen- halb Thier-Leib schwimmen die verlocken- den Sirenen im Meere. Düster thronen Hades und Persephone in der Unterwelt mit den Todtenrichtern, dem Fährmann, den bestraften Titanen, den Genien des Schlafes und Todes. Zu diesem dunkeln Reiche der Phan- tasie gehören die Zauberwesen, Hekate, die versteinernde Gorgo. Aus der zurückgestellten Finsterniß der Urwelt ragen die Schicksalsgötter, ins- besondere die furchtbaren Erinnyen in die Gegenwart herein. Die Be- wegung der Zeit erscheint in den Horen. Die Elemente, obwohl sie in Hauptgöttern ihre Herren haben, isoliren sich wieder zu einzelnen Genien; die Sonne hat ihren Geist, Phöbos (denn Apollon ist mehr das Mani- festiren des Lichts überhaupt), Selene liebt Endymion, Eos, Iris durch- ziehen den Himmel. Die Winde sausen als bewegte Gestalten, die un- gesunden als scheußliche Harpyien. Im Wasser sammelt Poseidon die Amphitrite, die Thetis, die phantastischen Gestalten der Tritonen und Nereiden um sich; Flüsse und Quellen haben ihre Götter und Na- jaden. Das Land wird von Genien der Berge, der Gärten, der Blüthe, der Früchte, der Bäume (Dryaden) gesegnet und die heilenden Kräfte haben ihre Geister in Asklepios, Hygieia, Telesphoros. Endlich haben auch die besondern menschlichen Zustände, Lebensalter, Thätigkeiten, außer ihren Beschützern in den Hauptgottheiten, ihre Vorsteher: Haus und Heerd, Stadt und ihre Plätze, ihre Aemter, Krieg und Frieden, Sieg, Eintracht, Freiheit, Schifffahrt, Leibesübung u. s. w., erfreuen sich ihrer Genien. An den heitern Pleonasmus der Götterwelt schließt sich ebenso reich die Sage an. Der Mythus von Herkules, ursprünglich ein Bild der Schicksale der Erde in ihrem Verhältniß zur Sonne, dann des Kampfes der menschlichen Freiheit mit der Naturnothwendigkeit, des Ringens, das sich den Himmel, die Götterwürde erstreitet, bildet das Band zwischen jener göttlichen und dieser menschlichen Welt. Sowohl diese Sage, als die folgenden, schließen jede wieder für sich eine reiche Reihe von Perso- nen, Abenteuern, Schicksalen ein und runden sich zu einem Ganzen ab. Es treten die einzelnen Kreise der Heldensage hervor, von Theseus, dem uralten attischen Heros der ersten Civilisation angeführt, während Kreta die Künstlersage von Dädalus und Ikarus liefert. Schon im attischen Sagenkreise beginnen die blutigen Familiengreuel, wodurch die Sage die ungebrochene Naturgewalt des Willens in heroischer Vorzeit zu äußerst fruchtbaren Motiven für die freiere Phantasie erhebt, mit der Erzählung von Tereus und Prokne. Die thebanische Sage liefert den ungeheuern Stoff der Geschichte des Hauses der Labdakiden und des tragisch schönen Untergangs der Niobiden, die orchomenische und jolkische die an Gestal- ten und Begebenheiten fruchtbare Mähre der ersten kühnen Seefahrt, des Argonautenzugs, Thessalien die Sage von Admet und Alcestis, Peleus, Thetis, Achilles, Aetolien von Meleagros und der Kalydonischen Eber- jagd, Thracien von Orpheus. Der Peloponnes bildet seine eigenen reichen Kreise aus, von Bellerophon, Jo, den Danaiden, Perseus, den Diosku- ren, und mit der Sage von Pelops beginnt die blutige Fabel seines Ge- schlechts, das nun unmittelbar zu jenem vollständigsten Sagenkreise, worin die große kriegerische Unternehmung in Asien gefeiert wird, dem trojani- schen führt. Kein Volk hat seine Bubenjahre mit einer so ausgebildet heiteren und wieder furchtbaren, so ausführlichen und alles Verwandte organisch vereinigenden Sage, wie die trojanische, gefeiert. Hier treten denn versammelt die großen Typen der einzelnen Tugenden des Volkes in leuchtenden Bildern auf; die Ausfahrt, der Krieg, die Heimfahrt geben ebensoviele Anknüpfungen, die mehr vereinzelten Sagen, die Familien- schicksale, wie namentlich die der Atriden, die in Ithaka gebildete Sage von Penelope und ihren Freiern, die Schiffermährchen (in der Odyssee) hereinzuziehen. Das wilde asiatische Weibervolk der Amazonen, das öfters in dieser griechischen Vorzeit auftritt, wird am Schlusse auch noch in die- sen Cyklus aufgenommen. Diese Sagen knüpfen sich nun durchaus so an den Mythus, daß Götter und Menschen, Naturgesetz und willkührliche Aufhebung desselben bunt durcheinanderspielen. Die Helden stammen von Göttern, werden von Göttern geliebt und geschützt, gehaßt und verfolgt, und es herrscht ein allgemeines Doppeltsetzen. Achilles faßt sich, bezwingt sich im Streit mit Agamemnon: es ist Athene, die ihn an der goldenen Locke ergreift. Wir sagen: es war, als zupfte mich etwas; hier thut es Athene wirklich. Diese Phantasie hat Alles vermenschlichend verdoppelt, alles Bedeutende thut die Natur oder ein Mensch, aber auch ebenso ein Gott. Es ist nicht das geringste Bewußtsein des Widerspruchs in dieser Verdopplung vorhanden; es gibt daher kein Wunder , wie bei den Juden, welche die Natur entgöttert hatten. Nur da tritt ein solches ein, wo die Naturge- setze alterirt erscheinen ohne persönliches Wirken eines Gottes, wo das einzelne Gesetz unvermittelt in das absolute einsinkt und sozusagen der feste Boden unter den Füßen bricht. Während das persönliche Eingrei- fen der Götter zum Naturlaufe gehört, ist es daher geisterhaft, wenn z. B. in der Odyssee die Häute der geschlachteten Thiere zu brüllen anfan- gen (vergl. die feinen Bemerkungen in Solgers Aesth. S. 153 ff.). Welche herrlichen Motive aber die durchgängige Anknüpfung der Sage an den Mythus gab, davon sei als Beispiel nur die Sage von Achilles erwähnt, wie sie einem Skopas den Stoff zu seiner hochbewunderten Darstellung des gefallenen Helden, den die Meergottheiten nach der Insel Leuke füh- ren, gegeben hat. Allerdings trat nun auch die ursprüngliche Stoffwelt in die Phan- tasie als Gegenstand ein ohne ausdrückliche Vergötterung: die großen Momente und Personen der Geschichte, die allgemeinen Culturformen, Gottesdienst, Gymnastik und Orchestik, Theater, Krieg, Jagd, Landleben, häusliches Leben, Fest, Genuß. Wir werden die Grenze dieser Ausdeh- nung auf die ursprüngliche Stoffwelt sogleich auffassen; hier ist zunächst das weitere Verhältniß noch auszuzeichnen, daß eine Phantasie, die mit dieser Lebendigkeit des Beseelens und Vermenschlichens Alles ergrief, auch das unmittelbare, stoffartige Leben auf allen Punkten im Sinne des an- hängenden Schönen (vergl. §. 23, 3. ) durchdringen mußte. Der Genuß, das Fest, die Waffe, das Geräthe, Alles wurde nicht nur in Formen veredelt, sondern bestimmter eben in vergöttlichenden. Das Gewicht an der Wage war ein Merkurskopf, das Trinkgefäß, den Candelaber zierten Mythen u. s. w. Dieß gehört nicht erst in die Kunst, es hatte seinen Ursprung in der Vollendung der polytheistischen Phantasie. 2. Nur sparsam und spät rückte die ursprüngliche Stoffwelt in die Phantasie ein, den Grund dieser Einschränkung brauchen wir nicht wei- ter auseinanderzusetzen. Auch mußte das Wenige, was aus ihr aufge- nommen wurde, immer wenigstens im Geiste der Vergötterung, wenn solche nicht ausdrücklich hervortrat, behandelt werden. Diese Wirkung zeigte sich im Kunststyle, der auch bei Porträts, bei historischen Schlach- ten u. s. w. angewandt wurde, und von diesem Style können wir zunächst schon hier soviel sagen, daß das Geheimniß, wodurch er überall vergöt- ternd wirkte, ein Unterdrücken der engeren individuellen Züge, ein Er- heben in’s Allgemeine, Gattungsmäßige war in einem Sinne, den das Schöne in einem andern Ideal sehr wohl überschreiten kann, ohne sich, ohne die Idealität aufzuheben. Dieß ist die Weise, in welcher sich bei den Griechen geltend macht, was wir in §. 62 eine Aristokratie der Gestalt nannten. Eine weitere wesentliche Begrenzung bringt der folg. §. So ist also die Phantasie ganz auf Mythus und Sage, schließlich auf die Religion gestellt und daher unfrei. Allein bei den Griechen stellt sich ein verändertes Verhältniß der besonderen Phantasie zur allgemeinen ein. Wie diese das Symbol, so überwindet jene, frühe mündig und keiner Priestersatzung unterworfen, den Typus; die Dichter Hesiod und Homer sind es, die (Herodot 2, 53.) den Griechen ihre Götter gegeben haben; wir dürfen sagen: die Künstler überhaupt, und den Prozeß als ein flüssiges Wechselverhältniß bezeichnen, in welchem die begabtere Phan- tasie den rohen Gott aus den Händen der allgemeinen empfing und rei- ner, menschlicher gebildet an sie zurückgab. Sie war gebunden im Um- fang, nämlich gegenüber der ursprünglichen Stoffwelt, frei in der Art ihres Verfahrens. Dieß freie Bilden nun, sollte man nach §. 62. 63. meinen, müsse alsbald den unfreien Schein, zunächst im Bewußtsein des Künstlers, dann in dem des Volks (vergl. §. 419) aufheben und so die Wahrheit sich geltend machen, daß die Kunst „die Ironie des Uebersinn- lichen“ ist. Allein so rasch geht es nicht; wie heiter auch die Ironie ist, mit welcher die Phantasie, selbst im Homer schon, den illusorischen Stoff behandelt, sie bleibt dennoch ganz in der Illusion. Diese Phantasie dient nicht mehr, weder einem priesterlichen Willen, noch einer Lehre, sie ist noch obligat in gewissen Grenzen (Attribute u. s. w.), allein selbst die Bedingungen, worin sie obligat ist, weiß sie so zu wenden, daß ebenso- viele Schönheiten daraus erwachsen. Sie muß nicht mehr die Wahrheit suchen helfen wie in Aegypten, wo sie ebendadurch Nothhilfe und voll saurer Arbeit war; die Wahrheit ist gefunden: das Absolute ist der har- monische Mensch. Die Phantasie ist daher jetzt eine Frucht, die ungesucht vom Baume fällt; sie schafft das Schöne um des Schönen willen. Allein sie kennt dennoch sich selbst, die Folgen ihres freien und befreienden Thuns noch nicht, sie ist überzeugt, dem Glauben zu dienen, sie meint, nur das Gemüth erheben, erfüllen zu wollen, sie spricht von sich selbst ganz dog- matisch, als wäre es ihr um Lehren und Förderung der Andacht zu thun, und doch ist ihr das Schöne Selbstzweck, ohne daß sie es weiß. Heutiges Tags weiß Jeder an den Fingern abzuzählen, daß und warum das Schöne keinen Zweck außer sich haben soll, und doch weiß er nichts Schö- nes zu machen, während nach dem Grundsatz der freien Schönheit frisch- weg gehandelt wurde, als man ihn noch nicht im Begriffe kannte, als man noch trocken meinte, es handle sich um didaktische Zwecke. §. 437. 1 Diese Phantasie erst hat also wahrhaft das Gebiet der menschlichen Schönheit eingenommen und hält es neben dem thierischen ausschließlich 2 fest. Jetzt erst, da die menschliche Persönlichkeit im Gotte von jedem störenden Zufall rein vorgestellt wird, ist das Ideal in seiner eigentlichen Bedeutung möglich. Es gibt viele Götter und jeder derselben unterscheidet sich vom andern durch die zur individuellen Eigenheit aufgehobene symbolische Naturgrundlage, den darauf gebauten geistigen Charakter und die ihm entsprechende Gestalt. Allein in diesem Ideal muß zunächst um des mythischen Standpunktes willen die einzelne Gestalt schön sein , und so hält die griechische Phantasie mit sicherem Tacte die Grenzlinie ein, wo die Individualität den reinen Gat- tungstypus in härterer Abweichung überschreitet; jeder Gott bleibt mitten in seiner Bestimmtheit frei und allgemein die ganze Gottheit in ungetrübter, schmerzloser Unendlichkeit und Selbstgenugsamkeit. Ein Wiederschein dieser Absolutheit theilt sich auch der aus der ursprünglichen Stoffwelt aufgenommenen Persönlichkeit mit. 1. Wir hatten, als wir die orientalische Phantasie landschaftlich nannten, dem Mißverständniß zuvorzukommen, als habe sie irgend die Land- schaft ästhetisch auffassen können; sie vereinzelte ihre großen Erscheinungen, um sie im Symbole wieder zu vergessen. Aber doch waren diese Er- scheinungen der wichtigste Gegenstand ihrer Verehrung. Die Griechen dagegen vergaßen nicht nur die Naturerscheinungen über dem Symbole, das sie selbst bedeutete, sondern auch dieses über dem Gott, welcher Sittliches — nicht bedeutete, sondern war. Der Gott sog die Landschaft in sich auf; statt des Flusses sahen sie den Flußgott, statt des Aethers Zeus u. s. w., und im Flußgott, in Zeus sahen sie sittliche Zwecke, worauf sie die Naturerscheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten sie ohnedieß keine Sehnsucht nach der Natur und dem Widerschein subjectiver Stimmungen in ihr haben, weil sie selbst Natur waren. Sie fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer- störende in ihren Erscheinungen, aber immer nur in seinen Wirkungen auf menschliche Bedürfnisse, Genüsse, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd- länder selbst, sondern der Nordländer die Schönheit jener Natur ästhe- tisch anschaut. Besondern Sinn aber mußten sie für thierische Schönheit haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperspective, des Helldunkels, der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbestimmt, das Thier aber ist organisch fest, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene menschliche Lebensform in ihrer bruchlosen Einfachheit war Menschenwürde in Verwandtschaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher ist das volle Gefühl für die Thiergestalt ausgebildet. Die Indier, die Assyrer, Perser, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffassung und Wie- dergebung derselben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantasie. Die Griechen liebten die Thierform wie etwas Verwandtes, stellten sie aber darum keineswegs zu hoch; war der Mensch in gewissem Sinn thierähnlich, so fühlte er sich auch als eine unendlich edlere Thierart, war sich auch des unendlichen Mehr, des absoluten Unterschieds der Menschenwürde bewußt. Der Mensch ist daher und bleibt der höchste und wichtigste Stoff dieser Phantasie und so ist das Bild des Menschen, das sie schafft, erst wahrhaft menschlich: nicht nur der Thierkopf ist verschwunden, sondern auch das starre, todte Angesicht; es hat Seelenblick, es sieht Auge in Auge, es grüßt menschlich den Menschen. 2. Ist der Gott Mensch, so bringt die Bedeutung ihre Gestaltung selbst organisch mit, die sie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun der so gegebene Stoff als Gehalt und Gestalt von allem störenden Zufall gereinigt und in’s Unendliche gehoben, so entsteht das Ideal . Man kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der orientalischen Phantasie reden. Nun liegt aber eine Schwierigkeit vor. Die freie Phantasie soll (s. §. 388) einen Gegenstand aus der ursprüng- lichen Stoffwelt innerhalb seiner Individualität in’s Unendliche umbilden. Davon, daß diese Individualität bei den Griechen ihre unend- liche Eigenheit noch nicht in subjectiver Vertiefung zusammenfaßte, sehen wir jetzt noch ab; auch so war für sie der Einzelne nur sich selbst gleich, hatte Züge, die nur einmal so vorkommen konnten. Zwar sie idealisirten ja (zunächst wenigstens) nicht den empirischen Menschen, sondern sie schufen Götter. Nun wissen wir aber bereits, wie der Gott, der an sich die empirisch menschliche Individualität nicht hatte, doch eine solche bekam: durch seine Naturgrundlage (vergl. §. 434). Die so begründete Indivi- dualität nun enthielt als solche auch die Möglichkeit, bis zu der härteren Eigenthümlichkeit fortzugehen, welche aus der reinen Harmonie des Lebens und ihrem Ausdruck in den reinen Gattungszügen der Gestalt in unregel- mäßigerer Linie ausbiegt. Diese härtere Ausbiegung verbot aber zunächst der mythische Standpunkt: der Gott sollte ja Gott bleiben, er durfte also bis zur Besonderung fortgehen, aber nicht bis zur Vereinze- lung ; die Götter stellten gewisse Kreise des Lebens dar, „sie erschie- nen als das Allgemeine dessen, was der Mensch (je in be- sonderen Sphären) als Individuum (zersprengt und mangelhaft) ist und vollbringt “ (Hegel a. a. O. Thl. 2, S. 94); und auch diese Be- sonderheit sollte ungetrübt wieder die Allgemeinheit, der ganze Gott sein, dieser heitere Widerspruch des Polytheismus durfte nicht zerhauen werden. Schon darum mußte in diesem idealen Kreise und in allen weiteren, die er mit seinem Götterlichte beschien, die einzelne Gestalt schön sein . Wir werden sehen, daß das Mittelalter, obwohl auch noch mythisch vorstel- lend, nicht dieselbe ästhetische Pflicht hatte. Allerdings aber erklärt sich die ganze Bedeutung dieses Gesetzes erst aus den folgenden §§. Was thaten nun die Griechen, um dem Ideale individuellen Anhauch zu geben und doch jene Linie nicht zu übertreten? Sie zogen mit zarter Hand die Gestalt bis an die Schwelle derjenigen Abweichungen von der Gattung, durch die sich das In- dividuum isolirt, hüteten sich aber wohl, sie zu überschreiten. Sie näher- ten leise die Formen einer Ausschweifung, welche je der Aufgabe gemäß mehr oder minder an das Thierische oder bei dem Mann an das Weib- liche, bei dem Weib an das Männliche grenzte; aber genau, wo ein Absprung entstanden wäre, der nur zu lösen gewesen wäre, wenn der Gott, mit der Vielheit der menschlichen Individuen auf Eine Linie gestellt, durch die ästhetische Mitwirkung dieser seine Mängel hätte ergänzen können — was ja eben nicht der Fall war, —: da hielten sie inne. So hat das Jupiter-Ideal etwas vom Löwen, das Here-Ideal vom Stiere, Apollo und Artemis vom Hirsche; Athene grenzt an das männlich Herbe, Dio- nysos an das weiblich Weiche, aber so wenig jene thierisch werden, so wenig wird Athene männisch, Dionysos weibisch. So gab es eine Viel- heit von Idealen und jeder Gott war doch wieder das Ganze, und wie sein verklärter Leib, so seine Seele; sie ließ sich in bestimmte Zwecke ein, kämpfte, litt, und war doch mitten im Einlassen, in der Verwicklung über sie hinaus und bewegte sich selig im Aether des Allgemeinen, auf den wolkenlosen Höhen des Olympos. Dieß hat Hegel (a. a. O. Thl. 4, Seite 73 ff.) unübertrefflich dargestellt. Es war in der Bildung einer Vielheit von Göttern außer den überlieferten Naturgrundlagen allerdings ein Ergänzungs-Instinct thätig. Es sollte, da der harmonische Mensch nicht der Einzelne, sondern das Volk ist, eigentlich so viele Götter geben, als Griechen; dieß wäre natürlich das Ende des Polytheismus, denn das wären keine Götter mehr, sondern das Ganze derselben, das für sich keine Person ist, wäre Gottheit, und die Phantasie wäre ganz frei an die erste Stoffwelt gewiesen. Also mußte der Vielheit der Götter eine Grenze gesetzt sein, also durfte man nur eine ungefähre Vollständigkeit suchen, welche die wesentlichsten sittlichen Richtungen des Volksgeistes (in Ver- wandtschaft mit der umgebenden Natur) umfaßte, und so wurde es ge- halten. Zu weiterer Vollständigkeit führte dann die Sage, die an den Mythus anknüpfend die großen Typen des Volkscharakters bildete. Diese sind gottähnlich, nur Alles um eine Stufe tiefer; in einem gewissen Um- fang mußten nun allerdings strenger individuelle Abweichungen aufgenom- men werden; aber auch diese erhält eben das ideale Band, das den Menschen an den Gott knüpft, im schwungvollen Flusse, der es nicht bis zur schroffen Härte kommen läßt: so gleicht Achilles theils dem Zeus, theils dem Apollo, Ajax erscheint ebenfalls löwenartig, nur wilder, dem Poseidon ähnlicher, Odysseus ist gedrungen, stierähnlich, wie der Halb- gott Herkules, Helena gleicht der Aphrodite. Dieß ging denn bis zu den Porträtbildungen herab. Die Schmeichelei, welche die Haare des Alexander nach denen des Jupiter behandelte, die römischen Kaiser apotheosirte, war nicht möglich, wenn nicht der ganze Standpunkt der Anschauungsweise sie nahe legte. §. 438. Dieß Ideal ist aber näher das Ideal eines Volks, das ethisch ist ohne Bruch mit der Natur (§, 349. 425); es ist daher im geistigen Gehalte, folg- lich im Ausdruch seines Ideals kein Neberschuß, der sich nicht hemmungslos in das Ganze der Gestalt ergießen könnte. Nun muß es zwar auch ein Ideal geben können, worin sich der Gehalt ganz anders zur Gestalt verhält, aber für die Vollendung eines solchen wird die völlige Lösung der, zwar einfacheren, Aufgabe der griechischen Phantasie musterhaft bleiben; daher heißt das griechische Ideal classisch . Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 30 Die Darstellung des griechischen Volkscharakters §. 348 ff. über- hebt uns einer weiteren Auseinandersetzung des bruchlosen Verhältnisses zwischen Geist und Sinnlichkeit im griechischen Ideal; naturwüchsig, wie die ganze Bildung dieses Volks war, liberal, sinnlich sittlich, so mußte auch sein Ideal sein, das Geistige mußte in ihm in die ganze Leiblich- keit ohne Rest von Innerlichkeit ergossen, mußte „leibliche unerinnerte Gegenwart“ sein (Hegel a. a. O. Th. 2, S. 234). Nun hat sich aber auf diesem Punkte eine logische Ungenauigkeit in die Aesthetik eingeschlichen; man spricht, als wäre ebendieß schlechtweg das Ideal gewesen. Allein die von der griechischen ganz verschiedene Aufgabe, eine Gestalt aufzu- stellen, in welcher der Ausdruck über die leibliche Form überwiegt, in welcher eine Innerlichkeit sich kundgibt, welche eine zu große Tiefe hat, um ihr organisches Gefäß so bis an den Rand zu füllen, daß nicht im- mer noch eine unerschöpfte Unendlichkeit zurückbliebe: diese Aufgabe kann ebenfalls und soll auf ganz ideale Weise gelöst werden; denn ebendieß, daß das innere Leben über sein leibliches Gefäß unendlich hinausgeht, kann und soll durch die ästhetische Behandlung dieses Gefäßes vollständig dargestellt werden, so daß dennoch in diesem Sinne das Innere und Aeußere auch hier sich decken. Im Ideal Christi ist die ganze Negativität des geistigen Lebens darzustellen und dennoch so, daß die Phantasie eben- diese Aufgabe ganz naiv, ganz unmittelbar und mit Einem Schlage löst. Berührt haben wir diesen Punkt schon zu §. 425, Anm. 1. Allein das ist wahr, daß diese Aufgabe schwerer ist, daß es nahe liegt, statt die Unzulänglichkeit des Leiblichen zulänglich darzustellen, die Unzulänglichkeit in die Darstellung und Behandlung zu legen und zu meinen, durch Steife, Dürftigkeit der Phantasie, durch Körperlosigkeit sprechend, ausdrucksvoll zu werden. Da stehen dann die Griechen als Classiker, als „ein ge- wisser Adel unter den Schriftstellern“ (Kant Kr. d. ästh. Urthlskr. §. 32) und hat die Phantasie von ihnen als ewigen Mustern zu lernen, wie sie zwar nicht dasselbe, aber gleich ihnen das, was sie sagt, ganz sagen soll, rund, völlig, compact. Daß ein Rest von Innerlichkeit sei, der nicht ganz heraus will, ebendieß soll dann die Gestalt ohne Rest ausdrücken. §. 439. 1 Dieses Ideal hervorzubringen ist Sache der bildenden Phantaste und zwar der auf das tastende Sehen begründeten (§. 404); denn das bruchlos ergossene Innere muß als organisch immanentes Maaß im Körper als schönem Gewächse auch die festen Formen desselben so durchdringen, daß eine reine Einheit des Gemessenen und Ungemessenen sich bildet, welche weder gemessen, noch blos als flüchtiger Licht- und Farben-Schein erfaßt werden kann, sondern mit dem Auge gegriffen sein will. Durch diese Bestimmtheit der Phantasie, 2 vereinigt mit der in §. 438 ausgesprochenen, erhält erst das Gesetz, daß in diesem Ideal die einzelne Gestalt schön sein soll (§. 437), seine völlige Be- gründung. Eine so freie Phantasie wird sich nun zwar auch in den andern 3 in §. 404 aufgestellten Arten bewegen, doch so, daß jene Weise die bestim- mende bleibt, was man vorzugsweise objectiven, realistischen Charakter nennt. 1. In der Kunstlehre werden wir den einfachen rechten Namen für diese Auffassungsweise erhalten: sie ist plastisch . Allein es ist kein Spiel, daß wir ihn im vorliegenden Abschnitt an den Hauptpunkten noch vermeiden und den inneren Grund des vorzüglichen Berufs der Alten zur Plastik mit anderen Worten aussprechen. Das geistig Innere im griechi- schen Ideal geht ganz in die Gestalt heraus; es werden daher alle Theile derselben sprechen, nicht nur Angesicht, Auge, Hand, sondern ebenso Hals, Brust, Schulter u. s. w.; es dringt als Maaß in die organischen Formen, die zugleich das Maaß in freien Schwingungen des Runden mit der Un- meßbarkeit alles organischen Lebens umspielen. Wir haben hierin eine Harmonie dessen, was in der orientalischen Phantasie dualistisch kämpfte, des Gemessenen und Ungemessenen. Zu messen sind diese Verhältnisse nicht, außer wenn das Ideal durch Kunst in hartem Stoffe fertig dasteht, sie entstehen nicht durch Messung. Aber ebensowenig entzieht sich der Ausdruck des Innern dem Festen, um als flüchtiger Licht- und Farben- Schein eine hinter den klar begrenzten Formen verborgene Unendlichkeit ma- gisch zu beleuchten; also ist es auch das eigentliche Sehen nicht, worauf diese Phantasie gestellt sein kann. Es bleibt das tastende Sehen, das greifende Auge; denn das so verfahrende Organ faßt Festes, das doch keinem geo- metrischen Calcul unterliegt, Formen, Verhältnisse, rund, warm, fließend, von Muskeln, Hautleben umspielt, faßt die Regel im Spiel, das Spiel in der Regel. 2. Nun haben wir alle Bedingungen beisammen, welche die Noth- wendigkeit begründen, daß in diesem Ideal die einzelne Gestalt schön sei. Aus §. 438 geht hervor, daß hier kein Ueberschuß innerlichen Ausdrucks ist, der für mangelhafte Formen Ersatz böte, und aus dem gegenwärtigen §., daß die Art, zu sehen, worauf diese Phantasie ruht, sich auf die Momente der Erscheinung, worin dieser Ueberschuß sich kund gibt, auf die ahnungsvollen Wirkungen in Licht, Dunkel, Farbe nicht einläßt. Da- zu kommt noch ein weiterer Punkt, der sich ergibt, wenn wir diesen §. mit dem ersten, in §. 437 angegebenen Grunde zusammenfassen. Dort hieß es, der Gott stehe außer der Linie der einzelnen Individualitäten in ihrer Viel- heit; die bildende Phantasie nun, die auf dem tastenden Sehen ruht, ist eben auch diejenige, welche nicht eine Masse vieler Gestalten umspannen kann, wie es 30* die vermag, welche auf dem malerischen Sehen ruht. Unter den Vielen, welche die letztere umfaßt, können sich auch solche befinden, die in Formen unschön sind, aber diese Unschönheit hebt sich in den fließenden Wirkungen der allgemeinen Medien (des Lichts und der Farbe) und in der Wechsel-Ergänzung schö- nerer, unter denselben Medien befaßter Individuen wieder auf. 3. Im Geiste der bildenden Phantasie muß sich nun in diesem Ideal auch die eigentlich messende, die empfindende, die dichtende Phantasie be- stimmen. Die erste wird dem Ungeheuren entnommen in ruhige Maaße einlenken, welche mannigfach schon an organisch menschliche Verhältniße anklingen werden (Säule); die zweite wird das bewegte Innere strenger messen und, sofern sie sich in die dichtende fortsetzt, mehr bewegte Gegen- stände, als blos Bewegungen des hervorbringenden Subjects geben; die dritte wird in dieser und ihren andern Formen gegenständlich verfahren und in scharfen, tastbaren Umrissen zeichnen. Die Objectivität dieses ganzen Verhaltens hat einen doppelten Sinn: das geschaffene Phantasie- bild zeigt Gleichgewicht des Ausdrucks und des Leibs, das schaffende Subject aber kann sich ebendarum nur in Erscheinungen legen, deren volle Gegenständlichkeit sein ganzes inneres Leben in sich aufnimmt: wie im Object, so ist auch im Subject kein zurückgebliebener Rest. Das Letztere nennt man realistisch, das Erstere objectiv. In der dichtenden Phantasie erfährt nun das Gesetz, daß die einzelne Gestalt schön sein muß, aller- dings eine Einschränkung, hier bewegen sich mit stärkerer Betonung des geistigen Ausdrucks viele Individuen vor der Phantasie; doch wird auch dadurch der Spielraum für unschöne Formen nie so erweitert, wie wir dieß in den folgenden Idealen, dem romantischen und modernen finden werden. Die Unform selbst erhält von dem fortwirkenden Geiste des bilden- den Verfahrens einen gewissen Schwung des Großartigen, für den wir in der Kunstlehre den rechten Namen finden werden. §. 440. 1 Der herrschende Standpunkt dieser Phantasie ist das einfach Schöne . Danach bestimmt sie auch das Erhabene , in welchem sie sich jedoch nicht auf die objective Form beschränkt, sondern wesentlich auch auf die subjective, und, da die dunkle Macht des Schicksals (§. 435, 1. ), zwar nicht ohne einen Rest unaufgelöster Naturnothwendigkeit, in die Dialektik einer ethischen Bewegung 2 eingeht, auf die tragische Form ausdehnt. Danach bestimmt sie auch das Ko- mische , das ihr jedoch sparsamer und auch in seiner reichsten Ausbildung nur 3 auf der steten Grundlage der Posse zugänglich ist. Uebrigens da das Ideal die Naturgesetze durchbricht, so entsteht als neue Form des Komischen das phantastifch Komische oder Grotteske . 1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen ist, bedarf keiner Nachweisung. Im Fortgang zum Erhabenen wird nicht, wie bei den Orientalen, das objectiv Erhabene der Standpunkt sein, unter dem auch das Erhabene des Subjects behandelt wird, d. h. das Ungeheure und Colossale wird sich auch hier ermäßigen und verschwinden, so daß diese Form, da ja die ganze Phantasie auf die menschliche Schönheit geht, ganz in ihrem eigenen Sinne behandelt werden wird, aber unter dem Gesichts- punkte des einfach Schönen: d. h. nicht verborgene innere Kämpfe, sondern immer nur solche, welche ganz in das Greifbare heraustreten, können zur Darstellung kommen. Zwar wird hier mit dem Furchtbaren auch das Häßliche eintreten, aber auch hier sich bewähren, daß das für die einzelne Gestalt geltende Gesetz der Schönheit nur mäßige Einschränkung erleidet: Maaß und Grazie, ein nicht verschwendeter Schatz von Ruhe und Milde wird selbst den äußersten Kampf noch dämpfen, wie Winkelmann vom Laokoon sagt, daß er eine bewegte See sei, deren unterster Grund ruhig geblieben. Das Erhabene des bösen Willens kann ohnedieß noch keine Rolle spielen (vergl. §. 353). Man sehe zum Beleg für diese Sätze nur die Rondaninische Meduse an: durch die edeln Züge grinst nur leise, aber desto wirksamer das Erstarren des Todes, jenes von fern an das Erbrechen erinnernde Zucken. Nun erst ist aber auch das Tragische mög- lich, das Schicksal tritt in Wirkung. Wir sahen oben, daß es eine ethische, aber zugleich noch dunkle Naturmacht ist. Daraus folgt, daß vorzüglich das Tragische als Gesetz des Universums die diesem Ideal gemäße Form sein wird (vergl. §. 130), der Neid der nivellirenden Allgemeinheit. Nun tritt allerdings der ethische Geist dieses Ideals nothwendig auch in das Tragische der einfachen Schuld und des sittlichen Conflicts über (§. 131 ff. 135 ff.); allein es bleibt immer etwas von der ersten Form, dem Neide des Schicksals als einer Naturmacht zurück. Im Conflicte bekämpfen sich Heroen, deren jeder Recht im Unrecht hat; das Schicksal ist die un- getheilte Einheit der sittlichen Macht, die sie in Einseitigkeit theilen; es treibt sie aneinander, es straft sie. Diese Idee kann aber bei den Grie- chen nicht rein in Geltung treten; das Schicksal bleibt zugleich eine neidische dunkle Macht, welche den Glanz großer Geschlechter nicht dulden will, daher ihnen tückisch als böser Zufall nachstellt und die Schuld des Ahnherrn am Enkel dadurch rächt, daß dieser neue Schuld begeht, und für diese, die doch selbst schon Strafe für die Schuld des Ahnherrn ist, erst noch Strafe leidet. Daher ist der Enkel schuldig und unschuldig; es herrscht eine ungelöste Antinomie. Das Schicksal ist daher ein fürchter- licher Abgrund, das Grausenhafteste, was die Griechen kannten, das am meisten Gespenstische, was ihr Ideal aufweist, halb rationell, eine ethische Macht, halb irrationell, mit dem beständigen Reize, es als ge- rechtes Gesetz zu begreifen, Versteckens spielend und dadurch doppelt schauerlich. Hätten die Griechen erkannt, daß der Mensch in sich selbst durch seinen Willen und Entschluß den Zufall des Gegebenen aufzuheben hat, so hätten sie auch das Schicksal, das Gesammtgesetz in dem Willen der Einzelnen, als eine den Zufall stets vorausschickende und stets in die sittliche Weltordnung aufhebende Macht begriffen. Nun aber waren sie zu sehr Natur, um schließlich in schwierigen Fällen den Entschluß aus sich zu nehmen; sie warfen das freie Ich hinüber in die Götter, von diesen in das Schicksal und ließen sich durch Zeichen und Orakel den eigenen Entschluß als fremden Rath herüberreichen; der Zufall des Be- stimmtseins von außen durch die Umstände, von innen durch Anlage, er- erbtes Temperament u. s. w. fand in ihnen selbst nicht reinen Abschluß im denkenden Bewußtsein und Willen. Warfen sie nun ihr innerstes Ich in ein Jenseits hinüber als Schicksal, so warfen sie mit ihm diesen un- gelösten Bruch zwischen Naturbedingung und Wollen in dasselbe hinüber; das Schicksal ist daher halb sittliches Gesetz, halb aber, im Hintergrund, Naturmacht, welche verderblichen Zufall schickt, der nicht in sittlichen Zu- hammenhang aufgeht, sich nicht löst: die tragische Versöhnung bleibt un- vollständig, wie die Schuld keine reine ist. 2. Selbst Aristophanes bleibt auf der Grundlage der Posse, ob er sich gleich, an die Grenze der Auflösung des griechischen Lebens gestellt, die wir sofort besonders zu erwähnen haben, in eine viel höhere Komik erhebt; im Witze ist es der bildliche, der dieser Phantasie vorzüglich entspricht. Es ist klar, daß auch im Komischen nicht die feinverborgenen Irrwege, nicht die Widersprüche eines zerrissenen Gemüths an Tag treten können, da solche noch gar nicht an der Zeit sind; die Widersprüche und Risse des öffentlichen Lebens dagegen, welche handgreiflich erscheinen, kann schon die Posse darstellen. Wie weit nun aber das Komische verhältnißmäßig auch gehen mag, an ihm wird sich vorzüglich bewähren, was zum vorh. §. über die Einschränkung des Unschönen in diesem Ideale gesagt ist; zunächst jedenfalls in der eigentlich bildenden Phantasie. Am vollsten ist die Ko- mik im Kreise des Dionysos, aber auch hier, wie sanft gedämpft ist das Gemeine, wie edel noch das Niedrige, welche süße und heimliche Wehmuth im Ueberschwang der Lust geht durch diese muthwilligen Schaaren! Sie sind traurig vor lauter Schönheit. In der dichtenden Phantasie nun frei- lich wird es zur kecken Fratze, zum unbändigen Muthwillen kommen, der sogar, was ein Widerspruch gegen unsere Behauptungen scheint, dem Cynischen einen unglaublichen Spielraum gestattet. Allein das Cynische ist immer noch viel unschuldiger, als alles innerlich Verzerrte und Zerrissene: dieses und seine äußere Erscheinung wäre vielmehr den Griechen schamlos erschienen. Die häßliche Persönlichkeit selbst und ihre fratzenhafte Gestalt ist im griechischen Ideal etwas in sich Beschlossenes, ein mit sich zufriede- nes Ganzes, dem in dieser Ganzheit eine gewisse Größe nicht abgeht, das in seiner Weise absolut, dem Göttlichen im Sinne der Parodie ähn- lich ist und daher das Band der Schönheit viel keuscher bewahrt, als das Ver- witterte, Blasirte, Zerfetzte, dessen die moderne Komik mächtig ist: überall eine Unschuld, welche zeigt, daß das plastische Gefühl selbst in die Komödie sich fortsetzt. 3. Das Grotteske ist das Komische in der Form des Wunderbaren. Die Phantasie der Griechen konnte zwar das Erhabene, wo es die Natur- gesetze durchbricht, nicht als Wunder behandeln. Göttererscheinungen sind daher von erschütternder, oft an das Geisterhafte streifender Wirkung, aber nicht eigentlich wunderbar. Die Komik dagegen ging über die Auflösung des Naturzusammenhangs, welche die Religionsvorstellungen als etwas an die Hand gaben, das sich von selbst verstehe, mit der freiesten Will- kühr noch weit hinaus und ersann Störungen des naturgemäß Mögli- chen, die allerdings die ganze Ueberraschung eines vom heitern Wahnsinn geschaffenen Wunders mit sich führen mußten; man denke an die Vögel, Frösche, Wespen, den Mistkäfer des Aristophanes. Die Orientalen hat- ten, um hier ihr Verhältniß zum Komischen noch einmal zu berühren, Fratzen genug, die uns komisch sind, es aber ihnen nicht sein konnten. Ganz fern lag das Komische den Juden; dieser herbe und zähe Geist hatte sich zu tief in den Dualismus verbissen, um ihn, der doch eben die Grundlage des Komischen wäre, im Scherze aufzulösen. Der Humor war ihnen so fremd wie dem jetzigen Pietismus. §. 441. Wie sich der Kreis des Komischen zum Humor erweitert, der Widerspruch zwischen der Einheit des Schicksals und der Vielheit der Götter zum Bewußtsein kommt und ebenhiemit das Schicksal in das Innere des Menschen tritt, beginnt auch die Auflösung dieses Ideals. Man hat die Nothwendigkeit des Untergangs der griechischen Götter schon ausgesprochen, wenn man erwähnt, wie Zeus bald dem Schicksal gebietet, bald unter ihm steht: ein Widerspruch, der mit dem Beginne der subjectiven Bildung (§. 351) auch in das Bewußtsein treten mußte. Bei Aristophanes ist das Schicksal schon zur verzehrenden Dialektik der Götter geworden und nun ist der Humor da. Dieß aber ist zugleich ein Eintreten des Schicksals in das Innere des Menschen; es wird Ich und die Götter sind gestürzt (vergl. Kritische Gänge Th. 2, S. 368). Ausgang . §. 442. Das römische Volk, mehr objectiv als subjectiv ästhetisch, gibt dem Reiche der Phantasie, das es mit den Griechen theilt oder von ihnen übernimmt, keinen oder nur geringen, durch einen Zug des Geisterhaften unterschiedenen Zuwachs, behandelt aber das Gemeinsame und Ueberkommene seinem Charakter gemäß in einem Geiste der Mächtigkeit und Feierlichkeit, worin sich die ernste prak- tisch politische Bedeutung seiner Religion ausspricht. Doch erzeugt es eine eigene, zwar sparsamere Heldensage und sein Dualismus (§. 352, 1 ) bedingt neben der erhabenen Stimmung ein selbständiges Talent zum Komischen. Es ist schon zu §. 352 ausgeführt, wie die Römer zu den Völkern gehören, welche Stoff des Schönen mehr sind, als machen. So sind auch an ihrer Religion die Sacra, der Gottesdienst, wie er erscheint, als ein Alles durchdringender politisch religiöser und sehr superstitiöser Cultus wich- tiger, als ihr Götterglaube. Jene wurden zu §. 352 erwähnt, ihre Re- ligion ist durch diesen praktischen Charakter mehr Stoff für einen Dritten, als er es für sie selbst sein konnte. Die meisten Götter theilen sie be- kanntlich durch die ursprünglich pelasgische Bevölkerung Italiens und den frühen Verkehr zwischen den Etruskern und Griechen mit diesen; was eigenthümlicher ist, hat theils noch eine mehr symbolische Gestalt, wie Janus mit seinem Doppelgesichte, theils muß etwas Gespenstisches, Gei- sterhaftes in der Phantasie eines Volkes auftreten, das eine zwar große, aber düstere Welt sich baut, in welche das Innere nicht mit freier Heiter- keit sich ergießt; da tritt schon ein Zug der Ahnung ein, die hinter den Dingen helldunkle Schattenbilder schweben sieht; man denke namentlich an die Lemuren, Larven, Lamien, an jene mit Hämmern bewaffneten Todtengenien der Etrusker. Aesthetisch wichtig ist aber namentlich dieß, daß die Römer weit weniger Mythen hatten, als die Griechen. Der Gott ist zwar persönlich, aber die Phantasie erwartet mehr Handlungen von ihm in seinem Verhältniß zum Staate, als sie sich in heiterer Dichtung vergangener absoluter Handlungen des Gottes an sich ergeht. Dieß ist es, wodurch sich vornämlich die praktisch politische Natur dieses Volks äußert, das ebendaher wenig ästhetische Phantasie hatte, weil sein Kunstwerk der Staat war. Dagegen begreift sich, daß es seine eigene Heldensage hatte, die, mit Aeneas an die griechische anknüpfend, die Geschichte der ewigen Stadt mit gewaltigen Männergestalten eröffnet. Daß nun dieses Volk die überkommene Götterlehre weniger im Sinne des einfach Schönen, als des Erhabenen, und zwar im geschichtlich politischen Sinne feierlicher Großheit und Mächtigkeit behandelt, ist die einfache Schlußfolgerung aus der Darstellung seines Charakters §. 352 ff. Daß aber die Werke dieser Phantasie sich namentlich in einer großartigen Behandlung des Zweck- mäßigen bestehen werden, folgt ebenfalls und kann nur nicht hier, son- dern erst in der Kunstlehre seine Ausführung finden. Das komische Ta- lent zeigt sich insbesondere in den Fescenninen und Atellanen. §. 443. Der Zug zum Erhabenen muß aber bei diesem politischen Volke zugleich eine Neigung zur Repräsentation sein, sich daher näher zum Prächtigen und Pompösen bestimmen, und in diesem Sinne namentlich behandelt es die grie- chische Phantasiewelt, wie es dieselbe im Beginn ihres Sinkens, da in sie selbst schon vom Orient her ebenjene Neigung eingedrungen war, übernimmt. Rom vereinigt aber durch seine Welteroberung die Götterwelt aller alten Völker in sich und tödtet sie eben durch diese Ansammlung. Es war bekanntlich die Zeit Alexanders des Großen, wo die edle Einfachheit der griechischen Phantasie in Pracht und Luxus überging. So in üppige Ueberreife geschossen verpflanzten sie die Römer, abgesehen von früherer Gemeinschaftlichkeit der Stoffe, als Sieger auf ihren Boden. Schon in Griechenland war der Prunk ein Eindringen des Orientalischen; die Römer nun, obwohl der Dualismus ihres Charakters von dem des Orientalischen wesentlich verschieden war, haben doch viel mit diesem Verwandtes, nur daß die Liebe zum Colossalen und Glänzenden bei ihnen die besondere Bedeutung haben mußte, das politisch Große in seiner übergreifenden, sicher begründeten, stattlich ausgedehnten Mächtigkeit auf- zuzeigen, zu repräsentiren wie in einem Triumphzuge. Nun nehme man dazu, daß die Pracht auch des überwundenen Orients nach Rom floß, und man hat die Bedingungen beisammen. Allein in diesem Rom als einem Pantheon der Volksgeister und ihrer Götter mußte noch ein anderer Prozeß, ein solcher, der das antike Ideal ganz auflöste, vor sich gehen. §. 444. Diese Tödtung ist eine in dem noch lebendigen mythischen Bewußtsein nur erst leise sich ankündigende, jetzt aber vollendende Auflösung des ursprüng- lichen Verhältnisses zwischen Idee und Bild, wie es sowohl das Symbol, als der Mythus, in lebendiger Einheit des Glaubens bewahrt. Die Bedeutung tritt bildlos in das Bewußtsein und wird mit Absicht auf den Grund des Ver- gleichungspunkts wieder in das Bild versteckt. Diese frostige Verbindung der Elemente des Schönen ist die Allegorie . Sie kann sowohl gegebene Sym- bole und Mythen in dieser veränderten Verbindung ihrer Bestandtheile aus Convenienz festhalten, als auch zu alten oder neuen Bedeutungen neue Bil- der finden. Diese Auflösung des Symbols und Mythus in Allegorie spielt bei Lebzeiten der mythischen Phantasie nur leicht am Saume hin, bei den Römern freilich mehr, als bei den Griechen. Allgemeinheiten, die ursprüng- lich nicht vergöttert waren, wurden als Personen eingeführt: Arete, Ei- rene, Plutos, Eleutheria, Momos, Phobos u. s. w., Honor, Virtus, Concordia, Fides, Victoria, Pax u. s. w. (vergl. O. Müller Handb. d. Arch. d. Kunst §. 406). Man vergesse aber nicht, daß, wo der ganze Boden des Volksbewußtseins noch mythisch ist, auch solche nachträgliche Personificationen mit der größten Leichtigkeit vollzogen werden und rasch in eine geglaubte lebendige Anschauung übergehen. Ganz anders ist es, wenn dieser ganze Boden aufgelöst, wenn die Wurzel des mythischen Geistes getödtet wird, und diese Tödtung wird durch die Ansammlung desselben an Einem Orte darum herbeigeführt, weil die alten Religionen wesentlich local sind und die Versetzung in ganz andere Erde so wenig, als Pflanzen, ertragen können. Wo nämlich viele Götterdienste zusammen sind, da entsteht nothwendig eine Vergleichung. In der guten Zeit eig- neten sich die Völker wohl auch fremde Götter an, nahmen sie aber harmlos für dieselben mit ihren eigenen und bildeten organisch daran fort, bis sie national waren. Jetzt kann von diesem unbefangenen Thun nicht mehr die Rede sein; wo so viele und so ganz verschiedenartige, zugleich aber ganz reife Religionen an Einem Orte aufeinanderstoßen, da muß die Vergleichung zu einer Trennung des Inhalts und des Bildes führen, denn da findet man nothwendig, daß Ein Inhalt von ganz verschiedenen Völkern in die verschiedensten Bilder gefaßt ist, da wird also der feste Ver- band zwischen Inhalt und Form durch Schütteln beweglich, der Kern fällt aus der Schaale, an die er fest angewachsen war. So entsteht die Allegorie, und der Ort, diese aufzuführen, ist hier und nirgends anders. Sie ist keine der Unarten und Abarten in §. 406, die irgendwie jederzeit hervortreten können; sie ist eine geschichtliche Gestalt der Phantasie und zwar eine Desorganisation derselben, sie ist, wie das Symbol noch nicht, so nicht mehr schöne Phantasie. Zunächst nun scheint es, sie sei dasselbe, wie das Symbol, nur mit einem Unterschiede des Bewußtseins. Wie nämlich in diesem das Verhältniß zwischen Bild und Idee ein äußerliches, nur durch das tertium compuratirnis vermitteltes ist, so auch in der Allegorie; aber im Symbol ist die Idee als solche in ihrer Sonderung noch nicht zum Bewußtsein gekommen, ebensowenig daher das Bild als Bild, es ist dunkle, geheimnißvoll ahnende Verwechslung im Völkerglau- ben. In der Allegorie dagegen weiß ein Subject (oder durch Convenienz viele) sowohl die Idee, als auch das Bild als Bild und das tertium als Grund der Verbindung, und versteckt nun, um etwas zum Rathen zu geben, die Idee in das Bild. Die Idee ist zuerst da, das Bild wird gesucht und nachträglich herbeigebracht. So verhält es sich auch, wo ein bereits vorhandenes Symbol in Allegorie herabsinkt. Der Römer konnte aus dem ägyptischen Käfer, dem Apis den Gedanken herausnehmen und ihn dann wieder in das Bild des Käfers, Stiers legen, aber eben- sogut in irgend ein anderes. Allein die Allegorie ist nicht blos verstän- dig aufgelöstes und wieder zusammengesetztes Symbol, sie nimmt auch die Form des Mythus an, sie legt sich in ein Bild, das einst Mythus war oder, wenn das mythische Bewußtsein die Völker nicht verlassen hätte, Mythus wäre. Das Symbol ist als Bild eine Sache oder ein Thier. Menschliche Person ist schon Ansatz zum, Person in Handlung wirklicher Mythus. Die Allegorie nun hat nicht nur einzelne Personen, wie die Jungfrau mit Anker als Sinnbild der Hoffnung, sondern auch Handlungen, wie Herkules am Scheidewege. Der Unterschied aber ist hier derselbe wie im Symbol: dem mythischen Bewußtsein leben seine Personen, es glaubt an sie und ihre Handlungen, die Allegorie dagegen weiß, daß sie bloße Bilder sind; es ist dieselbe Entseelung oder Entkör- perung, dasselbe bloß äußerliche Ineinanderschieben von Idee und Bild, wie wenn die Form des Symbols gebraucht wird. Die Allegorie mag diese oder jene, sie mag die Form des ruhenden Gegenstands oder der in Bewegung gesetzten Menschengestalt umnehmen, sie gibt in beiden Fällen ihren Bestandtheilen dieselbe unorganische Stellung. Allerdings kann man, da das Symbol, auch das ächte nämlich, todter ist, als der Mythus, indem es (ihm selbst unbewußt) nur auf einem kahlen Ver- gleichungspunkte ruht, während dieser die Bedeutung zur Seele einer handelnden Person erhebt, die Sache auch so ausdrücken: die Allegorie ziehe den Mythus, wenn sie seine Form annimmt, zum Symbole her- unter; denn eben mit der Beseelung ist es ihr nicht Ernst, das Allegorie bildende Subject behält die Bedeutung in seiner eigenen Seele zurück. Nur muß man immer hinzusetzen, daß auch das Symbol decomponirt wird in der genannten Weise. Weit mehr aber gibt sich ebendarum allerdings die unorganische Natur der Allegorie zu erkennen, wenn sie mythisch verfährt; denn menschliche Gestalten müssen ihre Seele haben und die Handlung muß aus dieser fließen; in der Allegorie aber ist ihnen die Seele ausgeweidet, ein Begriff dafür hineingestopft, sie thun nur so, als handelten sie, es sind ausgebälgte Puppen; ein Anker wird we- niger mißhandelt, wo er die Hoffnung vorstellen soll. Da es mit der Menschengestalt nicht Ernst ist und da sie doch durch ihre concrete Natur sich nicht auf ein tertium reduziren läßt, so wird das Attribut wichtiger, als sie selbst, dieser Rest des Symbolischen am ächten Mythus wird Hauptsache am gestorbenen; Jupiters Adler und Donnerkeil sagt mir, daß er den Begriff des Luftraums vorstelle, da wären eigentlich diese Attribute genug und nur ein Schelm stellt mir noch die Gestalt des Ju- piter dazu. Es versinken nun entweder wie die alten Symbole die Mythen in Allegorien, wie es z. B. für uns Amor und Venus sind, oder es werden neue Allegorien in mythischer Form ad libitum verfertigt. Virgils Göt- ter sind eigentlich bereits allegorisch geworden, es handelt sich um den Sinn, das Bild ist Conditor-Arbeit, Marzipan auf die Tafel, die saeva Necessitas des Horaz aber, die der Fortuna vorangeht, „große Balken- nägel und Keile in der Hand tragend, auch fehlt die strenge Klammer nicht und das flüssige Blei“, ist ganz eigenes Gemächte. Man sieht aus diesem abgeschmackten Bilde eines sonst geschmack- vollen Dichters, daß das Interesse der Allegorie die Wahrheit und da- her, ob sie schön sei oder nicht, zufällig ist. Frostig ist sie immer, oft genug aber unschön und häßlich. Sie ist ferner dunkel , aber anders, als das Symbol. Die eben angeführte Allegorie des Horaz freilich ist gut verstehen, weil der Dichter den Namen sagt, aber der bildenden Phantasie hingestellt könnte die Figur ebensogut den Begriff des Zimmer- und Maurer-Handwerks oder der Pflicht u. s. w. ausdrücken; der Dich- ter selbst darf nur die Auflösung verschweigen, so zerbricht man sich den Kopf um die Bedeutung, denn jedes Bild hat viele Eigenschaften, deren jede das tertium sein kann. Dieß Dunkel ist also kein ehrwürdiges, wie das des Symbols, es ist widerwärtig, denn nicht Völkerglaube geht hier im Dunkeln, sondern prätentiöse List des Einzelnen wirft uns in’s Dunkle, hat uns für Narren. Es ist Geheimnißthuerei, nicht Geheimniß. Ein allegorisches Bild kann auch an sich zwar dunkel, durch Convenienz aber deutlich sein, wie ein Weib mit dem Anker, mit der Wage, aber wenn das Versteckensspiel dadurch wegfällt, für was noch der Umweg, die Maskerade? Die Allegorie tritt da ein, wo eigentlich mit Entfernung der zweiten die ursprüngliche Stoffwelt an der Zeit ist, dieß aber noch nicht erkannt wird oder die Kraft des Einzelnen noch nicht oder nicht mehr, wie im zweiten Theil Faust von Göthe, dazu reicht. Man sollte meinen, daß man sich darüber in unserer Zeit nicht mehr verstreiten dürfe, aber es gibt Leute, die einmal durchaus das Stroherne verehren müssen. Eine besondere Frage ist, ob in den bildenden Künsten, welche auf große Schwierigkeiten stoßen, wo die Götterwelt erstorben und ihnen so die un- endliche Abbreviatur des Allgemeinen entzogen ist, nicht nebenher wenig- stens und mehr decorativ, als in der Hauptdarstellung, von der Allegorie Gebrauch machen dürfen? Diese gehört in die Kunstlehre. Wir werden aber auch in der Geschichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle- gorie aufnehmen müssen; insbesondere, um das ebengenannte „noch nicht“, d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Gestalt der unrei- fen Phantasie hervortrete, aufzunehmen. §. 445. Die Auflösung des antiken Ideals mußte sich aber auch in der ausge- 1 dehnteren Aufnahme der ursprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächst po- sitiv , so daß eine götterlose Wirklichkeit, welcher das in seine vereinzelte Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenübersteht, durch Vertiefung desselben in die engeren Gebiete des menschlichen Daseins Geltung im Schönen erhielt. Diese subjective Vertiefung, welche sich nicht mehr in der bildenden, sondern in der empfindend dichtenden Form niederlegt, ist theils eine sinnlich leidenschaft- liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le- bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreisen auf- sucht oder die Kürze des persönlichen Genusses beklagt. Ueberall lagen hier 2 die Abirrungen in sinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens von der Formthätigkeit der Phantasie nahe (vergl. §. 406). 1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der ursprüng- lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weise seines Idealisirens Ver- götterung ist, so kann es den Weg zum freien Idealisiren ohne Götter nicht finden und bemüht sich in einseitigen Versuchen, den eingetretenen Bruch zwischen Bild und Idee, Gegenstand und idealisirendem Subject auszufüllen. Sogleich ist aber wohl zu bemerken, daß das wichtigste Stück der ursprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge- schichtlichen Stoffe; denn das Volksleben ist ja zerfallen, die Einzelnen sind punktuell geworden. Der vereinzelte Mensch rettet daher seine Le- bendigkeit in die Enge. Jetzt wird also vor Allem das Privatleben , das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3. ) so sehr zurücktrat, interessant: die Abentheuer, die Liebesgeschichten, das Familienleben des Einzelnen; ferner die Beschäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüsse, das Psychologische im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327. 330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Mensch- lichen bezeichneten. Selbst die landschaftliche Schönheit fängt an bemerkt und freilich wieder mit Einmischungen des Mythischen, was sie eigentlich aufhebt, von der Phantasie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigste ist das Verhältniß des phantasievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich zusagenden Stoffen des Privatlebens. Das Individuum ist in sich zu- zückgetreten, die empfindende, näher die empfindend dichtende Phantasie wird also die bildende verdrängen. Die Empfindung kann aber noch nicht die geistig verklärte sein, sie ist sinnlich bestimmt, doch nicht mehr in bruchloser Einheit des Sittlichen mit dem Sinnlichen, wie vorher. Sie erwärmt ihren Stoff mit Leidenschaft und Sehnsucht. Die Sehnsucht kann ohne unmittelbare Betheiligung des dichtenden Subjects auf das entschwun- dene Glück der Unschuld der objectiven Lebensform gehen und seine Reste da aufsuchen, wo sie weitab von der verderbten großen Welt ihre länd- liche Zuflucht haben; die bewegtere Empfindung kann die Irrgänge der Leidenschaft und Lebensschicksale Anderer verfolgen oder die eigenen in Gluth des Augenblicks und Klage des Rückblicks entfalten. Man sieht: die Zeit der ersten Anfänge der Landschaft-, Genre- und Porträt-Malerei, die Zeit des Idylls, des Romans, der Elegie im antiken und im moder- neren Sinne, ist gekommen. 2. Gerade weil die mythische Art der Idealisirung vorüber ist, die reine und freie aber noch nicht ganz eintreten kann, so liegen mehrere der in §. 406 aufgeführten Einseitigkeit ganz besonders nahe. Das Sub- ject ist in sich zurückgetreten, hat aber das schöne Maaß der Sittlichkeit verloren; die Leidenschaft entbrennt in einer Art von Innerlichkeit und isolirter Lüsternheit, welche der ächt antiken directen Sinnlichkeit nicht mehr gleich sieht; die πορνογράφοι traten schon zu Alexanders Zeit auf, diese Ueppigkeiten waren aber noch immer vom systematischen Durchkosten des Liebesgenusses, wie es in der römischen Poesie auftritt, verschieden. Die Schmeichelei und Ueppigkeit mißbraucht und entstellt mythische Formen. Auf der andern Seite beginnt Reflexion, Sentenz, dann Absichtlichkeit, Gemachtheit überhaupt ihre Kälte über das theilweis Talentvolle zu verbreiten. §. 446. Die ursprüngliche Stoffwelt wird aber auch in negativem Sinne ergriffen und in einer Weise behandelt, welche wirklich als Gattung bereits jenseits der Grenze des ästhetischen Gebietes liegt. Aus der verderbten Welt zieht sich das Subject in sich zurück, vergleicht sie mit der wahren Idee und bringt ihre Verkehrtheit mit geradezu strafendem Ernste oder ironisch durch komische Auf- lösung zu Tage. Es bedarf nur noch eines Schrittes, um das Bildliche völlig zum Mittel der Belehrung und Ermahnung herabzusetzen, und die Phantasie ist wirklich desorganisirt, was sich insbesondere da, wo sie noch bildend auf- treten will, als Verlust alles Formsinns ausspricht. Es genügt hier, den innern Grund von Erscheinungen, welche als rein anhängend schon in den bloßen Vorhof oder Hinterhof des Schönen hinaustreten, Satyre, Lehrgedicht, zu nennen. Das Nähere, insbesondere die Unterscheidung gewisser Stufen und Zweige, welche durch ein innigeres Band des Bildes mit dem Gedanken dem Schönen weniger fern stehen, und anderer, worin die Elemente ganz unorganisch verbunden sind, ge- hört in einen Anhang der Lehre von der Poesie. Wie tief der Formsinn da versinkt, wo er nicht nur ein bewegliches inneres Bild vor der Phan- tasie vorüberführen, sondern die Formen körperlich fixiren soll, zeigt die Plastik, Malerei, Architectur zur Zeit der späteren Kaiser; insbesondere werden die menschlichen Formen völlig mißverstanden, sie ziehen sich zu lächerlicher Länge aus oder schrumpfen zu Zwergen ein, das Gefühl der Proportionen verschwindet. b. Das Ideal der phantastischen Subjectivität oder die romantische Phantasie des Mittelalters . §. 447. Die Phantasie des Mittelalters ergänzt den mosaischen Monotheismus mit dem Wahren des Polytheismus, verbindet aber auch, indem sie es mit Belassung des Mythischen thut, die Fehler beider und geräth in den Wider- spruch mit sich selbst, durch die Idee der Immanenz über allen Mythus hinaus zu sein und doch die dem Bewußtsein aufgegangene Unendlichkeit, in welche Schicksal und Götter eingesunken sind, in das Jenseits eines neuen Olymps und Hades, eines Himmels und einer Hölle hinauszuwerfen. Der unendliche Mangel der jüdischen Religion war der juristische Gott; dagegen war der Polytheismus, insbesondere in seiner Vollendung zur schönen Menschlichkeit durch die Griechen, in dem Vortheil unbefan- gener, stets gegenwärtiger, freundlicher Vermittlung der Götter mit den Menschen. Wiederum stand das mosaische Bewußtsein in dem Vortheile, eine strengere ethische Einheit in ihrem Einen Gott zu besitzen, die poly- theistische Naturreligion dagegen schob volle Sinnlichkeit in ihre vielen Götter und verfiel der ganzen Zufälligkeit, an welcher die unmittelbare und bruchlose Einheit des Geistes und der Sinnlichkeit leidet. Wenn nun dem Bewußtsein die Idee der Versöhnung, der reinen Gegenwart des Absoluten als des die Welt von innen bewegenden, in sich selbst überwindenden und zu ihrer Wahrheit befreienden Geistes aufgegangen ist, so hat es den Vortheil beider Religionsformen vereinigt und den Mangel beider abgeworfen. Dieser Eine Geist in Allem ist absolute ethische Einheit, er sitzt aber nicht in den Wolken als Vergelter dessen, was er doch selbst bewirkt, sondern ist unverlierbar mit uns und in uns und noch viel inniger gegenwärtig, als die griechischen Götter. Der wahre geistige Kern des Judenthums ist in dieser reinen Anschauung ergänzt mit dem wahren geistigen Kern des Polytheismus: Heiligkeit des Einen Gottes mit der freundlichen Nähe der vielen Götter. Diese Ergänzung miß- glückt aber in der Religion des Mittelalters, weil sie den mythischen Stoff in die Vereinigung mit hinüberträgt. Sie beläßt den jüdischen Gott, den ein vorgestellter Leib von der Welt trennt, und verbessert die falsche Grund- lage nur dadurch, daß sie ihm die Affection der Liebe gegen die Welt beilegt, ihn zu einem gütigen und verzeihenden Vater macht. Ihm bleibt aber der Hofstaat der Seraphim, Cherubim und wie sonst diese verbleich- ten, mediatisirten Götter und Genien orientalischer Religionen noch heißen mögen, und ebenso dem himmlischen Reich gegenüber Ahriman als Teu- fel mit seinen bösen Geistern. Der Teufel ist besiegt und hat dennoch Macht, der Dualismus eines guten und bösen Gottes überwunden und doch fest- gehalten. Daher ist auch jene Liebe Gottes nicht stetig, nicht flüssig, sie braucht besonderer Acte, wechselt mit Kampf und Zorn und dem Men- schen ist Grauen und Unheimlichkeit nicht von der Seele genommen, er ist, der Liebe Gottes gewiß, bei sich und doch der bösen Macht Preis gegeben, nicht bei sich. Er trägt nun das Schicksal frei in sich selbst, die Götter sind eingestürzt in sein Inneres, und doch schwebt über ihm Schicksal und Götter-Rath und beschließt über ihn, hat beschlossen, wird beschließen das, was ja nur er selbst in sich beschließen kann. Der Wür- fel, der in seinem Innern liegt, wird über den Wolken und im Schlunde der Erde geworfen. §. 448. Eigentlich wäre durch das reine Prinzip der neuen Religion die ursprüng- liche Stoffwelt für die Phantasie gewonnen und die einfache Aufgabe der letz- teren dieß, die innere Bewegung des Menschen zur Unendlichkeit und Freiheit des Geistes durch Negation seines bloßen Naturseins und Eigenwillens in ent- sprechender Erscheinung darzustellen. So aber kann das abermals vorgestellte Jenseits nur durch die Wunder der Sage in die Wirklichkeit einbrechen und diese eröffnet sich im Zusammenfluß mit alten, polytheistischen Mythen mit der Vorstellung vom Leben und Opfertod eines Gottessohns, dessen zusammengefaßte Wirkungen als dritte Person in die Gottheit, dessen menschliche Mutter als Göttinn neben dieselbe gesetzt werden. Hegel in seiner übrigens so trefflichen Darstellung der romantischen Kunstform sagt (Aesth. Th. 2. S. 120 ff.), der Kreis der christlichen Phantasie verengt , weil der Olymp gestürzt, die Natur entgöttert sei, er sei unendlich erweitert , weil die ganze Geschichte der innern Welt und die ganze äußere bezogen auf sie nun offen daliege. So kann man die Sache nur darstellen, wenn man die weltlich freie moderne Welt- Anschauung mit der mittelalterlichen zusammenfaßt, die wir vielmehr als zwei geschiedene Ideale auseinanderhalten. So wenig das Mittelalter den Olymp stürzt, die Natur entgöttert, so wenig weiß es die ursprüngliche Stoffwelt rein zu gewinnen. Es ist noch weit bis dahin, daß man einsähe, die Welt als Schauplatz Gottes in der wunderlosen Bewegung des neuen, von innen überwindenden und befreienden Geistes darstellen heiße Gott darstellen. Es braucht noch eines ausdrücklichen Uebersprungs von ihr auf eine transcendente Welt, um im Endlichen das Unendliche als wir- kend aufzuzeigen. Nicht die weite Welt, sondern ein Auszug aus ihr, den die Sage in Verbindung mit dem Mythus bewerkstelligt, bildet den Inhalt dieses schillernden Ideals. So ist es zunächst Sage, wenn die Person des Religionsstifters mit einer Glorie des Wunderbaren umgeben wird. Von der andern Seite aber wirken dabei orientalische und grie- chische Mythen ein und führen, in neuplatonischer Philosophie zusammen- gefaßt, dahin, dem Göttersohn eine Präexistenz als zweiter Person in der Gottheit beizulegen. Er ist Wischnu, Krischna, er ist Buddha, Mithras, er ist Horos, er ist der von Zeus gezeugte und sich zur Götterwürde wieder hinaufkämpfende Herkules. Es ist wohl einerseits unendlicher Fortschritt, daß die Form des empirisch wirklichen Menschen Christus als Gott angeschaut, daß so „der Anthropomorphismus vollendet wird“, wo- gegen die heidnischen Religionen „nicht anthropomorphisch genug“ sind. Allein in Wahrheit ist hier keine Vollendung, sondern nur ein stockender An- fang der Vollendung des Anthropomorphismus. Einsehen, daß der Mensch die Persönlichkeit Gottes sei, ist unendlicher Fortschritt, aber daß Ein imaginärer und doch als real historisch vorgestellter Mensch es sei statt in unendlicher Wechselergänzung alle wirklichen Menschen, dieß Meinen ist nichts anders, als Buddhaismus, der den ungeheuren Sprung einer gren- zenlosen Confundirung nicht scheut und durch den furchtbaren Wider- spruch, ein individuell begrenztes Leben geradezu für das Absolute zu nehmen, ebenso himmelweit hinter den zarten Polytheismus der griechi- schen Phantasie zurückfällt, als er über sie hinauszugehen den Ansatz ge- nommen hatte. Im Erlösungstode sammelt sich die vorchristliche Opfer- Idee abschließend, aber auch bis zur blutigen Sitte der Menschenopfer zurückgreifend, zusammen. Der heilige Geist wird dritte Person in der Gottheit; den ganzen Widerspruch, monotheistisch und doch polytheistisch Vischer’s Aesthetik. 2. Band. 31 zu sein, zeigt die Lehre von der Dreieinigkeit. Der große Riß in den Naturzusammenhang der Welt, der mit der Geburt eines Gottessohnes gesetzt ist, muß auch das Band und die Kette der natürlichen Fortpflan- zung zerreißen: die Mutter Gottes bleibt Jungfrau, ja sie wird in den Himmel erhoben, vergöttert und selbst der Dualismus männlicher und weiblicher Gottheiten kehrt wieder. Es ist dieß nur consequent. Gott ist masculinum , dieß fordert auch ein femininum. §. 449. Wie in diesem Anfang der mit Mythen verschmolzenen Sage die innere Bewegung der Versöhnung des Menschen als wunderbare Vergangenheit gesetzt ist, so wird die Vollendung dieser Bewegung als Auferstehung, Weltgericht, Wiederbringung aller Dinge in die Zukunft hinausgestellt. Zwischen diesen Polen eines doppelten Jenseits in der Zeit und denen des räumlichen Jenseits von Himmel und Hölle schwebt mündig und unmündig die Welt. In der Mensch- heit setzen sich die Wunder fort; in der mehr weltlichen wie in der religiösen Sage ist wunderbare Ablösung vom Zusammenhang der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit Bedingung der Idealität. Die Seligen und Heiligen bevölkern noch weiter den Himmel, die Verdammten die Hölle. Die Wunder sind we- sentlich auch unmittelbare Wirkungen auf die umgebende Natur, welche, ohne- dieß von alten, zu Geistern herabgesetzten Göttern wimmelnd, dem Zauber einen offenen Schauplatz darbietet. Man bemerke, daß wir erst noch beschäftigt sind, das Reich von Phantasiebildungen kurz zu entwerfen, das in dieser Weltanschauung die allgemeine Phantasie der besondern als Stoff vorbildet und zuarbeitet. Von dem inneren Geiste, der alle diese Gestaltungen durchdringt, ist noch nicht, war wenigstens nur erst beiläufig zu vorh. §. die Rede, auch wird derselbe, wenn wir weiterhin auf ihn eingehen, nicht viele Worte verlangen, denn er ist nur eine Uebersetzung dessen, was über den Cha- rakter dieser Zeiten und Völker an sich in §. 354 ff. gesagt ist, in die Phantasie. Im vorliegenden §. ist ein religiöser und ein „mehr welt- licher“ Sagenkreis unterschieden. Die Rittersage ist nur mehr weltlich, als die Legende; auch der Ritter verdient sich das Himmelreich durch devote Handlungen, wobei ihn Wunder unterstützen, und schließliche Ascese. Die folgende Ausführung wird die wichtigsten Sagenkreise unter- scheiden. Ausgezeichnete Frömmigkeit macht nach dem Tode nicht nur selig, sondern heilig. Es entsteht dadurch um so mehr eine neue Bevöl- kerung des Olymps, weil hier die Sage an Mythen, also Götter an- knüpft. Die Aemter der Heiligen sind ganz erkennbar Aemter früherer römischer Götter; wie die römische Religion für jede gewöhnlichste Lebens- sphäre, für Städte, Plätze, Straßen, Bauchweh, Zahnweh ihren Gott, ihre Göttinn hatte, so das Mittelalter seinen Heiligen oder seine Heilige. Wunder aber geschehen nicht nur an Menschen, sondern diese selbst er- ringen sich die Wunderkraft. Wie es der Zusammenfluß aller alten Re- ligionen in Rom ist, woraus der neue Olymp des Christenthums sich geschichtlich erklärt, so ist es der furchtbare Zauber-Unfug, der ebenda- selbst in den letzten Zeiten der Auflösung sich angesammelt, welcher in die neue Religion überging. Mit göttlicher oder dämonischer Kraft aus- gerüstet kann der Mensch ein hölzernes Eisen machen. Die Natur ist nichts weniger, als entgöttert, alte Götter, Halbgötter spucken hinter jedem Busch. Faunen sind Teufel geworden, Hekate des Teufels Großmutter, Frau Holle, Waldweibchen, Zwerge, Elfen, Pilwitze, Schrätelin, Nixen, Feen, Riesen huschen, wühlen, hämmern, flackern, schweben, toben durch alle Elemente und Naturreiche. Es ist eine nur verbleichte, schattenhaft, geisterhaft gewordene Vielgötterei. §. 450. Diese durch die Sage an die ursprüngliche Stoffwelt angeknüpfte zweite 1 Stoffwelt unterscheidet sich aber von der antiken dadurch, daß ihr ein neues Herz eingesetzt ist. Der Geist der innern, durch die Brechung der Sinnlichkeit und des Eigenwillens sich vermittelnden Unendlichkeit gibt den vertieften Seelen- blick der Liebe den guten, einen Abgrund geistiger Furchtbarkeit den bösen Mächten und dem Gott als Richter des Bösen. Die übermenschlichen Gestalten sind als jenseitig vorgestellt, aber ihr Ausdruck und ihr Thun hebt die Jensei- tigkeit auf, von der Erde aus als einem Jammerthal kommt der wirkliche Mensch, die äußere Natur in seinem Gefühle mitbegreifend, im Liebestausche der Sehnsucht seinen Göttern entgegen und feiert im gebrochenen Herzen seine mystische Vermählung mit ihnen. Alle diese Züge fassen sich im Begriffe der 2 phantastischen Subjectivität zusammen. 1. Man hat schon von einer Romantik der Alten gesprochen, man könnte ebensogut von einer Classicität des Mittelalters sprechen. Die Wahrheit ist, daß das Mittelalter einen gleichen Vorrath transcendenter, über- und außermenschlicher Gestalten hat, wie das Alterthum; nur der ganze Geist ist ein anderer, sie blicken, sie reden, sie handeln anders. Helios wendet den Sonnenwagen bei der Schauderthat des Atreus, ebenso ver- hüllt bei Shakesspeare die Sonne ihr Angesicht vor dem blutigen Morde; aber dort ist Alles plastisch, hier gefühlt. Zeus schickt den Griechen den Hagel, Apollo die Pest, den Christen beides der Teufel: mythisch ist dieß 31* und jenes, aber der Teufel haucht einen Geist des Abgrunds, seine undeut- liche Gestalt umgibt ein ahnungsvoller Schauder, dort dagegen ist Alles hell, deutlich, klar und kalt. Die mittelalterlichen Götter sind erwärmt vom Herzen des Mittelalters; die antiken haben die Welt in sich eingesogen, thronen unbewegt als ein All in sich, oder handeln mit Affect ohne Herz, die ro- mantischen dagegen schenken der Welt wieder, was sie aus ihr in sich gezogen, ihr inniges Auge senkt sich in die Brust des Verehres, sucht ihn, klopft bei ihm an, bedarf ihn, wie er sie in Sehnsucht der Liebe sucht: dieses Flüssige, dieser warmbewegte Tausch verbessert im Fortgang die Götterbildende Hy- postase. Auch mit dem Reich des Bösen verhält es sich so; kenne ich das Böse in mir, so brauche ich es wahrlich nicht mehr auf den Teufel zu schieben, das Mittelalter thut dieß dennoch, aber dann sieht es im Teu- fel eine geistige Unendlichkeit von Empörung und Verdamniß, die eben nur das Grausen vor dem Abgrunde des eigenen Innern ist. Dieses Herüber und Hinüber, worin die Umrisse der christlichen Götter sich wie- der auflösen, wodurch sie wieder einkehren in die Brust, die sie gedichtet hat, wodurch die Krystallisation ihrer Transscendenz wieder aufthaut, macht sie zu mehr mystischen als plastischen Wesen und daher ist allerdings wahr, daß Alles das im Alterthum der Romantik näher steht, was mehr ge- heimnißvolle Macht, als deutliche Gestalt ist: Zeichen, Orakel, Träume, die dunkeln Urwesen der Theogonie, die im Reiche der neuen Götter fortwir- ken. Die innere Versöhnung des Menschen nun geht im romantischen Ideale durch den Bruch mit der Natur und dem Eigenwillen, also durch Negation; sie geht wirklich fort zur Wonne der Versöhnung, die Seele feiert nach der Qual der Zerknirschung ihre Brautnacht mit dem Bräutigam, allein diese Versöhnung ist nicht Versöhnung mit der Natur, der Welt, dem eigenen reinen Selbst, denn sie bleibt Versöhnung mit dem Außerwelt- lichen, wohinter sich diese verstecken, daher fehlt allerdings der wahre po- sitive Schluß. Die Versöhnung ist tief im Innern, die Erde bleibt ein finsteres Thal, der Leib ein Kerker. Man muß die Werke eines Perugino sehen: da stehen auf einem kleinen Fleck Erde jene schüchternen Menschen- gestalten, über ihnen öffnen sich die Wolken, aus goldener Gluth blickt die Himmelsköniginn nieder in himmlischer Güte und mit unbeschreiblich tiefem Seelen-Weinen blicken jene hinweg vom Schattenthale, hinauf in die Spalte der verklärten Welt, zu jener jungfräulichen Mutter, deren Herz voll Liebe doch nur die Blume ist, die in ihrem eigenen Innern blüht. 2. Phantastisch ist, wer Gebilde der Phantasie, denen er den Grund- lagen seiner Einsicht gemäß entwachsen sein sollte, für Wirklichkeiten hält, sei es, indem er nur überhaupt und theoretisch sie an die Stelle der Dinge selbst schiebe, sei es, daß er darnach handle. Die Alten mit all’ ihren Mythen und Sagen nennen wir nicht phantastisch, denn in ihrem Bewußtsein lag der Keim, der diese Luftgebilde hätte widerlegen können, noch zu dunkel und unentwickelt. Weil kein Widerspruch in ihnen war, handelten sie auch ganz zweifellos nach der realen Wahrheit, die jenen Ge- bilden zu Grunde lag. Das Mittelalter dagegen ist der Naturreligion, welche jedes Allgemeine in ein greiflich Einzelnes umwandelt, entwachsen und wiederholt doch ihr Verfahren, daher ist es phantastisch. Das Wesen seiner Weltanschauung ist näher phantastische Subjectivität. Der Geist ist in sich gegangen, ist bei sich, die Lebensform ist subjectiv geworden. Von da aus hätte er den Blick frei, alle andern Dinge unbefangen zu sehen und zu behandeln, wie sie sind. Allein das Subject wirft sich selbst sammt diesem Insichsein wieder in ein Jenseits hinaus und so sieht es auch statt aller andern Dinge nur einen geisterhaften Doppelgänger der- selben. Das Subject hat sich erfaßt und zugleich wieder verloren, hält sich die Maske seines Selbst gegenüber und maskirt so Alles. Die Alten blieben ruhig bei ihrer Mythologie und liehen den Göttern Alles, was ihr unbefangener Blick im Menschen und der Natur richtig erkannt hatte; das Mittelalter sieht unruhig wieder zurück auf das Subject und die Welt, die ihr Mark an den Auszug der illusorischen zweiten Welt haben abge- ben müssen; da ist ein allgemeines Doppeltsehen, ein allgemeines Ver- schieben und Durchscheinen des Verschobenen durch die Zwischenwand, ein Zwielicht, ein Schillern, das Alles in gebrochenen Farben und Lichtern zeigt. Allerdings mußte aber jener Auszug auch unvollkommen bleiben; dieß innerliche und träumerische Bewußtsein konnte keinen Staat bauen, daher feh- len die Götter für den Organismus der Wirklichkeit, es gibt nur Götter für das Herz, und dieser Mangel wirkt zurück, verstärkt die Aufregung und unruhige Gefühlsschwärmerei. §. 451. Nunmehr ergibt sich die nähere Bestimmtheit dieser Phantasie, gehalten an die in §. 402—404 aufgestellten Arten. Zuerst erhellt, daß sie wesentlich auf die menschliche Schönheit gestellt ist; denn zu inniger Beseelung der landschaftlichen Natur und zu gemüthlicher Auffassung der Thierwelt ist zwar in dem unendlich vertieften Empfindungsleben die Bedingung gegeben, aber theils durch die Reste des Mythischen der Ausblick gehemmt, theils die innere Unendlichkeit noch zu wenig entfaltet, um ihr Interesse nicht ganz auf die höchsten Angelegenheiten des Menschen zu beschränken. Gott ist Mensch ge- worden, hat aber in dieser Gestalt nur dem innersten Leben in seiner Beziehung zum Absoluten Heil gebracht. Die landschaftliche Schönheit fängt allerdings an gefühlt zu werden, mehr zwar in der deutschen, als in der romanischen Phantasie. Ein klei- nes Stück Landschaft, ein trauliches Thal, ein stiller See gibt den Hin- tergrund zu einer Gruppe heiliger Personen, man sieht deutlich, dieser Sinn ist erschlossen. Die Naturgeister, welche die Romantik aus dem Heidenthum stehen ließ, können in ihrer geisterhaften Unbestimmtheit nicht so ganz das Naturleben in sich herübernehmen und vertreten, wie bei den Alten; Gott, die Engel, Teufel, haben es ebenfalls zu sehr mit dem menschlichen Leben zu thun, als daß die Natur nicht neben ihnen freige- lassen da stünde. Das Mythische hindert also den Blick weniger, als im Alterthum; dazu kommt die veränderte Natur desselben, wie sie zum vor- hergehenden §. Anm. 1 dargestellt ist. Ein Odem geht von den göttlichen Gestalten aus und weht heimlich, träumerisch durch die Lüfte, durch Berg und Thal, Wasser und Busch. Dennoch kann das eigentliche Mittelalter die Landschaft noch nicht zur selbständigen Schönheit ausbilden, weil alles Interesse mit religiöser Ausschließlichkeit auf das ewige Heil der menschli- chen Seele geht; sie kann nur eine schmale Perspective zur menschlichen Erscheinung bilden. Aehnlich verhält es sich mit dem thierischen Leben. Das Thier wird gemüthvoll hineingezogen in das neue Leben der Liebe, es ist, als dürfe an der Kindschaft Gottes, an der Erlösung auch die seufzende Creatur Theil nehmen; dadurch eben ist aber der Blick von die- ser Lebensform als einer selbständigen abgezogen, es ist ganz wenig Sinn für die Bestimmtheit seiner Gestalt vorhanden, es gilt nur in dieser Hinüberziehung auf das Himmelreich. Das Mittelalter ist in Darstellung von Thieren äußerst schwach, während selbst die unreife orientalische Phan- tasie im Alterthum es darin schon weit brachte; auch ein Raphael hat noch wenig thierischen Formsinn und macht schlechtere Pferde, als selbst die alterthümlich hart gezeichneten in den alten etrurischen Gräbern, an denen doch selbst die schwierigen Theile des Fußes: Köthe, Fessel, Krone, Huf, schon mit einem Verständniß gegeben sind, welches zeigt, wie viel Sinn für diese edle, ihrem eigenen Charakter so verwandte Thiergattung die alten Völker hatten. §. 452. Aufgeschlossen sind also die innern Schätze des subjectiven Lebens mit der Einschränkung auf die letzten und tiefsten Interessen, mit Ausschluß also eines organischen öffentlichen Lebens. Ueberall bildet der innere Vorgang den eigentlichen Gehalt des Schönen, im Sinn einer Seelengeschichte wird sein Reich durchmessen und vorzüglich jene stillen Kreise werden gesucht, in welchen der Wechseltausch der Liebe sich entfaltet. Jetzt erst hat aber auch die Individua- lität ihre unendliche Geltung erhalten, sie ist in ihrer auf sich gestellten Eigen- heit die Form Gottes, ist eine Welt. Der beliebteste Kreis ist das Familienleben, es ist in den Himmel versetzt. Das neue Herz, das den mythischen Wesen gegeben ist, leuchtet am innigsten aus der göttlichen Mutter mit dem Kinde. Aber auch die weltliche Liebe und alle die verborgenen Schönheiten des nicht öffentlichen Lebens, das bei den Alten so wenig Bedeutung haben konnte, entfalten ihre stille Heimlichkeit. Man gibt und empfängt; der Herrlichkeit des Ge- müthslebens, die in den Himmel versetzt ist, fließen rückwirkend von da wieder die Strahlen der himmlischen Weihe zu. Das politische Leben konnte natürlich ebensowenig im Sinne ursprünglichen Stoffes Gegenstand der Phantasie werden, als es (§. 450 Anm. 2 ) in den Göttern vertreten war. Mit diesem Stoffe sind aber nothwendig auch die sinnlich freieren unter den Culturthätigkeiten, welche dem Staate zu Grund liegen, ausge- schlossen. Krieg, Jagd u. dergl., sofern dabei nicht Beziehung auf einen heiligen Zweck ist, liegt ferne, aber das sanfte Hirtenleben, die trauliche Hütte des Zimmermanns, die behaglich enge Studirstube eines St. Hie- ronymus thut sich als bescheidener Tempel stillen Friedens auf. Ferner treten natürlich eine Menge unbestimmter Situationssphären auf, welche den Schauplatz zu den Abentheuern des Einzelnen bilden. Aber man darf nicht erwarten, daß dieses Ideal auch nur die Stoffe, die ihm das reale Leben seiner Zeit darbietet, wirklich ausbeute. Die feudalen Zu- stände hätten nicht mehr bestehen können, wenn man gleichzeitig fähig ge- wesen wäre, ein deutliches Bild von ihnen zu geben; nur vereinzelte Motive werden davon aufgenommen. Der Cultus dagegen spiegelt sich natürlich in den Entwürfen dieser Phantasie, doch nicht eigentlich in einem objectiven Bilde: er ist denjenigen, denen er absolute Nothwendigkeit ist, nicht gegenständlich. Eine Prozession z. B. wird nicht als ästhetische Erscheinung an und für sich dargestellt, sondern ein Wunder, das dabei geschieht, ist die Aufgabe. Alle so verengten Kreise aber drängen auf die neu aufgeschlossene Bedeutung der Individualität hin, die wir nun weiter verfolgen. §. 453. Diese Bedeutung der Individualität ist aber keine unmittelbare; sie trennt sich von sich selbst, entäußert sich ihrer Sinnlichkeit und ihres Eigenwillens und gelangt erst vermittelst dieses Sterbens bei sich und ihrem unendlichen Leben an. Durch dieses Insichgehen ist die unmittelbare Einheit der Gestalt und ihres Innern gebrochen, jene erscheint nur als ein für sich unselbständiges Gewand, das als durchsichtiger Schleier hinter sich deutet auf eine geistige Tiefe, die keine sinnliche Form erschöpft. Der Ausdruck geht über sein begrenztes Organ unendlich hinaus. Diese Sätze bedürfen keiner weiteren Begründung; sie sind nur die Auffassung dessen, was in §. 354 ff. über die Volksnaturen und Zustände des Mittelalters als objectiven Stoff gesagt ist, und eine Zusammenfassung dieses einfachen Ergebnisses mit dem, was aus der jetzt dargestellten Phan- tasiewelt hervorgeht. Es fehlt an treffenden Bezeichnungen und Wendungen für diese neue Form des Ideals in unserer Literatur nicht. Auf den ver- fehlten Gedanken, das classische und romantische Ideal als Symbol und Allegorie zu unterscheiden, welche Solger (nach Schellings Andeutungen s. Meth. des akad. Studiums Vorl. 8) durchzuführen suchte und die Schlegel von ihm aufnehmen, werden wir nachher kurz zu reden kommen, ebenso auf Schillers hinkende Unterscheidung: naive und sentimentale Poesie. Glückliche Wendungen hat J. P. Fr. Richter (a. a. O. §. 22): „das Romantische ist das Schöne ohne Begrenzung oder das schöne Unendliche, — es ist das Aussummen einer Saite oder Glocke, in welchem die Tonwoge in immer ferneren Weiten verschwimmt und endlich sich verliert in uns selber und, obwohl außen schon still, noch innen lautet. — Das Christen- thum zerschmelzt mit seinem Feuereifer gegen das Irdische den schönen Körper in eine schöne Seele, um ihn dann in ihr lieben zu lassen“ (§. 23): „das Christenthum vertilgte wie ein jüngster Tag die ganze Sinnenwelt mit ihren Reizen; — was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? Die, worin sie einstürzte, die innere . Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern Alles unendlich ist oder ungeendigt, so blühte in der Poesie das Reich des Un- endlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. Engel, Teufel, Hei- lige, Selige und der Unendliche hatten keine Körperformen und Götter- leiber, dafür öffnete das Ungeheure und Unermeßliche seine Tiefe, — die Geisterfurcht, welche in der weiten Nacht des Unendlichen vor sich selber schaudert“ u. s. w. Nachdem aber Hegel diesen Standpunkt der „unend- lichen Negativität, welche die Ergossenheit des Geistes in das Leibliche aufhebt, — dieß Insich- und Beisichsein des Geistes, der zwar im Aeußer- lichen erscheint, aber aus dieser Leiblichkeit in sich zurückgeführt ist, nur in sich congruente Wirklichkeit hat“, auf die rechten, kurzen Bestimmungen zurückgeführt hat, bedarf es keiner weiteren Sammlung fremder Definitionen. §. 454. Diese negative Bewegung in sich, wodurch die Individualität eine geistige Welt wird, verzehrt aber keineswegs ihre unendliche Eigenheit, vielmehr darin beweist die Idee ihre Macht, daß sie ganz in das empirisch einzelne Subject einkehrend jene Eigenheit selbst in den Dienst der Erhebung in das Unendliche und daher in die Theilnahme an dem absoluten Werthe der Persönlichkeit zieht. In diesem Sinne ist allerdings die Aristokratie der Gestalt (§. 62) aufgehoben und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden Züge dringt eine porträtartige, mikroskopische Auffassung ein. Es folgt daraus, daß weniger die ganze Gestalt, als die vorzüglich sprechenden Theile derselben von dieser physiognomischen Behandlungsweise als Sitz der Schönheit her- vorgestellt werden. Der Geist der Selbstüberwindung verzehrt das Behagen des Fleisches, den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die scharfen Züge der unendlichen Eigenheit, das Knochengerüste der Individualität stehen, und wie in der Gestalt, so im Innern. Sie sind jetzt berechtigt, weil „ Alle erlöst, theuer erkauft sind“, weil ganz der Einzelne sich als Gefäß des Unendlichen wissen darf; sie zählen positiv mit, ja ihre Adstriction ist eben die con- centrirte Persönlichkeit selbst. Sofern nun unter jener Aristokratie der Gestalt der streng gemessene Gattungstypus der griechischen Phantasie verstanden wird, der die individuellen Züge nur soweit zuläßt, als sie die zarte Schwelle, jenseits welcher die scharf in sich zusammengefaßte Emanzipation liegt, nicht überschreitet, so ist dieselbe verschwunden. In anderem Sinne aber dauert sie, wie wir sehen werden, fort. Die Gestalt mag nun trocken, hart, eckig, selbst armselig sein: Hände und Angesicht, am meisten das Auge widerlegen sie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks, in welchem das Eigenste und das Allgemeinste, der kleine Mensch und der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das Physiognomische tritt jetzt erst in seiner ganzen Bedeutung ein, wie über- haupt alle die Momente, welche in der Darstellung des Individuums als Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, soweit sie nämlich der tiefer in sich zusammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt- lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachsenen Charakter angehören; denn diesen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht. §. 455. Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang störender Abweichungen in 1 das Schöne einzudringen scheint, so hebt sich dieß vor Allem eben dadurch auf, daß dieß Phantasiegebilde die Anschauung nöthigt, in steter Bewegung von jenen auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umrisse in den Ausdruck der Innerlichkeit verschwimmen und verzittern; aber auch dadurch, 2 daß in diesem Ideale nicht mehr die einzelne Gestalt schön sein muß (vergl. §. 437), sondern die Unebenheiten dieser in der Gesammtwirkung, welche in einem ästhetischen Ganzen Viele vereinigt, sich ergänzen. 1. Dieß widerspricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. cum grano salis eine mikroskopische Behandlung nannte. Die kleinen Züge, das Mienenspiel der verborgenen Gefühle, der harte Stempel der Indi- vidualität, das Alles kann seinen bestimmten und deutlichen Ausdruck ha- ben, aber zugleich schimmert, spielt, scheint ein bewegtes Licht über das Ganze hin, das dem Beschauer nicht erlaubt, bei der Schärfe und Härte dieser Ausladungen zu verweilen, sondern ihn fort und weiter führt, ein hindurch- und überschwebender Geist, in welchen die Grenzen der Gestalt beständig sich verhauchen. Dieser Geist ist zunächst der Ausdruck des un- endlich allgemeinen und doch eigenen Seelenlebens des einzelnen In- dividuums. 2. Dieß beständige Fortgehen über die Grenze ist nothwendig zugleich Fortgehen von einem Individuum zu mehreren und von den Individuen zu ihrer weitern räumlichen, natürlichen Umgebung. So wie die Götter des Mittelalters den eingesogenen Weltgehalt in gemüthvoller Continuität weiter geben, so ist auch den Menschen der Eine Geist frei und schran- kenlos gegeben, strömt durch Alle, ja die Täuschung, als sei im Gottes- sohne die Menschheit erschöpft, verbessert sich in die Gewißheit, daß nur das Menschengeschlecht der Sohn Gottes ist. Die Thüre ist offen und die Schaaren der Menschheit, in welcher der Einzelne und ebendaher ein Jeder und ebendaher nur Alle zusammen eine Welt sind, treten in langen Zügen in das Schöne herein und dürfen, demokratisch berechtigt, an die einzelne Handlung so viele Betheiligte abgeben, als die Phantasie nur immer in einem Acte bestimmter Anschauung zu umspannen vermag. Jener fließende Geist geht also hinüber vom Einen zum Andern, umfaßt eine Gruppe zugleich Dargestellter, deren Unschönheiten in wechselseitiger Ergänzung ihrer Schönheiten zusammenfließen in eine Gesammtbeleuchtung, deren Magie uns über die Unebenheiten, die Knorren und Ecken der här- teren Eigenheit, die Mienen, deren kleines Spiel nahe an die Grenze geht, wo das Individuelle keine allgemeine Bedeutung mehr zu haben scheint, schwebend hinwegführt. §. 456. Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß sich unwillkührlich das Mißverhältniß zwischen Form und Gehalt, woran das Mit- telalter überhaupt leidet (§. 354 ff.), als bleibender Bruch auch in seiner Phantasie spiegeln, sondern sie setzt auch ausdrücklich Kreuzigung des Fleisches bis zu peinlicher Häßlichkeit, Gedrücktheit und Weltlosigkeit der Erscheinung als Bedingung der Idealität. Auch in diesem Ideal herrscht also eine Aristo- kratie der Gestalt durch die Ausschließlichkeit ascetischen Ausdrucks. Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewissen Sinn nahe an die Aufstellung des ironischen Gesetzes: das Häßliche ist schön. Gälte dieß Gesetz ohne Einschränkung, so wäre natürlich alles Aesthetische ver- nichtet, allein dieß ist nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbessert, widerlegt ja in diesem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne. Die Seelenschönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn sie nicht auch er- schiene; sie erscheint nur anderswo, als in dem Körper, sofern er schönes Gewächse ist, sie erscheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller- dings die ästhetische Geltung des romantischen Ideals. Allein es bleibt dennoch ein Bruch, ohne einen Rest von Barbarei geht es nicht ab. Der §. unterscheidet „Kreuzigung des Fleisches bis zu peinlicher Häßlichkeit“ und „Gedrücktheit und Weltlosigkeit der Erscheinung überhaupt;“ das Erstere bezeichnet mehr den eigentlich ascetischen Ausdruck mit seiner Magerkeit und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daseins, die schauderhaften Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantasie von der Religion in dieser Richtung liebt, jene henkermäßigen Darstellungen des Leidens Christi und der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der selbst auf den Gestalten aus dem mehr weltlichen Kreise liegt, den Ausdruck prinzipiell festgehaltener Unmündigkeit, deren höchste Pflicht ist, den Pfaf- fen zu gehorchen, und höchstes Verdienst, ein Leben voll Thaten im Klo- ster zu beschließen. Ueber die Aristokratie der Gestalt, welche dadurch, der demokratischen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die- sem Ideale herrscht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwiesen werden. §. 457. Beide in §. 455 unterschiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel- ches mit der Eigenheit der Individualität in dieses Ideal eindringt, können er- haben oder komisch sein. Die romantische Phantasie verfolgt, während sie auch das einfach Schöne zum vollen Zauber seelenvoller Anmuth vertieft, das Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichsten Empörung des Bösen, aber auch der höchsten Verklärung; die weltlose Innerlichkeit schließt jedoch den wahren Prozeß des Tragischen aus. Auch das Komische hat, ohne zwar die Form der Posse ganz zu verlassen, den Boden seiner tiefe- ren Formen durch die Einkehr des Subjects in sich betreten. Man darf nicht meinen, der Ueberschuß der Idee über die Erschei- nung, worauf dieses ganze Ideal ruht, bestimme dasselbe überhaupt zu einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt sich hier von einer geschichtli- chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen, die in der Metaphysik des Schönen noch gar nicht in Rechnung kom- men, allen metaphysischen Grundformen des Schönen eine neue Tiefe gibt, so zu sagen eine vertiefte Resonanz, ein in weiterere Ferne hallendes Echo. Alle Grundtöne des Schönen hat dieses Ideal mit den andern gemein, aber bei jedem klingt in ihm ein vollerer Accord mit, verschwe- ben die Töne länger, nachhallender. Für das einfach Schöne hat es einen unerschöpflichen Stoff in der heil. Familie und in dem neuen Geiste, der von ihr auch auf die weltliche Liebe ausfließt. Kindlich, „frauenhaft“ (wie Gervinus sagt), ist ja dieses ganze Ideal in der Unschuld seiner Erfahrungslosigkeit. Die Seelenschönheit dieses sanften und süßen Kreises kennt zwar auch ihre Kämpfe. Das Ideal der Maria hat seine ver- schiedenen Stationen, sie ist nicht nur die schaamhaft glückliche, sondern auch die schmerzensreiche Mutter, aber doch bleibt der innerste Seelenfriede ungetrübt und dieses Gebiet des Sagen-Mythus geht um der reinen Holdseligkeit seines Innern willen auch noch nicht zu den harten und eckigen Körperformen fort, das Innere und Aeußere ist congruenter, Glieder, Neigung und Beugung anmuthig. Im Gottessohn aber vorge- bildet im Sinne der Stellvertretung, ernstlich und als innerste Erfahrung im wirklichen Menschen beginnt das Reich des Erhabenen als furchtbarer Kampf der innersten Seele, ein Abgrund, ein Meer von Qualen wühlt sich auf. Wo Alles unendlich wird, muß es auch der Schmerz sein und vor Allem der Schmerz der Schmerzen, der über die Entzweiung der Seele mit ihrem Urquell. Je tiefer aber die Pein, desto tiefer auch die Versöhnung und wie Maria in goldenen Höhen mit ausgespannten Armen aufschwebt, so schwingt sich das entzückte Gemüth in das Meer der Selig- keit. — Wir haben es bis hieher verschoben, die neue Tiefe des Bösen, die sich nun ebenfalls aufthut, zu erwähnen, und seither geredet, als habe dieß Ideal nur gute Menschen aufzuweisen, die durch Reue und Schmerz zur Versöhnung fortschreiten. Schon in der Stofflehre wurde aber gezeigt, wie nun die Bedingungen zur eigentlichen Empörung des Bösen in der Individualität gegeben sind, die sich als Ich erfaßt hat. Die Empörung ist erst da eine volle, wo sie sich als bewußter Widerspruch gegen die Be- stimmung zur geistigen Unendlichkeit ausbildet, wo diese Unendlichkeit selbst sich als Eigenwille fixirt und das Ich all’ den neuen und tiefen Reich- thum, der in ihm aufgegangen, gegen dessen eigenen Zweck umdreht, den es nun als Verdammniß seiner selbst in sich trägt. Der Teufel ist äußerlich vorgestellt, die Schauer seiner Finsterniß kehren aber zurück auf das Ge- müth, das ihn geschaffen, das Weltgericht ist eine künftige Begebenheit und doch gegenwärtig im Busen des Verworfenen. Je geistiger die Furcht- barkeit dieser Erscheinung, desto weiter darf die Gestalt in der Häßlichkeit gehen. Um jenes Widerspruchs willen liegt im Bösen selbst eine Komik furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komische nun den Boden ge- funden, wo seine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei- gelassenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerspruch ist aufge- than auch im guten Menschen durch das aufgegangene Bewußtsein der Unangemessenheit seiner Erscheinung und der ganzen Naturseite seines Geistes zu seinem idealen Selbst. Im religiösen Kreise selbst herrscht eine witzige Ironie: die Naturgesetze und irdischen Zwecke sind Schein, schlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, dessen herrliches Gemüth über seine eigene Erscheinung stolpert. Die Form aber bleibt immer sinnlich, Fastnacht-, Hanswurstartig, auch wo die Komik den höchsten Gehalt er- greift, und zugleich hiemit ist auch ausgesprochen, daß die nun zugänglichen Quellen des Komischen keineswegs ganz erschöpft werden. Es fehlt die Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß ist nun auch der Grund, warum in dieser Phantasie noch kein Raum sich findet, das Schicksal als die dialektische Macht im Wirklichen zur Darstellung zu bringen. Die Griechen konnten dem Tragischen diese wahre Gestalt ge- ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün- digen, politischen Menschenwelt war und weil sie in ihrer Schicksals-Idee hinter die Götter selbst zurückgriffen, wo sie denn die Menschenwelt und das Schicksal als seine Macht in Eins zusammenfaßten. Im Mit- telalter dagegen wird von der Menschenwelt nur das Gemüthsleben her- ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter diese zurückzugreifen in die immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geistes: daher machen die Götter das Loos des Menschen in ihrem Jenseits ab, er hat das Zusehen. Also ist keine Tragödie möglich, und weil es kein Schicksal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie. §. 458. Unter den in §. 404 aufgeführten Arten ist es die empfindende 1 Phantasie, worauf das Mittelalter durch seine Grundstimmung angewiesen ist, doch nicht mit der Einschränkung wie die jüdische (§. 433, 3. ), sondern so, daß sie zugleich in gewissen Sphären der bildenden heimisch diese im Geiste der empfindenden behandelt. Besonders im messenden Sehen wird sie die Sehn- 2 sucht des Gefühls ausdrücken, für das tastende so gut als gar nicht, für das eigentliche Sehen dagegen vorzüglich bestimmt sein, als dichtende Phantasie 3 aber wird sie, gemäß diesen Bedingungen wirkend, am wenigsten zu derjenigen Unterart berufen sein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit dem Standpunkte der bildenden Auffassung fortführt. 1. Die Kunstlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß, darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieses Ideal ist mu- sikalisch . Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich- keit der Gestalt sich stetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieses sensorium commune auflöst, da ist die empfindende Art der Phantasie als Tonan- gebender Standpunkt von selbst gesetzt. Schiller nun hat zuerst den Na- men des Sentimentalen so allgemein angewandt, daß er dieß ganze Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir lassen aber denselben billig einer besonderen Stimmungs-Epoche des moder- nen Ideals; er enthält etwas Pathologisches, das ihn nicht zu der Be- zeichnung einer großen und selbständigen Periode des Ideals eignet; davon an seinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der Natur und Grenze und zugleich eine Sehnsucht nach ihrem verlorenen Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Ansatz, aber keines- wegs alle Bedingungen in sich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive- tät gebrochen und steckt doch noch in ihr, seine Art, aus der Natur zu fliehen, ist (weil mythisch) selbst wieder naiv. Allein die ganze Entwick- lung bei Schiller hat eine Schiefheit sowohl in der Ausdehnung der Be- griffe, als in ihrer Bestimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten, sondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die Beilegung von Eigenschaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen. Ebenso nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz, Virgil) sentimental mit Beilegung von Eigenschaften, welche die Auflö- sung der ächten und ganzen Phantasie bezeichnen. Es bleibt daher un- klar, ob er einen historischen oder einen allezeit bestehenden Unterschied darstellen will, er sucht sich mit den bei aller Größe unläugbaren Män- geln seiner Phantasie eine Stelle neben Göthe zu retten und stellt daher die sentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er bestimmt nun die Begriffe so: der sentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze und das Unendliche als Idee; der naive ist sein Werk und sein Werk ist er, er ist objectiv, er rührt durch Naturdarstellung, er hat Ein Prinzip, die Natur. Dieß ist grundfalsch, alle ächte Phantasie hat und gibt Na- tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunst ist Kunst der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechische Phantasie hat und gibt diese Einheit, die romantische, die moderne nicht minder; denn die beiden letzteren haben (in verschiedener Weise freilich) zwar einen Bruch zwischen Geist und Natur darzustellen, ihr Stoff hat also, wenn man will, zwei Prinzipien, aber diesen Bruch, diese Zweiheit des Daseins selbst haben sie ganz ebenso wie der antike in der Begren- zung Eines untheilbaren Geistes, also wie Ein Prinzip darzustellen. Sagt ja Schiller selbst, Göthe verstehe sentimentale Stoffe mit sinnlicher, ob- jectiver Wahrheit darzustellen, im Alterthum hätte dazu der Stoff gefehlt, in der neuen Welt scheine der Dichter dazu zu fehlen, Göthe aber habe das scheinbar Unmögliche geleistet. Freilich fehlte im Alterthum der Stoff, aber nicht in der neuen Welt der Dichter; Schiller räumt hier eben ein, was wir sagen, und stößt die ganze Grundlage seiner Abhandlung um. Die Stoffe sind verschieden, das Verfahren der Phantasie ist in allen Idealen das Gleiche; richtiger, nicht nur die Stoffe sind verschieden, die Ideale, die Wege der Phantasie selbst sind es, aber in diesem Unterschied bleibt das Wesen der Phantasie immer das gleiche; selbst das Ideal des Geistes, der mit der Natur gebrochen hat, stellt sie ungebrochen dar. Kurz: alle ächten und ganzen Dichter jeder Zeit sind naiv, die Vertie- fungsgrade der Idee aber in dem Ideal, das sie in verschiedenen Zeiten darzustellen haben, sind verschieden. Geht also der Ausdruck naiv und sen- timental auf jederzeitige Arten, so ist dieß falsch, denn das Sentimentale bezeichnet vielmehr nur eine Abart; geht es nur auf die geschichtlichen Ver- tiefungsgrade, so ist nur der antike Dichter naiv, nur der romantische sentimental, aber dieser Ausdruck und seine Definition ist unglücklich. 2. Das romantische Ideal ist, um wieder die Namen der Kunst im Voraus zu entlehnen, architektonisch, unplastisch, malerisch . Auch dieß bedarf keiner weiteren Ausführung. Das messende Sehen wird nicht fehlen, aber seinen Stoff im Sinne der von der Erde aufstrebenden Sehn- sucht der Empfindung behandeln, das tastende muß verkümmern, denn das Ideal führt einen Gehalt in sich, der zu tief liegt, um in die festen Formen bis an den Rand greiflich sich zu ergießen, das eigentliche Sehen aber kann gedeihen, denn es faßt die Gestalt in der bewegten, fließenden Magie des Licht- und Farbenscheins, es ist empfindendes, wenn man will, musikalisches Sehen und sucht den unendlichen Ausdruck vorzüglich im farbig durchsichtigen Spiegel des Auges, man kann auch jenes empfin- dend messende Sehen ein malerisches nennen (die Architectur des Mittel- alters ist in gewissem, nicht im tadelnden Sinne malerisch). 3. Die romantische Phantasie ist lyrisch , sie behandelt die bildende Form der dichtenden Art (das Epos) malerisch lyrisch, kann aber die Form nicht finden, worin das Subject des Lyrischen sich fortbewegt in die Objectivität der bildenden Form und sie als innerlich und gegenwär- tig bewegte in den tragischen Prozeß zieht, denn dazu gehört Freiheit und Mündigkeit: sie kann nicht dramatisch werden. Dieß und alles Obige findet in der Kunstlehre seine weitere Ausführung. α . Vorstufe . §. 459. Während christlicher Mythus und Sage sich von einfachen Anfängen fort- bilden, nimmt die einheimisch deutsche Heldensage, die den ächt germanischen Charakter in seiner wortarmen Tiefe und rauhen Selbständigkeit zwar hart, aber groß und mit einer der griechischen Objectivität verwandten Geradheit der Motive entfaltet, fortwachsend Bestandtheile aus neuen und anderen Verhält- nissen in sich auf. Die erste Verbindung christlich universeller und volksmäßig germanischer Sage erkennt man in der Carls-Sage. Der religiöse Mythus hat mit den Evangelien schon eine Abrun- dung gefunden, allein die früheren Jahrhunderte des Mittelalters erwei- tern mehr und mehr den christlichen Olymp aus den Beiträgen aller vorchristlichen Religionen. Die germanische trägt insbesondere in die Vorstellung des Weltuntergangs die erhabenen Bilder der Götterdämme- rung ein. Als völliger Gegensatz steht die aus heidnischer Vorzeit her- übergenommene deutsche Heldensage der neuen geistigen Welt gegenüber. Kein Volk hat eine der griechischen so ebenbürtige Heldensage aufzuwei- sen wie das deutsche. Der Dualismus des deutschen Charakters ist zwar darin bereits ausgesprochen, aber dieser Dualismus hat seine Stadien. Hier erscheint zwar bereits das Innere nicht in seinem Aeußeren erschöpft, die Menschen können nicht reden, sie haben keine Geschmeidigkeit, keine Leichtigkeit, ja Dieterich muß erst von seinem greisen Waffenmeister geschla- gen werden, bis er sich zum Kampf im Rosengarten entschließt, doch dann fahren ihm vor Kampfwuth Flammen aus dem Mund. Es ist also wohl ein Gehalt, der nicht ganz und voll über seine Schwelle dringen kann, aber in diesem Gehalte selbst ist nicht der weitere Bruch der einfachen realen Motive gediegener Sitte mit ganz transcendenten Motiven, welche jene zu opfern geböten. Liebe, Rache, Haß gehen geradezu, von keiner subjectiven Moral gebrochen, ein Fluß ohne Wehre, ihren Weg. Daher sind diese Menschen naiv und ganz, aus Einem Stücke freilich rauhen Gesteins gehauen, tüchtige und grobe Gesundheit des sittlichen Lebens findet in ihnen ihre einfachen typischen Vertreter, welche in derben Grund- zügen die Hauptcharaktere des Nationalgeistes darstellen. Heidnische My- thologie spielte im ursprünglichen Sagenbilde natürlich eine stärkere Rolle, doch schon in diesem haben die Personen das Ungebeugte und Undurch- dringliche, sich selbst ihr Schicksal zu sein und die Folgen ihrer Thaten in wortlos harter Festigkeit auf sich zu nehmen. Fortrückend nimmt die Sage Personen und Verhältnisse der Völkerwanderung, Christliches, spä- tere Stoffe, Stimmungen, Formen der Ritterzeit in sich auf, aber der heidnische Kern ist unverwüstlich, ja indem das Einwirken von Göttern und Naturgeistern mehr und mehr an den Saum gedrängt, das Christ- liche aber nur als Ritus eingewoben wird, wachsen die Charaktere noch an Selbständigkeit, an schroffer Größe und Strammheit und doch zugleich durch einen Zug herzlicher Innigkeit, der wie eine Blume am rauhen Felsen blüht, an Milde und Süßigkeit. Dieser Zug ist vorzüglich der Gudrun-Sage eigen. Dagegen nimmt nun die fränkische Carls-Sage schon frühe jenen Weihrauchgeruch an, der ein Zeichen von Verschmelzung des Christlichen, also Universellen, und, da doch die Grundlage noch rauh, groß und reckenmäßig bleibt, des Germanischen ist. Dieses Amalgam ist zugleich ein Zusammenfluß von deutschen und romanischen Beiträgen, diese Sage wandert durch die Phantasie aller europäischen Völker, ergreift auch die Geschichte der Ahnen Karls des Großen und verarbeitet sie zu einem fruchtbaren Kreise von einzelnen Zweig-Sagen. Am reinsten deutsch bleibt der Zweig von den Haimonskindern, in welchem (wie vorzüglich auch in der lombardischen Sage von Rother, von Otnit, Hugdieterich und Wolf- dieterich) die Feudal-Kämpfe mehr, als dieß sonst mit der ursprünglichen Stoffwelt der Fall ist, eine Rolle spielen. Wie aber Karl mit seinen Recken schon ein Glaubensheld wird, so werden andere Zweige (Flos und Blankflos, Octavian, Genovefa u. s. w.) vom ritterlich erotischen Geiste in Besitz genommen. Vom Romanischen, das hier besonders ein- wirkt, kommt aber der Ausdruck romantisch. §. 460. Während diese Sagen orientalischer und germanischer Abkunft die dich- 1 tende Phantasie, welche mehr erst auf dem Standpunkte der bildenden, als der, diesem Ideal gemäßen, empfindenden Auffassung steht, beschäftigen, dringt von der andern Seite allmählich auch die antike Heldensage mit ein. Mehr aber noch, als durch diese Hinterlassenschaft auf die dichtende, wirkt das objective Ideal auf die eigentlich bildende Phantasie und beherrscht sie durch seine gesunkenen For- men, welche zunächst vollends zu leblosen Typen verhärten und langsam sich am neuen Geiste wieder erwärmen. Zugleich hilft sich die noch arme Phantasie mit Bildern, 2 die zwischen dem Symbol und der Allegorie, welche, zunächst überall ein Zei- chen des Verfalls, in die Anfänge eines neuen Ideals als Zeichen der Unreife herübergenommen wird, geheimnißvoll schweben. 1. Seine Bestimmung, Alles im Geiste der empfindenden Phantasie zu behandeln, kann das Mittelalter anfänglich noch nicht erfüllen. Die Vischer’s Aesthetik. 2. Bd. 32 Zeit der Sagenbildung verfährt im Gebiete der dichtenden bildend (episch). Zu den bezeichneten Sagenkreisen kommen nun noch Reste des antiken. Die Sage der Franken knüpft schon frühe den Ursprung dieses Stammes an die trojanische, welche sich dann in entstelltem Bilde verbreitet, um im Geiste der ritterlichen Empfindung gegen den Schluß dieser Vorstufe be- handelt zu werden. Auch einige Götter, Venus, Amor wandern aus dem Alterthum herüber. Wie nun aber die eigentlich bildende Phantasie von der Erbschaft antiker Formen ausgeht, dafür genüge ein Fingerzeig auf die Basiliken, altchristlichen Gemälde, plastischen Darstellungen an Sar- kophagen. Erst weit später entwickeln sich die eckig gebrochenen, aber in- dividuellen germanischen Formen. So bilden sich zunächst Typen, die, an sich schon todt, weil aus fremdem Geiste entstanden, allmählich zu Mumien erstarren und so byzantisch genannt werden. Gegen Ende dieser Vorstufe taucht allmählich der innigere Seelenblick des neuen Ideals in ihnen auf. 2. Man kann zweifeln, ob jene ältesten christlichen Darstellungen (Pfau, Ente, Hirsch, Lamm u. s. w.) Symbole, auch etwa symbolische Halbmythen (Orpheus, Theseus kommen bekanntlich vor), oder Alle- gorien gewesen seien, d. h. ob das Bild glaubig mit der Bedeutung ver- wechselt oder diese nur conventionell in jenes gelegt wurde. Es ist ge- heimnißvolle Mitte; selbst Dante’s Allegorien haben einen mythischen, geisterhaften Hauch, der sie zum Theil der Poesie rettet. Eben indem die Allegorie, ursprünglich Merkmal des Verfalls, als Nothhilfe in ein werdendes Ideal übergeht, nimmt sie hier wieder etwas vom Symbole, nämlich das Unwillkührliche, Unbewußte, das Confundiren von Bild und Idee an. Nimmermehr aber kann man das reife Ideal des Mittel- alters mit Solger und den Kritikern der neueren romantischen Schule allegorisch nennen. Unter Symbol versteht Solger (Vorles. über Aesth. S. 129 ff.) das volle und runde Aufgehen der Idee im Stoff, im sinn- lichen Object, also das, was vielmehr Vollendung des Mythischen ist, das griechische Ideal; unter Allegorie „das Schöne als Stoff noch in der Thätigkeit begriffen, als ein Moment der Thätigkeit, welches sich noch nach zwei Seiten hin bezieht.“ Das Leben Christi habe die Doppelbe- ziehung, empirisch einzelne Thatsache zu sein und zugleich die absolute Idee zu bedeuten , aber dieß Sein und Bedeuten sei wieder Eines, das Leben Christi sei wirklich das, was es bedeute. Wir haben aber hinrei- chend gezeigt, daß der Ueberschuß geistiger Tiefe in der romantischen Phantasie nichts weniger als allegorisch ist, und was dieses Sein und Bedeuten zugleich betrifft, so verhielt es sich mit den antiken Mythen und Sagen ebenso: es waren Ideen, die für Geschichte genommen wurden. β . Mitte . §. 461. Die Verschmelzung des Christlichen, also ursprünglich Orientalischen, des 1 Romanischen, des Deutschen, der allgemeine Austausch, der insbesondere auch Keltisches aufnimmt, dazu der Einfluß der muhamedanischen Phantasie, welche die unterschiedslos reine Einheit und Allgemeinheit ihres Gottes mit heiterer Beschaulichkeit als gegenwärtige Weltseele genießt, mit Gluth und Kühnheit der Empfindung glänzende Thaten feiert, mit üppigem Spiel der Er- findung eine Fülle von Pracht streng messend um einen gestaltloseren Mittel- punkt versammelt und vorzüglich dem spanischen Volke sich mittheilt: diese Mo- 2 mente treiben ihre Blüthe, das Herz des Mittelalters schließt seine Schätze auf und die empfindende Phantasie kommt zur Reife. 1. Die Kelten sind ausdrücklich zu nennen, denn die wichtigsten Sagen des Mittelalters gehen von diesem träumerischen Volke, das von der neblichten Lust der brittischen Inseln, wo es sich am längsten unvermischt erhielt, wie von einem geheimnißvollen Schleier, dahinter Geister lauschen, umgeben ist, und dessen Phantasie Feen, Elfen, Zauberbrunnen und dergl. ursprünglich angehören, entweder wirklich aus, um zwischen allen abend- ländischen Völkern herüber und hinübergetragen sich zu erweitern, oder sie wandern zu ihm und werden vermehrt von ihm wieder zurückgegeben. Neben den Kelten sind die Muhamedaner , d. h. insbesondere die Per- ser mit der durch die arabische Eroberung bei ihnen neu geschaffenen Bil- dung, und die Araber selbst, wie in §. 361, 1. als Stoff, so um dessen willen, was sie selbst an Schönheit produzirt haben, hier zu nennen. Den hei- teren Pantheismus ihrer empfindenden Phantasie hat Hegel (Aesth. Th. 1, S. 473 ff.) trefflich dargestellt: indem der Dichter das Göttliche in Allem zu erblicken sich sehnt und es wirklich erblickt, gibt er nun auch sein eigenes Selbst dagegen auf, faßt aber ebensosehr die Immanenz des Göttlichen in seinem so erweiterten und befreiten Innern auf und dadurch erwächst ihm „jene heitere Innigkeit, jenes freie Glück, jene schwelgerische Selig- keit“ u. s. w. Diese Innigkeit ist gewiß das Höchste, wozu sich die Phan- tasie des Muhamedanismus erhoben hat, aber keineswegs ihre einzige Form. Wie sie hier als sanft verklärendes Licht wirkt, so flackert sie auch in positiv schaffender Thätigkeit als unruhige Flamme, trennt sich von der Besonnenheit und legt sie nur als messenden Verstand an ihre bunten Mährchen. Die Araber sind darin den alten Orientalen gleich, aber der 32* Muhamedanismus, die einzige Uebersetzung des Christenthums, worin dieses dem Orientalen zugänglich wurde, hat sie edler, ritterlicher gestimmt. Schon ursprünglich ist das Vereinzelte ihrer Tapferkeit dem germanischen Geiste, der das Ritterthum erzeugte, verwandt. In der dichtenden Art bilden sie ihre Heldensagen, voll Thatendurst, Haß, Blutrache, Kühnheit, Glanz, wunderliebend, phantastisch in Abentheuern, schwärmerisch und glühend in der Liebe, deren sublimen Cultus sie ebenso vorbereiten wie die reiche Sagenwelt von irrenden Rittern. Diese Seite der muhamedanischen Poesie hat nun entschieden mehr auf das Abendland eingewirkt, als jene geistigere, quietistische, in Persien vorzüglich ausgebildete Form; am meisten natürlich in Spanien. Auch in der Richtung des eigentlichen Mährchens hat der muhamedanische Orient dem Abendland seine Schätze zugeführt, die zum Theil selbst wieder auf uralt heidnischen Quellen ruhten. In dieser bren- nenden Phantasie, in welcher Begeisterung und Besonnenheit nicht orga- nisch ineinander aufgehen, war nun aber auch ein Verhältniß der ästhe- tischen Elemente gegeben, das, wesentlich antik orientalisch, durch die Re- ligion des Muhamed nicht aufgehoben werden konnte. Es ist dieß zunächst das Symbolische. Ist es wahr, daß die Sage vom h. Gral maurischen Ursprungs ist, so dürfen wir in ihr eine Verklärung jenes uralten Sym- bols des schwarzen Steines sehen, das die alten Araber verehrten. Trotz der Verklärung aber ist dieß nicht jener tiefbeseelende Mysticismus der pantheistisch empfindenden, sondern ein Mysticismus der symbolischen Phan- tasie. Unorganisch wie hier ist aber das Verhältniß der Elemente in den Formen der dichtenden Phantasie, die einen gedankenmäßigen, sententiösen Mittelpunkt mit der Pracht glänzender Vergleichungen umkleiden oder sich ganz in Gattungen niederlegen, die das Bild blos zum Mittel machen (Fabel, Parabel u. s. w.). Auch von dieser Seite hat der Orient stark auf das Mittelalter gewirkt, ja bis auf Indien geht die Quelle der Fa- beln zurück. Aehnlich verhält es sich mit der messenden Phantasie der Araber; die statischen Verhältnisse sind fast in ihr verlassen und Alles sproßt in spielende, sprudelnde Pracht einer Decoration aus, die durch keinen wahrhaft organischen Mittelpunkt im Zaum gehalten, wohl aber in ihrem bunten Wechsel und Reichthum streng vermessen wird. Wir werden sehen, was davon die Phantasie des Abendlands aufnahm. 2. Die Entzündung der subjectiven Unendlichkeit, zu welcher das germanische Naturell die Anlage, das Christenthum die Idee und Er- mahnung hergab, wäre ohne die Reibung so verschiedener Nationalitäten und Elemente nicht zur Blüthe gelangt. Der Anfang des dreizehnten Jahrhunderts sprengt die Blume, in Italien ist es namentlich das Leben des Franziscus von Assisi, dessen mystische Verzückung ihre Strahlen in die Stimmung der Zeit ergießt, sowie es selbst ein Ausdruck derselben ist. Die empfindende Phantasie ist reif, ergreift mit den unsagbaren Herzenstiefen jeden Stoff, jedes Verhältniß, legt ihre schönsten Empfin- dungen im Liebestausch der h. Familie nieder, erfaßt von der ursprünglichen Stoffwelt die Liebe, die Frauen, den Frühling, doch immer, um mit der Erhebung aller Stoffe in die höchsten, mythischen zu schließen. §. 462. An den zu mystischer Inbrunst vertieften Kreis der Haupt-Mythen setzt sich eine unendliche Reihe von Legenden als religiöser Sagenkreis an. Ihm steht als mehr weltlicher Kreis die Ritterwelt mit den zu §. 361 genannten Motiven hauptsächlich in der Artus-Sage gegenüber, vereinigt sich aber durch den Mittelpunkt eines mystischen Reliquiendienstes mit ihm in der Sage vom h. Gral. Der mythisch religiöse Sagenkreis gehört der bildenden und dich- tenden, die andern der bildend dichtenden Phantasie an, die aber ihren in ver- einzelten Abentheuern einer unmöglichen Tapferkeit für illusorische Zwecke nebelhaft sich fortspinnenden Stoff dem Gesetze fester Gestaltung nicht einzu- ordnen vermag. Es genügt, diese Sagenkreise aufzuführen; ihr Inhalt ist hier nicht darzustellen, der Geist, in dem sie empfangen sind, ist in allem Bisheri- gen gegeben. Der religiöse Mythus gehört vorzüglich der Malerei, Pla- stik, der lyrischen Dichtkunst, die Legende oder Sage von dem Leben heiliger Personen jenen beiden und der epischen Dichtung, die Rittersage nur der letzteren an, die allgemeinen Grund-Empfindungen der Zeit finden in der Architectur und Lyrik ihren Ausdruck. Was nun die Art der Phantasie betrifft, die das Epos erzeugt und die wir noch die bildend dichtende nen- nen, so folgt von selbst aus der Objectivität des in sie übergetragenen tastenden Sehens, daß sie eine gediegene Welt, sächlich begründete, ein- fache Motive, klar umrissene Gestalten braucht; es erhellt aber, daß mit der Einfachheit der objectiven Lebensform dieser feste Boden der bildenden Phantasie entzogen ist. In einer zusammenhangslosen Schnur von Aben- theuern kämpft in der Artussage der Ritter für die Frauen, die ein transcendenter Cultus des Herzens zu überirdischen Wesen erhebt und bodenlos verwöhnt, für das auf Stelzen gestellte Gefühl der Ehre, für den Glauben gegen Ungläubige, gegen fabelhafte Wesen, welche die fin- stern, im Heidenthum verehrten Naturmächte darstellen, gegen Riesen, Zwerge, Drachen. Der Faden der Begebenheiten läuft räumlich und zeitlich in Fernen, wo alle Ueberschaulichkeit schwindet, und ebenso zerfließt im phantastischen Nebel des Gemüths der Helden, im ewigen Verlieren und Finden das Band des Charakters, die Treue, die Redlichkeit, und Gervinus hat von dieser Seite Recht, wenn er zeigt, wie gewissenlos es in dieser Nebel- und Zauberwelt hergeht. Doch faßt sich die bodenlose Masse dieser Sagen im Mysterium des h. Gral zu einem blendenden mysti- schen Gipfel zusammen und schließt sich äußerlich und innerlich in einer Verklärung ab, deren Schönheit freilich nicht in dem Stücke grünen Gla- ses zu suchen ist, das kindisch zu einem Unendlichen erhoben wird, sondern in dem tiefen Drange des ahnenden, seine eigene Wunderschätze außer- halb seiner sich vorspiegelnden Gemüthes. §. 463. 1 Die romanischen Völker bewahren in der Ausbildung dieses Ideals be- stimmter die Erbschaft der objectiven Phantasie, gehen nicht zu dem tiefen Bruche zwischen Gehalt und Erscheinung fort, verfallen aber auch zum Theile in die 2 Fehler der Einbildungskraft §. 406, 2. Der deutsche Geist dagegen vertieft bei eckiger Form und schwerer Härte der Individualität die massenhaften Stoffe zu subjectiver Einheit und verklärter Innerlichkeit, geräth aber leichter in die §. 406, 3, 4. genannten Fehler und in eine ungelöste Nebeneinanderstellung idealen Ausdrucks und ängstlicher Naturnachahmung in der Form. Am rein- 3 sten bildet er die Empfindung der Phantasie des messenden Sehens ein. In allen andern Arten der Phantasie aber bleibt überall ein Rest typischer Ge- bundenheit. 1. Die Baukunst, Malerei, Poesie der romanischen Völker wird uns überall zeigen, daß sie sinnlicher, realistischer, objectiver bleiben, als die Deutschen. Die Italiener, vorzüglich im Malerischen bedeutend, bleiben bei aller innigen Süßigkeit des Ausdrucks geschmeidig, anmuthsvoll im Formsinn, die Franzosen, mehr in der dichtenden Phantasie thätig, zeigen in zwei verschiedenen Richtungen den objectiveren Sinn: in der empfin- dend dichtenden erscheint der südfranzösische Geist ungleich sinnlicher, leiden- schaftlicher, als der deutsche, in der bildend dichtenden der nordfranzösische massenhaft in überfruchtbarer Aufzählung unendlicher Begebenheiten. Der Spanier ist im Bauen und Dichten glänzend, feierlich, glühend und sehn- suchtsvoll, man sieht den maurischen Einfluß. Die Sage vom Cid gehört in ihrem Ursprung nach der ältern, mehr germanischen (gothischen), he- roisch einfacheren Zeit an. Die germano-romanischen Engländer stehen unter dem Einfluße der keltischen Britten und des Normannischen, dort also des Nebelhaften, hier dessen, was wir so eben als nordfranzösisch bezeichnet haben. Wie hier überall die Fehler der Einbildungskraft nahe liegen, braucht keines Nachweises. 2. Man darf nur Wolframs von Eschenbach Parzipal mit den französischen Epen desselben Inhalts vergleichen, so sieht man, wie der Deutsche seinen Stoff subjectiv vergeistigt und psychologisch durchsichtig macht. Diese Durchdringung ist freilich keine umfassende; Stellen, voll stoffartiger ermüdender Masse ziehen sich dazwischen bis zur Pein aufrei- bender langer Weile. An freier Herausarbeitung der Herzenstiefe in die Anmuth der Form steht Gottfried von Straßburg dem Geiste der italienischen Maler näher, übrigens bleibt, vorzüglich in der malerischen Phantasie, das Leuchten des Ausdrucks durch hartkantige und schwerfällige Formen dem deutschen Geiste eigen. Man hat diese Formen kurzweg als Natura- lismus bezeichnet, allein ihr Grund ist die Berechtigung der Individualität (vergl. 454) und man kann sie darum vielmehr gerade idealistisch nen- nen: die harte Selbständigkeit vom Ausdruck der Idee durchdrungen. Wo sich aber jene gegen diese empört, da ist der schon erwähnte tiefere Griff in das furchtbar oder komisch Häßliche gegeben. Wie jedoch die dichtende Phan- tasie in schwere Massenhaftigkeit, so geräth die bildende allerdings, wo ihr das Band ausgeht, auch in rohe Naturnachahmung; gilt einmal die Individualität, so liegt es näher, sich in die Aufnahme der gemeinen und empirischen fallen zu lassen. Am reinsten aber durchdringt sich Ausdruck und Erscheinung in den Schöpfungen der messenden Phantasie. — Neben diesen Naturalismus und jene Massenhaftigkeit fällt dann gestaltlose Tiefe durch Ueberschuß des Gedankens, wie vorzüglich bei Wolfram, oder der Empfindung, wie bei den meisten, und dieß gerade ist der Fehler, wozu die deutsche Phantasie spezifisch geneigt ist. 3. Der Typus ist nicht förmliche Priestersatzung wie im Orient, aber nothwendige Scheue vor der Aufhebung des unfreien Scheins, den die volle Durchdringung, die Lösung der Formen von dem zaghaft Schüch- ternen, kindlich Herben, aseetisch Dürren und Gebeugten zur Folge haben müßte. Der Respect hält fest, was nach §. 456 aus der ganzen An- schauungsweise an sich schon fließt. γ . Ausgang . §. 464. Die höchste Blüthe dieses Ideals ist auch sein Ende. Freiere und aus- gedehntere Aufnahme der ursprünglichen Stoffwelt, der Landschaft, des mensch- lichen Lebens in unbefangener und heiterer Sinnlichkeit, in tüchtiger Selbständigkeit des Daseins und Wirkens für rein weltliche Zwecke, harmonische Darstellung dieser neu eröffneten sowie der früheren Sphären in fließender Anmuth der Form, wodurch der Typus überwunden und zugleich die tastend sehende Phan- tasie in Thätigkeit gesetzt wird: alle diese Erscheinungen vollenden und zerstören zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63). Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landschaft immer ausge- dehnteren Raum in mythischen Darstellungen ein, zum Beweise, daß der mythische Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung des geistigen Gehalts, der Seelenstimmungen auf die weite Welt weichen muß; die Thierwelt regt sich, doch reicht es noch nicht zu selbständigen Darstellungen, sie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen mensch- lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der historische Mensch in seiner markigen Objectivität, die großen Herrscher, Krieger, Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem unorganischen Verhältnisse, daß sie als unbeschäftigte Zuschauer um einen mythischen Vorgang versammelt werden, daß ganz empirisch geschichtliche Stoffe in die Rittersagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel oder in der Hölle suchen muß, wie schon bei Dante, dessen größte Stellen die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter sind. Noch Raphael wagt keinen geschichtlichen Stoff ohne Wunder darzustellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Ascese, ihr Aus- druck, ihre Motive im weitesten Sinn zu schwinden an; man wagt es, den schönen Genuß in freier Grazie darzustellen, unbefangen und heiter, ja subjectiv wärmer, als die Alten. Selbst das Nackte wird wieder stu- dirt und anfangs schüchtern, in Deutschland immer steif, aber vorurtheils- los aufgenommen. Diese Einführung der ursprünglichen Stoffwelt ist nun zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus festgehalten, sondern ein guter Theil derselben durch den germanischen Volksgeist bedingt ist, so geschieht in der deutschen Phantasie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Bestimmtheit und Energie ein- geführt wird, welche sich als Charakter auf die eigenen Füße stellt, so daß der ganze Ausdruck, selbst ohne Absicht, sagt, daß diese markigen Menschen den Schwerpunkt nicht mehr außer sich als mythisches Spiegelbild, sondern in sich selbst tragen, daß ferner hier namentlich die Landschaft und die gemüthlichen Sphären des profanen Menschen (das Genreartige) in wach- sender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Mensch fängt an, auf der Welt zu Hause zu sein . Auf andere Weise wohnen sich die romanischen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch die Landschaft, doch diese unter Einwirkung der Deutschen, das Porträt, der politische Mensch zu, aber eigener ist ihnen die Sphäre der freien Sinn- lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie sie nun für diese Sphäre die entsprechenden Stoffe ergreifen, wovon sofort die Rede sein wird, so tragen sie ihre Empfindungsweise auch auf die mittelalterliche Mythenwelt über, führen die Innigkeit als schöne Seele, den Geist der religiösen Energie als eine strotzende Kraft heraus in die sinnliche Er- scheinung und tilgen zwar nicht den Ueberschuß des Ausdrucks über seine Form, wohl aber den letzten Rest widerstrebender Härte der letzteren. Zugleich sind ebendarum sie die Ersten, bei denen sich die Phantasie des tastenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte schon in der Auflö- sung begriffen sein, als es der Sinnlichkeit eine innigere subjective Ent- zündung gab (§. 445); das Mittelalter schwindet, wie es die Innerlichkeit in die plastische Form herausführt. Damit steht es in keinem Wider- spruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich sind, die der empfin- denden Phantasie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen- bringen; denn das Plastische, das zugleich seine Ausbildung findet, wird allerdings als eine Wiedererweckung antiken Formsinns erscheinen, doch aber selbst so den Charakter malerischer Bewegtheit, musikalischer Besee- lung in sich aufnehmen müssen. §. 465. Die innere Auflösung auch dieses Ideals vollzieht sich nun wirklich auf 1 doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird neben der ersten festgehalten, entseelt sich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte schöne Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, ist ohnedieß längst in solche versunken. Beide werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt- 2 sein der Zeit mit der eingedrungenen ursprünglichen Stoffwelt verglichen und auf dem Wege des Komischen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die Entmischung des Schönen auch hier vorherrschend in den Formen auf, welche als Gattung jenseits der ästhetischen Grenze liegen (§. 446). 1. Die Gestalten des religiösen Kreises sind wohl noch geglaubt, denn wir berühren hier den Schauplatz des Geistes noch nicht, der durch Um- sturz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege sie wenigstens auf einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr sieht man, daß es dem Bewußtsein kein wahrer Ernst mehr mit ihnen ist, unbewußt sinken sie zu Allegorien herab. Wie die Rittersage in solche versinkt, zeigt wohl keine Erscheinung schlagender, als der Theuerdank, der schon ganz frostig selbsterfundene Allegorien als Maschinerie einschiebt. Der antike Mythus wird wohl mit einer neuen Wärme beseelt, Raphael (Farnesina), die Venetianer beweisen es; aber diese Wärme bringt ihn keineswegs zum wahren Leben. Er wird nur benützt, um schöne und glückliche Menschen darzustellen, ist zum Vehikel geworden, und so schön die Phantasie ihn verwendet, das ganze Motiv bleibt doch frostig, ganz zum leeren Ge- rüste wird er z. B. bei Camo ë ns. Auch mit den eigenen Mythen wird wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird ein Motiv, um eine Florentinische Kindsstube, die Hochzeit zu Kana, um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzustellen, sie ist leeres Mittel. Bassano benützt sogar christlich mythische Scenen zu Viehstücken. 2. Zunächst wächst das komische Bewußtsein überhaupt, Schwank, schalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament- lich den Pfaffen und aller Ascese. Direct aber wendet sich die Ironie gegen die Rittersage und läßt ihre Hirngespenste und Abenteuer an der unbarmherzigen Wirklichkeit scheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in das Schlammbad bäurischer Rohheit, ihre Träume in faustdicke Lügen (Rabelais, Fischart) oder läßt ihre ganze Welt zwar scheinbar gelten, löst sie aber thatsächlich in ein sinnlich anmuthiges Spiel auf (Ariosto). Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, sind Satyre und Lehrgedicht. Das Ende des Mittelalters ist voll von diesen Erscheinungen einer zwar ästhetisch unorganischen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen Ideal geschichtlich immer höchst wichtigen und durchgreifenden Art der Phantasie. c. Das moderne Ideal oder die Phantasie der wahrhaft freien und mit der Objectivität versöhnten Subjectivität . §. 466. Wie der Mensch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, so verliert die Phantasie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel einer weit zurückgreifenden Beseelung des Dagewesenen, vorzüglich in komischer Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, psychologisch als Glaube, nicht als Geglaubtes in die Phantasie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo- den, also die allgemeine Phantasie, im Widerspruche mit der übrigen Bildung die zweite Stoffwelt festhält, so ist die besondere Phantasie auf sich allein ge- stellt, das Schöne trennt sich von der Religion. Wir fassen jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle von §. 365 an entwickelten geschichtlichen Momente zusammen und nennen die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem sie nicht mehr ihr Beisichsein in einem Außersichsein verliert, nicht mehr ihren eigenen Ge- halt in die Wolken stellt, einfach die mündige. Sie zieht zurück, was sie an transcendente Gestalten ausgeliehen hatte, sie wird kritisch. Alles arbeitet zusammen, Sage und Mythus zu zerstören; Reformation, Natur- wissenschaft, Philosophie, die Reisen und Entdeckungen, die den Horizont aufhellen, die Astronomie, die Buchdruckerkunst, die blitzschnell Kunde des Geschehenen und die Gedanken verbreitet. Wir sahen, wie langsam dieser Prozeß, nachdem er dem Prinzip nach längst entschieden ist, sich auch wirklich vollzieht, wir werden ebenso sehen, wie langsam die Phantasie sich von der Nothwendigkeit ihres unendlichen Verlusts überzeugt. Dieser Verlust ist ein Verlust sowohl an Stoff, als an Erleichterung ihres Thuns. Die Reli- gion, die Sage brachte ihr ja den ursprünglichen Stoff in einem idealen, ästhetisch schon halbfertigen Auszuge entgegen. Wir nannten dieß schon in §. 418 einen Vorschub, und gewiß welchen Vortheil hat die Kunst, wenn sie Götter, wenn sie große Sagen hat! Sie braucht gar nicht zu fragen, was darzustellen sei, in eine Allen geläufige Welt voll fruchtbarer Mo- tive darf sie nur hineingreifen, und mag sie tausendmal dasselbe dar- stellen, sie kann immer neu sein. Wir haben unter den geschichtlichen Bedingungen des Verlustes dieses unendlichen Vorschubs die Reformation genannt: dieser große sittliche Bruch mit dem Mittelalter drängt sich nach hoffnungsvollem Anfang in das Gebiet der Religion zurück, er ist daher (vergl. §. 367) keine consequente Auflösung des Mythischen. Zudem aber bleiben die katholischen Völker und Provinzen ganz im Mythischen stehen, wie sehr die übrige, rationell veränderte Gestalt des Lebens diese Form des Bewußtseins widerlegen mag. Daher ist der Verlust der mythischen Welt nicht einfach ein solcher, welcher für die besondere Phantasie dadurch entstünde, daß die allgemeine Phantasie völlig aufgehört hätte, ihr durch Mythus und Sage vorzuarbeiten, sondern jene kann nur nicht mehr brauchen, was diese von zweiter Stoffwelt festhält. Ein Vorarbeiten kann es freilich nicht wohl mehr genannt werden; die allgemeine Phantasie hängt noch, aber ohne Frische neuer Erfindung, ohne gesunde Intensität, an den überlieferten Mythen, die besondere aber, die freie des wahrhaft Begabten, hat diesen Stoff längst erschöpft, er lebt für sie nicht mehr, sie tritt aus dem Bunde mit dem Mythus und der Sage, der Mythus gehört der Religion als solcher, die Sage herrscht ebenfalls noch da, wo das Bewußtsein noch durch den unfreien Schein der Religion gebunden ist, also kann man sagen, die Phantasie tritt aus dem Bunde mit der Religion. Sie wird weltlich, denn weltlich nennen wir die freie Be- wegung des Geistes in der Objectivität da, wo es daneben noch eine unfreie, die geistliche gibt. Hiemit ist nicht gesagt, daß die freie Phan- tasie die mythischen Stoffe absolut aufzugeben habe. Wie die Phantasie überhaupt nicht systematisch und philosophisch, sondern auf Zufall gestellt und naiv ist, so mag sie vereinzelt und vorübergehend, auf eigenen An- trieb oder auf Bestellung, den Prozeß erneuern, wodurch Mythen ent- standen sind, indem sie eine mythisch überlieferte Gestalt mit ihrem Hauche noch einmal beseelt; sie mag es unter Anderem , aber sobald sie es grundsätzlich thut und zum Gesetze erheben will, so strafen sie nicht nur ihre eigenen todten Geburten Lügen, so steht sie nicht blos entwurzelt außer der Zeit, sondern sie tödtet sich selbst, indem sie ihr Grundgesetz, Unbefangenheit, reine Menschlichkeit und Naivetät in Absichtlichkeit, doc- trinäre Schulmeisterei, Fanatismus verkehrt. Sie kann ferner den gan- zen Kreis des Wunderbaren komisch behandeln durch eine Art von kühner Parabase, welche die freie Selbständigkeit des Bewußtseins, das ihn eigent- lich gestürzt hat, als ironische Bewegung in seine Gestalten selbst, als lebten sie noch, einführt. Mit den alten Göttern läßt sich dieß komische Spiel ohne Anstand vornehmen, das schon Lucian wagen durfte; bei denen des Mittelalters ist Rücksicht auf die Wurzeln, die sie noch im Be- wußtsein Vieler haben, nothwendig; doch mit einem Theile derselben, z. B. den Teufeln, macht sogar dieß Bewußtsein selbst wenig Umstände. So hat nun z. B. Göthe den Satan in seinem Faust ironisch behandelt; Mephistopheles sagt Vieles, wodurch er unverholen ausspricht, daß es keinen Teufel braucht, das Böse zu erklären. Ferner hat das, was zu entseelt ist, um den Mittelpunkt eines schönen Ganzen zu bilden, noch Recht auf den Platz eines nachhelfenden Beiwerks, wie wir dieß zu §. 444 von der Allegorie sagten, besonders in den stummen Werken der bildenden Phantasie, aber auch in der dichtenden: Luna, Amor mag als kurze Bezeichnung gelegentlich einmal stehen. Das aber versteht sich, daß es ein ganz Anderes ist, wenn nicht das, was die unfreie Phantasie glaubt, sondern der Glaube selbst als inneres Wunder zum Stoffe ge- nommen wird; dies gehört einfach zur ursprünglichen Stoffwelt. So steht Tieck außer der Zeit, wenn er Teufel und Hexen einführt, als hätten solche Wesen noch ein Leben in unserem Bewußtsein, keineswegs aber, wenn er in seiner Novelle Hexensabbath das Anschwellen eines allgemei- nen wahnsinnigen Aberglaubens mit Meisterzügen darstellt. §. 467. Dieser unendliche Verlust ist ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün- dig gewordene Subject erst sich in der Welt zu Hause fühlt, sein inneres Leben als wirkliche Freiheit in ihr durchführt, so ist der Phantasie die ganze ursprüng- liche Stoffwelt wiedergegeben. Dieß Wiedersinden ihrer reinen Stoffe ist zu- gleich eine Tilgung des unästhetischen Bruchs zwischen Inhalt und Form (§. 456). Die Tilgung kann bei den Völkern der neueren Geschichte nur durch erworbene Bil- dung vollzogen werden und diese Bildung ist im Gebiete der Phantasie bedingt durch wahre Aneignung des objectiven Ideals des Alterthums; das moderne ist daher auch als Einheit des antiken und romantischen zu fassen. Wir müßten die ganze Lehre vom Schönen wiederholen, wenn wir meinten, erst beweisen zu müssen, daß wahre Idealität gerade erst dann möglich sei, wenn die Idee als gegenwärtig im naturgemäßen Weltver- lauf ohne alle Wunder und dazwischen geschobene transcendente Gestalt dargestellt wird. Zum weiteren Inhalt des §. ist zu bemerken, daß er keine bloße Wiederholung dessen ist, was in §. 363 und 367 über die mit der Welt versöhnende Wirkung der humanistischen Studien gesagt wurde. Es handelte sich hier vom Menschen als Stoff des Schönen, von den objectiven Tugenden, von der harmonischeren Erscheinung, wozu ihn der Umgang mit den Alten bildet; die Phantasie aber gewinnt nicht nur den so umgebildeten Menschen zum Stoffe, sondern sie hat für ihre eigene Formthätigkeit von den Alten zu lernen. Nun trifft sie hier freilich ein mythisches Ideal, aber sie soll das Mythische daran weglassen und die Harmonie zwischen Inhalt und Form im ästhetischen Verfahren sich davon aneignen. Daher spricht der §. von wahrer Aneignung. Aber auch diese Harmonie kann sie sich nicht schlechtweg aneignen; denn jener dua- listische Bruch im Naturell der germanischen und der durch Vermischung mit römischen und latinisirten Völkern entstandenen romanischen Völker, die Grundlagen der christlichen Bildung fordern ein für allemal eine Be- wegung durch die Negation des Unmittelbaren, die den Alten fremd war. Allein von diesem geforderten Ueberschuß des Ausdrucks über sein sinn- liches Gefäß ist wohl zu unterscheiden die ascetische Fixirung der Negation noch in der Versöhnung selbst und die Rohheit, die Barbarei, welche, in jenem Naturell an sich begründet, durch diese falsche Form der Nega- tivität festgehalten und sogar zum Verdienst erhoben wird. Davon soll die Phantasie sich in der Schule der Alten befreien; die bruchlose Ein- fachheit kann sie nicht von ihnen entlehnen, aber die Natur und mit ihr die Schönheit der Erscheinung durch die Negation ihrer ersten und unmit- telbaren Geltung fortzuführen zu positiver Wiedereinsetzung, daß es sich mit ihr verhalte wie mit einem Menschen, der sich bekämpft und bezwun- gen hat und nun wieder zur Anmuth, Leichtigkeit, Unbefangenheit zurück- kehrt, — diese Wiederherstellung hat sie zu lernen bei denen, die freilich keine nöthig hatten, weil die Natur und die Form bei ihnen zum vor- aus in ihrem Rechte war. Wie wichtig zu diesem Zwecke der Austausch der romanischen und germanischen Völker ist, indem jene die Rückkehr zu den Alten vermitteln, werden wir sehen. §. 468. 1 Da übrigens das moderne Ideal ein Fortschritt auf denselben Grund- lagen und, mit Einschränkung zwar, in denselben Volksgeistern ist, wie das romantische, so scheint die Darstellung desselben keinen weitern Zusatz zu fordern, 2 als daß es die Grundformen des Schönen (§. 403) in alle Weite und Tiefe verfolgen, daß es über alle Arten der nach Sphären ihres Stoffs unterschiedenen Phantasie (§. 403) sich gleich frei ausdehnen, daß es im messenden Sehen vor- erst unfruchtbar, im tastenden ein für allemal nachahmend, im eigentlichen Sehen dagegen und in der empfindenden Art productiv sein, schließlich aber besonders nach der dichtenden und in ihr nach der Einheit der bildenden und empfindenden Phantasie (§. 404) hindrängen wird. 1. Die Einschränkung läßt sich schon aus dem schließen, was in §. 366 über das Zurückbleiben der romanischen Völker, die Franzosen ausgenom- men, gesagt ist. Das Verhältniß ist aber nicht ganz dasselbe, wie in der Geschichte. Sie bleiben in jener noch über ihr politisches Sinken hinaus thätig. Darum nun, weil kein weiterer Volksgeist productiv in die Welt der Phantasie einrückt, der dem Ideal eine besondere neue Wendung ge- ben könnte, scheint es nach dem §., daß über dasselbe außer dem, was der weitere Inhalt des §. sagt, nichts weiter auszusprechen sei. Wir werden darauf zurückkommen. 2. Zuerst das Verhältniß zum einfach Schönen, Erhabenen und Komi- schen. Erst wenn das befreite Selbstbewußtsein sich als Angel der Welt weiß, kann das Erhabene und Komische erschöpft werden; dagegen müssen je die sinnlicheren Formen, die Naturfrische der Leidenschaft, die derbe Kraft der Posse zurücksinken, doch, wie sich zeigen wird, nicht sogleich. Wie nun der Humor seine Tiefen erreicht, so ist auch das Tragische wieder da als gegenwärtige Bewegung der unendlichen Gerechtigkeit im Men- schenleben. Zweitens, die nach Stoff-Sphären bestimmten Arten der Phan- tasie können sich jetzt alle in freier Ausdehnung entwickeln; insbesondere kann sich die Phantasie eines Individuums jetzt erst ganz in die land- schaftliche oder thierische Schönheit und in die unbefangenen rein mensch- lichen Zustände als selbständige Arten legen. Die weite Welt ist offen; die Wolke des Mythus, die so herrlich glänzte, aber doch ganze Reiche des Wirklichen in Schatten setzte, ist verweht, die Sonne scheint frei, ein lichter Tag liegt über der ganzen Welt. Drittens, die durch die Momente der Phantasie selbst bestimmten Arten: das messende Sehen kann nicht blühen, wo das Ahnungsleben im unfreien Scheine, das in abstracten Raumverhältnissen Welträthsel dunkel niederlegt, das elementarisch Naive zu Ende ist; dieß Ideal kann keinen Baustyl schaffen; das tastende Sehen wird in der Schule der Alten wieder erwachen, aber nur reproductiv, denn die Ursachen, die ihm im Mittelalter entgegenstanden, dauern fort; das eigentliche Sehen, das malerische Auge aber hat volles Gedeihen, freilich mit Unterschied der Epochen. Daraus folgt auch hier, daß die empfindende Phantasie das vorzüglich Bestimmende auch in diesem Ideale sein muß, aber noch in anderem und engerem Sinne, als im romantischen. Es wurde bemerkt, daß es mehr empfindend dichtende, als eigentlich em- pfindende Phantasie war, worin die Innigkeit des Mittelalters sich aus- sprach. Das Innere war erschlossen als unendliche Tiefe, aber der Umfang war noch arm. Erst im freien Umgange mit der Welt rauschen alle verborgenen Saiten des Innern, erst wer sich in das Leben einläßt, kennt alle seine Qualen und Freuden, erst wer sich selbst angehört, trägt in sich nicht nur jene tiefere Resonanz, sondern dem erst klingt auch bei jeder Erfahrung das innere Echo, erst die mündige Subjectivität wird feinfühlend. Jetzt erst muß sich daher auch das rechte Medium, der Ton, für den Ausdruck dieser tausendstimmigen Innerlichkeit bilden. Je erfüllter aber die Subjectivität, je gewisser sie nun erst eine Welt ist, desto ge- wisser wird die Phantasie auch dahin drängen, sie darzustellen, wie sie praktisch die Welt aus sich bestimmt; da wird die empfindende Phantasie auf die dichtende übergetragen, in dieser wieder bildend, und dieß ist die Phantasie, welche das Drama schafft. Es ist höchste Aufgabe der mo- dernen Phantasie, die Welt als eine durch den Willen bewegte darzustellen. Nun erst ist das Schicksal wahrhaft in den Menschen hereingetreten und hier ist der Ort, wo das Tragische in seiner Tiefe als Dialektik der ge- trennten Willen sich verwirklicht. In der eigentlich bildenden Phantasie hat zwar das moderne Ideal, wie gesagt, immer noch das malerische Sehen für sich, aber es ruht doch so sehr auf einem Weltzustand, worin alles Unmittelbare durcharbeitet, in Frage gestellt, kritisirt, auf Zwecke und Begriffe bezogen, geistig durchbohrt ist, daß sein eigenstes Gebiet nur die dichtende Art sein kann als diejenige, wo alles Unmittelbare zurück- geschlungen ist in die Phantasie, die sich in sich und um sich selbst bewegt, und innerhalb dieser die dramatische. §. 469. Damit ist aber das Bild der modernen Phantasie keineswegs beschlossen. Nicht nur ist ihre Reife abhängig von dem arbeitsvollen Gang der geschichtlichen Bedingungen, auf denen sie ruht, sondern in ihrem eigenen Gebiete kann theils die Aufgabe der wahren Aneignung des antiken Ideals nur in einem langen Gährungsprozesse sich verwirklichen, theils bringt der unendliche Verlust (§. 466) und unendliche Gewinn (§. 467) eine solche Erschütterung in ihr hervor, daß sie geraume Zeit braucht, sich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. So hat also auch sie ihre Geschichte, und noch ist diese nicht vollendet. Die letztgenannte Schwierigkeit ist die bedeutendste. Nichts ist ja überhaupt schwerer, als das Allereinfachste; nichts ist auch der Phantasie schwerer geworden, als einzusehen, daß sie zu ihrer Thätigkeit gar keinen andern Stoff braucht, als den, der in Natur und Geschichte klar und offen daliegt. Sie fällt immer wieder in den Irrthum zurück, sich der Vermittlungen des Mythus zu bedienen, wie der Katholik die Heiligen zu Fürbittern braucht. Die Welt ist ihr wiedergegeben und sie merkt es nicht, sieht den Wald vor Bäumen nicht, sie hat Alles gewonnen und meint, sie habe nichts. Mit dem alten Stabe, an dem sie ging, hat sie vorerst allen Takt verloren, alle Sicherheit im Ergreifen der Stoffe; die Re- flexion ersetzt ihr nicht den erschütterten Instinct. Es ist so bequem, seinen Stoff schon halb zugerichtet aus zweiter Hand zu übernehmen, es ist so unbequem, selbst an der Quelle zu schöpfen. Heute noch gilt das Auf- stellen jener einfachen Aufgabe für ebenso destructiv, als das Beginnen des Theologen, der das Positivste thut, was es gibt, der die Entstellungen und Trübungen der sittlichen Weltansicht, welche die Ueberlieferung auf- gehäuft hat, hinwegschafft. Wir haben einem Prozesse der Phantasie mit sich selbst zugesehen, dieser Prozeß hat sich jetzt abgeschlossen: sie theilte sich in eine allgemeine und besondere, diese empfieng von jener und gab ihr verdoppelt zurück. Jetzt steht diese auf sich selbst, einfach an den Ur- stoff gewiesen, jene leiht ihr keinen schon halb zubereiteten Auszug aus diesem mehr, denn was sie von solchem Vorrath noch hat, ist eng, todt, erschöpft. Es ist rein die allgemeine Phantasie concentrirt zu ihrer wahren Bedeutung in der besondern; jene besteht freilich noch außer dieser, aber nur als reine Empfänglichkeit, als verbreiteter Sinn, den die besondere Phantasie voraussetzt und als Zuschauer für ihre Werke fordert. Diese Vereinfachung, dieses Ende der Geschäftstheilung einzusehen fordert aber Zeit und ist schwer. α. Vorstufe . §. 470. Die Befreiung der Subjectivität kann sich zuerst nur unter Einschränkun- gen äußern, welche sie selbst noch in einem objectiven Charakter gefangen halten, zunächst bei den Deutschen in dem Sinne, daß herübergerettet wird, was von ursprünglicher, durch das Mittelalter in seiner geraden Entwicklung gebrochener Volkskraft in ihrem Gemüthe lag, wie es denn auch das Volk ist, das nun zunächst wieder als Organ der Phantasie auftritt. So faßt sich denn die empfindende Phantasie in ihrem eigenen und im dichtenden Gebiete zu urkräftiger Innigkeit, jedoch ohne den Reichtum einer weltlich durchgebildeten Freiheit des Gemüths, zusammen. Man wird leicht die Blüthe der einfachen kirchlichen Musik und des geistlichen Lieds, sowie des Volkslieds mit seiner reicheren melodischen Welt, wie sie im sechzehnten Jahrhundert in Deutschland auftrat, aus dem Gesagten erkennen. Dieß allgemeine, aus dem Herzen des Volks erzitternde Tönen ist die Knospe des neuen Ideals, eine tief in sich zu- sammengefaßte Innigkeit, aber, obwohl vieltönig in sich, doch eintönig, wenn man sie mit dem freien Reichthum es Geistes vergleicht, den die weltliche Bildung schon wirklich geschüttelt und von dunkler Gebundenheit gelöst hat. Innigkeit, innere Unendlichkeit sagten wir auch vom Ideale des Mittelalters aus; aus persönlicherer, mündigerer wiewohl noch nicht zu voller Freiheit und Klarheit ausgebildeter Tiefe strömt jetzt die Quelle, und weil es Ernst wird mit der Geltung der Einzelnen, strömt sie aus der Masse derselben, ein Urborn der Volkskraft hervor. Wir haben hier den Wechsel der Organe der Phantasie in einem neuen, weiteren Sinne, wir haben die Stände zu unterscheiden, die wechselnd als Werkzeuge der Phantasie auftreten. Die dichtende Phantasie war im Mittelalter eine volksmäßige, so weit sie die alte Heldensage zum Stoffe hatte, der Adel trieb die eigentlich romantische Dichtkunst, die bildende Kunst der Bürger. Jetzt tritt die Dichtkunst in das Volk zurück, die Masse hat sich beseelt. §. 471. Die bildende Phantasie des deutschen Volkes muß zurücktreten, die bil- dend dichtende wagt sich nicht an die nahe liegenden großen Stoffe, ergreift aber mit derbem Behagen die neue Lust am Dasein in der rohen Kraft ihres Siegs über eine Welt von Täuschungen. Daneben breitet sich jedoch das dunkle Gespenst zu einer neuen Gesammtwirkung vereinigter alter Sagen aus, worin sich die angstvollen Gefühle einer so ungeheuern Umwälzung Sprache geben (vergl. §. 369). Die Deutschen sind zu sehr im Gebiete des Geistes beschäftigt, um nach den wenigen Erzeugnissen einzelner großer Maler, welche in die Zeit der sich verbreitenden Reformation so herüberreichen, daß sie dieselbe wirklich ihrer Richtung nach bezeichnen, noch bildend aufzutreten. Unter diese bezeichnenden Richtungen gehört das Porträt und die Caricatur (Todtentänze, Manuels satyrische Conceptionen). Die letztere zählen wir zu den Erzeugnissen der satyrischen Stimmung, die wir als Symptom des Vischers’s Aesthetik. 2. Band. 33 Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun weiter als Durchbruch der entfesselten Volkskraft in der bildend dichtenden Form aufführen, ist allerdings ebenfalls meist Theil eines satyrischen Ganzen, wie bei Fischart, später unter den Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs bei Moscherosch und And., erscheint aber in dieser Umhüllung eben als das positiv Neue. Diese sprudelnde grobe Kraft als Träger einer neuen sittlich gesunden und freien Weltansicht, dieser lärmende Pfaffen- und Adelshaß, diese Appellation an die alten guten Sitten ist freilich etwas so Stoffartiges, daß wir fast nur wiederholen, was in §. 369 ge- sagt ist. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieser Zeit der Kämpfe in Deutschland nicht kommen; sonst hätte die humanistische Bildung an den großen Begebenheiten der alten Geschichte und des sich auflösenden Mittelalters Stoffe gehabt, die sich freier und harmonischer umbilden ließen. — Die Sagen, von denen die Rede ist, sind namentlich die von Faust und vom ewigen Juden. §. 472. Inzwischen wirft sich in der feurigeren und weltlich entschlosseneren Natur des germano-romanischen Englands mit raschem Schwunge die Phantasie in die höchste Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden Phantasie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu- gleich mit gewaltigem Geiste die ursprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er- scheinungen ergreifend stellt sie die sittliche Weltordnung als gegenwärtig von innen wirkendes Gesetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens- starken und doch drangvoll entfesselten Charakterwelt dar, während sie ebenso kühn in die Tiefen des Komischen steigt: ein Vorsprung von unendlicher Wirkung. In einer Seelengeschichte des Ideals darf der ungeheure Schritt nicht vergessen werden, den das englische Drama, Shakespeare an der Spitze, gethan hat. Hier ist wie mit Einem Sprunge die neue Welt der Phantasie da, ein freies Universum, das sich um sich selbst bewegt. Das Schicksal ist immanent in einer Menschenwelt, welche die germanische Ur- kraft der Nibelungengestalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über- liefert, ohne dem neuen Geist der leidenschaftlich entfesselten Subjectivität, welcher zwar die selbstbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu vergeben. Dieser Geist findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geschichte öffnet ihm ihre Schätze, das Alterthum, die dunkle germanische Urzeit, sagenhaft, doch so behandelt, daß im Fortgange die mythischen Motive sich in rein mensch- liche, psychologische verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters. Ist aber das Schicksal in den Menschen gestiegen, so kann auch der Humor seine Tiefen entfesseln. §. 473. Unter den romanischen Völkern steigern sich die Italiener , unfähig, sich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfindsam gereizte, gewaltsam schwülstige, subjectiv willkührliche Anschauung ihrer ausgelebten Stoffe und be- wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, schö- pferische Verwendung in die moderne Phantasie herüberzuleiten. Neu sind sie nur in der eigentlich empfindenden Phantasie und in der Einführung derselben als Auffassung landschaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären aber weisen sie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück. In diesen Zügen wird man richtig den Charakter der italienischen Kunst im späteren sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf seine innere Stimmung und Anschauung zurückgeführt finden. Positiv thätig ist dieses Volk für das innere Ideal nur in der Musik und Landschaftmalerei ge- wesen. Jene hatte als geistliche zunächst die einfache objective Großar- tigkeit ohne individuelle Entfaltung des subjectiven Lebens (Palestrina); als weltliche, als Oper hieng sie sich an mythische Stoffe, wurde natür- lich reicher in der Darstellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherrschend sinnlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des subjectiven Geistes; üppig diente sie dem fürstlichen Luxus. Die Landschaft (beide Poussin können wir zur italienischen Kunstgeschichte rechnen) war zwar ein offenbarer Durchbruch dieser neuen subjectiven Belebung in der bil- denden Phantasie, hielt sich aber objectiv an das Große und Allgemeine, vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Physiognomie aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythische Staffage, daß sie sich noch nicht ganz als selbständiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zustand der übrigen Künste schildert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor- züglich in der Baukunst antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht in der Gestalt, wie sie dieselben bewahrten und wie sie besonders in Ma- lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent- zündeten Reizes, der nervösen Aufregung, der Heftigkeit und Gewaltsamkeit machten, sollten sie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie sind es hauptsächlich, die dem restaurirten Katholizismus dienten, den Ro- koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr aufhalten, der sich vorzüglich darin ausspricht, daß sie manirirt, subjectiv, lüstern, kokett die mythischen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters 33* festhalten und mißhandeln; darin haben sie nur negative Bedeutung: im Kampf gegen diese welsche Sinnlichkeit und die Lüge ihrer devoten Stoffe sollte das neue Ideal erstarken. Das Positive in ihrem Berufe bleibt hier im Ganzen nur, daß die wahre, die gesunde Phantasie an den Rest des freieren und gewandteren Formsinns, den sie in allem Verfalle be- wahrten, an das Form-Element in ihrem Charakter überhaupt, an die geniale Lust, die im italienischen Wesen immer weht, sollte anknüpfen können. §. 474. Inzwischen ist die Phantasie des deutschen Volkes in Unthätigkeit ver- sunken. Zwei glücklichere benachbarte Völker, die germanischen Holländer und die germanisch romanischen Belgier führen in kräftiger Regung der bildenden Phantasie, die zur wahren Formthätigkeit im eigentlichen Sehen fortschreitet und das ruhige Ebenmaaß, welches das tastende Sehen fordert, entschlossen aufgibt, jene Anfänge (§. 471) weiter, theilen sich aber in die Aufgabe so, daß jene die landschaftliche Schönheit zu individuellem Ausdruck und selbständiger Gel- tung fortbilden, die thierische voll Natursinn ergreifen, die menschliche nur in dem engen Kreise freien Volksbehagens unter anspruchlos derben oder gebildeteren, an subjectivem Leben reicheren Culturformen belauschen, diese aber eine Welt entfesselter individueller Kräfte, feuriger Sinnlichkeit und Leidenschaft, jedoch mit Vorliebe unter der Form allegorisch gewordener Mythen darstellen. Es rückt durch die Holländer und Belgier ein großer und neuer Umfang von Stoffen in das Ideal ein; diese Stoffe sind hier in Kürze bezeichnet. Aber nicht als solche sind sie hier wichtig, sondern die Auf- fassung ist es, die uns nun beschäftigt. Sie ist der Grund, warum nur diese und keine andern Stoffe und warum sie so und nicht anders behan- delt werden. Der §. sagt, daß bei diesen Volksstämmen nun erst das eigentlich malerische Auge sich ausbildet; mit diesem Auge erfassen sie, was ihnen ihre Stoffwelt zeigt und brechen völlig mit dem plastischen Formgefühl. Die Formen der Holländer sind bäurisch grob, aber da muß man die Wirkung im Licht- und Farbenschein und in der zufriedenen Ko- mik eines mäßigen Humors suchen, oder sie sind feiner und gebildeter, doch immer ohne die Idealität der plastisch antiken Grazie und so, daß die geheime Welt feiner Motive des geselligen Privatlebens es ist, wel- cher die Phantasie nachgeht. Mit dieser Art von Phantasie warfen sie sich nun ganz auf das Genre, dem sie zuerst sein eigentliches selbständiges Dasein sichern; ihre Geschichte hätte ihnen noch ganz andere Stoffe ge- geben (vergl. §. 368, 3. ), theils aber waren diese nicht zeitlich entfernt genug, theils war das Volk zum heroischen Schwung im ästhetischen Ge- biete ein für allemal nicht organisirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim- mung auch das unheimliche Element (§. 471), das Dämonische, und wild entflammt lodert es unter den bäurischen Formen eines Rembrandt. Jener Schwung fehlte nicht der feuriger bewegten Phantasie der Belgier, aber dieser katholisch gebliebene Stamm trennt sich zwar in seinem Formsinne ebenfalls weit genug vom antiken tastenden Sehen, bleibt jedoch in der Allegorie hängen, verbirgt unter ihr die größeren geschichtlichen Stoffe wie das strotzende Leben mächtiger Sinnlichkeit und Leidenschaft und geräth offenbar in den Widerspruch einer modern subjectiv leidenschaftlich ge- stimmten Phantasie mit einer dem Zeitalter fremden Stoffwelt, worin er sie niederlegt. Dieser Widerspruch fällt weg im Porträt, worin Belgier und Holländer zeigen, wie nun die Persönlichkeit als frei in sich begrün- dete Einheit glühend entzündeter oder ruhig zusammengefaßter Kräfte der Phantasie vindicirt ist. §. 475. Hell blickend und ahnungsvoll, realistisch und mystisch, leidenschaftlich und transcendent zugleich erreicht die spanische Phantasie ihre Höhe nicht nur in der bildenden Form, worin sie, die Fortschritte der belgischen sich aneignend, den christlichen Mythus in menschlich vertraute Umgebungen setzt, aber zugleich zum Ausdruck überirdischer Entzückung verklärt, sondern auch in der dritten Form der dichtenden, worin sie ihren dem Standpunkte des Mittelalters den- noch verschriebenen Geist dadurch ausspricht, daß sie die frisch ergriffene Wirk- lichkeit theils wieder in gegebene sittliche Normen unfrei einzwängt, theils in ein mystisches Jenseits aufhebt. Den Mangel verdeckt sie unter orienta- lischer Bilderpracht. Man sollte nicht glauben, daß dasselbe Volk, das die ritterlichen Illusionen in so heitere Ironie aufgelöst hat, am religiösen Mythus so bigott, mit so ausschließlichem, brünstigem Katholizismus festhalten konnte. Zwar auch diese Verzückung der spanischen Malerei vermählt sich mit einem Zuge menschlicher Wohnlichkeit und Vertraulichkeit, der gewiß ebenso der Berührung mit den Belgiern zuzuschreiben ist, wie die wunderbare Ausbildung ihres malerischen Auges, schließlich jedoch offenbar auf diesel- ben germanischen Elemente in der Mischung dieses Volkscharakters hin- weist, wie jene gesunde Trockenheit der Parodie des Ritterthums. Der gesunde und grobe Verstand, die Liebe zu vertraulich genreartigen Zügen bildet zusammen mit der mystischen Inbrunst einen seltsamen Dualismus in dieser Phantasie; erinnert jene Eigenschaft an deutsches Wesen, so diese an orientalische Gluth. Man kann zweifeln, auf welche beider Seiten man das antik Objective in der Phantasie dieses romanischen Volks schla- gen soll; es begründet einen menschlich gesunden und scharfen realistischen Blick, jedoch in jenem Sinne des Alterthums, der die Subjectivität dem Allgemeinen opferte. Im Drama hätte dieses Volk ohne die Energie der Reibung dieser so verschiedenartigen Elemente in seinem Charakter nie die Höhe erreicht, zu der es gelangte, und dennoch bleibt es wahr, daß ein Volk, das sich so wenig aus dem Mittelalter herauszuarbeiten vermochte, diese Form der Phantasie nur mit Einschränkungen ausbilden konnte, die auf ihr Grundwesen drücken. Im weltlichen Drama herrsch- ten die halb mittelalterlichen, halb modernen Motive der Liebe, Ehre, Loyalität mit einer Abstractheit, welche die innerste Eigenheit des Indi- viduums so wenig berücksichtigt, als der römische Staat, im geistlichen drückt das Jenseits auf den Willen, der nur durch mystische Flucht zu ihm selbst sich retten kann, und löst sich die Natur in Wunder auf. Da- gegen ist wieder überall eine Energie, welche trotz diesen Mängeln spannt, eine maurische Farbenpracht, welche mit ihrer Empfindungsgluth den Man- gel der Individualität, ihrer freien, unendlichen Eigenheit überdeckt. β. Mitte . §. 476. Die Mitte der Geschichte dieses Ideals, so weit sie bis jetzt gediehen ist, bildet eine strenge Zusammenfassung dessen, was die romanischen Völker vom objectiven Ideale des Alterthums in sich herübergenommen haben, im franzö- sischen Geiste, der den Beruf übernimmt, die immer noch rohe germanische Phan- tasie in die Zucht seiner Regelmäßigkeit und Präcision zu nehmen. Allein die so zur Norm erhobene Objectivität ist zugleich abstract, seelenlos, mechanisch, hö- fisch, conventionell, ja durch den fremden Geist frivoler, auf Effect berechnen- der, sich selbst bespiegelnder Subjectivität entstellt, ist daher falsche Classicität und bestimmt, die Völker, die bei ihr in die Schule gegangen, zum Gegen- schlage zu reizen. Man sieht, wie dieser ästhetische Gang dem politischen (§. 370 ff.) entspricht. Wie die Monarchie den Beruf hatte, das Mittelalter zu nivelli- ren, so hatte die französische Classicität den Beruf, die immer noch bar- barische Phantasie der germanischen Völker unter ihre Disziplin zu beugen. Allein dann weicht die Geschichte der Phantasie von der politischen gänz- lich ab: in dieser reagirten die Franzosen selbst gegen die Despotie, traten aber auf lange Zeit vom Schauplatz ästhetischer Zeugungskraft ab, in jener dagegen übernahmen die Deutschen die Revolution gegen das französische Joch, während sie politisch im Todesschlummer lagen. Recht und Un- recht, Beruf zur Völkererziehung und ertödtender Zwang, innerste Unwahr- heit und Verdorbenheit, zur Niederlage bestimmt, waren in der französischen Monarchie ebenso vereinigt, wie in der Classicität des goldenen Zeitalters: Bildung, Klarheit, Form, Disciplin und zugleich hohle Lüge, Gespreiztheit, Eleganz, antiken Schäfern, Helden, Göttern die Maske des Höflings übergeworfen, abstracte Maschinerie, wo es für den Verstand der Aufklä- rung längst keine Wunder mehr gab. Bereits trat allerdings auch die komische Phantasie mit schneidender Kraft auf; aber abstract war doch auch sie, schematisch in ihren Charakteren, generalisirend wie die Monar- chie. Wir haben schon in §. 368 Anm. 3 die Culturformen dieses Volks theatralisch genannt; so erscheinen diese dem Dritten, aber ebenso be- handelt natürlich es selbst das Schöne: mit Energie wird auf den Punkt hingedrückt, der in die Augen springen soll, aber auch ohne die Uebergänge, die Continuität der Natur zu Rathe ziehen, es wird darauf eigentlich geschlagen und geklopft wie in der Pantomime geklascht und gestampft (Alles wird frappant). Dieser Geist der Pointirung ist äußerst wohlthätig durch seine Bestimmtheit, Präcision, äußerst unästhetisch durch das Afterbild der Anmuth und Kraft, das er hervorbringen muß, durch die Aufhebung aller süßen Unwissenheit um sich und den Zuschauer, der das Wesen des Schönen ausmacht. Und er steckt im antiken Kleide, das so grundverschiedene Lebensform zu schmücken bestimmt war! Neuer Most in alten Schläuchen, verdorbener pikanter Stoff in der antiken Vase. §. 477. Diesen Gegenschlag führen die Deutschen aus. Ihnen geht zuerst das geistige Bewußtsein der Unendlichkeit des Ich auf; die innerlich wahrhaft befreite Subjectivität tritt in die Phantasie als ein unsagbares Erzittern der Empfindung, welche nicht nur, im Wetteifer mit der italienischen, die eigentlich empfindende Art zur Vollendung erhebt, sondern sich zugleich vorzüglich in die dichtende wirft, aber hier als eine aus der Objectivität sich zurückziehende weich- liche Sehnsucht oder überhitzte Anspannung, als ein absichtlicher Cultus der Em- pfindung die krankhafte und gestaltlose Form der Sentimentalität erzeugt. An diese Stelle gehört der eigentliche Begriff der Sentimentalität. Sie ist formell absichtliches Schwelgen in der Empfindung, „Empfindselig- keit“. Es kommt aber darauf an, was empfunden wird. Dieß ist die innere subjective Unendlichkeit, welcher keine Existenz genügt. Das Wahre in dieser Stimmung und das Unwahre ist hiemit zugleich ausgesprochen. Was schon das romantische Ideal zum Prinzip hatte, wird jetzt reif, komm zum Bewußtsein und ist daher nun erst wahrhaft da; aber nur im In- nern. Die freie Subjectivität ist errungen, der absolute Adel des Sub- jects wird gewußt und ausgesprochen, aber er schämt sich der Welt, des Staates, der Geschichte, scheut sich, sich einzulassen, als beschmutze er sich. Das Herz wird ein schaalloses Ei, ist wie wundes Fleisch, kann keine Erfahrung ertragen, flieht vom Mann zum Weibe, von den Menschen zu der Natur, von der Gegenwart in die Vergangenheit der Kinderjahre, in die Zukunft des Grabes und Wiedersehens; an Trauerweiden verehrt es den Tod, der Mond ist sein Gestirn, es erfriert in seinen blassen Strah- len auf dem Grabe der Geliebten. Es ist wieder eine Jenseitigkeit da, aber eine gemachte innere, daher eine leere, ein deistischer Gott, eine kahle Unsterblichkeit; nach ihr wird hingeseufzt, die Thränen werden Alltagskost, an sie wird in Bardenpathos hinaufdeclamirt, die Ausrufungszeichen werden wohlfeil. Diese Stimmung kann als dichtende wirklich fast nur in Inter- jectionen reden, nur an die Dinge hinsingen, Gedichte auf und an die Freundschaft u. s. w. machen, sie ist gestaltlos (§. 406, 3. ). In Werther’s Leiden wird sie Stoff , da ist das Verhältniß schon verändert. Ihre wahre Form ist die Musik, sie weckt den großen, die fortschreitenden ita- lienischen Tonkünstler und die Süßigkeit ihres Wohllauts weit überholenden Schwung einer mächtigen, neuen, wunderbaren Tonwelt. §. 478. Soll diese Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, so muß sie hinter die falsche Natur und Objectivität der französischen Regel auf die wahre zurückgehen. Sie greift aber zunächst nach der gewöhnlichen und schwunglosen, wie sie in den modernen Staatsformen geworden, zugleich jedoch fordert sie das allgemeine Recht der Sinnlichkeit zurück, das befreite Subject entfesselt sich als Naturkraft, die Kühnheit der englischen Phantasie (§. 472) wirkt mehr noch durch das, was in ihr formlos war, als durch ihre Größe ein, mit der fal- schen Regel wird die wahre umgestürzt und Genie zum Foosungswort. Englische Melancholie hatte freilich schon zur Entstehung des Sen- timentalen ihren Beitrag gegeben; wir werden aber diese Seite des Ein- flusses erst ausdrücklich hervorheben, wenn vom Umschlagen dieser Stim- mung in Humor die Rede ist. Die Natürlichkeit zunächst als Aufnahme der gewöhnlichen Lebensformen der Gegenwart, die bürgerlich styllose Natürlichkeit wurde von Lessing nicht ohne Vorgang ebenfalls englischer An- sichten und einer in Frankreich selbst vereinzelt laut gewordenen Opposition gegen die falsche Classicität eingeführt, doch zuerst in Deutschland zu herr- schender Geltung erhoben. Die liebe Natur wird aber, zum Theil bereits mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesspeare wird wohl um seiner Größe willen bewundert, aber seine eigentliche Bedeutung hat er als Flügelmann der Opposition gegen das französische Reglement; der Cynismus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar- rerie der entfesselten genialen Naturgewalt beruft sich auf ihn. Eine weitere Darstellung der Sturm- und Drang-Periode, dieser Flegeljahre des modernen Ideals, schenkt uns die verbreitete Kenntniß dieser uns schon so nahen Form. §. 479. Die stürmische Kraft bildet sich durch Rückkehr an die wahre Quelle, das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter diese an die ächte Natur. Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantasie auf der einen Seite den Stoff des subjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Persönlich- keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf der andern, von der wahren Größe des englischen Genius begeistert, den Kampf der Freiheit im politischen Leben, den sie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne einen Rest abstracten Denkens (§. 406, 4. ) und idealistischer Subjectivität in der vorzugsweise modernen dritten Form der dichtenden Phantasie niederlegt. Göthe hat subjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe zu subjectiv behandelt: dieß ist die rechte Formel für ihr Verhältniß. Wenn nun Göthe keinen Geschichtssinn hatte, wenn Schiller ihn zwar hatte, aber seine großen Stoffe durch eine Zweiheit in seiner Natur, welche die rein organische Thätigkeit der Phantasie vielfach hemmte, theils zu philosophisch, theils zu abstract idealistisch mit durchgängigem Vordrin- gen seiner begeisterten Subjectivität behandelte, so erkennt man die große Aufgabe, welche diese Classiker des modernen Ideals noch zu lösen übrig lassen. §. 480. Inzwischen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, sich von sich zu befreien, indem sie in das Komische umschlägt. Auch hierin ist die englische Phantasie der deutschen vorangegangen; ihre Einflüsse wecken den Humor, der nun erst mit Bewußtsein in seine Tiefen steigt und die feinsten Widersprüche des Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent- lichkeit in seine versöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch die sentimentale Grundstimmung von der Willkühr einer Gestaltlosigkeit heilt, welche doppelt fühlbar ist, weil sie sich in der Form der bildend dichtenden Phantasie ausspricht. Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne; er verfolgt wohl die geheimsten Irrgänge des Wahnsinns, der in den Widersprüchen der Subjectivität liegt, sofern sie in sich und in den Kreis des engeren sozialen Lebens eingeschlossen lebt, aber den großen Wahnsinn des öffentlichen Lebens, der Geschichte, des Staats sieht er zwar, stellt ihn aber schroff und schrill neben die schöne Seele hin und geht auf dieser Seite zu keiner Versöhnung fort. Allerdings gehört dieß größere Schauspiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeschichte des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantasie schafft sich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es ist noch ein anderer ästhetischer Mangel da: es kommt zu keiner gediege- nen Form. Das humoristische Subject schiebt sich überall vor, man hat das Gefühl, es sei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ernst, es be- schreibt komisch, statt Komisches zu beschreiben, der Gehalt der Persön- lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Gestaltung über, sieht überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher ist es Pferdearbeit, einen Sterne, einen J. Paul zu lesen. §. 481. 1 Der innerlich überfüllte, politisch abermals gehemmte Geist des deutschen Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phantasie, worin die Subjectivität, die in dieser Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem in anderer Weise, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Classicität doch die schärferen Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität verschwemmte, im Taumel der Betäubung sich zu befreien sucht, die traum- artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel- alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironischer Absichtlichkeit über 2 ihrem farbenreichen und doch gestaltlosen Schattenspiele schwebt: eine Erscheinung, die sich in den Humor der Zerrissenheit und dann in die Frivolität der Blasirt- heit, jenes unter erneuter englischer Einwirkung, endlich in die eklektische All- gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dagewesenen Formen der Phan- tasie aufhebt. 1. Die romantische Schule fand in dem neuen classischen Ideale des deutschen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu dünnes Licht. Sie hatte Recht in mehrerlei Sinn. Erstens: Göthe stieg zwar tief genug in die Bildungskämpfe des subjectiven Seelenlebens, run- dete aber seine Bilder zu einer Grazie der Humanität ab, worin die här- teren Kanten der Individualität und ihrer unendlichen Eigenheit zwar nicht ebenso, aber doch auf ähnliche Weise verschwemmt wurden, wie das antike Ideal sie vom reinen Ebenmaaße seiner plastischen Gestalten als ebensoviele Ansätze zu einer für ihren Standpunkt allzu herben Komik ausschließen mußte. Konnte er doch Mercutio und die Amme in Romeo und Julie als possenhafte Intermezzisten ansehen! Dieß hing freilich auch mit seinen Stoffen zusammen; wer sich die Aufgabe setzt, den sozia- len Menschen auf den Irrgängen seiner Bildung zur Gemüthsruhe und harmonischen Thätigkeit zu begleiten, der muß die rauheren Ecken und gröbere Ausladung des Menschen scheuen, welcher auf großem Schauplatze handelt. Doch glättete Göthes milde Hand auch viele der schärferen Falten, die sich nicht minder auf der Stirne des nur mit sich und seiner Er- ziehung für die Gesellschaft beschäftigten Menschen graben. Also in doppeltem Sinne zu wenig Schatten und Farbe, theils in der Art der Behandlung des ergriffenen Stoffs, theils in der Beschränkung auf diesen Stoff be- gründet. Schiller führte zwar den Menschen hinaus in das Feld der politischen Bewegung und That, aber auch er lernte in der Schule der Alten jene Planheit und Generalität des Pathos, welche das Individuelle nicht in seinem vollen Umfang aufnimmt, den Charakter nicht in die scheinbar widersprechenden Verwicklungen seiner intensiven Eigenheit ver- folgt, und dazu kam dann überdieß jene Einmischung seiner Subjectivität in den Stoff, welche dem dargestellten Charakter die eigenen, nicht in Phan- tasie rein aufgegangenen auf ein abstractes, moralisirendes Denken ge- gründeten Ideen unterschob. Also auch hier zu weißes Licht. J. Paul brach freilich die Subjectivität in einem bunteren Prisma, aber er wußte nicht alle Gegensätze, die er aufstellte, auch zu versöhnen, und dieß kam daher, daß seine Sentimentalität schließlich auch auf wenige abstracte Ideen (Unsterblichkeit u. s. w.) sich reduzirte, mit denen die Subjectivität nichts anzufangen weiß, wenn es gilt, die reale Welt zu ertragen, zu beherrschen; den Schmerz über diese Kluft hat er freilich farbenreich dar- gestellt, aber nimmt man seinen Gestalten diese Strahlenbrechung, so bleiben dünne, flache, fleischlose, in Wasserfarben gemalte Ideale zurück. Der innere Widerspruch, aus dem der Humor fließt, hat zum Theil seinen Grund gerade darin, daß die reichen Kräfte der concreten Subjectivität aus diesen flachen Idealen sich nicht nähren, nicht zur wahren, in die That übergehenden Erfüllung gelangen können. Alle diese Mängel zei- gen denn zunächst eine überschwängerte Subjectivität, welche ihre Gestal- ten nicht in’s volle Leben taucht. Man kann dieß auch Aufklärung nennen, sofern diese dem Dichter nicht durch praktische Umwälzung eines stagni- renden Lebens concretere Stoffe zeigte, sondern, wie dieß ja in Deutschland der Fall war, nur den innern Menschen bildete und zwar mit wenigen abstracten Begriffen, deren schließlicher Werth nicht in ihrem Gehalt, son- dern nur in der Freiheit des so vereinfachenden Denkens, also, wenn man will, gerade in ihrer Gehaltlosigkeit lag. In Frankreich wurde die Auf- klärung praktisch als Revolution, dieser Geist weht freilich in Schiller, selbst in J. Paul, aber die Revolution selbst rechnete ja auch noch mit der Münze weniger, sehr abstracter Begriffe. Mit dieser Vereinfachung des Geistes durch die Aufklärung stimmte nun die neue Classicität, auch die reinere deutsche, allerdings darin zusammen, daß das Alterthum, auf das man zurückging, dem Prinzip der Individualität, eben jener bunteren Farbenbrechung fast keinen Raum ließ. Die Aufklärung war durchaus anti- kisirend; sie war es selbst in dem engeren Sinne, daß sie eigentlich antike Stoffe, Formen, Mythen vorzog und zum Theil stark in’s Allegorische fiel. Es gab also freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die Zeit, es recht zu thun. Die romantische Schule brachte es zu magischer Farbenpracht, aber es war nur die Gluth eines Abendroths. Sie hätte dem Stoff nach sagen müssen: führet die Aufklärung weiter zu concretem Gedankengehalt, gebt diesen Gehalt als erfüllteres Pathos euren Gestalten, leiht ihnen vielseitig verwickeltere, eigener in sich zusammengefaßte Indivi- dualität, versetzt sie in die Geschichte, gebt ihnen den Schauplatz, wo sie sich zum Charakter schmieden, gebt ihnen insbesondere den Schauplatz der Geschichte der neuern Völker, beutet vorzüglich die historischen Kämpfe des Mittelalters und seines Uebergangs in die neuere Zeit aus und ihr bekommt Colorit, Schatten, Localfarbe. Sie hätte der Form nach sagen sollen: gebt die Speculation auf, seht zu, wie ihr den Instinct wieder findet, vereint Begeisterung und Besonnenheit. Was that sie statt dessen? Sie schob alle Schuld auf die Aufklärung überhaupt, statt auf die unvollendete Aufklä- rung, fieng, bedenklich genug, mit der Satyre auf sie, mit der Negati- vität der Opposition an und predigte nun, das Mittelalter und seine „mond- beglänzte Zaubernacht“ solle nicht etwa Stoff, sondern seine Täuschungen müssen die eigene Welt, das Glaubensbekenntniß des Dichters werden; nicht die innern Wunder des wundergläubigen Gemüths, sondern seine ganze Welt von Mythen, Sagen, Pfaffen, Rittern müsse Dogma in der Welt der Phantasie, ja selbst in der wirklichen werden; der Aberglaube wurde Pflicht, die Phantasmen System. Was das Mittelalter wahr- haft Großes hat, seine Helden, seine Bürger, seine weltgeschichtlichen Kämpfe, kurz der Charakter: gerade dieß wurde nicht benützt. Sie pre- digte als wahre Art der Formthätigkeit die Begeisterung ohne Besonnen- heit, den Wahnsinn, den Opiumsrausch, den Traum , seine üppigen Gaukeleien und seine bangen Schauer vor den „bedrohlichen“ Abgründen des Lebens. Sie hatte große Talente und allemal da erscheint sie bedeu- tend, wo diese Talente, nicht der strengen Schule angehörig oder auf Augenblicke sich von ihr befreiend, das Mittelalter frei als Stoff behan- delten, die Wunder in’s Innere führten, Begeisterung mit Besonnenheit einten; eine Masse noch ungegrabener Schätze haben diese Talente auf- geschlossen, das menschliche Herz ist in neuen Tiefen erklungen. Aber die Schule im Ganzen schuf Gespenster, verdarb ihre besten Leistungen durch einen kranken Wurm, durch irgend ein larvenhaft und dämonisch Häßliches. Hier ist der rechte Ort, wo zuerst jene sublimirte Häßlichkeit zu erwähnen ist, welche wir als eine historische Gestalt nicht in die allge- meine Begriffslehre aufgenommen wissen wollten (§. 149, 1. ), in der Psychologie des Schönen aber kurz begründeten (§. 406, 3. ). Zwar ist die eigentliche Romantik noch verhältnißmäßig unschuldig; es ist mehr Ver- zweiflung an der sittlichen Weltordnung, als eigentliche Blasirtheit, was ihre Larven hervorruft. Doch lag diese nahe genug; denn was war der Grund der ungeheuren Verwechslung, wodurch sie die Aufgabe der Zeit verkehrte? Die deutsche Subjectivität, überfüllt mit innerer Bildung, mit Philosophie reichlich versetzt, geknebelt nach außen und unfähig, die Welt zu bewegen, vergeilte in sich, trieb sich auf den Gipfel der Will- kühr und machte sich ein markloses Schattenspiel vor. Die Gestaltlosig- keit dieses Spiels, welche in der bildenden wie in der dichtenden Phan- tasie jede feste Form verflüchtigte, nirgends die Geduld und Entsagung hatte, bei der Stange zu bleiben, hatte also zuerst ihren Grund in dem Ich, dem es mit nichts Ernst ist, und daraus erst floß die Wahl des Mittelalters und seiner Zauberwelt als eines willkommenen Schau- platzes für dieß gaukelnde Spiel, das im Schaffen das halb Geschaffene auflöst. Durch und durch moderne Subjecte verstecken sich in Mönchskutte und Ritterkleid. Es ist Phantasie der Phantasie; man legt sich der phantasielosen Aufklärung zum Possen darauf, Phantasie zu haben, und treibt sich voll Absichtlichkeit in das hinein, was die Phantasie von der flachen Aufklärung nur negativ unterscheidet: aus der Wahrheit, daß sie nicht bloß verständig, nicht flach, nicht moralisirend, nicht fadengerade, nicht im gemeinen Sinne nüchtern ist, daraus macht man, daß sie besin- nungslos, wahnsinnig, gefühlstrunken, narkotisirt sein müsse. Dahinter steckt gerade eben die Prosa, gegen die man zu Felde zieht; wer stets den Instinct predigt, statt unbeirrt durch die Prosa der Welt, einfach durch ihn zu schaffen, der zeigt, daß er ihn verloren hat, und der trockene Philister der Aufklärung unterscheidet sich von ihm dadurch, daß er ehrlich ist, jener Theoretiker des Phantastischen aber nicht. 2. Die hohle und auflösende Ironie stack also schon in der roman- tischen Genialität. Doch es ist, wie schon bemerkt, ein Unterschied. Der eigentlichen romantischen Schule gelang die Selbsttäuschung, sie schwärmte, mit ihrer Doctrin war es ihr Ernst. Inzwischen hatte abgesehen vom ästhetischen Gebiete die Zeit die Form der Zerrissenheit erzeugt (§. 376). Man war enttäuscht und doch ohne die Idee und den Muth der Wahr- heit. Zerrissenheit ist selbst noch eine Täuschung. Den ersten Wurf der Aufnahme dieser Stimmung in das Ideal hatte allerdings schon Göthe im Faust gethan, aber Göthe selbst war gesund und seine Darstellung auf versöhnenden Schluß angelegt. Von England wirkte Byron ein und hier war es schon anders: die Zerrissenheit war nicht bloß Stoff, sondern das Subject des Dichters war zerrissen, und dieß wurde in Deutschland Mode. Der Weltschmerz kam auf. Wer sich in der Verzweiflung bespiegelt, ist eigentlich schon über sie hinaus, die letzte Täuschung fällt und die Blasirtheit kommt an das Ruder. Diese erst ist dasjenige, was Hegel unter dem Na- men der Ironie so bitter verfolgt; sie erst ist so ausgesogen, daß es ihr mit keinem Inhalt und keiner Form Ernst ist, sie erst dichtet, wie man jetzt tanzt, mit dem Ausdruck: ich könnte es ebensogut lassen; sie erst opfert jeden Zusammenhang einem Witz und hat auch an dem Witz keine Freude, sie erst ist der ungeheure Widerspruch, im Genuß nicht zu genießen, im Schmerz nicht zu trauern, nichts zu sein und doch, statt sich zu erschießen, in dieser Nichtigkeit sich eitel zu weiden. Zu dieser Fäulniß ist die Ro- mantik in Heine gelangt, er ist der Verwesungsprozeß der Romantik. Voll Genialität hat er alle ihre Schönheiten, löst sie in Zerrissenheit auf und endigt in Blasirtheit. 3. Die „Weltliteratur.“ Die Aufstopplung aller poetischen Schätze aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken. Ein Uebersetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk sein, die nach allen Seiten billige, anerkennende, aneignende Universalität ist ebenso ein Zei- chen der erlöschenden, eigenen Zeugungskraft, als der Kosmopolitismus ein Zeichen schwachen Nationalgefühls. Starke Nationen sind ungerecht. Die Phantasie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Mischung der verschiedensten Völker-Elemente, aber diese Mischung war naiv; es war nicht eine Anerkennung und absichtliche Aneignung des Fremden als Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, setzte ihre Helden auf den eigenen Boden, trug in ihre Schicksale ohne Weiteres die eigene Anschauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam. §. 482. Die neue Verirrung kommt zum Bewußtsein und es bildet sich die Ein- sicht der wahren Aufgabe eines Ideals, das von den Zeiten des mythischen Vorstellens durch die Kluft der Aufklärung getrennt ist. Allein Einsicht ist nicht Können, ja sie hindert es durch ihre Schärfe sowie durch die Dichtheit der von ihr angesammelten Kenntnisse im ästhetischen Gebiete. Keine Zeit wußte so gut, was zu machen ist, als die jetzige, und keine kann es so wenig machen. Die Romantik löste sich zwar von selbst auf, allein zum allge- meinen Bewußtsein kam die Nothwendigkeit dieser Auflösung durch die Kritik. Die Kritik ist es auch, die es ausgesprochen hat, daß fortan der Phantasie nur die ursprüngliche Stoffwelt gegeben ist, daß uns von allen mythischen Stoffen die ungeheure Kluft der Aufklärung trennt, welche zu läugnen Wahnsinn ist. Sie hat zugleich auf die zeitgemäßen Stoffe hin- gedeutet, auf die geschichtlichen nämlich, in welchen dasselbe Ringen nach Freiheit zu Tage liegt, wie in unserer Zeit. Kritik aber ist Reflexion und es ist schon dieß ein ganz übles Zeichen, wenn über die rechten Stoffe kritisch verhandelt, wenn der irrende Instinkt von der Reflexion belehrt wird. — Wir sind nun auf dem subjectiven Wege der Lehre von der Phantasie an denselben Punkt gelangt, an den wir am Schlusse der Lehre vom Naturschönen auf dem objectiven gelangten. Dort sahen wir: die Gegenwart hat keine schönen Formen, der Künstler kann in ihr keine Studien machen, die Anschauung geht leer aus; jetzt müssen wir sagen: die Phantasie hat sich in Reflexion zersetzt, durch die Richtung und Stimmung der Zeit ist der Instinct verloren, die Naivetät in Kritik aufgelöst, die Phantasie ist ein Hamlet geworden. Man nehme jenes und dieß zusam- men, so muß die ungeheure Ungunst der Zeit einleuchten. Unter Reflexion verstehen wir nicht nur die philosophisch kritische Bildung der Gegenwart, der sich auch der Künstler nicht ganz entziehen kann, sondern auch die Praxis der Bildung, wie sie an der Wirklichkeit, der Gesellschaft, dem Staate von allen Seiten auf Umbildung arbeitet, aber auch dieß noch nicht durch Thaten, sondern durch Reden, auf dem Weg der Debatte, der Discussion, also ebenfalls der Reflexion. Dazu kommen nun aber alle die großen Eroberungen des Wissens, welche die Kunst näher an- gehen. Die ursprüngliche Stoffwelt ist durch unzählige Kenntnisse, Be- obachtungen, Studien zu einer ungeheuern Masse angewachsen; an der landschaftlichen Natur z. B. hat man unendliche neue Seiten aufgefunden: wie hat sich nur das Gebiet von Beobachtungen über Lichtwirkungen, Farben erweitert, wie viele feinere Reize, Schönheiten hat man da ent- deckt! Nun behandelt z. B. ein Maler einen historischen Stoff, setzt ihn in ein gewisses Licht, da liegt ihm die Verführung nahe, die Lichteffecte mit einer Feinheit und Wichtigkeit zu behandeln, welche der eigentlichen Aufgabe schadet: eine Verführung, die ein Maler der alten Zeit gar nicht gekannt hätte. Oder die Geschichte: die Griechen hatten eine über- schauliche Sagenwelt, das Mittelalter ebenso, Shakespeare einige Chro- niken, einige Novellensammlungen; der jetzige Künstler, der in der Lectüre einem seiner Phantasie zusagenden Stoff zu begegnen hofft, wird von Bibliotheken, von tausend Schriften über einen Stoff erdrückt. Es ist zu viel, überall zu viel, die Phantasie muß das Gleichgewicht verlieren, muß im dichten Walde den Weg verfehlen. Ein anderes Feld des Sam- melns und Wissens aber zeigt der Phantasie ihre eigene Geschichte in ihren Werken: die Style aller Zeiten und Völker umgeben uns in der Literatur, in Museen, Kunstgeschichten; da wird der Künstler an seiner Auffassungsweise irre, weiß nicht, soll er diese oder jene nachahmen, ver- liert ebenfalls den Boden unter den Füßen. Hat er aber einmal nicht links und rechts gesehen und ist seinem Genius gefolgt, so fährt die Kritik über ihn her, steckt ihn nachträglich an, nimmt ihm die Freude. §. 483. Unter diesen Schwierigkeiten sind dennoch bedeutende Anfänge hervorge- treten, zuerst in der bildenden Phantasie, welche in Deutschland mit einem großen Aufschwung am antiken Ideal, dann am mittelalterlichen sich erfrischt hat und so den Bewegungen der dichtenden gefolgt ist, hierauf an den freieren und größeren Formen, die der italienische Genius am Schlusse des Mittelalters geschaffen (§. 463) sich begeistert, den mythischen Schein abgeworfen und mit einzelnen kühnen Griffen die ursprüngliche Stoffwelt erfaßt hat. Hierin wurde jedoch die deutsche Phantasie von der feuriger bewegten französischen und von dem feinen Blicke der belgischen theilweise wieder überholt. Es brauchte nicht ausdrücklich gesagt zu werden, daß hier näher von der Phantasie des malerischen Sehens die Rede ist. Baukunst und Plastik konnten nur im formalen Sinne der neuen Bewegung folgen, in- dem sie Dagewesenes rein nachahmten, im Sinne von Dagewesenem rein reproduzirten. Warum insbesondere die Zeit noch keinen Beruf hat, einen neuen Baustyl zu schaffen, wird die Lehre von der Architectur zeigen. Die Malerei begann unter den großartigen Einflüssen des edeln Winkel- mann, welche nicht nur die Plastik an die reine Quelle zurückführten, mit Karstens, Wächter, Schick die Periode ihrer reineren Classicität, folgte mit den Nazarenern der romantischen Schule, wandte sich mit Cornelius zu Raphael und Mich. Angelo und verharrte, obwohl nun mit natur- großen Formen ausgerüstet, freilich noch im Mythischen. Franzosen (Leop. Robert, Delaroche, Horacc Vernet), Belgier (Bi è fve, Gallait, de Kayser) überholten uns in warmer Ergreifung rein menschlicher, doch mit heroischer Anlage getränkter Zustände, großer Momente der Geschichte und bewe- gungsvoll malerischer Darstellung derselben. Vereinzelter, nachdenklicher, die psychologisch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor- ziehend folgten die Deutschen, namentlich Lessing. Ihnen fehlt noch vor Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le- benswärme. Beides fließt daraus, daß sie das Mythische nicht lassen wollen, durch dessen Einmischung selbst Kaulbach großartig empfangene weltgeschichtliche Stoffe verderbt. §. 484. Nachdem die empfindende Phantasie in mächtigen Klängen das Ringen des neuen Geistes ausgesprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver- sunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli- schen, deutschen, französischen Geist das soziale Leben im Sinne des modernen Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat sich, mit Ausnahme glück- lichen komischen Talents im französischen Volke, besonders sichtbar dasjenige eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantasie in einer unruhig stre- benden Zeit nahe liegt, die Tendenz : eine ästhetisch unzulässige Auffassung im Sinne des Interesses (vergl. §. 56 — 60. 75. 76). Die romantische Schule hatte freilich auch ihren großen Musiker; wir heben aber einzelne Erscheinungen nur da hervor, wo es der bezeichnenden wenige gibt, und so mußte hier Beethoven, dieser musika- lische Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect, Prahlerei wird hierauf von glänzenden italienischen und französischen Ta- lenten eingeführt. In der dichtenden Phantasie war es der bildenden Art (dem Roman) am leichtesten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der historische, der soziale Roman ist von großen Talenten angebaut worden. Statt die englischen, deutschen, französischen Talente zu zählen, nennen wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz sprechen, welche freilich in alle Arten der Phantasie, selbst in die bildende (Hüb- ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die subjectiv bewegten Formen der dichtenden, die lyrische und dramatische, sich eindrängen mußte, ist als ganze und ächt ästhetische Erscheinung das komödische Talent der Franzosen zu erwähnen, zwar abstract in der Charakterbildung, aber voll Kraft, eine gesellige Lebensfrage mit raschem Blick zu erfassen, zu leb- hafter Wirkung zu spannen. Daß übrigens in den verschiedensten Sphären die unorganisch komische Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und muß, ja besonders fetten Boden hat in kritischer Zeit, dieß folgt von selbst aus dem, was über ihre Natur schon gesagt ist. Die Tendenz- frage nun konnte nur in einer Zeit wie die unsrige aufgeworfen werden. Alles Schöne hat Tendenz und muß Tendenz haben, und alles Schöne wird durch Tendenz aufgehoben. Diese Antinomie löst sich einfach, wenn wir im ersten Satze unter Tendenz verstehen die im Stoffe selbst imma- nent wirkliche Idee, dann die Phantasie, wie sie unabsichtlich ihrem großen Instinct folgend diesen Stoff so umbildet, daß aus der umgeschmelzten Form diese Idee von selbst, jedes Herz packend, hervorspringt, wenn wir dabei, wie wir müssen, jene ächte Phantasie voraussetzen, welche durch- drungen von dem, was mächtig im Jahrhundert waltet und alle Gemüther bewegt, eben von den Stoffen zum Schaffen entzündet wird, worein sie den Geist ihrer Zeit niederlegen kann, niederlegen ohne eine von der reinen Formthätigkeit gesonderte Absicht, ohne ein darauf ausdrücklich ge- richtetes Wissen und Wollen; wenn wir dagegen unter Tendenz im zweiten Satze diese gesonderte Absicht, dieses ausdrückliche Wissen und Wollen verstehen, das nothwendig die Elemente, Idee und Bild, zersetzt, einen Stoff als Mittel ergreift, um durch ihn im Sinne einer bestimmten Idee auf die Zeit zu wirken, diese ausspricht, statt sie als unsichtbaren Geist durch den Körper ihres Stoffs zu führen, und so mit der Ausdrücklichkeit des Denkens und Wollens, mit der Unruhe des stoffartigen Interesses den Zuschauer ansteckt. Diese zersetzende Absichtlichkeit nun ist von einer unzufrieden strebenden Zeit wie die unsrige gar nicht zu trennen. Alles, was jetzt Reflexion, Discussion, Kritik, unverwirklichter Zweck ist, muß erst durch eine große reale Bewegung Zustand, Sein, Natur, Wirklichkeit geworden sein, dann ist wieder Naivetät, Instinct möglich. Göthe hat gesagt, er wolle den Deutschen die Umwälzungen nicht wünschen, welche nöthig wären, wenn sie wieder eine classische Poesie haben sollen. Er wünschte also die Bedingung einer Wirkung nicht, wo er doch als Dich- ter die Wirkung wünschen mußte. Es ist aber gleichgiltig, was wir wünschen, es fragt sich, was kommen muß, und so viel ist gewiß, wenn wieder Blüthe der Phantasie kommen soll, so muß vorher eine Umgestaltung des ganzen Lebens kommen.