Biographien der Wahnsinnigen . Von Christian Heinrich Spieß . Erstes Baͤndchen . Leipzig . 1796 . Vorrede . K ann ich Dank erwarten, wenn ich den Irrenden vor dem nahen Abgrund warne, ist's Pflicht, daß ich den erhitzten Wanderer hindere, an der kuͤhlen Quelle durch jaͤhen Trunk seinen Tod zu finden, so habe ich diese erfuͤllt, und kann jenen hoffen, * 2 wenn ich Sie bitte, den Inhalt dieses kleinen Buͤchleins wohl zu be- herzigen. Wahnsinn ist schrecklich, aber noch schrecklicher ist's, daß man so leicht ein Opfer desselben werden kann. Ueberspannte, heftige Leidenschaft, be- trogne Hoffnung, verlohrne Aussicht, oft auch nur eingebildete Gefahr, kann uns das kostbarste Geschenk des Schoͤ- pfers, unsern Verstand, rauben, und welcher unter den Sterblichen darf sich ruͤhmen, daß er nicht einst im aͤhn- lichen Falle, folglich in gleicher Ge- fahr war? Wenn ich Ihnen die Biographien dieser Ungluͤcklichen erzaͤhle, so will ich nicht allein Ihr Mitleid wecken, sondern Ihnen vorzuͤglich be- weisen, daß jeder derselben der Ur- heber seines Ungluͤcks war, daß es folglich in unsrer Macht steht, aͤhn- liches Ungluͤck zu verhindern. Freilich kann ich dem reißenden Strome nicht mehr widerstehen, wenn ich mich kuͤhn in seine Tiefe wage, aber Dank und Lohn verdient doch derjenige, der mich durch Beispiele von seiner Tiefe uͤberzeugt, und, ehe ich das Ufer uͤberschreite, vor der nahen Gefahr warnt. Wie herrlich, wie erhaben wuͤrde ich mich belohnt duͤnken, wenn meine Erzaͤhlungen das leichtglaͤubige Maͤdchen, den unvorsichtigen Juͤngling an der Ausfuͤhrung eines kuͤhnen Plans hinderten, der ihnen einst den Verstand rauben koͤnnte. Sollten meine Leser dieses Baͤnd- chen mit Beifall aufnehmen, so wird in der kommenden Michaelismesse das zweite ganz gewiß folgen. Dies zur Nachricht fuͤr die unberufnen Nachah- mer, die so oft und wiederholt auf meinem Felde zu ernden suchen. Bezdiekau, bei Klottau, in Boͤhmen, den 12. Jenner 1795. C. H. Spieß . Inhalt. I . Katharine P***rin. ‒ ‒ Seite 1 II . Joseph Carl. ‒ ‒ 31 III . Wilhelm M *** r. und Karoline W — g. ‒ ‒ 5 9 IV . Jakob W *** r. ‒ ‒ 101 Inhalt . V. Friedrich M *** r und seine Familie. ‒ ‒ ‒ S. 121 VI. Karoline S — von H. ‒ ‒ 155 Katharine P***rin . H eiter gieng am Abende des letzten Aprils die Sonne unter, rein und glaͤnzend stieg sie am fol- genden Morgen uͤber die Gebirge empor, und ver- kuͤndigte mit freundlichem Blicke der erwachenden Erde, daß mir ihr der junge, blumenreiche Mai nahe. Ihre Strahlen weckten mich, ich erstieg froh und munter die hohen Gebirge, welche von allen Seiten die boͤhmische Bergstadt Ellbogen um- fassen, in ihrem engen Schooße zwar vaͤterlich fuͤr Sturm und Wetter schuͤtzen, aber auch nur karg und sparsam auf ihrem magern Ruͤcken ernaͤhren. Schon lange hatte ich nicht frei geathmet; der mehr als launigte, oft heimtuͤckische April hatte mich zwar oft mit lachendem Blicke zum Spa- ziergange geladen, aber auch selten ungeneckt wieder heim ziehen lassen. Immer jagte mich sein kalter Freund, der boͤse Nordwind, vom Berge herab, oft uͤberraschte er mich mit einem schnellen Regenschauer, wenn ich, im Thale gelagert, mich Erst. Baͤndch. A allzutief im Anschauen des bluͤhenden Gaͤnsebluͤm- chens verlohr, oder, gelockt vom duftenden Veil- chengeruch, unter den Felsen umher kroch. Seine Macht hatte nun geendet, ich wollte die sanfte Regierung seines jungen Nachfolgers vollkommen genießen, erstieg gluͤcklich den hohen Galgenberg , und stand jetzt angelehnt an sei- ner hoͤchsten Spitze. Die Aussicht, welche er von daaus gewaͤhrt, ist reizend und schoͤn, ich hatte sie schon im Zirkel meiner Freunde, oft auch allein, genossen, immer fand mein Auge neue Gegenstaͤnde, immer kehrte ich belohnt zu- ruͤck. Heute hofte ich, nach so langer Zeit, mich wieder an diesem Anblicke zu laben, aber meine gereizte Erwartung wurde — nach dem gewoͤhnli- chen Loose der Sterblichen — ganz vereitelt. Di- ker, undurchdringlicher Nebel fuͤllte alle die rei- zenden Thaͤler, welche man von hieraus sonst uͤberblicken konnte, er deckte die kleinen Silberbaͤ- che, welche sich so angenehm unter Fichten und Tannen von Bergen herab nach dem Egerflusse schlaͤngeln, er verbarg die romantischen Huͤtten und Scheunen, mit welchen die benachbarten Ber- ge und Thaͤler uͤbersaͤet sind, er verhinderte mich, zuzusehen: wie die Eger im langsamen, schleichen- den Gange den Namen der Stadt, einen Ellbo- gen, bildet, und endlich verdruͤßlich uͤber den all- zulangen Aufenthalt im schnellen, eilenden Laufe links in's Felsenthal hinab rauscht. Nur die Ruͤ- ken der hoͤchsten Berge hoben sich aus dem Ne- belmeere empor, mein Auge irrte darinne umher, und konnte selten einen Ruhepunkt finden, weil der neidische Nebel sie mir, indeß er sich hoͤher hob, immer wieder raubte. Die Sonne kaͤmpfte mit ihm, ich beschloß, dem Kampfe zuzusehen, und, wuͤrde die Sonne Sieger, ihr Siegesfest feiern zu helfen. Gehuͤllt in meinen Mantel, ge- lagert am Boden, beschuͤtzt von einem Felsenstuͤcke, harrte ich geduldig des Ausgangs. Es war alles still und oͤde um mich her, nur das Weibchen ei- nes Emmerlings baute im nahen Wachholderstrau- che sein Nest und zwitscherte froͤhlich, wenn ihm der geliebte Gatte eine kleine Feder im Schnabel herbeitrug. Jetzt hoben sich in der weiten Ferne aus dem Nebelmeere die Thuͤrme der Marie Kul- mer Kirche empor, bald sah ich auch ihre Fenster, sie glaͤnzten, von der Sonne beleuchtet, gleich Spiegeln und blendeten mein Auge, es sank hin- ab in den dunkeln Wald, der sie umgiebt, und dessen Spitzen nun auch sichtbar wurden. Ich erinnerte mich der großen Raͤuberhoͤhle, auf wel- cher diese Kirche erbaut ward, meine Einbil- dungskraft regte sich, ich sah die Raͤuber, mit Beute beladen, heimziehen, sie fuͤhrten gefesselte Jungfrauen in ihrer Mitte, ermordeten sie erbaͤrm- lich, und stuͤrzten ihre Leichname in tiefe Berg- schachten. Ich schauderte! — Mein Auge eilte weg von dieser Schreckensszene, und blieb an der alten Veste hangen, welche jetzt noch in Ellbo- gens Ringmauern steht, und einst von den maͤch- A 2 tigen Markgrafen von Wohburg erbaut wurde. Kein Fenster blendete hier meinen Blick, ich konnte ungehindert in diesen Ruinen umher wan- deln, ungehindert uͤberlegen: wie einst drei Bruͤ- der dieses maͤchtigen Stammes in wenigen Gemaͤ- chern Raum fanden, und doch oft alle Edlen rings umher fuͤrstlich bewirtheten. Meine Ein- bildungskraft riß mich abermals mit sich fort, ich war mit ihrer Huͤlfe eben der Minnesaͤnger der schoͤnen Markgraͤfin Johanna geworden, sang eben, auf der Harfe spielend, ihr Lob, als mein Auge unten an der Veste ein kleines Fensterlein gewahrte, das dem Gefaͤngnisse, in welchem einst Popel Lobkowitz blutete, sparsames Licht gab. Meine Harfe schwieg, ich dachte des schrecklichen Hussitenkriegs, ich sah rauben, pluͤndern, mor- den; ich zitterte, mein gesenktes Auge starrte am Boden, und weigerte sich, ferner umher zu blicken. Viele kleine Huͤgel, die in Grabesgestalt zu mei- nen Fuͤßen umher lagen, beschaͤftigten es bald auf's neue, der Gedanke des Todes ward in mei- ner Seele rege. Wenn auch dein Koͤrper einst ruhen und schlafen wird, dachte sie jetzt und lei- tete die Augen nach jenen unermeßlichen Gefilden empor, in welchen sie einst zu wohnen hofte! Ich saß lange traurig und denkend, ich wollte mich zerstreuen, blickte rechts, und die Ruinen des nahen Galgens, den Kaiser Josephs Gebot, gleich allen seinen Mitbruͤdern, zerstoͤrt hatte, la- gen vor mir. Schnell durchbebte der Gedanke mein Herz, daß diese Huͤgel wahrscheinlich die Graͤber waͤren, in welchen die Opfer der Gerech- tigkeit, die ihr an dieser Staͤtte gebracht wurden, ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch ist wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals, als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu- ren Todeskampf kaͤmpftet; zum letztenmale in der weiten Natur umher blicktet, und dann hinge- schleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch- mal die verfolgte Unschuld an dieser Staͤtte! Vielleicht flehte sie hier oft vergebens um Rettung und Huͤlfe, und starb verzweifelnd! — — Kalter Schauer ergriff mich, ich sprang auf, und wan- delte unter den Graͤbern umher. Ich gieng an den langen und großen Huͤgeln kalt voruͤber, weil mein Gefuͤhl hier die Ruhestaͤtte der Raͤuber und Moͤrder vermuthete, ich weilte geruͤhrt an den kuͤrzern und kleinern, weil ich muthmaßte, daß hier diejenigen schliefen, welche das Schwert gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter diesen sich auch Kindermoͤrderinnen befaͤnden, ergriff mein Herz, und engte es maͤchtig. Ich sah die schuldlose Dirne unbefleckt und rein im einsamen Thale lustwandeln, ihr Verfuͤhrer, ein abgefeim- ter Wohlluͤstling, schlich hinter ihr her, ruͤhrte ihr offnes Herz, raubte ihre Unschuld, und eilte frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft uͤberhuͤpfte einen Zeitraum von neun Monden, ich erblickte die naͤmliche Dirne wieder in ihrer Schlafkammer; starr und verzweiflungsvoll um- her blickend, saß sie einsam auf ihrem Bette, sie rang ihre Haͤnde, sie flehte zu Gott um Rettung aus der Schande, die ihr unwiderruflich drohte. Sie hatte ihren Zustand vor aller Augen bis jetzt verborgen, noch am Abende legte der alte Vater segnend seine Hand auf ihr Haupt, und nannte sie die Hofnung seiner alten Tage. Am Morgen sollte er erfahren, daß sein einziges Kind zur Hure geworden sei! Dieser Gedanke allein war ihr mehr als Hoͤlle! Sie duldete die Schmerzen der Geburt im Stillen; als sie aber gebahr, und ihr Schmerzenskind weinend die Schande der Mut- ter zu verkuͤndigen begann, da ergriff es die Un- gluͤckliche im Gefuͤhle der innigsten Schaam, und erstickte es im Bette. Die That ward bald ent- deckt, und sie blutete hier unter dem Schwerte des Henkers! Allmaͤchtiger, richte du: ob er, der Verfuͤhrer, der Meineidige, welcher ihre Ehre so boshaft vernichtete, und raubte, was er nicht wieder geben konnte, nicht auch Theil hatte an der blutigen That, nicht hier zu bluten ver- diente? Eben wollte ich noch mehrere Faͤlle durchgehen, welche oft den rechtschaffnen Mann zu kleinen Verbrechen verleiten, zu groͤßern zwingen, und wahrlich unverdient zum Hochgerichte fuͤhren, als ein melodischer Gesang, welcher aus dem nahen Thale herauf erscholl, meine Aufmerksamkeit weck- te. Der dicke Nebel hinderte mein Auge, nach den Saͤngern umher zu spaͤhen, ich horchte von neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Gesang sich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei- nem sehr wohlklingenden Alte. Sie sangen aus- drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht, welches sich nicht beschreiben laͤßt; da ich oft den Namen der Mutter Gottes in diesem Liede nen- nen hoͤrte; so schloß ich, daß es fromme Pilgrin- nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall- fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch- tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen sah, sie sangen noch immer, ich wollte sie nicht stoͤren, und trat abseits. Der Nebel umfloß sie nicht mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten sie hell. Voran gieng im langsamen, feierlichen Gange ein junges, huͤbsches Maͤdchen. Ihr gro- ses, schwarzes Auge starrte gen Himmel, ihre Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem Gesichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an Schwaͤrmerei zu grenzen schien, weil sich oft die sanften Zuͤge ihres so schoͤnen Gesichtes unregel- maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter- chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es strickte fleißig an einem Strumpfe, und schien ohne be- sondere Theilnahme mit zu singen. Das Maͤdchen stand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, sein Gefuͤhl erhob sich, seine Andacht verdoppelte sich, sie schwieg gedraͤngt von innerer Empfindung stille, ihre Lippen beteten, endlich begann sie den Gesang von neuem. Da sie ihn dreimal wieder- holte, so gewann ich Zeit, das ganze Lied in mei- ne Schreibtafel zu schreiben. Es sind seit dieser Zeit viele Jahre verflossen; aber wenn ich mich dieses Lieds erinnere, so toͤnt es noch immer me- lodisch in meinem Ohre. Man denke sich ein schoͤnes Maͤdchen, das im groͤßten Gefuͤhle der Andacht, mit festem Glauben an sichere Erhoͤ- rung, auf der hoͤchsten Zinne eines Berges steht, seine Haͤnde zum Himmel empor hebt, und mit einem Ausdrucke, der sich nicht beschreiben laͤßt, schoͤn und melodisch singt, dann nur kann man die Empfindungen messen, die es in mir erregte. Das Lied hat gar keine poetischen Schoͤnheiten, ist voll Fehler, aber es ist mir heilig geworden, ich mag, ich wills nicht aͤndern, ich schreibe es woͤrtlich ab, ich fuͤge die harmonische Melodie bei, und erwarte den Eindruck, welchen es, ge- sungen von einem schoͤnen Munde, auf meine Le- ser machen wird: Sei gegruͤßt viel tausendmal! Sei gegruͤßt! o Jungfrau rein! Du wuͤrkst Wunder ohne Zahl, Du erhoͤrest groß und klein! Darum rufe ich zu dir: Mutter Gottes! Ach, hilf mir! Hier lieg ich zu deinen Fuͤßen, Mutter Jesu, hoͤr mich an! Ich will meine Suͤnden buͤßen, Die ich jemals hab gethan! Darum rufe ich zu dir: Mutter Gottes! Ach, hilf mir! Wann einst kommt mein Lebensende, Und das matte Herz schon bricht, Dann, o Mutter, zu mir wende Dein liebreiches Angesicht! Darum rufe ich zu dir: Mutter Gottes! Ach, hilf mir! Als dieses dreimal wiederholte Lied geendigt war, kniete das Maͤdchen nieder, es betete auf's neue inbruͤnstig, und warf sich endlich ganz auf die Erde. Die Alte lagerte sich unfern davon auf einen Stein, strickte emsig fort, und harrte ruhig des Endes. Mehr als eine Viertelstunde herrschte tiefe Stille um uns her, ich wagte es nicht, das Maͤdchen in seiner Andacht zu stoͤren, blieb unverruͤckt auf meinem Platze stehen. End- lich erhob sich die Betende, ihr feuriges, aber Freude verkuͤndigendes Auge suchte die Alte. Mutter, liebe Mutter, sprach sie im festen, zu- versichtlichen Tone, ich habe die Seele des Moͤr- ders, der unter mir ruht, erloͤßt, eben ist er mir erschienen, und hat sich freundlich bedankt. Die Mutter. (ohne im Stricken inne zu halten) Nun! nun! Ist schon recht! Die Tochter . Itzt will ich nur noch diesen hier ( indem sie mit dem Finger auf ein Grab zeigte ) erloͤsen, und dann gehen wir heim! Die Mutter . Aber es ist schon hoch am Tage! Die Tochter . Er seufzte so erbaͤrmlich. Hoͤrt nur, wie er stoͤhnt! Ich muß mich ja seiner er- barmen, damit mir dort auch einst Vergebung werde. Die Mutter. (im kalten Tone) Mach's nur nicht zu lange, sonst vergeht der ganze Vormittag. Du weißt, daß wir kein Brod haben; wenn du nicht fleißig spinnst, so kann ich dir auch keins geben. Die Tochter . Ich will hernach recht fleißig seyn, will's gewiß wieder einbringen, aber ( mit schmerzhaftem Gefuͤhle ) jetzt muß ich ja beten. Sie gieng einige Schritte weiter, warf sich auf ein anderes Grab, und betete von neuem. Das sonderbare Gespraͤch hatte meine Neugierde sehr gereizt, ich schlich leise zur Mutter hinab, die mich freundlich gruͤßte. Ich . Ist dies Maͤdchen eure Tochter? Die Alte . Ja, lieber Herr, ja! ( sie seufzte tief ). Ich . Warum seufzt ihr? Die Alte . Hab's wohl Ursache! Bin eine ungluͤckliche Mutter! Erzog ein Kind, das mich einst ernaͤhren sollte, und kann's nun nicht hoffen. Ich . Ein so andaͤchtiges Kind wird gewiß willig fuͤr seine alte Mutter arbeiten. Die Alte . Ach, Herr! Sie war fromm und arbeitsam, sie wuͤrde es noch seyn, wenn sie nicht ihren Verstand verlohren haͤtte! Ich. (mit einem Seitenblicke nach der Betenden) Ist sie wahnsinnig? Die Alte . Ja, leider! Schon seit einigen Jahren. Sonst arbeitete sie vom fruͤhen Morgen bis in die spaͤte Nacht, jetzt nur, wenn's ihr einfaͤllt. Ich . Und was thut sie sonst? Die Alte . Beten, nichts als Beten! Oft, wenn sie am Spinnrade sitzt, und ich mir eben denke, daß sich Gott ihrer erbarmt, ihr Leiden gelindert hat, springt sie auf, wirft sich auf die Knie, und hat Erscheinungen, die sie den gan- zen Tag an der Arbeit hindern. Dann muß ich immer auch weinen, und komme mit meiner Strickerei schlecht vorwaͤrts. Gott! was wird am Ende noch aus uns werden, wenn mich endlich der Kummer auch auf's Lager wirft, und wir gar nichts mehr verdienen koͤnnen! Es mag viele ungluͤckliche Muͤtter auf der Welt geben, aber eine Mutter, die ein wahnsinniges Kind hat, ist gewiß die ungluͤcklichste unter allen. Ich . Glaubt's nicht, gute Frau, glaubt's nicht! Waren die Muͤtter derjenigen Kinder, welche hier ruhen, nicht noch ungluͤcklicher? Die Alte . Ach, Gott, ja wohl! Wenn ich mir dieser Leiden denke, da wird mir angst und bange: Drum hindere ich's auch nicht, wenn meine Tochter hieher beten geht. Sie hat zwar ihren Verstand verlohren, aber beten kann sie trotz einem Pfarrer; da denke ich mir denn, Gott muͤsse so inbruͤnstiges Gebet auch hoͤren, er hoͤrt ja das Lallen der Kinder, die eben so unvernuͤnf- tig, wie sie, sind. Ich . Kommt sie oft hieher beten? Die Alte . Alle Freitage! Wenn's schlim- mes Wetter macht, und ich nicht mit ihr, sie auch nicht allein gehen lassen will, so weint sie unaufhoͤrlich, und arbeitet den ganzen Tag nichts. Oft macht sie mir so bittre Vorwuͤrfe daruͤber, daß ich mir ein Gewissen daraus mache, und ih- ren Willen erfuͤlle, weil fuͤr die armen Verlaßnen ohnehin wenige beten, und sie ihrer großen Suͤn- den wegen doch alle im Fegfeuer schmachten muͤs- sen. Zwar, wenn's wahr ist, was meine Toch- ter sagt, so sind sie schon laͤngst alle erloͤßt, aber wer kann's wissen; sie mag daher beten, so lange sie will. Ich . Durch welchen Zufall ist sie denn wahn- sinnig geworden? Die Alte . Es kamen allerhand Umstaͤnde zusammen. Anfangs war sie nur traurig und tief- sinnig, hernach fieng sie an irre zu reden, und so blieb's! (zu ihrer Tochter, welche sich eben aufrichtete) Kaͤthe! Kaͤthe! Wollen wir nicht nach Hause gehen? Kaͤtchen . Ja, liebe Mutter, ja! (sie kam zu uns herab, schien aber noch im- mer zu beten) . Die Alte. (zu ihr) Siehst du nicht , daß ein fremder Herr hier steht? (sie gruͤßte mich freundlich) Du bist sehr erhitzt! ( ihr den Schweiß abwischend ) Ruhe ein wenig aus, dann wollen wir wieder gehen. Kaͤtchen. (mit zufriedner Miene) Ich habe recht fleißig gebetet. Die Alte . Daran fehlt's nie, wenn du nur auch arbeiten wolltest. Das arme, gute Kaͤtchen schien diesen Vor- wurf nicht zu hoͤren, sie genoß mit zufriedner Miene die Fruͤchte ihres Gebetes im Stillen, und setzte sich ruhig der Mutter zur Seite. Ich hatte jetzt volle Gelegenheit, sie genau zu betrach- ten. Ihr Gesicht war wuͤrklich schoͤn, ihre wohl- geformte Habichtsnase, ihr kleiner Mund, das große, schmachtende Auge erhob es weit uͤber das Alltaͤgliche! Wenn sie still vor sich hinblickte, da glich sie ganz einer Madonna, der eben ein Engel den Gruß des Herrn bringt; wenn sich aber ihr Au- ge hob, und schuͤchtern umher blickte, da verrieth ein gewisses Etwas, das sich nicht beschreiben laͤßt, ihre innere Zerruͤttung. Ich wuͤrde sie noch lange stillschweigend angestaunt haben, wenn ihr umher irrendes Auge mich nicht gefaßt, und auf's neue freundschaftlich gegruͤßt haͤtte. Ich . Wie geht dir's, liebes Kaͤtchen? Kaͤtchen. (freundlich und sehr ge- schwaͤtzig) Gott sei Dank, recht gut! Es bes- sert sich taͤglich, ich habe Hofnung, meine Ver- nunft wieder zu erhalten, wenn ich diese einmal ganz besitze, dann will ich recht fleißig arbeiten, und meine arme Mutter bis in den Tod redlich ernaͤhren. Die Alte . Das gebe der liebe Gott! Ich . Willst du denn jetzt nicht auch ar- beiten? Kaͤtchen . O freilich, ich arbeite immer, wenn ich nicht bete! Aber beten muß ich oft und viel, sonst kann ich nicht bestehen! ( mit zufriednem Tone ) Ich habe heute schon zwei arme Seelen erloͤßt! ( sehr geschwaͤtzig ) Sehen Sie, ich will's Ihnen wohl erzaͤhlen, wie es mir eigentlich gekommen ist. Es war am hei- ligen Abende, die Mutter hatte einen Butterwe- ken gebacken, ich weifte mein Garn ab, und der Butterwecken stand auf dem Tische, da kam mein Bruder von der Wanderschaft heim. Es war in der Stube schon dunkel, ich konnte ihn nicht gleich erkennen, aber wie ich ihn erkannte, da hatte ich große, große Freude — — Mutter, sprecht selbst, ob ich mich nicht recht freute, ob ich ihn nicht herzlich kuͤßte? Die Alte . Ja, ich muß es selbst bezeugen! Kaͤtchen . Und doch hat er mich neulich recht erbaͤrmlich gepeitscht! Die Alte . Weil du nicht folgen, nicht arbei- ten wolltest. Kaͤtchen. (nachdenkend) Wo bin ich denn geblieben? Die Alte . Schweig nur, schweig! ( zu mir ) Sie wird mit ihrer Erzaͤhlung nie fertig, mischt alles untereinander und verdirbt nur die Zeit, die uns zur Arbeit so nothwendig ist. Ich . Ich will sie euch reichlich lohnen, aber erlaubt, daß sie weiter erzaͤhlen darf. Die Alte . Nun, so erzaͤhl, Kaͤthe, erzaͤhl, wenn's der Herr schon so haben will. Kaͤtchen . So helft mir nur, Mutter! Ja, ja! ich weis schon alles selbst! Du brauchst das Haͤuschen nicht, sagte der Bruder, fuͤr dich wird sich keine Heirath finden, gieb mir's ich kanns bes- ser brauchen! — ( fuͤr sich hinstaunend ) Ach, er war so schoͤn! weiß wie Milch, und roth wie Blut! Er liebte mich recht herzlich, und wollte mich heirathen, und mit mir in meinem Haͤus- chen wohnen; hernach desertirte er, und da gab ich dem Bruder das Haͤuschen, und hernach — — hernach ( mit schauderhaftem Gefuͤhle ) haben sie ihn erschossen und unter den Galgen be- graben, und — — dann! Ach dann mußte ich immer, immer fuͤr ihn beten! — — Wie ich in die Kirche kam, da stand er am Altare und las die Messe; aber er war's nicht, nein, er war's nicht! Auf der Kanzel stand er auch einmal, aber er war's nicht, nein, er war's nicht; — — Ach, wenn ich ihn nur erloͤßt haͤtte! Ich muß beten, ich muß fuͤr ihn beten! Nein, er war's nicht! er war's nicht! ( leise ) Sie haben ihn erschossen, und unter den Galgen begraben. Sie betete jetzt still vor sich, ich wollte sie nicht stoͤhren, nicht neue Gefuͤhle des Schmerzens in ihr wecken, und doch hatten die Bruchstuͤcke ihrer Geschichte mein Herz sehr geruͤhrt, es wuͤnschte, sie ganz zu wissen, um vollkommnen Antheil dar- an nehmen zu koͤnnen. Ich wagte es, die Mut- ter auf's neue zu bitten, und fand sie bereitwil- lig, mir alles zu erzaͤhlen. Mein seeliger Gatte, sprach sie, war ein ehrlicher und rechtschaffner Mann, er wirkte Struͤmpfe, und ernaͤhrte mich und seine zwei Kinder redlich. Der Sohn lernte das naͤmliche Handwerk, und gieng hernach in die Fremde; da er den Vater schon viel gekostet hatte, sich selbst zu ernaͤhren im Stande war, so wollte er der Tochter doch auch etwas hinter- lassen, lassen, und vermachte ihr in seinem letzten Wil- len das Haͤuschen, welches er mit sauerm Schweiße erworben und erkauft hatte. Wenn Sie zum Thore hinein gehen, so koͤnnen Sie das Haͤuschen, rechts am Thurme angebaut, stehen sehen, es ist klein, sehr klein, aber mein Gott- seeliger meinte, daß um des Haͤuschen willen sich doch vielleicht ein junger Handwerksmann finden wuͤrde, der das Maͤdel heirathen, und mich mit ihr bis an meinen Tod ernaͤhren wuͤrde. Er starb, wir weinten beide lange um ihn, und naͤhrten uns mit unsrer Haͤnde Arbeit. Unter der Zeit ward Friede mit den Preussen, die Sol- daten kehrten zuruͤck, mit ihnen kam auch ein junger Auslaͤnder an, welcher das Strumpfwir- kerhandwerk gelernt hatte, und durch Zufall mit meiner Tochter bekannt wurde. Wenn ich dann und wann in die Kirche gieng, und fruͤher nach Hause kam, so traf ich ihn immer bei ihr. Da er sich selbst gegen mich erklaͤrte, daß er redliche Absichten auf's Maͤdchen habe, daß seine Kapi- tulation bald zu Ende gehe, und er sich dann hier ansaͤssig machen wolle; so konnte ich im Grunde gegen diesen Umgang nichts Anwenden, aber er war mir doch auch nicht angenehm, weil ein Maͤdchen dadurch so leicht bei allen jungen Leuten verschrien wird, und, wenn der Soldat nicht redlich denkt, am Ende sitzen bleibt. Es war uͤbrigens ein lieber, stiller Mensch, der sich nach dem Zeugnisse aller, die ich darum befragte, Erst. Baͤndch. B gut und ehrbar aufgefuͤhrt hatte. Wenn sie ihren Verstand haͤtte, und aufrichtig reden wollte, so muͤßte sie's selbst gestehen, daß ich ihr alles, was aus diesem Umgange uͤbles entstehen koͤnne, muͤtterlich vorgestellt habe; aber sie war dazumal ein leichtes, fluͤchtiges Ding, ließ meine Ermah- nung zu einem Ohre hinein zum andern hinaus- gehen, und saß immer wieder mit ihrem Solda- ten auf der Ofenbank, wenn ich fruͤher als ge- woͤhnlich heimkam. Bald hernach kam mein Sohn aus der Fremde zuruͤck, er hatte sich in seinem Handwerke freilich manche Kenntniß, aber kein Geld gesammlet, er hofte sich jetzt zu Hause bes- ser zu ernaͤhren, und hoͤrte mit Wehmuth, daß sein verstorbner Vater der Schwester das Haͤus- chen vermacht hatte, worauf er seine groͤßte Hof- nung gegruͤndet hatte. Beide waren meine Kin- der, ich wuͤnschte von ganzem Herzen, beide gluͤcklich zu sehen, da aber der Sohn jetzt am er- sten Huͤlfe bedurfte, so laͤugne ich's nicht, daß ich oft selbst der Tochter zuredete, sie moͤchte ihm das Haͤuschen abtreten. Er konnte in diesem Falle sogleich sein Handwerk treiben, sich wahr- scheinlich bald gluͤcklich verheirathen, und mir Un- terhalt auf meine alten Tage sichern. Anfangs wollte sie von diesem Vorschlage gar nichts hoͤ- ren, berief sich immer auf's vaͤterliche Testament, und versicherte mich, daß ihr Soldat eben so gute Struͤmpfe wirken, und mich auch ernaͤhren koͤnne. Als aber kurz nachher die Garnison verwechselt wurde, und ihr Geliebter nach der Hauptstadt zu liegen kam, auch, ungeachtet seines Verspre- chens, nichts von sich hoͤren ließ, da ward sie un- gewoͤhnlich traurig und stille, arbeitete zwar im- mer, aber nicht mehr so fleißig, und verdiente kaum dasjenige, was sie selbst zu ihrer Nahrung brauch- te. Ich machte ihr daruͤber Vorwuͤrfe, bewies ihr deutlich, daß man sich auf's Versprechen der jun- gen Soldaten nicht verlassen koͤnne, und rieth ihr muͤtterlich, sich in ihr Schicksal zu fuͤgen, und denjenigen zu vergessen, der ganz gewiß ihrer schon laͤngst vergessen habe. Sie versprach Folge zu leisten, weinte aber immer noch im Stillen, und weigerte sich hartnaͤckig, dem Bruder das Haͤuschen abzutreten, der es, da sich eben eine Heirath fuͤr ihn fand, hoͤchst noͤthig brauchte. Man sah aus dieser Weigerung deutlich, daß sie immer noch auf die Zuruͤckkunft ihres Soldaten hofte; da diese aber nie erfolgte, so war mir's lieb und angenehm, wenn ihr der Bruder oft die Unmoͤglichkeit zu beweisen suchte. An Ostern vor drei Jahren kam er mit der Nachricht heim, daß der so lange erwartete Geliebte auf's neue kapi- tulirt haͤtte, und kurz nachher, vielleicht aus Reue, mit vielen andern desertirt sey. Er gab vor, daß er diese Nachricht aus dem Munde ei- nes Fuhrmanns gehoͤrt habe, welcher eben in der Hauptstandt war, als der Ungluͤckliche wieder zu- ruͤck gebracht, und in's Stockhaus gefuͤhrt wurde. Meine Tochter hoͤrte diese traurige Nachricht mit B 2 Entsetzen, sie sprach kein Wort, weinte aber die ganze Nacht bitterlich, und erregte durch ihr Schluchzen mein Mitleid. Ich hielt gleich An- fangs die ganze Erzaͤhlung meines Sohnes fuͤr Erdichtung, und sprach am Morgen deswegen hart mit ihm, weil er mir und seiner Schwester so unverdiente Kraͤnkung mache; aber er behaup- tete seine Aussage, und fuͤhrte kurz darauf den Fuhrmann selbst in unsere Stube, der alles be- staͤtigte, und noch hinzufuͤgte, daß der Entflohne wohl schwerlich mit dem Leben davon kommen wuͤrde, weil er sich bei seiner Gefangennehmung widersetzt, und einige Bauern schwer verwundet habe. Kaͤtchen hatte sich eben an ihren Spinn- rocken gesetzt, als er dies erzaͤhlte; wie ich den Mann hinausbegleitete, und ingeheim noch ein- mal nach sicherer Nachricht forschen wollte, hoͤrte ich in der Stube einen Fall, ich sprang hinein, und meine Tochter lag ohnmaͤchtig am Boden. Sie muß durch diesen ungluͤcklichen Fall sich et- was im Gehirne verletzt haben, denn von dieser Zeit an war's nicht mehr richtig mit ihr. Ich schleppte sie auf's Bette, sie sprach sogleich irre, sah mich fuͤr den Soldaten an, und nahm so ruͤhrend von mir Abschied, daß ich selbst mit weinen mußte. Am Mittage bewegte ich sie doch, sich mit uns zu Tische zu setzen, ihr Bru- der lenkte das Gespraͤch auf's Haͤuschen, und sie war sogleich willig, es ihm abzutreten. Ich muß noch weinen, wenn ich daran denke: Gott schenke dir die Freuden, sagte sie zu ihm, die ich in die- sem Haͤuschen zu genießen hofte, und du wirst gewiß recht gluͤcklich und zufrieden darinne leben! Sie arbeitete die folgenden Tage nicht, und brachte sie meistens in der Kirche betend zu, ich war mit der nahen Hochzeit meines Sohnes be- schaͤftigt, und konnte sie nicht immer beobachten. Am Abende vor dieser vermißte ich sie erst spaͤt, suchte sie in allen Haͤusern vergebens, und mußte die Nacht hindurch trostlos um sie jammern. Fruͤh, als der Tag graute, gieng ich wieder nach ihr umher. Gott weis, wie mir dazumal zu Muthe war, ich beweinte sie schon als todt, und suchte ihren Leichnam an der Eger. Einige Kin- der versicherten mich, daß sie solche am spaͤten Abende auf dem Galgenberge gesehen haͤtten, ich eilte dahin, und fand sie mitten unter den Graͤ- bern auf der Erde liegend, sie war mehr todt als lebendig, ihre rothen Augen bewiesen deutlich, daß sie die ganze Nacht geweint hatte. Sie kannte mich nicht, sprach ganz irre, und behaup- tete, daß man ihren Geliebten erschossen, und unter den Galgen begraben habe. Moͤglich und wahrscheinlich ist, daß ihr vielleicht irgend ein lo- ser Bube diese Nachricht, welche sich nie bestaͤtig- te, erzaͤhlt hatte, denn wenn ich sie eines andern uͤberreden wollte, so sagte sie immer: Er hat mir's ja erzaͤhlt! Er hat's beschworen! Ich brachte sie nur mit Muͤhe heim, ich mußte sie bald hernach zu einer Verwandtin fuͤhren, weil sie die Hochzeitmusik nicht hoͤren konnte, und daruͤber ganz rasend wurde: Von dieser Zeit an ist's mit ihr so, wie Sie solche jetzt sehen, ge- blieben, bald schlimmer, bald auch etwas besser. Manchmal arbeitet sie einige Tage anhaltend und fleißig, manche Woche auch gar nichts, und da geht mir's sehr hart, weil ich nicht so viel ver- dienen kann, als wir zu unserm nothwendigen Unterhalte brauchen. Ich . Ernaͤhrt sie und euch denn nicht der Bruder, es ist ja seine Schuldigkeit? Die Alte . Lieber Gott, wo soll er's herneh- men, wenn er's auch thun wollte. Das Hand- werk geht jetzt sehr schlecht, er hat vollauf zu streiten, um sein Weib und seine zwei kleine Kin- der zu ernaͤhren, er kann uns mit nichts unter- stuͤtzen. Bekaͤme ich nicht als eine arme Buͤr- gersfrau alle Wochen einige Groschen aus dem Spitale, so muͤßten wir oft hungrig schlafen gehen. Ich . Aber die Aermste klagte vorhin, daß er sie unbarmherzig peitschte, dies sollte er doch nicht thun, und ihr eben so wenig zulassen. Die Alte . Es thut dem muͤtterlichen Herzen sehr weh, wenn es zu diesem letzten Mittel schrei- ten muß. Aber, lieber Herr, Hunger thut auch weh! Wenn sie so eine ganze Woche im Bette liegt, oder umher schlendert, staͤrker als mancher Holzhauer ißt, und doch nichts arbeiten will, da reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut- ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Essen, und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange, aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr sehe, dann muß ich zur Schaͤrfe schreiten. — — Ich schwieg lange, ich konnte nicht mehr fra- gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen preßte mein Herz zu stark. Ich versetzte mich in ihren Zustand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte sie schrecklich. Ewig von schwarzen Bildern und Traͤumen, die ihre uͤberspannte Einbildungskraft sich taͤglich neu schaft, gequaͤlt und gemartert, uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her- zens begleitet, immer mit seiner schrecklichen Er- scheinung geaͤngstiget, stets Trost suchend, und ihn selbst im Tempel des Ewigen nicht findend! Gepeitscht von einem Bruder, dem sie alles, was sie besaß, freiwillig opferte! O es muß ein schreckliches Gefuͤhl seyn! Es kann kein un- gluͤcklicheres Geschoͤpf auf dieser Welt umher wal- len! Ich blickte nach ihr hin, sie saß ruhig und sorglos da, schien von allem, was ihre Mutter erzaͤhlt hatte, nicht das geringste gehoͤrt zu ha- ben, sie betete noch immer, wenigstens verriethen es ihre Lippen, die sich unaufhoͤrlich bewegten, indeß ihr Auge in die ferne Gegend starrte, und oft freundlich laͤchelte. Ich. (heimlich zur Mutter) Hat sich denn der Tod ihres Geliebten bestaͤtigt? Die Alte . Ach, leider, nein! Ich erfuhr's nachher spaͤter, daß er weder auf's neue kapitu- lirt habe, noch auch desertirt sei. Es kamen so- gar einige Briefe auf der Post an meine Tochter, ich konnte sie vor Jammer nicht lesen, er ver- sprach ihr, wie mir andre sagten, noch immer's Heirathen. Ich ließ ihm den Zustand meines Kindes berichten; seit der Zeit haben wir keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Ich . Großer Gott! das war zu hart! Man raubte ihr also ihr Haͤuschen mit List; und mit diesem auch ihren Verstand! Die Alte . ( weinend ) Ich habe keinen Theil an der That, ich darf sie einst auch nicht verantworten. War's Betrug, so ward ich mit ihr betrogen. Ich . Habt ihr sie denn nicht von dem Leben ihres Liebhabers unterrichtet? Ihr nicht seine Briefe gezeigt? Die Alte . Wir thaten's, aber es wurde schlimmer mit ihr. Sie glaubte es nicht, und hatte nachher oͤftere Erscheinungen, die sie oft bis zur Raserei brachten. — — Kaͤtchen. (aufstehend) Kommt Mut- ter, wir wollen nach Hause gehen, wir haben kein Brod, ich muß arbeiten! ( mit vieler Freude ) Ach, ich werde heute recht fleißig seyn, denn ich war so gluͤcklich, zwei arme See- len zu erloͤsen! ( mit Wehmuth ). Wenn ich ihn nur auch erloͤsen koͤnnte! Es wird mir doch noch gelingen, die Mutter Gottes hat es mir schon oft versprochen! Wenn ich nur mit dem rechten Fuß in die Kirche treten koͤnnte, aber so sehr ich mich auch bemuͤhe, so kommt der linke immer voraus, und dann ist s vorbei! Ich muß nur recht fleißig beten, dann wird's schon gehen, dann kann ich und er noch recht gluͤck- lich werden. Sie gieng nun bergabwaͤrts, faltete ihre Haͤn- de, machte einige Schritte, und blieb dann im- mer gen Himmel blickend stehen. Die Mutter folgte, ich gieng mit dieser, und erfuhr von der gutherzigen Alten noch manchen Umstand, der mir merkwuͤrdig duͤnkte. Kaͤtchen verabscheut den Tanz und kann keine Musik hoͤren, wenn eine Hochzeit vor ihrem Fenster voruͤber zieht, so ver- kriecht sie sich in ihr Bette, das sie dann selten an diesem Tage wieder verlaͤßt; wenn aber eine Leiche zum Thore hinaus getragen wird, so hin- dert sie nichts, ihr zu folgen, und lange am Grabe des Verstorbnen zu beten. Oft erscheint ihrem phantasiereichen Auge die Mutter Gottes, und verbietet ihr, die Stube zu verlassen, dann ist nichts vermoͤgend, sie in's Freie zu locken, wenn aber ein Soldat voruͤber geht, so eilt sie, ungeachtet des Verbots, hinaus, und starrt ihm lange nach. Sie geht sehr fleißig in die Kirche, aber sie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge- messenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt links und rechts, und bleibt oft stundenlang vor einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen stehen. Ihr Auge wird dann aͤußerst beredt, es scheint mit der Statue zu sprechen. Man kann, wie ich spaͤter selbst beobachtete, deutlich sehen, wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft scheint sie mit sehnsuchtsvollem Blicke einer Ant- wort entgegen zu harren, und wenn diese ihrer Phantasie gemaͤß endlich erfolgt, so dankt ihr Au- ge mit einem Ausdrucke, der sich um so weniger beschreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge- sichts gar keinen Antheil daran zu nehmen schei- nen, und bei dem Gespraͤche ihrer Augen ganz gleichguͤltig bleiben. Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab- schied von Mutter und Tochter; daß ich gab, was ich vermochte, und dann erst schied, brauche ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte, ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt folgen, meine Seele war truͤb und duͤster, mein Herz traurig, ich suchte mich im Anschauen der schoͤnen Natur zu zerstreuen; aber es gelang nicht. Der Nebel war verschwunden, heiter stand die Sonne am Himmel, schoͤn bluͤthen die Baͤume, melodisch sangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb traurig, es haderte mit dem Ungluͤcke, das in so mancherlei Gestalten hinter dem Menschen einher wandert, und ihn oft schrecklich mißhandelt. — — Wie ich wieder heimkehrte, erblickte ich das kleine Haͤuschen, worinne Kaͤtchen wohnte, es hieng gleich einem Schwalbenneste am Thurme, zwei kleine Gemaͤcher fuͤllten es ganz, und die mit Papier verklebten Fensterscheiben verkuͤndigten laut die Armuth seiner Bewohner! Und doch war dies elende Haͤuschen Schuld an Kaͤtchens Ungluͤ- cke! War Ursache, daß das Meisterstuͤck der Schoͤpfung zerruͤttet umher wandelt! O Men- schen, seid nicht allzustolz auf euren Verstand! Er ist ein armseliges Ding, eine zerbrechliche Waare in der Hand eines Kindes, das sie sorg- los auf den Boden fallen laͤßt, und auf immer zertruͤmmert! Nach zehn langen Jahren fuͤhrte mich mein Schicksal wieder in Ellbogens Mauern! Mein er- ster Blick war auf Kaͤtchens Haͤuschen gerichtet, die Anzahl der papiernen Scheiben hatte sich in ihren Fenstern ansehnlich vermehrt, und weissagte groͤßere Armuth. Ich besuchte sie am andern Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, sie empfing mich freundlich, aber Kaͤtchen sahe ich nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und Freu- de zugleich erregt, oder wenigstens die Graͤnzlinie zwischen beiden bestimmt, durchzitterte mein Herz, ich wuͤnschte sie wieder gesund zu sehen, aber ich goͤnnte auch eben so willig ihrem leidenden Herzen die sanfte, einzige Ruhe, wenn sich's unter der Zeit nicht mit ihr gebessert haͤtte. Lebt Kaͤtchen nicht mehr? fragte ich forschend. Das traurige Gesicht der Alten, mit welchem sie ihre Haͤnde faltete, der langsame Athemzug, mit welchem sich ein tiefer Seufzer von ihrer Brust loͤßte, schien mir im Voraus die Gewißheit ihres Todes zu verkuͤndigen, aber ich betrog mich diesmal ganz. Ach, Gott, sprach die Alte, sie lebt noch immer! Ihr Elend verbittert mir noch stets meine alten Tage, die sich, wenn Jammer und Kummer sie anders verkuͤrzen, bald enden muͤssen. Ich . Wo ist sie denn? Gewiß nicht zu Hause? Die Alte. (nach einem Winkel hin- zeigend) da sitzt sie ja, und verzehrt eben ihr Morgenbrod! Komm her, Kaͤthe, und bewill- komm den Herrn! Eine schlecht gekleidete Gestalt erhob sich nun aus dem Winkel und trat naͤher, sie hielte in ih- rer gelben Hand ein Stuͤck schwarzes Brod, indeß ihr welkes, bleiches Gesicht daran kaute, und mich mit einem verzerrten Laͤcheln gruͤßte. Ich . Unmoͤglich, das ist nicht Kaͤtchen! Die Alte . Ach, leider, ist sie's! ( im bit- tern Tone ) Ja, Herr! So kann Kummer und Elend arbeiten, so kann's zernichten, was Gott selbst wohl gemacht nannte! ( mit der Hand in der Stube umherzeigend ) Sie sehen hier die Werkstaͤtte des Jammers, ( auf Kaͤtchen deutend ) und dies ist sein Meister- stuͤck. — — Ich fand keine Worte, meine Ver- wunderung auszudruͤcken, Kaͤtchen war vor zehn Jahren wirklich ein schoͤnes Maͤdchen, jetzt war ihr Gesicht bis zur Haͤßlichkeit herabgesunken, nicht eine Spur der ehemaligen Schoͤnheit war mehr vorhanden, alle die so interessirenden, anzie- henden Mienen waren verschwunden, ihr Auge selbst war kleiner geworden, dicke, verzerrte Fal- ten umhuͤllten es. Ihr Gesicht verkuͤndigte nicht mehr unterdruͤckte Unschuld, inneres Leiden, es war jetzt das Bild der vollendeten Narrheit. Ihr Haar, das sich ehemals in natuͤrlichen Locken um Nacken und Schulter wiegte, war jetzt in einan- der gewirrt, und hob die Haube empor, die es decken sollte. Fahles Gelb hatte die blasse Roͤthe ihrer Wangen verdraͤngt, ihr Kopf hing seit- waͤrts, selbst ihr Koͤrper war kleiner geworden. So geht's ihr jetzt wohl schlimmer rief ich endlich nach langem Staunen aus. Die Alte . Schlimmer eben nicht, nur daß jetzt auch die Hofnung zur Besserung schwindet. Sie treibt's noch immer im Alten, arbeitet nur, wenn's ihr beliebt, und betet ohne Unterlaß. Das Andenken an ihren Liebhaber, vorzuͤglich aber sein eingebildetes, blutiges Ende, scheint nach und nach ganz aus ihrem Gedaͤchtnisse zu verschwinden, sie spricht selten mehr von ihm, und nur in allgemeinen, fluͤchtigen Ausdruͤcken, aber der Verlust ihres Haͤuschens liegt ihr noch gleich stark am Herzen, von diesem spricht sie oft und vielmals. — Ich wollte noch vieles mit der Alten und Kaͤtchen sprechen, noch manches sie fragen; aber ich war's nicht vermoͤgend, inniges Mitleid mit ihrem jammervollen Zustande, und die gewisse Ueberzeugung, daß ich durch Fragen ihn nicht lindern koͤnnte, trieb mich in's Freie. Ich sah und sprach sie nach der Hand oft, aber ich sah und sprach sie nie, ohne mich immer deut- licher zu uͤberzeugen, daß der Verlust des Ver- standes jeden Vorzug des menschlichen Koͤrpers, den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer- stoͤrt, und ihn ganz bis zu diesem herab- wuͤrdigt. Kaͤtchen traͤumt oft und viel, erzaͤhlt jeden ihrer Traͤume am Morgen wieder, aber alle diese Traͤume haben keine Spur des Wahnsinns, ver- rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft. Dieser Umstand war mir von jeher auffallend und merkwuͤrdig. Wenn ihr Koͤrper ruht, ihre Sinne keines Eindrucks faͤhig sind, scheint ihr Geist faͤ- hig zu seyn, richtig denken und schließen zu koͤn- nen; aber sobald ihr Koͤrper erwacht, sind ihre Ideen wieder ganz zerruͤttet, voll des staͤrksten Wahnsinns! — — Sie singt ihr Lied noch im- mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er- barmen. Empfindsame Seelen, wenn ihr einst in Ell- bogens romantischen Gegenden lustwandelt, so ge- denkt des armen und nothleidenden Kaͤtchens! Weilt bei ihrem kleinen Haͤuschen, laßt eurer Lin- ken nicht wissen, was eure Rechte giebt! die alte Mutter wird's mit Danke, mit Thraͤnen empfan- gen, und Gott wird's lohnen! Joseph Karl . A ls ich vor zwei Jahren den wuͤrdigen und ver- dienstvollen Freiherrn Emanuel M — — von W — zu N — in Boͤhmen besuchte, seine vortrefliche Oekonomie bewunderte, und in seinen fruchtbaren Gefilden lustwandelte, erblickte ich mitten im freien Felde einen Mann, dessen Physiognomie mich so- gleich anzog, und mir in jedem Falle etwas außeror- dentliches verkuͤndigte. Er stand im Schatten ei- nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an sei- nem Stamme, hielt ein gedrucktes Blatt in seiner Rechten, und schien den Inhalt desselben mit gie- rigem Blicke zu verschlingen. Sein grauer, et- was abgetragner und doch noch saubrer Rock, sei- ne schwarze Weste und Beinkleider ließen mich mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorfschul- meister sei, der schwarz gebrannte Knotenstock, welcher neben ihm lehnte, bestaͤtigte diese Muth- maßung, aber der Kopf des Mannes wider- sprach ihr ganz. So, dachte ich, indem ich ihn betrachtete, muß Sokrates studiert, so tief und forschend muß er geblickt haben, als er die Gruͤn- de zum Beweise seiner Unsterblichkeit sammelte. Ein duͤnnes, schon vom Alter gebleichtes Haar beschattete sparsam seine Schlaͤfe, und verrieth deutlich den Mangel an Saͤften, die ihm anhal- tendes Studium geraubt hatte. Seine breite, hochgewoͤlbte Stirne, welche sich maͤchtig faltete, verrieth den Forscher und Denker, seine lange, spitzige Habichtsnase bestaͤtigte diese Muthma- sung, der unmerkbar laͤchelnde Mund bewies in- nere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze dieses merkwuͤrdigen Gesichts heischte Ehrfurcht, und schien sie ganz zu verdienen. Ich wagte es nicht, ihn im Lesen zu stoͤren, und wollte ruhig harren, bis er geendet habe, um dann Bekannt- schaft mit einem Manne zu machen, dessen Aeus- seres so viel versprach. Ein kleines Geraͤusch, das ich nach langem Harren absichtlich erregte, und wodurch ich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte, mißlang ganz, es stoͤhrte ihn nicht in seinem tiefen Nachdenken, mit welchem er noch immer den Inhalt des Blattes zu beherzigen schien. Ich harrte auf's neue, aber vergebens, endlich bewog mich mein kleines, dichterisches Verdienst, womit ich freilich nur in entfernter Ehrfurcht auf die Bekanntschaft eines Philoso- phen Anspruch machen konnte, zu der Kuͤhnheit, mich ihm zu naͤhern. Der Schatten meines Haup- tes fiel auf sein Blatt, er blickte seitwaͤrts, und sah sah mich vor sich stehen. Darf ich wohl so frei seyn, sprach ich mit der ad captationem benevolen- tiae erforderlichen Ehrfurcht, und Sie, bester Herr, auf einige Augenblicke in ihren tiefen Be- trachtungen stoͤhren? — Ein langer, anhaltender Blick war seine ganze Antwort; aber es lag so viel in diesem einzigen Blicke, daß ich einige Sei- ten brauchen wuͤrde, um alles zu beschreiben, was ich darinne eben so deutlich las, als wenn er mir's mit den ausdruckvollsten Worten gesagt haͤtte. Anfangs schien sein Blick Zorn zu verkuͤn- digen. So, dachte ich, zuͤrnt ein Koͤnig, der eben das Wohl seines Landes entscheiden will, und in dieser Entscheidung durch einen unver- schaͤmten Bettler gestoͤhrt wird. — Bald hernach wandelte sich dieser grimmige Blick in ein unnach- ahmliches Laͤcheln um, welches uͤber sein ganzes Gesicht eine herablassende Freundlichkeit oder viel- mehr Huld verbreitete, die mir großmuͤthige Ver- zeihung ankuͤndigte. So, dachte ich dankend, ver- zeiht ein Koͤnig die unverschaͤmte Kuͤhnheit, und winkt dem Verbrecher Gnade zu. Der ganze Blick, im Zusammenhange uͤbersetzt, schien ungefaͤhr zu sagen: Kuͤhner Sterblicher! deine Keckheit ist groß, aber meine Milde kennt keine Graͤnzen, ich verzeihe sie dir willig! — Ehe ich eine neue Entschuldigung wagen konn- te, wandte er sich abseits, steckte sein Blatt in Erst. Baͤndch. C die Tasche, ergriff seinen Knotenstock, und wan- derte feldeinwaͤrts. Ich wagte es nicht, ihm nachzublicken, vielweniger zu folgen, und war vollkommen zufrieden, daß er mir meine Kuͤhn- heit so großmuͤthig vergeben hatte. Ich schlich endlich auch weiter, die herrlichsten Kornfelder wallten vor mir in unzaͤhlichen Wellen, ich wollte die groͤßten Aehren messen, aber der tiefdenkende Mann schien wieder vor mir zu stehen, und ich wich ehrfurchtsvoll zuruͤck. Daß dieser Mann ein großer Philosoph, ein tiefdenkender Forscher, ein Haller oder ein Euler seyn muͤsse, kam mir nun nicht mehr aus dem Sinne. Seine Physiognomie hatte mich davon zu deutlich uͤberzeugt, und Zwei- fel waͤre nach so fester Ueberzeugung in diesen Au- genblicken Thorheit gewesen. Meine Neugierde regte sich nach und nach maͤchtig, ich wuͤnschte so herzlich zu erfahren: wer er eigentlich sei? Ob vielleicht, was mir am wahrscheinlichsten duͤnkte, der fremde Gelehrte in nahen Badoͤrtern die Kur brauche, und gleich mir eine Spazierreise nach diesen schoͤnen Gefilden gemacht habe? Ueber bei- de Fragen hofte ich daheim naͤhere, wenigstens ei- nige Auskunft zu hoͤren, und beschleunigte daher meinen Ruͤckweg. Wie ich am Schlosse anlangte, verkuͤndigte die Glocke den Mittag, ich eilte staͤrker, und er- blickte im Hofe auf's neue den mir so merkwuͤrdi- gen, grauen Mann, er stand mit dem Ruͤcken ge- gen mich gekehrt, und zeichnete mit seinem Stocke einige Figuren im Sande. Meine Ehrfurcht wag- te es nicht, ihn zu stoͤhren, aber mein Herz labte sich mit der angenehmen Hofnung, daß der gast- freie Herr des Schlosses den seltnen Gelehrten si- cher zur Tafel geladen habe, und es mir dann besser gluͤcken werde, Bekanntschaft mit ihm zu machen. Ich erwog eben: ob diese Figuren nicht irgend eine mathematische, aͤusserst schwere Aufga- be loͤsen sollten? als ein Ochsenknecht nahe an dem grauen Manne voruͤber gieng und ihn mit einer treuherzigen Freundlichkeit auf die Achsel klopfte. Wie gehts? Karl, wie gehts? fragte er ihn lachend, und drehte ihn, zu meinem groͤßten Erstaunen, einigemal im Kreise herum. Gott im Himmel, dachte ich, der Kerl verkennt ihn sicher, er wird's fuͤr Beleidigung nehmen, und vielleicht die Einladung verschmaͤhen! Aber der graue Mann dachte, zu meiner groͤßten Freude, billiger. Ein Blick, eben so zornig, und am Ende eben so guͤtig, wie derjenige war, den ich vor kurzem so bewundert hatte, war alles, womit er diese rohe Beleidigung ahndete. Sein Stock war ihm im Drehen entfallen, er hob ihn stillschweigend auf, und zeichnete von neuem. Da der kuͤhne Knecht bei mir voruͤber gieng, so hielt ich's fuͤr Pflicht, ihn auf seinen groben Fehler aufmerksam zu ma- chen, und in Guͤte zur Abbitte zu bewegen. C 2 Ich . Kennt ihr denn den Herrn dort? Der Knecht . He? Was sagen Sie? Ich . Ob ihr den Herrn dort kennt? Der Knecht . Welchen Herrn? Ich . Den ihr vorhin im Kreise herum dreh- tet, der jetzt mit seinem Stocke am Boden zeich- net. Der Knecht . Ach! den Herrn! ( lachend ) den kenne ich recht gut! Ich . Wer ist er denn? Der Knecht . Der naͤrrische Schneider aus Neukirchen. Ich . Naͤrrische? Schneider? O ihr seid wohl selbst nicht recht bei Sinnen! Der Knecht . Gott sei dank, noch bin ich's, ob's mich aber nicht auch einmal treffen kann, steht bei ihm! Ich . Unmoͤglich! Unmoͤglich! Dieser Mann sollte naͤrrisch seyn? Der Knecht. (weiter gehend) Nun ge- scheid ist er wenigstens nicht, das werden Ihnen alle Leute sagen, wenn Sie mir's nicht glauben wollen. Hier stand ich, betrogen in meiner Erwartung, worauf sich die Hofnung der naͤhern Bekanntschaft mit einem großen Gelehrten gegruͤndet hatte, ich war unentschlossen: Ob ich der Aussage des Knechts Glauben beimessen? Nicht vielmehr die- sen fuͤr wahnsinnig halten sollte? Wenigstens schien des letztern Physiognomie nicht zu wider- sprechen, da des grauen Mannes seine hingegen offenbar das Gegentheil bewieß. Um nicht laͤn- ger im Labyrinthe ungewisser Zweifel umher zu irren, eilte ich in's Schloß; ich erblickte unter mehrern Gaͤsten den so redlichen und wuͤrdigen Pfarrer des Orts und fuͤhrte ihn sogleich an's Fenster. Ich. (mit gespannter Erwartung) Kennen Sie den grauen Mann, welcher mit sei- nem Stabe am Boden zeichnet? Der Pfarrer . Ich kenne ihn. Ich . Wie heißt er? Wer ist er? Der Pfarrer. (laͤchelnd) Ein großer, ein wichtiger Mann! Ich. (mit innerer Selbstzufrieden- heit) Dacht's ja gleich, daß mich mein Bischen physiognomische Kenntniß nicht truͤgen koͤnne. Der Pfarrer . Und fuͤr was nahm ihn diese? Ich . Fuͤr einen großen Philosophen, fuͤr ei- nen tiefdenkenden Forscher, fuͤr — — Der Pfarrer . O gefehlt, weit gefehlt! Ich . Gefehlt? Sollte er mehr noch seyn? Pfarrer . Allerdings! Versteht sich aber in seiner Einbildung. Ich. (im sinkenden Tone) Einbildung? Pfarrer . Ja, denn in der Wirklichkeit ist er nur ein armer Schneider. Ich . Ein armer Schneider? Pfarrer . Der lange schon seinen Verstand verlohren hat, sich aber in seinem Wahnsinne groͤ- ser, und wahrscheinlich auch gluͤcklicher, als wir alle, duͤnkt. Ich . So waͤre er wirklich wahnsinnig? Aber seine Physiognomie? Pfarrer . Verraͤth allerdings keine Spur des Wahnsinns, wenn Sie also uͤber die Kennt- niß derselben sich ein System verfertigt haben, so muͤssen Sie die seinige als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel ansehen. Ich . So wurde meine Erwartung noch nie gespannt, so noch nie betrogen! Ist er schon lan- ge wahnsinnig? Pfarrer . Vielleicht schon zwanzig Jahre. Ich . So lange schon! Worinne besteht dieser Wahnsinn? Pfarrer . Er theilt sich vollkommen in zwei Theile, welche sich nach zwei Buͤchern ordnen, in denen er unaufhoͤrlich liest, und sie fuͤr seinen groͤßten Schatz haͤlt. Ich . Was sind das fuͤr Buͤcher? Pfarrer . Eine alte boͤhmische Kronik, dann ein eben so altes, wahrscheinlich Visionen und Traͤumereien enthaltendes Buch. Er laͤßt das letztere keinem Sterblichen sehen, und gewaltsame Wegnahme wuͤrde ihn rasend machen. Liest er in der Kronik, so waͤhnt er ein aͤchter und wahrer Abkoͤmmling Kaiser Karl des Vierten zu seyn, macht dann Anspruch auf den boͤhmischen Thron, und betheuert hoch, daß ihm dieser einst noch wer- den muͤsse. Hat er aber das unbekannte Buch ge- lesen, so spricht er von einer Oberwelt, in welcher er selbst einst war und die er, seinen verwirrten Ideen gemaͤß, oft aber recht romantisch, schildert. Er predigt dann Buße, und ermahnt die jungen Leute in warmen, kraͤftigen Ausdruͤcken zur Tu- gend. Oft mischen sich auch beide Ideen in sei- nem Gespraͤche wunderlich durcheinander, er geht von einer zur andern uͤber, und wird denen, die nicht davon unterrichtet sind, unverstaͤndlich. Ich . Kann ich nicht mit ihm sprechen? Dies nicht alles aus seinem Munde hoͤren? Pfarrer . Das wird schwer halten, denn es giebt oft Wochen und Monden, in welchen er aͤußerst verschlossen umherwandelt, und uͤber neuen Ideen bruͤtet; dann kann man ihm selten Rede abgewinnen, er weiß jeder Frage sehr geschickt auszuweichen, und vereitelt die Neugierde des Forschers. Am offenherzigsten spricht er gemeinig- lich mit dem Herrn des Schlosses, der ihm sehr viele Wohlthaten erweißt, ihn taͤglich speißt und vollkommen ernaͤhrt. Ich wandte mich nun mit einer Bitte an die- sen, er war so gefaͤllig, ihre Gewaͤhrung zuzusi- chern, mehrere Gaͤste nahmen Antheil an unserm Gespraͤche, und aͤußerten gleiches Verlangen, den merkwuͤrdigen Mann zu sehen, und naͤher kennen zu lernen. Es ward nun verabredet, ihn durch geschickte Fragen auf den Gegenstand zu leiten, vorzuͤglich aber nicht Unglauben zu verrathen, oder uͤber seine Aeusserung zu lachen, weil beides ihn sogleich zuruͤckscheuen, und jeden neuen Versuch unmoͤglich machen wuͤrde. Der Herr des Schlos- ses gieng selbst, ihn zu holen, weil er schwerlich einem seiner Bedienten gefolgt waͤre. Er trat kurz darauf mit ihm in's Zimmer; tiefe Stille herrschte in der zahlreichen Versammlung, jeder bewunderte seine ehrwuͤrdige Physiognomie, jeder winkte meiner Bemerkung daruͤber vollen Beifall zu. Der graue Mann stutzte sehr, als er so viele Fremde im Zimmer erblickte, ich zitterte schon vor den uͤblen Folgen, und bereuete meine Geschwaͤ- tzigkeit, wodurch ich die Neugierde aller erregt hatte. Zu meiner großen Freude sah ich aber bald, daß diese Verlegenheit schwinde, seine furchtsame Miene ward wieder nachdenkend, er knoͤpfte seine Weste auf, steckte die rechte Hand darein, und lehnte sich mit dem Ruͤcken gegen die Mauer. Jetzt, meine Herrn, sprach nun der Herr des Schlosses, koͤnnen Sie besser urtheilen: ob die Ferne Sie getaͤuscht hat? Sie behaupte- ten einstimmig, daß dieser Mann dem Portraͤte Kaiser Karls des Vierten aͤusserst aͤhnlich saͤhe, entscheiden Sie nun! — Diese Lockspeise war fuͤr den Aermsten zu reizend, er erregte mein ganzes Mitleid, als er sogleich die tiefdenkende Forschers- miene in eine laͤchelnde verwandelte, sich aufrecht stellte, und, indem er seinen Kopf rechts und links drehte, unser Urtheil zu fordern schien. Einige aus der Gesellschaft . Nein, wir haben uns nicht betrogen! Er sieht ihm voll- kommen aͤhnlich! Andre . Vollkommen! Vollkommen! Der graue Mann. (mit aͤusserstem Wohlgefallen umherblickend) Glaub's gerne! (mit geheimnißvoller Miene) denn es hat seine wichtigen Gruͤnde, und ein Ding, das seine wichtigen Gruͤnde hat, muß auch wichtige Wahrheiten enthalten. (auf's neue umherblickend) Ich weiß nicht; ob Sie mich verstanden haben. Einige . Vollkommen! Vollkommen! Der graue Mann . Nun daher kommt's, daß ich zwar ein armer Schneider bin, aber doch Karl dem Vierten aͤhnlich sehe. (er lehnte sich wieder an die Wand, und versank in tiefes Nachdenken) Der Herr des Schlosses . Wie nennt er sich denn? Der graue Mann . Ich nenne mich Joseph, mein Zuname ist Karl! so nannten sich alle meine Voreltern, und daher kommt's, daß ich in gera- der Linie von weiland meinem hoͤchstseeligen Ahn- herrn, Kaiser Karl dem Vierten, abstamme. Einer aus der Gesellschaft . Dann waͤren Sie ja mit unserm Kaiser verwandt? Der graue Mann. (mit ernstem Bli- ke) Fuͤgt huldreichst und gnaͤdigst hinzu, denn er verdient's! — — Wir sind unserm vielgeliebten Neffen und Vetter mit vieler Freund- schaft zugethan! Wir goͤnnen ihm das Gluͤck, uͤber Boͤhmen zu regieren, von ganzem Herzen! (seufzend) Die Last der Regierung erfordert jetzt starke Schultern, die unsrigen sind zu schwach, wir behalten uns unsre Rechte auf besse- re Zeiten bevor. (Ein Bedienter, der an der Thuͤre stand, fieng an zu lachen) . Der graue Mann. (mit Anstand und Wuͤrde) Kerl, du verdientest, daß ich dich zum Koche Kaiser Wenzel des Vierten machte, und gleich diesem lebendig braten ließe, aber ich ver- gebe dir's in hohen Gnaden! Meide mein Ange- sicht! (der Herr des Schlosses winkte, und der Bediente wollte gehen) Der graue Mann. (freundlich, und im gewoͤhnlichen Tone) Bleibe er, Chri- stoph, bleibe er nur! Es ist alles vergeben und vergessen! Pfarrer . Wie kann er denn aber von Karl dem Vierten abstammen? Wie ist denn das moͤglich? Der graue Mann . Das fragen Sie, ehr- wuͤrdiger Herr? Sie? Sind Sie denn in der Geschichte so ganz unbekannt? (mit Ironie) Vor so vielen Zeugen moͤchte ich so etwas doch nicht eingestehen! Pfarrer . Meine Frage verraͤth keine Un- wissenheit! Ich wollte nur eigentlich wissen, von welcher Gemahlin des Kaisers sein Ahnherr geboh- ren worden? Karl hatte, wie bekannt, vier Ge- mahlinnen. Der graue Mann. (mit wichtiger, aber laͤchelnder Miene) Er hatte ihrer fuͤnfe. Pfarrer . Nur viere. Die erste war Blan- ka, Karls von Valois Tochter, die zweite — Der graue Mann. (ihm einfallend) War Agnes, des Pfalzgrafen Rudolphs Tochter, die dritte war Anna, Herzog Heinrichs Tochter, die vierte — — (er stockte, und musterte mit seinem Blicke die Gesellschaft) Pfarrer . Nun, die vierte war Elisabeth, Herzogs von Pommern Tochter. Der graue Mann. (unwillig) Das war die fuͤnfte. Pfarrer . Wie nannte sich denn also die vierte? Der graue Mann. (mit Wuͤrde und Stolz) Es gnuͤgt, wenn wir es wissen! Einige aus der Gesellschaft . Wir wuͤnschten es aber auch so gerne zu wissen! Der graue Mann. (einige Schritte hervortretend) Die vierte war Blanka, Karls rechtmaͤßige, aber nicht oͤffentlich anerkann- te, Gemahlin. Als der Kaiser einst auf seinem Lustschlosse, Bubenez genannt, jagte, sah er ein schoͤnes Bauernmaͤdchen, Namens Blanka, verliebte sich in sie, und nahm sie mit auf sein Schloß. Dort gebahr sie ihm einen Sohn, der Karl ge- nannt wurde, und von diesem Karl stamme ich in gerader Linie ab, bin jetzt der zehnte seines er- lauchten Stammes; die damals noch lebende Anna verfolgte die Mutter sammt dem jungen Prinzen auf's aͤusserste, aber der Kaiser nahm sich beider vaͤterlich an. Er gab den Großen seines Reichs den Prinzen zur Erziehung, und schuͤtzte die Mutter auf seinem Schlosse. Als die Kaise- rin starb, erklaͤrte der Kaiser seinen natuͤrlichen Sohn fuͤr aͤcht, und ließ sich in geheim mit der schoͤnen Blanka trauen. Erst als diese auch starb, schritte er zur fuͤnften Ehe, und heirathete Elisa- bethen. Dieß alles weis ich gewiß, denn wie ich Anno 1767 in der Oberwelt war, da ward mir dieß und noch weit mehr kund gethan; auch er- hielte ich daruͤber ein foͤrmliches Patent, welches ich aber auf der Ruͤckreise verlohren habe. Der Herr des Schlosses . Was hilft das alles! Er wird doch nie Koͤnig werden! Der graue Mann. (seinen Zeigefin- ger an die Nase legend) Es wird eine Zeit kommen, in welcher ich ruhig und im Frie- den uͤber Boͤhmen regieren werde, und dann, gnaͤdigster Herr, (mit geruͤhrter Stimme) will ich's Ihnen tausendfach lohnen, was Sie dem armen, verlaßnen, oft verachteten, stets verkannten Karl jemals gutes gethan haben. Der Herr des Schlosses . Dann werden es aber meine Knechte, die ihn immer necken, theuer bezahlen muͤssen. Der graue Mann . Nein! Nein! (lang- sam und feierlich) Des Koͤnig's erste Tu- gend muß Milde und Gnade seyn! Ich werde alles vergeben und vergessen, aber mein Vetter bekommt fuͤnf und zwanzig Pruͤgel. Pfarrer . Diesem muß er auch alles ver- zeihen. Der graue Mann . Dieser bekommt fuͤnf und zwanzig! Dabei bleibt's! So wahr ich Karl bin! Dies ist mein hoͤchster Schwur! Er hat's schon zweimal gewagt, freventlich Hand an mich zu legen, und mich gleich einem Buben mit der Ruthe zu zuͤchtigen. (mit aͤusserstem Nachdrucke) Er bekommt fuͤnf und zwanzig, dann kaufe ich ihm aber die Muͤhle, welche un- ten im Thale liegt, da kann er ruhig und zufrie- den leben. Nach einer kleinen Stille, welche jetzt in der ganzen Gesellschaft herrschte, trat aus den vielen anwesenden fremden Geistlichen ein junger Ka- plan hervor, und unternahm's, uns durch neue Fragen, die er an den grauen Mann stellte, zu unterhalten. Seine Absicht, durch welche er wahrscheinlich seinen Witz wollte glaͤnzen lassen, schien anfangs ganz zu mißlingen. Der graue Mann beantwortete einige seiner Fragen nur mit stummen Blicken, endlich begann er zu ant- worten. Der Kaplan . Hoͤr' er, mein lieber Karl! wenn er einst Koͤnig in Boͤhmen wird, muß er mich zum Erzbischof von Prag machen. Der graue Mann. (ihn mit laͤcheln- dem Blicke messend) Wird schwerlich ge- schehen koͤnnen. Der Kaplan . Warum denn nicht! Ach der gute Karl thut's gewiß! Der graue Mann. (mit dem Kopfe schuͤttelnd) Es geht nicht! Es geht nicht! Der Kaplan . Aber warum denn nicht? Der graue Mann . Es gaͤbe Ursache zum Murren. Unser Koͤnig, wuͤrden die Leute sagen, ist ein Narr, jetzt hat er auch einen Narren zum Erzbischof gemacht, das wird eine naͤrrische Re- gierung werden! Alles lachte, der Kaplan zog sich beschaͤmt in einen Winkel, ich selbst konnte mich nicht enthal- ten, mit Oldenholm auszurufen: wenn das Narrheit ist; so liegt doch wenigstens viel Metho- de darinne! Keiner wollte es nun wieder wagen, den wahnsinnigen Wahrheitsverkuͤndiger mit neuen Fragen zu belaͤstigen, er konnte ruhig denken, und ungestoͤrt seinen Plan zur kuͤnftigen Regie- rung ordnen, denn dies ist eins seiner Lieblings- geschaͤfte. Die Neugierde der Gesellschaft war noch nicht halb befriedigt, viele, an deren Spitze ich mit stand, wuͤnschten etwas von seinem Auf- enthalte in der Oberwelt zu erfahren, der gefaͤlli- ge Herr des Schlosses erbarmte sich unsrer auf's neue. Wie war's denn, sagte er, in der Ober- welt? Der graue Mann. (mit vieler Waͤr- me) O schoͤn, herrlich! Wenn ich dort haͤtte bleiben koͤnnen, dann wuͤrde ich an kein irrdisches Reich mehr denken! Ach! es war eine selige Zeit, so wohl kann mir's hienieden nie werden. Der Herr des Schlosses . Wie lange war er denn dort? Der graue Mann . Acht volle Wochen, sie schwanden mir wie Stunden! Ich bat um laͤngere Erlaubniß, aber sie wurde mir abge- schlagen. Der Herr des Schlosses . Wie sieht's denn aber oben aus? Eben so wie in unsrer Welt? Der graue Mann . Eben so! Nur viel schoͤner, ach, viel schoͤner! Es herrscht ewiger Fruͤhling, kein Winter. Alles waͤchst von sich selbst, und gedeiht vortreflich! Kuͤhe giebt's da wie die Elephanten, und die Kornaͤhren sind so lang, als ich bin! Der Herr des Schlosses. (laͤchelnd) Da haͤtte er uns einigen Saamen mitbringen sollen! Der graue Mann . Was haͤtte es genuͤtzt! Er waͤre hier doch nicht gerathen. Unsre Suͤn- den, unsre Missethaten machen das Vieh so klein! die Kornaͤhren so duͤnn, und den Boden so un- fruchtbar. Oben giebt es bessere, andaͤchtigere Menschen! Ich war dort alle Tage in der Kir- che, wenn der Name Gottes genennt wurde, da stuͤrzte die ganze Schaar zu Boden, und betete an den Maͤchtigen, der alle Himmel, und alle unzaͤhl- unzaͤhlbare Erden mit Weisheit und Ordnung regiert. Der Herr des Schlosses . Giebt's dort keine Advokaten, keine Doktoren? Der graue Mann. (laͤchelnd) Nichts, von allen rein nichts! Auch keine Richter, keine Gefaͤngnisse! Wer irgend etwas verbricht, oder einen Fehltritt begeht, der muß seine Wanderung vom Anfange beginnen? Ich . Wanderung? Der graue Mann. (mich ernsthaft anblickend) Ja! ja! Wanderung! Diese Erde ist nur der Ort der Strafe und Besserung! Oben ist das Paradies, in welchem unsre Stamm- eltern erschaffen, und daraus verstoßen wurden, jetzt wird es von unsern Geistern bewohnt. Ich . Das verstehe ich nicht ganz! Der graue Mann. (laͤchelnd) Glaub's gerne, aber den Unwissenden muß man belehren. Fragen Sie, ich will antworten. Ich . Ist denn die Oberwelt, in welcher Sie waren, derjenige Ort, welchen unsre Religion Himmel nennt? Der graue Mann . Ja, darinne liegt's eben verborgen! Ihre Frage beweißt, daß Sie noch ganz unwissend sind, es wahrscheinlich auch Erst. Baͤndch. D bleiben, weil es aͤusserst schwer ist, einem Kinde den Mechanismus einer Uhr begreiflich zu machen. Wenn man sich auch noch so bestimmt auszudruͤ- ken glaubt, so versteht's das Kind doch nicht, und fragt am Ende alberner, als vorher. Sehen Sie: dasjenige geistige Wesen, was wir unsre Seele nennen, ist anfangs von Gott in der Oberwelt erschaffen worden, jetzt wird's dort ge- zeugt und gebohren, hat einen Anfang, aber kein Ende; waͤchst und gedeiht, wie unser Koͤrper, ist aber Geist, und kein Koͤrper. Verstehen Sie mich? Ich . Vollkommen. Der graue Mann . Je groͤßer dieser Geist waͤchst, je groͤßer werden auch seine Kenntnisse, er hat freien Willen, sie zum Boͤsen oder zum Guten anzuwenden. Geschieht das letztere, so steigt er nach zweihundert Jahren eine Stufe hoͤ- her, die ihm der Vollkommenheit naͤher fuͤhrt, denn Paulus sah ja selbst sieben Himmel. Han- delt er aber boͤse, so wird sein Geist so klein wie eine Raupe, er wird gleich dieser in ein dickes, festes Gewebe eingesponnen, und durch ein klei- nes Loch auf unsre Erde herabgestuͤrzt, hier faͤllt er nun in den thierischen Koͤrper eines neugebohr- nen Kindes, ist fest eingehuͤllt, kann nicht reden, nicht denken, nicht handeln. Ich . Wie lernt er dies aber? Der graue Mann. (geheimnißvoll) Ja, wie lernt er's? Die Vorsehung gab ihm in seine dunkle Huͤlle ein kleines Messerchen mit. Er beginnt sogleich das Werk seiner Erloͤsung, und schabt damit an der Huͤlle, die ihn umgiebt, diese wird nach und nach durchsichtiger, der Geist kann hie und da durchblicken, und der thierische Koͤrper faͤngt an zu handeln, der Geist regiert, bewegt ihn. Je fleißiger dieser schabt, je groͤßer werden natuͤrlich die Kenntnisse des Kindes, das zum Juͤnglinge, zum Manne empor reift, und bei der Arbeit des Geistes auch immer an Kennt- nissen zunimmt. Daher kommt's, daß es dum- me, einfaͤltige, aber auch sehr gelehrte und ver- nuͤnftige Menschen giebt, je nachdem ihr Geist fleißig schabt oder nicht schabt: denn je duͤnner seine Huͤlle wird, je mehr kann er sehen und denken. Ich . Oft stirbt aber das neugebohrne Kind sogleich, oder in wenig Tagen, wenn — Der graue Mann. (eifrig) Dies ist sehr natuͤrlich! Der Geist wird nach Maßgabe seiner Verbrechen auf Stunden, Tage, Monden, oder Jahre in den thierischen Koͤrper verbannt. Ist die Zeit seiner Strafe voruͤber, so fliegt der Geist empor, und der Koͤrper stirbt, verweßt. Verleitet unter dieser Zeit der Geist den Koͤrper D 2 zu boͤsen Handlungen, so muß er entweder hinab zur Hoͤlle, aus welcher keine Erloͤsung zu hoffen ist, oder er kommt noch um einen Grad tiefer, als er auf Erden war, in's Fegfeuer, aus wel- chem noch Erloͤsung zu hoffen ist. Ich . Hat der Geist aber gut gehandelt? Der graue Mann . So kehrt er nach der Oberwelt zuruͤck, und lebt dort von neuem. Ich habe da mit einem meiner Vorfahren gesprochen, welcher schon fuͤnfmal auf unsrer Erde war, aber jetzt hat er sich's fest vorgenommen, nie wieder herab zu kommen. Ich . Waren wir denn auch schon einmal in der Oberwelt? Der graue Mann . O weh! Wie koͤnnen Sie so albern fragen? Haben Sie eine Seele? Ich . Ich hoff's. Der graue Mann . Wenn Sie diese haben, so muß sie auch aus der Oberwelt gekommen seyn, denn nur dort koͤnnen die Geister gezeugt und gebohren werden. Ich . Aber mein Geist erinnert sich ja dessen nicht. Der graue Mann . Das kann und darf er nicht, so lange er noch mit dem Haͤutchen oder Gewebe umgeben ist. Schaben Sie fleißig, mein Herr Geist, so kann's Ihnen auch gluͤcken, wie es mir gegluͤckt ist. Im Jahre 1767 am ersten Maie gelang es meinem arbeitsamen Geiste, das schon aͤusserst duͤnne Haͤutchen mit einmal zu ver- nichten, es platzte, und mein Geist konnte frei denken, frei handeln, und sich seines vorigen Zustandes erinnern. Er wollte sich vom irrdi- schen Koͤrper losmachen, aber es war nicht moͤg- lich, er wandelte nach der Oberwelt, der Koͤr- per gieng mit, aber wir durften nicht dort blei- ben, weil die Zeit der Strafe noch nicht vollendet ist! — (nachdenkend) Haben Sie schon ei- nen Taubstummen gesehen? Ich . O ja! Der graue Mann . Das sind elende Ge- schoͤpfe! Blos Koͤrper, blos Maschine; als sie gebohren wurden, fiel eben kein Geist aus der Hoͤhe herab, und nun wandeln sie so lange oh- ne diesen herum, bis irgend einmal ein herab- gefallener Geist kein neugebornes Kind findet, und in seinem Koͤrper den Wohnsitz nimmt. Da- her kommt's, daß man jetzt in Zeitungen liest, wie die Stummen reden lernen. Pfarrer . Hat denn der alte Jobst auch einen Geist? Der graue Mann . Der ist ja ein Narr, liegt an der Kette, und raßt. Pfarrer . Eben deswegen frag ich. Der graue Mann. (seufzend) Ja wohl hat er einen! Sein Geist war arbeitsam und thaͤtig, aber er schabte stets an einem Or- te, machte gluͤcklich ein Loch in die Huͤlle, doch ist's zu klein, jetzt kann er nicht heraus: win- det, kruͤmmt sich, aber es geht nicht. Pfarrer . Zu welchem Amte, mein lieber Karl, wird er mich wohl faͤhig finden, wenn er einst Koͤnig wird? Der graue Mann . Sie, Ehrwuͤrdiger Herr, mache ich zum obersten Schulmeister meines Lan- des, denn ich seh's mit großem Vergnuͤgen, wenn Sie oft in die Schule gehen, die Kinder zur Thaͤ- tigkeit, zum Fleiße ermahnen, und ihnen Ihre eigne Kenntnisse mittheilen. Das nutzt, das fruchtet! denn jemehr unsere Geister ihre Haͤut- chen verduͤnnen, je gluͤcklicher kann's auf dieser Welt werden. Die Speisen rauchten schon lange auf der Ta- fel, wir mußten Platz nehmen, und indeß wir's thaten, entfernte sich der graue Mann. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen, denn er war uͤber Feld gewandert, und niemand konnte ihn finden. Nach Tische ließ ich mir seine Lebensgeschichte vom Pfarrer erzaͤhlen: Karl war der einzige Sohn eines Schusters, der sich redlich, aber kuͤmmerlich, naͤhrte. Als der Knabe acht Jahre alt war, starb Vater und Mutter; ein Bruder der letztern nahm die ver- laßne Waise zu sich. Alle Zeitgenossen erinnern sich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern- te, und immer vom Schulmeister besonders gelobt wurde. Er wollte sehr gerne studieren, da aber sein Vetter die Kosten dazu nicht hergeben konn- te, so mußte er wider seinen Willen ein Schnei- der werden. Er war stets still und fleißig, aber er brachte es in seinem Handwerke nicht einmal zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth in seiner Arbeit oft große Zerstreuung. Endlich gieng er einige Jahre auf die Wanderschaft, kam aber nicht viel geschickter nach Hause; er wuͤrde indeß doch daheim sein Brod verdient haben, wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte er ein Stuͤckchen trocknes Brod, so sperrte er sich in sein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er die meisten unrecht verstand, sich darinne Ideen zum Wahnsinne sammlete, lehrte und bewieß die Folge. Wahrscheinlich wuͤrde er ein großer, ein tiefdenkender Gelehrter geworden seyn, wenn seine Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren gehindert haͤtte. Selbst sein beinahe fuͤnf und zwanzigjaͤhriger Wahnsinn hat die Spuren seines offenen Kopfes, seines Genies noch nicht ganz vertilgt. Er schreibt eine gute, lesbare Schrift, er ist sehr gut in der Geschichte bewandert und spricht vom punischen wie vom hussiten Kriege mit gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah auswendig, und ist in der Rechenkunst weit uͤber's Mittelmaͤßige hinaus. Da er stets eingezogen, immer nur fuͤr sich lebte, nie an oͤffentlichen Oertern, nur in der Kirche aͤußerst richtig, erschien, so vermißten ihn seine Freunde erst einst an einem Sonntage, als er wahrscheinlich schon eine ganze Woche zuvor in seinem kleinen Stuͤbchen ohne Pflege und Huͤlfe krank gelegen war. Sie fanden ihn wenigstens dort ohne Gefuͤhl, ohne Verstand. Nach langer, anhaltender Pflege kehrte endlich seine Gesundheit, aber nie mehr sein Verstand, zuruͤck. Die Zeit seiner Krankheit stimmt genau mit derjenigen uͤberein, welche er in der Oberwelt will zuge- bracht haben. Anfangs sprach er auch nur von dieser; die Idee, daß er ein Abkoͤmmling Karl des Vierten sei, kam erst lange nachher zum Vorschei- ne, ist aber jetzt der groͤßte Gegenstand seiner Beschaͤftigung. Als Kaiser Joseph starb, und sich die boͤhmi- schen Staͤnde zur Huldigung seines erlauchten Nachfolgers in Prag versammelten, sandte er wirklich eine Schrift an diese ehrwuͤrdige Ver- sammlung, worinne er gegen die Wahl eines neuen Koͤnigs foͤrmlich protestirte, und jene auf seine Rechte, die er auf die boͤhmische Krone zu haben vermeinte, aufmerksam zu machen suchte. Ich besitze das von ihm selbst entworfene Konzept die- ser merkwuͤrdigen Schrift, ich wuͤrde sie woͤrtlich hersetzen, wenn sie nicht eine genaue Wiederho- lung desjenigen enthielte, was ich schon durch ihn selbst erzaͤhlen ließ. Nachdem er den hohen Lan- desstaͤnden genau erwiesen hat, daß er von Karl dem Vierten abstamme, verirrt er sich auf einmal in die Oberwelt, und spricht lange Zeit von die- ser, endlich kehrt er zuruͤck, und macht billigere Bedingungen. Sollte, sagt er, etwann aus mei- ner gerechten Anforderung ein Krieg entstehen, so will ich in Gnaden davon abstehen, und bin's zu- frieden, wenn der kuͤnftige Koͤnig mir das Pleiß- ner- und Egerland abtritt, welches Kaiser Al- brecht an den Koͤnig Wenzel verpfaͤndet hat, und das mir daher (wie? und warum? weis ich nicht) unstreitig zugehoͤrt. Will man mir, faͤhrt er noch billiger fort, aber die Pfandsumme von fuͤnfzig tausend Mark, nebst den vertagten Inter- essen, welche bis heutigen Tag eine Summe von einer Million, einmalhundert achtzig tausend Mark ausmachen, ohne Weigerung auszahlen, so begebe ich mich hiermit freiwillig aller meiner gerechten Anspruͤche, und will meine uͤbrigen Tage in Frie- de und Ruhe beschließen. Keiner seiner Freunde wußte etwas von diesem kuͤhnen Schritte, wuͤrde vielleicht auch in der Fol- ge nie etwas davon erfahren haben, wenn seine Schrift nicht die Aufmerksamkeit der Landesstelle erregt haͤtte. Sie schloß ganz natuͤrlich auf Wahn- sinn, forderte aber doch Bericht, und befahl, den armen Karl in Verwahrung zu nehmen; da aber die Obrigkeit seine ganzen Umstaͤnde einberichtete, und zugleich erwieß, daß sein Wahnsinn von kei- ner gefaͤhrlichen Art sei, so ward er noch ferner der Versorgung seiner Freunde uͤberlassen. Er liest aͤusserst gerne Zeitungen, und ist sehr genau mit allen politischen Begebenheiten bekannt. Er geht jederzeit auf die Post, und holt die Zei- tungen, welche in seinem Geburtsorte gehalten werden, er liest sie dann unterwegs; sehr wahr- scheinlich war das Blatt, welches ich in seiner Hand erblickte, auch ein Zeitungsblatt. Die trau- rigen Begebenheiten Frankreichs reizten seine Auf- merksamkeit sehr, er behauptet, daß er mit dem Hause Bourbon verwandt sei, und ebenfalls An- spruch auf Frankreichs Krone machen koͤnne. Vor Jahresfrist ist er aus der Gegend ver- schwunden. Fuhrleute wollen ihn zu Strasburg gesehen und erkannt haben; hat ihn vielleicht der ungluͤckliche Gedanke, von Frankreichs verwaißtem Throne Besitz zu nehmen, zu dieser Reise verlei- tet, so hat er wahrscheinlich schon laͤngst sein Le- ben unter der Guillotine geendigt. Wilhelm M***r und Karoline W — g. I m schrecklichen siebenjaͤhrigen Kriege, welcher halb Deutschland verwuͤstete, manchem Hausvater seine Haabe, mancher Mutter ihren Sohn raub- te, reiste der junge Wilhelm auf die Universitaͤt nach Leipzig. Sein Vater, ein Landpfarrer, war schon laͤngst gestorben, seine noch lebende Mutter hatte ihr Aeusserstes gethan, um ihn auf der Schule zu ernaͤhren, sie konnte ihm jetzt nicht mehr als zehn Thaler und ihren muͤtterlichen Se- gen mit auf die Reise geben, sie hofte, daß der hofnungsvolle Juͤngling durch seine gute, untadel- hafte Auffuͤhrung bald Goͤnner zu Leipzig finden wuͤrde, die ihn unterstuͤtzen und Vater der ver- laßuen Waise werden sollten. Als er zu Kolditz uͤbernachtete, wurde das Staͤdtchen von feindli- chen Husaren uͤberfallen, sie fanden den jungen Wilhelm, er war schoͤn, jung und wohlgewachsen und wurde am andern Morgen, nebst mehrern jungen Leuten, nach des Feindes Land gefuͤhrt, um dort als Soldat zu dienen. Seine Gelassen- heit, mit welcher er sich in sein unverdientes Schicksal fuͤgte, sein Eifer, mit welchem er sich im Exerzieren uͤbte, und endlich seine nicht geringen Kenntnisse, welche er sich auf der Schule gesam- melt hatte, erwarben ihm bald die Achtung seiner Vorgesetzten, sie erleichterten ihm nicht allein sein ungluͤckliches Loos, sie halfen ihm auch vorwaͤrts. Er diente im andern Jahre schon als Korporal unter dem Regimente, welches ihn gefangen ge- nommen hatte. Sein Schicksal, das nun wieder zu laͤcheln schien, fuͤhrte ihn in ein ruhiges Win- terquartier nach M***dorf, wo er bei dem Pfar- rer des Orts ein gutes Quartier fand, und von diesem bald als Sohn, von seinen drei erwachse- nen Toͤchtern als Bruder geliebt wurde. Die juͤngste derselben war ein sehr schoͤnes, bluͤhendes und gefuͤhlvolles Maͤdchen, sie nahm warmen An- theil an dem Schicksale der ebenfalls schoͤnen, und leider auch empfindsamen Juͤnglings, ihr in- niges Mitleid verwandelte sich bald in eben so in- nige Liebe, der Juͤngling fuͤhlte und erwiederte sie im vollen Maße. Zeit und Gelegenheit war der- selben gleich guͤnstig. Lottchens zwei Schwestern waren von einer alten Muhme, die sie zu beerben hoften, nach der Stadt berufen worden, sie muß- te daheim bleiben, und die Wirthschaft fuͤhren, weil die Mutter schon laͤngst gestorben war. Der alte Vater gieng gewoͤhnlich sehr fruͤh zu Bette, die muͤden Knechte und Maͤgde folgten bald nach, und nun konnten die Liebenden oft halbe, manch- mal ganze Naͤchte Arm in Arm allein sitzen, sich ewige Liebe schwoͤren; und ihre reinen, unschuldi- gen Fruͤchte ungestoͤrt genießen. Kalte gefuͤhllose Seelen, deren feuchtes Pflegma jede Leidenschafts- flamme sogleich loͤscht, kann's wundern, daß diese geheimen Zusammenkuͤnfte bald strafbar wurden; mich wundert's, daß die Liebenden einen langen Monat kaͤmpften, und nicht fruͤher unterlagen. Umstaͤnde und Gelegenheit verleiten oft den redli- chen Mann zu Verbrechen, die des Hochgerichts wuͤrdig sind. Zeit und Gelegenheit rauben dem liebenden Maͤdchen allemal ihren groͤßten Schatz, die nur einmal bluͤhende Unschuld, mit welcher ih- re stolze Nachbarinn sich deswegen nur noch bruͤ- sten kann, weil ihr nicht gleiche Gelegenheit wur- de. Vater! Mutter! Dein ist die Pflicht, die fuͤhlende Tochter vor dieser zu warnen, vor dieser zu schuͤtzen; hast du diese vernachlaͤßigt, so ist dein die Schuld ihres Falles, so kann die Ungluͤck- liche von dir mit vollem Rechte, Mitleid, Trost und Huͤlfe fordern, denn ihr Ungluͤck war dein Werk, ihre Thraͤnen klagen dich bei Gott an, und traͤufeln in deine Suͤndenschaale. Lottchen und Wilhelm liebten sich aͤußerst zaͤrt- lich, aber sie bangten auch oft vor der fuͤrchterli- chen Zukunft, vor der wahrscheinlichen schreckli- chen Trennung. Die Friedensgeruͤchte, welche sich diesen Winter hindurch immer mehr und mehr verbreiteten, durch alle Zeitungen bestaͤtigt wur- den, belebten ihr Herz mit Hofnung, beschleunig- ten aber auch eben so wahrscheinlich den Fall des unschuldigen Maͤdchens. Wilhelm hofte mit dem Frieden auch seine Entlassung zu erhalten, der Schulmeister des Orts war aͤußerst alt, er brauch- te hoͤchst noͤthig einen Substituten, Wilhelm woll- te dieser werden. Er hatte Gruͤnde zu dieser Hof- nung, denn die ganze Gemeinde, welche diesen Dienst zu vergeben hatte, liebte ihn, und versi- cherte ihm solchen oft im voraus, wenn er Sonn- tags anstatt des kranken Schulmeisters recht an- genehm auf der Orgel praͤludirte, und mit melo- discher Stimme das Lied begann. Er wollte dann sogleich sein Lottchen heirathen, und konnte dies ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb- reiche Vater oft im Scherze zu ihm sagte: wenn Sie beim nahen Frieden hier Substitut meines alten Schulmeisters werden wollen, so gebe ich Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der Alte lebt, habt ihr die Kost bei mir, und stirbt er einst, so ist sein Dienst im Stande, euch wohl zu ernaͤhren, denn er steht sich besser als mancher Pfarrer im Gebirge! Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf Scheingruͤnde bauten, habe ich deutlich erwiesen, daß diese angenehme Aussicht sich bei der guͤnsti- gen Wendung noch Jahrelang verzoͤgern koͤnne, liegt freilich eben so klar am Tage aber wer kann im Sturme, im Drange der heftigsten Lei- denschaft immer kalt uͤberlegen? Wer kann in der Fieberkaͤlte sich die Medizin im Loͤffel tropfen, die der Arzt als heilsam verordnet hat? Wie der Schnee schmolz, und Wilhelm mit seinem Lottchen oft schon im nahen Garten lust- wandelte, erschollen vom Gebirge herab wieder Kriegstrompeten, ihr Schall erschreckte die Lieben- den maͤchtig, die folgende Zeitung brachte sogar die Hiobspost, daß der Friedenskongreß fruchtlos auseinander gegangen sei, daß die Blutfahne auf's neue wehen, das Schwert auf's neue wuͤ- then werde. Lottchen weinte, Wilhelm blickte traurig zur Erde, suchte Trost fuͤr seine Geliebte, und fand keinen. Ehe noch eine volle Woche ver- flossen war, und die Liebenden eben an einigen kleinen Scheingruͤnden traurig, aber doch hoffend nagten, kam schneller Befehl zum noch schnellern Aufbruche. Wilhelm sollte sich mit seiner wenigen Mannschaft schon am Morgen des andern Tages zum Stabe, der einige Stunden von ihm entfernt lag, ziehen, und dann mit dem ganzen Regimen- te vorwaͤrts marschiren. Schrecklich war die gan- ze Nacht, die er in den Armen seiner Geliebten durchwachte, noch schrecklicher wurde der Kampf der Trennung, weil Lottchen zwar nicht gewiß, aber doch durch dunkle Vorboten immer mehr und mehr uͤberzeugt wurde, daß sie schwanger sei. Die Furcht vor der großen und nahen Schande mar- terte sie schrecklich, die Gewißheit der nahen Trennung machte sie unfaͤhig, diese Martern zu ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er schwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr fruͤh oder spaͤt seine Hand zum Ersatz fuͤr ihr kuͤnftiges Lei- den. Sie wird fuͤr dich, sprach er, dann fleißig arbeiten, sie wird dich bis in den Tod redlich und treu ernaͤhren! Auch versprach er, ihr jeden Monat wenigstens einmal zu schreiben, und den Brief an den alten Schulmeister zu addressiren. Diese Trostgruͤnde staͤrkten freilich Lottchens Muth auf einige Augenblicke, aber wenn sie sich wieder die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun jeden Tag schweben wuͤrde, wenn sie uͤber ihm das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von einer feindlichen Kugel getoͤdet, vom Pferde sin- ken sah, da schwand dieser Muth aufs neue. Erin- nerte sie sich nun vollends ihres schrecklichen Zu- standes, erblickte sie sich vom alten Vater ver- flucht, von ihren Schwestern verachtet, von der ganzen Gemeinde verspottet in ihrer einsamen Kammer, so war sie der Verzweiflung nahe. Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun scheiden mußte, da war sie unfaͤhig, ihn bis an die Thuͤ- re zu begleiten, sie warf sich wuͤthend auf ihr Bette, verstopfte sich mit den Kissen den Mund, damit das Gesinde ihr Schluchzen nicht hoͤre, nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde. Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde- te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge- liebt liebt hatte, weinte selbst, als dieser Abschied zu nehmen kam. Alles in der Welt ist eitel, sagte er treuherzig mit Salomo, und uͤbergab segnend den jungen Helden Gottes allmaͤchtigem Schutze. Dieser duldete zwar mit aͤußrer Standhaftig- keit, er schaͤmte sich, vor seinen Husaren mit Thraͤnen zu erscheinen, aber sein Herz blutete. Wie er um's Haus nach dem Dorfe hinabritt, und Lottchen ihm vom Bodenfenster noch schluch- zend ein graͤßliches Lebewohl zurief, da brach's, er konnte ihr nur mit nassem Auge danken, die aͤußerste Beklemmung hatte ihm seine Sprache ge- raubt, seine Haͤnde gelaͤhmt. Er war noch gleich sprachlos, als die gutherzigen Bauern ihn im Dorfe umringten, ihm Gluͤck und Segen wuͤnsch- ten, und ein Glas Brandwein zur Labung reich- ten. Ein Gluͤck fuͤr ihn, daß seine zitternde Hand es ganz verschuͤttete, es haͤtte ihm in die- sen Umstaͤnden zum Gifte werden muͤssen. Auf der Anhoͤhe blickte er noch einmal hinab in's kleine Thal, wo er der suͤßen Stunden so viele genossen hatte, am kleinen Kappfenster des Pfarrhofes wehte das weisse Tuch seiner trostlosen Geliebten, er sah's, er fuͤhlte die Groͤße ihres Schmerzes und spornte sein Pferd, damit er's nicht mehr saͤ- he, nicht vollen Stoff zur Verzweiflung sammle. Lottchen erschien mit rothgeweinten Augen beim Mittagsmahle, sie konnte nichts essen, hatte Erst. Baͤndch. E Muͤhe, ihre Thraͤnen zu verbergen, der Vater sahs, aber da Erinnerung an den guten Wilhelm sein Auge selbst truͤbte, so verdachte er's der Toch- ter um so weniger, weil er uͤberzeugt war, daß die jungen Leute sich gerne gesehen hatten, und er wirklich nichts wuͤrde entgegen gehabt haben, wenn Wilhelm ohne Soldatenrock mit einer Aus- sicht zu einem Dienste um seiner Tochter Hand geworben haͤtte. Das war aber auch alles, was sich der gute Alte dachte, sein Herz, das des jungen Maͤdchens Empfindung nach seinem kalten Gefuͤhle maß, ahndete keine staͤrkere, viel weni- ger strafbare Vertraulichkeit. Er hatte seine Kin- der in Gottesfurcht erzogen, war von ihrem rei- nen, tugendhaften Lebenswandel uͤberzeugt, und hielt Abweichung davon fuͤr unmoͤglich. Er war gutherzig genug, ihren Gram zu dulden, er zankte nicht, wenn sie in der Folge seine Suppe versalzte, oder sein Lieblingsgerichte, den Eier- kuchen, verbrannte. Des armen Lottchens Lage, ihr sich immer mehrendes Leiden, verdiente aber auch diese Schonung, es war schrecklich, es war der Erbarmung aller Menschen wuͤrdig. Sie hat- te zwar Staͤrke des Geistes genug, sich uͤber den Abschied des innig Geliebten zu troͤsten, sie besaß zwar Muth, sich mit der Hofnung des gluͤcklichen Wiedersehns zu laben, aber die marternde Ver- muthung, daß sie wirklich ein Pfand der Liebe unter ihrem Herzen trage, die in jeder Stunde der Nacht sie weckte, mit jedem Morgen sich neu- te, mit jedem Abende sich bestaͤtigte, und nach und nach zur schrecklichen Gewißheit wuchs, diese Vermuthung raubte ihr Staͤrke und Muth, Trost und Hofnung, fuͤhrte sie oft an den Abgrund der Verzweiflung, und weckte selbst moͤrderische Ge- danken in ihr. Von beiden retteten sie bisher im- mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms, die sie oft jede Woche erhielt, und eben so fleißig beantwortete. Er schrieb so zaͤrtlich, er nahm so innigen Antheil an ihren Leiden, er waͤlzte die ganze Schuld des Verbrechens auf sich; aber er flehte auch so ruͤhrend um Vergebung, daß die Leidende sie ihm nie versagen konnte, und um seinetwillen noch laͤnger zu dulden beschloß. Lottchen suchte indeß ihren Zustand vor aller Augen auf's sorgfaͤltigste zu verbergen, sie hatte nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent- decken. Das Gefuͤhl der Schaam, der Schande war zu groß, es bekaͤmpfte den Vorsatz, welchen sie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft, wenn der alte Vater sie mitleidig anlaͤchelte, und wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach ihrem Befinden fragte, wollte sie sich ihm zu Fuͤ- sen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle- hen, aber die Vorstellung seines Jammers schreck- te sie stets zuruͤck. Ihre jetzt mehr als je beschaͤf- tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zustand des Leidenden Alten im Bilde, sie sah ihn, voll Entse- E 2 zen uͤber diese unerwartete Nachricht, leblos vom Stuhle sinken, sie hoͤrte, wie er stammelnd ihr fluchte, und Rache flehend verschied. Diese noch graͤßlichere Vorstellungen bewogen sie immer zu laͤngerm Stillschweigen, sie sann unter dieser Zeit wohl auf Mittel, ihren Zustand stets verbergen zu koͤnnen, da sie aber keine fand, so verschob sie die fuͤrchterliche Entdeckung von einer Zeit zur andern, und suchte nur immer noch einen Tag zu gewinnen, an welchem sie schuldlos und ohne kraͤnkenden Vorwurf vor den Augen der Dienstbo- ten umher wandeln konnte. Sie hatte Wilhelmen auf seine dringende Bitte gelobt, daß sie nicht Hand an sich und ihr Schmerzenskind legen wol- le, sie beschloß den Schwur zu halten, aber sie hofte, daß die Geburt des aͤrmsten ihr Tod wer- den sollte, und zoͤgerte daher stets noch laͤnger, ihn durch vorher genoßne und gefuͤhlte Schande zu verbittern. Indeß sie oft einsam mit sich kaͤmpfte, sich die ruͤhrenden Worte: Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich auf! zu ihrem Leichentext waͤhlte, und schwarze Schlei- fen band, die ihr Sterbekleid zieren sollten, sprach schon das ganze Dorf von ihrem ungluͤcklichen Zu- stande. Jede Hausfrau muthmaßte ihn schon lan- ge, jeder war er schon zur Gewißheit geworden; ihre Taille, die sonst eine der schoͤnsten war, hatte sich zu sehr veraͤndert, sie mußte dem geuͤb- ten Auge dieser Weiber auffallen. Lottchen wurde einst, als man eine Kindbetterin begrub, auf dem Kirchhofe ohnmaͤchtig, der Anblick ihres kuͤnftigen Looses mochte zu stark auf ihre Nerven gewirkt haben. Einige Weiber fuͤhrten sie abseits, loͤßten ihre Schnuͤrbrust, und wurden dadurch von ihrem ungluͤcklichen Zustande ganz uͤberzeugt. Bald spra- chen auch die Juͤnglinge und Dirnen des Dorfs davon, es kraͤnkte die Vaͤter und Muͤtter, daß in so gefahrvoller, verfuͤhrungsreicher Zeit die Toch- ter des Pfarrers ihren Kindern ein so uͤbles Bei- spiel gab, und sie gleichsam zur Nachahmung reiz- te. Einige wenige Mißvergnuͤgte, welche der al- te Pfarrer in aͤhnlichen Faͤllen, oft nur Vermu- thungen, mit zu harten Worten ermahnt hatte, nuͤtzten die guͤnstige Gelegenheit zur Rache, und ermunterten die Gemeinde zur foͤrmlichen Klage. Einige Deputirte derselben giengen wirklich in die Stadt zum Superintendenten, klagten ihren Pfar- rer der Verwahrlosung seines Kindes an, und for- derten, zur Steuer des allgemeinen Aergernisses, zur Warnung ihrer eigenen Kinder, hinlaͤngliche Genugthuung. Der rechtschaffne Superintendent, welcher ganz natuͤrlich glaubte, daß dem Vater nicht unbekannt seyn koͤnne, was eine ganze Ge- meinde wisse, schrieb sogleich dem alten Pfarrer und bat ihn mit schonenden Worten, seine Ge- meinde in der Stille zu beruhigen, sie durch ein- heimische Genugthuung zu versoͤhnen, weil er sonst bei wiederholter Klage an's Oberkonsistorium Bericht erstatten muͤsse, und dieses leicht auf Ent- setzung vom Dienste entscheiden koͤnne. Der naͤch- ste Postbote brachte diesen Schreckensbrief mit. Lottchen harrte seiner beim alten Schulmeister; Wilhelm hatte schon drei Wochen nicht geschrie- ben, sein Regiment zog nach der Oder gegen die Russen, sie hofte so sehnlich auf Trost und Nach- richt von ihm, erhielt abermals keine, und eilte nach Hause, um in ihrem Kaͤmmerlein ungestoͤrt weinen zu koͤnnen. Ihr Jammer war durch einen Zufall noch um ein großes vermehrt worden, zwei Bauernweiber waren ihr auf dem Heimwege be- gegnet, hatten sie nicht Jungfer Lottchen, nur schlechtweg Lottchen gegruͤßt, und sich mit hoͤhni- schem Laͤcheln nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Die Ueberzeugung, daß man ihren ungluͤcklichen Zustand schon muthmaße, bald im ganzen Dorfe mit Gewißheit davon sprechen werde, verursachte ihr toͤdtliches Schrecken, sie lag eben auf ihren Knien, und flehte Gottes Beistand an, als eine Magd ihr meldete, daß der Vater sie eilend zu sprechen verlange. Sie trocknete ihre Augen, und eilte zu ihm hinab. Der arme Alte saß in seinem Großvaterstuhl, in seiner herabgesunkenen Rechten hielt er einen offnen Brief, mit seiner Linken unterstuͤtzte er auf seiner Nase die Brille, welche sein zitterndes Haupt herabzuschuͤtteln droh- te. Er blickte starr nach seiner Tochter, und fieng endlich laut zu schluchzen an. Lottchen. (bebend und zitternd) Liebster Vater, was ist Ihnen widerfahren? Vater. (im schrecklichen weinenden Tone) Kind des Jammers! kannst du mir Trost gewaͤhren, kannst du's widerlegen, so eile, damit dich dein sterbender Vater noch segnen kann. ( mit erhoͤheter Stimme ) Ist's aber wahr! — — O dann fliehe eilend, damit dich mein ge- rechter Fluch nicht mehr erreicht, nicht dort auch ungluͤcklich macht. Lottchen. (auf ihre Knie sinkend) Vater! Vater! Vater. (mit graͤßlicher Stimme) So ist's wahr? Du antwortest, du vertheidigst dich nicht? ( aufspringend ) O, ich ungluͤckseli- ger! O, ich geschaͤndeter! O, ich erbarmungs- wuͤrdiger Vater! Mutter! Mutter! Dein Lieb- ling, dein Lottchen, das du mir noch in deiner Todesangst so dringend empfahlst, das mir um dieser schrecklichen Stunde willen so theuer wur- de, ist gefallen, hat Ehre und Tugend vergessen, hat dein unbeflecktes Andenken bei der Nachwelt gebrandmarkt, stuͤrzt mich mit Leid und Kummer in die Grube! — Sie haben Recht, daß sie Genugthuung fordern, ich muß sie leisten! — ( stoͤßt Lottchen von sich ) Weg, weg, da- mit ich dich nicht laͤnger sehe, sonst vermag ich's nicht! ( Lottchen will fortwanken, mit geruͤhrter Stimme ) Gott schuͤtze dich vor Verzweiflung, darum flehe und bitte ich ihn, mehr vermag ich nicht, mehr kannst du nicht fordern! ( Lottchen will ihm auf's neue zu Fuͤßen fallen ) Weg! Weg! Sonst wirst du auch Vatermoͤrderin! Lottchen wankte zur Thuͤre hinaus, eine vor- uͤbergehende Magd fand sie ohnmaͤchtig am Bo- den, sie rufte mehrere herbei, sie trugen sie in ihr Bette, weckten endlich ihre Sinne, und wach- ten die ganze Nacht an ihrem Lager. Es war eben Sonnabend, als diese schreckliche Szene sich ereignete; am andern Morgen, wie Lottchen zu beten versuchte, trat der alte Vater in ihre Kam- mer. Er war im Priesterrocke gekleidet, und trug die Bibel unter dem Arme. Lottchen, sprach er im ernsten, aber gefaßten Tone, du mußt heute in die Kirche gehen. Lottchen . Wie vermag ich's? Vater. (ihr geruͤhrt die Hand rei- chend) Dein Vater fordert's, er will dich und ihn mit Gott versoͤhnen! Kannst du ihm den Gehorsam verweigern? Lottchen. (ihm die Hand kuͤssend) Ich folge! Gott gebe, daß es mein letzter Gang sei. Vater . Versuͤndige dich nicht auf's neue durch thoͤrichte Wuͤnsche, flehe zu ihm, nur er kann Kraft zur Besserung verleihen! Der Vater gieng standhaft fort, und Lottchen ließ sich durch die Maͤgde ankleiden, sie war nicht vermoͤgend allein zu gehen, die Maͤgde mußten sie auch nach der Kirche fuͤhren, sie nahmen Platz neben ihr, und gaben ihr oft staͤrkenden Geist zu riechen, weil sie immer ohnmaͤchtig zu werden drohte. Die ganze versammlete Gemeinde sah ihr Leiden, schloß auf Entdeckung und fuͤhlte Mitleid. Der Gottesdienst begann, alle sangen im trauri- gen Tone das froͤhliche Morgenlied; als nachher der alte Vater, welcher schon zwei und vierzig Jahre ihr Lehrer gewesen war, zum Altare wank- te, oft die truͤben Augen sich wischte, und doch das Evangelium nur stotternd lesen konnte, da weinten schon viele, und das folgende Lied ward im noch traurigern Tone abgesungen. Endlich be- stieg der ehrwuͤrdige Greis die Kanzel, er ruhte oft auf ihren Stufen, blickte nach Kraft in die Hoͤhe, und langte oben an, als schon tiefe Stille der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fuͤrchterlich seine Haͤnde, und rief weinend aus: O meine Tochter! O meine Tochter, wie beugst du mich! Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen ich zu meiner heutigen Predigt gewaͤhlt hatte, aber jetzt aus innerm Gefuͤhle waͤhlen muß. O meine Tochter! O meine Tochter! wie beugst du mich! Zwei und vierzig Jahre stand ich aufrecht an dieser heiligen Staͤtte, und ward gestaͤrkt durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte, wie ich lehrte. O meine Tochter, wie beugst du mich! Jetzt muß ich, vom schrecklichen Grame und Kummer niedergedruͤckt, an dieser Staͤtte er- scheinen, darf's nicht wagen, meine Augen zu Gott zu erheben, muß reumuͤthig an meine Brust klopfen, und demuͤthig ausrufen: Gott sei mir Suͤnder gnaͤdig! Ich kann nicht mehr, andaͤch- tige Zuhoͤrer, in euer Auge vertrauend blicken, tiefe Schaam fesselt das meinige am Boden, weil ich euch Aergerniß gab, weil ich verdient habe, daß man einen Muͤhlstein an meinen Hals haͤnge, und mich im Meere versenkte, wo es am tiefsten ist. Oft, liebe Hausvaͤter und Muͤtter, habe ich eure wenige Wachsamkeit, mit welcher ihr eure Kinder erzogt, in heftigen Worten getadelt, jetzt muß ich mich dieses Verbrechens bei euch ankla- gen, muß ausrufen: Schaͤndlicher Vater! du hast's geduldet, als deine Tochter buhlte, du hast ruhig geschlafen, als sie deinen und ihren Ruf entehrte, als sie dem Volke Aergerniß gab! Dir wird es schwer werden, deine Nachlaͤssigkeit vor Gottes Throne zu verantworten, du kannst nun nicht mehr freudig vor ihn hintreten und sagen: Herr, hier bin ich, und diejenigen, die du mir gegeben hast! Oft, liebe Jungfrauen und Juͤnglinge, habe ich euch ermahnt, auf dem Pfa- de der Ehre und Tugend zu wandeln! Oft habe ich in strengen Worten eure unschuldigen Lustbar- keiten getadelt, sie im heiligen Eifer den Reiz zur Suͤnde, den Anfang des Lasters genannt: jetzt muß ich schweigen, denn der Blick auf mein ge- fallnes Kind wuͤrde mich erinnern, daß ich straf- barer, als ihr, war. Damit ich aber nicht mehr Schuld auf mich lade, als ich zu tragen faͤhig bin, und wirklich zu buͤßen verdiene, so frage ich dich, mein Schmerzenskind, meine Benjamine, an dieser heiligen Staͤtte vor Gottes Angesichte, und in Gegenwart der ganzen vor ihm versamm- leten Gemeinde: ob ich nicht alles that, was mir Gott zu thun befahl? Ob ich dich nicht von fruͤ- her Jugend an zur strengen Beobachtung seiner Gebote ermahnte? Dir nicht anschauend die schrecklichen Folgen zeigte, welche jedes Laster nach sich ziehen muß? O, meine Tochter! O. meine Tochter, wie beugst du mich! — — — Der ungluͤckliche Greis wollte noch weiter spre- chen, aber das laute Schluchzen der ganzen Ge- meinde, das klaͤgliche, fuͤrchterliche Winseln sei- nes Kindes hinderte ihn, er mußte harren, und im Stillen die Fruͤchte seiner schrecklichen Rede erwarten. Die Weiber verließen ihre Stuͤhle, die Jungfrauen folgten, alle draͤngten sich zur Ungluͤcklichen, umarmten und kuͤßten sie wechsels- weise. Vergebung, Vater, Vergebung, rief ein unschuldiges Maͤdchen. Vergebung, riefen alle Weiber und Jungfrauen. Vergebung erschall's von allen Emporkirchen der Maͤnner. Ich ver- zeihe, ich vergebe willig, sprach der Greis im geruͤhrten Tone, ich hoffe, daß auch Gott ihr Flehen hoͤrt, und mit barmherzigem Auge auf sie herabblickt. Der Kuß des Friedens soll ihr wer- den, wenn ich hinabsteige; aber jetzt muß ich mit euch, Andaͤchtige und Geliebte, noch einige Wor- te sprechen. Ihr fordertet mit vollem Rechte bei meinem Obern Genugthuung uͤber das Aergerniß, welches euch und euern Kindern durch den Fall meiner Tochter so reichlich wurde. Ich gab sie euch; seid ihr, gleich Gott, mit dem oͤffentlichen Bekenntnisse der Schuld zufrieden? Oder fordert ihr mehr? Verdiene ich vielleicht nicht mehr euer Fuͤhrer, euer Lehrer zu seyn, so will ich heute noch mein Amt freiwillig niederlegen, will mit dem Wunsche, daß mein ungluͤckliches Kind den eurigen ewig zum warnenden Beispiel dienen moͤ- ge, von euch scheiden. — — Nein, nein, rief die ganze Gemeinde, bleiben Sie noch laͤnger un- ser Vater und Lehrer! Wir bereuen den voreili- gen Schritt von ganzem Herzen! Wir nehmen die Klage zuruͤck! — — So lohn's euch Gott, sprach der Greis weinend, der nicht will, daß mein graues Haupt mit Schande in die Grube fahre! Er stieg nun von der Kanzel herab, und nahte sich dem ungluͤcklichen Lottchen, das in der Weiber Armen ruhte, und nur schluchzen, nicht mehr weinen konnte. Oft hatte Ohnmacht sich ihr genaht, aber die Donnerworte des Vaters hat- ten sie immer wieder zum Leben empor geschreckt. In der ganzen Gemeinde herrschte tiefe Stille und Erwartung, jeder wollte die Worte der Versoͤh- nung hoͤren, damit er einst Zeuge derselben seyn koͤnne. Der alte Vater kuͤßte jetzt die Stirne sei- nes Kindes, auch er schluchzte, und konnte nur Vergebung stammlen, die aber sein Herz willig zu geben schien. Mit aller Kraft, die der armen Leidenden noch moͤglich war, riß sie sich jetzt aus den Armen der Weiber empor, und streckte ihre Haͤnde flehend gegen die ganze Gemeinde. Ver- gebt, verzeiht auch ihr, sprach sie, und laßt dem schuldlosen Vater mein Verbrechen nicht entgelten. Nein, nein! rief abermals die ganze Gemeinde. Fluch treffe den, sprach ein alter Bauer, der ihr und ihm den geringsten Vorwurf macht! Fluch! Fluch treffe ihn! schrien alle. Der getroͤstete Vater schlich nun nach der Sa- kristei, der alte, taube Schulmeister, welcher wahrscheinlich von der herzangreifenden Szene nichts verstanden hatte, stimmte ein neues Lied an, aber niemand war vermoͤgend mitzusingen. Der Gottesdienst schloß sich mit dem angenehmsten Op- fer, mit Versoͤhnung und Vergebung. Es war ruͤhrend anzusehen, wie jetzt die Weiber und Jung- frauen die Leidende in ihrer Mitte nach Hause fuͤhrten, wie die Maͤnner und Juͤnglinge ihren alten Seelenhirten umgaben, ihn nochmals treu- herzig ihrer vollen Liebe versicherten, und auch mit ihm nach der Pfarre zogen. Da Lottchen schon unterwegs ohnmaͤchtig ward, so fuͤhrten sie die Weiber nach ihrer Kammer, und wachten von nun an abwechselnd an ihrem Krankenlager. Am andern Morgen giengen zahlreiche Deputirte nach der Stadt, und brachten vom Superintendenten die Versicherung zuruͤck, daß auf ihre dringende Bitte der Klage nicht gedacht werden sollte. Eine volle Woche verfloß nun ruhig, es besserte sich mit Lott- chen, und ihr alter Vater saß oft troͤstend an ih- rem Bette, und ermahnte sie mit kraͤftigen Wor- ten zur Standhaftigkeit, und Ausdauer in der har- ten Pruͤfung. Eben war er Sonntags in die Kir- che gegangen, als seine zwei andern Toͤchter aus der Stadt anlangten, sie hatten das dunkle Ge- ruͤcht, welches sich auch dort verbreitete, vernom- men, wollten sich mit eignen Augen uͤberzeugen und uͤberhaͤuften nun die Ungluͤckliche mit den schmaͤhlichsten, schrecklichsten Vorwuͤrfen. Haͤtten nicht zwei starke Bauerweiber an Lottchens Bette gewacht, sie wuͤrden in ihrer Wuth die Huͤlflose erbaͤrmlich mißhandelt haben. Mit aͤhnlichem, unnatuͤrlichem Grimme, und eben so beißenden Vorwuͤrfen empfiengen sie den alten Vater, als er aus der Kirche kam, sie nannten ihn einen Kuppler seines eignen Kindes, und vergaßen der Ehrfurcht ganz, die sie dem Vater schuldig waren. Der gekraͤnkte Alte antwortete nicht, versperrte sich in seine Studierstube, und uͤberließ sich seinem gerechten Schmerze. Wie die hartherzigen Schwe- stern neue Angriffe auf die Ungluͤckliche wagten, sandten die Waͤchterinnen nach Huͤlfe: Weiber und Maͤnner versammelten sich bald in Menge, sie ermahnten die Wuͤthenden mit kraͤftigen, baͤu- rischen Worten zur Schonung, sie bewiesen ihnen, daß noch nicht aller Tage Abend, und der sich am sichersten duͤnke, oft dem Falle am naͤchsten sei. Da aber die Ermahnung die Stolzen noch mehr erbitterte, so ergriffen die Bauern stillschweigend Lottchens Bette, und trugen es auf ihren starken Schultern nach der nahen Schule. Ein alter Greis blieb bei den staunenden Schwestern in der leeren Kammer. Wir haben, sprach er endlich ernsthaft, heute vor acht Tagen im Gotteshause demjenigen Fluch gelobt, der dem armen Vater und seinem ungluͤcklichen Kinde einen Vorwurf macht. Gott hat ihn gehoͤrt, nehmt euch in Acht, daß er euch nicht schrecklich trift. Versucht's nicht, uns zu folgen, wir werden sonst Vaterrecht brau- chen, denn das arme Lottchen ist nun unser Kind geworden. Lottchen wohnte jetzt wirklich im Oberstuͤbchen der Schule, die Weiber des Dorfs umgaben sie mit staͤrkerer Wache, und sandten die Suppe zu- ruͤck, welche die Schwestern ihr am Abende mit einem kraͤnkenden und spoͤttischen Gruße sandten. Sie haͤtten, liessen sie ihnen ruͤckdeuten, schon selbst noch Huͤhner zur Suppe, und wuͤrden sie fuͤr ihr neues Kind nicht sparen. Am dritten Tage erfuhren einige Bauern, daß man auf dem Pfarrhofe nach einem Arzte gesandt habe, sie muthmaßten Krankheit ihres lieben Pfarrers, und eilten ihn zu besuchen. Sie fan- den ihn auf seinem Bette, er rang schon mit dem Tode, konnte nicht mehr hoͤren, nicht mehr spre- chen; seine beiden unnatuͤrlichen Toͤchter hatte ihn, nach Aussage der Maͤgde, stets mit den kraͤn- kendsten Vorwuͤrfen gemartert, er haͤtte oft um Schonung gefleht, aber sie war ihm nie worden. Als sie am nemlichen Tage ihn beim Mittags- mahle auf's neue damit kraͤnkten, endete seine Geduld, er sprach sehr hart mit ihnen, und gieng in sein Zimmer. Die Magd, welche ihm den Kaffe nachtrug, fand ihn sinnlos am Boden; wahrscheinlich hatte ihn der Schlag getroffen. Die Toͤchter waren nicht zugegen, wie die Bauern ankamen, sie beschaͤftigten sich, die Schraͤnke und Kisten zu versperren, damit bei dem nahen Todes- falle nichts von ihrem Erbtheile entwendet wer- den koͤnne. Der kranke Vater bemuͤhte sich aͤu- ßerst, mit den anwesenden zu sprechen, aber seine Muͤhe war vergebens. Er hob seine Linke, denn die Rechte hatte wirklich der Schlag gelaͤhmt, in die Hoͤhe, und deutete mit flehender Miene nach der Schule. Die Bauern verstanden seine Bitte, und gelobten in kraͤftigen Worten und mit deut- lichen Mienen, daß sie der Verlaßnen Vater seyn wollten. Ehe noch der Arzt anlangte, hatte er schon ausgerungen; als kurz vorher die unnatuͤrli- chen Toͤchter an sein Sterbebette traten, und klaͤg- lich, aber nicht ernstlich, ihre Haͤnde rangen, wandte der Sterbende sein Angesicht von ihnen, und starb, indem er sehnsuchtsvoll nach der Schu- le blickte. Dies Dies alles hinderte die Verstockten keineswe- ges, ihrer ungluͤcklichen Schwester ganz allein die Ursache des vaͤterlichen Todes aufzubuͤrden, sie behaupteten sogar kuͤhn, daß der Vatermoͤrderin kein Theil am Erbe gebuͤhre, und schwuren, eher den letzten Rock zu verganden, als ihr gutwillig einen Groschen zu uͤbergeben. Dies, sprachen die anwesenden Bauern, werden wir hier beim Leich- name des Vaters nicht ausmachen, aber so viel schwoͤren wir euch, daß es der Aermsten, wenn sie auch nicht das Geringste erhaͤlt, doch an nichts mangeln soll. Wir haben's dem sterbenden Vater gelobt, und werden treulich Wort halten. Seht zu, daß das ungerechte Haabe nicht einst auf eurer Seele brennt. Mit Lottchen hatte es sich unter der sorgfaͤlti- gen Pflege der Weiber abermals gebessert, sie konnte im Bette aufsitzen, und gab Hofnung, bald in der Stube herum zu gehen. Der Richter des Dorfs hatte am Sterbetage ihres Vaters die ganze Gemeinde versammlet, und mit ihr uͤber Lottchens kuͤnftiges Schicksal gerathschlagt, alle hatten sich schriftlich verbunden, mit freudigem Herzen den ausfallenden Theil zu ihrer Versor- gung auf Lebenszeit beizutragen, des Richters einziger Sohn hatte sogar hinzugefuͤgt, daß er, wenn Wilhelm nicht aus dem Kriege wiederkehre, ihr seine Hand bieten wolle, und mit ihr gluͤckli- Erst. Baͤndch. F cher als mit mancher andern zu leben hoffe. Da uͤbrigens Lottchen schon aͤußerst viel gelitten hatte, und mehr zu leiden nicht faͤhig war, so ward beschlossen, ihr jetzt den Tod des Vaters nicht kund zu machen, und sorgfaͤltig zu verhuͤten, daß niemand ihr solches entdecke; dieser Vorsatz war sehr leicht auszufuͤhren, weil immer einige Weiber des Dorfs bei Lottchen wachten, jeden, der sich ihr naͤherte, vorher unterrichten, und alle, denen sie nicht trauten, entfernen konnten: aber die gut- herzigen Seelen bedachten nicht, daß das arme Kind bald nach einer Unterredung mit dem Vater bangen, sich stark genug fuͤhlen werde, ihn besu- chen zu wollen. Ueberdies lag die Schule sehr nahe an der Kirche, die Leiche des alten Vaters mußte nahe daran voruͤber getragen werden, Glo- ckengelaͤute und Trauerlieder mußten sie aufmerk- sam und argwoͤhnisch machen. Schon am andern Morgen forschte Lottchen sehr sorgfaͤltig nach dem Befinden ihres Vaters, sie hatte ihn im Traume im Sarge gesehen, und wollte nun mit Gewalt auf die Pfarre gehen. Mit vieler Muͤhe gelang es den Waͤrterinnen, sie eines andern zu uͤberre- den, sie brachten ihr Botschaft vom Vater, der ihr Schonung und Ruhe gebot, und sie morgen oder uͤbermorgen zu besuchen versprach. Diese Nachricht schien sie zu beruhigen, als aber am Mittage alle Glocken der ganzen Gemeinde den Tod ihres Pfarrers verkuͤndigten, da forschte sie auf's neue aͤngstlich nach der Ursache. Man er- zaͤhlte ihr, daß ein alter Bauer gestorben sei, sie wollte es anfangs nicht glauben, als aber jeder, welcher sie diesen Tag besuchte, ihre Frage eben so beantwortete, so wurde sie am Abende ruhiger, und frage jetzt oft: ob ihr Vater die Leiche fuͤh- ren, und sie dann besuchen werde? Da die Waͤr- terinnen ihr Hofnung dazu machten, so schlief sie sanft, und konnte am Morgen das Bette verlas- sen, ungeachtet die Anwesenden sie eines andern zu bereden suchten. Die besondere auffallende Muͤ- he, welche sie am Mittage auf's neue anwandten, Lottchen zum Niederlegen zu bereden, mochte die Ungluͤckliche mißtrauisch gemacht haben, sie warf sich in ihren Kleidern auf's Bette, und schien bald sanft zu schlafen. Als die Glocken den Lei- chenzug verkuͤndigten, und dieser sich schon der Schule nahte, ruhte Lottchen noch immer, die Waͤchterinnen schlichen sich leise an's Fenster, und wollten auch mit Blicken Abschied von ihrem treuen Lehrer nehmen. Der Anblick riß sie hin, sie schluchzten laut, und sahen es nicht, wie das arme Lottchen leise ihr Bette verließ, und auch an's Fenster schlich. Der Sarg, in welchem ihr Vater ruhte, ward eben voruͤber getragen, ihre Schwestern folgten heulend in schwarzen Trauer- kleidern, und Lottchen sank mit einem graͤßlichen Schrei zu Boden. Die Waͤrterinnen eilten ihr erschrocken zu Huͤlfe, schleppten sie aufs Bet- te, und weckten bald ihre Sinne, aber ihr Ver- F 2 stand war unwiederbringlich verloren, der schreck- liche Anblick des todten Vaters, die noch schreckli- chere Vermuthung, daß sie die Schuld desselben trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl- tigte oft die Waͤrterinnen, und suchte ein Werk- zeug, um sich zu ermorden. Ich habe ihm den Dolch in's Herz gestoßen, das Blut floß strom- weiße von seinem Sarg herab, rief sie immer, ich habe den schrecklichsten Tod verdient, ihr muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie- fern! Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch wirklich zu diesem Mittel schreiten, und ihre Haͤnde fesseln, denn sie hatte sich einigemal schon selbst erdrosseln wollen. Sie hoften noch immer sehnlich auf Besserung, als sie nicht erfolgte, holten sie auf ihre Unkosten einen beruͤhmten Arzt. Er konnte in ihren Umstaͤnden wenig zu ihrer Lin- derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei- tragen, doch behauptete er, daß es sich mit ihrer Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von selbst bessern werde. Ehe diese Stunde ganz nahte, duldete die arme Wahnsinnige schreckliche Mar- tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte sie jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke. Oft stand sie vor ihren Richtern, bekannte mit ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte sich endlich selbst als Vatermoͤrderin an; sie ließ den Stab uͤber sich brechen, ward zum Schwerte verurtheilt, und hoͤrte ihr Urtheil mit Standhaf- tigkeit an. Aeußerst ruͤhrend und traurig war es fuͤr die Waͤrterinnen, wenn sie sich durch Huͤlfe ihres Wahnsinns nach dem Rabenstein fuͤhren ließ, sie wurde dann vergnuͤgt und froh, versoͤhnte sich innig mit Gott, sprach mit den Anwesenden ernstlich, und warnte jedes Maͤdchen mit den nachdruͤcklichsten Worten vor Verfuͤhrung und Ver- lust der Unschuld. Eine lange, anhaltende Ohn- macht, in welcher sie sich hingerichtet waͤhnte, endete dann immer die schreckliche Szene, welche sie stets mehr und mehr entkraͤftete. Niemand hofte auf gluͤckliche Entbindung, jeder weissagte ihr im Voraus mit dieser das Ende ihrer Leiden; endlich nahten sich ihre Schmerzen, sie waren der armen Wahnsinnigen neue, noch nie gefuͤhlte Em- pfindungen, ihre Einbildungskraft waͤhnte, daß sie am Hochgericht stehe, und mit gluͤhenden Zangen gezwickt werde. Sie flehte oft ihre Hen- ker um Barmherzigkeit an, und nannte sie un- menschliche Barbaren. Nach vier und zwanzig- stuͤndigem Leiden gebahr sie, zum Erstaunen aller Anwesenden, ein gesundes, wohlgestaltes Maͤd- chen; die Aenderung, welche der verstaͤndige Arzt prophezeiht hatte, erfolgte schnell. Alle Anwesen- de jubelten und frohlockten, als sie ihr Schmer- zenskind forderte, und es mit allen Beweisen der reinsten Zaͤrtlichkeit einer Mutter an ihr Herz druͤckte, sie war aͤußerst schwach, aber bei voll- kommnem Verstande, sie beantwortete jede Frage richtig, und schien sich des Todes ihres Vaters gar nicht mehr zu erinnern, sie beschaͤftigte sich stets mit ihrem Kinde, und laͤchelte wonnevoll, wenn sie es anblicken konnte. Auf diese Art durchlebte sie zwei gluͤckliche Tage, die Taufe des Kindes war fuͤr die ganze Gemeinde ein Fest, alle Hausvaͤter und Muͤtter standen ihm zu Ge- vatter, und erneuerten den Bund, Mutter und Kind bis an ihren Tod zu ernaͤhren. Man hatte das Maͤdchen in der Taufe Wilhelmine genannt, als man es der Mutter erzaͤhlte, forschte sie so- gleich nach Briefen von ihrem Wilhelm, da man ihr keine bringen konnte, so weinte sie den ganzen Abend, und nannte ihr Kind eine vaterlose Wai- se. In der folgenden Nacht schlief sie ruhig, sprach aber am andern Morgen schon wieder irre, dann und wann blickte, gleich der untergehenden Sonne, ihr Verstand noch empor, aber bald sank er, gleich dieser, in die Dunkelheit hinab, und gieng nie mehr auf. Ihr Wahnsinn hatte sich auf die gluͤcklichste Art geaͤndert, sie waͤhnte mit ihrem Kinde im Himmel zu seyn, und glaubte alle Freuden desselben zu genießen. Sie sprach taͤglich mit Gott und seinen Engeln, ihre Einbil- dungskraft verwandelte einen Trunk frisches Was- ser in Nektar, und ein Stuͤckchen Brod in Him- melsmanna. Die Gemeinde, welche noch immer auf Rettung hofte, brauchte den Arzt auf's neue, aber er erklaͤrte ihren Wahnsinn sogleich fuͤr un- heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un- gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren Wahnsinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe genoß, ward bald gesund, ihre Wangen roͤtheten sich auf's neue, sie war reizender und schoͤner als in den Tagen ihrer Unschuld. Sie liebte ihr Kind mit seltener Zaͤrtlichkeit, sie wartete und pflegte es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung nach, die Engel, aber sie wich doch nie von sei- ner Wiege, und beobachtete stets die kleinste Be- wegung desselben. Ihre unnatuͤrlichen Schwestern besuchten sie nie mehr, sie theilten die ganze Erb- schaft unter sich, und die redliche Gemeinde hin- derte es nicht, weil die Glieder derselben glaub- ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge- luͤbdes aͤhnlich saͤhe, durch welches sie sich ver- bunden hatten, Lottchen sammt ihrem Kinde zu ernaͤhren. Aber der gewissenhafte Superintendent duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß- ne, die Gerechtigkeit entschied, und Lottchen er- hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es ward den Vorstehern der großmuͤthigen Gemeinde zur Verwaltung uͤbergeben, weil sie einstimmig erklaͤrten, daß sie ihr einmal angenommenes Pfle- gekind nicht aus ihrer Mitte lassen wollten. Das ganze Erbtheil bestand in eilfhundert Thalern, sie legten diese auf sichere Zinsen, machten diese im- mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen aus Eigenem, damit ihr unschuldiges Kind einst eine Summe erbe, mit welcher es sich gut und redlich ernaͤhren koͤnne. Lottchen lebte beinahe stets im Ueberflusse, alles, was sonst die Hausmuͤtter als einen Lecker- bissen fuͤr ihr kuͤnftiges Kindsbette aufbewahrten, trugen sie jetzt mit willigem Herzen auf die Schu- le, und weinten innig, wenn ihr wahnsinniges Pflegekind sie fuͤr Engel ansah, und mit ihnen von den seligen Freuden des Himmels sprach. Der neue Pfarrer war ein wahrer Menschen- freund, er nahm warmen Antheil an Lottchens Schicksale, ermahnte seine Gemeinde oft zur Aus- dauer in ihrer wohlthaͤtigen Handlung, und fachte dadurch ihren Eifer auf's neue an. Lottchen be- hauptete, daß die weisse Farbe die Kleidung der Engel sei, und wollte kein anderes Kleid anzie- hen, auch ihr Kind in keinem anderen sehen. Es ward daher im Dorfe bald zum unverbruͤchlichen Gesetze, daß jede Dirne am Abend, wenn die Hausmutter Feierabend gebot, noch eine halbe Stunde laͤnger fuͤr Lottchen spinnen mußte, damit sie nie Mangel an Leinewand haben sollte. Oft leuchtete um Mitternacht noch am Fenster der fleißigen Dirnen das Laͤmpchen, und wenn der Wanderer nach der Ursache forschte, so ward ihm zur Antwort, daß die Dirne am Engelskleid spinne. Vier Jahre waren nun in Drangsalen des Krieges verflossen, immer war das Dorf vor Ver- heerung geschuͤtzt geblieben, rings umher hatten die Feinde fuͤrchterlich gewuͤthet, vor diesem waren sie schonend voruͤber gezogen. Jedermann glaub- te, daß das Gebet des Engels, so nannte man durchgehends Lottchen, diese gluͤckliche Wirkung hervor gebracht haͤtte, man schaͤtzte und liebte sie deswegen immer staͤrker. Lottchen lebte diese Zeit hindurch mit ihrem Kinde, das gesund und mun- ter heran wuchs, in ihrem seligen Zustande froh und zufrieden. Wilhelm hatte einigemal geschrie- ben, ihr seine Gesundheit und ewige Fortdauer der zaͤrtlichsten Liebe berichtet. Man hofte bei Empfang des ersten Briefes auch große und gluͤck- liche Wirkung, aber man betrog sich, die un- gluͤckliche Wahnsinnige waͤhnte, daß Wilhelm sie durch seinen Brief aus dem Himmel zu locken suche, und sie bestand fest darauf, daß sie, der irrdischen Leiden muͤde, diesen nie mehr verlassen wolle. Das war die ganze Antwort, welche man von ihr erhielt, die sie endlich auch schriftlich gab, als der Pfarrer sie forderte. Dieser beant- wortete nun jeden Brief des armen Wilhelms, und schilderte ihm allemal den ungluͤcklichen Zu- stand seiner Geliebten; aber, war's Zufall oder Schickung, Wilhelm erhielt diese Antwort nie, er flehte in jedem neuen Briefe um Antwort, und bat am Ende diejenigen, welche seine Briefe etwann erbraͤchen, nur um Nachricht von des geliebten Lottchens Leben oder Tod. Wahrschein- lich war der Krieg selbst Schuld am Verluste der Briefe, Wilhelms Regiment, das bei jeder Gelegenheit sehr brav that, stand immer im An- gesichte des Feindes, und wenn die Antwort am bestimmten Orte auch eintraf, so war oft Wil- helm meilenweit davon entfernt. Endlich erhoͤrte Gott das Flehen der Millionen seiner Glaͤubigen und schenkte Deutschland den Frieden. Wilhelm schrieb, daß er als Wacht- meister seinen Abschied erhalten, sich ein kleines Kapital erworben, und nun komme, um sein Lott- chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu ster- ben. Eben gieng der Pfarrer des Orts mit Lott- chen und ihrer kleinen Wilhelmine in seinem Gar- ten spazieren, als ein junger schoͤner Mann in hastiger Eile die Gartenthuͤre oͤffnete, und mit off- nen Armen auf Lottchen zueilte. Es war Wil- helm, Lottchen erkannte ihn sogleich, schrie fuͤrch- terlich um Huͤlfe, nahm ihr Kind auf den Arm und entfloh in schnellster Eile. Wilhelm stand angewurzelt am Boden, solch einen Empfang hatte seine heiße Liebe sich nie gedacht, ihr Grabhuͤgel wuͤrde ihn nicht so sehr erschreckt, nicht so aller Fassung beraubt haben. Dies hat- te er laͤngst vermuthet, aber jenes nie denken koͤnnen, nie denken wollen. Der Gedanke, daß Lottchen verheirathet, und wahrscheinlich dies ihr Mann sei, bemaͤchtigte sich jetzt seiner Seele, und nagte geierartig an seinem Herzen. Der Pfarrer, welcher sich nun mit ihm in's Gespraͤch einließ, brauchte Muth und Staͤrke, um ihn vom Gegen- theile zu uͤberzeugen, und nach und nach zur Er- zaͤhlung von Lottchens ungluͤcklichem Schicksale vorzubereiten. Wilhelm jammerte schrecklich, als ihm die Erzaͤhlung ihrer Leiden ward, er bestand hartnaͤckig darauf, daß ihn der Pfarrer nach der Schule fuͤhren sollte. Er hofte, wenigstens mit ihr sprechen zu koͤnnen, und wollte nur sein Kind sehen, und segnen. Als der Pfarrer endlich seiner dringenden Bitte nachgab, und mit ihm nach der Schule gieng, sahen sie Lottchen am obern Fen- ster stehen, und aͤngstlich umherblicken. Der Pfarrer bewog Wilhelmen zum Stillstande, ihr suchender Blick fand sie bald, sie starrte den hof- fenden Wilhelm an; endlich laͤchelte sie freund- lich und winkte ihn naͤher, wie er aber unaufhalt- sam nach der Thuͤre rannte, da schrie sie auf's neue erbaͤrmlich um Huͤlfe. Ihre Thuͤre war fest verriegelt, Wilhelm konnte sie nicht oͤffnen, ihr anhaltendes Jammergeschrei bewog ihn endlich selbst abzulassen, weil der Pfarrer ihm nebenbei dringend vorstellte, daß weitere Gewalt sie zur Raserei verleiten koͤnne. Ihr klaͤgliches Geschrei nach Huͤlfe hatte viele Bewohner des Dorfs her- beigelockt, sie fanden den ungluͤcklichen Wilhelm und bewillkommten ihn mit nassen Augen. Waͤ- ren sie fruͤher gekommen, sagte ein altes Muͤtter- chen, dann haͤtte ich noch einmal auf ihrer Hoch- zeit getanzt, aber jetzt werden wir wohl nur mit- einander weinen koͤnnen. Da Lottchen immer noch erbaͤrmlich schrie, so suchten sie alle Gegen- waͤrtige zu beruhigen, aber sie schwieg nicht eher stille, als bis Wilhelm sich entfernte. Einige Bewohner des Dorfs fuͤhrten ihn, er weinte schrecklich, und rang seine Haͤnde fuͤrchterlich, Lottchen blickte mitleidig zum Fenster herab. War- um weint er denn? fragte sie endlich. Der Pfarrer . Weil Sie ihn nicht sehen, nicht sprechen wollen. Lottchen. (aͤngstlich) Wie kann ich denn? Wenn er mir zu nahe kommt, so traͤgt er mich aus dem Himmel wieder in die Welt hinab, und da muß ich wieder auf's neue leiden! O dahin mag ich nicht mehr! Nein! Nein! da- hin gehe ich nicht. Wilhelm. (schluchzend) Unvergeßliche! Mir ewig Theure! Ich will dir deinen Himmel, so schrecklich er mir auch ist, nicht rauben! Ich will dich nur sehen, nur mein Kind segnen. Lottchen. (hebt Wilhelminen am Fenster in die Hoͤhe) Siehst du es nun? Ist's nicht ein schoͤner Engel? O, es hat mir graͤßliche Schmerzen gekostet, aber nun ist's auch meine einzige Freude. Wilhelm. (ausser sich) Erbarme dich! Erbarme dich meiner! Erlaube, daß ich mich dir naͤhern, daß ich mein Kind kuͤssen darf. Lottchen. (aͤngstlich) Nein! Nein! Haltet ihn, laßt ihn nicht loß! (zum Kinde) Siehst du, dies dort war auf der Welt dein Vater. Das Kind. (freudig in die Haͤnde klo- pfend) Mein Vater! Mein Vater! Ach, wie freue ich mich, daß ich nun auch einen Vater habe! (hinab rufend) Lieber Vater, komm herauf zu uns, damit ich dich herzen kann. Wilhelm. (mit innigstem Gefuͤhle) Engel, theures, liebes Kind, bitte deine Mutter, daß sie es erlaubt, vielleicht ruͤhrt deine bekannte Stimme ihr Herz. Das Kind. (die Haͤnde aufhebend) Bitte! bitte, liebe Mutter, erlauben Sie, daß der liebe Vater herauf kommen darf. Lottchen . Nein! Nein! du verstehst es nicht, er will uns aus dem Himmel entfuͤhren! Sie hob das Kind schnell hinab, und verschloß das Fenster, doch sahen sie bald alle auf's neue hinter diesem stehen, und mitleidig auf den jam- mernden Wilhelm herabblicken. Sein Zustand war wirklich schrecklich und erbarmungswuͤrdig, er fand die Geliebte seines Herzens wieder, er sah sie in bluͤhender Schoͤnheit vor sich stehen, er fuͤhl- te die heisseste, innigste Sehnsucht nach ihr, und durfte sich ihr nicht naͤhern, konnte nicht einmal das Kind kuͤssen, welches sie ihm gebahr. Mit vieler Muͤhe, und nur mit der Versicherung, daß es ihm morgen vielleicht besser gelingen wuͤrde, folgte er endlich seinen Begleitern nach dem Pfarrhofe, Lottchen oͤffnete sogleich ihr Fenster, und blickte ihm unverwandt nach. Sie stand am andern Tage fruͤher als gewoͤhnlich auf, sie putzte sich und ihr Kind mit auffallendem Fleiße, und trat mit ihm an's Fenster; als bald darauf der ungluͤckliche Wilhelm vom Pfarrhofe herabeilte, aͤusserte sie die groͤßte Freude, wie er sich ihr aber ganz nahen wollte, da begann ihr Jammer- geschrei von neuem. Alle Versuche, die Wilhelm und seine Freunde in der Folge anwandten, um Lottchen von ihrem Irrwahne zu uͤberzeugen, waren vergebens, die Idee, daß er sie aus dem Himmel entfuͤhren wol- le, war zu tief in ihrer Seele eingewurzelt, sie nahm jeden Versuch als eine Folge derselben, und ward daher immer mehr darinne bestaͤrkt. Sie weinte, wenn Wilhelm nicht um die gewoͤhnliche Zeit erschien, sie sprach oft vom Fenster herab freundlich und lange mit ihm, erinnerte ihn an vergangene Dinge, erzaͤhlte, wie sie sich in seinen Armen gluͤcklich geduͤnkt haͤtte, nun aber im Him- mel noch weit gluͤcklicher sei, sie ermahnte ihn zur Nachfolge, und versprach, ihn mit offnen Armen zu empfangen. Diese Versicherung bewog den Pfarrer zu einer List; er uͤberredete Wilhelmen, einige Tage nicht an Lottchen's Fenster zu erschei- nen, und brachte dieser die Nachricht, daß er ge- faͤhrlich krank sei, und ganz gewiß sterben werde. Sie hoͤrte diese Trauerpost ruhig an, und aͤusserte am Ende die groͤßte Freude daruͤber. Dein Vater, sprach sie zu Wilhelminen, wird naͤchstens zu uns kommen, und bei uns wohnen, wir muͤssen uns auf seinen Empfang vorbereiten. Sie war nun aͤusserst geschaͤftig, putzte sich und ihr Kind auf's schoͤnste, raͤumte alles im Zimmer auf, und ließ wider ihre Gewohnheit die Thuͤre desselben offen. Diese Vorbereitung gab Hofnung zum gluͤcklich- sten Erfolge, der daruͤber entzuͤckte und ungedul- dige Wilhelm starb noch am nemlichen Abende, und der Pfarrer benachrichtigte sie davon. So kann ich ihn also mit jedem Augenblicke erwarten, sprach sie frohlockend, und trat an's Fenster. Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Gesinnungen, er trat, wie's verabredet war, in einem weissen Kleide aus dem Pfarrhofe, und naͤherte sich der Schule. Lottchen aͤusserte bei seinem Anblicke die groͤßte Freude, wie er aber naͤher kam, ward sie unruhig, und schrie erbaͤrmlich, als er den ge- woͤhnlichen Platz uͤberschreiten wollte. Es ist schaͤndlicher Betrug, schrie sie, er lebt noch, er ist nicht todt, er hat noch seinen Koͤrper wie vor- her! Vergebens muͤhte sich der Pfarrer, sie eines andern zu uͤberreden, er bewieß, daß sie auch noch einen Koͤrper habe, und doch im Himmel wohne, aber sie behauptete das Gegentheil, und suchte zu beweisen, daß seine bloͤden, irrdischen Augen so etwas nicht unterscheiden koͤnnten. Er durfte es nicht hindern, als sie die Thuͤre versperrte, und sie diesen Abend niemanden mehr oͤffnete. So viele, vergebne Versuche erschoͤpften die Hofnung des liebenden Juͤnglings, er uͤberließ sich ganz dem Kummer und Grame, der nach ei- nigen Wochen sichtbar an seiner schoͤnen Gestalt nagte. Er uͤbergab sein kleines Kapital dem Pfar- rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei Jah- re, welches die hoͤchste Dauer seines ungluͤcklichen Lebens seyn wuͤrde, dafuͤr ernaͤhren solle. Der menschenfreundliche Pfarrer legte es in sein Pult, versprach ihm Kost und Wohnung, und versicherte ihn nebenbei, daß diese Summe, wenn Gott fruͤh oder spaͤt sein Leiden ende, das Erbtheil seines Kindes werden solle. Dieses nur einmal in der Naͤhe zu sehen, nur einmal zu kuͤssen, war jetzt der einzige Wunsch des armen Wilhelms, aber auch diesen versagte ihm das harte Schicksal, denn die Mutter bewachte es mit groͤßter Sorgfalt und Mißtrauen, und ließ es nie unter der Aufsicht ei- nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die kleine Wilhelmine im Naͤhen und Stricken, im Lesen und Schreiben, auch in der Religion, und in dieser letztern so aͤcht und rein, daß der streng- ste Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und doch war und blieb sie wahnsinnig. Wilhelm erschien jetzt jeden Morgen wieder re- gelmaͤßig am Fenster seines Lottchens, sie erwartete ihn ihn stets, und sprach liebreich mit ihm. Wenn sich dann, was gewoͤhnlich nach einer kleinen Vier- telstunde geschah, ihr Himmel wieder schloß, so eilte er in's Freie, irrte in Feldern herum, kam selten zum Mittagsmale nach Hause, stand aber richtig am Abende am Ufer des Baches, welcher das Dorf durchfloß. Lottchen gieng dann immer am gegenseitigen Ufer spazieren, und sprach ohne Furcht mit ihm, weil sie waͤhnte, daß der Bach die Graͤnze zwischen Himmel und Erde sei. Einst wagte es Wilhelm, und sprang hinuͤber, als er, von innerm Gefuͤhle hingerissen, seiner Leidenschaft nicht mehr gebieten konnte. Lottchen sank ohn- maͤchtig zu Boden, und erwachte mit einer fuͤrch- terlichen Raserei, die sich aber schon am dritten Tage, und, was Wilhelmen noch am gluͤcklich- sten duͤnkte, mit gaͤnzlicher Vergessenheit seiner Kuͤhnheit endigte. Sie sah, und sprach ihn, wie ehe und zuvor, und gedachte derselben nie. Wilhelm versank binnen Jahresfrist in eine tiefe, finstere Melancholie, die nahe an Wahn- sinn graͤnzte, er sprach oft den ganzen Tag kein Wort, wandelte am liebsten unter den Graͤbern des Kirchhofs umher, ruhte oft auf seinen Leichen- steinen, versaͤumte aber nie die Zeit, wenn er sein Lottchen sehen konnte. Beide sprachen jetzt wenig, blickten nur still einander an, und kehrten dann wieder heim. Im spaͤten Sommer des folgenden Erst. Baͤndch. G Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag sprachlos auf seinem Lager; wie es sich wieder mit ihm besserte, und der Pfarrer ihn am folgen- den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er nicht uͤber die Bruͤcke gehen, welche uͤber den Bach fuͤhrte. Er behauptete kuͤhn, daß er von Gott wegen Lottchens Verfuͤhrung in die Hoͤlle verur- theilt sei, und nicht den Bach uͤberschreiten duͤrfe, der die Graͤnze zwischen dieser und dem Himmel bezeichne. Alle Beweisgruͤnde waren fruchtlos, und der Pfarrer sah klar ein, daß Wilhelms Ver- stand nun auch verlohren sei. Er aͤusserte uͤbri- gens nur in diesem einzigen Punkte Wahnsinn, in allen andern Vorfaͤllen handelte er stets klug und vernuͤnftig, doch sprach er, wie vorher, sehr wenig, wollte nie zu Hause weilen, und gieng immer im Freien umher. Nie uͤberschritt er aber den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er harrte ihrer dort taͤglich, und sie kam allemal zu ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf seinen Wanderungen einen Dornstrauch fand, so hob er ihn stets auf, und trug ihn tagelang auf seinem Ruͤcken. So lange ich, sprach er dann zu denjenigen, welche nach der Ursache fragten, die- sen Dorn auf meinem Ruͤcken trage, kann sich ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden, setzte er seufzend hinzu, thun weh, sehr weh! Im Fruͤhjahre, als der Schnee schmolz, und der Bach reißend und schnell durch das Dorf stroͤmte, vermißte man Wilhelm und Lottchen an einem Tage. Alle Bewohner irrten suchend herum, und konnten sie nicht finden. Einige Voruͤberge- hende hatten beide noch vor kurzem an dem Bache stehend gesehen, beide blickten, nach ihrer Ver- sicherung, sich sehnsuchtsvoll an, und winkten ein- ander unaufhoͤrlich. Erst als der Bach am drit- ten Tage in seine Ufer zuruͤcktrat, fand man die Ungluͤcklichen auf einer uͤberschwemmten Wiese, sie hielten einander fest umschlungen, und schienen auch noch im Tode die Wonne der Wiedervereini- gung zu fuͤhlen, denn sie laͤchelten beide, und widerlegten den Satz, daß der Tod bitter schmecke. Wahrscheinlich hatte die Sehnsucht, welche beide so oft nach einer Umarmung aͤusserten, die Wirkung ihres Wahnsinns uͤberwunden, wahr- scheinlich waren sie, vom innern Gefuͤhle hinge- rissen, einander durch's Wasser entgegengeeilt, und durch die Gewalt desselben fortgerissen wor- den. Zum groͤßten Gluͤcke hatte Lottchen ihr Kind nicht mit sich genommen, es lag eben an den Blattern krank, sonst wuͤrde dies wahrscheinlich auch ein Opfer des Todes geworden seyn. Alle angewandte Huͤlfe war vergebens, keine Arzenei konnte sie wieder erwecken. Sie wurden an einem Tage, und in einem Grabe beerdigt, das ganze Dorf folgte ihrer Leiche, und beweinte G 2 ihren Tod. Alle Juͤnglinge und Maͤdchen trugen ihrem Andenken zu Ehren Trauerkleider, und be- traten unter dieser Zeit nie den Tanzboden. Der Pfarrer zierte ihre Ruhestaͤtte mit einem weißen, einfachen Steine, worauf die Worte stehen: Himmel und Hoͤlle trennte, aber der Tod vereinigt sie ! — — Wenn man jetzt diese Schrift lesen will, so muß man sich durch eine dichte Rosenhecke hindurch draͤngen, welche die Jungfrauen des Dorfs dahin pflanzten, und immer noch mit gleicher Sorgfalt pflegen. Wilhelmine, die Frucht ihrer ungluͤcklichen Liebe, ward von dem Pfarrer des Orts, welcher nie heirathete, zu seinem Kinde angenommen, und mit einer Sorgfalt erzogen, die sein Anden- ken noch im Grabe ehrt. Ich sah sie vor unge- faͤhr zehn Jahren, sie war damals schon lange die Gattin eines Gerichtsverwalters, der sie innig und zaͤrtlich zu lieben schien. Ihre vielen und herrlichen Kenntnisse, ihr sanfter, liebenswuͤrdiger Karakter hatten ihr die Bewunderung und Hoch- achtung der ganzen Gegend erworben. Sie war noch sehr schoͤn, aber auf ihrer Stirne ruhten Kennzeichen innerer Schwermuth, welche das sanfte Laͤcheln ihres Mundes nicht wegzuwischen vermochte. Ihr Gatte versicherte mich, daß er sehr gluͤcklich mit ihr lebe, sich aber huͤten muͤsse, sie nur mit unbedeutenden Worten zu kraͤnken weil ihre allzu reizbare Seele alsdann anhaltend leide, und vielen Hang zur Melancholie verrathe. Jakob W***r. I m angenehmen Zillerthale der Grafschaft Ti- rol lebte vor ungefaͤhr fuͤnfzehn Jahren Jakob W — r, ein feuriger, muthiger und schoͤner Juͤngling. Sein Vater hatte ihm ein nicht allzu geringes Vermoͤgen hinterlassen, welches er durch kluge und nuͤtzliche Spekulation zu vermehren suchte. Da er nur baares Geld und keine Grundstuͤcke besaß, so pachtete er den graͤflich- F — schen Maier- hof, und ward bald in der ganzen Gegend als der beste und kluͤgste Oekonom bekannt. Wenn er daheim war, so beschaͤftigte er sich mit seinem Viehe, Wiesen und Aeckern, suchte jedes dersel- ben zu verbessern, und war immer gluͤcklich ge- nug, seine Absicht geschwind zu erreichen, wenn's aber zu Hause — was oͤfters geschah — an haͤu- figer Beschaͤftigung mangelte, so zog er gerne uͤber's Feld, war bei jedem Freischießen, bei den meisten laͤndlichen Gelagen zugegen, und behaup- tete auch auf beiden den ersten Rang, selten fehl- te er den Mittelpunkt der Scheibe, selten uͤber- traf ihn ein Taͤnzer, selten gewann ein ande- rer, wenn er sich unter den Kegel- und Karten- spielern befand. Alle diese kleinen Ausschweifun- gen, welche dem Landwirthe sonst immer nachthei- lig, oft schaͤdlich sind, waren fuͤr ihn gerade das Gegentheil, er blieb als Schuͤtze, Taͤnzer und Spieler immer noch der spekulirende Oekonom, er benutzte jeden Zwischenraum, kaufte, verkauf- te, forschte und fragte stets mit Vortheil, weil gute Gesellschaft und Gelegenheit zur Freude das Herz des Verkaͤufers und Befragten geoͤffnet hat- te, beide aufrichtiger und williger machte, man- chem kleinen Gewinne zu entsagen, auf welchem sie bei anderer Gelegenheit fest bestanden waͤren. Uebrigens ward er durch Erfahrung uͤberzeugt, daß auch in seiner Abwesenheit jeder Auftrag da- heim puͤnktlich erfuͤllt, sein Nutzen auf alle moͤg- liche Art befoͤrdert wuͤrde, den er hatte treues Gesinde, und uͤber dies eine Haushaͤlterin, die eben so klug wie er, uͤberall umher blickte, und auf der Stelle nachholte, was etwan durch Zu- fall oder Mangel an Einsicht war vernachlaͤssigt worden. Diese Haushaͤlterin war die Tochter ei- nes sehr armen Mannes, noch jung, sehr schoͤn, und gegen jedermann aͤußerst gefaͤllig und freund- lich; ein listiger junger Bergknappe hatte ihr eini- ge Jahre zuvor die Heirath versprochen, und sie durch die heiligsten Schwuͤre um ihre Unschuld be- trogen. Wie sie sich schwanger fuͤhlte, verließ er sie schaͤndlich, und heirathete eine andere. Der ungluͤckliche Beweis ihrer Schande starb bald nach der Geburt, und machte die Mutter faͤhig, wie der Dienste suchen zu koͤnnen, sie fand ihn bei dem jungen Jakob, welcher bald ihre Faͤhigkeiten erkannte, und mit vollem Vertrauen lohnte. Als sie durch zwei Jahre seine Wirthschaft mit einer seltenen Treue und Emsigkeit gefuͤhrt hatte, und wahren Anspruch auf Jakobs Dankbarkeit machen konnte, ward der muntere, froͤhliche Juͤng- ling auf einmal tiefsinnig und traͤge. Er besuchte kein Freudenfest mehr, er arbeitete daheim wenig, saß immer traurig in der Stube, und blickte mit nassem Auge seine Haushaͤlterin an, wenn diese liebreich und theilnehmend nach der Ursache seines Kummers forschte. Heftige, nagende Liebe be- maͤchtigte sich nach und nach seines Herzens; die schoͤne Marie — so nannte sich seine Haushaͤlte- rin — hatte durch ihre gute Wirthschaft, durch ihre Treue und Ordnung schon lange seine Dank- barkeit erregt, ihre schoͤne reizende Gestalt hatte diese Dankbarkeit endlich in Liebe verwandelt, die nun mit Ungestuͤm die Befriedigung ihrer Wuͤnsche forderte. Jakob war schon vier und zwanzig Jahre alt, und folglich in einem Alter, das ihm vollkommne Gewalt gab, eine Gattin nach seinem Herzen zu waͤhlen; aber er hatte Bruͤder, welche noch stets ein vaͤterliches Ansehen uͤber ihn behaupteten, er hatte Schwe- stern, welche schon mit den reichsten und angese- hensten Maͤnnern im Thale verheurathet waren, er hatte Vettern und Freunde, welche wirklich in Diensten des Monarchen standen; er war uͤber- zeugt, daß er diese alle kraͤnken und beleidigen wuͤrde, wenn er eine arme gefallne Magd zu sei- nem Weibe waͤhlte, da er doch ohne Scheu unter den reichsten und schoͤnsten Toͤchtern des Thals waͤhlen konnte. Diese Betrachtungen, die oft ta- gelang seinen Verstand beschaͤftigten, waren die Ursache seiner Trauer, seines Tiefsinns, er sah die Wichtigkeit derselben ein, aber er konnte auch eben so wenig dem immer staͤrkern Eindrucke wi- derstehen, den Mariens Schoͤnheit und ihre guten Eigenschaften auf sein Herz machten. Er kaͤmpf- te einige Monate vergebens, wie aber seine Lei- denschaft sich immer mehrte, ihm in die Zukunft nur martervolle Tage und graͤßliches Leiden ver- kuͤndigte, so sprach er offen mit der schoͤnen Ma- rie, gestand ihr seine Liebe, und fand sie willig, diese im vollen Maaße zu erwiedern, wenn an- ders seine Geschwister und Anverwandten sie billi- gen wuͤrden. Doch da ich, setzte sie traurig und standhaft hinzu, von der Weigerung aller im Voraus uͤberzeugt bin, da ich gewiß weis, daß sie mit groͤßtem Widerwillen eine arme gefallne Magd in der Mitte ihrer Familie sehen wuͤrden, so bitte und beschwoͤre ich dich, dein Vorhaben aufzugeben, und der Liebe zu einer Ungluͤcklichen zu entsagen. Ich will mir einen andern Dienst suchen, Abwesenheit wird leicht den Eindruck loͤ- schen, welchen meine geringen Eigenschaften auf dein Herz machten. Bedenke, daß ich dir gar nichts, nicht einmal meine Unschuld zur Mitgift bringen kann, selbst dieser Gedanke wuͤrde dich einst quaͤlen, wenn die Freunde dich um meinet- willen verfolgten und haßten. Daß diese schoͤnen und wahren Gesinnungen gerade das Gegentheil wirkten, den leidenden Juͤngling nur zur staͤrkern Liebe reizten, darf ich wohl nicht erst anfuͤhren, denn es waren Beweise des edlen Herzens seines Maͤdchens, und uͤberzeugten ihn, daß er mit ihr aͤuserst gluͤcklich und zufrieden leben wuͤrde. Um zu erfahren, wie seine Freunde seinen fe- sten Entschluß aufnehmen wuͤrden, vertraute er seine Absicht und innige Liebe einem guten Freun- de, der bei schicklicher Gelegenheit sie jenen vor- tragen, und ihre Gesinnungen daruͤber erforschen sollte, dieser versprach ihm Vorsicht und in jedem Falle offne Nachricht. Am andern Tage war eine Hochzeit im naͤchsten Dorfe, alle seine Verwandten und auch er wurde geladen, so gerne er daheim bei seiner Marie geblieben waͤre, mußte er Wohl- stands halber doch auch dabei erscheinen. Wie der Wein aller Herzen erfreute und oͤffnete, rufte ihn einer nach dem andern an's Fenster und mach- te ihm die bittersten Vorwuͤrfe uͤber seine niedrige, schandvolle Liebe, alle schlossen mit den Worten, daß sie ihn, wenn er die Magd heirathen wuͤrde, nie mehr fuͤr ihren Bruder, Vetter oder Schwa- ger erkennen, ihn und sie ewig hassen und verfol- gen wuͤrden. Jakob war, als er diese Vorwuͤrfe hoͤren mußte, schon ein wenig betrunken, aber doch bei voͤlligem Verstande, ihn schmerzten nicht die harten Worte seiner Anverwandten, denn er hatte sie vermuthet, ihn wunderte es aber um so mehr, wie es moͤglich sei, daß alle seine Absicht und Liebe wissen konnten, da er sie doch erst ge- stern einem einzigen Freunde vertraut hatte, der nicht gegenwaͤrtig war, und nach seiner Ueberzeu- gung noch mit keinem seiner Anverwandten hatte sprechen koͤnnen. Er aͤußerte seine Verwunderung daruͤber gegen viele anwesende junge Bursche, und behauptete, als er im Zorne noch mehr trank, daß hier der Teufel selbst die Hand im Spiele ha- ben muͤsse. Wie er ziemlich berauscht war, und eine lange Zeit einsam und tiefdenkend in einem Winkel geschmollt hatte, gieng er ohne Abschied fort. Am andern Tage suchte ihn einer seiner Knechte im Hochzeithause, wie er ihn dort nicht fand, so ward Sorge und Nachfrage um ihn lau- ter und aͤngstlicher, man durchsuchte das ganze Thal, und konnte ihn nirgends finden. Alle glaubten nun einstimmig, daß er in der Trun- kenheit den Weg verfehlt, und, da eben strenge Kaͤlte herrschte, sehr tiefer Schnee lag, in irgend einer verschneiten Kluft sein Leben beendet habe. Marie und sein ganzes Gesinde weinte laut um ihn, seine Freunde beklagten, und jeder, der ihn gekannt hatte, bedauerte ihn. Am siebenten Ta- ge nach seinem Verschwinden hatte schon einer sei- ner aͤltern Bruͤder die Wirthschaft uͤbernommen, er sandte einige Knechte nach den viele Stunden weit entlegenen Alpen, damit sie das dort in Schuppen aufbewahrte Heu auf Schlitten in's Thal herab fuͤhren sollten, sie mußten, um dahin zu gelangen, sich der gewoͤhnlichen Schneereife bedienen, sonst wuͤrden sie unterwegs oft im tie- fen Schnee versunken seyn. Wie sie am Schup- pen ankamen, wunderten sie sich, daß die ge- woͤhnliche Leiter, welche sonst allemal angelehnt lag, weggenommen war, sie erblickten sie endlich oben auf dem Boden, und mußten viele Muͤhe anwenden, um diese zu erklettern. Dieser Um- stand hatte Verdacht unter den Knechten erregt, sie vermutheten, daß vielleicht Wilddiebe im Heue verborgen laͤgen, und durchsuchten es mit Vor- sicht. Einer derselben rief erschrocken die andern herbei, weil er im Suchen einen Menschen beim Kopf gefaßt hatte, der jetzt laut seufzte; sie raͤumten vereint das Heu hinweg, und fanden zum groͤßten Erstaunen ihren Herrn, den jungen Jakob. Noch lebte und athmete er, aber er kannte keinen, oͤffnete mit Muͤhe die Augen, und schloß sie gleich wieder; er hielt beide Haͤnde auf seine Brust, und wollte diese Stellung durchaus nicht veraͤndern. Die Knechte verfertigten sogleich eine Trage, legten ihren Herrn darauf, und trugen ihn in den naͤchsten Berghof, der noch einige Stunden vom Thale entfernt lag, hier floͤßten sie ihm einige Loͤffel warme Suppe ein, die er nur mit vieler Weigerung annahm. Erst am andern Tage konn- ten sie ihn nach seiner Wohnung tragen, und ei- nen Wundarzt zur Huͤlfe herbeirufen. Er war aͤußerst schwach, als dieser ankam, wollte aber die Haͤnde nicht von der Brust weggeben; da der Arzt hier eine Wunde muthmaßte, so mußte er Gewalt brauchen, und zwei starke Knechte waren kaum maͤchtig genug, ihm die Haͤnde wegzuziehen. Man fand nicht die geringste Verwundung, wie man aber die Haͤnde frei ließ, so bedeckte der ar- me Jakob sogleich wieder seine Brust. Da man sicher vermuthete, daß er volle sieben Tage und Naͤchte im Heu versteckt lag, wahrscheinlich eben so lange hungerte und durstete, so zweifelte der Wundarzt an seinem Aufkommen, und die anwe- senden Freunde sandten nach einem Geistlichen. Wie dieser kam, und mit dem Kranken sprach, auch seine Beichte hoͤren wollte, so gab er frei- willig seine Haͤnde von der Brust weg, redete aber kein Wort, und bedeckte sie wieder sorgfaͤl- tig, als der Priester schied. Der Wundarzt be- handelte nun nach moͤglicher Einsicht den Kran- ken, er labte ihn vorsichtig; am achten Tage darauf konnte dieser schon das Bette verlassen, und in der Stube umherschleichen, aber er sprach unter dieser Zeit kein Wort, verkroch sich gerne in ei- nen Winkel, und gab seine Haͤnde nie von der Brust weg. Er aß und trank daher auch nicht in Gegenwart anderer, und wollten seine Freunde, daß er eine Speise genießen sollte, so mußten sie ihm solche entweder selbst reichen, oder sich alle aus dem Zimmer entfernen. Da er seinen Geschwistern, ob sie ihn gleich oft dringend baten, keine einzige Frage beantwor- tete, und diese nun wirklichen Wahnsinn argwohn- ten, so beschlossen sie, seine ehemalige Haushaͤl- terinn zu ihm zu senden, und zu versuchen: ob diese ihn nicht zu einer Antwort vermoͤgen koͤnne? Die arme Marie war sogleich, als Jakob ver- lohren gieng, aus dem Hause verstoßen worden, ein Bauer hatte sie aus Mitleid in die Herberge genommen, hier beweinte sie im Stillen ihr un- verdientes Ungluͤck, und weigerte sich anfangs, im Hofe zu erscheinen; wie sie aber die wahre Ur- sache und den Zustand ihres Geliebten erfuhr, so weigerte sie sich nicht laͤnger, und trat mit nassen Augen in die Stube, in welcher sie absichtlich den armen Jakob allein fand. Gruͤß dich Gott, lieber Jakob, sprach sie schluchzend, wo bist du Die Tiroler nennen jeden, auch den groͤßten Herrn Du . Ich fuͤhre dies blos deswegen hier an, damit man mich keiner Etiketssuͤnde beschuldige, wenn die Magd ihren Herrn Du nennt. denn so lange gewesen? Warum willst du denn nicht ordentlich mit den Leuten reden? Jakob sah sie lange schmachtend an, laͤchelte und schwieg. Marie . Willst du denn auch mit mir nicht reden? Jakob. (gab seine Haͤnde von der Brust weg, und blickte starr auf Ma- rien) Nun, freut es dich nicht? Marie . Was soll mich denn freuen? Daß du wieder sprichst? Ja wohl freut's mich. Jakob . Nein! Sieh nur her! ließ nur! Marie . Was soll ich denn lesen? Jakob . Daß ich dich immer noch von gan- zem Herzen liebe, und ewig lieben werde. Marie . Davon kann unter uns nicht mehr die Rede sein! Jakob. (traurig) Das weiß ich! Das weiß ich! Denn du wirst den ungluͤcklichsten al- ler Menschen wohl nicht mehr lieben koͤnnen; aber es muß dich doch freuen, daß du so deutlich von meiner Liebe uͤberzeugt bist. Vor dir verberge ich mein Herz nicht, du wirst immer alles Gutes darinnen lesen; (heimlich) aber vor meinen Bruͤdern und Schwestern muß ich's wohl verber- gen, denn sie wuͤrden mich noch mehr verfolgen, wenn sie so deutlich uͤberzeugt wuͤrden, daß ich sie von ganzem Herzen hasse. Marie. (mit Verwunderung) Wie sprichst du denn so albern? Wer wird denn in deinem Herzen lesen koͤnnen? Jakob . Das fragst du, da ich dich doch uͤberzeugt habe? — Ja, liebe Marie, ja! (seufzend ) Mit mir ist eine große Veraͤnde- rung vorgegangen! Wer haͤtte dies glauben sol- len? Wer haͤtte denken koͤnnen, daß es je moͤg- lich seyn wuͤrde? Und doch geschah's! Auf Vet- ter Michels Hochzeit, da wurde meine Brust zur Laterne! — — Ich habe freilich in meinem Le- ben oft und schwer gesuͤndigt, aber, lieber Gott im Himmel! (weinend) diese Strafe habe ich doch nicht verdient. Es ist schrecklich, uͤberlege es nur selbst, es ist schrecklich, wenn jeder Mensch mir nun ins Herz sehen, und meine geheim- sten Gedanken sogleich auf der Stelle entdecken kann. Marie . Lieber Jakob, was faͤllt dir denn ein? Du irrst dich ganz — — Jakob. (heftig) Ich mich irren, da ich dich und mich jeden Augenblick uͤberzeugen kann? (reißt seine Weste auf, und zeigt ihr die bloße Brust) Siehst du? Ist hier und hier nicht alles von Glas, so durchsichtig, als ob's Kristall waͤre? Siehst du mein Herz, und alle meine Gedanken darinne? Zweifelst du jetzt noch? Marie . Ich sehe nichts, ich schwoͤre dir's bei Gott und seiner heiligen Mutter, daß deine Brust keinem Glase aͤhnlich sieht, daß — — Jakob. (zornig) Falsche, Ungetreue! Ich sehe es schon, auch du hast dich mit meinen Feinden verschworen, willst mich hintergehen, und unter die Leute locken, damit alle, was ich denke, sehen und lesen koͤnnen. Aber du betruͤgst dich, ihr betruͤgt euch alle, ich werde doch die Stube nicht verlassen, mich nicht dem Gespoͤtte der Leute blos stellen. Geh fort, ich mag dich auch nicht mehr sehen. Marie. (weinend) Leb wohl! Gott schenke dir bald deinen Verstand wieder. Jakob . Verstand? Verstand? den hab ich vollkommen, sonst koͤnnte ich eure List nicht ein- sehen. — — Marie schied nun von ihm, und hinterbrachte seinen Anverwandten alles getreu, was sie mit ihm gesprochen hatte. Der Wundarzt, welcher auch zugegen war, benutzte diese Entdeckung auf der Stelle, er gieng zu Jakob, bedauerte seinen ungluͤcklichen Zustand, und stellte sich, als ob er vollkommen davon uͤberzeugt waͤre; dadurch ge- wann er sogleich das Vertrauen des Wahnsinni- gen, der nun zum erstenmal mit ihm sprach. Wundarzt . Mach dir nichts daraus, lie- ber Jakob, es ist nicht der erste Fall, der mir in meiner Praxis vorkommt, ich habe schon drei aͤhn- liche Kranke gehabt, und zwei davon gluͤcklich kurirt. Jakob . Ach, wenn das moͤglich waͤre! die Haͤlfte meines Vermoͤgens wollte ich dir schenken. Wundarzt . Ich nehme weniger, und ku- rire dich doch! Morgen fruͤh bringe ich dir ein großes, großes, dickes Pflaster, und lege es gerade uͤber das Glas, welches jetzt deine Brust ausmacht, die Leute koͤnnen dann nicht mehr hineinsehen, da- fuͤr stehe ich dir, und in fuͤnf, sechs Wochen wird wieder Fleisch daruͤber wachsen, und du ganz gesund werden. Jakob . Das gebe der liebe Gott! Bringe lieber das Pflaster sogleich, damit wir's versuchen koͤnnen: ob ich hoffen darf? Wundarzt . Das ist unmoͤglich, ich muß es vorher aus vielen Kraͤutern zusammenkochen, auch mußt du mir aufrichtig erzaͤhlen: wie nach und nach das Glas zum Vorschein gekommen ist, damit ich mich darnach richten kann? Jakob . Ach, lieber Gott, das geschah mit einmal schnell und ploͤtzlich! Wundarzt . Um so besser, dann koͤnnen wir auch eben so geschwinde Heilung hoffen. Jakob erzaͤhlte jetzt dem Wundarzte alles, was sich mit ihm auf der Hochzeit zugetragen hatte, wie alle seine Verwandten mit einmal sei- ne Liebe zu Marien entdeckten, und ihm bittre Vorwuͤrfe daruͤber machten. Dies, fuhr Jakob fort, erregte in mir die groͤßte Verwunderung, weil ich sie keinem entdeckt, keinem aus ihnen vertraut hatte, ich kannte dazumal meinen un- gluͤcklichen Zustand noch nicht, und gieng endlich aus Mißmuth nach Hause. Wie ich schon nahe Erst. Baͤndch. H an's Dorf kam, schlug die Glocke eilfe, und vom Kirchhofe herauf kam mir eine weisse Frau entge- gen. Mir kam's Grausen an, ich wollte aus- weichen, aber ehe ich's vermochte, stund die weis- se Frau schon vor mir. Es war meine verstorbne Mutter. Schaͤme dich, ungerathenes Kind, sprach sie zornig, willst du mir denn nichts als Schande machen? Du hast eine Brust von Glase, jeder- mann wird deine Gedanken lesen, und deiner spot- ten. Versteck dich! Versteck dich! rief sie noch dreimal aus, und verschwand. Ich war aus Schrecken vom Wege abgewichen, und lag im tie- fen Schnee. Als ich wieder denken konnte, un- tersuchte ich sogleich meine Brust, und fand sie leider mit einem hellen Glase uͤberzogen, ich rann- te sogleich auf und davon, kam bis auf die Alpen, und versteckte mich dort, dem Rath meiner Mut- ter zufolge, recht tief in's Heu. Wie lange ich eigentlich dort mag gelegen seyn, weiß ich selbst nicht. Anfangs war das Glas auf meiner Brust noch etwas weich, ich konnte es mit den Fingern biegen, nach und nach ward's immer haͤrter, jetzt gleicht's an Haͤrte und Klarheit dem reinsten Kri- stalle. Diese deutliche Erzaͤhlung belehrte den verstaͤn- digen Arzt, wie sich nach und nach Jakobs Wahn- sinn entwickelt und befestigt hatte. Hoffnungs- lose, wenigstens sehr gehinderte Liebe war ihr Ur- stoff, hatte ihn schon lange vorher traurig und melancholisch gemacht. Die starken und heftigen Vorwuͤrfe seiner Freunde hatten sein Herz gewal- tig erschuͤttert; es war so leicht zu begreifen, daß sein Freund, dem er Tags vorher seine Liebe ent- deckte, mit einem der Verwandten konnte gespro- chen, und dieser es den Uebrigen entdeckt haben, aber Jakobs Ueberlegungskraft war durch die bit- tern Vorwuͤrfe, durch die gaͤnzlich geraubte Hof- nung und endlich durch uͤbermaͤßigen Wein so ge- schwaͤcht worden, daß er Wunder ahndete, wo keines vorhanden war. Mit diesen Gedanken be- schaͤftigt gieng er nach Hause, wahrscheinlich be- taͤubte die Kaͤlte seine Sinne noch mehr, die Er- scheinung der Mutter war eine Frucht seiner erhitz- ten Einbildungskraft, und wenn es erwiesen ist, was die Aerzte behaupten, daß Wahnsinn nur durch Verletzung eines edlen Theils der koͤrperli- chen Maschine entstehen koͤnne, so ist hier Ursache genug vorhanden, sich diese Verletzung denken zu koͤnnen. Jakob sprang vom Wege ab, als er sei- ne Mutter vor sich stehen sah, wahrscheinlich blieb er lange sinnlos im Schnee liegen, wahrscheinlich verletzte die strenge Kaͤlte sein Nervensistem. Moͤglich, daß er, als er wieder erwachte, wirk- liches Eis auf seiner Brust erblickte, und dies fuͤr Glas ansah! — — Wenn ich diesen und aͤhnliche Faͤlle genau zergliedere, so muß ich allerdings mit Erstaunen gestehen, daß es aͤusserst leicht sei, die edelste Gabe des Schoͤpfers, den Verstand, zu H 2 verlieren! Jeder Mensch hat Leidenschaft, jede Leidenschaft tobt zuweilen, wie leicht stockt das dann immer laufende Rad unsrer Einbildungskraft, welches gleich einer Laterna magika die Bilder der Vergangenheit und Zukunft vor unserer Seele vor- uͤber dreht, und dann steht es da das Bild, wel- ches sie eben darstellte, weicht nicht mehr, be- schaͤftigt stets den Geist und verleitet ihn zum Wahnsinne. Am andern Morgen erschien der Wundarzt mit dem versprochnen Pflaster richtig bei dem armen Jakob, er harrte voll Vertrauen darauf, und freute sich innig, als jener ihn nun versicherte, daß man nicht mehr in sein Herz gucken, auch nicht den kleinsten Gedanken seiner Seele lesen koͤnne. Die unterrichteten Verwandten bestaͤtigten des Wundarztes Aussage, Jakob glaubte sie fest, und jeder hoffte jetzt mit Grunde, daß der Kranke vollkommen genesen werde. Wahrscheinlich wuͤrde diese Hofnung den gluͤcklichsten Erfolg gehabt ha- ben, wenn nicht ein Zufall sie auf immer ver- nichtet haͤtte. Jakob trug sein Pflaster schon volle zwei Wochen, und glaubte dem Arzte vollkommen, wenn dieser ihm beim Verbande versicherte, daß das Glas sich schon zu verlieren, und neues Fleisch zu wachsen beginne. Eben hatte ihn dieser kurz vorher mit dieser Versicherung abermals getroͤstet, als Jakobs Bruder aus dem Walde heim kam, und ihn traurig in einem Winkel sitzend fand. Was fehlt dir denn schon wieder? sprach der Bruder im nicht ganz bruͤderlichen Tone. Ich seh's schon, fuhr er fort, du denkst noch immer an deine Marie, und diese mußt du dir, wenn wir anders Bruͤder bleiben sollen, ganz aus dem Sinne schlagen! — Kaum hatte der unbesonnene Bruder diese Worte ausgesprochen, so sprang Ja- kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohlthaͤ- tige Pflaster von seiner Brust. Nun, rief er aus, bin ich vollkommen uͤberzeugt, daß dies Mittel auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer ungluͤck- lich, jedermann wird in mein Herz sehen, und meine Gedanken lesen koͤnnen. Von dieser Zeit an schien alle Huͤlfe verge- bens, und jede Hofnung, daß es sich wieder mit ihm bessern koͤnne, auf immer verlohren. Der Wundarzt konnte ihm in jedem Falle nichts mehr nuͤtzen, weil er alle Arzenei verschmaͤhte, sich vor jedem Fremden sorgfaͤltig versteckte, und nie die Stube mehr verließ. Er gedachte in der Folge seiner Marie aͤusserst selten, und vergaß sie bald ganz; sie ist jetzt mit einem reichen Bauer verheurathet, dessen Wirthschaft sie einige Jahre hindurch sehr gut fuͤhrte, und der ihr endlich zum Lohne seine Hand reichte. Durch volle vier Jahre war Jakob zu allem unfaͤhig, er stack stets im dunkelsten Winkel der Stube, sein Bruder, wel- cher an seiner Stelle den gepachteten Hof besorgte, konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener die Wirthschaft nicht so verstand, so wollte es mit dem Pachte auch nicht vorwaͤrts. Nach Verlauf dieser Zeit ward Jakob wieder leutseliger, die Idee seines Wahnsinnes blieb zwar fest, aber er sprach doch mit seinem Bruder, und sein kluger Rath nutzte ihm augenscheinlich. Im siebenten Jahre seines ungluͤcklichen Zustands bekam er eine leidenschaftliche Neigung zum Kartenspiele, er lockte bei jeder moͤglichen Gelegenheit die jungen Bursche in seine Stube, bedeckte sich mit einem dicken Leder seine Brust, und spielte mit ihnen. Sein Gluͤck, und vorzuͤglich seine Geschicklichkeit in jedem Spiele ward bald in der ganzen Gegend bekannt und bewundert. Augenzeugen versicherten mich, daß er stets gewann, nie verlohr, jedes neue Spiel sogleich vollkommen erlernte, und mit einer Aufmerksamkeit spielte, die unnachahmlich war. Er brachte es nachher in dieser Kunst so weit, daß er jedem, wenn die Karten gegeben waren, voraussagte, wie viel er Stiche machen, und wie viel er wuͤrde bezahlen muͤssen; da dieses immer richtig, auch wenn man neue Karten her- beiholte, eintraf, und alle Mitspieler jedesmal verlohren, so wollte am Ende niemand mehr mit ihm spielen, und sein thaͤtiger Geist mußte sich neue Beschaͤftigung suchen. Er fand sie bald in der Wirthschaft, und legte sich jetzt wieder aufs Studium dieser Kunst, mit einem Eifer, der nie ermuͤdete. Sein Bruder uͤberließ ihm aufs neue die ganze Leitung des Hofes, er fuͤhrte sie mit groͤßter Einsicht bis an seinen Tod, ob er gleich nie die Stube verließ, nie von seinem Wahnsinne befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden Acker, jede Wiese, er unterrichtete die Knechte genau, wie sie jenen pfluͤgen, und diese behan- deln sollten, und er fehlte in seinem Urtheile nie. Dieser oder jener Acker, sagte er oft zu den Knechten, muß links oder rechts von fruchtbarer Erde entbloͤßt seyn, ihr muͤßt ihn aufs neue uͤber- fuͤhren. Auf der obern Wiese werden sich sum- pfichte Flecke aͤußern, ihr muͤßt sie ableiten. Die Knechte erstaunten, wenn sie alles so fanden, und konnten nicht begreifen, wie ihr Herr, der doch nie die Stube verließ, so etwas wissen koͤn- ne. Er kannte alle Kuͤhe, er wußte genau: ob sie wenig, oder viel Milch gaben? Und er sah sie doch nie, außer wenn sie im Fruͤhjahre auf die Alpen, und im Herbste wieder zuruͤck vor sei- nem Fenster vorbei getrieben wurden. Er waͤhlte dann immer diejenigen aus, welche den Winter uͤber sollten gemaͤstet werden, er schrieb ihnen das Futter vor, und verkaufte sie am Ende, ohne sie je mehr gesehen zu haben. Er sagte dann immer allemal dem Kaͤufer: wie viel die Kuh Fleisch und Inslicht haben muͤsse, und betrog sich in seinem Urtheile selten um einige Pfund. Er prophezeih- te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus, und benutzte diese Einsicht oft zu seinem Vorthei- le; er wußte es am fruͤhen Morgen schon, wenn Abends ein Gewitter kommen wuͤrde; in diesem Falle betrog er sich nie, und das ganze Dorf richtete sich in der Sommerarbeit nach ihm. Wenn er am Abende die Knechte befragte: was sie den Tag uͤber verrichtet hatten, so sah er ih- nen starr in's Gesicht, und wußte es dann ge- nau, wenn einer unter ihnen Unwahrheit sprach. Durch diese Kenntniß erhielt er sein Gesinde in Zucht und Ordnung, sie arbeiteten alle fleißig und unverdrossen, weil sie uͤberzeugt waren, daß ihr Herr diesen Fleiß am Abende in ihrem Ge- sichte erkennen und beloben wuͤrde. Ein Jahr vor seinem Tode schien sich's mit seinem Wahnsinne merklich zu bessern, er sprach wenig mehr davon, und fragte nur selten die Knechte: ob sie noch in seinem Herzen lesen koͤnn- ten? Wenn sie's nun verneinten, so laͤchelte er freundlich, und rief froh aus: das gebe Gott! Er versuchte es sogar einigemal, bis an die Trep- pe zu gehen, welche in den Hof hinab fuͤhrte, aber wenn er die erste Stufe betrat, so ergriff ihn ein heftiger Schauer, der ihn zur Ruͤckkehr zwang, und einige Tage auf's Krankenlager warf. Es war ein Kampf der Vernunft mit dem Wahn- sinne, in welchem der letztere aber immer Sieger blieb. Ein hitziges Fieber ergriff ihn im letzten Fruͤh- jahre, und raubte ihm alle Vernunft. Er raßte eilf Tage lang schrecklich, am zwoͤlften schien er aus einem tiefen Schlafe zu erwachen, und konnte wieder vernuͤnftig reden und denken. Er war aͤu- serst schwach, aber er versicherte alle, daß er von seinem Wahnsinne ganz befreit sei, und ganz wohl einsaͤhe, daß die Brust eines Menschen nicht von Glase seyn koͤnne. Er bereitete sich standhaft zum nahen Tode, lebte noch drei Tage bei voll- kommnem Verstande, wie aber in der Nacht zum vierten sein Todeskampf begann, da schien mit diesem auch sein Wahnsinn ruͤckzukehren. Oefnet meinen Sarg nicht, damit die Leute nicht in mei- nem Herzen lesen koͤnnen! Dies waren seine letz- ten Worte, mit welchen er verschied! Friedrich M**r und seine Familie . F riedrich war der Sohn eines Landpfarrers zu W —. Sein Vater starb, als er auf der Schule studierte, er hinterließ kein Vermoͤgen, und die arme Mutter war nicht im Stande, ihren Sohn laͤnger zu unterstuͤtzen, sie brachte ihn bei einem alten Staffirer und Vergolder in die Lehre, wel- cher ihm nicht allein seine Kunst zu lernen, son- dern auch, da er keine Kinder hatte, vaͤterlich zu erziehen versprach. Der hoffnungsvolle Knabe er- lernte bald alles, was sein alter Meister selbst konnte, und zog nach einigen Jahren in fremde Laͤnder, um sich dort noch mehr in seiner Kunst zu uͤben. Nach acht Jahren kam er erfahren und geschickt nach Hause, fand Mutter und Lehrer tod, und keinen Freund, der ihn mit irgend et- was unterstuͤtzen wollte. Nur durch anhaltenden Fleiß und Arbeit gewann er endlich so viel, daß er zu A — Meister werden, und als dieser besse- res Verdienst suchen konnte. Er fand es anfangs sehr reichlich, seine Geschicklichkeit und Kenntniß ward bald in der Gegend bekannt, ein reiches Kloster vertraute ihm in der neu erbauten Kirche viele Altaͤre und die Kanzel, er arbeitete dort zwei volle Jahre, und zog mit einigen hundert Thalern Gewinn, und mit verdientem Lobe be- lohnt nach Hause. Er duͤnkte sich nun gluͤcklich und reich, spaͤhte unter den Toͤchtern des Landes umher, und fand bald ein Weib nach seinem Her- zen. Hanchen, so nannte sich seine Gattin, war die verlaßne Waise eines Dorfschulmeisters, und hatte sich von fruͤher Jugend an unter fremden Leuten ihr Brod verdienen muͤssen, sie brachte ihm zur Mitgift Unschuld, Treue und Eifer zur Thaͤtigkeit und Arbeit mit. Er lebte mit ihr stets gluͤcklich und zufrieden, sie gebahr ihm drei Soͤhne und eine Tochter, und erzog sie zur Gottesfurcht und Tugend. Zehn Jahre lang hatte Friedrich immer so viel Arbeit, daß er sich und seine Familie redlich ernaͤhren konnte, nach dieser Zeit schien ihn das Gluͤck zu fliehen, meh- rere Glieder seiner Kunst wohnten jetzt in A —; um so bekannt wie er zu werden, arbeiteten sie sehr wohlfeil, und zwangen Friedrichen ein glei- ches zu thun, wenn er anders nicht jede Arbeit verliehren wollte. Oft gewann er zum niedrig- sten Preise herabgesetzt, gar nichts, oft verlohr er dabei, und mußte in jedem Falle von dem erspar- ten Kapital leben, das auf diese Art bald uͤber die Haͤlfte schmolz. Wie sich nie eine bessere Aussicht oͤfnete, und sogar noch schlimmere Zei- ten drohten, verließ er die Stadt A —, und zog mit seiner Familie nach N — g, wo er mit Rech- te mehrere Arbeit und Verdienst erwarten konnte. Er fand beides in so weit, daß er wenigstens nichts mehr zusetzen, und vom Lohne der taͤgli- chen Arbeit sich und seine Familie ernaͤhren konn- te. Er lebte sechs Jahre zu N —, und stand bei allen, die ihn kannten, im Rufe eines redli- chen Mannes. Um diese Zeit wurde einem reichen Kaufman- ne aus seiner Schreibstube eine eiserne Kasse, wor- inne einige tausend Thaler lagen, bei Nachtzeit gestohlen. Der Kaufmann warf Argwohn auf sei- nen Hausknecht, welcher unfern der Stube schlief, und seit einiger Zeit Bekanntschaft mit einem Sol- daten gemacht hatte, der ihn oͤfters besuchte, und sogar in Gegenwart eines Handlungsbedienten einst fragte: ob niemand in der Schreibstube schla- fe? Der Hausknecht ward auf diese Anzeige so- gleich vom Gerichte arretirt, und da man sein Ge- staͤndniß durch fuͤnf und zwanzig Stockstreiche ver- gebens zu erzwingen gesucht hatte, ihn auch durch Verdacht nicht uͤberzeugen konnte, sogleich wieder entlassen. Eben wie dieses geschah, sprach der Kaufmann in Gegenwart seines Balbiers von diesem Diebstahle, und fuͤgte noch hinzu, daß dieser gewiß noch entdeckt werden muͤsse, weil sich die große eiserne Kasse nicht so leicht verbergen lasse. Die Kasse, fragte der Balbier voll Ver- wunderung, ward mit fortgeschleppt? Kaufmann . Ja, denn sie war so fest ver- schlossen, daß die Diebe sie ohne großes Geraͤusch nicht oͤfnen konnten. Balbier . Hm! dann bin ich der Gluͤckliche, welcher Ihnen Nachricht von dem Thaͤter geben kann. Ich habe unter meinen vielen Kunden auch einen Vergolder, welcher in der — Gasse wohnt, er naͤhrt sich mit seiner starken Familie sehr kuͤmmerlich. Wie ich gestern fruͤher als ge- woͤhnlich zu ihm gieng, und, ohne anzuklopfen, eintrat, sah ich nah am Bette einen eisernen Ka- sten stehen, welchen ich dort sonst nie erblickt hat- te. Vater, Mutter und Kinder blickten bei mei- nem Eintritte verstoͤrt umher, und wie ich mein Balbierzeug oͤfnete, so bedeckte die Frau den ei- sernen Kasten unvermerkt mit einem Rocke, der groͤßere Sohn gieng spaͤter daran voruͤber, und warf noch ein weißes Tuch darauf, welches er absichtlich von einem entfernten Stuhle holte. Mir fiel's anfangs sehr stark auf, da ich aber den ganzen Tag viel zu thun hatte, so kam mir's wie- der aus dem Sinne. Der Balbier machte nun auf Verlangen des Kaufmanns eine genaue Beschreibung von der ei- sernen Kasse, welche er bei dem armen Vergolder gesehen hatte; Merkmale und Kennzeichen, welche er angab, trafen mit der gestohlnen vollkommen uͤberein. Alle Anwesende riefen, daß dies die ent- wendete Kasse sei. Um sich ganz zu uͤberzeugen, fuͤhrte der Kaufmann den Balbier nach seiner Schreibstube, dort stand noch eine eiserne Kasse, sie war der Gestohlnen ganz aͤhnlich, von einem Meister und mit den nemlichen Zierrathen verfer- tigt worden. Der Balbier versicherte sogleich, daß er eben eine solche Kasse, von dieser Groͤße und Hoͤhe, mit allem diesen Blumenwerke geziert, bei dem Vergolder gesehen habe, und diese Aussage mit gutem Gewissen jederzeit eidlich zu bestaͤtigen bereit sei. Der Kaufmann machte sogleich die An- zeige bei Gerichte, und Friedrich ward mit seiner ganzen Familie in's Gefaͤngniß gefuͤhrt. Man durchsuchte uͤberdies seine ganze Wohnung, fand aber weder Kasse noch Geld, nur in einer Komode ein und vierzig ganze Thaler, und drei Louisd'or. Beide Geldsorten waren in der gestohlnen Kasse befindlich gewesen, und ob der Kaufmann es gleich nicht erweisen konnte, daß es die nemlichen waͤ- ren, so war dies doch zur Vermehrung des Ver- dachts hinreichend. Ehe Friedrich noch verhoͤrt wurde, berief das Gericht seinen Hausherrn und die uͤbrigen Bewohner, alle gaben ihm und seiner Familie das beste Zeugniß, und lobten vereint ihren stillen, sittsamen und gottesfuͤrchtigen Lebens- wandel, nur die Magd des Hausherrn sagte aus, daß Friedrich in der nemlichen Nacht, als der Diebstahl veruͤbt wurde, gegen zehn Uhr Abends den Hauschluͤssel unter dem Vorwande von ihr gefordert habe, daß seine Tochter sehr an der Ko- lik leide, und er nicht wisse: ob er nicht viel- leicht in der Nacht den Arzt zu ihrer Huͤlfe her- bei rufen muͤsse? Sie habe, fuhr sie fort, gegen zwoͤlf Uhr auch das Hausthor oͤfnen hoͤren, und Friedrich haͤtte ihr am Morgen bei Uebergabe des Schluͤssels selbst erzaͤhlt, daß er nach einem Arzte aus war. Diese Erzaͤhlung, welche die Magd in jedem Falle beschwoͤren wollte, gab abermals Stof zu groͤßerm Verdachte. Friedrich wurde nun selbst vorgerufen, er beantwortete jede Frage standhaft und ohne Stottern, wie er aber beweisen sollte, wo er in der Nacht auf den sieben und zwanzig- sten gewesen sei, so behauptete er kuͤhn, daß er diese Nacht seine Stube nicht verlassen habe, und berief sich auf das Zeugniß seiner ganzen Familie, die jetzt auch einzeln verhoͤrt wurde, und des Va- ters Aussage einstimmig bestaͤtigte. Wie Friedrich darauf mit der Magd konfrontirt wurde, so erin- nerte er sich erst des Vorfalls, behauptete aber, daß dies in der Nacht auf den sechs und zwan- zigsten geschehen sei. Da nun das Gericht for- derte, daß er diesen Umstand durch den Arzt, welchen er seiner Tochter zur Huͤlfe holte, bewei- sen sollte, so versicherte Friedrich, daß er zwar lange am Hause desselben geklopft habe, von nie- manden aber sei gehoͤrt worden, und endlich wie- der nach Hause gegangen sei. Diese Aussage schien dem Gerichte ganz natuͤrlich eine kahle Ent- schuldigung, und da die Magd ihre Anzeige wirk- lich beeidete, so wurde er in diesem Punkte fuͤr convictus geachtet. Im fernern Verhoͤre laͤugnete Friedrich und seine ganze Familie alles, was man sie beschuldigen wollte, sie versicherten einstimmig, daß nie ein eiserner Kasten, oder nur irgend et- was, welches diesem aͤhnlich saͤhe, bei ihrem Bet- te gestanden sei, die Mutter laͤugnete, daß sie solchen mit einem Rocke bedeckt habe, und der Sohn behauptete eben so fest, daß er diesen Tag gar kein weißes Tuch gesehen, vielweniger zu die- sem Gebrauch verwendet habe; aber der Balbier, welcher von jeher als ein ehrlicher und rechtschaff- ner Mann bekannt war, behauptete eben so fest seine Aussage, er sagte es jedem Gefangnen stand- haft in's Gesicht, und beschwor endlich seine Aus- sage in Gegenwart aller. Es war eine aͤusserst ruͤhrende und der Erbar- mung wuͤrdige Szene, als der Balbier seinen Schwur leistete. Friedrich stand mit Verzweif- lung kaͤmpfend da, aber sein Weib, seine Kinder knieten vor dem Balbier nieder, und baten ihn mit den ruͤhrendsten Worten, daß er doch ihr Un- gluͤck beherzigen, und uͤber eine unschuldige Fa- milie kein so unverdientes, schreckliches Elend brin- gen moͤge. Wir wollen's vor Gottes Throne, sagte die Mutter, beeiden, wir wollen keinen An- theil an seiner Seligkeit haben, wenn ein Wort eurer Aussage Wahrheit enthaͤlt. Um Jesu wil- len, der euch und uns erloͤßt hat, flehten die Kin- der, erbarmt euch unsrer armen Eltern, und uͤberliefert sie nicht dem schmaͤhlichen Tode. Um des juͤngsten Gerichtes willen, rief wieder die Mutter, das einst schrecklich uͤber euch richten wird, erbarmt euch meiner armen Kinder, die euch noch im Tode fluchen, und Gottes Rache uͤber euch auffordern werden! der Balbier weinte mit ihnen, und versicherte, daß er um aller Welt Schaͤtze willen nicht unrecht schwoͤren, nicht alle ungluͤcklich machen werde, wenn er nicht, fest von der Wahrheit uͤberzeugt, sie auch vor Gottes Throne eben so standhaft behaupten koͤnne, und daher von ihm keine Strafe zu erwarten habe, weil er als Buͤrger und Christ seine Pflicht er- fuͤlle. Wie er endlich seinen Eid geendet hatte, trat Friedrich zu ihm. Wenn Meineid den Men- Menschen Seligkeit raubt, so bist du ungluͤcklicher als wir, und verdienst unsern Dank, denn du giebst uns, was du dir so muthwillig raubst. Großer Lohn muß unsrer jenseits harren, sonst ist Gottes Gerechtigkeit ein Unding, schreckliche Stra- fe muß dir dort einst werden, sonst ist Gott un- billiger, als die Richter dieser Erde! — — Er wollte noch mehr sprechen, aber das Gericht gebot Stillschweigen, und der ungluͤckliche Friedrich mußte als uͤberwiesener Verbrecher mit seiner gan- zen Familie in tiefe und finstre Kerker wandern. Da sie jetzt nicht mehr mit einander verhoͤrt wur- den, so sahen sie sich auch nicht mehr, und schmachteten einsam in ihrem Kerker. Wie Friedrich am andern Tage im letzten guͤ- tigen Verhoͤre ungeachtet aller Ueberzeugung doch fest auf seiner Unschuld bestand, und nichts geste- hen wollte, beschloß das Gericht, mit Strenge gegen ihn, sein Weib und den aͤltesten Sohn zu verfahren, weil eben diese am meisten des Ver- brechens verdaͤchtig waren, und das Gesetz selbst das Bekenntniß von den uͤbrigen Kindern nicht forderte, wenn sie nur, was sehr wahrscheinlich zu vermuthen war, bloße Kenntniß vom Diebstahle, aber keine Theilnahme daran hatten. Friedrich bekam durch drei Tage mehr als hundert Stock- streiche, welche seine Hartnaͤckigkeit bezwingen, und offnes Gestaͤndniß von ihm erpressen sollten. Erst. Baͤndch. I Wie dies geschehen und verantwortet werden konn- te, weiß ich nicht; aber daß es wirklich geschah, ist ein bewaͤhrtes Faktum, weil am Ende das Volk sich haufenweise ums Rathhaus versammlete, des Ungluͤcklichen Jammergeschrei nicht mehr hoͤ- ren wollte, und Gewalt zu brauchen drohte, wenn man laͤnger fortfahren wuͤrde, einen Menschen so erbaͤrmlich zu martern. Ob sein Weib und sein Sohn mit einer aͤhnlichen Strenge behandelt? ob sie, wie die allgemeine Sage gieng, wirklich auf die Folter gespannt worden? kann ich nicht gewiß behaupten, aber so viel ist erwiesen, daß sie nichts gestanden, und daß der ungluͤckliche Friedrich die schrecklichen Schmerzen der Schlaͤge deswegen standhaft erduldete, weil er, seiner Aussage nach, Weib und Kinder nicht einer aͤhn- lichen Behandlung aussetzen wollte, wenn sie, unschuldig an der That, nicht gutwillig gestehen wuͤrden, was er zur Aenderung der beinahe un- ertraͤglichen Pein, zur Erloͤsung aus diesem Jam- merthal sonst so gerne gestehen wuͤrde. Jetzt, sprach er immer, wenn man ihn von der Marter- bank losband, sehe ich's erst ein, wie Liebe zum Weibe und Kindern staͤrken kann. Um mein Le- ben zu retten, wuͤrde ich nicht zehne dieser Hen- kerhiebe dulden; um jene zu retten, nicht in's unverdiente Ungluͤck zu stuͤrzen, habe ich ihrer schon so viele erduldet, und Gott wird mir Kraft geben, auch noch in Zukunft fuͤr sie zu leiden, oder wenigstens fuͤr ihre Rettung zu sterben. Da die allgemeine Stimme des Volks jetzt mehr als je behauptete, daß Friedrich, aller Be- weise ungeachtet, doch unschuldig seyn koͤnne, da es warmen Antheil an seinem schrecklichen Schick- sale nahm, und die Gefangnen uͤberdies gar nichts gestanden, so beschloß das Gericht, mit fernerer Strenge inne zu halten, und, bis nicht neue und wichtige Beweise oder ihr freiwilliges Gestaͤndniß die Sache naͤher aufklaͤrte, sie im Kerker zu verwahren. Daß es den Aermsten dort auch aͤusserst elend ergieng, und man sie wahrscheinlich durch harte Begegnung zum Ge- staͤndnisse zwingen wollte, beweißt die Folge, denn ehe Gottes weise Fuͤgung diesen schrecklichen Proceß selbst entschied, starb Friedrichs Weib im Gefaͤngnisse und zwei seiner Kinder waren dem Tode nahe. Der ungluͤckliche Gatte und Vater erfuhr von allem nichts, es wuͤrde in seiner Lage Trost fuͤr ihn gewesen seyn, und Trost sollte ja der Elende nie erhalten. Als er schon durch ein schreckliches, langes und martervolles halbes Jahr im Kerker geschmach- tet hatte, taͤglich Gott um Tod, und immer ver- gebens flehte, traten einige angesehene Buͤrger vor die Schranken des versammleten Raths, und meldeten den erstaunten Mitgliedern, wie sie sehr starke Muthmaßung haͤtten, daß ein anderer den Diebstahl beim Kaufmanne begangen, und der I 2 ungluͤckliche Vergolder wahrscheinlich ganz unschul- dig sei. In ihrer Nachbarschaft, erzaͤhlten sie nun, wohne ein Schlosser, von welchem es allge- mein bekannt, daß er zwar aͤußerst geschickt, aber eben auch so luͤderlich und daher sehr arm sei. Ehe der bekannte Diebstahl veruͤbt wurde, war er, ihrer Aussache nach, betraͤchtlich schuldig, hatte oft keinen Pfennig im Hause, und gieng mit sei- nem Weibe in der schlechtesten und oft zerrißnen Kleidung einher. Seit kurzem, fuhren sie fort, hat er alle seine Schulden bezahlt, er und sein Weib gehen gut und wohlgekleidet einher, die letz- tere traͤgt goldne Hauben und Granaten um den Hals, welche wenigstens sechzig Gulden werth sind, in ihrem Hause wird taͤglich gesotten und gebraten, aber nie gearbeitet. Er und sein Ge- selle sind taͤglich im Wirthshause zu finden, sie verzehren dort oft an einem Abende eine Sum- me, welche sie eine ganze Woche hindurch nicht zu verdienen im Stande sind. Wir wollen, en- deten die Gutgesinnten, sie nicht geradezu des Diebstahls beschuldigen, nicht durch unsere Aus- sage in's Ungluͤck stuͤrzen; wir fordern nur, daß sie untersucht und genau befragt werden: woher sie das viele Geld erhalten haben, womit sie jetzt so verschwenderisch umgehen, und jeden Recht- schafnen zum Argwohne berechtigen? Der Rath sandte auf diese Anzeige sogleich ein Mitglied und Gerichtsdiener in die Wohnung des Schlossers, welche diese genau untersuchen, und faͤnden sie mehrern Verdacht, den Schlosser samt seinem Weibe und Gesellen in's Gefaͤngniß fuͤhren sollten. Der Abgesandte fand alle dreie daheim, der Schlosser hatte sich eben schoͤne silberne Schnallen gekauft, und zahlte sie dem Verkaͤufer aus, er hielt einen Beutel in der Hand, in wel- chem der Rathsherr zweihundert Thaler an Golde fand. Er ließ alles genau durchsuchen, und ent- deckte bald einen Sack, in welchem sich eilfhundert Stuͤck Konventions-Thaler befanden. Der Schlos- ser konnte sich uͤber dieses Geld gar nicht aus- weisen, er versicherte, daß er es gefunden habe, ungeachtet seine Frau kurz vorher behauptete, daß sie es von einer alten Muhme zu Augsburg geerbt haͤtte. Seinem Auftrage getreu, ließ der Raths- herr alle sogleich in's Gefaͤngniß fuͤhren. Als die Nachbarn rings umher dies sahen, eilten sie ihnen nach, und riefen mit lauter Stimme: dies sind die Diebe des Kaufmanns, der arme Vergolder ist unschuldig! Ehe der Zug noch das Rathhaus erreicht hatte, folgten viele Tausende, welche das nemliche riefen, und nun mit Ungestuͤmm die Los- lassung und Freiheit des armen Friedrichs forder- ten. Geschreckt durch die allgemeine Volksstimme, vom erwachenden Gewissen vielleicht noch mehr geaͤngstigt, gestand der Schlosser, als er vor die Schranken des Raths gefuͤhrt wurde, sogleich den Diebstahl, sein Weib wollte zwar Anfangs alles laͤugnen, und von keiner Theilnahme etwas wis- sen, als aber ihr Gatte und sein Geselle mit ihr konfrontirt wurde, so bekannte auch sie alles aufrichtig. Der Schlosser hatte vor Jahresfrist dem Kauf- manne zwei gleiche eiserne Kassen verfertigen muͤs- sen; schon waͤhrend der Arbeit sprach der Meister oft mit seinem Gesellen von dem vielen Gelde, welches einst in diesen Kassen ruhen wuͤrde; der Wunsch, sie nur einmal leeren zu koͤnnen, ward bei beiden rege, und der letztere meinte, daß es eine sehr geringe Suͤnde seyn muͤsse, wenn der Arme sich auf gute Art eines Theils des allzu großen Reichthums bemaͤchtigen koͤnnte. Bei die- ser Aeusserung blieb es, bis einen Monat vor dem Diebstahle der Schlosser zum Kaufmanne berufen wurde, um die Kasse zu oͤfnen, von welcher er in hastiger Eile den Schluͤssel abgedreht hatte. Wie sie geoͤfnet war, sah der Schlosser vieles Gold und Silber darinne liegen, das Verlangen dar- nach ward auf's neue und lebhafter rege; da er es allein nicht zu befriedigen vermochte, so ver- traute er's seinem Gesellen und bald nachher auch seinem Weibe. Beide willigten ein, und die Moͤglichkeit, wie man das Unternehmen gluͤcklich ausfuͤhren koͤnne, ward sogleich gepruͤft. Der Schlosser versteckte sich, als alles verabredet war, samt seinem Gesellen Abends unter den Faͤssern und Ballen, welche im Vorhause des Kaufmanns lagen. Wie alles im Hause schlafen gegangen war, krochen sie hervor, oͤfneten mit ihren Die- trichen die Thuͤre der Schreibstube, schraubten das Schloß derselben ab, und zerbrachen es, damit man gewaltsamen Einbruch argwohnen, und nicht etwan auf einen Schlosser Verdacht werfen solle. Da die Kasse schwer zu eroͤfnen war, sie auch im obern Stocke Geraͤusch hoͤrten, so trugen sie solche fort, und oͤfneten das Hausthor, vor welchem des Schlossers Weib auf und ab schlich. Da die- se immer voran gieng, und sogleich hustete, wenn sie etwas kommen hoͤrte, so kamen sie gluͤcklich mit ihrer Beute nach der Wohnung. Es war schon drei Uhr nach Mitternacht, als sie dort an- langten; weil sie der Schwere wegen oͤfters ru- hen, sich zweimal vor den Nachtwaͤchtern, welche durch die Straße giengen, verbergen mußten. Sie eroͤfneten noch in der Nacht die Kasse, und nahmen das Geld, welches in mehr als drei tau- send Thaler bestand, heraus. Die leere Kasse stellten sie zum Bette, und waren eben vom Schlafe aufgestanden, als der Balbier, welcher so schreckliches Ungluͤck uͤber den armen Friedrich gebracht hatte, in die Stube trat. Des Schlos- sers Frau bedeckte die Kasse wirklich mit einem Rocke, und der Geselle warf nachher noch ein weißes Tuch darauf; sie sahen, wie der Balbier von ihnen weg, und nach Friedrichs Wohnung gieng, der nur zwei Haͤuser von ihnen entfernt wohnte; sie trugen die Kasse sogleich in die Werk- statt, und bedeckten sie mit Schlacken und Kohlen. Sie waren in großer Angst, und erstaunten sehr, wie der arme Friedrich am andern Tage in's Ge- faͤngniß gefuͤhrt wurde, sie nahmen es fuͤr ein be- sonders Wunder zu ihrer Rettung, als sie nach- her die Anzeige des Balbiers mit allen Umstaͤnden erfuhren. Anfangs, versicherte der Schlosser, waͤ- ren sie sehr traurig, und schon entschlossen gewe- sen, das gestohlne Geld durch einen katholischen Geistlichen dem Kaufmann zu uͤberschicken, nach der Hand haͤtten sie es aber uͤberlegt, daß hier Gottes Schickung augenscheinlich wirke, Friedrich ihn vielleicht auf andere Art schrecklicher beleidigt habe, und es ihnen nicht zieme, seine weisen Ab- sichten zu hindern. Die Kasse zerhackten sie am nemlichen Tage noch in vier Stuͤcke, und trugen sie in der folgenden Nacht in den Fluß, welcher durch die Stadt rinnt. Sie sahen jetzt freilich selbst ein, daß Friedrichs Ungluͤck ihre Entdeckung befoͤrdert habe, weil sie sich ganz sicher duͤnkten, das Geld nach Wohlgefallen benutzten, und nicht waͤhnten, daß ihr Aufwand die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregen koͤnne. Aeusserst ruͤhrend, aber auch Schauer erregend war es fuͤr alle An- wesende, als des Schlossers Frau offen gestand, daß sie am nemlichen Tage, als Friedrich durch sein erbaͤrmliches Geschrei das Mitleid des ganzen Volks erregte, nahe am Rathhause, sich Stoff zu einer reichen Haube, und Taffent zu einem neuen Kleide gekauft habe. Ich hoͤrte, sagte sie, den Ungluͤcklichen immer schreien, mein Herz ward weich, mein Gewissen quaͤlte mich, wenn ich aber wieder die schoͤnen Sachen anblickte, so wich alles Mitleid, und ich dachte: besser du, als ich! Der Rath forschte nun auf's genauste: ob sie nicht mehr Gehuͤlfen hatten, und ob nicht vielleicht, was allerdings wahrscheinlich wurde — der Bal- bier mit ihnen einverstanden sei? Aber alle be- theuerten hoch, daß niemand die geringste Wissen- schaft davon gehabt habe, und versicherten uͤber- dies, daß sie gewiß jeden Theilnehmer willig nen- nen wuͤrden, da dies ihre Strafe wohl lindern, aber nicht vermehren koͤnne. Wie es uͤbrigens moͤglich gewesen, daß der Balbier mit einem Eide bestaͤtigen konnte, daß er bei Friedrichen gesehen habe, was er doch nur bei ihnen gesehen hatte, muͤsse er nun selbst erklaͤren; ihnen sei es stets ein Wunder geblieben, auch haͤtte der Schlosser ihm am andern Tage sogleich die Kundschaft unter dem Vorwande, daß er sich selbst balbieren werde, aufsagen lassen, damit er nie mehr Gelegenheit habe, sich bei einem Besuche eines bessern zu er- innern. Alle versicherten endlich, daß sie von die- ser Zeit an dem Balbier absichtlich ausgewichen waͤren, und nie ein Wort mehr mit ihm gespro- chen haͤtten. Auf einstimmigen Befehl des Raths ward nun nach dem Balbier gesandt, auch mußte das Ge- richt sich an den Ort verfuͤgen, wo die Verbre- cher die Stuͤcke der eisernen Kasse in den Fluß versenkt hatten, um diese, wo moͤglich, aufzusu- chen, und dadurch das erforderliche Korpus delikti herzustellen. Beide abgeschickten Theile erschienen bald wieder vor den Schranken, die erstern hatten Wache nehmen muͤssen, um den Balbier vor der Rache des Poͤbels zu schuͤtzen, weil dieser ihn fuͤr einen Theilnehmer am Verbrechen hielt, und mit Gewalt steinigen wollte; die letztern waren wirk- lich so gluͤcklich gewesen, zwei große und wesent- liche Stuͤcke der zertruͤmmerten Kasse zu finden, und wurden von einer großen Menge Volks bis an's Rathhaus im Triumphe begleitet, weil eben diese Stuͤcke die Unschuld des armen Friedrichs vollkommen erwiesen. Noch war der Rath mit dem Verhoͤre des Bal- biers beschaͤftigt, als die Gerichtsdiener meldeten, daß das Volk mit schrecklichem Ungestuͤme die Freiheit des unschuldigen Verbrechers fordre, und die Gefaͤngnisse mit Gewalt zu erbrechen drohe, wenn man sie laͤnger verzoͤgre. Der Buͤrgermei- ster trat nun selbst auf den Balkon des Rathhau- ses, er machte mit liebreichen Worten der großen Menge kund, daß das versammlete Gericht selbst nicht mehr an der vollkommnen Unschuld des ar- men Friedrichs zweifle, nur noch ein Verhoͤr zum Beweise derselben vollenden muͤsse, und dann ge- wiß nicht saͤumen werde, die ganze Familie in Freiheit zu setzen, wenn man vorher allen ihre an- erkannte Unschuld mit Vorsicht entdeckt haͤtte, weil allzu schnelle und uͤberraschende Freude den Un- gluͤcklichen leicht toͤdtlich werden koͤnnte. Er versi- cherte uͤberdies, daß dies alles noch heute, und wenigstens in ein paar Stunden geschehen werde. Ich will, fuͤgte er hinzu, nicht eher das Rath- haus verlassen, als bis ich sie vollkommen gerecht- fertigt in eure Mitte fuͤhre. Das Volk jubelte und versprach geduldig zu verharren. Das Ver- hoͤr des Balbiers wurde nun fortgesetzt, er weinte bitterlich und jammerte schrecklich, als es ihm nach und nach kund gemacht wurde, welch schreckliches Ungluͤck er uͤber die Unschuldigen gebracht habe. Er versicherte auf's heiligste, daß keine Theilnah- me, kein Haß, keine Privatabsicht ihn zur fal- schen Anklage und Meineide verleitet habe, daß er nun wohl seinen schrecklichen Fehler einsehe, aber noch immer vor Gott und seinem Gewissen behaupten koͤnne, daß nie ein Zweifel, als ob er dies nicht alles bei Friedrichen gesehen, sein Herz geaͤngstigt habe. Es war fruͤh am Morgen, er hatte noch gar kein starkes Getraͤnke getrunken, war nicht krank, als er dies alles sah, auch war von jeher sein Gedaͤchtniß ihm stets getreu geblie- ben, er konnte sich in jedem Falle kuͤhn darauf verlassen, und doch war keine andere Entschuldi- gung moͤglich, als daß dieses ihn das einzige mal in seinem Leben schrecklich, so traurig irre gefuͤhrt habe. Da das Gericht noch den vorigen Lebens- wandel des Meineidigen untersuchen, ihn vorzuͤg- lich aber vor der Rache des ergrimmten Volks schuͤtzen mußte, so ward er indeß bis zur weitern Untersuchung in das Zivilgefaͤngniß gefuͤhrt. Der regierende Buͤrgermeister, welcher nach der gewoͤhnlichen Sitte nicht mit unter den Blutrich- tern saß, und daher keinen Theil an den schreck- lichen Quaalen hatte, welche Friedrich erdulden mußte, ließ sich nun selbst nach seinem Kerker fuͤhren. Er schauderte, als er den Unschuldigen mit schweren Ketten belastet, auf moderndem Strohe erblickte, er mußte alle seine Standhaf- tigkeit sammlen, ehe er mit ihm sprechen konnte. Friedrich . Wenn Sie kommen, mir mein Todesurtheil anzukuͤndigen, so beschwoͤre ich Sie, nicht laͤnger damit zu zoͤgern. Koͤnnten Sie in mein Herz blicken, so wuͤrden Sie finden, daß dies mein einziger, mein sehnlichster Wunsch ist. Buͤrgermeister . Nein, lieber Freund, ich komme vielmehr, Sie zu troͤsten, und zu ver- sichern — — Friedrich . Vergeben Sie, daß ich Ihnen in's Wort fallen muß. Wo waͤre fuͤr mich Trost zu finden? Oeffentlich des schaͤndlichsten Dieb- stahls uͤberwiesen, gebrandmarkt an meiner Ehre, verachtet von allen Redlichen, aͤrger als ein Vieh gequaͤlt und gemartert! O Herr! wer unter solchen Umstaͤnden den Tod nicht wuͤnscht, nicht zu Gott, welcher allein richten und lohnen kann, sehnlich verlangt, der muß wirklich derjenige Boͤsewicht seyn, fuͤr welchen ich nur gehalten werde. Buͤrgermeister . Sind Sie denn wirklich unschuldig? Friedrich. (mit den Ketten fuͤrch- terlich klirrend ) Sie koͤnnen noch fragen? Ach, das ist eben das Schrecklichste, das ist's eben, was maͤchtig zur Verzweiflung reizt! Ich bin unschuldig und doch gefesselt! Buͤrgermeister . Menschen-Urtheil kann irren! Friedrich . Wohl, wohl kann's irren! Er allein sieht, er allein weiß es, und rettet doch nicht. Buͤrgermeister. (zum Kerkermeister ) Nehmt ihm die schweren Ketten ab, damit er sanfter ruhen kann. Friedrich. (entfesselt ) Das waͤre doch Linderung in meinem Leiden! zwar die erste, aber eben deswegen auch die schaͤtzbarste. Nun kann ich ja ungehindert knien, ungehindert meine Haͤn- de zu Gott empor heben! ( er kniet nieder ) Allmaͤchtiger, ewiger Richter, wenn du etwann nur dein Ohr zu fessellosen Geschoͤpfen herab neigst, nur diejenigen mit gnaͤdigen Augen anblickst, die ohne Kettengerassel ihre Haͤnde zu dir ausstrecken, so blicke jetzt auf mich herab, hoͤre mich, hoͤre mich! Erbarme dich meines armen Weibes, mei- ner unschuldigen Kinder, laß den Kelch des Lei- dens auch vor mir voruͤber gehen! Buͤrgermeister . Gott wird dies inbruͤnsti- ge Gebet gewiß nicht unerhoͤrt lassen! Friedrich . Meinen Sie? Wenn es Ihnen nicht graut, Ihre Haͤnde auf dies Stroh zu le- gen, so werden Sie es naß und verfault von Jammerthraͤnen finden, die ich vergebens vor ihm weinte, oft war meine Stimme schon heischer vom Gebethe, oft — — Buͤrgermeister . Sie werden doch nicht an Gottes Huͤlfe und Barmherzigkeit verzweifeln? Friedrich . Nein, sorgen Sie nicht! Wenn die Hoffnung des kuͤnftigen Lohns nicht waͤre, wenn diese mich nicht standhaft erhielte — — O Gott, was waͤre dann schon aus mir ge- worden! Buͤrgermeister . Kommen Sie mit mir, ich will Sie in ein besseres Gemach fuͤhren, hier ist die Luft so schwer, so dumpfigt — — Kom- men Sie! Friedrich . O Engel, was soll ich von dir denken, ich folge willig, schon funfzehn oder sechs- zehn Wochen habe ich das Tageslicht nicht gese- hen. Doch nein, nein, ich will noch laͤnger hier weilen: Erst mein Weib, meine unschuldigen Kinder! Sie sind eben so unschuldig wie ich, sie verdienen Ihr ganzes Mitleid. Buͤrgermeister . Es wird bereits auf aͤhn- liche Art fuͤr sie gesorgt. Friedrich. (mit groͤßter Freude ) Also sind auch sie entfesselt? Also werden auch sie das Tageslicht sehen? Buͤrgermeister . Ja, Lieber, ja! Friedrich . Wie kommt, wie geschieht denn dies? ( aͤngstlich ) Sollte etwann — — Buͤrgermeister . Sorgen und fuͤrchten Sie nichts mehr, Ihr Leiden wird bald und sicher enden. Friedrich . Waͤr's moͤglich? Koͤnnte ich denn wirklich — Hier, hier an der Staͤtte meines Jammers, hier wo ich unzaͤhliche Thraͤnen vergos- sen habe, hier bitte und beschwoͤre ich Sie, mir's zu sagen: ob ich hoffen kann? ob ich hoffen soll? — — O es waͤre schrecklich, wenn Sie Empfindungen in mir erregten, die Sie vielleicht nicht befriedigen koͤnnen! Buͤrgermeister . Hoffen Sie kuͤhn, ich buͤrge Ihnen mit meinem Worte, mit meiner Ehre fuͤr alles. Friedrich . Aber, wie ist's denn gesche- hen? Buͤrgermeister . Kommen Sie nur mit mir, das Gericht ist hintergangen worden. Friedrich. (schlaͤgt seine Haͤnde zu- sammen ) So lebt der alte Gott doch noch! Buͤrgermeister . Man wird alles moͤgliche anwenden, Ihnen das Leiden, welches man Ih- nen aus Pflicht zufuͤgen mußte, wieder zu er- setzen. Friedrich. (aufschreiend ) So waͤre vielleicht meine Unschuld entdeckt? Buͤrgermeister . Sie ist's, sie ist's voll- kommen! Friedrich . Vollkommen? vollkommen? Buͤrgermeister . Ja! Ich wollte Sie nur nach und nach zu der unerwarteten Freude vor- bereiten. Friedrich . Ach freilich unerwartet, aber auch spaͤt, sehr spaͤt — doch Herr, es war dein Wille, ich bin dein Geschoͤpf, und darf nicht ha- dern! Ist's denn aber auch gewiß? O bester Herr, zuͤrnen Sie nicht, ist's denn auch gewiß? Buͤrgermeister . Sicher und gewiß! die- ser Kuß, den ich Ihnen als Vorsteher der ganzen Stadt gebe, sei Ihnen ein Beweiß, daß wir Sie alle von ganzem Herzen bedauren, und alles an- wenden werden, um Ihnen die moͤglichste Genug- thuung zu verschaffen. Kommen Sie jetzt — — Friedrich . Ich komme, ich komme! Nur noch einen Blick in diesen Kerker! ( lebhaft ) Und meine Ketten? O diese darf ich doch mit mir nehmen? Buͤr - Buͤrgermeister . Ich will's nicht hindern, aber bessern Nutzen wuͤrden Sie stiften, wenn Sie solche ihren Richtern zum Andenken und zur Warnung schenkten, damit sie kuͤnftig vorsichtiger handeln, nie an der Unschuld des Beklagten, im- mer nur an seinem Verbrechen zweifeln. Friedrich mußte nun seinem Fuͤhrer folgen, er trug seine Ketten, und verweigerte sie hartnaͤckig dem Waͤrter, welcher sie ihm nachtragen wollte. Des Gehens ungewohnt, taumelte er gleich einem Kinde, und lallte auch aus Uebermacht der Freu- de wie dieses. Ich, unschuldig! Ich, wieder frei! Mein Weib, meine Kinder auch frei! Gott, wie gluͤcklich machst du mich wieder! Dies waren die einzelnen, oft unterbrochnen Worte, wodurch er sein Gefuͤhl auszudruͤcken suchte. Endlich lang- te er nebst dem Buͤrgermeister in einem hellen Ge- mache an, dessen Fenster auf die Gasse giengen. Das ungewohnte Licht blendete sein Auge, seine Brust konnte die leichtere, reine Luft nicht fassen, er sank ohnmaͤchtig zu Boden. Man labte und fuͤhrte ihn, als er wieder athmete, an's Fenster. Das versammlete Volk ahndete, daß er's sei und jubelte laut. Friedrich bebte zuruͤck. Was ist das, rief er zitternd, ist's vielleicht doch Trug? Ist die Menge vielleicht versammlet, um mich sterben zu sehen? Erst. Baͤndch. K Buͤrgermeister . Gott bewahre! Sehen Sie denn nicht, wie sie jauchzen, wie sie sich freuen, daß die Unschuld endlich doch triumphirt, sie wissen es schon, daß Sie heute noch vollkomm- ne Freiheit erhalten, und harren Ihrer, um Sie nach Hause zu begleiten. Friedrich . Ach Gott im Himmel, du ge- waͤhrst mir viel Freude, gieb mir doch auch Kraͤf- te, sie zu genießen. Er trat wieder an's Fenster, das Volk jauchzte von neuem, er dankte, und zeigte der Menge seine Ketten. Dieser ruͤhrende Anblick riß das Volk hin, sie forderten ihn in ihre Mitte. Wo ist mein Weib, meine Kinder? rief jetzt Friedrich, sie muͤssen Antheil an diesem Jubel nehmen! Buͤrgermeister . Ihre Kinder werden gleich erscheinen. — — Friedrich . Und mein Weib? Buͤrgermeister . Sie haben Elend und Ungluͤck im Kerker ertragen gelernt, Sie werden sich zu fassen wissen. Hienieden kann die Freude des Menschen nicht vollkommen seyn. — Friedrich. (langsam ) Ist sie todt? Buͤrgermeister . Sie starb schon vor zwei Monaten. Friedrich . Im Kerker? Buͤrgermeister . Ja? Friedrich . Ohne Trost? ohne Hofnung? Buͤrgermeister . Sie starb als Christin, sie genießt schon den Lohn, der Ihrer noch harrt. Friedrich. (wischt sich die Augen und betrachtet seine Hand) O ihr Hartherzi- gen! habt ihr keine Thraͤne fuͤr ein treues Weib? Ich kann nicht einmal mehr weinen. Buͤrgermeister . Ihr ist wohl! Friedrich . Ach, wenn sie nur nicht ver- zweifelnd starb. Buͤrgermeister . Freuen Sie sich, Ihre Kinder kommen. Friedrich . Meine Kinder! meine Kin- der! Er sank in ihre Arme, und lag sprachlos darinne. Nur sie fehlt, rief er endlich aus, dann waͤre die Freude vollkommen! — Da man jetzt dem Buͤrgermeister meldete, daß das Volk mit Gewalt in's Rathhaus dringe, so fuͤhrte er Frie- drichen und seine Kinder selbst hinab. Schon auf der Treppe empfieng ihn die Menge, sie ergriffen sogleich Friedrichen samt den Kindern, und tru- gen alle auf ihren Schultern hinab. Groß war der Jubel, laut das Freudengeschrei, als aber alle die hagre, blasse Gestalt der Unschuldigen sa- hen, da wich nach und nach die Freude der Ruͤh- K 2 rung, das Geschrei verstummte, man sah nur Thraͤnen, hoͤrte nur Schluchzen. Friedrich benutz- te die Stille, er sank auf seine Knie, die Kinder folgten. Allmaͤchtiger, rief er betend aus, ich danke dir! du hast mich erhoͤrt, du hast mich ge- rettet, ich danke dir in Gegenwart der Tausen- den, welche nun dir thaͤtiger dienen, eifriger an dich glauben werden, weil du das Flehen der Un- schuld hoͤrtest, und nicht zulassen wolltest, daß sie an deiner Barmherzigkeit zweifle. — — Er sprach noch mehr, aber das Gemurmel der Menge machte seine Stimme unhoͤrbar, er mußte es dul- den, das man ihn mit seinen Kindern durch die meisten Gassen herum trug, und seine Unschuld mit lauter Stimme ausrief. Kinder und Weiber streuten von Fenstern herab Blumen, die mit Thraͤnen des Mitleids benetzt waren. Wie das Volk mit ihm am Hause des Kaufmanns voruͤber zog, wollte es aus uͤbertriebnem Eifer die Fenster desselben einwerfen, aber Friedrich bat, und ihre Haͤnde sanken zuruͤck. Endlich trug man ihn nach seiner Wohnung, sie war oͤde und leer, die Ge- richte hatten all sein Hausgeraͤthe in Verwahrung genommen; aber in einer Viertelstunde war sie mit weit schoͤnerm Geraͤthe angefuͤllt, welches die angesehnsten Buͤrger der Stadt auf ihren Ruͤcken zum Geschenke herbei trugen. Am Abende fuͤllten die Traͤger, welche Speisen brachten, die Gasse, in welcher Friedrich wohnte, er konnte nur dan- ken, aber nicht annehmen. Am andern Tage brachten ihm Deputirte des Raths in einer feierlichen Prozession das Buͤrger- Diplom fuͤr ihn und seine Kinder zum Geschenke. Thaͤtige Menschenfreunde eroͤfneten eine Subscrip- tion, und sanden ihm schon am nemlichen Tage tausend Thaler; die ganze Stadt nahm Antheil an seinem Schicksale, wenn er ausgieng, folgte ihm noch immer eine große Menge, welche seine Unschuld verkuͤndigte. Friedrich war diese Zeit hindurch einem Kinde aͤhnlich, welches man auf einmal mit den herr- lichsten Spielereien uͤberhaͤuft, er gieng geschaͤftig im Zimmer auf und nieder, ordnete die schoͤnen Moͤbeln, stellte sie bald dort, bald dahin, er umarmte seine Kinder, er zaͤhlte das Geld, wel- ches er zum Geschenke erhalten hatte, und be- gann wieder von neuem. Anfangs nahm man dies alles fuͤr Uebermaas der Freude, als aber dies immer gleich stark anhielt, als er oft Spiel- werk und Puppen kaufte, und von seinen erwach- senen Kindern forderte, daß sie mit ihm spielen sollten, da argwohnten diese Beginnen des Wahn- sinns, und zogen einen Arzt zu Rathe; er beob- achtete ihn genau, und fand leider, daß sein Verstand, Gedaͤchtniß und Beurtheilungskraft taͤg- lich mehr und mehr schwinde, er ward, aller an- gewandten Mittel ungeachtet, in kurzer Zeit ganz zum Kinde, handelte und dachte wie dieses. Voll- kommne Vergessenheit des Vergangnen, und all seiner Leiden folgte bald nach, er gedachte seines Gefaͤngnisses eben so wenig wie seines verstorb- nen Weibes. Er suchte absichtlich die Gesellschaft der kleinen Kinder, und waͤhnte sich gluͤcklich, wenn er in ihrer Mitte sitzen, und mit ihnen spie- len konnte. Er weinte gleich diesen uͤber den Verlust eines Spielwerks, als aber bald nachher seine Tochter starb, so vergoß er keine Thraͤne. Seine uͤbrigen Kinder fuͤhrten ihn hinter ihrem Sarge, er folgte geduldig, und spielte mit kleinen Steinchen, welche er in die Hoͤhe warf, und wie- der zu fangen suchte. Als man ihren Sarg mit Erde bedeckte, da gukte er neugierig hinab, und lachte herzlich, weil sich, nach seinem kindischen Ausdrucke, das große Loch so geschwind wieder fuͤllte. Nie gedachte er ihrer mehr, ob er sie gleich unter allen seinen Kindern am meisten geliebt hat- te. Einer meiner Freunde besuchte ihn ein Jahr nach erhaltener Freiheit, er fand ihn im kleinen Hausgarten, wo er oft ganze Tage mit Spielen zubrachte. Er saß unter einem Obstbaume, seine Miene verrieth Freude und Vergnuͤgen, er fidelte auf einer kleinen Kindergeige, erzwang die graͤß- lichsten Mißtoͤne, und rief doch oft voll Entzuͤcken aus: O Jesus! O Jesus, das klingt schoͤn! Sei- ne Soͤhne, welche meinen Freund begleiteten, und mit nassen Augen dem Spiel des Vaters zusahen, hatten ihn schon unterrichtet, daß man keine Ant- wort von ihm erhalte, wenn man nicht Antheil an seiner Beschaͤftigung nehme. Mein Freund lagerte sich neben ihm, und der arme Ungluͤckliche reichte ihm sogleich seine Geige. Du kannst nichts, rief er aus, als dieser zu spie- len versuchte, ich kann's besser, und nun fidelte er auf's neue erbaͤrmlich. Friedrich. (zu ihm) Kannst du singen? Mein Freund . Nein! Friedrich. (lachend) Kannst auch gar nichts. M. Freund . Wie heißt du denn? Friedrich . Fritzel mit dem rothen Muͤtzel! M. Freund. (auf seine Kinder zei- gend) Wer sind denn diese hier? Friedrich. (sie anstarrend) Das sind des alten Staffiers seine Buben! M. Freund . Was wollen sie denn hier? Friedrich . Sie suchen ihren Vater. M. Freund . Wo ist denn dieser? Friedrich . Ich weiß nicht! — — Kannst du pfeifen? M. Freund. (mit Thraͤnen) Nein, ich kann's nicht! Friedrich . Warum weinst du denn? M. Freund . Die Aermsten dauern mich so sehr, weil sie ihren Vater suchen und nicht finden koͤnnen. Friedrich. (traurig) Mich auch! Komm, wir wollen ihnen suchen helfen. Er nahm jetzt meinen Freund bei der Hand, fuͤhrte ihn nach einem Rosenstrauch, und versteckte sich schnell hinter diesem, ehe noch jener uͤber die Ursache seines Versteckens einig werden konnte, sprang er ploͤtzlich hervor, und rief aus: da ist er! da ist er! M. Freund . So bist du ihr Vater? Friedrich . Ich bin Fritzel mit dem rothen Muͤtzel. M. Freund . Wer ist denn der alte Staf- fier? Friedrich . Ich weiß nicht. M. Freund . Kennst du ihn nicht? Friedrich . Ich kenn' ihn schon! M. Freund . Wo ist er denn? Friedrich . Morgen kauf ich mir ein Schif, und da geh ich vor's Thor, setze es auf's Was- ser, und fahre damit nach Rom, du darfst aber nicht mit fahren. Sein Sohn . Vater, wollt ihr nicht mit hinauf gehen? Friedrich. (lachend) Der glaubt, daß ich sein Vater sei. M. Freund . Bist du's denn nicht? Friedrich. (noch mehr lachend) Nein, ich bin's nicht. M. Freund. (zum Sohn) Glaubt er dies wirklich? Der Sohn . Gewiß, denn er kennt uns sel- ten, nennt uns aber stets die Soͤhne des Staf- fiers. Fruͤh morgens, wenn er erwacht, oder wenn er, welches aber selten geschieht, anhaltend nießt, so erkennt er uns gemeiniglich, erinnert sich auch oft mit vieler Genauigkeit vergangner Din- ge; aber ehe eine halbe Stunde vergeht, ist er wieder der Alte, und fuͤhlt sich in seinem Wahn- sinne gluͤcklich. Indeß der alte Vater sich einen kleinen Teich baute, und in seinen Haͤnden Wasser herbei trug, sprach mein Freund noch lange mit seinen Soͤh- nen. Sie glaubten, daß die allzu große Freude uͤber die schnelle und so gluͤckliche Errettung der Grundstoff seines Wahnsinnes war. Vielleicht, meinten sie, haͤtte eine Aderlaß, welche man im großen Jubel vergaß, das heftige Wallen seines Blutes gemindert, welches wahrscheinlich zu stark in die kleinsten Blutgefaͤße drang, sie uͤbermaͤßig ausdehnte und fuͤllte, daher auch gaͤnzliche Ver- gessenheit und ausserordentliche Schwaͤche der Ge- daͤchtnißkraft verursachte. Der einzige Trost, wel- cher den armen Kindern blieb, war die Ueberzeu- gung, daß ihr Vater in diesem Zustande gluͤcklich und zufrieden lebe. Ein neues Spielwerk, wel- ches sie ihm nie versagten, machte ihn den ganzen Tag munter und froͤhlich, nur mußten sie sich sorgfaͤltig huͤten, ihm nichts zu geben, was ihn an Kerker und Gefaͤngniß erinnern konnte, denn dies machte ihn, wenigstens auf einige Stunden, aͤusserst traurig. Ehe sie dies noch wußten, brach- te ihm einst die verstorbne Schwester eine Puppe nach Hause, welche eine mit Ketten behangene Sklavin vorstellte, er fieng sogleich zu weinen an, loͤste ihre Ketten, und trug sie den ganzen Tag stillschweigend in seinen Armen herum; erst Abends gelang es ihnen, die Puppe weg zu nehmen, am Morgen hatte er sie ganz vergessen. Ungeachtet er auch nicht ein Kind beleidigt, so koͤnnen sie ihn doch nie allein ausgehen lassen, weil er den Weg nicht nach Hause finden kann, und sich dann an eine Ecke setzt und bitterlich weint. Er geht gerne am Wasser, noch lieber in schoͤnen Gaͤrten, am allerliebsten auf dem Kirchhofe spazieren, dort mahlt er stundenlang mit den Fingern die Buch- staben auf den Leichensteinen nach, betrachtet sie dann mit groͤßtem Vergnuͤgen, und lobt am Ende laut und anhaltend seine schoͤne Arbeit. Sein aͤl- tester Sohn staffiert schoͤn und geschmackvoll; der alte Vater, welcher in dieser Kunst Meister und Kenner war, sieht ihm oft Stunden lang zu, aber er verraͤth nie die geringste Kenntniß, nur ein ein- ziges mal vergoldete er eine Nuß, und bezeigte die groͤßte Freude uͤber seine Geschicklichkeit. Er kennt selten einen seiner alten Freunde, die ihn oft besuchen, und nur dann angenehm sind, wenn sie mit ihm spielen. Wenn er in der Gesellschaft der Kinder ist, so duldet er standhaft jede Necke- rei, aber wenn Große ihn beleidigen, so ahndet er's immer nachdruͤcklich. Noch lebt er, noch wallt er hienieden in die- sem Jammerthale, aber seine Gesundheit welkt maͤchtig, bald wird sein Geist sich des Wahnsinns Fesseln entledigen, und froh hinuͤber zum ewigen Lohne eilen, der ihm hier nicht werden konnte, weil irdische Freude nicht Ersatz fuͤr sein schreckli- ches Leiden gewesen waͤre. Karoline G — von H —. W ie ich vor zehn Jahren uͤber Land reißte, eben in einem Walde einen hohen Berg hinan fuhr, er- blickte ich neben meinem Wagen eine alte Frau, welche unter einer großen Holzbuͤrde gebuͤckt ein- her schlich, und mit vielem Keuchen den Berg zu erklettern suchte. Das Alter ist mir allemal ehr- wuͤrdig, erregt aber mein ganzes Mitleid, wenn es kummervoll einher schleicht, und am Ende seiner Tage noch die wenige Lebenskraft durch harte Ar- beit verschwenden muß. Ich stieg aus, trat zu ihr, als sie eben ruhte und wieder Athem zu ge- winnen suchte. Sie blickte mir forschend in's Ge- sichte, und sah dann sehnsuchtsvoll meinen Wagen an, der nahe bei ihr voruͤber fuhr. Dort hinten, sprach sie leise, koͤnnte mein Holz recht gut liegen, wenn's der Herr erlaubte, die starken Pferde wuͤr- den es kaum merken. — — Ich rief meinen Kut- scher herbei, ließ das Holz aufladen, und gieng nun auf dem Fußsteige neben ihr her. Die Alte . Bezahl's Gott tausendmal! Sie fahren doch durch das Dorf, welches unten im Thale liegt? Ich . Ja. Die Alte . Und nehmen bis dahin mein Holz mit? Ich . Von Herzen gerne. Die Alte . So bezahle es Ihnen Gott noch einmal, denn (sich voll schmerzhaftem Gefuͤhle anblickend) von mir werden Sie doch kein andres Trinkgeld als Dank erwarten! — Ich wollte eben das Gespraͤch fortsetzen und sie von meiner Uneigennuͤtzigkeit uͤberzeugen, als der sonderbare Anzug der Alten meine ganze Neu- gierde weckte; er war zwar aͤußerst armselig, aber er verrieth doch deutliche Spuren, daß er einst schoͤn gewesen war. Sie trug einen weißen Rock, der freilich jetzt sehr gelb, durchgaͤngig sehr geflickt, und bei solcher Arbeit aͤußerst schmuzig aussah, aber der Stoff bestand aus dem feinsten Parchet, und am Ende desselben erblickte ich hie und da die Ruinen einer breiten Garnirung, welche von eben so feinem Mousselin ausgenaͤht war. Sie hatte ein kleines Leibchen von eben diesem Zeuge an, das vorne mit einer alten seidnen Schleife gebun- den war, uͤber diesem Leibchen trug sie eine Art von Korsette, das einst aus Taffet bestand, nun aber mit wollnen und leinenen Flecken von aller- hand Farben beinahe uͤberzogen war. An ihren Fuͤssen erblickte ich zerrissne, seidne Struͤmpfe und alte Pantoffeln von seidnem Zeuge. Ihre schon ziemlich grauen Haare waren mit einem feinen, aber sehr zerrißnen Strohhute bedeckt, an welchem noch hie und da ein Stuͤckchen Band oder Flor zu sehen war. Der etwas fremde und beinahe schwaͤ- bische Dialekt ihrer Sprache fiel mir gleich An- fangs auf, jetzt wirkte ihre Kleidung noch staͤrker auf meine Neugierde, sie schien mir ein deutlicher Beweiß zu seyn, daß die arme Alte einst bessere Tage genossen hatte. Gerne haͤtte ich dies alles naͤher erfahren, da aber Neugierde einen Ungluͤck- lichen immer beleidigt, und dieser am meisten Schonung verdient, so wuͤrde ich sie ganz unter- druͤckt haben, wenn mir die treuherzige Alte nicht selbst den Faden zum Gespraͤche uͤberreicht haͤtte. Ach Gott, sprach sie eben seufzend, wo sind die Zeiten? Ich . Welche Zeiten? Die Alte . Wo ich in schoͤnen Kutschen mit vier Pferden fuhr, Geld und Gut in Menge be- saß, von Hunderten bedient, von Tausenden an- gebetet wurde! (wischt sich eine Thraͤne aus den Augen) damals war's anders und besser! Ich gab reichliches Allmosen, half, wo ich helfen konnte, und jetzt: (tief seufzend) erbarmt sich meiner niemand. — — O bester Herr, Sie haben heute mehr gewonnen, als Sie glauben, Sie koͤnnen sich nun kuͤhn ruͤhmen, daß Sie die elendeste und ungluͤcklichste Person auf der weiten Welt gesehen und gesprochen haben. Ich . Das waͤre schrecklich. Die Alte. (mit Nachdruck) Schrecklich, aber auch eben so wahr! Wenn ich Ihnen auch mein Leiden schildern wollte, Ihre theilnehmende Miene verdiente es, wenn ich Ihnen auch alles haarklein erzaͤhlen wollte, Sie koͤnnten sich doch keinen Begriff davon machen. Es giebt gewisse innere Gefuͤhle, die keiner Beschreibung faͤhig sind. Nur derjenige, welcher im groͤßten Wohlleben er- zogen wurde, welcher sehr reich, und bessere Ta- ge gewohnt war, und nun im groͤßten Elende, in der jammervollsten Armuth schmachtet, kann mir seine Hand reichen, und ausrufen: mein Gefuͤhl ist dem deinen aͤhnlich. — — Ich will ihn dann als meinen Bruder umarmen, und ger- ne mein Stuͤckchen schimmlichtes Brod mit ihm theilen. Ich . O, ich kann mir dies Gefuͤhl vorstellen, es muß nagend, es muß verzweiflungsvoll seyn. Die Alte . Verzweiflungsvoll! Ja! ja! das ist das wahre Wort! laͤngst waͤre ich ein Raub derselben geworden, laͤngst moderte mein elender Koͤrper in einem Teiche, wenn nicht andere eben so ungluͤckliche Geschoͤpfe meine Huͤlfe forderten! Ich . So haben Sie Kinder? Die Alte. (im bittern Tone) Kinder? Kinder? O Gott, wenn ich mehrere als eins haͤtte, dann waͤre mein Ungluͤck graͤnzenlos. Ich habe nur eins, und doch hat es mich mehrere Thraͤnen gekostet, als Sterne am Himmel sind. Ich liebe es, ach, ich liebe es mit seltner muͤt- terlicher Zaͤrtlichkeit, aber ich muß weinen, wenn ich es anblicke. (meine Hand ergreifend) Herr, denken Sie sich mein Ungluͤck, es ist erst zwanzig Jahr alt, und doch schon wahnsin- nig. — — Ich . Gott im Himmel, wahnsinnig? Die Alte . Die gute, sanfte Karoline konnte mein und ihr Elend nicht so standhaft ertragen, es raubte ihr das einzige, was man der Armuth sonst nicht rauben kann, ihren Verstand. (wei- nend) Jetzt ist ihr wohl, sie fuͤhlt ihr Ungluͤck nicht mehr, sie nagt zufrieden am trocknen Brode, das ihre alte Mutter vor den Thuͤren der harther- zigen Bauern erbetteln muß. Wie oft habe ich Gott gebeten, daß er mir's auch so wohl moͤchte werden lassen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht, er ist taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich habe ich ihn sehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn sonst versoͤhnen! Oder ist der Mutterfluch unaus- loͤschbar? Das mag's seyn, mich druͤckt er we- nigstens schrecklich. Ich . Ich nehme den innigsten Antheil an Ihrem Ungluͤcke, stuͤnde es in meiner Macht, es zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an- wenden. — — Die Alte . Dank, edler Freund, Dank! Mitleid ist auch ein Allmosen, das des Elends Wunden salbt, und seine Schmerzen kuͤhlt. Glau- ben Sie's fest, denn ich rede leider aus Erfah- rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloser Rei- cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge- druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach, Gott! was habe ich alles dulden und erfahren muͤssen! Ich . Haben Sie denn gar keine Aussicht auf bessere Zeiten? Die Alte . Keine, aber auf noch schlechtere desto sichere! Bald, recht bald werde ich nicht mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch se- hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde werden soll? Es steht zwar in der Bibel, daß Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die jungen jungen Raben fuͤttert, aber daß der Mensch ein gleiches erwarten, und fordern kann, davon steht nichts geschrieben. Sorgt nicht fuͤr den andern Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat seine Plage! (bitter lachend) Ja, ja, er hat sie im vollen Maaß. — — Die Freuden des Him- mels muͤssen ewig dauern, muͤssen alle Beschrei- bung uͤbertreffen, wenn sie Ersatz fuͤr das irrdische Leiden seyn sollen! Ich . Haben Sie denn gar keine Freunde, von denen Sie Unterstuͤtzung erwarten koͤnnten? Die Alte . Freunde? Bester Herr, diese Frage war wohl sehr uͤberfluͤssig! Kann Feuer und Wasser in Harmonie mit einander bestehen? Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's fuͤr unnoͤthig, und haben recht. Ich habe Freunde, aber sie sind vornehm und reich, sie fuͤhlen die Qualen der Armuth nicht, sie schaͤmen sich meiner, und fliehen, wenn ich mich nahe. Ich . Das ist schrecklich! Die Alte . Nein, das ist es nicht! In die- sem Falle denken wir verschieden. Der Stolz mei- ner Freunde kraͤnkt mich nicht, ich habe Kraft ge- nug, ihn zu verachten. Ich wuͤrde eher Hunger sterben, mein einziges Kind lieber verschmachten sehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an- nehme. Tadeln Sie diesen Vorsatz nicht, das Elend hat auch seine Launen, und diese ist bei mir Erst. Baͤndch. L festes Sistem geworden. Ich besitze jetzt Kuͤhn- heit genug, jeden Reisenden, jeden Bauer um ein Allmosen anzubetteln, es hat mich Muͤhe und un- zaͤhliche Thraͤnen gekostet, aber meinen Stolz ha- be ich doch nicht bekaͤmpfen koͤnnen, er weigert sich schlechterdings, von denjenigen ein Allmosen anzunehmen, deren Pflicht es waͤre, mir viele Tausende als mein Eigenthum auszuzahlen. Unter diesem Gespraͤche hatten wir den Gipfel des Bergs erreicht, eine schoͤne, angenehme und aͤußerst fruchtbare Gegend lag vor uns. Mehr als zehn ansehnliche Doͤrfer, beschattet von frucht- tragenden Baͤumen, konnte man von hier aus uͤberblicken. Die Alte hatte im eifrigen Gespraͤche ihren Athem verschwendet, sie blieb stehen, um neuen zu sammeln; endlich setzte sie sich nahe am Wege nieder, und staunte mit verzognem Laͤcheln, das mehr einer schmerzhaften Empfindung glich, in die weite Gegend hinab. Ihr Gespraͤch hatte mein Herz tief geruͤhrt, ich wollte mich nicht so fruͤh von ihr trennen, nicht ganz ohne Trost schei- den, und nahm Platz neben ihr. Sie stuͤtzte sich auf ihren Elbogen, ihr Laͤcheln, das mir gleich anfangs so weh that, verzog sich nach und nach in stille Wehmuth, mehr als eine Thraͤne schlich langsam uͤber ihre hohlen Wangen herab, und traͤufelte in den Sand. Endlich hob sie ihre Rech- te empor, und bezeichnete einigemal stillschweigend damit den Umkreis der ganzen weiten Gegend. Einst, rief sie seufzend aus, alles, alles mein! Ich war die Gluͤcklichste und Reichste unter den Tausenden, welche hier wohnen, jetzt bin ich die Aermste und Ungluͤcklichste unter ihnen. (schluch- zend) Ach, das thut weh! o, das nagt schreck- lich! (zu mir) Sie staunen? O staunen Sie nur, Sie haben volles Recht dazu. Staune ich doch selbst oft, wie's geschehen konnte, und doch geschah's, so leicht, so natuͤrlich, so zusammen- haͤngend, daß es mich wieder wundern wuͤrde, wenn es anders geschehen waͤre. (hastig) Ha- ben Sie Eile? Ich . Ich muß heute noch in K — eintreffen, und dahin — — Die Alte. (mir einfallend) Gelangen Sie fruͤh genug, wenn Sie mir auch eine halbe Stunde schenken. Ich will Ihnen die Geschichte meiner Leiden offen und treu erzaͤhlen. — — Ich . Ich werde Sie mit der innigsten Theil- nahme anhoͤren. Die Alte . Davon bin ich uͤberzeugt, sonst wuͤrde ich Ihnen diesen Antrag nicht gemacht ha- ben. Es thut einem so wohl, wenn man Theil- nahme im Auge liest, und aus des Freundes Munde hoͤrt: dir geschah Unrecht, dir haͤtte ein beßres Schicksal werden sollen! Ich bin eine ge- bohrne Baronin von B —. Dort unten rechts, in der blauen Ferne ragen uͤber die kleine Anhoͤhe L 2 zwei Thuͤrme hervor, diese zieren das Schloß, in welchem ich gebohren und erzogen wurde. Mein Vater war der Besitzer desselben, und Herr dieser großen, ansehnlichen Herrschaft, ich war die ein- zige Frucht seiner Ehe, in welcher er sehr mißver- gnuͤgt lebte. Er starb in der Mitte des siebenjaͤh- rigen Kriegs, und machte mich zur Erbin seines großen Vermoͤgens, welches in mehr als einer halben Million bestand. Ich war damals acht- zehn Jahr alt, und, wie mich wenigstens alle versicherten, sehr schoͤn. Daß um die Hand einer so reichen Erbin viele angesehne und vornehme Juͤnglinge buhlten, koͤnnen Sie leicht denken, aber obgleich das Schloß selten von Freiern leer war, so geschah's doch, daß ich durch zwei lange Jahre nicht waͤhlte, und immer noch ledig blieb. Meine Mutter, welche mich von fruͤher Jugend an als eine wahre Tirannin behandelte, mir nie einen muͤtterlichen Blick gewaͤhrte, und nun meine Vormuͤnderin geworden war, hielt's fuͤr Pflicht, sich stets in die Angelegenheiten meines Herzens zu mischen. So oft ein Freier sich mir nahte, so oft war sie auch sogleich mit ihrem entscheidenden Rathe zugegen. Diesen, sprach sie dann immer, kannst du nehmen, an diesen oder jenen darfst du aber nicht denken! da nun meine Empfindung nie mit der muͤtterlichen harmonirte, da ich immer nur denjenigen waͤhlen wollte, an welchen ich doch, ihrem Ausspruche gemaͤß, nie denken sollte, so unterblieb auch ganz natuͤrlich jede Heirath. Schon war ich fest entschlossen, bis in mein vier und zwanzigstes Jahr ledig zu bleiben, und dann nach eignem Sinne zu waͤhlen, wenn nicht ein Zufall meinen Entschluß vernichtet, und mich auf ewig ungluͤcklich gemacht haͤtte. Die Feinde wa- ren damals aus dem groͤßten Theile Boͤhmens vertrieben worden, und unsre Truppen bezogen in unsrer Gegend die ruhigen Winterquartiere. Unter den vielen Offizieren, welche rings umher lagen, und bald in unserm Schlosse Unterhaltung suchten, befand sich auch ein Lieutenant des ehe- maligen N — Husarenregiments. Er war von Geburt ein Graf aus Ungarn, aber sehr arm, und lebte blos von seiner Gage. Wie ich den schoͤnen, bluͤhenden Juͤngling zum erstenmale sah, da ward schon der Gedanke in mir rege: solch einen Mann, und du waͤrst gluͤcklich! Wie ich bald hernach deutlich merkte, daß er gleich guͤn- stig von mir urtheilte, mir uͤberall mit schmach- tendem Blicke nachschlich, unter hundert andern nur mich allein sah, da verschafte ihm mein Herz bald Gelegenheit, mir seine heftige Liebe gestehen zu koͤnnen; ich hoͤrte das Bekenntniß der- selben mit innigem Vergnuͤgen, und fuͤhlte mich nicht stark genug, seiner dringenden Bitte um Ge- gegenliebe lange zu widerstehen. Ich gewaͤhrte sie ihm bald im vollen Maaße, ich liebte ihn mit einer Innigkeit, die keiner Beschreibung faͤhig ist; ich sah, ich hoͤrte nur ihn, alle andre Maͤnner waren mir mehr als gleichguͤltig, ich haßte jeden, der mich hinderte, meinen Karl einige Augenblicke laͤnger zu sehen, und zu sprechen. Ach, die Tage unsrer damaligen Liebe waren so selig, flossen so schnell voruͤber! Wenn ich in seinen Armen die bunten Reihen durchwalzen konnte, wenn meine Wange dann an der seinigen ruhte, und er im schnellen Fluge mir einen Kuß raubte, da duͤnkte ich mich gluͤcklicher als eine Koͤnigin, die uͤber vie- le Laͤnder regiert, und Millionen Unterthanen be- herrscht. Ich will Ihnen den herrlichen Genuß dieser Liebe nicht laͤnger schildern, im Munde ei- nes alten Weibes kann solch eine Schilderung nicht wohl klingen, man haͤlt's fuͤr unmoͤglich, daß solch ein Gerippe einst Liebe erregen konnte, und faͤhig war, wieder zu lieben. Der immer aufmerksame Blick meiner Mutter bemerkte unsre Liebe bald, sie befragte mich daruͤber im streng- sten Tone, und versicherte mich hoch und theuer, daß mir ihr Fluch werden sollte, wenn ich mich unterstuͤnde, dem elenden Lieutenante Liebe zu versprechen; sie habe, fuͤgte sie hinzu, eine weit bessere und ansehnlichere Parthie im Vorschlage, und wuͤrde mir solche schon entdecken, wenn sie alles in Richtigkeit gebracht haͤtte. Ob solch eine Drohung meine zaͤrtliche Liebe schwaͤchen, oder hindern konnte? uͤberlasse ich Ihrem eignen Urthei- le, sie machte mich nur etwas vorsichtiger, wenn heftige Liebe anders vorsichtig handeln kann. Ehe noch die Winterquartiere sich endigten, war unter uns schon fest verabredet und beschlossen, daß er meiner, bis ich großjaͤhrig waͤre, harren, und dann mein Herz und Vermoͤgen zum Lohne erhalten solle. Ob er mir dagegen auch etwas an- ders als sein Herz versichern koͤnne? wurde von mir nie gefragt, denn aͤchte, reine Liebe achtet keines Reichthums, und duͤnkt sich auch in einer Strohhuͤtte gluͤcklich. Als er endlich scheiden mußte, da vermochte ich mich kaum zu fassen; meine hartherzige Mut- ter machte mir daruͤber die bittersten Vorwuͤrfe, und bewillkommte mich oft mit Ohrfeigen, wenn ich mit rothgeweinten Augen vor ihr erschien; aber ich duldete um seinetwillen, und freute mich, daß ich dadurch seiner Liebe ein Opfer bringen konnte. Noch war er nicht acht Tage von mir entfernt, als schon der junge und sehr reiche Graf S*** auf unserm Schlosse anlangte, und mich sogleich im festen Tone versicherte, daß er aus Liebe zu mir in so schlechtem Wege die Hauptstadt verlas- sen. Ich ahndete, daß er nicht ungerufen erschie- nen sei, und gab's ihm im ersten Gespraͤche zu verstehen, daß er wieder ohne Hoffnung scheiden muͤsse. Er schien's nicht zu achten, er beschaͤftig- te sich einige Tage hindurch blos mit kleinen Spa- zierfahrten, die er in Gesellschaft meiner Mutter im Gebiete meiner Herrschaft unternahm. Einige Tage nachher ließ mir meine Mutter sagen, daß heute viele Gaͤste ankommen wuͤrden, und ich da- her meinen Anzug darnach einrichten sollte. Ehe ich ihn noch vollendet hatte, kam meine Mutter, wider ihre Gewohnheit, auf mein Zimmer, strei- chelte in Gegenwart der Dienstmaͤdchen meine Wangen, und nannte mich mehr als einmal ihr gutes, liebes Kind. Wie darauf die Maͤdchen sich entfernten, fragte sie mich laͤchelnd: ob ich nichts ahnde? Da ich das Gegentheil versicherte, so er- zaͤhlte sie mir ganz offen, daß heute der Tag mei- ner Verlobung mit dem Grafen S*** gefeiert wuͤrde, daß sie als Mutter mit seinen Eltern schon alles verabredet und ausgemacht habe, auch von mir uͤberzeugt zu seyn glaube, daß ich ihre muͤtterliche Fuͤrsorge mit Dank erkennen, und das große Gluͤck, mit einer so ansehnlichen Familie verwandt zu werden, schaͤtzen und ehren wuͤrde. Sie koͤnnen sich mein Erstaunen leicht denken, es war groß und anhaltend. Wie ich zu sprechen ver- mochte, gestand ich meiner Mutter gradezu, daß ich fest entschlossen sei, vor meiner Großjaͤhrigkeit nicht zu heurathen, und dann nach eignem Gefal- len zu waͤhlen. Sie raßte, sie mißhandelte mich, aber ich blieb standhaft. Sie schwur, daß sie mich eher mit eignen Haͤnden ermorden, als in den Armen des elenden Lieutenants sehen wollte, ich schwieg und weigerte mich endlich eben so fest, jemals die Gattin des Grafen S*** zu werden. Meine Mutter wollte mir Bedenkzeit geben, aber ich verwarf sie, weil fester Entschluß solche nicht brauche. Alle Versuche, welche noch am nemli- chen Tage ihre und meine Freunde auf ihren Rath bei mir wagten, waren nicht vermoͤgend, mich in den Saal zu locken. Die bestellten Zeugen muß- ten wieder abreisen, und nahmen zu meinem groͤ- sten Vergnuͤgen den verhaßten Grafen mit sich fort. Meine Mutter hatte mir ihren unversoͤhnlichen Haß und Zorn ankuͤndigen lassen, ich durfte es nicht wagen, vor ihren Augen zu erscheinen, muß- te auf meinem Zimmer speisen, und ward wie ei- ne Gefangne behandelt. Diese Begegnung hinder- te mich aber doch nicht, Briefe an meinen Karl zu schreiben, und die seinigen zu erhalten. Sie waren meine einzige Freude, die herrlichsten Troͤ- ster im Ungluͤck, ich las sie des Tags wohl hun- dertmal, und ward nicht muͤde, sie wieder zu le- sen, weil sie die theuersten Versicherungen seiner ewigen Liebe enthielten. Als auf diese Art eine Woche in stiller Ruhe verflossen war, erfuhr ich durch mein Kammermaͤdchen, daß meine Mutter jetzt oft von Geistlichen besucht wuͤrde, und mor- gen nach dem Nonnenkloster D*** verreisen wolle. Die letzte Nachricht erregte Argwohn in meinem Herzen, ich sandte mein Maͤdchen auf Kundschaft zu einem alten Gesellschaftsfraͤulein, welches das Vertrauen meiner Mutter im hoͤchsten Grade besaß, und folglich auch die Absicht ihrer Reise kennen mußte. Das schlaue Maͤdchen be- nahm sich herrlich, und lockte der Alten den gan- zen Plan ab. Ihrer Nachricht zufolge, reißte meine Mutter wirklich in's Kloster, um dort einen Platz fuͤr mich auszumachen, ich sollte dann mit Gewalt dahin gebracht, genau bewacht, und so lange eingesperrt bleiben, bis ich mich dem Willen der Mutter fuͤgen wuͤrde. Diese hoffte uͤberdies durch allerhand Scheingruͤnde und durch die Huͤlfe ihrer Freunde die Landesstelle zu bewegen, daß sie mich erst im dreisigsten Jahre meines Alters großjaͤhrig erklaͤren solle. Ich staunte uͤber die Kunstgriffe einer Mutter, welche zur Befriedigung ihres Stolzes ihr einziges Kind opfern und ungluͤck- lich machen wollte, aber mein Entschluß war auch in der folgenden Nacht schon gefaßt. Wie am andern Tage meine Mutter wirklich nach dem Kloster verreißte, packte ich alle meine Kostbar- keiten, und etwas weniges an Waͤsche heimlich zusammen, und wanderte am Abende unbemerkt zum Schlosse hinaus. Mein Karl hatte mir zum letztenmale geschrieben, daß er in einem zehn Mei- len weit entfernten Staͤdtchen stehe, und auf Pferde warte, welche er zum Regimente fuͤhren muͤsse. Ich nahm meinen Weg dahin, wanderte die ganze Nacht, und langte am zweiten Tage gluͤcklich im Staͤdtchen an, ich fand ihn eben an seinem Schreibtische, als er einen Brief von mir beantworten wollte. Er flog mir entgegen, ich lag sprachlos in seinen Armen, und hatte noch nicht einmal die Freude des Wiedersehens gefuͤhlt, als ein Wagen durch's Thor herein rollte, ich blickte hinab, und sah meine Mutter, von meinem Onkel begleitet, rasch voruͤber fahren. Ich blieb starr vor Entsetzen stehen, der Wagen hielt am nahen Rath- hause stille, und mein Onkel gieng eilend hinein. Ich war unfaͤhig zu handeln und zu denken, mein Karl faßte sich schneller, er fragte mich: ob ich von jemanden im Hause sei gesehen worden? Da ich's verneinte, und ihm versicherte, daß ich sei- nen Bedienten auf der Gasse getroffen, und durch ihn sei hergefuͤhrt worden, so fuͤhrte er mich so- gleich in den Stall hinab, wo seine Reitpferde standen. Im Winkel desselben lag viel Stroh, ich mußte mich darauf lagern, und er bedeckte mich sorgfaͤltig damit. Spaͤt am Abende kam er wieder zu mir, und erzaͤhlte, daß mein Onkel ihn bereits besucht, allerhand Fragen an ihn gestellt habe, aber, ohne die eigentliche Absicht zu entdecken, wieder fortgegangen sei. Kurz darauf sei das Haus ringsumher mit Waͤchtern umstellt worden, welche zwar nur in der Gasse auf und abgiengen, aber doch stets die Thuͤre des Hauses beobachte- ten. Da er auf diese Art keine naͤhere Untersuchung zu fuͤrchten hatte, und uͤberdies fest entschlossen war, seine Thuͤre niemanden zu oͤfnen, so fuͤhrte er mich wieder um Mitternacht in sein Zimmer. Dort konnten wir ungehindert sprechen, und rathschlagen; er versprach zwar, mich gegen je- den tapfer zu vertheidigen, nicht aus seinen Ar- men zu lassen, und oͤffentlicher Gewalt durch sei- ne Husaren Trotz zu bieten; da ich aber voraus sah, daß dies ihn und mich in die groͤßte Gefahr stuͤrzen koͤnnte, so bat ich ihn dringend, auf an- dre Rettungsmittel zu denken. Karl fand sie bald, er hatte eine alte, aber arme Tante zu Wien, sie stand bei der Monarchin in Gnaden, wurde oft von ihr angehoͤrt, und hatte ihm selbst durch ihr Vorwort die Lieutenantsstelle beim Re- gimente verschaft, er beschloß, dieser sogleich alles zu schreiben, und mich ihrem Schutze zu empfeh- len. Der Brief war bald fertig, aber nicht so bald entschieden; wie ich unerkannt aus der Stadt, und unverfolgt bis Wien gelangen koͤnne? Karl hatte zwar einen Bagagewagen nebst Pferden und Kutscher bei sich, er versicherte mich, daß er die- sen zur Noth auf einige Wochen entbehren koͤnne, aber der Wagen stand in der Vorstadt, und ich konnte bis dahin nicht ohne Entdeckung gelangen. Endlich fand seine Erfindungskraft auch hier ein Mittel, ich mußte mich sogleich entschließen, eine Uniform von ihm anzuziehen; wie ich mit meinem Anzuge fertig war, fieng eben der Tag an zu grauen. Er befahl seinem Bedienten, uns in ei- ner kurzen Zeit mit meinen Kleidern nach zu fol- gen, fuͤhrte mich nun kuͤhn die Treppe hinab, und zum Hause hinaus. Die lauschenden Waͤch- ter wichen ehrerbietig zuruͤck, als sie zwei Husa- ren Arm in Arm gehen sahen, und wir kamen gluͤcklich in der Vorstadt an. Sein Kutscher, ein treuer Kerl, versprach, mich eben so gluͤcklich nach Wien zu fuͤhren; indeß er die Anstalten dazu traf, kleidete ich mich um, nahm Abschied von meinem Karl, und warf mich in den Wagen hinein, der einsam in einem Schuppen stand. Das weiße Regentuch, mit welchem er gewoͤhnlich bedeckt wurde, lag darinne; um von niemanden erkannt zu werden, kroch ich darunter, und harrte des Aufbruchs. Karl war, um allen Verdacht zu ver- meiden, schon wieder nach der Stadt zuruͤck ge- kehrt. Wie der Kutscher die Pferde vorfuͤhrte, erblickte ich durch die Flechten, mit welchen der Wagen eingefaßt war, meinen Onkel, der sich schleichend dem Kutscher naͤherte. Wohin so fruͤh? Landsmann? sprach er zu ihm. Nach Fourage, antwortete der Kutscher und spannte an. Mein Onkel . War dies Sein Herr, wel- cher eben von hier gieng? Der Kutscher . Ja! Der Onkel . Und der andere Herr, wel- cher ihn aus der Stadt begleitete — — Wer war denn dieser? Kutscher . Verdammt neugierig! Unser Herr Kadet war's. Der Onkel . Wo ist er denn geblieben? Kutscher . Was weiß ich! Im Stalle oder in der Stube. Er gab nun den Pferden einen Hieb, und mein Onkel eilte nach dem Stalle. Lange konnte ich mich von meiner Angst und Schrecken nicht erholen, wir waren schon eine Stunde rasch auf der Straße vorwaͤrts gefahren, als ich mich immer noch nicht aufzublicken getrau- te. Mein ehrlicher Kutscher sprach mir nun Muth zu, und versicherte mich, daß jede Gefahr vor- uͤber sei. Seine Versicherung, der ich anfangs nur schwach traute, bestaͤtigte sich in der Folge, wir erreichten am sechsten Tage gluͤcklich die Re- sidenzstadt. Ich kehrte in einem Wirthshause ein, und gieng am andern Tage mit schwerem Herzen zu Karls Tante. Von ihrer Aufnahme hieng meine ganze Hofnung, und all mein Gluͤck ab, sie empfieng mich mit kaltem, forschendem Blicke, als ich ihr den Brief uͤberreichte; umarmte mich aber mit um so groͤßerer Waͤrme, als sie ihn ge- lesen hatte. Sie forderte sogleich eine genaue Erzaͤhlung von allem, was sich mit mir zugetra- gen hatte, fragte oft: ob ich ihren Neffen recht herzlich liebe? und fragte noch oͤfterer: wie viel denn eigentlich meine vaͤterliche Erbschaft betra- ge? — — Ich sah's deutlich, daß diese vor- zuͤglich ihre Aufmerksamkeit erregte, und mich ih- res Schutzes faͤhig machte; aber ich verargte es der guten Alten nicht, weil ihr das Gluͤck des geliebten Neffen sehr eifrig am Herzen lag, und sie ihn oft ihren lieben Sohn nannte. Als sie alles angehoͤrt, und genau gepruͤft hatte, versprach sie mir alle moͤgliche Hofnung, wenn ich nur so viel Geld mitgebracht haͤtte, daß ich mich standesmaͤßig kleiden, und ein paar Monate ernaͤhren koͤnnte, denn, setzte sie treuher- zig hinzu, von mir koͤnnen Sie wohl Fuͤrsprache und Verwendung, aber keine Unterstuͤtzung im Gelde hoffen, weil ich kein Vermoͤgen besitze, und von einer schmalen Pension lebe, die mir unsre Monarchin aus besondrer Gnade giebt. Ich zeigte ihr alle meine Kostbarkeiten, sie mochten wohl acht bis zehn tausend Gulden werth seyn; die Tante ließ sogleich Juden herbei rufen, und wir verkauften sie noch am nemlichen Morgen fuͤr fuͤnf tausend Gulden. Diese Summe schien der Tante hinlaͤnglich, mich wenigstens ein Jahr stan- desmaͤßig, und zur Noth auch bis zu meiner Großjaͤhrigkeit zu ernaͤhren. Sie gieng bald her- nach aus, kaufte ein, was ich am nothwendigsten brauchte, und brachte mir die Nachricht mit heim, daß sie schon in einem Kloster Kost und Wohnung fuͤr mich bestellt habe. Da ich uͤber den Namen eines Klosters schon erschrack, und ihr meine Be- sorgniß mittheilte, so versicherte sie mich, daß die Aebtissin ihre Verwandte sei, mich als ihr eignes Kind pflegen wuͤrde, auch kein andrer Ort vorhanden waͤre, in welchem ein unverheurathetes Fraͤulein, ohne seinem Ruf zu schaden, wohnen koͤnne. Ich sah die Wahrheit ihrer Rede ein, und billigte ihre Vorsorge; sie versprach mir dage- gen, mich nicht lange im Kloster schmachten zu lassen, meine ganze Geschichte bei der ersten moͤg- lichen Gelegenheit der Monarchin vorzutragen, und sie zu bitten, daß sie die Heurath zum Besten einer armen, aber alten und stets der Monarchin ergebnen Familie billigen moͤge. Ehe ich noch meine Wohnung im Kloster bezog, erhielt ich Briefe von meinem Karl, der mir berichtete, daß meine Mutter noch durch zwei Tage im Staͤdt- chen geblieben sei, und ihn kurz nach meiner Ab- reise selbst besucht habe. Sie raßte, als er sie versicherte, daß er mich nicht gesehen habe, und schwur ihm und mir die schrecklichste Rache, wenn er meinen Aufenthalt nicht entdecken, und ich mich ihren Absichten nicht fuͤgen wuͤrde. Da er aber ihre Drohung nicht achtete, und endlich Be- weiß oder Schonung forderte, so bot sie ihm zwanzig tausend Gulden, wenn er sich schriftlich verbinden wolle, mich nie zu heurathen. Karl verwarf ganz natuͤrlich diesen entehrenden An- trag, und sie schied mit neuen Drohungen, die auch schon in Erfuͤllung zu gehen schienen, weil sein Obriste ihn zum Regimente berufen, und mit strenger Strafe bedroht habe, wenn er nur der entfernten Wissenschaft von meiner Entfuͤhrung oder Flucht uͤberzeugt werden koͤnne. Er versi- cherte mich am Ende, daß er nicht zage, alles Ungemach dulden, und nichts fuͤrchten wuͤrde, wenn nur seine Leute nicht etwann mit Strenge zum Gestaͤndniß gezwungen wuͤrden, weil der Obriste ausdruͤcklich verlangt habe, daß er diese mit sich bringen solle. Ich Ich erzaͤhlte der alten Tante sogleich alles, und bat sie dringend, auf Rettungsmittel zu den- ken, sie versprachs, und forderte nur, daß ich noch am naͤmlichen Tage meine Wohnung im Klo- ster nehmen solle, weil die Monarchin sehr streng uͤber den untadelhaften Ruf eines Maͤdchens wa- che, und nur diese freiwillig gewaͤhlte Wohnung mich vor ihrem immer regen Argwohne schuͤtzen koͤnne. Ich gehorchte ihrem Rathe, und zog so- gleich in's Kloster. Am dritten Tage meldete mir die Pfoͤrtnerin, daß eine Kammerfrau der Kaise- rin mich zu sprechen verlange, ich staunte hoch, als diese mir erzaͤhlte, daß sie von der Monar- chin den Auftrag habe, mich in die Burg zu fuͤh- ren. Sorgen Sie nicht, fuͤgte sie hinzu, als sie meine Todesblaͤsse sah. Ihre Tante ist bei der Monarchin, und hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß alles gut gehen werde. Ungeachtet dieser trostvollen Versicherung zit- terte und bebte ich doch, und war kaum faͤhig, mich anzukleiden. Ich war einer Ohnmacht na- he, als ich zur Monarchin eingefuͤhrt wurde, sie sah meine Angst und sprach gnaͤdig und liebreich mit mir. Sie fragte mich vieles, ich konnte nur mit einem zitternden Ja und Nein antworten, als sie aber forderte, daß ich ihr aufrichtig be- kennen moͤchte: ob ich meinen Karl von ganzem Herzen liebe, und ihn zu heirathen entschlossen Erst. Baͤndch. M sei? Da stuͤrzte ich weinend zu ihren Fuͤßen hin, und flehte um ihren Schutz, um ihr Mitleid. Sie hob mich mit sichtbarer Ruͤhrung auf, und kuͤßte meine Stirne. Du sollst ihn haben, sprach sie im Tone eines Engels, ich will solche wahre Liebe nicht hindern, ich werde noch heute deiner Mutter schreiben, und ich hoffe, daß sie ihre Einwilligung zu einer Heirath, die ich billige, nicht laͤnger versagen wird. Damit du aber, fuhr sie im huldreichsten Tone fort, deinen Ge- liebten nach Gefallen unterstuͤtzen, und seiner mir stets ergebnen Familie durch dein ansehnliches Vermoͤgen neuen Glanz verschaffen kannst, so will ich sogleich Befehl ertheilen, daß man dich großjaͤhrig spreche. Nun, sagte sie endlich, bist du mit meinem Schutze zufrieden? Ich dankte mit innigem Gefuͤhle und mit einer Waͤrme, die mich mit Muth belebte, meiner Empfindung Wor- te zu geben. Sie hoͤrte mein Stammlen mit Wohlgefallen, und kuͤßte mich wieder, als ich sie Mutter nannte. Wenn willst du ihn denn hei- rathen? sagte sie freundlich, weil du mich zu dei- ner Mutter erwaͤhlt hast, so muß ich dir schon beistehen. Dein Geliebter soll sogleich auf einige Monate Urlaub erhalten, und dann wirst du wohl nicht saͤumen, ihn ganz gluͤcklich zu machen? Ich wollte eben die Frage beantworten, als ein Kammerherr eintrat, und meine Mutter bei der Monarchin anmeldete. Eben recht, sprach sie ganz gelassen, so erspare ich mir einen Brief und ihr die Antwort. Sie blickte nun nach mir hin, ich war aufgesprungen, und hielt mich fest an Karls Tante an. Fuͤhre sie in's Kabinet, sprach die Monarchin zu ihr, ich will erst mit der Mutter sprechen, und euch dann schon rufen las- sen. Was sie alles mit dieser sprach, habe ich ei- gentlich nie erfahren. Anfangs hoͤrte ich meine Mutter sehr rasch reden, bald sprach aber die Monarchin noch heftiger, hernach sprachen beide leiser, und ich hoͤrte meine Mutter laut schluchzen. Endlich rufte die Monarchin, und ich mußte er- scheinen. Mein Kind, sprach die Erhabne, du hast deine Mutter durch die uͤbereilte Flucht ge- kraͤnkt und beleidigt, bitte sie um Verzeihung. Ich wankte hin zu ihr, umfaßte ihre Knie, und wein- te laut. Ich verzeihe dir alles, sprach meine Mutter, und knirschte mit den Zaͤhnen. Sie hat, fuhr die Monarchin fort, auf meine Fuͤrbitte die Einwilligung zu deiner Heurath ertheilt, bitte sie um ihren Segen! Ich gehorchte, und meine Mutter segnete mich mit einem Tone, der nicht Segen, sondern Fluch verkuͤndigte. Und nun ge- he Sie in Gottes Namen, sprach die Monarchin im kalten Tone zu meiner Mutter, fuͤr's uͤbrige will ich schon sorgen! Sie gieng schnell fort, und zog die Thuͤre mit Nachdruck hinter sich zu. Die Monarchin . ( zu mir ) Du hast eine boͤse Mutter! ( zu Karls Tante ) Mit Muͤhe M 2 konnte ich sie nur abhalten, nicht in meiner Ge- genwart ihr einziges Kind zu verfluchen. ( seuf- zend ) Es giebt doch sehr harte Herzen! ( zu mir, sehr freundlich ) Weißt du denn etwas neues? Dein Geliebter sitzt beim Profosen. Ich . ( erschrocken ) Beim Profosen? Die Monarchin . Und das mit vollem Rech- te. Er hat deine Flucht befoͤrdert, dich durch sei- ne Pferde nach Wien fuͤhren lassen! davon hast du mir kein Wort erzaͤhlt. Ich . Er that's aus Liebe. Die Monarchin . ( lachend ) Soll denn die Liebe alles entschuldigen? — Wie lange soll ich ihn wohl dort sitzen lassen? Ich . Ach, nicht lange! Ach, nur nicht lange! Monarchin . Dann thaͤt's wohl Noth, daß ich eine Staffette nach ihm schickte. Ich . Ja, ja, eine Staffette! Monarchin . ( lachend ) Du bist wenigstens aufrichtig! Ich muß also schon deinen Willen er- fuͤllen. Jetzt gehe wieder nach Hause, und wenn der Graf ankommt, so will ich dir's schon wissen lassen. Aber Strafe hat er doch verdient, du mußt mir also versprechen — — doch nein! warum sollte ich den Aermsten seine Angst verlaͤngern! In einer Stunde wird die Staffette abgehen, man soll bei dir vorher erst anfragen, und wenn du ihm ei- nige Zeilen schreiben willst, so werde ich's richtig bestellen lassen. Sie entließ mich nun, und ich eilte nach Hau- se, um in meinem Zimmer Gott danken zu koͤn- nen. Meine Freude war groß und unaussprech- lich, ich konnte sie nicht fassen, ich betete, weinte und sprach mit mir selbst, ich wollte schreiben, und vermocht's nicht. Wie der Kammerlakei den Brief von mir abfordern ließ, hatte ich noch keine Zeile geendigt; ich schrieb nun nur in hoͤchster Eile, was ich haͤtte ausfuͤhrlich schreiben koͤnnen. Am sech- sten Tage, als ich eben aufgestanden war, und nachrechnete: ob mein Karl nicht etwann heute schon eintreffen koͤnne? ließ mich seine Tante in's Sprachzimmer rufen. Ich flog hinab, und mein Karl mir in die Arme. Er war Tag und Nacht als Kourier nach Wien geritten, um mich nur ei- nige Tage eher sehen und sprechen zu koͤnnen. Sein Haar hieng unordentlich umher, er sah blaß und bleich aus, aber nie sah ihn mein Auge schoͤ- ner, nie hatte seine Gestalt so tiefen Eindruck auf mein Herz gemacht. Alles, so gar sein mit Koth bespritzter Rock war mir ein Beweis seiner hefti- gen und zaͤrtlichen Liebe. Am folgenden Tage ließen wir uns bei der Monarchin melden, sie empfieng uns mit neuer Huld und Gnade, schenkte meinem Karl den Kam- merherrnschluͤssel, und einen Ring, welchen er mir in ihrer Gegenwart an den Finger stecken mußte und den sie mir mit in's Grab zu nehmen gebot. Seit dieser seligen, mir unvergeßlichen Stunde hat mich vieles und graͤßliches Ungluͤck betroffen, ich habe Noth und Elend im hoͤchsten Grade geduldet, ich habe wochenlang gehungert, jahrelang gebet- telt, und mich mit der elendesten Kost begnuͤgt, aber nichts war vermoͤgend, mich zu bewegen, den Willen der unvergeßlichen Monarchin zu verle- tzen. Der Ring kann leicht einige tausend Thaler werth seyn, und diese koͤnnten mich jetzt reichlich bis an meinen Tod ernaͤhren; aber ich habe den Ring noch, und will ihn mit bis in mein Grab nehmen! — Ehe die Alte noch diese Worte aus- gesprochen hatte, zog sie eine sehr zerrißne Brief- tasche aus ihrem Sacke hervor, und legte sie auf ihren Schooß; wie sie solche oͤfnete, fiel ein Paͤck- gen Briefe heraus. Das sind meines Karls Brie- fe, sagte sie seufzend, allzu haͤufige Thraͤnen ha- ben jeden Buchstaben verletzt, ich kann sie jetzt selbst nicht mehr lesen, aber sie sind der einzige Ueberrest seiner Liebe, und mir deswegen eben so schaͤtzbar wie dieser Ring! Sie oͤfnete nun ein kleines Futteral, und reichte mir einen Ring, uͤber dessen Glanz ich gleich beim ersten Anblicke erstaunte. Es war ein Solitair vom schoͤnsten, reinsten Feuer, beinahe eine kleine Haselnuß groß, au jour gefaßt, und ohne den geringsten Fehler. Ich bin kein aͤchter Kenner des Edelgesteins, aber ich habe doch in meinem Leben so viele Brillanten gesehen, daß ich aͤcht von falsch unterscheiden, und also dreist be- haupten kann, daß er den angegebenen Werth noch weit uͤbersteigen muͤsse. Die Alte schien sich an meinem Erstaunen zu weiden, wenigstens bewieß dies ein kleines Laͤcheln ihres Mundes, ihr Auge folgte aber jeder Wendung, welche ich mit dem Ringe vornahm, und blickte oft aͤngstlich, wenn ich ihn nur ein wenig weit von ihr entfernte. Um nicht ihren Argwohn zu erregen, gab ich ihn zu- ruͤck, und sah dann erst, daß im Ringe einige Buchstaben eingegraben waren, die ich nun nicht mehr lesen konnte. Indeß die Alte den Ring wie- der sorgfaͤltig verbarg, und ihre Brieftasche zu- sammenpackte, begann zwischen uns folgendes Ge- spraͤch: Die Alte . Sie staunen? Ich habe es Ihnen, glaub' ich, schon vorher gesagt, daß das Ungluͤck seine Launen hat. Dies ist freilich eine seiner staͤrksten, aber ich kann mir nicht helfen, der Ring wird mit mir begraben. Ich . Aber, Madam, Sie haben eine ungluͤck- liche Tochter. Die Alte . Ja, sie ist sehr ungluͤcklich, denn sie ist wahnsinnig. Ich . Und wollen das einzige Mittel, welches ihr Ungluͤck lindern koͤnnte, mit in's Grab neh- men? Die Alte . Was soll einer Wahnsinnigen der Ring nutzen? Ich . Der Ring freilich nichts, aber das dar- aus geloͤste Kapital koͤnnte ihren Zustand doch um vieles verbessern, ihr Kost und Bedienung auf ih- re ganze Lebenszeit sichern! Die Alte . ( bitter lachend ) Auf wie lan- ge? Auf ihre ganze Lebenszeit? ( heftig ) Nicht auf vier Wochen! Sie glauben gar nicht, was mein Kind alles braucht. Sie koͤnnen's gar nicht begreifen! Ich muß es doch seinem Stande ge- maͤß erziehen. Ich muß meiner Tochter doch vier Bediente, eine Kammerjungfer, zwei Stubenmaͤd- chen halten, sie will auch Wagen und Pferde ha- ben! das alles kostet Geld, ohne noch an Klei- dung und Kost zu denken. Sagen Sie selbst, sind zwoͤlf Speisen fuͤr eine solche Dame zu viel? Ich . ( voll Erstaunen ) Aber, Ma- dam! — — Die Alte . ( aͤusserst zornig ) Ei was! Madam! Madam! So nennt man jede Buͤr- gersfrau, mir gebuͤhrt der Titel Exzellenz, und ich werde mir solchen nicht von jedem fremden Laffen rauben lassen! Gehe er mir aus dem Ge- sichte, oder ich rufe meinen Bedienten, und laß ihn derb abpruͤgeln! Das ist der Dank, wenn man sich mit solchen hergelaufnen Burschen ab- giebt, und ihre unverschaͤmte Liebes-Erklaͤrung anhoͤrt. Wie koͤnnen Sie nur glauben, daß sich eine Dame meines Ranges so weit herablassen kann, Ihnen ihre Hand zu reichen? Fuͤrsten und Grafen haben vergebens darum gebuhlt, wie wol- len Sie — — Sie sich nur entfernte Hofnung machen? Ich . ( mit immer steigendem Er- staunen ) Aber um's Himmels willen, ich habe ja nicht daran gedacht, ich — — Die Alte . Was? Sie wollen es jetzt laͤugnen? wollen mich Luͤgen strafen? Die Ver- messenheit geht immer weiter! ( laͤuft zum Kutscher, der unsern von uns mit dem Wagen hielt ) Er wird Zeuge seyn, und die Kuͤhnheit seines Herrn bestaͤtigen! Der Kutscher . ( im pflegmatischen Tone ) Ich habe nichts gehoͤrt! Ich weiß nichts! Die Alte . ( im sanften Tone ) Sieht er! das gefaͤllt mir! Er ist seinem Herrn treu, und dies verdient Belohnung. Da hat er einen Dukaten, vertrink er ihn auf meine Gesundheit! ( sich mit einem tiefen Komplimente ge- gen mich kehrend ) Mit Ihnen, mein Herr, kann ich nun nicht laͤnger reisen. Ihre Gesell- schaft ist mir zu gefaͤhrlich, und Moͤglichkeit der Vereinigung laͤßt sich nicht hoffen. Erlauben Sie, daß ich meinen Koffer abpacken lasse, mein Wa- gen wird gleich nachkommen. Sie gieng nun hinter den Wagen, zog ihre Holzbuͤrde herab, legte sie auf ihre Schultern und gieng, gebuͤckt unter ihrer Last, stillschwei- gend voruͤber. Erstaunen hatte meine Zunge ge- fesselt, ich konnte nichts reden, stand und gafte ihr nach. Da sie mit schnellen Schritten den Weg nach dem Dorfe nahm, so befahl ich mei- nem Kutscher, sachte nachzufahren, und setzte mich ein. Der Kutscher . ( im Fahren ) Das Weib muß naͤrrisch seyn! Ich . Moͤglich, aber hoͤchst unwahrscheinlich! Was hat sie dir denn gegeben? Der Kutscher . Nun! Einen Dukaten! Ich . Was? Einen Dukaten? Der Kutscher . Nun ja! da sehen Sie nur! ( er zeigte mir den Dukaten ) Ich. Sie muß wahnsinnig seyn! Du mußt der Aermsten das Geld zuruͤck geben. Der Kutscher . Herzlich gerne, wie koͤnnte ich von einer so armen Frau etwas annehmen, aber einem Narren darf man nicht widersprechen, und ich war froh, als wir sie nur los wurden. Ich . Schon recht. Im Dorfe werden wir sie schon wieder finden. Ich uͤberlegte nun, was ich alles mit ihr ge- sprochen hatte, ich pruͤfte jede ihrer Reden, ihre so lange, und richtige Erzaͤhlung, ich fand auch nicht den geringsten Wahnsinn darinne, und doch aͤusserte er sich am Ende so deutlich. Es that mir sehr wehe, daß ich das Ende einer Geschich- te nicht erfahren hatte, die mich so sehr interessir- te, die sich wahrscheinlich schrecklich enden mußte, weil die Aermste am Ende ihrer Tage in der bit- tersten Armuth umher gieng. Noch hatte ich kei- nen Entschluß gefaßt, als mein Kutscher stille hielt, abstieg, und nach einem Steine hinwander- te, auf welchem eben die Alte ruhte. Da hat Sie, sagte er, den Dukaten zuruͤck, sie wird ihn besser als ich brauchen koͤnnen. Bezahl's Gott tausendmal, rief die Alte zu mir heruͤber, Gott wird's lohnen, was Sie an mir Armen so reich- lich geuͤbt haben! Der Kutscher kehrte zuruͤck und lachte. Wenn sie's so nehmen will, murmelte er, ist's mir auch recht. Ich uͤberlegte, ob ich mich ihr nicht naͤhern, nicht wenigstens den Versuch wagen sollte, den uͤbrigen Theil ihrer Geschichte zu erfahren? Ihr freundlicher, laͤchelnder Blick schien mich einzuladen, die Neugierde siegte, ich gieng zu ihr. Die Alte . Schoͤn willkommen! Schoͤn willkommen! Reisen Sie auch wieder einmal bei uns voruͤber! Nun, das freut mich, da Sie besonders (auf den Dukaten blickend) nicht auf mich vergessen haben. Wie lange wird's denn seyn, daß Sie hier vorbei reißten und mir meine Holzbuͤrde uͤber den Berg herauf fuͤhrten? Wenn ich nicht ganz irre, ist wohl schon ein halbes Jahr voruͤber? Ich. (mich fassend) Ja, ja! so lange wird's sicher seyn. Die Alte . Gott, wie die Zeit verschwindet! Alles verschwindet, nur mein Ungluͤck nicht; al- les aͤndert sich, nur mein Elend nicht! O Herr, das ist schrecklich! Ich . Ja wohl, ja wohl! Sie erzaͤhlten mir damals die Geschichte Ihres Ungluͤcks, wir wur- den gestoͤrt, ich waͤre sehr begierig, sie jetzt ganz zu hoͤren. Die Alte . Von Herzen gerne! Ach! die Geschichte meines Lebens ist lehrreich fuͤr jeden, ich wollte, ich koͤnnte sie von der Kanzel herab erzaͤhlen, sie wuͤrde mehr wirken und nuͤtzen als manche Predigt. Wie weit habe ich sie Ihnen denn erzaͤhlt? Ehe ich antworten konnte, trat mein Kutscher zu mir, und bat mich heimlich, daß ich mich nicht mehr mit der Naͤrrin abgeben moͤchte. Es koͤnnte, meinte er, nicht immer so wie vorhin gluͤcken, man haͤtte Beyspiele, daß solche Leute recht sanft und gut spraͤchen, aber mit einmal rasend wuͤrden, und jedem nach dem Leben trach- teten. Ich dankte fuͤr seinen wohlmeinenden Rath, und beruhigte ihn dadurch, daß ich mich in Acht zu nehmen versprach. Ganz Unrecht hatte er nicht, das sahe ich selbst ein, aber meine Neu- gierde war maͤchtiger als die Gefahr, welche mir drohen konnte. Ich uͤberlegte nun, wie ich das Gespraͤch auf's neue anfangen, und wie ich vor- zuͤglich der Erinnerung des Rings ausweichen koͤnne, welcher wahrscheinlich den Stof zum Aus- bruche ihres Wahnsinns lieferte. Wie ich be- ginnen wollte, fragte mich die Alte auf's neue: wie weit sie mir ihre Geschichte erzaͤhlt habe? Ich . Eben hatten Sie von der Monarchin die Erlaubniß erhalten, Ihren Karl zu heura- then, waren beide von ihr sehr gnaͤdig aufgenom- men und reichlich beschenkt worden. Die Alte . Richtig, ich erinnere mich schon. Den schoͤnen Ring habe ich Ihnen doch schon ge- zeigt? Ich . Ja, Sie thaten es! Die Alte . Viele Leute verdenken mir's, daß ich ihn mit in's Grab nehmen will, aber ich kann nicht anders, ich muß den Willen meiner Monarchin streng beobachten. Ich . Da haben Sie vollkommen Recht. Die Alte . Nicht wahr? Nun, das freut mich, daß Sie doch auch meiner Meinung sind! O wie oft habe ich mich schon daruͤber geaͤrgert, wenn man mir vorwarf, daß ich es meinem ar- men Kinde stehlen, sie ohne Versorgung in Jam- mer und Elend zuruͤcklassen wuͤrde, aber die Leute verstehen das nicht, und urtheilen nur nach ihrem eignen, groben Gefuͤhle, das nicht faͤhig ist, dies alles zu empfinden, Sie sind einer von den We- nigen, welche mit mir simpathisiren, und verdie- nen daher mein ganzes Vertrauen: Ich will Sie nicht laͤnger mit der Schilderung unsrer Liebe un- terhalten, sie war groß und innig, sie schien mit jedem Tage sich zu mehren. Vier Wochen nach- her war ich Karls Frau, die huldreiche Monar- chin hatte mich großjaͤhrig sprechen lassen, ich konnte nach Gefallen mit meinem großen Vermoͤ- gen schalten, und verschrieb es meinem Karl ganz, wenn ich ohne maͤnnliche Erben sterben sollte. Mein Hochzeittag war der wonnevollste Tag meines Lebens, aber meine unnatuͤrliche Mutter truͤbte ihn maͤchtig. Kurz zuvor, ehe wir nach der Kirche fahren wollten, erhielt ich einen Brief von ihr, welcher die schrecklichsten Fluͤche uͤber mich enthielt. Sie habe mich, schrieb sie, zwar in Gegenwart der Monarchin gesegnet, aber sie nehme nun diesen Segen zuruͤck, und wandle ihn in Fluch um, weil ich mich auf die hinterlistigste Art ihrer Vormundschaft entzogen, und mein Ver- moͤgen, das sie ihren Anverwandten zugedacht habe, an einen Fremden verschrieben haͤtte. Nun folgte eine Reihe der schrecklichsten Fluͤche, deren Erinnerung mir jetzt noch Schauder erregt. Dein Vermoͤgen, schrieb sie, soll schwinden, wie Wasser im loͤchrichten Siebe, du sollst wahnsin- nige Kinder gebaͤhren, am Ende deiner Tage bet- teln gehen, und den letzten derselben in Verzweif- lung enden muͤssen. Drei dieser schrecklichen Fluͤ- che sind leider schon in Erfuͤllung gegangen. Gottes Barmherzigkeit wird vielleicht doch die Wirkung des letzten von mir gnaͤdig abwenden. Mein Karl suchte mich zwar zu troͤsten, und mir zu beweisen, daß die Fluͤche einer solchen Mutter nicht wirken koͤnnten, aber sein Trost vermochte es doch nicht, zu hindern, daß ich selbst am Al- tare noch weinte, und ihm meine Hand mit Thraͤnen reichte. Die Monarchin war so gnaͤdig, Karls Urlaub bis zum Fruͤhjahre zu verlaͤngern, das endlich ihren gluͤcklichen Laͤndern den Frieden brachte. Auf meine dringende Bitte legte Karl seine Stelle beim Regimente nieder, und zog mit mir auf meine Herrschaft. Wir lebten hier aͤu- serst zufrieden, und gluͤcklich, wir wuͤrden hoͤchst wahrscheinlich unsre Tage eben so gluͤcklich geen- det haben, wenn meine Mutter mich als ihr Kind betrachtet haͤtte. Ringsumher wohnten ihre naͤch- sten Anverwandten, ihr Haß gegen mich brachte es bald dahin, daß diese uns nicht allein zu kraͤn- ken, sondern auch auf die unredlichste Art zu ver- folgen suchten. Von tausend Beispielen nur ein: Ich liebte Natur und Einsamkeit, mein Karl baute, ohne daß ich's wußte, in einem schoͤnen Waͤldchen eine Eremitage, und wollte sie am Ta- ge meiner Geburt mit einem laͤndlichen Feste ein- weihen. Wie er alles dazu veranstaltet hatte, und mich nun hinfuͤhrte, fanden wir die ganze schoͤne Anlage verwuͤstet, und das Gebaͤude selbst auf die schrecklichste Art zerstoͤrt. Wir erfuhren nach der Hand, daß mein Onkel diese Zerstoͤrung in der Nacht veranstaltet haͤtte, und meine Mutter, welche bei ihm wohnte, durch lange Zeit nicht so lustig gewesen waͤre, als damals, wie sie durch ihre Kundschafter vernahm, daß ich weinend nach Hause gefahren sei, und meinen Geburtstag ohne Fest geendet habe. Diese und unzaͤhliche Neckereien, welche uns jede Freude verbitterten, wenn wir sie ahnden wollten, in eben so viele Prozesse verwickelt haͤt- ten, weckten nach und nach in uns den Vorsatz, diese Gegend auf einige Zeit zu verlassen, und in fremden Laͤndern Zerstreuung zu suchen. Da ich meistens krank war, so giengen wir im folgenden Fruͤhjahre nach Spaa in's Bad. Das Wasser machte mich froh und munter, ich fand Freun- dinnen, deren Umgang mir die Zeit sehr ange- nehm verkuͤrzte, Karls Liebe minderte sich nicht, ich fuͤhlte mich daher ganz gluͤcklich. Zu Spaa ward stark gespielt, Karl fand Geschmack daran, und verlohr ansehnliche Summen, die mir aber nicht weh thaten, weil sie sein Vergnuͤgen befoͤr- derten. Einige Freunde hatten ihn nach Pisa ge- laden, die Aerzte glaubten uͤberdies, daß mir die milde Luft Italiens sehr heilsam seyn wuͤrde, wir reißten dahin, und Karl spielte dort schon mit ei- ner Leidenschaft, die ihn oft Tage und Naͤchte von von mir entfernte; doch da er mir jede Abwesen- heit mit feuriger Liebe lohnte, so hielt ich's fuͤr grausam, ihm sein einziges Vergnuͤgen durch Vor- wuͤrfe zu verbittern. Im Karneval giengen wir nach Venedig, und von da nach Paris, wo wir zwei volle Jahre sehr vergnuͤgt, aber auch sehr theuer lebten. Karl fuͤhrte von jeher die Kasse, ich bekuͤmmerte mich nie um's Geld, unterschrieb alles, was er mir vorlegte, ohne die geringste Untersuchung, er blieb stets der alte, treue Karl, mehr verlangte und forderte ich nicht. Er aͤußer- te bald hernach den Wunsch, London zu sehen, ich fuͤgte mich willig jeder seiner Launen, und wir reißten im Fruͤhjahre dahin. Karls Leiden- schaft zum Spiele hatte sich sehr gemindert, aber er fand jetzt um so groͤßeres Vergnuͤgen am Pfer- derennen, und verwettete bei diesem ansehnliche Summen. Als wir dort wieder zwei Jahre in der groͤßten Zerstreuung durchlebt, und ich ihm eine Tochter gebohren hatte, fand ich ihn oft aͤu- serst traurig und melancholisch auf seinem Zimmer. Da ich muthmaßte, daß Englands dicke Luft auf ihn wirke, so ward mir das Land verhaßt, ich drang dar- auf, daß wir es je eher, je lieber verlassen sollten. Karl versprach's, verzoͤgerte aber immer sein Ver- sprechen von einer Zeit zur andern. Einst kam ich aus dem Theater nach Hause, fand dort ei- nen Unbekannten, welcher mir einen Zettel uͤber- reichte, und sogleich fortgieng; es war meines Erst. Baͤndch. N Karls Hand, er schrieb mir, daß er wegen Ursa- chen, die ich muͤndlich erfahren sollte, im Verhaft sitze, mich daher dringend bitte, ihn so bald als moͤglich zu besuchen. Ich durchwachte die Nacht weinend, quaͤlte mich mit tausend schrecklichen Vorstellungen, und eilte am Morgen nach seinem Gefaͤngnisse. Er sank schluchzend in meine Arme, flehte um Vergebung und verfluchte seinen Leicht- sinn, der mich und ihn ungluͤcklich gemacht habe. O, du kannst mir nicht vergeben, du mußt mich ewig hassen und verfluchen, schrie er immer, wenn ich ihn versicherte, daß ich gefaßt sei, das Schrecklichste mit Gelassenheit anzuhoͤren. Erst nach langer Zeit, und auf meine dringende Bit- te, ward mir seine allerdings sehr schreckliche Erzaͤhlung. Als wir aus Boͤhmen abreißten, hat- ten wir dreißigtausend Gulden, welche zu unsrer Reise bestimmt waren, mit uns genommen. Karl verspielte den groͤßten Theil dieser Summe zu Spaa, und sandte schon von dort aus an den Verwalter unsrer Guͤter eine Obligation auf vier- zig tausend Gulden, welche er auf meine Herr- schaft aufnehmen sollte. Ich hatte sie ohne Unter- suchung unterschrieben, und Karl fand das Geld schon zu Pisa, wie wir dort anlangten. Da der Verwalter ihm nebenbei schrieb, daß auf aͤhnli- che Obligationen Geld genug zu haben sei, so spielte Karl ohne Zuruͤckhaltung, und verlohr diese Summe beinahe ganz. Schon von Venedig ward wieder eine neue Obligation verabschickt, von Paris ebenfalls, und wie wir diese Stadt ver- ließen, so erhob Karl abermals fuͤnfzig tausend Gulden, welche der Verwalter gegen Obligatio- nen uͤberschickt hatte. Diese letzte Summe war in zwei Jahren wieder verschwendet; Karl hatte unter dieser langen Zeit nicht nach Boͤhmen geschrie- ben, er that's jetzt, und erhielt von daher einen Brief, welcher ihn aus seinem Leichtsinne schreck- lich weckte. Sie haben, schrieb ihm der Ver- walter, durch fuͤnf Jahre zweimalhundert sieben- zig tausend Gulden Schulden auf Ihre Herrschaft gemacht, und diese Summe, laut Ihren Origi- nalquittungen, richtig erhalten. Wie ich Ihnen die letzten fuͤnfzig tausend Gulden nach Paris uͤbersandt hatte, kuͤndigten Ihre Glaͤubiger mit einmal alle Schuldposten auf. Ich gab Ihnen sogleich Nachricht davon, und erhielt keine Ant- wort, ich schrieb fuͤnfmal nach Paris, ich stellte Ihnen die dringende Gefahr augenscheinlich vor, ich bat um Ihre schleunige Zuruͤckkunft, Sie ka- men, Sie antworteten nicht. Die Schuldner klagten, die Herrschaft wurde vom Gerichte feil gebothen, und, da keine andern Kaͤufer sich fan- den, um die Schuldsumme von zweimal hundert siebenzig tausend Gulden an den Onkel ihrer Frau Gemahlin verkauft; dieser besitzt sie schon ein hal- bes Jahr, ich bin jetzt sein Verwalter, und kann Ihnen daher keinen Pfennig mehr senden, weil Sie nichts mehr zu fordern haben. Daß Sie, N 2 fuͤgte er am Ende bei, den fuͤnfjaͤhrigen Ertrag der Herrschaft ebenfalls erhalten haben, beweisen Ihre Quittungen und meine Rechnungen, die ich jederzeit vorzulegen, bereit und willig bin. Dieser hoͤchst traurige Brief war die Ursache von Karls Melancholie, er verschwieg mir ihn, weil er noch an der Wahrheit des schrecklichsten Inhalts zweifelte, und von einigen Freunden, an welche er geschrieben hatte, bessere Nachricht er- wartete; aber alle bestaͤtigten sein Ungluͤck, und Karl mißbrauchte seinen Kredit zu London, um mir nur noch laͤnger dasselbe verschweigen zu koͤnnen. Wie er die ausgestellten Wechsel endlich nicht be- zahlen konnte, ward er in's Gefaͤngniß gesetzt. Ich fuͤhlte waͤhrend seiner Erzaͤhlung mehr den Verlust seiner Freiheit, als meines Vermoͤgens, ich suchte nur jene zu retten, und eilte nach Hau- se, um meinen ansehnlichen Schmuck zu verkaufen. Seine Schulden betrugen nur fuͤnfzehnhundert Guineen, ich erhielt diese bald fuͤr alle meine Kostbarkeiten, und fuͤhlte mich wieder gluͤcklich, als ich mit meinem Karl frei aus dem Gefaͤngnisse wandern konnte. Da meine Herrschaft wenigstens eine halbe Million werth war, und wir daher mit Recht of- nen Betrug beim Verkaufe vermuthen konnten, so beschlossen wir jetzt, sogleich nach Boͤhmen zu rei- sen, und, wenn nichts fruchten sollte, der gerech- ten Monarchin unsre Noth zu klagen. Wir ver- kauften alles, was wir noch besaßen, brachten vier tausend Thaler zusammen, und reißten da- mit nach Deutschland. In Hamburg, wo wir der schlechten Witterung wegen einige Tage ruhen mußten, machte Karl mit einigen Schiffskapitai- nen Bekanntschaft, sie verleiteten ihn zum Spie- le, er gewann am ersten Tage eine ansehnliche Summe, verlohr aber am andern den ganzen Ge- winn, und den Ueberrest unsers Vermoͤgens. Reue und Verzweiflung bemaͤchtigte sich seiner gleich stark, er erklaͤrte die Gesellschaft fuͤr falsche Spie- ler, sie forderten Genugthuung und er wurde toͤdtlich verwundet in mein Zimmer getragen. Ich will Ihnen meinen Jammer, mein Elend, das nun schrecklich begann und nie mehr endete, nicht schildern, beides war, wie meine Liebe, un- ermeßlich. Karl starb in meinen Armen; wie ich ihn begraben, alle meine Leute entlassen und be- zahlt hatte, nun mit meinem Kinde weiter reisen wollte, hatte ich noch hundert Thaler. Ich theil- te sie sparsam ein, und langte eben zu Wien an, als ich den letzten Thaler wechseln ließ. Karls Tante, zu welcher ich meine Zuflucht nehmen wollte, war ein Jahr zuvor gestorben, keiner meiner ehemaligen Freunde wollte sich meiner an- nehmen, und wie ich es endlich wagte, mich bei der Monarchin melden zu lassen, so ließ sie mir sagen, daß sie von meiner Verschwendung voll- kommen unterrichtet sei, und es sehr bedaure, daß sie meine rechtschaffne Mutter so unverdient ge- kraͤnkt habe. Von ihr haͤtte ich kuͤnftig keine Un- terstuͤtzung zu hoffen, und wuͤrde sehr klug han- deln, wenn ich auf immer die Residenz und ihr Angesicht meidete. Ich mußte nun meines un- gluͤcklichen Kindes wegen den Bettelstab ergreifen, ich wanderte volle zehn Jahre in vielen Laͤndern umher, fand immer auf den Schloͤssern und in den Staͤdten gutherzige Menschen, welche mich naͤhrten und kleideten. Ich sprach hundert Advo- katen uͤber den Prozeß, welchen ich mit meinem Onkel zu fuͤhren gedachte, aber keiner wollte mir Beistand leisten, weil meine Guͤter gerichtlich ver- kauft wurden, und dieses nicht dafuͤr zu haften habe, wenn aus Mangel der Kaͤufer, dieselben auch nur um den halben Werth bezahlt wurden. Meine Tochter war damals funfzehn Jahre alt, ich liebte sie innig und zaͤrtlich, und ward von ihr eben so sehr wieder geliebt. Eine schreckliche Begebenheit, die aber allen Menschen ein Geheim- niß bleiben muß, machte sie Wahnsinnig, und warf mich auf's Krankenlager. Da dies zu Graͤz in Steuermark geschah, und die mitleidigen See- len, welche mich bisher ernaͤhrt hatten, mich nicht laͤnger bei sich behalten wollten, so ward ich, gleich einer Bettlerin, auf dem Schub nach der Hauptstadt meines Vaterlands verabschikt, von dort fuͤhrte man mich krank und elend auf meine ehemalige Herrschaft, und empfahl mich der Fuͤr- sorge meiner Anverwandten. Meine Mutter war schon seit einigen Jahren gestorben, sie hatte mich vollkommen enterbt, und ihr eigenes Vermoͤgen, das in ansehnlichen Kapitalien bestand, meinem Onkel vermacht. Schon aus dieser Ruͤcksicht haͤtte er mich besser behandeln sollen, aber er empfieng mich mit dem empfindlichsten Spotte, schimpfte weidlich uͤber die hohe Landesstelle, welche ihn zwingen wollte, eine Bettlerin auf seinen Guͤtern zu ernaͤhren. Er schwur, daß er mich nicht in seinem Schlosse dulden werde, und sandte mich nach diesem entlegnen Dorfe, wo mir ein elendes Hirtenhaus zu meiner Wohnung angewiesen wur- de. Seiner Anweisung zufolge, soll ich monat- lich in seinem Rentamte zehn Gulden erheben, aber ich bin schon einige Jahre hier, und habe von ihm noch keinen Pfennig angenommen, ich schaͤme mich nicht, zu betteln, aber ich wuͤrde mich schaͤmen, von dem Urheber meines Ungluͤcks Wohlthaten anzunehmen. Denn dies war sein Werk, er hat — wie ich spaͤter erfuhr — in Ge- sellschaft meiner Mutter alle meine Schuldbriefe eingeloͤßt, um mit einmal sie alle aufkuͤndigen, und auf Bezahlung dringen zu koͤnnen. Er hat meinen Verwalter bestochen, durch seine Huͤlfe wurden die Guͤter im niedrigsten Preise abgeschaͤtzt, und dadurch fremde Kaͤufer abgeschreckt, mehr da- fuͤr zu bieten. Er hat es sogar dahin gebracht, daß die Herrschaft nicht wie gewoͤhnlich sequestrirt, sondern sogleich verkauft wurde. Sagen Sie selbst: ob ich nicht Ursache habe, diesen Mann zu hassen? Ob's moͤglich ist, daß ich eine elende Summe von ihm als Wohlthat annehmen kann, da er mir eine unendlich groͤßere schuldig ist? Sie schwieg nun stille, und wischte sich die Thraͤnen von den Wangen, welche die Erinnerung ihres Ungluͤcks den Augen reichlich entlockt hatte. Wie ich noch vor ihr stand, einige Worte des Trostes fuͤr sie suchte, und keine fand, laͤutete man im Dorfe die Mittagsglocke, sie horchte. Schon Mittag, sprach sie, dann muß ich nach Hause eilen, mein armes Kind wird hungern! Bei diesen Worten stand sie schnell auf, ließ ihre Holz-Buͤrde liegen, und gieng mit starken Schrit- ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut- scher, im Wirthshause die Pferde zu fuͤttern, und eilte ihr nach. Ich wollte, wo moͤglich, ihr Kind sehen und sprechen, ich fuͤhlte im Voraus, daß es meinem Herzen aͤusserst weh thun wuͤrde, wenn ich ein junges, wahnsinniges Maͤdchen in der Gesellschaft einer eben so wahnsinnigen Mutter sprechen sollte, aber dies Maͤdchen schien mir die groͤßte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge- wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz uͤber das unverdiente Ungluͤck einer geliebten Mut- ter wahnsinnig wurde. Daß die letztere auch ih- ren Verstand verlohren hatte, wunderte mich jetzt nicht mehr, denn wer uͤber solche Dinge den Verstand nicht verliert, der hat wohl keinen zu verlieren. Ich Ich naͤherte mich nun der kleinen Huͤtte, in welche die Alte schon eingetreten war, mit banger Erwartung, mit tiefer Ehrfurcht; ich oͤfnete leise die Stubenthuͤre, und uͤberblickte die Wohnung des Jammers mit Schaudern. In der armseligen Wohnung stand kein Tisch, kein Stuhl, nur am Ofen eine kleine hoͤlzerne Bank, und im Hinter- grunde ein Bette, das mit zerrißnen, aber doch saubern Vorhaͤngen umgeben war. Die Alte stand am Bette, zog die etwas geoͤfneten Vorhaͤnge wie- der zu, und schlich auf den Zehen nach dem Fen- ster. Im Gehen erblickte sie mich, sie legte den Finger auf den Mund, und rief mir leise zu: sie schlaͤft! sie schlaͤft! Die Alte. (freundlich) Sie wollen ge- wiß meine Tochter sehen? Ich . Nicht aus Neugierde, aus wahrer inne- rer Theilnahme! Die Alte . Sie schlaͤft, aber das hindert's nicht, kommen Sie nur leise herbei. Sie werden ein schoͤnes, aber leider ein wahnsinniges Maͤd- chen sehen. Sie zog nun den Vorhang sachte hinweg, ich naͤherte mich zitternd. Eine weiße, schoͤne Schlaf- haube, die mit einem breiten, blaßrothen Bande umwunden war, verkuͤndigte mir deutlich, daß die arme Mutter vielleicht manchen Kreuzer er- betteln mußte, ehe sie das geliebte Kind mit die- sem kleinen Putze erfreuen konnte. Thraͤnen fuͤll- ten mein Auge, ich konnte nichts sehen, die Un- Erst. Baͤndch. O gluͤckliche hatte uͤberdies ihr Gesicht gegen die Wand gekehrt, die Blenden der Haube deckten es. Die Mutter merkte meine Verlegenheit, und dreh- te den Kopf der Schlafenden sanft herum. — — In meinem ganzen Leben bin ich in meiner Er- wartung nie so arg, nie so uͤberraschend betrogen worden, ich blickte, ich sah fest, ich traute meinen Augen nicht, ich wischte die Thraͤnen weg, ich sah von neuem und sah immer nur einen bemahlten Haubenstock vor mir liegen, der mich mit seinen starren, schwarz gemahlten Augen fuͤrchterlich an- grinßte. Mein Erstaunen, meine Verwunderung, meine Verwirrung blieb der Mutter nicht unbe- merkt, es mehrte ihr sanftes Laͤcheln, mit welchem sie mich unverwandt anblickte. Nicht wahr, sprach sie endlich, ich habe eine schoͤne Tochter? Unterdruͤcken Sie ihr Erstaunen nicht, mehrere Fremde haben Sie schon gesehen, und sind mit der Versicherung geschieden, daß sie nie ein schoͤ- neres Maͤdchen sahen! O waͤre sie nicht wahn- sinnig, ihre Schoͤnheit, ihr schmachtender, einneh- mender Blick haͤtte schon laͤngst das Herz eines Fuͤrsten geruͤhrt, sie waͤre seine Gattin, und koͤnn- te ihre alte Mutter reichlich ernaͤhren! Aber nun ist jede Aussicht verlohren! Schlaf Karoline, schlaf! (sie drehte den Kopf wieder ge- gen die Wand, und zog die Vorhaͤnge zu) der Schlaf ist ihr einziges Gluͤck, denn schla- fend fuͤhlt sie ihr Ungluͤck nicht. — — Jetzt wer- den Sie vergeben, ich muß in die Kuͤche gehen, und eine Suppe kochen. Sie gieng geschaͤftig fort, ich folgte langsam. Noch herrschte immer Erstaunen in meinem Bli- ke, ich stand auf dem freien Dorfplatze, blickte umher, und suchte mich zu fassen. Ein ehrwuͤrdi- ger Priester gieng langsam voruͤber, er gruͤßte mich freundlich. Sie waren da unten in der Huͤtte? sprach er, und laͤchelte von neuem. Ich . Ja, ich war dort, und bin in meiner Erwartung sehr betrogen worden. Priester . Glaub's gerne, es ist schon meh- rern so ergangen. Noch aͤrger sind Sie aber be- trogen worden, wenn sie Ihnen auch, ihre Ge- schichte erzaͤhlt hat, und Sie vielleicht in dieser Gegend nicht bekannt sind. Sie hat mir alles erzaͤhlt, ich reise zum er- stenmale durch diese Gegend. Priester . Dann werden Sie sich weidlich wundern, wenn ich Sie auf meine Ehre versiche- re, daß die ganze Geschichte eine Erdichtung ih- rer Einbildungskraft, eine Erfindung ihres Wahn- sinns ist. Ich . Das ist unmoͤglich. Priester . So muß es Ihnen freilich schei- nen, aber es ist doch nicht anders. Um Sie mit einmal zu uͤberzeugen, darf ich Ihnen nur sagen, daß diese ganze Herrschaft einem Kloster gehoͤrt, und dieses solche schon uͤber zwei hundert Jahre eigenthuͤmlich besitzt. Ich bin ein Mitglied dessel- ben, und jetzt hier als Pfarrer angestellt. Wol- len Sie mir's nicht glauben, so befragen Sie alle O 2 Bewohner des Dorfs, und jeder wird Ihnen das naͤmliche erzaͤhlen. Ich . Wer ist denn also die wunderbare Alte, welche so vortreflich Erwartung zu erregen ver- steht? Pfarrer . Das weis ich nicht, das weis niemand. Ich . Immer wunderbarer, immer abentheu- erlicher! Pfarrer . Vor ungefaͤhr sechs Jahren fand sie unser menschenfreundlicher Abt auf einem ein- samen Spaziergange. Sie sas an einem Bache, hatte ihren Haubenstock im Arme, und bemuͤhte sich, ihm durch ein kleines Glas, Wasser in den Mund zu schuͤtten. Da der Abt sogleich Wahn- sinn argwohnte, durch ihre sonderbare Gebaͤrden noch mehr davon uͤberzeugt wurde, so wollte er sie nicht dem blinden Ungefaͤhre uͤberlassen, und hielt es fuͤr Pflicht, fuͤr ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Er fuͤhrte sie nach dem Kloster, und uͤbergab sie der Aufsicht einer tugendsamen Ma- trone. Sie sprach drei Monate kein Wort, und man fieng schon an, sie fuͤr wirklich stumm zu halten, bis sie einst den Abt in seiner Kutsche vorbei fahren sah. Sie rief sogleich erschrocken aus: das ist mein Oukel ! das ist mein Onkel! und erzaͤhlte nun allen Anwesenden, ohne die Spur eines Wahnsinnes zu verrathen, die ganze Geschichte, welche sie Ihnen wahrscheinlich auch erzaͤhlt hat. Da diese Geschichte bei vielen, wel- che sie hoͤrten, falsches Licht uͤber die Familie, von welcher sie abzustammen vorgab, verbreitete, die Wahnsinnige uͤberdies den guten Abt von nun an einen grausamen, barbarischen und ungerechten Onkel nannte, so raͤumte ihr dieser in diesem ein- samen Dorfe, wo selten ein Reisender vorbei kommt, eine Wohnung ein. Er hat sie huͤbsch und sauber einrichten lassen, aber sie duldet nicht das geringste Geraͤthe darinne, wirft alles hin- aus, und behaͤlt nur das Bette, in welchem aber nicht sie, sondern der Haubenstock schlaͤft, wel- chen sie fuͤr ihr Kind ausgiebt. Ich habe den Auftrag vom Abte, ihr taͤglich hinlaͤngliche Spei- sen zu senden, sie nimmt solche allemal an, schuͤt- tet oder schenkt sie aber auch allemal wieder weg; sie lebt meistens vom trocknen Brode, welches sie bei den Bauern bettelt, und genießt keine Sem- mel, wenn ihr auch ein gutherziges Weib ein Stuͤckchen schenkt. Alles Geld, was sie dann und wann von Fremden erhaͤlt, schenkt sie sogleich wieder weg, erst gestern bekam sie von einer be- nachbarten Edelfrau einen Dukaten, und ich bin uͤberzeugt, daß sie solchen bereits weggeschenkt hat. Sie geht fast taͤglich nach Holz in den Wald, sucht solches in den entferntesten Gegen- den zusammen, traͤgt's mit groͤßter Muͤhe bis in's Dorf, und wirft es dann weg. Wenn ich im Winter nicht fuͤr ihren Ofen sorgte, so wuͤrde sie sicher erfrieren. Ich . Wie heißt denn das Schloß, welches da hinten im Thale liegt? Pfarrer . Das ist unser Kloster, und dies nennt sie ihr Schloß. Ich . Sie muß doch von vornehmer Geburt seyn, denn ihre Brieftasche, ihr Ring scheint es zu bestaͤtigen. Pfarrer . Allerdings! Wir haben beides ge- nau untersucht, aber nichts endecket. Der Ring ist wirklich aͤcht, und soll uͤber dreitausend Gulden werth seyn. Weh dem, welcher ihr solchen zu nehmen sucht, sie raßt dann schrecklich. Im Rin- ge sind die Buchstaben: F. K. G. H. einge- graben. Ich . Und die Briefe? Pfarrer . Sind alle unlesbar. Das Pa- pier ist gelb, und alle Buchstaben sind so in ein- ander geflossen, daß man nur selten ein unbedeu- tendes Wort lesen kann. Da sie den Ring schon vielen, und mancherlei Leuten gezeigt hat, und leicht einmal einen zum Raube desselben verleiten kann, so machte ich schon oft dem Abte den Vor- schlag, einen aͤhnlichen aber falschen verfertigen, und ihn unbemerkt gegen den aͤchten vertauschen zu lassen, aber er denkt zu gewissenhaft, glaubt, daß man's fuͤr Habsucht nehmen koͤnne, und will der Armen nicht ihren einzigen Trost rauben. Ich . Hat man denn gar keine Muthmaßung: woher sie kam? wer sie seyn koͤnne? Pfarrer . Gar keine! daß sie eine Auslaͤn- derin ist, beweißt ihr Dialekt, mehr kann ich Ih- nen nicht sagen, ob wir uns gleich Anfangs alle Muͤhe gaben, mehr zu erfahren. Wir haben die Beschreibung ihrer Person sogar in Zeitungen kund gemacht, aber nie erfolgte eine Nachfrage. Nur vor ungefaͤhr einem Monate kam ein fremder Herr hier an, brachte ein Zeitungsblatt, welches ihre Beschreibung enthielt, mit sich, und fragte sehr be- gierig nach ihr. Ich fuͤhrte ihn selbst in ihre Huͤt- te, er betrachtete sie genau, schien sehr geruͤhrt zu seyn, und sprach endlich mit ihr in einer Spra- che, welche ich nicht verstand, sie antwortete sehr fertig in eben dieser Sprache, endlich gieng der fremde Herr ohne naͤhere Erklaͤrung fort. Ich . Aber ich begreife nicht, wie sie in ihrem Wahnsinne eine so wahrscheinliche, zusammenhaͤn- gende Geschichte ersinnen konnte? Ist sie wirk- lich eine Auslaͤnderin, so wundert's mich noch mehr, weil sie doch Kenntniß der Familien und Staͤdte des Landes besitzt. Pfarrer . Das ist freilich ein Raͤthsel, wel- ches ich Ihnen nicht loͤsen kann, aber gewiß ist es, daß sie nicht Baronin B** heisen, nicht ei- nen Grafen L** aus Ungarn zum Manne haben konnte, denn unser Abt hat daruͤber die genausten Nachrichten eingezogen, und ist uͤberzeugt worden, daß ihre ganze Geschichte, selbst das mit der Mo- narchin, ein Werk ihrer verirrten Einbildungskraft sei. Ich . Zu welcher Religion bekennt sie sich denn? Pfarrer . Zu der katholischen, wenn man gewissen aͤußerlichen Kennzeichen trauen darf, doch geht sie nie zur Beichte, nie in die Kirche, sie bleibt entweder am Eingange derselben stehen, oder betet auf den Graͤbern des Kirchhofs andaͤch- tig und lange. Da ich sie einigemal selbst mit zur Kirche nehmen wollte, so versicherte sie mich mit vielem Ernste, daß sie auf ausdruͤcklichen Befehl des Pabstes keine betreten duͤrfe, und von ihm mit dem Kirchenbanne sei belegt worden. Gerne haͤtte ich mehr mit dem Pfarrer gespro- chen, aber der Schulmeister meldete ihm, daß ein Kranker seine schleunige Huͤlfe fordere, und er eilte mit einem freundlichen Grusse von dannen. Ich gieng nach dem Wirthshause, sprach mit dem Wir- the von der seltnen Alten, und erfuhr durch ihn, daß mir der Pfarrer die strengste Wahrheit erzaͤhlt habe, mehr wußte er aber ebenfalls nicht, nur meinte er, daß ihr Wahnsinn wohl nur Verstel- lung seyn koͤnne, weil sie oft aͤußerst vernuͤnftig spraͤche, und uͤber die wichtigsten Dinge ein so ge- lehrtes Urtheil faͤlle, daß selbst die Professores im Kloster daruͤber erstaunen muͤßten. Ohne meine aͤußerst geweckte Neugierde nur im geringsten weiter befriedigen zu koͤnnen, mußte ich endlich abreisen, und da mich der Weg einige Jahre nicht in die Gegend fuͤhrte, so blieb mir die Geschichte der Alten immer ein unaufloͤßliches Raͤthsel. Vor zwei Jahren, als ich wieder in diese Ge- gend kam, und die Huͤtte der Alten durch den Dorfhirten bewohnt fand, erfuhr ich, daß sie bald nach meiner Abreise zur Nachtszeit in einer schoͤnen Kutsche mit vier Pferden bespannt, a dem Dorfe sei abgeholt worden. Niemand, sel b der Pfar- rer konnte oder wollte mir mehr erzaͤhlen. Erst vor kurzem erfuhr ich durch einen besondern Zu- fall die hoͤchst merkwuͤrdige, und wahre Geschichte der Alten. Ich wuͤrde sie meinen Lesern sogleich mittheilen, wenn nicht noch einige besondere Be- gebenheiten naͤhere Aufklaͤrung erforderten. Ich will diese wunderbare Geschichte gerne ohne den ge- ringsten Zusatz mit der strengsten Wahrheitsliebe erzaͤhlen, und muͤßte unwahrscheinlich werden, wenn ich die Aufklaͤrung verschiedener dunkler Um- staͤnde nicht abwarten wollte. In dem zweiten Baͤndchen wird also die Vollendung dieser Ge- schichte folgen. Ende des ersten Baͤndchens.