Schnellpressendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen. Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen von Dr. Friederich Theodor Vischer, ordentlichem Professor der Aesthetik und deutschen Literatur an der Universität und dem Polytechnikum in Zürich. Dritter Theil. Die Kunstlehre. Stuttgart . Verlagsexpedition der Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken in Reutlingen. 1857 . Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen von Dr. Friederich Theodor Vischer, ordentlichem Professor der Aesthetik und deutschen Literatur an der Universität und dem Polytechnikum in Zürich. Dritter Theil. Zweiter Abschnitt. Die Künste . Viertes Heft: Die Musik . Stuttgart . Verlagsexpedition der Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken in Reutlingen. 1857 . Schnellpressendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen. Inhaltsverzeichniß. Dritter Theil. Die subjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen oder die Kunst . Zweiter Abschnitt . Die Künste. Zweite Gattung. Die subjective Kunstform oder die Musik . §§. Seite. a. Das Wesen der Musik . α . Ueberhaupt 746—766 775 — 840 β . Die einzelnen Momente . Das Tonmaterial und seine Gliederung 767—778 840 — 914 Der Höhenunterschied der Töne und Tonlagen überhaupt 768 847 — 851 Das Tonsystem und die Intervallverhältnisse 769—770 851 — 864 Die Tonleiter und die Tongeschlechter 771—772 864 — 872 Die Tonarten 773 872 — 881 Harmonie 774—775 881 — 900 Rhythmus 776—777 900 — 912 Dynamik des Tons 778 912 — 914 Die Composition und ihre wesentlichen Formen. Melodie 779 914 — 924 Die Gliederung in Theile, Perioden und Sätze 780 924 — 932 Die Stimmenführung; Uebergang zur Polyphonie 781 932 — 936 Stimmenverknüpfung und Stimmenverflechtung 782 936 — 938 Contrapunct, Nachahmung, Canon, Fuge 783—784 938 — 948 Strenge und freie Polyphonie 785 948 — 950 Cyclische Compositionsform ; mehrtheiliges, größeres Tonstück 786 950 — 952 Erste (triadische) Form des mehrtheiligen Tonstücks; Rondo; Variation; Form der freien Gedankenentwicklung 787—790 952 — 962 Das größere , aus mehrtheiligen Sätzen bestehende Tonstück 791 962 — 965 Der musikalische Styl. Stylgesetz; Ausdruck, Tonmalerei 792 965 — 971 Stylarten 793 971 — 976 §§. Seite b. Die Zweige der Musik . Eintheilung 794—79 976 — 979 Unterschied der Vocal- und Instrumentalmusik 796 980 — 983 Verhältniß beider zu einander 797—798 983 — 988 α . Die Vocalmusik . Ihre Eintheilung 799 988 — 989 Lied, Ballade, Romanze 800—801 989 — 998 Recitativ, declamatorischer Gesang, Arie 802 998 — 1011 Polyphone Vocalmusik; Chor 803 1011 — 1016 Größere Gesangwerke, Cantate, Motett, Hymnodie, Messe 804 1016 — 1023 β . Die Instrumentalmusik . Die Instrumente 805—806 1023 — 1049 Eintheilung des Instrumentalsatzes 807 1049 — 1050 Solosatz, mehrstimmiger Solosatz, Harmonie-, Concert-, Orchestersatz 808—810 1050 — 1066 Die Gattungen der Instrumentalmusik 811 1066 — 1067 Das einfache Instrumentaltonstück 812 1067 — 1069 Das mehrtheilige Instrumentaltonstück; Tanz, Marsch 813 1069 — 1073 Die Eröffnungs- und Einleitungsmusik; Ouvertüre 814 1074 — 1080 Größere Tonstücke, Sonate, Quartett u. s. w., Concert, Symphonie, freie Formen 815—816 1080 — 1098 γ . Vocal- und Instrumentalmusik in Einheit und Wechselwirkung . Begründung und Zweck derselben; das durch sie ent- stehende Tonwerk im Allgemeinen 817—818 1098 — 1103 Das epischlyrische Tonwerk, das Oratorium 819 1103 — 1110 Das dramatischlyrische Tonwerk, die Oper ; ihre An- lage und Disposition, die Wahl der Stoffe, die ver- schiedenen Gattungen 820—821 1110 — 1122 c. Die Geschichte der Musik . Eigenthümlichkeit und treibende Gegensätze ihrer Ent- wicklung 822 1122 — 1125 Die Musik des Alterthums 823 1125 — 1129 Die Musik des Mittelalters 824 1129 — 1133 Die moderne Musik . Die italienische Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts 825 1133 — 1135 Die kirchliche und weltliche Musik in Italien seit dem 17. Jahrhundert 826 1135 — 1139 Die deutsche Musik bis Bach und Händel 827 1139 — 1142 Die französische Musik; Gluck 828 1142 — 1143 Die Musik seit Haydn und Mozart 829—831 1143 — 1148 Die neuesten Richtungen 832 1148 — 1151 Anhang. Die Tanzkunst 833 1152 — 1158 Zweite Gattung . Die subjective Kunstform oder die Musik. a. Das Wesen der Musik . α . Ueberhaupt. §. 746. D er Schritt zur Auflösung der Objectivität, welcher in der Malerei sich ankündigt (vergl. §. 659), muß ausgeführt, der Gegenstand ganz in das Subject hereingezogen und in dessen innere Bewegtheit aufgehoben werden, damit erst die Subjectivität in ihr volles Recht eintrete. Nur dadurch wird es möglich, daß auf einer weiteren Stufe, welche allerdings durch den Begriff des Schönen und seine Begründung im Lebensgesetze selbst gefordert ist, das Object nunmehr als eine neue Schöpfung wieder aus dem Geist hervorgehe. Der Eintritt der Musik ist in der Malerei so vorbereitet, daß man sagen kann, man höre überall ihren Schritt schon an der Pforte. Es ist in der Lehre dieser Kunst auf allen wesentlichen Puncten gezeigt, wie sie an der Grenze der bildenden Künste steht, wie zuerst überhaupt durch das Prinzip ihrer Darstellungsweise, wonach sie einen bloßen Schein der Dinge auf die Fläche wirft, sodann durch das Ueberwiegen des Ausdrucks, die vielgestaltige Handlung, die Aufnahme der elementarisch ergossenen Medien, namentlich aber durch die Magie der Farbe der Charakter der Objectivität so eben sich verflüchtigen zu wollen scheint, es ist diese Beleuchtung ins- besondere in dem angeführten §. durch die Worte zusammengefaßt, es sei die subjective Bewegtheit in dem Maaße eingedrungen, daß zum Durchbruch ihres Uebergewichts nur noch ein Schritt fehle. Hegel’s treffender Ausdruck ist, daß in der Magie des Colorits das Objective gleichsam schon zu ver- Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 51 schweben beginne und die Wirkung fast nicht mehr durch etwas Materielles geschehe (Aesth. B. 3, 126). Allein die Malerei ist und bleibt noch bildende Kunst, stellt ihr ideales Weltbild noch dem Subject gegenüber als ein Object, das außer ihm, der eigentlichen Bewegung ermangelnd, im Raume verharrt. Welche tiefen Mängel selbst für die reichste unter den bildenden Künsten hieraus fließen, haben wir gesehen. Wie warm sie sich auch an das Innere des Zuschauers schmiegt, die Scheidewand zwischen ihr und ihm bleibt stehen, die ausschließende Natur des Räumlichen legt sich zwischen beide. Es ist am gegenwärtigen Orte nicht die Aufgabe, dieß in der bestimmten Richtung auseinanderzusetzen, daß noch einmal gezeigt würde, was Alles die Dar- stellungsmittel der Malerei nicht zu geben vermögen, um dadurch unmittelbar zu der Nothwendigkeit fortzuführen, daß ein anderes Darstellungsmittel er- griffen werde, sondern wir sprechen erst von dem geistigen Act und seinem Grundgesetz im Ganzen und Großen. Dieses, das Grundgesetz der Ein- theilung der Kunst in Künste, haben wir (§. 537) in dem Fortgange von der Objectivität zur Subjectivität und zur höheren Einigung beider gefunden, derselben Kategorie, worauf die Stufen des Systems: das Naturschöne, die Phantasie, die Kunst beruhen. Der Geist der Kunst stellt das Abbild seines inneren Gebildes zuerst als Object in den Raum hinaus, wo es dem Zu- schauer begegnet wie der naturschöne Gegenstand. Er gewinnt durch diesen Act die ganze Schärfe und Klarheit der Gegenüberstellung, aber er verliert auch so viel, daß er in seinem Gebiete denselben Weg wiederholen muß, den die Phantasie vor der Kunst einschlug, als sie das naturschöne Object zuerst ganz aufzehrte, in ihr Inneres nahm, in ein blos inneres Bild ver- wandelte. Der Künstler hat den Stoff, den er als Inhalt eines Sculptur- werks, Gemäldes räumlich von sich abstößt, wohl vorher im Innern gehegt und durchdrungen, aber diese Durchdringung wird schon im Innern keine vollendete, es wird eine Antithese in der Synthese gewesen, ein Rest von Fremdheit wird zurückgeblieben sein und eben dieß wird der Zuschauer fühlen, denn alles räumliche Sein trägt den Charakter des Ausschließenden. Es muß eine noch innigere, eine absolute Durchdringung geben, worin das Gegenüber ganz flüssiges Ineinander, das Hinausgestellte ganz innerstes Eigenthum bleibt, und zwar schon im innern Acte selbst, wo ebendaher derjenige, der das Kunstwerk genießt, mit seinem innersten Selbst darein eingeht oder umgekehrt es in sein innerstes Selbst eingehen, diese Zwei ineinander aufgehen fühlt. Zu §. 551, S. 176 ist gesagt: es werde in einer auf die bildende Kunst folgenden zweiten Kunstform ein Ineinander- gähren von Object und Subject eintreten, welches inniger , aber dunkler sei, als das Verhalten in der bildenden Kunst; diese sei mehr und weniger , als jene vorerst auf sie folgende subjective Form; die Bestimmtheit der Gegen- überstellung zwischen dem Naturschönen und Künstler, dem Künstler und seinem Werke sei ebenso sehr noch eine Behaftung mit der Natur, ein Bedürfen des gegebenen Glieds in der Antithese; mit dem „Zurückschlingen der Welt in das Herz,“ das jene subjective Kunst zu vollziehen haben werde, sei die Klarheit des Gegenschlags, aber auch diese Behaftung mit dem Object auf- gehoben und eine Wiederherstellung des letzteren vorbereitet, welche von ungleich hellerem Bewußtsein begleitet sein werde. Von den zwei Seiten, welche in diesen Sätzen hervortreten, ist zuerst schlechthin diejenige zu betonen, von welcher dieser neue Schritt der Kunst als unendlicher Fortschritt er- scheint. Die Kunst muß jetzt den Standpunct des subjectiven Idealismus einnehmen und sie wird sein Unrecht theilen, aber hier gilt vorerst sein Recht. Die Philosophie mußte den Realismus zerstören und erst die Wahrheit, daß das Subject Inhalt, Maaß und Ziel aller Dinge ist, bis zu der Spitze treiben, wo es unmöglich war, aus dem Subject, das allen Gegenstand verschlungen hatte, wieder ein Object zu construiren, ehe sie den Weg zum Wiederaufbau der Welt, zum Ideal-Realismus fand; ebenso muß die Kunst, nachdem sie in der bildenden Form das Object dem Geiste gegenüber hin- gestellt und stehen gelassen, die Wahrheit, daß alles Object nur so viel ist, als es für den Geist ist, erst dahin treiben, daß sie dasselbe völlig aufzehrt, ehe sie es aus diesem Grab und Schacht neugeboren, vom Geiste gesetzt und durchdrungen wieder zu Tage bringt. Allerdings aber läßt sich dieß gar nicht aufstellen, ohne daß sogleich auch das Unrecht dieses Standpuncts ausgesprochen wird. Auch der §. sagt daher bereits, daß der Eintritt der Kunst in das Prinzip der reinen Subjectivität ein nothwendiger Durchgang zu einem höheren Dritten sei, und behauptet dieß als Forderung des Be- griffs des Schönen und seiner Begründung im Lebensgesetze selbst. Das Schöne ist die Idee in begrenzter Erscheinung; alle Erscheinung der Idee ist aber wesentlich Erscheinung in der Form des Sichtbaren . Die Idee ist das Leben, das Leben aber ist die Bewegung der Kräfte, welche in Körpern Gestalt haben; das Dasein der Idee ist daher vor Allem Verkörperung. In dem organischen Körper blitzt aus der feinsten Bildung der Materie der Geist auf, der unendlich mehr, als alle Materie, richtiger die Wahrheit aller Materie ist, aber nicht anders, als so, daß sie seine Basis, sein Organ bleibt. Die Kunst wird daher das Sichtbare der Körperwelt nun verlassen dürfen, um es wieder zu suchen, sie wird es nicht getilgt, sondern in Wahrheit nur verborgen haben und daraus folgt, daß diejenige Kunstform, welche sich auf diesen Standpunct stellt, einen eigenthümlich zweiseitigen, ebenso- sehr weiter, nach einer höheren Stufe, weisenden, als für sich berechtigten und selbständigen Charakter tragen wird: ein Begriff, der im Folgenden zu entwickeln und dann mit dem ganzen Gewichte der Ausdrücklichkeit heraus- zustellen ist. Jede Kunst zeigt durch ihre Mängel hinüber auf die andern, keine so fühlbar, so schwebend, wie die Musik. 51* §. 747. Das Subject, welches allen Gegenstand aufgehoben in sich trägt, kann in der Kunst nur das fühlende sein. Vermöge innerer Nothwendigkeit besteht daher im Leben der Phantasie eine besondere Form, worin dieselbe mit ihrem ganzen Wesen sich auf den Standpunct des Moments der Empfindung stellt und blos innerhalb derselben bildet (vergl. §. 404). Die Auffassung der empfindenden Phantasie ist schlechthin eigenthümlich, durch keine andere zu ersetzen und eben- dadurch berufen, eine selbständige Kunstform zu begründen. Zuerst ein Wort zum Schutze des Wechsels zwischen den Ausdrücken: Gefühl und Empfindung. Die psychologische Terminologie ist gewohnt, Empfindung vom sinnlichen, Gefühl vom geistigen Innewerden zu gebrauchen. Allein die Sprache bezeichnet unbestritten auch rein sinnliche Erregungen der Lust und Unlust als Gefühle, und umgekehrt wendet sie mit solcher Bestimmt- heit das Wort Empfindung im intensiven, geistigen Sinn an, daß wir uns schon in §. 404. jener Schulvorschrift nicht bequemen konnten. Ist eine Unterscheidung im Sprachgebrauche wahrzunehmen, so scheint sie uns darin zu bestehen, daß man mit dem Ausdruck Empfinden gewöhnlich den An- eignungs-Act eines Objects bezeichnet, Gefühl aber absolut von dem ganzen Verhalten der Seele zu gebrauchen vorzieht; man sagt lieber: dieß im Ge- mälde, Gedicht u. s. w. ist empfunden, als: gefühlt. Da nun die Unter- schiede der Phantasie in §. 404. darauf begründet sind, daß diese sich mit ihrem ganzen Wesen in den Standpunct des einen oder andern der Acte legt, welche die Momente ihrer Thätigkeit bilden, so wurde schon dort gesetzt: empfindende Phantasie, weil diese darin besteht, daß die ästhetische Schöpfer- kraft sich auf jene Seite der Anschauung, welche im Acte des innigen An- eignens besteht, und auf jenen Anfang der bildenden Erzeugung wirft, welche den Stoff erst in das unbestimmte Weben begeisterter Stimmung taucht. — Von blos sinnlichem Gefühle kann in der Aesthetik natürlich nicht die Rede sein. Eigentlich gibt es gar kein solches, denn was auf die Sinne so oder anders, ihre organische Stimmung fördernd oder störend einwirkt, muß erst von der Seele ergriffen, ihrem Innewerden angeeignet sein, ehe es ein bestimmtes Gefühl, Lust oder Unlust, bewirkt. Eine Seelenstimmung nun, die nur auf einem so apperzipirten bloßen Sinnen-Eindruck beruht, ist aller- dings ein blos sinnliches Gefühl zu nennen in Vergleichung mit andern. Die Kunst aber hat mit diesem Gebiete nichts zu schaffen. Das ganze System des Sinnenlebens tritt jedoch in der Einbildungskraft als ein innerlich ge- setztes noch einmal auf und so gibt es eine Welt von Stimmungen, welche eine verinnerlichte Reminiscenz der sinnlichen Gefühle darstellen. Auf diese kann allerdings die Kunst sich werfen und davon muß weiterhin mit Nach- druck die Rede sein, doch nur um zu zeigen, daß dieß nicht wahre Kunst, diese hat es nur mit dem Gefühle zu thun, das in näherem und nächstem oder entfernterem Sinn einen ethischen Kern hat. Der gegenwärtige §. ist nun eine wesentliche Ergänzung von §. 404; der tiefere Beweis, daß im Organismus der Phantasie eine Nothwendigkeit liegt, in der empfindenden Form aufzutreten, wurde dort der vorliegenden Stelle in der Kunstlehre vorbehalten. Zunächst ganz allgemein philosophisch hat der vorh. §. begründet, daß die Kunst eine besondere Gestalt erzeugen muß, worin das Subject Alles, worin aller Gegenstand in dasselbe aufgegangen ist, daß dieses einmal ganz und ausschließlich zum Rechte kommen muß, um zu zeigen, daß es auch in der bildenden Kunst überall nicht das bloße Object, sondern seine Durchdringung und Durchgeistigung war, was dem Stoffe seinen Kunstwerth gab. Fragt es sich nun, wie diese Forderung sich realisiren soll, so leuchtet ein, daß dieß durch keinerlei Verhalten geschehen kann, worin der Geist auf gegebene Objecte als solche gerichtet ist. Die Anschauung hat das Ihrige in der bildenden Kunst, die auf ihren Stand- punct sich stellte, gethan; ob die verinnerlichte Anschauung, die Vorstellung, also das Einbilden ganz allgemein, ebenfalls den Standpunct abgeben kann, auf den die Phantasie sich stellt, kann hier nicht zur Sprache kommen, denn auch diese Form beruht auf bestimmtem Verhalten zu Objecten. Es bleibt also nur das Subjectivste im Subject, das Gefühl, als Organ der gefor- derten Leistung übrig: die Form, von der sich gar nichts prädiciren läßt, was zu der Bestimmung: mir ist es so und so zu Muthe, in mir klingt die Welt so und so an, irgend eine weitere, einem Object entnommene Eigenschaftsbestimmung hinzubrächte. Allein wir sind im ästhetischen Gebiete, wir reden nicht vom Gefühl überhaupt, sondern von der Phan- tasie als Gefühl, also von dem Gefühl, wie die Kraft der Phantasie sich in dasselbe legt und das Ganze ihrer Thätigkeit in diesem Elemente durch- führt, so daß, was in andern Gebieten Anschauung, Einbildungskraft, Er- zeugung des reinen inneren Urbilds ist, auch hier, jedoch in anderem Sinn, anderer Form vor sich geht. Nach jener Bezeichnung wäre das Gefühl eigentlich ein Unsagbares, Unaussprechliches, denn ohne alle und jede Hülfe objectiver Prädicirung läßt sich doch im Grunde kein Wort finden, zu sagen, wie mir zu Muth ist; eben in diese Lücke aber werden wir nun die Phan- tasie als empfindende eintreten sehen. Es ist im vorh. §. zugleich mit der ersten Einführung in dieses neue Gebiet ausgesprochen, wie dasselbe aller- dings über sich selbst hinausweist, ebenso bestimmt aber ist dessen reine Selbständigkeit behauptet. Dieß findet nun genau seine Anwendung auf das Gefühl als Urheber der sich nunmehr eröffnenden Kunstform. Die Phantasie wird jene Lücke in gewissem Sinn ausfüllen, doch keineswegs so, daß das nun zu einer Welt von inneren Formen und Unterschieden ent- wickelte Element gegenüber dem Dringen des Geistes auf objective Bestimmt- heit nicht noch immer als eigenschaftslos, unterschiedslos sich darstellte: dieß ist die eine Seite, welche merkbarer, als in andern Künsten, fortleitet, weiter weist; aber ebenso gewiß ist, daß das Gefühl mit jener Art von Sprache, die es als Form der Phantasie und Kunst gewinnt, Solches sagen kann, was durch gar kein anderes Organ hinreichend gesagt werden kann. Kein Bild, kein Wort kann dieß Eigenste und Innerste des Herzens aus- sprechen wie die Musik, ihre Innigkeit ist unvergleichlich, sie ist unersetzlich, ein rein selbständiges, in reiner Eigenkraft bestehendes Wesen. Ja die Betrachtung der Musik müßte eigentlich in ganz anderem Umfang, als die der andern Künste, in die Psychologie gezogen werden. Was die letzteren betrifft, so genügt es dieser Wissenschaft, die inneren Unterschiede der Phantasie, worauf sie beruhen, im Allgemeinen aufzuzeigen, was aber das Gefühl sei, erfahren wir so entschieden nur durch die Kunstform, die es sich durch die Bildungskraft der Phantasie in der Musik gibt, daß eigentlich der Apparat dieser Kunst vom Psychologen zu Hülfe zu nehmen ist, um das innere Leben des Gefühls, auch abgesehen von der Kunst, zu beleuchten; von der An- schauung, von der Vorstellung wissen wir auch ohne die Kunst, über das Gefühl belehrt nur sie uns. §. 748. Im Gefühle wird das Subject seiner selbst inne, wie es in seinen Lebens- bedingungen durch die objective Welt gefördert oder gehemmt ist. Es vollzieht nicht den unterscheidenden Act des Bewußtseins, welches Subject und Object auseinanderhält und das letztere durch Prädicate bestimmt; es wird in seiner Reinheit nur gefaßt, wenn es von diesem Acte, der es zwar zu begleiten pflegt, in der Betrachtung ganz getrennt gehalten wird; es ist daher vergleichungsweise dunkel, indem es nur seine eigene Stimmung, nichts von dem Gegenstand aus- sagt, durch den sie erregt ist. Es ist aber eine ungleich tiefere Form des Seelen- lebens, als das Bewußtsein, indem es die objective Welt in das innere Leben des Selbst und dessen einfache Idealität verwandelt. Seine Bewegung ist un- willkührlich, aber ebenso sehr verhüllte Freiheit. In ihm ist der reine Act des Selbstbewußtseins, von dem alle Thätigkeit des Denkens und Wollens ausgeht, in geistiger Naturform vorgebildet. Um den Inhalt des §. zu erläutern, wird es am zweckmäßigsten sein, zuerst die Begriffe: Bewußtsein und Selbstbewußtsein klar zu unterscheiden; es wird dann die Natur des Gefühls, wie es die Mitte zwischen diesen beiden Acten, ja die Mitte der ganzen Geisteswelt bildet, leichter zu fassen sein. Das Bewußtsein ist der Act, wodurch das Subject in klarer Gegen- überstellung sein Ich und das von außen gegebene Object auseinanderhält und in der Unterscheidung zugleich zusammenfaßt. Es erwacht an der Hand der sinnlichen Wahrnehmung, d. h. insbesondere an der Thätigkeit des Ge- sichtsinnes, denn dieser ist es, der Grenzen aufzeigt und die Raumvorstellung vermittelt, welche die nächste Bedingung jenes unterscheidenden Actes ist; wogegen die Sinne, welche auf unmittelbarer Berührung mit dem Gegen- stand und seiner Auflösung und Verflüchtigung beruhen: Tastsinn, Geruch und Geschmack, als Sinne der nicht unterscheidenden unmittelbaren Empfin- dung tiefer im Gebiete der reinen, dunkeln Sinnlichkeit liegen. Nur der Tastsinn, sofern er uns durch den Stoß auf das Feste überhaupt von Körpern überzeugt, hat näheren Antheil an jener Bedeutung des Gesichtsinns. Das Bewußtsein ist nun wohl klare, geistige Gegenüberstellung und Zusammen- greifung des Subjects und Objects, aber noch kein Act höherer Einheits- bildung. Das Ich geht noch nicht in sich, um sich als das wahrhaft Thätige in diesem Acte zu erfassen, sondern erscheint sich nur in und mit dem Ob- jecte, das ihm ein von außen gegebenes ist; es ist Antithese mit blos äußer- licher Synthese, denn es bleibt ganz unentwickelt, ob in der Synthese das Ich nur ein Aufnehmendes oder vielmehr ein wahrhaft Thätiges sei, ganz ähnlich, wie im physischen Sehen ohne Zutritt des Denkens die positive Thätigkeit des Auges unbewußt vor sich geht und der Gegenstand einfach diesem Organe sich zu geben scheint. Den Begriff der Antithese mit unvoll- kommener Synthese haben wir in d. Anm. zu §. 746 schon auf das Ver- halten des Geistes in der bildenden Kunst angewandt, und wirklich steht diese, obwohl mit unendlichem Gehalt erfüllt, noch auf dem Standpuncte des bloßen Bewußtseins. Wir kommen darauf zurück. — Das Selbstbe- wußtsein dagegen ist der absolute Act der Reflexion des Ich auf sich selbst, in welchem die Antithese gegen ein von außen gegebenes Object nebst der blos äußerlichen Synthese abgeworfen und so das Ich nur sein eigenes Object ist. Daß in dem Ich, wiefern es in dieser Einheit des Unterschiedenen Object ist, die ganze Welt der eigentlichen Objecte eingeschlossen liegt, daß das Ich die unentfaltete Welteinheit ist, dieß bleibt in dem abstracten Uract des Geistes, den wir Selbstbewußtsein nennen, noch unerschlossen, als bloße Möglichkeit zurückgehalten. In der That kann das Universum nicht anders begriffen werden, denn als ein in unendlichem Ueberbau von Formen auf Formen sich wiederholendes Auseinanderlegen, Zusammenfassen und In- einanderschieben, Wieder-Auseinanderlegen und Ineinsbilden eines ewig geeinigten Gegensatzes von zwei Gliedern, die wir je nach der Form und Stufe verschieden, schließlich aber als Subject und Object bezeichnen. Im Selbstbewußtsein ist diese gegensätzliche Weltbewegung in die einfache Einheit des nur sich selbst in sich gegenübertretenden Ich zusammengespannt. Soll nun dieselbe sich entfalten, so muß das Selbstbewußtsein sich wieder mit dem Bewußtsein vereinigen, das ein wirkliches, dem Subjecte zunächst fremdes, von außen gegebenes Object hinzubringt. Der Geist, der als Selbstbewußt- sein sich in seiner reinen Thätigkeit erfaßt hat, geht aber nun mit dieser Voraussetzung seiner Autonomie an das gegebene Object und verarbeitet es in das Seinige. Die Formen des Denkens und Wollens sind die Reali- sirung des Selbstbewußtseins, die Entfaltung seines erst unaufgeschlossenen Wesens, wonach es nichts Anderes ist, als die in den Einen, idealen Punct des Ich, das sich selbst Object ist, zurückgegangene Ausbreitung aller Dinge, die sich aus dem Puncte wieder auswickeln soll, nun aber so, daß der Geist die thätige Macht ist, die in ihrer Arbeit Alles durchdringt, das Object denkend in den Begriff aufhebt und den Begriff wollend in objectives Da- sein übersetzt. Da nun keine Form des Geistes für sich allein besteht, so haben wir zu fragen, wie sich das Bewußtsein im oben bestimmten, gewöhn- lichen Sinn, d. h. abgesehen von dieser tieferen Vereinigung mit dem Selbst- bewußtsein, zum Denken verhalte, und die Antwort ist, daß es nicht anders auftritt, als mit einem Denken, aber, sofern es eben unterschieden ist von dessen ganzem, prinzipiellem Prozesse, nur mit der formellen Thätigkeit des Denkens, also ohne dessen Fortgang zur speculativen Idee. Ohne sich von der Grundlage jener, noch auf den Kategorieen der Sinnlichkeit ruhenden Antithese von Subject und Object zu befreien, ist also das Bewußtsein von Denkbestimmungen durchzogen und gibt seinem Acte der unterscheidenden Gegenüberstellung Ausdruck durch das Wort . Es bestimmt das Object und dessen Verhältniß zum Subject, es prädicirt, es urtheilt . — Vergleichen wir nun das Gefühl zuerst mit dem bloßen Bewußtsein, so ist es nach der einen Seite ärmer, als dieses: es prädicirt nicht, es urtheilt nicht, es sagt nichts vom Object aus. Es ist dunkel, es ist — oder scheint blind und, wofern es keine Sprache, als die eigentlich sogenannte, die des Worts, geben soll, auch stumm . Im Gefühl werde ich mir des Verhält- nisses inne, in welchem ein Eindruck oder eine Summe von Eindrücken zu meinen subjectiven Lebensbedingungen steht. Was für ein Object aber und auf welchem Wege, durch welchen Proceß es diesen Eindruck auf mich her- vorgebracht hat, dieß habe ich, sofern ich mich blos empfindend verhalte, vergessen , ich vernehme nur mich selbst, wie ich gestimmt bin, bin nur bei mir, verkehre nur mit mir, das Object ist einfach in das Subject gefallen, löst sich in ihm zu einer bloßen Resonnanz auf. Die Dinge klingen in mir an, ihr Wiederhall ist in meinem Innern, aber ich verhalte mich nur zu diesem Klang, nicht zu seiner Ursache im Object, höre das Echo, nicht den Rufer. Kurz dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenschlags von Subject und Object, es verhält sich zum Bewußtsein wie Schlaf zum Wachen, das Subject sinkt in sich hinein und verliert den Gegensatz zur Außenwelt. Um diese Natur des Gefühls streng zu fassen, muß man dasselbe rein für sich nehmen, wie es empirisch nur als verschwindender Moment vorkommt. Der Geist ist so sehr seinem innersten Wesen nach Bewußtsein, daß er dasselbe nur augenblicklich im Bewußtlosen auslöschen kann und daß er dieses, sowie es eingetreten, alsbald wieder mit jenem erfaßt. In der Er- fahrung ist daher das Gefühl eigentlich stets vom Bewußtsein begleitet und dieses gibt über dessen objectiven Ursprung bestimmte Aussage. Die bis- herige Psychologie wußte die Lehre vom Gefühle nur dadurch zu einem gewissen Umfang von Classificationen zu entwickeln, daß sie von reinen Gefühlen solche unterschied, die einen ausgesprochenen objectiven Inhalt haben; das Schwere ist freilich die Aussonderung des reinen Gefühls aus seiner Vermischung mit dem Bewußtsein, aber das Wesen desselben liegt in seiner Wahrheit gerade nur dann vor, wenn vom objectiven Inhalt, wor- über das begleitende Bewußtsein Rechenschaft gibt, völlig abgesehen wird. Wir haben Augenblicke, wo es uns frei und heiter, bang und wehmüthig, mild, rauh, düster, warm, kalt u. s. w. zu Muth ist, wir wissen nicht warum, wir ahnen ein Gut oder Uebel, erinnern uns dunkel eines solchen, ohne es zu kennen; Antonio im Kaufmann von Venedig sagt, er wisse nicht, was ihn traurig mache; wie er d’ran gekommen, wie’s ihm angeweht, von was für Stoff es sei, von was erzeugt, das solle er erst erfahren: dieß sind die reinen Stimmungsmomente, aber eben nur Momente, denn so wie wir versuchen, die Stimmung zu bezeichnen, gesellt sich schon das Bewußtsein dazu, beginnt die Beziehung auf ein Object und folgt der Ueber- gang in ein Denken oder ein Wollen. Wir können so das Gefühl zunächst mit jenen Sinnen-Empfindungen vergleichen, welche uns kein Bild eines Gegenstands vermitteln, wie der Tastsinn, sofern er nicht durch die Hand sich von den Formen überzeugt, sondern nur Warm, Kalt, Glatt, Rauh u. s. w. empfindet, der Geschmack und Geruch; das Bewußtsein entspricht im Gegentheile genau oder dient vielmehr wirklich der Wahrnehmung durch den Gesichtsinn, und wie ohne dessen Hülfe jene Sinne nichts vom Object als solchem erfahren, so das Gefühl nichts ohne Hülfe des Bewußtseins. Freilich geräth der erste Theil dieser Vergleichung dadurch in’s Schwierige, daß das Gefühl vielmehr einem höheren Sinne, dem Gehör, entspricht; doch ohne daß wir für jetzt irgend näher darauf eingehen, dürfen wir bereits geltend machen, daß das Gehör, obwohl auf ungleich geistigerer Stufe, jenen dunkeln Sinnen tief verwandt ist. Um so unmittelbarer wird unsere Begriffsreihe gefördert durch den andern Theil der Vergleichung; denn unser obiger Satz, daß die bildende Kunst der psychischen Form des noch anti- thetischen, aber dafür den Vortheil objectiver Klarheit genießenden Bewußt- seins entspreche, erhält nun die nähere Begründung, daß das Organ, mit welchem und für welches sie thätig ist, das Auge, die eigentliche Basis für diese Geistesform bildet. Diese Seite der Vergleichung führt nun aber auch zu dem, was das Gefühl trotz seinem Dunkel, ja eben durch dasselbe vor dem Bewußtsein an Tiefe voraus hat. Es ist in der Psychologie oft be- merkt, daß die Wahrnehmungen des Gesichtsinns vergleichungsweise gleich- gültig seien, daß Formen und Farbenverhältnisse niemals mit der persön- lichen Affection aufgenommen werden, wie die Verhältnisse, die von jenen dunkleren Sinnen ergriffen werden; so ist nun auch das geistige Analogon des Gesichtsinns, das Bewußtsein, gleichgültig. Das Gefühl dagegen ist der Moment, wo der Gegenstand schlechthin verinnerlicht, zu dem Meinigen, zu meiner eigenen, innersten Bewegung wird; sein Wesen ist die absolute Theilnahme an den Dingen, oder vielmehr das absolute Umsetzen der Dinge in das Selbst, dieß reine Zusammenschießen beider in Eines, das ein bewegtes Ich ist, das „Zurückschlingen der Welt in das Herz.“ Was an objectiver Klarheit verloren ist, ist an absoluter Innigkeit gewonnen; die ganze Welt geht ein in das Innere, wird dieser einfache, ideale, oscillirende Punct. Vergleichen wir nun diesen Act der unendlichen Verinnerlichung mit dem Selbstbewußtsein in seinem strengen Unterschiede vom bloßen Bewußtsein, so ergibt sich zunächst, daß das Gefühl auf gleicher Höhe mit demselben steht, sofern in beiden die äußere Antithese verschwunden, Subject und Object in Eins zusammengefaßt sind, das Außereinander der Dinge zum einfachen reinen Insichsein eingekehrt ist. Das Selbstbewußtsein aber ist in diesem Insichsein zugleich klare Scheidung und ebenso klare Einigung des Geschiedenen, daher der große Ausgangspunct, von dem jene weitere Scheidung beginnt, in welcher an die Stelle des Objects, wie es nur das sich entgegentretende Subject selbst ist, das wirkliche, äußere Object tritt, um in das Subject so verarbeitet zu werden, daß dieses nun auch in der erschlossenen realen Welt sein Gegenbild erkennt und zugleich im Handeln sich selbst erschließt und zur Objectivität expandirt. Nach dieser Seite mit dem Selbstbewußtsein verglichen erscheint nun das Gefühl dunkel wie in Vergleichung mit dem Bewußtsein: es fehlt ihm nicht nur die Klarheit der unterscheidenden Gegenüberstellung des gegebenen äußeren Objects, welche diesem, sondern auch die das Ich in sich scheidende Reflexion, die jenem eigen ist. Es steht jedoch an der Schwelle der letzteren; wir werden dieß aus dem wesentlichen Grundgegensatz erkennen, der seine innern Bewegungen bestimmt und von dem hier nur so viel schon hervorzuheben ist: der Lust und Unlust liegt eine Setzung und Negation des Subjects zu Grunde, ein Analogon von Ich und Nicht-Ich, denn in der Lust fühle ich mich positiv bestätigt und gefördert, in der Unlust erwehrt sich das Ich seiner selbst, wie es gegen seine Lebensbedingungen bestimmt, in seinem Wesen verneint ist. Es fehlt das volle Licht der gewußten inneren Scheidung in diesem Prozesse, aber er ist der wiewohl noch weiche Keim derselben, ihr Anreiz und Vorbote, und insofern ist das Gefühl von Carus (Psyche S. 288 ff.) richtig als der Punct bezeichnet worden, wo die unbewußte Welt der Seele so eben an die bewußte sich mittheilt. Ist nun aber das Gefühl nach der Seite der Klarheit und der Schärfe der Contraction allerdings weniger auch als das Selbst- bewußtsein, so ist es nach der andern Seite nicht nur, wie schon gesagt, eine ihm analoge, sondern eine ungleich vollere und offnere Form des Geistes, als dieser stricte Act der Selbsterfassung. Das Selbstbewußtsein ist nach dem Obigen vollkommene Abstraction von der realen Wirklichkeit desselben Gegen- satzes, den es selbst als idealen, rein formalen Punct in sich darstellt; das Ich hat vollständig vergessen, daß es als Subject und Object in Einem diese Uebersetzung der ganzen Welt in die reine Form der Idealität ist, und es soll erst daran gehen, diese Uebersetzung wieder umzukehren und sich als Thätigkeit im Denken und Wollen zur Welt zu erweitern. Nun haben wir zwar auch vom Gefühl gesagt, daß es nur sich selbst vernehme, aber es vernimmt sich so, daß es doch zugleich auf die umgebende Welt in ihrer realen Mannigfaltigkeit mit absoluter Theilnahme bezogen ist. Im Selbst- bewußtsein sind die unendlichen Fäden, welche von der Welt in das Subject und von diesem zu der Welt auslaufen, vorerst abgeschnitten, um durch freie That neu geknüpft zu werden, im Gefühle sind sie in voller Thätig- keit als Vermittler der tiefsten Sympathie, aber vergessen sind ihre Enden am Object. Im Gefühle vernehme ich mich als Welt-Centrum, im Selbst- bewußtsein weiß ich mich als absoluten Punct. Im Gefühle sind daher alle die Formen, in welchen der Geist, der im Selbstbewußtsein sich zur Spitze des Fürsichseins zusammengefaßt hat, von da wieder hinaus- und übergreift, sichtbarer vorbereitet, als in dieser, obwohl in sich so viel helleren und acuteren Form. Wir werden sehen, wie das Gefühl vorzüglich dadurch auf die thätige, entwickelte Geisteswelt hinausweist, daß ihm namentlich der Uebergang in den Willen nahe liegt. Doch abgesehen von dem wirklichen Uebergang in die praktische Form des Geistes ist das Gefühl schon an der gegenwärtigen Stelle auch mit der Grundbestimmung derselben, der Freiheit, zusammenzuhalten. Das Gefühl ist unwillkührliches Gestimmtsein, es ist mir angethan, angeweht, es ist an mich gekommen ganz in der Weise der Unmittelbarkeit, der Naturbegebenheit. Aber dieß ist nicht die Unfreiheit, mit welcher das Verhalten des Geistes behaftet ist, der auf der Stufe des bloßen Bewußtseins seinen Beruf zur freien Selbstbestimmung und Bestim- mung der Welt hinter den Eindrücken und Reizen des Objects zurückbehält und sich nun von diesen treiben und führen läßt; das Gefühl kann darum nicht unfrei genannt werden, weil es in diesem antithetischen Sinne gar keine Freiheit hat. Hier ist das ganze Selbst dem Eindruck ohne Rückhalt hingegeben, aber indem es ihn ganz einläßt, nimmt es ihm auch seine Fremdheit, seine Objectivität, sein Gegebensein, macht das Aufgenommene ganz zu dem Seinigen, verarbeitet es, setzt es ganz um in das rein sub- jective Leben. Wenn nichts mehr neben und außer mir ist, bin ich auch von Nichts in der Welt unfrei abhängig; ich bin durchaus durch das Auf- genommene bestimmt, aber eben weil ich es durchaus bin, so ist keine neben diesem Bestimmtsein im Hintergrunde zurückgehaltene Freiheit verkürzt und unterdrückt, ich bin ganz bei mir und damit ganz frei, ganz Zustand und ganz reine Selbstbewegung, das ganze, freie Ich hat sich selbst ganz in der Form der Nothwendigkeit, der Natur, ähnlich wie das Genie die höchste Freiheit und doch in Form der Naturnothwendigkeit schaffender Instinct ist. Wir sagen, man solle nicht dem Gefühle folgen, es sei ein trügerischer Führer, da setzen wir die entwickelte Geisteswelt voraus, wo neben dem Gefühle der denkende Wille in sein Recht getreten ist; wir sagen ein ander- mal, das Gefühl leite sicherer, als der Verstand der Verständigen, da haben wir das Gefühl als die implicirte Einheit aller Geisteskräfte, die ihren Compaß in sich trägt, im Auge, und dieser Sinn ist es, in welchem es hier, wo es allein für sich eine ganze Kunstform begründen soll, betrachtet wird. Freilich auch auf diesem Standpuncte reden wir von unreinem und reinem Gefühl und verlangen, daß es in sich selbst den Kampf jenes Gegensatzes von Lust und Unlust zur Harmonie läutere; allein auch in seiner Isolirung unterliegt das Gefühl dem Gesetze der Zurechnung; eben weil das ganze und volle Geistesleben flüssig in ihm wogt, gibt es eine Schuld und eine Tugend des Gefühls. Diese Seite wird allerdings in ihr volles Licht erst treten, wenn wir in das Concrete gehen und das Gefühl als Product eines vorangegangenen persönlichen Lebens betrachten, allein es ist ebenso wahr, daß allen bestimmten Gegensätzen im Leben des Menschen das Gefühl als ein Grundgefühl seines ganzen Naturells vorangeht, Gut und Bös in ihm vorbereitet ist, und dieß genügt vorerst, um den Begriff der Imputabilität auf es anzuwenden. Derselbe kann jedoch allerdings nicht in der Schärfe gelten, wie in der Anwendung auf den Geist, der aus der dunkeln Einheit des Gefühls herausgetreten ist; die Beziehung bleibt dunkel, das Gefühl liegt im Zwielicht zwischen Schuld und Unschuld. Es war nöthig, von dieser Untersuchung über das Wesen des Gefühls und seiner Stelle unter den Hauptformen des Geistes auszugehen; es wird sich zeigen, daß dieß nicht umsonst geschehen ist. Die gegebene Erörterung schließt sich zum Theil an die Auffassung von K. Th. Planck (die Weltalter I. Theil). §. 749. Es ergibt sich, daß das Gefühl die lebendige Mutter des gesammten Geisteslebens ist. Es schwebt zwischen dem Sinnlichen und Unsinnlichen, die bestimmten Thätigkeiten des Geistes treten aus seinem Schooß hervor, werden von ihm begleitet, wie sie es begleiten, wirken bestimmend und bereichernd auf es zurück und erlöschen wieder in ihm. Vermöge dieser seiner Stellung scheint auch die gegenständliche Welt beständig an der Schwelle des Gefühls bereit zu stehen und klingt in ihm eine stete Möglichkeit an, zu objectiver Bestimmtheit, zu wirklicher Aussage über den Gegenstand seiner Erregungen überzugehen. Nach dem vorh. §. erscheint das Gefühl zunächst als Mitte zwischen dem Bewußtsein und dem Selbstbewußtsein; jenes versinkt in ihm als der tiefen Aneignung der Welt, worin die Antithese zwischen Subject und Object schwindet; dieses, obwohl nach anderer Seite ärmer, als das Gefühl, tritt aus ihm hervor als Ausgangspunct der höchsten geistigen Thätigkeiten, die auf klarer Scheidung beruhen. Das Bewußtsein muß, wie wir gesehen, zu diesen letzteren treten, um die objective Welt zu erfassen, als Form an sich aber steht es noch auf der sinnlichen Kategorie des Ausschließens, da es Subject und Object nicht wahrhaft in Einheit setzt, sondern nur ver- knüpft. Daher liegt an der Grenze des Sinnlichen zunächst das Bewußt- sein: der Aufgang des geistigen Tags im Dunkel der blos sinnlich empfin- denden Seele, der aber noch nicht die innere Einheit aller Dinge, sondern nur ihre Grenzen beleuchtet. Vermöge dieses seines Mangels können wir aber nun das Bewußtsein ohne logischen Widerspruch mit der Sinnlichkeit zusammenfassen und an das Ende dieses Ganzen wie an den Anfang des reinen , selbstbewußten geistigen Tages das Gefühl stellen. Die Sinn- lichkeit läuft in ihm aus, der Geist taucht aus ihm auf; die Raumwelt mit den Trennungen ihrer Grenzen geht nieder in seiner Nacht und ferne dämmert der neue Tag des reinen Geistes. Das eigentlich sinnliche Ver- halten haben wir vom Gefühl als Prinzip einer Kunstform ganz ausge- schlossen, aber es führen unendliche, unsichtbare Leiter zu ihm hinüber. Wir stehen vor dem dunkeln Geheimniß des Nervenlebens, das nach der einen Seite der Ausläufer des Sinnenlebens ist, der dessen concentrirteste Reize nach innen wirft, und auf der andern der Träger jeder reinsten geistigen Thätigkeit. Hier handelt es sich daher von einer innerlich reflec- tirten und darum nur um so heißeren Sinnlichkeit, welche mit wunderbaren Geistesahnungen sich so nahe zusammenfindet, daß beide jeden Moment ineinander umschlagen können. — Blicken wir nun vorwärts nach der Welt des klaren, selbstbewußten, im Denken und Wollen die Welt zur Einheit durchdringenden Geistes, so kann zunächst die Bestimmung, daß das Gefühl der dunkle Schooß sei, woraus sie auftaucht, nicht so verstanden werden, als könne nicht von ihm auch in jedes andere, niedrigere, auf der Stufe des bloßen Bewußtseins verbleibende Verhalten übergegangen werden; die Psychologie hat den geistigen Formen die Stelle anzuweisen, die sie ihrem reinen Begriffe nach einnahmen, sie darf aber darüber nicht vergessen, daß das Leben ein unendlicher Kreis von unendlichen Radien ist, wo außer der begriffsmäßigen Reihe jedes in jedes hinüberwirkt und hinüberführt. Das Gefühl ist auch nicht verschwunden, wenn die Energie des scheidenden und durch Scheidung einigenden Geistes aus ihm hervorgebrochen ist: es be- gleitet als Reminiscenz des Ursprungs aus der dunkeln Innerlichkeit und tiefsten Eigenheit jedes Thun, läuft als umspielende Woge mit, accompagnirt den wachen Geist auf seiner Bahn. In dieser Begleitung wird es bald abnehmen, zurückgedrängt werden, bald aber auch neue Zuschüsse erhalten; das Unbewußte weicht dem Bewußten, es kann sich aber auch im Hin- schweben an seiner Seite durch dasselbe bereichern: ein Moment, das in der Frage über das Verhältniß der reinen oder Instrumental- und der beglei- tenden Vocal-Musik wichtig wird. — Endlich erlöschen alle scheidenden Geistesthätigkeiten im Gefühle; natürlich nicht immer, aber das Geistesleben setzt sich mit Nothwendigkeit seine Pausen, wo es niedertaucht in diese Nacht der einfachen Innigkeit. Diese Pausen sind nun zugleich Ansammlungen jener einzelnen Bereicherungen, die es in seiner begleitenden Bewegung er- halten hat, und aus dieser tief bereicherten Subjectivität müssen umgekehrt die bewußten Thätigkeiten, wenn sie abermals hervortreten, die vielfachste Nahrung ziehen. Eigentlich versteht es sich, daß das Gefühl leer, also nicht vorhanden wäre, wenn nicht das bewußte Leben ihm Stoff zuführte, aber es ist zu unterscheiden zwischen dem Gefühl, das sich auf die allge- meinsten Lebensreize gründet und zwischen dem im Fortschritte sich tiefer und tiefer füllenden. Alle diese Verhältnisse, Uebergänge sind nun also schlechthin flüssig, ein beständiges Werden und Weichen, und wir haben so eine allseitige beständige Beziehung des ganzen Lebens auf das Gefühl; es verhält sich zu Allem und Jedem im Subjecte und zwar so, daß Alles und Jedes nur durch diese centrale Grundaneignung wirklich dem Subject innerlich, das Seinige, daß das Subject nur dadurch in und bei der Sache ist (vergl. Hegel Encykl. d. ph. W. §. 400 Anm.). Man nennt dieß im gewöhnlichen Leben Wärme und den Menschen, der die Thätigkeiten des Geistes ohne diesen Antheil des innersten Selbst vollzieht, kalt : eine tiefe Vergleichung mit dem Naturleben, wo erst mit dem höheren, innigeren thierisch-organischen Leben jene stetige Auflösung und Erneuerung beginnt, die als Brennungs- prozeß in der Wärme sich kund gibt. Die stetige Zusammenfassung des subjectiven Lebens im Mittelpuncte des Gefühls heißt Gemüth; der Gemüth- lose behält sich in seinem Verkehr mit der Welt zurück, er legt sich nicht in die Dinge oder, was dasselbe ist, läßt sie nicht in sich einfließen, ihm ist Alles blos ein Nebeneinander, und er selbst steht zugleich unendlich über der durchschnittenen Welt. Liegt nun dem Gefühle, wie gezeigt ist, unmittelbar der stetige Ueber- gang in die klar scheidenden Thätigkeiten des Geistes nahe, so muß mit seinen Bewegungen, auch wo es ganz in sich bleibt, der Eindruck verbunden sein, als wollten diese so eben eintreten; sie lauschen beständig an der Schwelle des Gefühls und mit ihnen das Object . Die Subjectivität des Gefühls ist also eine schwebende; sowie man es festhalten, fixiren will, stellt sich fast unvermeidlich die Beziehung auf einen Gegenstand ein. So ist z. B. die Furcht ein Gefühl, das nicht rein, sondern vom Bewußtsein begleitet ist, denn sie geht auf einen erkannten Gegenstand; ziehe ich dieß ab, so bleibt die unbestimmte Bangigkeit, an deren Horizont aber immer wieder das Object, worin die Ursache dieser Stimmung liegt, wie eine leichte Wolke schwebt, die sich zu verdichten und aufzuziehen im Begriff scheint. Das Gefühl ist objectlos und doch jeden Moment im Begriff, objectiv zu werden. Setzen wir nun, was wir erst im Verlauf ableiten werden, voraus, daß das Gefühl eine eigene Kunstform finden wird, die ihm ohne Worte als Sprache dient, so wird die Folge dieser stets fühlbaren Nähe der be- wußten und gegenständlichen Welt die sein, daß der, welcher diese Gefühls- sprache vernimmt, zugleich seine bestimmteren Geistesthätigkeiten mitangeregt fühlt: die Phantasie als inneres Auge führt ihm Gestalten vor, welche auf den Wellen des Gefühlsrhythmus in traumartig verschwimmenden Umrissen sich bewegen; Erinnerungen, bestimmte Vorstellungen schießen ihm an, er gibt dem ausgedrückten Gefühl ein bestimmtes Object. So viele Zuhörer, so verschiedene Vorstellungen, wiefern solche nur mit der Stimmungsfarbe des im Kunstwerk ausgesprochenen Gefühls verträglich sind, umgaukeln nun den Fluß des letzteren; Jeder glaubt die besonderen Geheimnisse seiner Brust aufgeschlossen. Und dieß ist so wenig eine Trübung des dargestellten Ge- fühls, daß es vielmehr nur eine Realisirung der in ihm liegenden steten Möglichkeit ist, nach allen Seiten in die Form der Vorstellung mit be- stimmtem Inhalt überzugehen. Die Musik gibt im Gefühl eingehüllt die ganze Welt, der Zuhörer öffnet in unendlicher Verschiedenheit die Hülle. Allein wir haben schon oben auf einen höchst wesentlichen Unterschied auch in der Kunstform selbst hingedeutet, dessen nähere Begründung sich nun von selbst ergibt: wie das Gefühl in seiner Reinheit, d. h. ohne begleitendes Bewußtsein empirisch nur als verschwindender Moment vorkommt, wie es vielmehr in seinem Wesen liegt, daß es stets im Sprung ist, überzugehen in die bestimmte, Objecte aufzeigende Geisteswelt, so wird es auch in der Kunst zu einer Anlehnung hinstreben, worin eine andere, das Object nennende Kunst-Gattung seinem Dunkel zu Hülfe kommt und ihm bestimmten Inhalt gibt; daraus werden wir die Vocal-Musik im Unterschiede von der reinen, d. h. der Instrumentalmusik hervorgehen sehen. In dieser Verbindung wird sich nun das Gefühl eines bestimmten Inhalts, eines Gegenstands bewußt: nun weiß ich, was mich bang oder frei, traurig oder heiter stimmt; nun hat jene Schwierigkeit ein Ende, das mit dem Worte zu bezeichnen, was dem Worte sich entzieht, und nun ist den Zuhörern vorgezeichnet, mit welcherlei Vorstellungen sie ihre Gemüthsbewegungen zu begleiten haben. Es ist zu §. 698 von der Landschaft, dem der Musik verwandtesten Zweige der Malerei, gesagt worden, das in ihr niedergelegte Gefühl lasse sich nicht recht in Worten ausdrücken, man wisse nur etwa zu sagen: das fühlt sich so öde, so hart, so schwül, so dämmernd, so feucht an u. s. w. Ebenso fühlt sich die bloße Instrumentalmusik, wir suchen nach Ausdrücken und wählen sie aus dem Gebiete dunkler, halb physiologischer Zustände des atmo- sphärischen Lebens u. s. w.: sanft, stürmisch, dumpf, hell, verhüllt, offen, schwungvoll, matt, gespannt, gelöst, schleichend, beflügelt u. s. w.; an das Wort des Dichters gelehnt gewinnt nun die Stimmung, die ihr Ansich so unzulänglich auszusprechen vermag, Körper und Inhalt, das Räthsel sein Wort. Wir haben aber in §. 748 gesehen, daß das Gefühl in seiner Reinheit nur vorliegt, wo es von dem begleitenden Bewußtsein getrennt wird, und somit stehen wir vor einer schwierigen Wahl: entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung, die es deutet, seiner Objectlosigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object bezogenes, aber nicht mehr in seiner Reinheit vorliegendes Gefühl. Eine gedankenreiche, durchaus anregende Schrift: Vom „Musikalisch- Schönen“ u. s. w. von Hanslick widerlegt geistvoll die Ansicht, daß be- stimmte, d. h. ein Object voraussetzende Gefühle den Inhalt der Musik bilden; sie geht aber weiter und behauptet, die Musik könne auch nicht „unbestimmte Gefühle“ zum Inhalt haben, denn Unbestimmtes darstellen sei ein Wider- spruch. Allein was in gewisser Vergleichung unbestimmt ist, kann in anderer ganz bestimmt sein und wir werden im Folgenden uns mit derjenigen Be- stimmtheit beschäftigen, welche dem Gefühl in all seiner beziehungsweisen Unbestimmtheit allerdings eigen ist; Hanslick selbst deutet sie mit demjenigen an, was er treffend die reine Dynamik , die Bewegungsverhältnisse des Gefühls nennt. Dieses dynamische Gefühlsleben muß nun aber ein wirkliches Dasein haben auch abgesehen von der Musik, wiewohl wir es fast nur durch Rückschlüsse aus dieser errathen, und so ist es Inhalt der Musik. Was H. sehr richtig gegen die falsche Trennung zwischen Inhalt und Form sagt, widerlegt nicht die Nothwendigkeit, beide Begriffe zu unter- scheiden , und indem er sich auch dagegen kehrt, bewegt er sich in der Tautologie, die geordnete Tonwelt als die Form und diese Form wieder als den Inhalt der Musik zu behaupten. Wie zwischen Seele und Körper streng zu unterscheiden ist, obwohl der Körper nur als die Realität der Seele, die Seele als die Identität des Körpers richtig begriffen wird, so ist die Musik zwar das untrennbare Ganze von Ton und Gefühl, tönendes Ge- fühl, und doch muß die Analyse beide auseinanderhalten, um ihre Einheit zu zeigen. Daß man ohne Hülfe der Tonwelt das Gefühl nicht ergründen kann, daraus folgt nur, daß der Inhalt der Musik jene Geistesform ist, die sich durch Worte nicht zu offenbaren vermag: „füße Liebe denkt in Tönen, denn Gedanken steh’n zu fern.“ Selbst jene Theorieen von „bestimmten Gefühlen“ in der Musik sind nur in gewissem Sinne falsch, sofern ihnen nämlich die Meinung zu Grunde liegt, es lasse sich das Bestimmte eines Gefühls außerhalb der Musik durch Begriff und Wort fassen, ohne aus dem Elemente des Gefühls herauszutreten, und man könne von einem so definirten Gefühle sprechen wie vom Stoffe, vom Süjet des Malers und Dichters; sie sind nicht falsch, sofern sie sagen wollen, daß jedes Musikwerk eine spezifisch individuelle Stimmung zum Inhalt haben muß. — Zu der Tautologie gesellt sich übrigens in jener Schrift der unvermeidliche Wider- spruch, daß hinterher doch „Gedanken und Gefühle, die theuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeists“, als „Gehalt“ der Tonkunst eingeräumt werden müssen. §. 750. Das Gefühl durchdringt sich mit dem Lebensgehalte des Individuums und 1. legt sich mit dieser Fülle in die einzelne Stimmung. Da aber in allen indivi- duellen Unterschieden die Grundbewegungen des menschlichen Wesens dieselben sind, so ist der Charakter der Allgemeinheit und Nothwendigkeit durch diese Individualität ebenso wenig, als durch die Subjectivität des Gefühls überhaupt ausgeschlossen. Jede menschlich wahre individuelle Stimmung enthält das Gefühl 2. des Endlichen und Unendlichen in irgend einer Weise geeinigt und so die Be- dingungen in sich, die Idee in begrenzter Erscheinung darzustellen. Die Idee als Gefühl des Unendlichen begründet ein besonderes Verhältniß zur Religion. 1. Natürlich werden in dem einen Musikwerk mehr allgemein mensch- liche Stimmungen in ihrer Einfachheit, in dem andern die tieferen Com- plexionen des Gefühls, wie sie nur bedeutenden Individuen eigen sind, zum Ausdruck kommen; das Letztere aber, als die höhere und wesentliche Aufgabe der Tonkunst, ist hier in’s Auge zu fassen, um das Leben des Gefühls in seine tiefere Sättigung zu verfolgen. Es erhält nun seine bestimmtere Anwendung, was zum vorh. §. über die Bereicherung und Ernährung des Gefühls durch das bewußte Leben gesagt ist. In dem unendlichen Kreislaufe des Seelenlebens wird der ganze Schatz eines vor- hergegangenen Lebens, die ganze Summe der Erfahrungen, des Leidens und Thuns der Persönlichkeit in das Gefühl umgesetzt und es ergänzt sich an dieser Stelle, was über freie oder unfreie Bestimmtheit des Gefühls gesagt ist: das Gefühl als Grundstimmung des Individuums ist das Er- gebniß seines Lebens und also mittelbar das Werk seines Willens: schließ- lich bin ich selbst der Schöpfer meines Gefühlslebens. Diese, so mit dem Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 52 Lebensgehalt erfüllte Grundstimmung des Individuums legt sich nun in die einzelne Stimmung, wie sie durch den Moment und seine Anlässe gegeben ist, und hiemit zieht sich der Begriff des Individuellen, d. h. des Einzelnen, das seine nur ihm eigene Farbe hat, noch fester und enger an. — Nun haben wir das Gefühl als eine rein subjective (obwohl an der Schwelle der Oeffnung zum Object sich hinbewegende) Geistesform kennen gelernt, die ebendarum „unsagbar“ ist, wir haben jedoch immer in Aussicht gestellt, daß sich eine andere Form, als das Wort, für ihre Mittheilung finden werde; jetzt dagegen tritt noch dieß Individuelle hinzu und erhöht die Schwierigkeit. Das rein Individuelle ist in gewissem Sinn immer incommensurabel; in der Malerei aber konnte dieß Incommensurable kein Hinderniß der Darstellung, Mittheilung, des Verständnisses sein, denn es schlägt sich in der sichtbaren Form nieder, in der es uns überhaupt geläufig umgibt, hier dagegen, wo Alles im Schooße der Innerlichkeit verläuft, scheint nun der zu findenden Mittheilungsform in dieser neuen Instanz ein unübersteigliches Hinderniß zu erwachsen, indem sich der Zweifel aufdrängt, ob dieß Eigenste, diese dunkle Tiefe überhaupt und vollends ohne allen Anhalt des deutlichen Unterscheidens von Objecten sich soll verständlich machen können. Dennoch gilt hier ganz dasselbe, was von der sichtbaren Form: jede unendliche Eigenheit der individuellen Gestalt ist doch nichts Anderes, als eine so nur auf diesem Puncte gegebene Mischung und Complication der allgemeinen Gattungsform und daher auch der Gattung verständlich und einleuchtend, ebenso ist die individuellste Stimmung des Gefühls doch nichts, als eine nur auf diesem Puncte eigenthümlich gege- bene Proportionsmischung der Elemente des Gefühls, welche der Gattung gemeinschaftlich sind, so daß auch die individuellste Gestaltung des Gefühls- lebens von Jedem verstanden wird und verstanden werden muß, in welchem überhaupt dasselbe nicht zurückgeblieben oder verkümmert ist; was aber die Mittheilungsform betrifft, so muß, wenn überhaupt eine solche für das Gefühl sich findet, dieselbe auch ihre Mittel zum Ausdrucke des Individuell- sten mischen können. So kommt denn dem Schönen in Gefühlsform die- selbe Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu, wie, mit Kant zu reden, dem Geschmacksurtheil in allen andern Gebieten. 2. Es könnte scheinen, als sei durch den Uebertritt in das neue Element unser Grundbegriff des Schönen verloren gegangen. Allerdings steht, wenn wir das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erscheinung bestimmen, die objective Deutlichkeit der sichtbaren Erscheinung (welche innerlich vorgestellt in der Poesie sich wieder herstellt) im Vordergrunde dessen, was dieser Begriff umfaßt, und es bleibt bei dem, was in §. 746 gesagt ist. Allein es ist doch die objective Welt, welche im Gefühl aufgelöst, in ein anderes Element, in das Subjective übersetzt ist, es ist die Raum- welt, die im Subject ausklingt, dieses, mit einer Summe von Erscheinun- gen, deren Grundlage räumliches Dasein ist, im tiefen innern Wechselver- kehr, muß, obwohl dieser Verkehr alle objective Bestimmtheit im Gefühl auslöscht, doch in ihrer Art auch ein geschlossenes Bild darstellen können. Dieß ist die einzelne Stimmung. Die begrenzte Erscheinung, die wir for- dern, ist nun in ihr gegeben, wie sie durch ein Medium, das wir noch dahingestellt sein lassen und das freilich kein sichtbarer Körper sein kann, aber doch fähig sein muß, das Individuelle, Gefüllte und Begrenzte dieser Stimmung auszudrücken, sich den Sinnen und vermittelst ihrer dem Geiste kund gibt. Diese Stimmung ist zunächst Abbild des Endlichen, eines endlichen Verhältnisses, d. h. der Zustand eines Einzelnen, der durch einen Theil des Weltganzen so oder anders erregt ist. Darin ist zugleich gege- ben, was wir im ersten Theile (§. 13. 15) die bestimmte Idee nennen. Wir setzen nun voraus, daß, noch abgesehen von der Ideal-bildenden und künstlerisch thätigen Phantasie das Gefühl auch die Rückführung dieser ihrer besondern Stimmung auf die absolute Idee, auf das Leben des Ganzen in sich enthalte. Der idealisirenden Phantasie ist dadurch ihr Geschäft nicht abgenommen, denn auch das Gefühl, das ein Stück Welt sub specie aeterni auffaßt, bleibt verglichen mit ihrer Bildungskraft noch formlos. Diese Voraussetzung ist keine andere, als diejenige, welche in §. 392 für alle Phantasiethätigkeit aufgestellt ist, und wir haben sie bereits in dem ersten Theile des gegenwärtigen §. wiederholt, denn Allgemeinheit und Nothwendigkeit hat das Gefühl nur, sofern es mit der Erregung durch Endliches zugleich flüssig die Bewegung zum Unendlichen enthält, das Gefühl des Absoluten ist ja, um Schleiermacher’s Ausdruck zu brauchen, Existentialgefühl. Wir wiederholen jene Forderung von §. 392, daß der Künstler ein ganzer, vom Ewigen durchdrungener Mensch sei, der alles Einzelne in die Einheit der Idee zurückführt, nur deßwegen gerade hier, weil der augenblickliche Schein entstehen könnte, als ob uns auch nach dieser Seite unsere Definition des Schönen in dieser eigenthümlichen Sphäre verloren gehe; denn in andern Kunstgebieten läßt sich die Beziehung der bestimmten Idee zur absoluten in Gedankenform herausfinden: es ist Wirken der ewigen Gerechtigkeit im Einzelschicksal, es ist Vollkommenheit der zeu- genden Naturkraft, die eine Aussicht auf die Vollkommenheit auch der sittlichen Welt eröffnet, u. s. w. Allein vielmehr umgekehrt verhält es sich bei näherer Betrachtung: das Unendliche ist in keiner Form unmittelbarer dem Geist gegenwärtig, als in der Gefühlsform, und jenes primitive Ver- halten des Geistes, der alle Gegensätze in sich versöhnt hat, die Religion besteht ja (vergl. §. 61) wesentlich in der Gefühlsform. Und so zeigt sich zwischen der Musik und Religion ein Verhältniß von solcher Enge, wie in den andern Künsten nicht. Diese sind ihr verwandt durch die Form 52* der Vorstellung, zu welcher das Gefühl in ihr fortgeht, und benützen das Bild, das sie erzeugt hat, als scheinbaren Zuwachs an Stoff. Die Musik thut dieß auch, allein sie steht schon vor diesem Stofftausch, von dem es sich hier noch gar nicht handelt, mit ihr in jenem tiefen Verwandtschafts- verhältnisse des ursprünglichen Elements. Durch diese Unterscheidung ist bereits die falsche Folgerung ausgeschlossen, die Musik müsse ausdrücklich religiöse Empfindungen erregen. Die Religion ruht im Gefühl, aber jener Fortgang zur Vorstellung ist ihr ganz wesentlich, daher ist nur eine aus- gesprochene Hinwendung des Gefühls zu den Gestalten des Bilderkreises dieser Vorstellung eigentlich religiös. In jenem ganz allgemeinen Sinn einer tiefern Verwandtschaft des Elements dagegen ist alle Musik, selbst eine gute Tanzmusik, religiös. Die Forderung ist immer nur, daß das Sinnliche der Stimmung sich in reine Harmonieen auflöse, welche eine wesentlich versöhnte Empfindung zurücklassen, daß das Fühlen nicht dumpf im gemeinen Wohlsein oder in der Zerrissenheit des Schmerzes stehen bleibe. Dieß führt auf das Verhältniß zwischen Lust und Unlust, wovon der folgende §. handeln wird. Wir fordern auch vom musikalischen Künstler so wenig, als von dem bildenden und dichtenden eine spezifisch religiöse oder ethische Richtung, dem Allem ist schon durch §. 392 und in der metaphysischen Grundlegung durch die Untersuchungen über das Verhältniß des Schönen zum Guten und zur Religion vorgebeugt. — Eine andere Frage aber ist, ob nicht, nachdem das Verhältniß der andern Künste zur Religion durch Zersetzung des mythischen Bewußtseins sich aufgelöst, die Musik in diesem Bunde, und zwar hier als ausdrücklich religiöse, ver- harren könne? Diese Frage entsteht darum, weil das Gefühl gegenstandslos ist. Wir haben nämlich zwar gesagt, die Religion setze wesentlich ihrer Gefühlserhebung einen mythischen Gegenstand; es ist aber doch denkbar, daß eine Zeit kommt, wo sie dem entwächst und als ihren wahren Gegen- stand den verborgenen Kern alles Mythus, die reine Idee in der wunder- losen Energie der Wirklichkeit erkennt; dieser Gegenstand würde im Worte nur sehr ungenügend ausgedrückt, weil er eben kein einzelner Gegenstand ist und nur die Philosophie das rein Allgemeine zu bestimmen vermag. Die Musik aber als Kunst des objectlosen Gefühls wäre gerade die rechte Form, das Gemüth zu dem unsichtbaren Geiste des Ganzen zu erheben und den Verlust der bildenden Phantasie durch die tiefen Bewegungen der empfindenden zu ersetzen. §. 751. 1. Unterschiedslos in Vergleichung mit allem objectiv bestimmten Verhalten ist das Gefühl doch in sich eine Welt bestimmter Unterschiede und Gegen- sätze , und auf diesen muß die Möglichkeit einer Darstellung desselben beruhen. Der Grundgegensatz, welcher das ganze Gefühlsleben beherrscht und sich zu allen andern so verhält, daß dieselben als weitere spezifische Theilungen erschei- nen, worin er zur Erscheinung kommt, ist der von Lust und Unlust . Das Gefühl enthält in dieser Form allerdings ein Analogon der Scheidung zwischen Subject und Object in sich. Im Affecte spannt es sich gegen das Object hin und zeigt hierin die Nähe des Uebergangs in die Form des Willens an. Die Verhältnisse, in denen Lust und Unlust sich mischen, sind so unendlich, als 2. die Verhältnißstellungen zwischen dem unmeßbar vielseitigen Subject und Object, Mischung aber und ebendarum ein Zug von Wehmuth ist der allgemeine Cha- rakter des geläuterten Gefühls. 1. Es ist zu §. 750, 1 . gesagt, alle individuelle Empfindung sei nur eine eigene Mischung der Elemente des Gefühls. Der Ausdruck jenes §. „Grundbewegungen“ ist also noch ungenau, es sind bereits innere Unter- schiede im Gefühle vorausgesetzt und diese sind nun aufzusuchen. Die Aufgabe einer philosophischen Lehre von der Musik besteht darin, daß das ganze Formenleben diese Kunst überall mit dem Innern, das sich in ihm ausdrückt, zusammengefaßt, auf das Leben der Empfindung zurückgeführt werde. Die Wissenschaft ist hinter dieser Aufgabe bisher zurückgeblieben, weil sie dieß Innere kurzweg als das Gefühl hinstellte und in dessen ein- fachem Nebel nicht jene Eintheilungs-Linien aufzufinden wußte, die der ursprüngliche Grund aller der Unterscheidungen sind, in welchen das For- menleben der Tonkunst sich bewegt. Man hatte dort ein unterschiedslos Einfaches, hier ein Mannigfaltiges, das sich aus einer Reihe unterschiede- ner Momente zusammenbaut: kein Wunder, daß die Lehre von der Musik keine Basis hatte, also keine philosophische sein konnte. Die Erörterung, zu der wir nun übergehen, ist ein Versuch, welcher bei der äußerst mangel- haften Vorarbeit der Psychologie und den dürftigen Ansätzen, welche die Aesthetik der Musik gemacht hat, jene Kluft zu füllen, kaum mehr zu leisten vermag, als die Stellen aufzuzeigen, wo die Wissenschaft zu graben hat. — Das Leben des Gefühls erscheint als ein Unterschiedsloses nur in Verglei- chung mit der Klarheit des Bewußtseins, das sich in wachem Gegenschlage das Object gegenüberstellt. Blickt man genauer in das Dunkel, so erkennt das Auge in demselben eine reiche Welt innerer Unterschiede, die sich nach den Verhältnissen, in die sie zueinander treten, zu Gegensätzen spannen. Das Schwere ist, zu bestimmen, wie sich zu allen übrigen der große Grundgegensatz verhalte, der die eigentliche Lebensform des Gefühls selbst ist, der Gegensatz von Lust und Unlust. Wir werden sehen, daß er sich in gewissem Sinn allerdings zu ihnen verhält, wie das Wesen zur Er- scheinung, aber für sich genommen doch jeder der andern Unterschiede und Gegensätze etwas Spezifisches ist, von dem man nicht sagen kann, es drücke durch das eine seiner Momente Lust, durch das andere Schmerz aus. Nur in ihrer Verbindung und Gesammtbewegung werden uns jene weitern Theilungen als der innere Seelen-Apparat erscheinen, in welchem Lust und Unlust ihr Leben, ihren Verlauf haben. Betrachten wir nun diesen Grund- gegensatz, worin das Gefühl sich bewegt, die Ebbe und Fluth dieses Meeres, so zeigt sich derselbe, wie schon zu §. 748 bemerkt ist, als ein Prozeß, durch welchen die Scheidung von Subject und Object, welche wir in ihrer eigentlichen Form dem Gefühl abgesprochen haben, doch auch in diesem dunkeln Element in seiner Art vollzogen wird. Lust und Unlust ist (wie es Lootze Medizinische Psychologie oder Psychologie der Seele treffend bezeichnet) ein unbewußtes Vergleichen der Reizung mit der Function oder Lebensbedingung; das fühlende Subject fragt zwar weder in der Lust noch in der Unlust nach dem Prozeß und seiner Ursache im Gegenstand, wodurch es sich dort als wesentlich bejaht und erhöht, hier als verneint gehemmt vernimmt, es läßt den Faden, der in die Außenwelt führt, fallen, aber es behält das diesseitige Ende des Fadens, die Wirkung und hält sie in einem obwohl dunkeln Orte der Rechnungs-Ablegung zusammen mit der Forderung, welche aus der Summe seiner innersten Lebensbestimmtheit sich ergibt. In der Unlust ist allerdings dieß Unterscheiden ohne Unter- scheiden, dieß dunkle und doch so starke Analogon des Bewußtseins und Selbstbewußtseins bestimmter, denn wo ich mich in meinem innersten Wesen verneint fühle, wo das Selbst und die Wirkung aus dem Object nicht harmonisch in Eines fließen, sondern jenes sich dieser erwehrt, da stehe ich auf der Schwelle zum ausdrücklichen Scheiden, ja es scheint jene dunkle Vergleichung wirklich über das unbewußte Vernehmen ihres Resultats hin- aus bis auf das Object selbst gehen, also deutlich werden zu müssen. Der feindliche Stoß droht das Gefühl aus seiner Bewußtlosigkeit heraus- zuwerfen. Dennoch muß der Uebergang in eine klar scheidende Geistesform vorerst entschieden ferne gehalten werden, wenn das Gefühl in seiner Rein- heit erkannt werden soll. Das Gefühl als solches geht nicht aus sich heraus, es ist kein Begehren und kein Verabscheuen; wird es zu einem solchen, so hat es sich mit einer andern Geistesform verbunden , oder, um weniger äußerlich zu bezeichnen, ist in sie übergegangen und nach dem Uebergang nicht verschwunden, aber nicht mehr das Ganze des Verhaltens. Das rein fühlende Selbst wogt nur in sich, im Begehren und Wollen springt die Woge über den Rand des Gefäßes. Am klarsten wird auch dieß, wenn man die einzige Sprache des Gefühls, obwohl wir sie nur erst voraussetzen, die Formenwelt der Musik, zum Belege herbeizieht: in der Oper wird uns vielfaches Begehren, Verabscheuung, Wollen und Handeln vergegenwärtigt, aber die Musik an sich, ohne Text und ohne Schauspiel, drückt nur aus, daß es den Personen in ihrem Innern so und so, freudig oder schmerzlich in unendlichen Mischungen dieser Gegensätze, zu Muth ist. Der Gegenstoß gegen den Stoß des Objects in der Unlust ist noch kein Bewußtsein, sondern selbst noch Gefühl, dunkle Antithese; wenn er sich steigert, so steigert er sich zunächst nicht zum Bewußtsein, sondern zum Affecte . Das Wesen desselben ist zunächst nur dadurch zu bestim- men, daß auf den unterscheidenden Geist hinübergeblickt wird, und man versteht unter Affect einen Erregungsgrad des Gefühls, welcher so eben zu Aeußerungen, Handlungen fortzugehen im Begriff ist, welche nicht erfolgen sollten, ohne daß die Kraft jener wachen Thätigkeit, des Bewußt- seins und höher des Denkens, dazwischentritt. Das Positive dieser nega- tiven Bestimmung ist nur ein Grad. Alles, was wir zunächst nur als Stimmung bezeichnen, also eben Lust und Unlust in ihren unendlichen Mischungen, heißt Affect, wenn es zu der Stärke gelangt ist, daß so eben das Gefäß durch die Heftigkeit seines Wogens überfließen zu wollen scheint. Betrachten wir nun das Gefühl rein für sich, so sistiren wir es eben in diesem Momente, und was in jener negativen Bestimmung ethisch Tadeln- des liegt, fällt nun weg, es bleibt vielmehr in Kraft, daß das Gefühl implicite der ganze Geist ist, also auch so stark wogen mag, wie es will. Wir fragen nicht, ob der Sturm verderblich ist, er zeigt uns nur die Herrlichkeit des Meers. Im Zusammenhange des Ganzen der Psychologie aber wird diese Anschwellung nach dem Willen hin über ihre Grenzen verfolgt, und so leuchtet ein, daß das Gefühl, wie es nach unserer Dar- stellung in §. 749 überhaupt an der Schwelle der scheidenden Geistes- thätigkeiten seiner allgemeinen Bedeutung nach liegt, so in seiner realen Bewegung sich wesentlich nach der Pforte des praktischen Geistes öffnet (vergl. Planck a. a. O. S. 205). Eigentlich gehört, wie aus dem Gesagten sich ergibt, dieser höhere Spannungsgrad zu den Kraft-Verhältnissen des Gefühls, zu denen wir nachher übergehen, doch war diese Seite der Auf- hellung der Grundbegriffe wegen schon hier vorzunehmen. Uebrigens ist, wenn wir den Affect hier wesentlich mit dem Gefühle der Unlust in Zu- sammenhang setzen, keineswegs blos an abwehrende Affecte zu denken: auch der positive Affect, die Liebe, beruht auf einer Spannung, dem Gefühle des Mangels, ist also durch Unlust vermittelt. 2. Das Selbst ist auf die objective Welt in unendlicher Weise bezo- gen, denn die Welt wirkt auf es mit unendlichen Hebeln und es selbst ist eine Welt, ja ist die Welt: die in die einfache Idealität des Beisichseins zusammengefaßte Welt, eine Zusammenfassung, die aber von vornen begin- nen, realisiren muß, was sie nur an sich ist, so daß in unendlichem Rapport eine lebendige Einheit der beiden, die ursprünglich dasselbe Eine in doppelter Gestalt sind, sich erarbeiten muß. In diesem Rapporte sind die Fäden, durch die der elektrische Strom fließt, nicht zu zählen. Es gibt keine ein- fache Stimmung der Lust oder der Unlust; denn das Gemüth und der Gegenstand sind beide schlechthin vielseitig. Was diese Region der unend- lichen Resonnanz des Innern von Lust erzittern macht, klingt in einer andern als Schmerz an und umgekehrt, die Lust im Schmerz spaltet sich abermals in Lust und Schmerz und ebenso der Schmerz in der Lust, ja es sind genauer betrachtet nicht nur verschiedene Anklänge so zu sagen an verschie- denen Stellen, nicht nur solche Spaltungen, sondern es ist ein wirklicher unendlicher Stellenwechsel, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen folgt, daß, was in der einen Lust ist, in der andern Schmerz sein kann, und umgekehrt. Wir sind schon hier auf eine allgemeine Relativität geführt, worin es nichts Festes gibt, sondern aller Begriff von Inhalt in den Begriff unendlicher Verhältnißstellungen übergeht. Unbeschadet dieser unabsehlichen Mischung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im Ganzen einer Stimmung, die ihren geschlossenen Ablauf hat, doch in einem Stadium jeder Stimmung entweder Lust oder Unlust herrschen. Hier aber fordert das Gesetz des Schönen selbst, daß diese Herrschaft keine absolute sei. Es gibt eine gemeine Lust und einen gemeinen, grassen Schmerz; beide werden mannigfaltige Mischungen mit ihrem Gegentheil darstellen, aber doch so, daß sich dort die Mischung in das Gefühl platter einfacher Lustigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zusammenfaßt. Die Läuterung des Gefühls, wie wir sie in §. 750, 2 . als allgemeine Voraussetzung hin- gestellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das nicht in stoffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgerissen wird und das sich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine Erfahrung rauben läßt, schwebt selbst über dem äußersten Schmerz, ja es fühlt, daß er schön ist, und versenkt sich frei in diese Schönheit. Ebenso- wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufriedensein mit einem endlichen Zustande, das in der bloßen Lustigkeit oder klebenden Behaglichkeit sich kund gibt. Jedes Wohlsein erscheint im Lichte des Ideals als ein vergängliches und die höchste Lust in der Versöhnung mit dem Ewigen ist vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es ist nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiöse Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus wesentlich ist, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene Zeiten schönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth schwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in seiner Fülle, aber auch wie ein so eben sich Auflösendes, ein hinschwindender Flor empfunden wird. Diese Lust ist freilich die Schlußempfindung auch des tiefsten Schmerzes im reinen Gefühlsleben. §. 752. Die einzelne Stimmung ist ein nur sich selbst gleiches Mischungsverhältniß von Lust und Unlust, das sein eigenthümliches und geschlossenes Leben hat. Der Verlauf desselben setzt eine Theilung in Momente und einen qualitati- ven Unterschied derselben voraus, worin sich das Gefühl wesentlich als ein in Schwingungen bewegtes darstellt. Die absolute Grundlage dieser Theilung bildet ein in unendlichen Abstufungen und Wechselstellungen sich verschiebender Unter- schied der substantiellen Haltung im objectiven Lebensgrunde und der subjectiven Ablösung von demselben, der mit dem Gegensatze des Erhabenen und einfach Schönen sich berührt, ohne mit ihm identisch zu sein. Die einzelne Stimmung nimmt eine bestimmte Stelle in dieser unendlichen Reihe zum Mittelpunct ihrer weiteren Bewegung durch dieselbe. Es läßt sich über die einzelne Stimmung, wie sie zum Inhalt eines Kunstwerks zu werden bestimmt ist, Näheres nicht aussagen, als was der §. gibt. Das ganze Gefühlsleben eines Individuums legt sich in eine, so nicht wiederkehrende Proportion seiner unendlich mischbaren Elemente, der Lust und Unlust, und diese Stimmung hat nun ihren bestimmten Schatz von Lebenskraft, entfaltet sich von ihrem spezifischen Mittelpunct und strömt fort, bis sie erschöpft ist. Wir werden die Kategorie der Zeit, in der wir uns mit dem Eintritte dieser neuen Kunstform befinden, an dem Puncte dieser Darstellung des Gefühls ausdrücklich einführen, wo dieß gefordert ist; vorerst handelt es sich um das, was vorausgesetzt ist, damit ein Zeit- verlauf möglich sei: ein qualitativ Unterschiedenes, das die Momente bildet, aus welchen die Reihe des Zeitverlaufs besteht. Es müssen jetzt jene „weiteren Theilungen“ auftreten, welche in §. 751 angekündigt sind und von welchen gesagt ist, daß sie spezifische, von dem Grundgegensatze der Lust und Unlust zunächst ganz verschiedene seien und nur in ihren Verbin- dungen zusammenwirkend den letzteren darstellen. Hier treten dann zuerst die qualitativen Theilungen im Unterschiede von den zeitlich qualitativen auf. Sogleich die erste, durchgreifende Grundtheilung offenbart nun die ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Der §. sucht mit Worten zu bezeichnen, was dem Unterschiede der Tiefe und Höhe des Tons innerlich im Gemüths- leben entspricht. Es kann kein Vorwurf sein, daß wir zu einer annähern- den Erfassung dieses tiefen, dunkeln Vorgangs nur durch einen Rückschluß aus der wirklichen Kunst des Gefühls und des Systems ihrer Mittel zu gelangen suchen. Die Thatsache eines tiefen psychischen Unterschieds in der Wirkung des tiefen und hohen Tons liegt vor; es ist die Seele, welche den Unterschied der Töne sich als Ausdrucksmittel bereitet; was sie aus- drücken will, erfahren wir in diesem Gebiete nur durch dieses bestimmte Ausdrucksmittel, in andern Gebieten hat sie auch andere Mittel, wir können den innern Vorgang klar fassen und nachher den Uebergang zu diesem Ausdrucksmittel aufzeigen; das Gefühl aber hat eine andere genügende Sprache außer der Musik nicht, daher bleiben für ihr wissenschaftliches Ver- ständniß nur diese dunkeln Rückschlüsse. Die Lehre von der Musik ist bisher nach einer kurzen Bestimmung des Wesens des Gefühls sogleich zum Ma- terial übergegangen und dann hat sie die psychische Bedeutung der ver- schiedenen technischen Formen gesucht. Sie hat dasselbe gethan, was wir hier vornehmen, nur an einer andern Stelle. Sie hat aus der Wirkung auf die Ursache geschlossen und zu diesem Zweck zunächst die Wirkung dar- gestellt, wir schicken voran, was aus jenen Schlüssen sich ergibt, um mindestens einen Anstoß zur genaueren Untersuchung des Gefühls zu geben. Das Schwere liegt nun wesentlich darin, daß wir hier vor einem Geheim- nisse stehen, das in der dunkeln Mitte zwischen Physiologie und Psychologie liegt. Die Wirkung der Tonschwingungen, richtiger die Wahl dieses Mittels, um sich von außen entgegentreten zu lassen, uns im Innern angelegt ist, muß ihren Grund darin haben, daß das Gefühl selbst ein Leben von Schwingungen ist; das Dunkel ruht nun aber in dem doppelten, dem eigentlichen und uneigentlichen Sinne dieses Wortes. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß den Vorgängen des Gefühls Nervenbebungen als orga- nische Träger des Geistigen zu Grunde liegen, es muß wesentlich ein Vibrationsleben sein, aber was heißt Träger? was ist dabei zu denken, wenn wir nun den geistigen Vorgang selbst nur als ein Schwing- ungsleben bezeichnen können? Vom Geiste können wir keine Schwingungen aussagen und doch haben wir kein anderes Wort, keine klarere Vorstellung als die, daß sich die Nervenschwingung wie eine Art symbolisches Bild in seinem Innern reflectirt. Wir müssen also bei dieser Vorstellung bleiben und was sich bei näherer Betrachtung ergibt, ist nun ein Gegensatz von zweierlei Wogen im Bewegungsstrome des Gefühls, den der §. zu fassen sucht in der Bestimmung, daß das Gefühl entweder substantiell im allge- meinen, objectiven Lebensgrunde sich hält oder subjectiv von demselben sich ablöst. Es ist nicht der Gegensatz von Lust und Unlust; diese beiden Grundstimmungen bewegen sich in unendlicher Abwechslung durch den Ge- gensatz, von dem hier die Rede ist: die mächtige, breite Woge, ein Bild der ungetheilten, Alles in ihrem Urschooß zusammenhaltenden Kraftfülle des Lebens kann in der Weise heranschwellen, daß ich mich befriedigt in diese Substanz miteingeschlossen fühle, sie kann aber auch dem subjectiv freier gelösten Gemüthe wie eine fremde Macht entgegenrollen, umgekehrt kann das Gefühl der entbundenen Subjectivität im freien Spiele der Lust sich ergehen oder schmerzvoll bis zur Verzweiflung sich losgerissen empfinden vom tragenden, haltenden Lebensgrunde. Dieses Tragen und Halten wird von technisch durchgreifender Bedeutung werden, wenn das Gefühl sich in Kunstform darstellt, es wird aber schon in dessen innerer Welt das Sub- stanzgefühl dem Subjectgefühle die absolute Basis sein, ohne welche das letztere sich ganz in’s Bodenlose verlöre. Jene Gefühlsschwingungen, die sich im tiefen Ton darstellen, gemahnen wie das Erhabene, und sie werden auch vorzüglich dieser Form des Schönen angehören, aber keineswegs allein, denn in den Bebungen der frei entlassenen Subjectivität, wenn sie die eben erwähnte Gestalt annehmen, offenbart sich das Furchtbare der Leidenschaft, der isolirten Kraft, und dieß sind auch Gestalten des Erhabenen; umge- kehrt kann je nach der Verhältnißstellung die mächtig breite Schwingung, die im tiefen Ton ihr Abbild sucht, die Ruhe des Schönen, des mit der Allmacht versöhnten Ich darstellen. Man kann aber diesen Gegensatz um so weniger mit dem des Erhabenen und Schönen identificiren, da derselbe überhaupt noch eine ganz andere Bedeutung hat, als diejenige, in der er hier zuerst aufgeführt wird. Er überbaut, vervielfacht, verschiebt sich nämlich in’s Unendliche, so daß, was in der einen Beziehung die substantiellere, in anderer die subjectiv gelöstere Empfindung ist; es tritt absolute Relativität ein und aus den unendlichen Verhältnißstellungen der Glieder des Gegen- satzes schafft sich das Gefühl, gewiß nicht erst in der Tonwelt, sondern schon in seinem innern dunkeln Leben, den Apparat seiner ganzen Ent- wicklung, die Leiter, an welcher sein Leben auf- und niedersteigt. Da aber die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, so wird in diesen dunkeln Vorgängen auch etwas sein, was der Tonart entspricht, eine Neigung, sich auf einer bestimmten Vibrationshöhe der Seele festzusetzen, sie zur Basis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf sie zurückzutreten. §. 753. Auf dieser allgemeinen Grundlage macht sich der Unterschied des Kraft- verhältnisses im einzelnen Gefühlsmomente geltend; von besonders durch- greifender Bedeutung ist aber der weitere eines voll und entschieden hervortre- tenden oder gedämpften und verhüllten Gefühlscharakters. Endlich faßt sich die qualitative Haltung des Gefühls in einer Eigenschaft zusammen, welche nur uneigentlich, als Gefühlsfarbe, bezeichnet werden kann. Die weiteren Unterschiede, die nun vor uns liegen, sind weit leichter in ihren innern Ursprung zu verfolgen. Dahin gehört vor Allem die Ver- schiedenheit der Intensität des Gefühlsmoments, welche den einzelnen Ton mit stärkerem, härterem, rauherem, oder schwächerem, weicherem, sanfterem Druck angibt; allerdings tritt dieser Unterschied in seine ganze Bedeutung erst ein, wenn er sich successiv in einem Anschwellen und Abschwellen ent- faltet, aber er ist zuerst für sich in seiner getrennten Bestimmtheit hinzu- stellen. Es liegt im Wesen des Gefühls, daß es sich jetzt mit voller Kraft in den Moment stürzt, jetzt seine Masse bricht, vertheilt, leichter, schweben- der, sanfter auftritt bis zur hinschwindenden Auflösung, zum Verhauchen und Sterben. Die stärkere Intensität wird meist den Uebergang in den volleren Affect bezeichnen, ein Hereinbrechen nach der Seite des Willens hin, der zartere Gang ist mehr reines Gefühl, das in sich bleibt und seine Schönheit genießt. — Weiter ist in die Gefühlslehre auch das heraufzu- nehmen, was in der Musik Dur und Moll heißt: ein neuer, eigenthümlicher Stimmungs-Dualismus, der sich durch alle andern Unterschiede hindurch- zieht. Er fällt keineswegs mit dem Grundgegensatze der Lust und Unlust zusammen. Dur ist nicht nothwendig heiter, Moll nicht traurig, wehmüthig; auch hart und weich, wovon der musikalische Name gebildet ist, bezeichnet nicht richtig. Wir haben Stimmungen, wo es uns ist, als fühlen wir Alles nur gedämpft, nur wie durch einen halb verhüllenden Flor, das Heitere sowohl, als das Ernste; wir haben andere, wo wir diesen Schleier lüften und die Welt mit kraftvoller Entschiedenheit auf uns wirken lassen. Es ist wie der Unterschied eines sachten und eines vollen Auftretens: dort geht das Empfinden leise, als fürchtete es, mit der vollen Geltung seiner Lichter und Schatten die Energie des Ich zu wecken; es ist eine Stimmung wie die des Mondlichts, wo wir im Verschwimmen der Umrisse alles Leben gedämpft, dem Loose des Vergehens hingegeben fühlen; hier dagegen wagt die Empfindung sich in den vollen Tag heraus, tritt entschlossen auf, fühlt das Leben als kräftige und berechtigte Gegenwart, entscheidet das Unent- schiedene und will sich in Alles und Jedes mit ungetheilter Klarheit und Fülle legen. Jene Verhüllung bringt allerdings immer einen elegischen Zug mit sich, aber derselbe schließt das Heitere nicht aus, sondern dämpft es nur, und umgekehrt scheut diese Lüftung der Hülle nicht die Trauer, sondern gibt sich ihr hin wie ein Gemüth, das dem Schmerze sein volles Recht einräumen will . — Die dritte Unterscheidung des §. bezieht sich auf das, was in der Musik Klangfarbe heißt. Auch diese Modification muß schon in der Gefühlslehre aufgeführt werden, denn der Musiker ergreift nicht verschiedene Instrumente, um sich über ihren verschiedenen Gefühls- ausdruck zu verwundern, sondern wählt zwischen ihnen, weil er für die eine Empfindungsweise jenes, für die andere dieses entsprechend findet. Es ist schon früher auf die landschaftliche Empfindung in der Malerei hinge- wiesen worden, mit welcher ja das Subjective, der Musik Verwandte so fühlbar in dieser Kunst hervortritt; hier findet dieß nähere Anwendung: wir haben für das Gefühl, das die Localtöne und der Hauptton in der Landschaft, die Producte eines Zusammenwirkens der allgemeinen Medien mit den Stoffen des Festen, mit Erde, Holz, Laub, Stein, Metall u. s. w. hervorrufen, nur sehr dürftige Namen, ja für die Natur der ganzen Ge- fühlsweise selbst entlehnen wir den Namen aus der Musik, und so nun für das ganz ähnliche Gebiet im reinen Gefühlsleben aus der Malerei. Daß aber bei dem Erzittern von Holz, Saiten, Metall eine ganz verschie- den gefärbte Art der Stimmung entsteht, dieß muß im Innern angelegt sein. Dort leihen wir in dunkelm Symbolisiren unsere Seele der sichtbaren Natur, hier der hörbaren, es muß also in der Seele selbst ein bestimmtes, eigenes Gebiet von Unterschieden verborgen schlummern, das, sobald der Stoff hinzutritt, wach wird. §. 754. Das Gefühl ist als eine rein geistige Form wesentlich Zeitleben . Der zeitliche Verlauf einer Gefühlsstimmung setzt voraus, daß ein die Welt der körperlichen Bewegungen in der Natur beherrschendes Messungsgesetz, durch welches die einzelnen Momente in qualitative Ordnungen sich einreihen, auch im Gemüthsleben sich ankündigen wird. Nur dunkel und unentwickelt kann die eine dieser Ordnungen, welche in einer regelmäßigen Wiederkehr gleicher, durch Accente gegliederter Zeitabschnitte besteht, vor der Erhebung in die Kunst- form dem Gefühl inwohnen, klarer und bestimmter wird sich die andere, höhere, geltend machen, vermöge welcher die innersten Stimmungsverhältnisse bestimmte Grade der Beschleunigung oder Verzögerung im Gange des Gefühls mit sich bringen. Innerhalb dieser Ordnungen bedingt die Natur der innern Strömung bald einen punctuellen, bald einen überleitenden Fortgang vom einzelnen Mo- mente zum andern und fordert bestimmte Ruhepuncte. Genauer bestimmt ist das Gefühl wie aller Geist Qualität in Zeit- form, d. h. in der Form des Nacheinander. Diese Qualität ist an sich unzeitliche reine Intensität, die sich in Zeitmomente auseinanderlegt, aber als das Identische in ihnen über sie ebenso sehr übergreift und nach ihrem Ablauf als das aus diesem Auseinander in sich zurückgekehrte einfach In- tensive sich herstellt. Im Gefühle tritt, weil sich das Intensive, Qualitative hier nicht zum Lichte des Bewußtseins unterscheidet, der Begriff der Zeit so ausdrücklich und vorherrschend hervor, daß wir sogar sein Ganzes mit dem Namen Bewegung, Bewegtsein bezeichnen. Dennoch haben wir die dunkeln Qualitäten dieser Geistesform, so weit es in der Wortsprache möglich, zu bestimmen gesucht. Dieselben stellen sich uns nun zunächst als einzelne Momente, genauer als zeitlose Puncte dar; zwischen ihnen und dem eigent- lichen Zeitverlaufe muß aber nothwendig etwas in der Mitte liegen zwischen dem Einzelnen, dem kleinsten Theile, und zwischen dem Allgemeinen, dem Ganzen, ein vermittelndes Moment des Besondern. Die Puncte laufen in gleichmäßiger Continuität fort und expandiren sich so zur unendlichen Linie; es muß etwas eintreten, was die Linie in Einschnitte von bestimmter Zeitdauer theilt und innerhalb derselben weiter gliedert. Dieses wichtige Moment, den Takt , bringt in wirklicher Ausbildung natürlich erst die Kunst hinzu; sie kann es aber nicht aus dem Leeren nehmen, irgend ein Keim, Ansatz muß in dem Gefühle selbst, noch abgesehen von der Erhebung in die Kunst, liegen. Es handelt sich hier von einem allgemeinen Gesetze, das zunächst in der Sphäre der physischen Bewegungen sichtbar ist und dessen Bedeutung man leicht erkennt, wenn man zusieht, wie manche Arbeiter nicht die Hälfte dessen leisten, was sie können, wenn sie nicht ihr Werk mit taktmäßigem Rufen oder Singen begleiten. Instinctmäßig setzt sich der physisch thätige Mensch ein System wiederkehrender Zeitabschnitte mit je einer bestimmten Gruppe von Momenten, die sich in accentuirte und nicht accentuirte theilen. Er spart und erhöht dadurch seine Kraft und er ahmt hierin die Natur selbst nach. Jede Kraft will und muß abwechselnd sich spannen und nachlassen. Dieß geht durch das unorganische und organische Reich. Das Periodische beherrscht als Drehung den Lauf der Himmels- körper, Flamme, Wind, Woge des Meeres, der See’n, des Wasserfalls, Athemholen und Herzschlag der Thiere und Menschen theilen die gleich- fließende Linie in die bestimmten Einschnitte, worin sich stärker angesam- melter Stoß von einem Momente des Nachlassens, ein Druck, ein Aus- pressen von einem Nachgeben und Einziehen unterscheidet; in der Oekonomie des animalischen Kraftaufwandes kehrt das Gesetz als Wechsel des Wachens und Schlafes wieder. Selbst die organisch bauende Kraft arbeitet in geord- neter an- und absetzender Theilung als Zweige- und Blätterstellung an der Pflanze, in den Gelenkbildungen, Ausstrahlungen und ausathmenden ein- fachen Streckungen des Skeletts. Dem Gebiete blinder Nothwendigkeit entstiegen, aber noch als unbewußtes Thun gebunden, erscheint der geordnete Wechselschlag mit Hebung und Senkung, stärkerem und schwächerem Moment im Fluge der Vögel, im Gange der Thiere und Menschen, selbst im Kriechen der Raupe. In den freien Bewegungen des Menschen scheint das Gesetz verloren zu gehen, doch konnte der Tanz und die orchestisch geregelte Pan- tomime nicht ohne innern Grund, ohne einen im kunstlosen Gebiete vor- gebildeten Keim entstehen. Gerade aber im Gebiete der höheren freien Thä- tigkeit, der individuellen und gemeinschaftlichen, tritt es deutlich wieder zu Tage, denn nicht umsonst, sondern um mit seinen Kräften im weitesten Sinne des Worts durch die Einschnitte des Anlaufs und Ablaufs, der Sammlung und Abspannung Haus zu halten, hat der Mensch sein Leben in Stunden, Wochen, Jahre u. s. w. getheilt, die Werktage mit Tagen der Feier durchflochten. In den Mittelpunct des geistigen Lebens, in das Selbstbewußtsein, verfolgt Hegel den innern Grund des Takts: es ist die Rückkehr des Ich in sich selbst aus der unbestimmten Continuität seines Zeitlebens, das Abbrechen dieser Linie, um seiner sich zu erinnern und bei sich zu sein, was uns im Takt unmittelbar entgegentritt (Aesth. Th. 3. S. 159 ff.). Der Geist als Kunstthätigkeit hat nun dieses Gesetz in die Musik eingetragen. Unser Bewußtsein sagt uns nichts darüber, daß er es im Gefühle selbst als dunkeln Keim vorgefunden hat. Wir kennen sein naturnothwendiges Vorbild nur im Gebiete des Sichtbaren, es entschwindet unserer Beobachtung im dunkelsten Gebiete des Seelenlebens, aber dieses wird auch seinen Pulsschlag heben und der messenden, zählenden Kunst ist nur die Reminiscenz der verborgenen Vorgänge verloren, die sie befestigt und ordnet. Ungleich deutlicher unterscheiden wir im Gefühlsleben die Grundlagen dessen, was in der Kunst das Tempo ist; die Psychologie hat diesen Punct vielfach berührt (vergl. z. B. Maaß, Versuch über die Gefühle. §. 10. Vers. über die Leidensch. §. 14). Hier sind gewisse physiologische Erscheinungen nicht blos Beispiel, sondern Symptom: der beschleunigte oder gehemmte, wild aufgeregte oder sanft wallende, sachte schleichende Puls, Gang und das ganze Gebärdenspiel weisen unzweifelhaft auf ein inneres Bewegungsleben, dessen qualitative Unterschiede zu Verhältnissen der Lang- samkeit und Schnelligkeit werden. So entschieden aber diese Erscheinungen auch sprechen, so führen sie uns doch nur zu demselben Geheimniß, vor dem wir schon im §. 752 stillstehen mußten: zu der Annahme eines Schwing- ungslebens der Nerven, dessen Begriff wir auf den Geist überzutragen ge- nöthigt sind, ohne das Wie finden zu können. Wir können nicht anders, als bildlich, sagen: das stark bewegte Gemüth schwingt schneller als das sanft bewegte u. s. w. Die Arten der Uebergänge von einem Gefühls- moment zum andern, wie sie sich abstracter in staccato und legato, inniger in den verschiedensten Arten des Ueberleitens und Vermittelns ausdrücken, und die Pausen sind es, die der Schlußsatz des §. ebenfalls als Ausfluß innerer Gesetze des Gemüthslebens aufführt. Das Empfinden hat Augen- blicke punctueller Affection, die sich auch außerhalb der Musik in der Selbst- beobachtung unterscheiden lassen, es sind Momente der Unruhe, wo das Gefühl nicht in den tenor einer Strömung münden kann, oder des stoß- weise auftretenden Kraftgefühls; ein andermal, und dieß ist seine naturge- mäßere Bewegung, wogt es als ungetheilte Masse in der Continuität des starken oder wilden Ergusses, der nicht duldet, daß die Momente sich ab- sondern, weil er im vorhergehenden das folgende, im folgenden das vor- hergehende innig haben und bewahren will. Die Pausen sind eine Zeit der Stille, worin das Gefühl zu schweigen scheint, während in Wahrheit das vorhergehende ausklingt und das werdende sich vorbereitet. §. 755. Soll in diesen Bedingungen eine ganze und geschlossene Stimmung die in ihr gegebene unendlich eigene Mischung von Lust und Unlust in einem Lebens- prozeß entwickeln, so kann dieß nur vermöge einer Bewegung durch eine Reihe einstimmiger und widerstreitender Verhältnisse eines Qualitativen geschehen. Schon im Innern des Gefühlslebens kann diese Reihe nur dadurch sich er- zeugen, daß es die Stimmungsqualitäten §. 752 zu neuer Geltung ruft, indem es dieselben in bestimmte Anziehungs- und Abstoßungs-Verhältnisse zu einander setzt, die es in unendlichen Stellungen successiv durchläuft und so die uner- schöpfliche Welt der Harmonieen und Disharmonieen im Verkehr zwischen dem Subject und den Objecten sich im Innern zu vernehmen gibt. Es liegt hier die schwierigste Aufgabe für eine Philosophie der Musik vor: die Melodie als die Darstellung des Lebensprozesses einer Stimmung, wie solche in nichts Anderem besteht, als in einem Wandern durch die Tonleiter, deren einzelne Töne nun aus der Reihe in unendliche Verbin- dungen treten, aus der inneren Organisation der Empfindung abzuleiten. Wir haben in §. 752 die innere Bedeutung der Differenzen der Tonhöhe, die in der bestimmten Messung, durch welche die Kunst sie ordnet, Inter- valle heißen, als einen Unterschied des substantiell gehaltenen und subjectiv gelösten Fühlens bestimmt. Wenn nun die Musik das Innerste des Fühlens in den Verhältnißstellungen der Töne ausdrückt, wie sie aus der Reihe der Leiter heraus in eine Welt von Consonanzen und Dissonanzen zu einander treten, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem innern Prozesse des Gefühls und dieser äußeren Technik? Jene innere Lebensform des Gefühls, die wir uns dunkel als ein Oscilliren, ein Schwingen vorstellen, scheint die Welt der Erzitterungen, welche nach ihrer verschiedenen Art dem tieferen und höheren Ton entsprechen, in einer neuen Bedeutung zu verwenden: aus dem ursprünglich einfachen, doch in unendlichen Stufen sich überbauen- den Gegensatze eines Gefühls der Lebensmacht und eines Gefühls der freier schwebenden Subjectivität wird eine unendliche Verhältnißstellung; die Schwingungen treten aus der Stufenreihe heraus in Wahlverwandtschaften und Abstoßungen, das Gefühl läuft und springt nun an seinen inneren Bewegungsmomenten auf und nieder und legt im Einklang und Zwiespalt ihrer Verbindungen das Geheimniß seiner Freuden und Schmerzen, die die Ahnung des großen Welträthsels von Gegensätzen, Widersprüchen und deren Versöhnungen nieder. Es kann hier nicht weiter gegangen werden; der schwere Gegenstand ist wieder aufzufassen, wenn erst vom Tone die Rede ist. §. 756. Der Lebenslauf einer Stimmung, wie sie in dieser neuen Verwendung ihrer qualitativen Erregungsmomente sich entfaltet, wird die Gesetze der Entwicklung und des Umlaufs alles Lebens darstellen: ein Ansteigen und Fallen, sich Spannen und Lösen, Verwandtes mit Verwandtem binden, starke und milde Contraste Setzen und Versöhnen, sich in mehrere Strömungen Spalten, neue Quellen Auf- nehmen, sich wieder Sammeln, schließlich befriedigt in sich Zurückkehren und Ausathmen. In dieser Strömung ist es, wo das Gefühl an die Welt der auf klarer Unterscheidung ruhenden Geistesformen vernehmbar anschwillt, ohne die Grenze zu überschreiten. Die Erörterung des Rhythmus im höheren Sinne des Worts behalten wir nicht deßwegen der Betrachtung der Composition vor, weil hier die Aufsuchung der innern Quellen dessen, was sich in der Kunstform niederlegt, besonders schwierig wäre, im Gegentheil hier ist ungleich mehr Licht, als in den getrennten einzelnen Gängen der bisherigen Untersuchung. Schon in der allgemeinen Kunstlehre, wo wir den Begriff der Composition über- haupt behandelten, §. 494—501, mußte überall auf die Musik hingewiesen werden, in welcher Alles, was wir Rhythmus in der tieferen Bedeutung nennen, seinen bestimmtesten Ausdruck findet und welche ebendaher auch den Namen dafür hergibt. Das Gefühlsleben als ein wesentlich und nur Bewegtes, Strömendes enthüllt uns am ungetheiltesten das organische Bewegungsleben in aller Kunst. Gerade aber, weil hier weniger Dunkel ist, dürfen wir es vorerst an den im §. aufgestellten Momenten genügen lassen und die nähere Beleuchtung dem Orte vorbehalten, wo es sich bereits von der Kunstform handelt. — Der zweite Theil weist auf §. 749 zurück, wo gezeigt ist, wie die Welt des Bewußtseins und aller bestimmten Thätigkeiten, die auf ihm ruhen, hiemit über die Welt der Objecte unmittelbar an der Schwelle des Gefühls zu lauschen scheinen. Dieß zeigt sich nun in den rhythmischen Strömungen, welche in der Melodie ihren Ausdruck finden. Deutlich meint man aus dem anschwellenden Sturme der Töne den Affect zu vernehmen, wie er zum Entschluß, zur That sich steigert, ja man meint ein Object seiner Sehnsucht, seines Zorns sich vorstellen zu müssen, was wir lieben und hassen, taucht in uns auf; aber auch der denkende Geist glaubt sich wieder- zufinden: es klingt wie Frage, wie banger Zweifel, wie Antwort und gefundene Lichtgedanken oder dunkler Abgrund, vor dem die Fragen unge- löst hinsinken; wie eine entdeckte Wahrheit, die wiederholt, belegt, erläutert wird. Wie sich diese bestimmten Geistesformen auf die verschiedenen Er- streckungen der Zeit beziehen, so glauben wir jetzt wehmüthig zurückzublicken, Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 53 jetzt die Gegenwart muthig oder ruhig und klar zu erfassen, jetzt hoffnungs- voll, vertrauend, jetzt bang gespannt oder finster entschlossen in die Zukunft zu schauen. Selbsterlebtes, alte Sagen, Völkergeschicke, Natur und Staat schweben uns in unbestimmten Bildern vor. Lehnt sich das Gefühl an das Bewußtsein, so bekommt dieß Alles Ort und Namen, aber wir werden sehen, daß die Verbindung mit dem Objecte aufzeigenden Geiste nicht so innig ist, als es scheint. §. 757. Der Lebensprozeß des Gefühls als Zeitverlauf ruft einen neuen, tiefen Qualitäts-Unterschied in’s Leben: obwohl an sich immer vielseitig, ist dasselbe doch vergleichungsweise entweder einfach oder mannigfach, eine Einheit gleich- zeitig verschiedener Arten, denselben Strömungs-Inhalt zu empfinden, mag dieselbe als reicher Wiederhall des Gefühls in Einer Persönlichkeit oder als Empfindungsweise verschiedener Persönlichkeiten, Temperamente, Alter, Ge- schlechter aufgefaßt werden. Jene einstimmenden oder widerstreitenden Verhält- niß-Stellungen der ursprünglichen Qualitäts-Momente, worin das einfache Ge- fühl seine Grundstimmung successiv ausdrückt (§. 755), treten nun auch für die gleichzeitige Bewegung in Kraft. Die Harmonie im engeren Sinne des Worts als gleichzeitiger Unter- schied der Intervalle, Klänge, Melodien setzt den Unterschied einer einfacheren oder vielfacheren Resonnanz desselben Gefühls im Innern voraus. Das Gefühl ist allerdings immer der ganze Mensch, allein der ganze Mensch ist individuell ärmer oder reicher, ein mit mehr oder weniger Saiten bezo- genes Instrument, oder, wenn er auch ein vielsaitiges ist, kann doch die Empfindung entweder alle Regionen seines Innern in Bewegung setzen oder nur einfach anklingen. Der mannigfachere Wiederhall Eines Gefühls in der Brust eines Menschen wird zugleich der Ausdruck davon sein, daß merkbarer seine verschiedenen Geisteskräfte mitergriffen in das Empfinden einströmen, daß seine verschiedenen Beziehungen zur Außenwelt, seine Er- fahrungen und Erinnerungen in ihm erwachen. Der Eine Mensch ist uns nun immer zunächst der Eine in dem Sinn, daß er uns alle repräsentirt. Allein wie in allem Kunstideal, so auch in dem Ideale der Kunst der Empfindung gilt nicht die formale Logik der Consequenz, daß es, wenn einmal das Ganze einer Gattung in seinem Individuum repräsentirt er- scheint, nun dabei sein Bewenden hätte, das Eine kann sich vielmehr in eine Vielheit auseinanderschlagen und für die Grenze, wie weit der Auszug aus der empirischen Vielheit gehen soll, gibt es kein Gesetz. So ist auch hier die Pforte weit offen, durch die der Mensch in einer Vielheit von Persönlichkeiten eintreten mag, der gleichzeitige Reichthum des Gefühls hat nun die Bedeutung des Gesammtgefühls dieser Mehrheit, die mannigfache Weise, dasselbe zu empfinden, erscheint wie ein Wiederhall desselben Gefühls in verschiedenen Formen der Menschheit; diese Formen erweisen sich in ihren Haupt-Unterschieden wesentlich als die anthropologischen Typen: anders er- zittert dieselbe Stimmung im Jüngling, anders im Mann, anders in den zwei Geschlechtern, anders im Gemüthe des Melancholikers, als des Sanguinikers, Cholerikers, Phlegmatikers. Man darf dabei nicht nur an den unmittelbaren Ausdruck der Empfindung in der menschlichen Stimme denken, die Kunst wird, was in dem natürlichen Organ liegt, durch tech- nische Verwendung äußern Materials in einem reichen Apparate verviel- fältigen, auseinanderlegen; hier ist noch nicht von den Mitteln der Dar- stellung, sondern von der innern Natur der Gefühlsbewegung die Rede. In ihren gleichzeitigen Unterschieden nun muß Einstimmung sein, allein die Einstimmung schließt nicht den Fortgang vom bloßen Unterschied zum Gegensatz und Kampf aus; hier handelt es sich dann um dasselbe System von einstimmigen und widerstreitenden inneren Schwingungsverhältnissen, wie im successiven Verlauf einer Stimmung, und wälzt sich nun der Strom der Empfindung, durch so viele Zuflüsse verstärkt, deren Wasser sich in ihm noch unterscheiden, reich und mächtig nach dem Meere des Unendlichen. §. 758. Diese ganze Welt von Unterschieden liegt im Leben des Gefühls nur ver- schwimmend und verworren angedeutet, sofern es nicht die Phantasie ist, die als Ganzes auf dieses eine ihrer Momente sich stellt und die verhüllten Keime zur vollen Entwicklung bringt. Nur durch diesen Prozeß erhält die Empfindung Licht und Gestalt, wird der Uebergang in anderweitiges, stoffartiges Verhalten abgeschnitten und die Bewegung ihrer streitenden Elemente in das Bett der idealen Reinheit und Harmonie geleitet. Wir haben es bisher gewagt, den Vorwurf nicht zu scheuen, daß wir den Cirkel begehen, aus dem Abzuleitenden abzuleiten, um dann erst jenes aus diesem abzuleiten, indem wir unsere Vermuthungen über das, was der Formenwelt der Musik im Innern des Gefühls zu Grunde liegt, eben aus dieser gewinnen, zu der wir dann als dem posterius übergehen. Der Vorwurf wird jetzt die bestimmtere Wendung nehmen: wenn so die musi- kalische Formenwelt im Gefühl an sich vorgebildet liegt, wie kommt es, daß Menschen vom anerkannt tiefsten Gefühle völlig unmusikalisch sind, während so manches leichte musikalische Talent offenbar oberflächlich fühlt? Man erkennt jedoch leicht, daß diese Thatsache nimmermehr ein Recht 53* begründet, Inhalt und Form auseinanderzureißen. Die Phantasie des Gefühls oder das Gefühl als Kunsttalent kann sich von dem Gefühl über- haupt nicht so unterscheiden, daß in diesem das innere Vorbild, dessen Abbild jenes in der Gestaltung der Töne niederlegt, nicht als Keim ange- legt wäre, sonst käme ja durch die Formenwelt des Tones zu dem, was sie ausdrücken soll, etwas ganz Aeußerliches und Fremdes hinzu. Das Wahre kann vielmehr nur dieß sein, daß der Formkeim, der im Gefühl an sich liegt, bei rein und tief fühlenden, aber unmusikalischen Naturen, gleich- sam an der Stelle, wo er sich zum bestimmtern innern Bilde und weiter zum äußern Organ entwickeln sollte, unterbunden ist. Diese geheimnißvolle physiologisch-psychologische Naturschranke, die das Zusammengehörige trennt, ist in der Musik ungleich stärker, als in allen andern Kunstgebieten, und es wird dieß begreiflich werden, wenn wir das Gefühl mit der Natur des musikalischen Ausdrucksmittels enger zusammenhalten, aber im Wesentlichen haben wir doch in den andern Sphären dieselbe Erscheinung: der wahre Historiker z. B. bringt sich vom großen Geschichtsmomente nicht nur den reinen Inhalt zum lebendigen Bewußtsein, sondern auch von seiner Ge- staltung , den Charakteren, Culturformen u. s. w. hat er eine reiche An- schauung, aber er vermag diese nicht bis zur vollen, reinen, idealen Form zu entwickeln, wie der historische Maler, dem der innerlich thätige Nerv in vollkommener Schwingung zu Gebote steht und heraus bis in die Fingerspitzen geht. Was aber das ästhetische Talent betrifft, das ohne Ge- haltstiefe mit Leichtigkeit bildet, so erklärt sich dieß aus einer innern Fähigkeit, sich auch in den von Andern vorgefühlten Gehalt hineinzuversetzen, keineswegs ist es ein abstractes Formgeschick ohne alle Beziehung zum Inhalt. In gewissem Sinn gilt es allerdings auch vom wahren Genius, daß man bei ihm jene substantielle Innigkeit des Gefühls, wie es ohne Uebergang in den musikalischen Ausdruck den gemüthvollen Menschen erfüllt, nicht suchen darf. Doch auch dieß ist zunächst nur dasselbe, wie in aller Kunst: wir haben als allgemeine Vorbedingung des idealen Schaffens ächtes Pathos verlangt (§. 392), aber der Niederschlag der innern Wärme in die Form, den reinen Schein setzt immer eine Abkühlung voraus und vollendet sie, nimmt der Begeisterung mit ihrem pathologischen Charakter ihren ursprünglichen directen Ernst, ihre Eigentlichkeit; der Genius muß im Pathos sein und doch frei über demselben schweben. In der Musik wird dieß nun ganz besonders wahrnehmbar sein, weil sie eben die Kunst des Gefühls, also des Innigsten ist: es schlüpft auf dem Puncte, wo es in dem Menschen, welcher ihm nicht die musikalische Gestalt gibt, sich nach anderweitigen Aeußerungsformen gewaltsam hindrängt, in unzulängliche, aber tief erregte Seufzer und Worte sich zusammenpreßt, im Affect über die Ufer schlägt, als reinere Wärme in Gesinnung und That sich fortleitet und durch alles dieß sich ebenso sehr in seiner Kraft bewährt, sozusagen nebenaus in die Form, die freilich die allein genügende zur Darstellung ist, aber verglichen mit dem Leben, das die Kräfte in ihrer substantiellen Gewalt verwenden will, als eine ableitende, beziehungsweise Ausleerung bewirkende Schleuse erscheint. Daher findet man die größten Musiker im Leben häufig gerade nicht sentimental, vielmehr trocken. Dagegen ist nun die Kunstform, in deren Bett sie das Gefühl zu leiten vermocht, eben auch die reine : sie spricht das Gefühl, das im Worte vergeblich nach Mittheilung ringt, ganz aus, bringt jene innere Dynamik und Statik, die wir nur durch Rückschluß eben aus dieser Form in ihren Grundlinien anzudeuten vermochten, zu Tage, und in ihr allein vollzieht sich die Läuterung des Gefühls in sich selbst zur idealen Reinheit, seine Erhebung in den Aether der Harmonie. §. 759. Die empfindende Phantasie kann für ihre künstlerische Darstellung ein Material weder entbehren, noch auch im bisherigen Sinne des Wortes zur Anwendung bringen, denn sie hat ein reines Zeitleben auszudrücken. Sie muß also körperlichen Stoff zwar ergreifen, aber so verwenden, daß er sein räum- liches Dasein in ein Werden für Anderes in Zeitform aufhebt: dieß ge- schieht in den Schwingungen des Tones , deren Medium die Luft ist. Die Kunst isolirt hiemit abermals eine Erscheinungs-Seite des Objects, nämlich die Bewegung , und sie macht der Stummheit ein Ende, aber noch ohne zur eigentlichen Sprache fortzugehen. Streng genommen ist Material wesentlich körperlicher Stoff; ob man den Ton, dieß rein Bewegte, ein Material nennen könne oder nicht, dieß ist eine Frage, deren Amphibolie in der Sache selbst liegt. Genau betrachtet, bestimmt sich das Verhältniß so: erst die Poesie hat, wie wir sehen werden, gar kein Material mehr, die Musik schwebt in der Mitte zwischen dem Festhalten und Aufgeben des Materials. Sie muß es festhalten, weil die Art der Phantasie, die ihr zu Grunde liegt, keinen Inhalt in dem Sinne hat, wie die Dichtkunst, die ein geschlossenes Bild in die innere Anschauung überträgt, in dieser Vergleichung ist das Gefühl leer und muß daher einen Halt an einem Körper haben. Sie muß es aufgeben, denn Material als Körper ist wesentlich räumlicher Stoff, und solcher kann nicht ein ob- jectloses Zeitleben des Geistes darstellen. Sie ergreift es also und hebt im Ergreifen seine räumliche Form als solche auf. Der Körper wird in die schwingende Bewegung des Zitterns versetzt, so daß Luftwellen von ihm ausgehen, welche als Ton wahrgenommen werden. In diesem Augenblick wird sein räumliches Außereinander in das Nacheinander der Zeit aufgehoben, er wird sozusagen flüssig, es ist ein inneres Zusammenziehen und Ausdehnen, Thätigkeit einer bestimmten Art von Elastizität, Aeußerung einer „Quasi- Muscularkraft“ (Krause Anfangsgr. d. allg. Theorie d. Musik. S. 40), die er besitzt, und diese Aeußerung setzt sich als Wellenbewegung in die Luft fort. Er theilt sich also mit, er gibt seine Isolirung auf, er wird für Anderes. Ist diese Erzitterung, diese erste Negation des räumlichen Daseins erfolgt, so stellt sich durch die Reaction des Körpers gegen diese Aufhebung in die Zeit, also durch eine zweite Negation (Hegel Aesth. Th. 3, S. 128) das blos räumliche Dasein her. Es ist wesentlich, daß der Körper bleibt und nur an ihm etwas vor sich geht; es leuchtet bereits ein, daß dieser Vorgang im Technischen genau jenem Verhältniß im Innern entspricht, wonach das Object stets an der Schwelle des Gefühls bereit zu stehen scheint (§. 749); man kann auch sagen, daß sich darin ausdrückt, wie die Musik so eben von der bildenden Kunst, die an den Raum gebunden ist, herkommt. Die höchste Entlastung der letzteren vom schweren Stoffe war die Magie der Licht wirkungen in der Malerei. Die Lichtwelle ist tief verwandt mit der Luftwelle; Farben und Töne stehen in inniger Verwandtschaft. Aber das malerische Licht ist noch nachgeahmtes, an den Raum gebanntes Licht; die Musik dagegen ist zwar an den Körper gebannt, aber nur um ihm die nicht blos nachgeahmte, sondern wirklich leben- dige Luftwelle als ihr eigentliches, einziges Vehikel zu entlocken; sie ist frei, hat den Fuß aus dem Boden gezogen, der Vogel unter den Künsten. Wir haben also jetzt endlich die wirkliche Bewegung, aber ohne ein sich bewegendes, denn der Körper ist zwar da, aber nicht er selbst, sondern nur sein Erzittern geht uns an. Die bildende Kunst hat die Oberfläche der Körper im Raum bewegungslos isolirt, zuerst als Baukunst auch ohne scheinbare Bewegung, dann als Plastik so, daß Bewegung nachgeahmt, aber als gefesselter Moment gebannt wurde, dann als Malerei ebenso, nur in ungleich freierer Ausdehnung und unter Mitaufnahme der Farbe. Es soll aber nun endlich die eigentliche, die wirkliche Bewegung in die Kunst eintreten und indem dieß geschieht, wird sie, um Alles zu erschöpfen, was aus ihr entwickelt werden kann, nach jenem Gesetze, daß die einzelnen Künste die Erscheinungsseiten des Naturschönen isoliren, um durch die Beschränkung das Vollkommene zu erreichen (§. 533), von ihrem Träger getrennt als Ganzes der Umfangs- mittel einer Kunst für sich allein verwendet. Die Isolirung ist zugleich ein Festhalten des Tones vor seiner Bildung zur Sprache. Es ist nun der Kunst die Zunge gelöst. Wir haben in §. 533 Anm. gesagt, die Kunst suche stufenweise die am meisten sprechende Form. Auf den Fortschritt in den Formen der bildenden Kunst konnten wir diesen Begriff nur un- eigentlich anwenden; die Musik steht an der Schwelle des eigentlichen Sprechens, sie überschreitet sie nicht, aber ihr Schritt zur Offenbarung des Innersten im Ton ist ein unendlicher. §. 760. Im Tone verräth der Körper sein Kraftmaaß und seine innersten Quali- tätsverhältnisse, die sich in seiner Form niederschlagen, und er entspricht schon dadurch dem Gefühle, welches objectlos und doch durch den Gehalt der Objecte bewegt ist. Um ihn jedoch zum Ausdruck des Gefühls in dieser und jeder Bedeutung des Wortes zu bilden, bedarf es einer Thätigkeit, welche ihn zu- nächst von seinem Ursprung völlig getrennt behandelt und welcher kein Na- turvorbild im strengen Sinne des Wortes zu Grunde liegt. Die Musik würde in abstracter Lostrennung zwischen die übrigen Künste hingestellt, wenn der tiefe Zusammenhang des Tons mit dem Körper ver- kannt würde. Das Auge, das die Form des Körpers erfaßt, bewegt sich, beschreibt eine Linie. Dieß ist zunächst nur die Bewegung des anschauenden Organs, aber der Körper ist geworden, hat sich gebaut und dieß war wirk- liche Bewegung, Bewegung der ihn bauenden Kraft. Im Tone drücken sich nun zunächst die innersten Texturverhältnisse des Körpers aus, sie sind das Werk dieser Kraft, und seine Gestalt ist der Ausfluß dieser innersten Formation. Der Ton ist so die freigewordene Linie der Form, „die zeitliche Linie“ (vergl. Solger Vorl. üb. d. Aesth. S. 340), er verräth den Kraft- kern, woraus die Form geworden, er kann die nackte, blosgelegte Seele des Körpers genannt werden. Die Musik hat buchstäblich und direct nichts mit der äußern Gestalt der Körper zu schaffen, aber es ist wesentlich, daß die innere Structur derselben, die sie zu ihrem Zwecke verwendet, an sich von dieser nicht zu trennen ist, und wir werden sehen, welche tiefe Beziehung zwischen der Musik und allen andern Künsten sich darauf gründet; zunächst ist dieser Satz nur eine Erweiterung, Vertiefung des früheren, der als wesentliches Moment hervorhob, daß zum Tone der Körper immer voraus- gesetzt bleibt, und ihm entspricht auf der subjectiven Seite die mehr besprochene Objectnähe im Gefühl. Es versteht sich nun aber, daß diese höhere Be- deutung des Tons sich erst auf einem Wege entwickeln kann, auf dem sie uns vielmehr ganz verloren zu gehen scheint. Das Klangleben der un- organischen und der Pflanzenwelt erregt uns wohl eine dunkle Ahnung der Gestaltungen dieser Gebiete auch ohne die Hülfe des Auges, der Thier- und Menschenstimme fühlen wir an, daß sie nur Ausdruck des Sichselbst- vernehmens des höheren und höchsten Organismus sein kann. Allein unser Satz will auf mehr, als dieß, hindeuten: er will sagen, daß der Ton die höheren, die bereits ästhetisch ideal gedachten Rhythmen der Körperwelt und einen unendlichen Einklang ihrer Bewegungen in ahnungsvoller Nähe vor das Gemüth führe, und das leistet der Ton nicht als unmittelbar vernommenes Erzittern der Körper ohne Zuthat der Kunst, die ihn doch gerade dem Zusammenhang mit dem Körper, dem er entspringt, zunächst (von der menschlichen Stimme nicht zu sprechen, mit der es eine besondere Bewandtniß hat) entnimmt, in ein künstliches System einreiht, das ihm an sich fremd ist, und nach der Seite seines ursprünglichen Zusammenhangs nur die Klangfarbe in besonderer Beziehung auf eine der Qualitäten des Gefühls (vergl. §. 753 Schlußsatz) übrig läßt. Dieß ist nachher wieder aufzunehmen und zuerst rein für sich die Verarbeitung des Tonmaterials als die völlige Abstraction darzustellen, welche uns das Band jenes Zusam- menhangs ganz zu zerschneiden scheint. Die Musik hat kein Natur- vorbild in dem Sinne, wie die Bildnerkunst, Malerei und Poesie , oder, was dasselbe sagt, sie hat nicht so, wie diese, einen Stoff in der zweiten der Bedeutungen, die §. 55, Anm. 2 . aufgeführt sind: dort bedeutete Stoff ein gegebenes Reales mit bestimmtem Inhalt und bestimmter Form, das der Künstler nachbildend umbildet (Süjet). Wir haben also im so verstandenen Stoffe sowohl Inhalt, als auch Form, eine Einheit beider, die in dem noch rohen Zustande des Naturschönen vorliegt. Der Künstler, der einen solchen Stoff bearbeitet, erhöht gleichzeitig beide Seiten so, daß durch die gereinigte Form der Inhalt rein sich offenbart. Aller- dings kann er aber beide Seiten in der Weise auch trennen, daß er zum Zweck seiner Studien einen zweiten Stoff beizieht, an welchem er nur die Form benützt: ein historischer Maler z. B. hat in der Scene, die er dar- stellen will, eine Einheit von Inhalt und Form vor sich, er macht aber zum Zweck der vollkommeneren Darstellung Studien nach andern Stoffen, deren Inhalt zu seinem eigentlichen Gegenstand in gar keiner Beziehung steht, so daß er hier die bloße Form, Gestalt, Tracht u. s. w. nachbildet, um sie dorthin überzutragen. Doch sind dieß nur Ergänzungen, Nach- hülfen, deren er namentlich dann bedarf, wenn er seinen Gegenstand nur aus der Ueberlieferung hat und ihm die blos innerliche Vorstellung nicht ausreicht, dessen Form zur klaren Anschauung zu erheben. Ganz unberück- sichtigt lassen wir die Allegorie, wo die ganze Form aus einem dem Inhalt fremden Gebiet entlehnt wird. In der Musik nun hat man bei der Frage der Nachbildung statt jenes organischen Verhältnisses, wo der Künstler ein ungetrenntes Ganzes an Inhalt und Form vor sich hat, gewöhnlich — und ebendieß ist schon bezeichnend genug für die besondere Natur dieser Kunst — vielmehr ein ganz anderes im Sinne; man setzt nämlich als selbstverständlich voraus, daß der Inhalt vom Innern des Tondichters komme und daß er, wofern sich eine Vorlage für die Form dieses Inhalts finden lasse, sie auswärts in der Natur zu suchen habe. Belassen wir es nun zunächst bei dieser gewöhnlichen Auffassung, so können wir uns auf §. 269 (wo zum Unorganischen auch das Holz und Bestand- theile des thierischen Leibs im vertrockneten, also unorganisch gewordenen Zustande zu rechnen sind) und 290 (thierische Stimme), überhaupt aber auf das allgemein Zugestandene berufen, daß Ansätze, Anklänge von Melodie und Harmonie in der Natur hervortreten, aber nur, um alsbald durch Absprung zum ganz Formlosen die Erwartung zu täuschen. Am bestimmtesten klingt die rhythmische Seite, Takt und Tempo an (vergl. §. 754, Anm.), aber auch dieß so ungeregelt und unvollkommen, daß an eine künstlerische Verwendung nicht zu denken ist. Anders scheint sich die Sache zu gestalten, wenn wir nach dem Menschen blicken: hier wäre, wenn dem Musiker eine Stoffquelle in diesem Gebiet flöße, Inhalt und Form verbunden: der empfindende Mensch und der Ton seiner Stimme sind Eines. Allein der empfindende Mensch, als Stoff für den Musiker gesetzt, drückt nicht seine Empfindung in Tönen aus, sofern er dieß thut, ist er nicht Stoff für den Musiker, sondern selbst der Musiker. Er spricht vielmehr und eben im Sprechen vermag er, wie wir ja deutlich erkannt, sein Empfinden nur ganz unzulänglich anzudeuten. Die Sprache articulirt den Ton durch die abschließende Kraft des Mitlauters zum Ausdruck des Bewußtseins und nur mittelbar durch dieses zum Ausdruck des Gefühls. So enthält die Sprache allerdings in begleitender Weise etwas von Ton als Gefühlsausdruck: dieß ist der Tonfall und Rhythmus des Sprechens, insbesondere des gehobenen Sprechens, des Declamirens. Dieß Element ist jedoch eben dadurch, daß die Sprache wesentlich Ausdruck des Bewußt- seins ist, in einer Weise bedingt, eingeschränkt, die man vom Standpuncte der Musik eine völlige Alteration nennen muß. Es wird immer eine zweckmäßige und feine Aufgabe sein, die Ansätze des Musikalischen im Sinnbegleitenden Tone der Rede zu belauschen, wie neuerdings L. Köhler (die Melodie der Sprache u. s. w.) und insbesondere werden solche Studien gegeben sein, wenn es gilt, einem Zustande der Musik entgegenzutreten, wo diese Kunst sich gewöhnt hat, in ihrer Verbindung mit dem Worte statt eines freien Anschlusses in falscher Selbständigkeit willkührlich von dessen Sinn abzuschweifen, ja im Widerspruch mit diesem sich breit zu machen, sie werden uns z. B. zeigen, wie verkehrt es ist, eine sehnsucht- volle Frage in bequem fallender Tonreihe auszudrücken u. s. w., allein, wenn man meint, in diesem Gebiet ein durchgreifendes, positives Gesetz suchen zu müssen, so befindet man sich in der falschen Voraussetzung, daß in der Verbindung von Sprache und Ton die Poesie und die Musik zu gleichen Theilen regieren, wie solche durch R. Wagner als Prinzip aufge- stellt ist. Wir werden diese neue Theorie seines Orts auffassen, hier genügt es, darauf hingewiesen zu haben, daß der Sprachtonfall nur verlorene Anklänge einer Tonwelt enthalten kann, die für sich allein vollkommener Gefühls-Ausdruck sein soll, daß er wesentlich alterirt ist durch den Zweck der Sprache, das Bewußtsein auszudrücken. Man darf daher Untersuchun- gen, wie die obige, nur sehr genügsam führen, wenn man nicht in’s Kleinliche und Gesuchte gerathen will. Die Sprache hat jedoch allerdings auch unarticulirte Gefühlslaute in der Interjection . Ihre Tonhöhe und ihr Tempo liegt unmittelbar an der Quelle der Empfindung und gehört mehr, als alles Andere, zu den zerstückelten, verlorenen Anklängen von Musik in der Natur. Allein nimmermehr ist die Musik durch ihre Belauschung entstanden oder kann zu irgend einer Zeit ihre Formen nach ihr bilden; denn sie ist eben nichts, als ein von der Sprache auf conti- nuitätslose Einsilbigkeit zurückgedrängter, im Keim ersterbender Ansatz, die Empfindung durch Musik außer der Musik auszudrücken. Uebersehen wir nun dieß ganze Gebiet des Naturschönen, so erkennen wir die genaueste Analogie mit dem, was über das Verhältniß des Baukünstlers zum Natur- schönen in §. 558 gesagt ist: nur entfernt und dunkel, ohne jede ausdrück- liche Intention des Nachbildens, kann, wie dem Völkergeiste in der Bil- dung der Baustyle die zerworfenen Spuren der reinen Raumformen in Erdbildung und Pflanze, so das Reich der Naturtöne dem Menschen bei Schöpfung der Musik vorgeschwebt haben oder vorschweben. Die Musik ist ohne Zweifel vom Spiel ausgegangen und zwar auf zwei Wegen. Man machte an gewissen Körpern zufällig die Beobachtung, daß sie Töne von sich geben, die eigenthümlich zur Empfindung sprechen, daß diese Töne in gewissem Verhältnisse zu einander stehen, daß man diese Verhältnisse durch Ueberspannen eines Felles über eine Höhle, durch Nebeneinanderziehen von Saiten, durch Nebeneinanderstellen von Röhren (die Syrinx), durch Einbohren von Löchern in Röhren vermehren und ordnen kann: dieß war der eine Weg, der in gewissem Sinne von außen nach innen geht; der andere war der des Gesangs, der jedoch nicht in dem Sinne von innen nach außen geht, daß man sich vorstellen dürfte, der Gesang sei ursprünglich der geistigeren Tiefe der Empfindung entsprungen; die Anfänge des Gesangs wird man im Jauchzen der Gebirgsbewohner suchen müssen, das sich in musikalischer Uebung zum Jodeln, einem Singen ohne Wort, aus- gebildet hat; jener unmittelbare Aufschrei der Lust schlägt gerade durch seine Vollkräftigkeit in wirkliche Töne um, läßt einen natürlichen Tonfall, selbst eine Andeutung bestimmter Intervalle erkennen, von deren Beobach- tung man langsam zum künstlerischen Gefühlsausdruck fortging. Und hieran knüpft sich nun offenbar die einzig richtige Anwendung des Begriffs von Stoff und Naturvorbild auf die Musik: der Stoff, der Nachahmungs- gegenstand dieser Kunst ist das Gefühlsleben in der Brust des Künstlers; jener Begriff läßt sich aber nur in sehr entfernter Weise anwenden, weil Stoff, Vorbild eigentlich einen Gegenstand bezeichnet, der dem Künstler klar als Object gegenübersteht und ihm eine bereits bestimmte, obwohl im Ver- hältniß zur Kunstaufgabe noch rohe Form entgegenbringt, wogegen das Gefühlsleben nicht nur mit der Subjectivität dessen, der es darstellen soll, verwachsen, sondern auch in seiner Formbestimmtheit vor der Darstellung so dunkel ist, daß sie der Künstler selbst erst ahnt, indem er nun ganz anders woher jene Form entlehnt, an welcher ursprünglich durch Zufall die Fähigkeit entdeckt worden ist, das Gefühl auszudrücken, und die er nun zu diesem Zweck selbständig weiter formt. Wendet man sich nun nach der andern Seite, nach diesem „Anderswoher“, so ist man geneigt, den Begriff des Naturvorbilds auf sie anzuwenden, wir haben aber gezeigt, daß er hier nicht hergehört, weil die Tonwelt in der Natur nicht ein Ganzes von Inhalt und bestimmter Form ist, das der Künstler nur zu ideali- siren hätte; will man ihn dennoch auf diese Seite übertragen, so kann man es nur mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß man dießmal unter Stoff nur Anlaß zur Entdeckung einer frei zu bildenden, dem Seelenleben dunkel entsprechenden Formwelt und benütztes, verwendetes Vehikel versteht. Entschieden zutreffend ist für die erstere Seite, wo das Innere, das Gefühl als Stoff bezeichnet wird, nur das negative Merkmal des Begriffs, daß der Stoff vor seiner Bearbeitung immer ein relativ Rohes, Formloses ist, indem die innere Stimmung vor diesem Uebergang in die klare Form, auch abgesehen von dem spezifischen Dunkel ihrer Organisation überhaupt noch ungeordnet, mit allen Mängeln und Zufälligkeiten behaftet bleibt, durch welche das Naturschöne auch als sichtbarer Gegenstand der andern Künste stets getrübt ist. — Noch bleibt übrig, den Begriff des Stoffes oder Süjets in einem andern Sinne zu nehmen: so nämlich, daß der von einer Kunst schon verarbeitete Stoff einer andern noch einmal Stoff wird (vergl. §. 543). Nun erhält der Musiker ein Süjet vom Dichter, eine Stimmung ist ihm von diesem (in Lied, Operntext u. s. w.) vorempfunden, also objectiv gegeben. Allein dieß ist ein unendlich loseres Verhältniß, als im Stofftausch anderer Künste. Der Musiker übersetzt den Stoff nicht etwa aus dem innerlich sichtbar Vorgestellten in das äußerlich Sichtbare, also zwar in eine andere Kunst, aber eine solche, die mit der Stoffquelle noch das Element des Bildes gemein hat, oder aus dem Epischen in das Dramatische, also einen andern Zweig derselben Kunst, sondern in eine absolut neue Form, welche, wie wir sehen werden, mit dem Inhalte, den ihr die Poesie leiht, nicht in jenes congruente Verhältniß tritt, das einfach als künstlerische Umbildung eines Stoffes bezeichnet werden könnte. Vergl. über dieß Verhältniß, sowie über die ganze Frage die treffenden Bemer- kungen von Hanslick a.a.O. S. 49 ff., 83 ff. §. 761. Diese Thätigkeit, wodurch die vernommene Lufterschütterung erst zum Ton im engeren Sinne des Wortes wird, ist eine rein verständige, mathe- matische . Sie ordnet auf Grundlage physikalischer Schwingungsgesetze ein Stufensystem der Töne an, worin Alles auf gezählten Messungen beruht. Auch diejenigen Unterschiede, die durch Tiefe und Höhe jene qualitative Grundform des Gefühls ausdrücken und das Hauptmittel für die Durchführung des Charakters einer Stimmung abgeben, erweisen sich als ursprünglich quantitativ und die innere Beziehung des Einklangs oder Mißklangs, in welche bestimmte Töne aus der Stufenreihe heraus zu einander treten, erklärt sich aus arithme- tischer Einfachheit oder Verwicklung. Das Ganze der musikalischen Ausdrucks- mittel besteht also wesentlich in lauter Verhältnissen . Wir haben bisher in nothwendiger Vorausnahme und mit Vorbehalt der genaueren Unterscheidung das Ausdrucksmittel der Musik schlechthin Ton genannt, wiewohl in genauerer Beziehung nur der gemessene, in ein System eingeordnete Gehörs-Eindruck Ton so heißt. Es liegt hier eine Schwierig- keit des Ausdrucks; will man das Wort Ton durchaus auf diesen strengen künstlerischen Sinn einschränken, so schwankt man darüber, wie der Gehörs- Eindruck außerhalb des musikalischen Kunst-Systems allgemein bezeichnet werden soll. „Schall,“ wie Einige sagen, hat zu bestimmt die Neben- bedeutung des Starken, was in gewisser Ferne vernommen wird, Klang eines gewissen besonderen Charakters, des Weichen, Spröden u. s. w., was weiter- hin für die Musik Bedeutung gewinnt. Es wird daher wohl dabei bleiben müssen, daß man „Ton“ im weiteren und engeren Sinne des Worts unter- scheidet. — Wenn nun die völlige Ausbildung eines für jeden Gefühlsaus- druck gefügigen Tonsystems als ein rein verständiges, mathematisches Thun bestimmt wird, so versteht sich, daß hiemit nicht behauptet sein soll, daß die empfindende Phantasie nicht lange Zeit mit dem bloßen Instincte, natür- lichen Ohrenmaaß ausgereicht habe; so sind ja die Proportionen in der Bildnerkunst Objecte des Messens und doch hatten viele Menschenalter mit dem Augenmaaß ausgereicht, ehe die Wissenschaft die Regel festsetzte. Die Wissenschaft selbst, nachdem sie schon weit gelangt war, brauchte noch lange, bis sie von der Physik ihre schließliche Grundlegung durch die Wellenlehre erhielt und von ihr jene Schwingungsgesetze lernte, auf denen das ganze System der musikalischen Mittel beruht, und welche in der speziellen Er- örterung näher in’s Auge zu fassen sind. Hier ist nur die arithmetische Natur des zu Grunde liegenden Physikalischen zu betonen: die Höhen- Unterschiede der zu systematischer Stufenreihe geordneten Töne sind in Ver- hältnissen der Schwingungsgeschwindigkeit begründet, die Verhältnißzahlen sind die Maaße der Intervalle und harmonisches Tonverhältniß beruht auf Einfachheit und Faßlichkeit des Zahlenverhältnisses; wie denn durch bloße Verdoppelung der Schwingungen jener zweite Ton (die Octave) entsteht, der dem ersten vor allen andern wahlverwandt erscheint. Kommt nun der Unterschied, der dem ganzen Systeme zu Grunde liegt, auf verschiedene Zahl der Schwingungen zurück, so erhellt, daß nicht nur die Verhältnisse des Tacts und Tempo quantitativ sind, sondern auch diejenigen, welche in Vergleichung mit denselben als rein qualitativ erscheinen, nämlich der Tiefe und Höhe. Diese sind es nun aber, in welchen das Gefühl sich den Apparat schafft, seine eigentlich qualitativen Bewegungen auszudrücken, wie sie in §. 752 aufgeführt sind. Haben wir den dunkeln Vorgang im Innern selbst uns als ein Schwingungsleben vorzustellen gesucht, so schien es doch immer, als müsse man hier an Schwingungen verschiedener Bewegung sart denken, nun aber, im technischen Abbilde des psychischen Vorbilds, kommt auch dieser tiefe Unterschied des substantiellen und subjectiv gelösten Gefühls und all der Reichthum wunderbarer Empfindungen, wozu er verwendet wird, schließlich auf einen Unterschied der Schnelligkeit und Langsamkeit zurück. Die Festsetzung auf einer bestimmten Stelle der Leiter, wodurch die innige Eigenthümlichkeit einer individuellen Stimmung ihren Ausdruck findet, tritt nun als Tonart auf und die tieferen Töne erscheinen, wie als Träger der Empfindung überhaupt, die sie vor dem Bodenlosen bewahren, so technisch als die Träger des Einklangs der Töne; als eigentlich qualitativ bleibt nur die besondere Klangfarbe zurück, welche die spezielle Art der Cohäsion des einzelnen Materials mit sich bringt: ein höchst wichtiges Moment allerdings, denn eine tiefe Symbolik, die wir bereits mit den Eindrücken der Landschaft verglichen haben, bestimmt das Gemüth, aus dem Erzittern der Körper nach dem verschiedenen Zusammenhalt ihrer Atome sich verschiedene Stimmungen, sanftere, nervösere aus dem weicheren, muthigere, stärkere, gleichsam muscu- lösere aus dem spröderen, namentlich den metallischen, entgegenkommen zu lassen; aber nicht beruht hierauf das Wesentliche des Lebensprinzips und Lebensprozesses einer totalen Stimmung, diese ist vielmehr im Großen und Ganzen völlig an jenes rein quantitative System von Ausdrucksmitteln gewiesen. Wir haben nun hier ein Ganzes von lauter Verhältnissen. Alles ist relativ, nur durch seinen Platz, nur durch eine Größenvergleichung be- stimmt. Der Ton heißt in diesem System Intervall, denn nur der Zwischen- raum zwischen ihm und andern, eben der quantitative Abstand bestimmt seine Natur. Die Consonanzen und Dissonanzen, in welche einzelne Töne aus der Continuität der Stufenreihe heraus zu einander treten, beruhen eben- falls auf einem rein arithmetischen Verhältniß. Was sich durch einfache, überschauliche Zahl exponirt, wird als Einklang, als consonirender Accord, was einen verwickelten Zählungsprozeß fordert, als unbefriedigende Auf- lösung erwartende Tonverbindung oder als voller Mißklang, als dissoniren- der Accord empfunden. Die harmonischen Töne fordern sich wie die Er- gänzungsfarben vermöge eines Naturgesetzes, dort der Luftwellen, hier der Lichtwellen, so nothwendig, daß der eine Ton den andern, obwohl nicht angeschlagenen, als sein Echo hervorruft, und der reine Dreiklang aus Grundton, Terz und Quint erscheint als eine Grund-Einheit wie Blau, Gelb und Roth: der vollste Ausdruck eines reinen Beziehungssystems von Schwingungsgesetzen, die der menschliche Geist messend, das Gemessene zählend zum System der Musik ausgebildet hat. §. 762. Der Schein des Widerspruchs zwischen der Innigkeit des Gefühls und dieser mathematischen Natur des Systems seiner Ausdrucksmittel löst sich durch die in §. 752—757 enthaltenen Bestimmungen: eine Geistesform, von welcher kein Inhalt ausgesagt werden kann, welche vielmehr in lauter reinen Verhält- nißstellungen zwischen Subject und Object besteht, läßt sich nur durch gezählte Schwingungen ausdrücken, die ihrem innern Bewegungsleben entsprechen. In diesem Sinne gilt es nicht blos von den elementarischen Grundlagen, sondern selbst von der freien Erfindung, daß die Musik ein unbewußtes Rechnen ist. Für das unmittelbare Bewußtsein gibt es nicht leicht einen grelleren Widerspruch, als den, wie hier das Innigste durch das Abstracteste, das Wärmste durch das Kälteste seinen Ausdruck finden soll. Es ist auch in keiner Kunst der Uebergang vom Innern durch die Schule zu dessen Aus- druck so schwer, der Unterricht so ermüdend und wo nicht ganz voll ent- schiedenes Talent den entsprechenden Drang mit sich führt, so ganz und gar abstoßend: zählen und immer zählen, um auf dem längsten Umwege durch den absoluten Frost dahin zu gelangen, daß die Gluth des Herzens sich in das völlig Todte, in ein gerechnetes Nichts ergießen könne. So trocken die Disciplin der Plastik und Malerei scheinen mag, so hängt doch der dürftigste Strich des Schülers unendlich näher mit dem Gefühle zusammen, als das Tasten-, Takt-, Tempo- und Pausen-Zählen des Anfängers in der Musik. Die Schwere dieses Widerspruchs hebt sich durch den richtigen Begriff der Zahl. Und dieser erhellt an der historischen Stellung jener Philosophie, deren Prinzip war, daß das Wesen der Dinge in der Zahl bestehe, der Pythagoräischen. Sie hat erkannt, daß die Wahrheit des Da- seins nicht die Materie sein könne, sie hat noch nicht erkannt, daß es die Vernunft sein müsse; sie steht in der Mitte zwischen der Jonischen Philo- sophie, welche die Substanz in allem Einzelnen als Stoff, und zwischen der Philosophie der Eleaten, welche dieselbe als denkende Kraft faßte, und greift demgemäß nach der Formel, womit wir Alles, sowohl das Sinnliche, als auch das Geistige nennen, welche keinen Inhalt bezeichnet und womit man allen Inhalt fassen kann, denn als Quantum läßt sich, eben weil das Quantum gegen den Inhalt gleichgültig ist, Alles ohne Unterschied bestimmen. Das Quantum schreitet in Häufung der Eins und Zusammen- fassungen der Eins fort ohne innere Entwicklung, unter diesen Fortschreitungen läßt sich sowohl die Vermehrung der Materie, als der Intensität begreifen. Tragen wir dieß über auf die Musik, so ist ihr Inhalt ein wahrhaft Quali- tatives, das sich aber, weil objectlos, unterscheidungslos, nicht durch Worte begreifen läßt, und ein Solches kann eben nur in die unsinnlich sinnliche Unterscheidung der Zahl gefaßt werden. Unwahr für das Ganze des In- halts der Philosophie, ist der Gedanke des Pythagoras wahr gerade für die Enthüllungsstufe des Welträthsels, welche die Musik darstellt. Pythagoras will sagen, daß die Form das Wahre der Dinge sei, und er findet für sie keine Bestimmung, als die, welche Alles unterscheidet und verbindet, sei es nun als Stoff oder Form gefaßt. Die Form ist wesentlich Verhältniß ; die Welt als Form begriffen ist ein Eines, sich in sich unendlich unter- scheidend und seine Unterschiede in unendliche Stellungen zu einander setzend, die aber eben als verschiedene Stellungen des Einen schlechthin lebendig aufeinander bezogen sind; es gibt keinen Ort außerhalb dieses Netzes, es bleibt keine Materie neben der Form übrig, der Stoff läßt sich unendlich theilen, bei jeder Theilung ist, was übrig bleibt, immer wieder ein Ge- formtes. Die Zahl nun bezeichnet richtig das Verhältniß, sofern sie nichts ist, als eine unendliche Reihe gesetzter Puncte, die nur in ihrer Beziehung zu einander etwas, außer ihr nichts sind; sie bezeichnet es aber unzureichend, weil es ein lebendig qualitatives sich Fortbestimmen des Einen zum Unter- schied und der Wechselbeziehung im Unterschied ist, wogegen die Vielheit in der Zahl nur Häufung des Eins ist und alle Stellungen der vielen Eins zu einander gleichgültige, der Innerlichkeit ermangelnde Beziehungen sind. Es hat Sinn, wenn Pythagoras selbst die Seele und das sittliche und vernünftige Leben des Geistes unter dem Begriff der Zahl faßt, und Tugend selbst als Zahlenharmonie bestimmt; die geistigen Kräfte sind wesentlich Ordnungen einer Vielheit und wir müßten diese durch Zahl ausdrücken können, wenn wir sie gänzlich erkannt hätten; aber auf solchen Ordnungen beruhen auch unendlich viele andere Erscheinungen, welche zwar durch und durch Form sind, aber nicht in der Weise des Geistes. Nun aber ist der große Unterschied zwischen den andern Gestalten des Geistes und dem Ge- fühle der, daß jene durch klare Scheidung zwischen Subject und Object bestimmten, sagbaren Inhalt haben, dieses aber, weil ihm jene Scheidung abgeht, nicht. Wir haben es daher nur fassen können als ein dunkles Schwingungsleben, worin das Subject unendlichen Verhältnißstellungen zwischen sich und der in ihm wiederklingenden Welt der Objecte inne wird. Dieß aber läßt sich nur durch die Zahl ausdrücken. Die Zahl ist nicht das Gefühl, denn dieses ist im höchsten Sinne qualitativ, aber unerschlossene, dem Denken als einem Sprechen, der Begriffsbestimmung durch das Wort verhüllte Qualität, und da diese Qualität doch eine ganz selbständige Form ist, in die sich der ganze Geist legt, da sie also doch ihre volle Welt innerer Unterschiede haben muß, so kann sie ihren Ausdruck nur in dem finden, was zwar nur quantitativ ist, aber das Verhältnißleben des Qualitativen formulirt. Der wache, scheidende Geist muß sich in seinen Formen, wie schon bemerkt ist, auch durch Zahlen ausdrücken lassen, aber da er sagen kann, was er ist, so hat die Zahl ihre Nothwendigkeit, hiemit ihr Interesse verloren. Es ist falsch, gegen die Geltung des Pythagoräischen Prinzips in der Weise der Aristoxeniker zu sagen, das musikalisch Schöne komme nur aus dem Gemüthe, nicht aus der Zahl, sofern dieser Polemik die Meinung zu Grunde liegt, das Schöne des Gefühls würde zerstört, wenn man es als unendlichen Wechsel von Verhältnißstellungen auffaßt: dieß scheinbar höchst Farblose, der Innigkeit Baare ist allerdings das qualitative Innere des Gefühls selbst und die Zahl drückt es zwar nur aus, ist es nicht selbst, weil sie qualitätslos ist, drückt es aber auch allein aus. Das bekannte Wort des Leibnitz: musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi (Epist. ad divers. I., 144.) kann nur als höchst geist- reich anerkannt werden. Die Seele rechnet zwar nicht blos , aber sie durchläuft jene geistigen Verhältnißstellungen in einer durch die jeweilige Stimmung gegebenen Ordnung und würde diese nicht bilden und bauen, wenn sie nicht unbewußt zählte. Man kann auch die Geltung dieses Worts nicht beschränken auf die elementaren Gesetze der Harmonie, wie sie der musikalische Instinct unbewußt geschaffen hat und im Componiren unbewußt befolgt; das ganz Individuelle der Tondichtung selbst ist ein unendlich eigenes Schaffen neuer innerer Verhältnißstellungen des Gefühlslebens, welche in ihren unendlichen Schwingungen der Geist gar nicht ordnen könnte, wenn er sie sich nicht unbewußt als Puncte auseinanderhielte und verbände und dieß ist eben ein unbewußtes Zählen. Ist nun das Kunst- werk vollendet, so kann dieser unbewußte Prozeß zum bewußten erhoben werden und muß es zum Behuf der Ausführung, ja der Erfinder selbst, wenn er sein inneres Tönen und Weben in Zeichen niederlegt für diese, muß bereits in das bewußte Zählen übergehen. Da aber die Zahl zwar der einzige Ausdruck des Gefühlslebens, jedoch nicht das qualitative Wesen des Gefühls selbst ist, so liegen diese zwei Prozesse, der unbewußte und bewußte als zwei Welten auseinander: das fertige Werk kann wirklich nach- gezählt werden, aber der beste Rechner hätte es darum nicht erfinden können, denn es ist durch ein genial bewußtloses Zählen entstanden. Es verhält sich hiemit gerade wie mit dem Messen in der Baukunst vergl. §. 558, Anm. S. 195. Der Satz, daß die Musik ein unbewußtes Zählen sei, wird auch dadurch nicht umgestoßen, daß dieß Zählen ein weit verwickelterer Prozeß ist, als es auf den ersten Blick scheint, denn hinter den Zahlen- Einheiten, mit welchen die Technik der Musik unmittelbar schaltet, liegen ungemein große Zahlen verborgen, da der Ton erst hörbar wird, wenn wenigstens 30 Schwingungen in der Secunde erfolgen. Man bedenke, daß selbst der gewöhnliche Techniker, der zur Fertigkeit gelangt ist, jenes dem Schüler so schwere Zählen ganz instinctmäßig ausübt, daß also auch die bewußte Arithmetik wieder im Naturdunkel erlischt; so gut dieß möglich ist, kann es auch eine Arithmetik, die mit noch viel größeren Summen rechnet, vor dem Bewußtsein geben. §. 763. Das Organ, durch welches die in Töne aufgelöste Welt der Objecte in das Innere einzieht, ist der Sinn des zeitlichen Vernehmens, das Gehör . Das Kunstwerk besteht nicht anders, als so lang es ausgeführt wird, es wendet sich unmittelbar an den erzitternden Nerv und die innerste Individualität in der einfachen Urform ihres geistigen Daseins, die Zeit. Daher seine elementarische Wirkung, welche vermöge der schwebenden Natur des Gefühls (vergl. §. 749) in die tiefste Erregung der Sinnlichkeit und überhaupt eine durchaus patho- logische Stimmung übergehen kann. Die Musik als Kunst wühlt aber das ganze Gefühlsleben nur auf, um es innerhalb seiner selbst zur reinen Form in dem doppelten Sinn eines freien Scheins und einer Wohlordnung, worin das Weltganze als harmonisches empfunden wird (vergl. §. 750 und 758), zu läutern. Wir haben zuerst das Wesen des Gefühls entwickelt, ununterschieden, ob vom Künstler oder vom Zuhörer die Rede sei; hierauf sind wir zum Künstler herübergegangen. Dieser legt sein Empfinden im tönenden Kunst- werke nieder; indem er aus Körpern den Ton entwickelt, die Gestaltenwelt in Töne auflöst, so spricht er eben darin die Natur des Gefühls als die in das bewegte Innewerden des Subjects aufgelöste Welt aus. Zwischen einem Gefühlsleben und dem des Zuhörers, worin dieselbe Stimmung geweckt werden soll, liegt nun als die Pforte, durch welche der Gefühl-erfüllte Ton gehen muß, der Sinn des Gehörs. Die Luftwelle setzt den Gehörsnerv in die entsprechende vibrirende Bewegung und mit Einem Schlage beginnt jener dunkle Prozeß, wodurch die ausgedrückte geistige Stimmung in dem centralen Geistesorgan unter Mitschwingen des gesammten Nervenlebens sich reflectirt. Vom Gehörsinne ist das Wesentliche im ersten Theile §. 71 gesagt: er steht in der tiefsten Beziehung zum Gefühle schon darum, weil er genau dessen Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 54 mittlerer Stellung zwischen Sinnlichkeit und Geist entspricht; denn auf der einen Seite liegt er unter der Höhe des contemplativen, gegenständlichen Verhaltens, das vom ästhetischen Organe gefordert wird, da eben im Tone sich die Objectivität aufhebt und das vernehmende Subject in stoffartiger Apprehension sich mit dem Object ununterschieden verschlingt, auf der andern, sofern er das articulirte Wort vernimmt, weist er in ein Gebiet, dem das Sinnliche bloßes Zeichen ist, also über das Aesthetische hinaus. Die Musik aber ergreift diesen Sinn in jener ersten Function so, daß sie in sein un- mittelbares, stoffartiges Verhalten ihre geistigen Ordnungen und mit ihnen die Geistesahnung einführt, ohne ihn doch zum gegliederten Worte fortzu- führen, das den scheidenden Act des Bewußtseins, den erschlossenen Geist ausdrückt; daran verändert im Wesentlichen auch die Vocalmusik nichts, denn sie verschwemmt das Wort durch musikalische Entfaltung des Selbst- lauters wieder in das freie Tonleben, wiewohl sie sich an dasselbe lehnt. Es erhellt nun, wie wir bei vorläufiger Erwähnung das Gehör in §. 748, Anm. mit den dunkeln Sinnen des Tastens, Schmeckens, Riechens zusammen und zugleich hoch über sie stellen konnten. Genaueres über die musikalische Function des Gehöres sagt uns die Physiologie nicht: ein Punct, der darüber belehrt, wie verfehlt es ist, die Aesthetik physiologisch begründen zu wollen. Das sinnlich schärfste Gesicht und Gehör kann dem Schönen in Gestalt und Ton völlig verschlossen sein; ohne Frage ist der Sinn des Schönen angeboren und muß in einer Anlage der Organe zu gewissen rhythmischen Functionen sein ursprüngliches Dasein haben; wir können aber diese nicht erforschen und der allgemeine physiologische Bau sagt uns nichts darüber; das Schöne läßt sich daher immer nur auf die innere Nothwen- digkeit begründen, daß das Vollkommene nicht nur für den Glauben und den Begriff, sondern auch für die Anschauung da sei und daß für die Realisirung dieser Nothwendigkeit der Geist in der Natur gesorgt haben müsse, und zwar dieß wieder in verschiedenen Weisen; denn wie jede all- gemein menschliche Anlage, z. B. das ursprüngliche Verhalten des Willens zur objectiven Welt in den Temperamenten, so zerlegt und vertheilt sich auch der ästhetische Sinn in unterschiedene besondere Organisationen, die, obwohl ebenso physiologisch wie geistig, doch dem Naturforscher unergründ- lich sind. Wir sind mit dem Gefühlsleben in die Form der Zeit eingetreten, das Vehikel mußte derselben Form angehören; das Organ nun, das im Tone die Empfindung erfaßt, ist beides zugleich: der Sinn der unmittel- baren Aufnahme des bewegten Innern und der Sinn der Zeit, wie das Auge (mit dem Tasten) der Sinn der Aufnahme des Innern durch das Aeußere und des Raums ist. Das Kunstwerk, das an diesen Sinn sich wendet, ist nur so lang, als es aufgeführt wird, es hat kein objectives Bestehen. Hiemit hat jene Bewegung in zwei Tempi ein Ende (vergl. §. 550, Schluß d. Anm.); die Kugel — um bei dem gebrauchten Bilde zu bleiben — fährt, ohne Aufschlag und Verweilen im Zwischenraume, direct hinüber in das Herz des Hörers. So faßt es ihn denn auch unmittelbar wie kein anderes Werk der Kunst in seinem Nervenleben und in der ein- fachen Grundform seines Daseins, der Zeit. „Die Musik befängt das Bewußtsein, das keinem Object mehr gegenübersteht und im Verluste seiner Freiheit von dem fortfluthenden Strome der Töne selbst mit fortgerissen wird; — Ich ist in der Zeit und die Zeit ist das Sein des Subjects selber, daher dringt der Ton, dessen Element die Zeit ist, in das Selbst ein, faßt es in seinem einfachsten Dasein — das Subject wird als diese Person in Anspruch genommen“ — (Hegel Aesth. Th. 3, S. 148, 149, 151). Die volle Unmittelbarkeit dieser „elementarischen Macht“ zeigt sich bekannt- lich besonders im rhythmischen Theile, wo die Wirkung so stark ist, daß sie fast nöthigend auf die Bewegungsorgane übergeht; doch sind es nicht solche in’s Physiologische sich verlaufende Reize, worin die ganze Gewalt des Eindrucks sich geltend macht; es ist vielmehr der Affect im Innersten des Gemüths, wie er auf jener dunkeln Nervenbrücke zwischen dem Geistigsten und der, weil in das Innere geworfen, nur um so heißeren Sinnlichkeit schwankt und schwebt (vergl. §. 749, Anm.), und wie ihn die Musik zu- nächst in seiner ungebrochenen pathologischen Kraft aufregt. Die Alten haben die Musik vorzüglich von dieser Seite betrachtet und die Sühnung und Reinigung selbst, die sie von ihr verlangten, stoffartig, obwohl dieß im ethisch-religiösen Sinne, verstanden und darnach diese Kunst unmittelbar für Lebenszwecke verwendet; es fehlte ihnen hier der Standpunct des reinen ästhetischen Scheins. Hält man diesen fest, so kann man auf die Musik ganz das Wort des Aristoteles von der Tragödie anwenden, daß sie die Leidenschaften reinige, indem sie dieselben erweckt. In der Strenge des Lebens hält der Mensch seine Empfindungen mit jener Schaam zurück, welche das Innerste, Weichste wie eine Nacktheit der Seele verhüllt. Es muß einen Ort geben, wo es erlaubt ist, dieser hinschmelzenden Auflösung, diesen stürmischen Aufregungen, diesen rückhaltslosen Geständnissen jeder schönen Schwäche sich ganz hinzugeben, sie recht zu erschöpfen und im Er- schöpfen, durch die Wohlordnung der Form zum freien Schein, zum reinen Bilde einer harmonischen Welt umzugestalten. Schelling sagt, das Gefühl sei schön, aber es solle im Grunde bleiben; hier darf und soll es an die Oberfläche treten, darf seinen eigenen Tag leben, jetzt allein Recht haben, um in dieser Freiheit erst wahrhaft schön zu werden. Allerdings ist die Musik durch die Anschmiegsamkeit ihrer durchaus beweglichen Natur, durch die im Verhältniß zur Massenhaftigkeit der bildenden Kunst ungemein redu- zirte Körperschwere ihrer Werkzeuge ganz anders, als jene, zu unmittelbarer Einwirkung auf das Leben, die Gesellschaft, die Familie, den Einzelnen 54* befähigt und berufen, der Dilettantismus ist in keiner Kunst so wohlthätig und berechtigt, wie in dieser, und so kann sie jeden Moment mitten aus den empirischen Bedingungen des Lebens herausheben und über die träge Erdenschwere der als Last gefühlten Zeit hinausheben, sozusagen die Zeit innerhalb ihrer selbst idealisiren. Ja man kann die Musik im tieferen Sinn die Idealisirung der Zeit wie die Baukunst die Idealisirung der unorganischen Natur nennen. §. 764. Aus der Gesammtheit dieser Grundbestimmungen ergibt sich der wesentlich amphibolische Charakter, welcher der Musik in Vergleichung mit den andern Künsten eigen ist. Sie ist das Ideal selbst, die blosgelegte Seele aller Künste, das Geheimniß aller Form, eine Ahnung weltbauender Gesetze und ebensosehr das verflüchtigte, unentfaltete Ideal, sie hat Alles und Nichts, ist sinnlich und unsinnlich, eine Quelle hohen und reinen Genusses, die doch Vielen völlig ver- schlossen ist, Alle ermüdend, wenn sie ein bescheidenes Maaß der Dauer über- schreitet, durch ihren innern Mangel zum Anschluß an das Wort getrieben und dann unselbständig, in ihrer reinen Selbständigkeit aber von einem Gefühle begleitet wie ein ungelöstes Räthsel. Wir haben bereits in der Grundlegung des gegenwärtigen Gebiets, §. 746, dessen eigenthümliche Zweiseitigkeit als wesentlichen Charakter auf- gestellt. Uebersieht man nun, was über das Gefühl gesagt ist, so bewährt sich nach allen Seiten an ihm als der Form, welche dieses Gebiet schafft, dieser Charakter der Amphibolie. Es ist sinnlich und unsinnlich, unter- schiedslos und doch reich an innern Unterschieden, objectlos und läßt doch das Object ahnen u. s. w. Die ausdrückliche Hervorhebung haben wir aber bis zu der Stelle aufgeschoben, wo bereits auch das Wesentliche der Dar- stellungsmittel zur Sprache gekommen ist und wo nun dieser Begriff auf das Ganze der Kunstform seine klare Anwendung findet. Der hohe und reine Werth derselben wird durch das wissenschaftliche Prädikat der Amphi- bolie nicht heruntergesetzt; die Musik ist eine volle und ganze Kunst für sich, hat das ganze Schöne in ihrer Weise. Allein keines Dinges Vollkommen- heit wird ohne Gefühl seiner Mängel und Grenzen betrachtet; dieses Gefühl weist im Gebiete der Kunst von jeder einzelnen hinüber zu den andern Künsten, welche das Erscheinende von anderer Seite erfassen und jene Mängel ergänzen, die Wissenschaft aber, welche das Ganze der Künste ver- gleichend im Auge hat, erhebt es zum Begriff. Und dieses Gefühl muß allerdings in der Musik stärker sein, als in den andern Künsten, mit Aus- nahme der Architektur, deren eigenthümliche Verwandtschaft mit der Musik im Folgenden ausdrücklich zu besprechen ist; die höchste Befriedigung wird mit einer Empfindung wie eines Sinkens in’s Bodenlose oder eines Ver- schwebens in’s Weite, einer dunkeln Sehnsucht nach einem Halt, einem Festen begleitet sein. — Ganz allgemein ist zuerst zu sagen, daß jene Be- friedigung ein Gefühl der reinsten Idealität ist, wie in keiner andern Kunst. Alle Kunst ist ja ein Formleben, eine reine Wirkung der Oberflächen ohne den Durchmesser, ein Geist, nicht ein Stoff. Daraus macht die Musik Ernst im engsten Sinne des Worts; es ist in allen Künsten Musik, ja der Mittelpunct ihres Schönen ist Musik; das Geheimniß der Form in der Statur, der Form und zugleich der Licht- und Farben-Einheit im Gemälde, der dichterischen Gestaltung für das innere Auge ist ein Fluß, ein Rinnen und Schweben geordneter Rhythmen, und dieß gilt nicht blos von dem, was wir Form im näheren Sinne nennen, sondern ebenso von der Einheit und Mannigfaltigkeit des geistigen, ethischen Inhalts, der Situation, Hand- lung u. s. w. Wir haben schon §. 760, Anm. den Ton die blosgelegte Seele des Körpers genannt, der geordnete Ton, die Musik, verhält sich nun auf unendlich höherer Stufe ebenso zu der ästhetisch geordneten Körperwelt der andern Künste, sie nimmt dieß Geheimniß der ästhetischen Verhältnisse aus seiner wirklichen oder (in der Poesie) vorgestellten Körperhülle heraus und entfaltet es nackt, körperlos für sich; sie ist die zeitlich gewordene Linie der Schönheit, wie der Ton an sich die zeitlich gewordene Linie noch ohne Beziehung auf die Schönheit. Bereits §. 542, Anm. ist diese tiefe Be- deutung der Tonkunst berührt. So versetzt sie uns denn schlechthin in die ideale Stimmung, welcher die ganze Welt eine zur Vollkommenheit geordnete, vom störenden Zufall freie Harmonie ist. Wir ahnen in dem künstlerisch geordneten Tone die Ordnung der ganzen Welt, auch der körperlichen; uns ist, als ob nach diesen Harmonieen das Weltgebäude sich gefügt, das Breite sich gestreckt, das Tiefe sich gesenkt, das Hohe sich emporgestreckt, das Runde sich gebogen und gewölbt hätte, die Sage von Amphion und die Vorstellung von der Sphärenharmonie gewinnt innere Wahrheit. Das Ursprüngliche, der Kern der Darstellung, das Bild der subjectiv menschlichen Empfindung geht mit diesen großen objectiven Ahnungen ganz in Eines zusammen, denn das Herz fühlt sich als Centrum der Welt, worin deren Einklang, aus dem Mißklang sich herstellend, sich zusammenfaßt, es fühlt seine Schicksale als Weltschicksale. Allein diese vollendete Durchsichtigkeit des Formgeheimnisses ist ebensosehr wieder auch gerade nicht die wahre Idealität. Die Form ist wohl das wahre Wesen aller Dinge, allein das Leben der Form ist, daß sie sich in unendlichen Gestaltungen immer auf’s Neue als Stoff setzt, um als höhere, geistigere Form aus ihm zu entstehen. Das wahre Dasein der Idee ist daher und bleibt ein Dasein, das in Körpern thätig ist, vergl. §. 746, und ich ergreife die Form in ihrer Bestimmtheit und an dem, was sie als ihr scheinbares Gegentheil setzt, am Körper im Raume. Diese be- stimmte Existenz der Form hat die Musik nach der einen Seite, soweit sie in den bildenden Künsten zur Erscheinung gebracht ist, verflüchtigt, nach der andern, sofern sie in neuer Weise durch die Poesie erstehen soll, noch nicht wiedererzeugt. Die Musik ist also vor lauter reiner Idealität ebensosehr nicht wahre Idealität. Geahnt und dunkel vorschwebend hat sie die ganze Welt, in klarer Wirklichkeit hat sie nichts. Sie ist die reichste Kunst: sie spricht das Innigste aus, sagt das Unsagbare, und sie ist die ärmste Kunst, sagt nichts. Sie erfaßt mit ihrer objectlosen Entzückung den reinen Geist an jenem dunkeln Puncte, wo in den zarten Fäden des Nervenlebens der geistige Phosphor aufblitzt, und diese Fäden sind zugleich als der höchste und letzte Extract des Sinnlichen, die Träger der sublimsten und gerade dadurch sinn- lichsten Sinnlichkeit. Die concentrirtesten Tiefen dieser Kunst der Innerlichkeit zu entwickeln war der protestantischen Welt vorbehalten und doch hat sie der Breite, Popularität, Allgemeinheit des Sinns und der Fruchtbarkeit nach jederzeit mehr in der sinnlicheren Stimmung katholischer Bevölkerungen geblüht. Auch das Eigenthümliche der Begabungs-Unterschiede zeigt die ganz besondere Natur dieser Kunst. Es gibt allerdings keine Kunstform, für welche nicht einem Theile der menschlichen Organisationen die Gabe versagt wäre. Der ästhetische Sinn, ein wesentliches und untrennbares Attribut der menschlichen Gattung, ist im Individuum mehr oder minder ein- seitig, dem Einen ist das plastische Formgefühl, dem Andern das malerische Auge versagt, aber so ganz todt und unverständlich sind doch wohl diese Gebiete der Kunstwelt auch dem stumpferen Sinne nicht, wie es die Musik denen ist, welchen einmal das musikalische Gehör fehlt. Die Allgemeinheit und Nothwendigkeit, die wir schon §. 750, Anm. 2 . auch von dem Schönen in reiner Gefühlsform behauptet haben, bleibt nichtsdestoweniger stehen, denn es ist eine Abnormität, wenn zwischen den rhythmischen Schwingungen einer Seele und zwischen ihrem Gehörssinn das Band rein zerschnitten erscheint. Blos mangelhaft entwickelt wird man den musikalischen Sinn durchschnittlich bei den Naturen finden, die sehr entschieden auf das Auge organisirt sind und deren Geist auf scharfes, denkendes Unterscheiden dringt; wogegen musikalische Anlage und Neigung mit mathematischer Begabung in engem Zusammenhang steht. Die Schärfe mathematischen Unterscheidens verträgt sich trotz dem scheinbaren Widerspruche ganz wohl mit einer Kunstform, die im Allgemeinen weiblich zu nennen ist, aber einem Manne der philosophischen Strenge, wie Kant, lag es nahe, die Musik, weil sie im Spiele der Em- pfindung nur unbestimmte Ideen erwecke, zu tief unter die bildende Kunst zu stellen, welche durch die Einbildungskraft dem Verstande bestimmte Ideen zuführe und so die Erkenntnißvermögen erweitere (Kr. d. ästh. Urthlskr. §. 53); er gibt zwar zu, daß die Musik „inniglicher“ wirke, aber er übersieht, daß eben in dieser Innigkeit die Geistesahnung die zwar unbestimmtere, aber tiefere ist. — Daß alle Musik nur eine Weile schön ist, liegt im Wesen des Gefühls. Der Geist arbeitet mit solcher Gewalt innerer Nothwendigkeit aus dem Unbewußten in das Bewußte, daß das Gefühl wesentlich ein Ver- schwindendes, Uebergehendes ist. Man kann nicht lang blos fühlen, man kann nicht lang Musik hören. Das Auge namentlich ist hier ein feindlicher Nebenbuhler des Ohrs; daß man die Musiker während der Aufführung nicht sehen sollte, ist ein richtiger Gedanke. Da die Stimmung ein so zartes Ding ist, muß sich die Musik auch wohl hüten, da, wo man eben nicht zum Fühlen aufgelegt ist, sich aufzudrängen, eingedenk, daß ich das Werk der andern Künste stehen lasse, wenn ich nicht in der Laune bin, die Musik aber hören muß . Bekannte Erfahrungen haben Kant bestimmt, die Musik für eine aufdringliche Kunst zu erklären. Wahrhaft barbarisch ist Tafelmusik; der Genuß des Essens erträgt keinerlei gleichzeitige Hebung in das Geistige, als durch Gespräch; die Musik scheint uns das Essen wie eine Gemeinheit vorzuwerfen und stört gerade dieses einzige Mittel, uns zugleich geistiger zu stimmen. Die bedeutungsvollste Seite dieser Amphibolie ist das Ver- hältniß zwischen reiner oder Instrumental- und angelehnter oder Vocal- Musik. Dieses Verhältniß ist durchaus ein dialektisches und der Streit darüber nothwendig ein unendlicher, wo immer das Denken über die ab- stracte Disjunction nicht hinauszugehen vermag. Die Vocal-Musik ist nicht reine Musik, zunächst weil sie mit dem vollkommensten Organe, der mensch- lichen Stimme, auch einen Grad der Abhängigkeit vom Naturzufall in Kauf nimmt, welchen das Instrument, das als passives Object, getrennt von der Persönlichkeit in deren Hand ist, nicht unterliegt; das Material soll ja (vergl. §. 490) todter Stoff sein; sie ist es aber auch aus dem tieferen Grunde, weil sie das Gefühl nicht in seiner Reinheit, sondern in seiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtsein darstellt. Die Musik ist ja eben da, weil Worte nicht genügen, das Gefühlsleben auszudrücken. In der Verbindung beider sagt das Wort weniger , als der musikalische Ton; es sagt mehr , dieß Mehr besteht in Aufzeigung eines bestimmten Objects, aber die absolute Innigkeit des Gefühls ist es ja eben, die das Object auf- löst, über diese Begrenzung überall hinausfluthet. Es ist daher in der Gesellung des Tons und des Objecte aufzeigenden Worts niemals völlige Congruenz; der Geist des Tons schwebt zwischen durch, darüber hinaus, läßt sich nicht binden und ist doch gebunden; man verliert so eben, nach- dem man sie so eben gewonnen, die Ueberzeugung, daß diese Töne gerade und nothwendig dieß im Wort gegebene Object ausdrücken. Je strenger an den Text gebunden, je mehr declamatorisch, desto weniger ächt musikalische Schönheit, je reiner entwickelte Musik, desto losere Abweichung vom Texte: von beiden Seiten ein „fortwährendes Ueberschreiten oder Nachgeben,“ daher die Oper „ein constitutioneller Staat, der auf einem steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten beruht, — eine Ehe zur linken Hand“ (Hanslick a. a. O. S. 28, 31). Die bloße Instrumentalmusik dagegen gibt das Gefühl in seiner Reinheit, d. h. in seiner Bewußtlosigkeit; ebendarum aber ist auch der tiefe Mangel des Gefühls der ihrige, und wie der Geist in diese leben- dige Mitte seiner Formen immer wieder untertaucht und immer wieder aus dem dunkeln Grund an’s Licht, zur Deutlichkeit der Dinge ringt, so will mitten im befriedigten Hinschwimmen auf ihren Wogen jeden Moment ein Reiz entstehen, nun wieder an’s Land zu treten und den festen Inhalt, der immer am fernen Saum hinzuschweben scheint, zu erkennen: ein Gefühl eines ungelösten Räthsels, ein Gang wie durch einen ägyptischen Tempel von Vorhof zu Vorhof ohne ein Anlangen bei einem Kerne, der die Be- wegung abschlöße; ein Entzücken, aber mit Schwindel. Dieser Eindruck gleicht jenem, den die einseitige höchste Ausbildung des Colorits in der Malerei mit sich führt, die wir eine gefährliche Spitze genannt haben: man sehnt sich nach dem festen Boden der Zeichnung , der bestimmteren Geltung des Objects . Auch würden nimmermehr alle Tiefen des Gefühls sich entfalten ohne das begleitende Bewußtsein. An bestimmten Gegenständen erst schießt der ganze Reichthum der Gefühlswelt auf. Wie er aufschießt, so ertränkt sich freilich alsbald die Bestimmtheit des Objects wieder in den Bebungen des Gefühls, aber nur um abermals durch bestimmt aufgezeigte Situation zu neuen Entfaltungen erregt zu werden. Dieß Verhältniß haben wir vorbereitet in §. 749, Anm., wo gesagt ist, daß das Gefühl durch das begleitende Bewußtsein sich stetig bereichert. Sucht man nun von diesem Herüber und Hinüber zwischen selbständiger und unselbständiger Musik bei dem Gedanken auszuruhen, daß eine Vereinigung beider das Wahre sein werde, so hat man in dieser allerdings die reichste Gestalt der Musik. Jene concrete Fülle und Vielseitigkeit des Gefühls (vergl. §. 757) kann eine reichere Verwirklichung nicht finden: der Gesang ist jetzt der Kern des Gefühls, selbst schon vieltönig und einen Reichthum unterschiedener Formen in dem Einen Gefühle darstellend, die Instrumentalmusik ist sein noch reicherer Wiederhall, der uns bald wie ein Wiederklingen unserer Empfindung in der Landschaft, im weiten All, bald als ein unendlich sich verdoppelndes Echo in der Menschenbrust gemahnt. Allein in der That ist darin jenes incon- gruente Verhältniß von Wort und Ton, das zunächst im Gesang allein vor uns stand, nicht gelöst, sondern durch die verdoppelte Macht der Musik nur noch erschwert, ihr durch so viel Gewicht verstärkter Schwung droht den Text hinfortzureißen, zu überfluthen und wenn sich hier wieder die Aufforderung darzubieten scheint, daß die Musik um so enger an diesen gebunden werde, so steht dem entgegen, daß sie dadurch gefesselt den ver- mehrten Reichthum ihrer Mittel nicht zu seiner ganzen Entfaltung bringen könnte. — Diese ganze Amphibolie im Verhältnisse zwischen Vocal- und Instrumentalmusik ruht, wie man sieht, auf dem Satze unserer psychologischen Grundlegung (§. 749, Anm.): „wir stehen vor einer schwierigen Wahl: entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung, die es deutet, seiner Objectlosigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object bezogenes, aber nicht mehr in seiner Reinheit vorliegendes Gefühl.“ §. 765. Aus dieser schwankenden, wesentlich subjectiven und doch die Ahnung des 1. Objects erweckenden Natur der Musik ergibt sich auch die Schwierigkeit der Frage, wie weit dieselbe fähig sei, zu individualisiren und so den großen Gegensatz der Stylprinzipien in ihrem Schooß auszubilden, womit unmittelbar die andere zusammenhängt, ob sie des Komischen machtig sei. 2. 1. Die mathematische Grundlage der Musik kann, so scheint es zunächst, ebensowenig ein Hinderniß des Individuellen in seiner unendlichen Eigenheit sein, als die Proportionen in der Malerei. Der Maler darf nicht schlechthin das Gesetz des Organismus verletzen, aber diesseits dieser Grenze hat er einen unendlichen Spielraum für alle die kleineren und größeren Abweichungen in Form und Bewegung, durch welche die Regel der normalen Schönheit sich zum Ausdruck einer Existenz bricht, welcher keine andere gleicht. Ebenso gibt es innerhalb der Gesetze des qualitativen Zusammenstimmens und quantita- tiven Messens in der Musik eine unendliche Möglichkeit von Ordnungen in der Anwendung sämmtlicher musikalischer Mittel, der Tonart, des Takts, Tempo’s, der Tonfolge als Melodie, der Harmonie, durch deren Erfindung der Musiker das schlechthin Eigene der Individualität zur Erscheinung bringen kann. Es gibt Geister, die sich nicht über das Richtmaaß des Allgemeinen oder eines gewissen Typus im Allgemeinen erheben; der Genius legt aber immer im einzelnen musikalischen Kunstwerke die Individualität einer Stim- mung, in der ganzen Reihe seiner Compositionen die Originalität eines ästhetischen Charakters nieder. Er vermag aber auch die Individualität einer Stimmung zum stetigen objectiven Charakterbild auszudehnen, das ihm der Dichter vorgezeichnet hat. Hier kommt es denn darauf an, ob der Text dieses Bild mit jenen scharfen Zügen ausgestattet hat, die wir im Unter- schiede von der plastisch schönen, generalisirenden Stylrichtung die individua- lisirende und (in Beziehung auf den freieren Ausdruck der Natur, wie sie sich in ihren Zufälligkeiten gehen läßt und auf das herbere Gepräge empirischer Bedingtheit durch Alter, Stand u. dergl.) die naturalisirende nennen. Liegt eine solche Zeichnung vor, so fragt es sich, wie weit der Musiker dem Dichter folgen könne. Bis auf einen gewissen Punct muß es möglich sein; es ist ja überhaupt kein Zweifel, daß das unendlich Eigene des Charakters vor aller bewußten Zusammenfassung und sichtbaren Kundgebung im dunkeln Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und ebenso ist oben gezeigt, daß der Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, seine Erfahrungen und Kämpfe, die ganze Geschichte eines Geistes in das Gefühl einfließt, das wir in diesem Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es ist ebenso wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, seine volle Be- stimmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren erst das Innere wahrhaft erscheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er- kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung sich erst dem Geiste zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Musik seinen Aus- druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es fassen will, wieder als zu unbestimmt in’s Dunkel entschwindet. Dieß gilt nun von aller Musik, nicht nur von der begleitenden; in dieser aber wird es den Dichter bestimmen, nicht so scharf zu charakterisiren, als er es für den rein poetischen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut, desto mehr wird sich die Kluft zwischen Text und Musik fühlbar machen, das Eigenste dieses Charakters in Wort und That wird der Musiker nicht ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwischen einem bloßen Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum schwanken. Wir müssen übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine doppelte Seite unterscheiden: nach der einen ist sie wesentlich die tiefere , wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in die Kunst eingetreten ist mit dem Aufgang derjenigen Weltanschauung, die den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußtseins willen, die in ihm sich erschlossen, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere Tiefe ist aber wesentlich die bedeutendere Vielseitigkeit der innern Verschlingung der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: also wird ein Hauptmittel des individualisirenden Styls die vollere Ausbildung der Har- monie sein. Nach der andern Seite ist die ausgesprochenere Individualität die schärfere , sie trägt herbere Gegensätze, schroffere Uebergänge, unge- wöhnlichere Reihen von Schwingungen in sich: hiefür hat die Musik das Mittel der kühneren Dissonanzen und der gewagteren melodischen Tonfolgen und rythmischen Bewegungen. Das entgegengesetzte Stylprinzip, das wir als das der directen Idealisirung kennen, wird sich dagegen strenger an die einfachen Grundgesetze des Rhythmischen , also Quantitativen, und an die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der akustischen Consonanzen halten; diese Momente entsprechen dem der Zeichnung in der Malerei, an welches ebenda die mehr plastische Stylrichtung sich anschließt. Je tiefer nun die Individualität, je gesicherter der Charakter, desto freier ist das Spiel, in welchem sich die empirischen Bedingtheiten, die Zufälligkeiten und die härteren Züge, welche die Existenz mit sich führt, ergehen und festsetzen, ohne daß darum die Idealität zerstört würde: so hängt mit dem indivi- dualisirenden Style der naturalisirende zusammen. Die Lehre vom Styl- gesetz im folg. Abschnitt hat mit der näheren Ausführung des Gesagten auch zu untersuchen, welche Annäherungen an das für sich Unschöne der härteren Naturwahrheit, der gemeineren Laune, der willkührlicheren Regung, der häßlicheren Leidenschaft, der eingefleischten Gewöhnung in der Musik möglich sind. 2. Diese ganze Frage führt unmittelbar zu der über das Komische , denn je schärfer die Eigenheiten und die naturwahren Züge, desto mehr gehen sie in das Häßliche über, von dem es sich nun fragt, ob und wie weit es ästhetisch auflösbar sei. Der eine Weg dieser Auflösung ist der des Erhabenen . Eine Kraft mag ungestalt sein und in ihren Wirkungen Schönheit zerstören: wenn nur diese Wirkungen furchtbar sind, so gelangt das Häßliche nicht zum Scheine selbständiger Fixirung, wie in dem entgegen- gesetzten Prozesse des Komischen, wo das Endliche sein Recht zurückfordert und in vollem Eigensinn sich selbst als das Ganze setzt. Auch ist das Er- habene ebendarum, weil hier das Endliche vor einer Uebermacht, die irgend- wie stets Trägerin der Idee ist, verschwindet, für Sinne und Verstand dunkel, und so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Musik, die ihrer ätherischen Natur nach auch den entfernten Schein eines für sich fixirten Häßlichen nicht dulden kann und die im Elemente des dunkeln Gefühls lebt, dieser Grundform des Schönen im vollsten Sinne mächtig ist; ihre Mittel sind unerschöpflich, eine Kraftfülle, die mehr oder minder zugleich sittliche Macht ist und sich bis zu einem Ausdrucke steigern kann, als vernähmen wir die Donner und den Posaunenschall des jüngsten Gerichts, in ihrer Herrlichkeit und ihren Schrecken einherwogen und hervorbrechen zu lassen. Was nun aber das Komische betrifft, so ist das Häßliche hier nothwendig einschneidender und scheint sich mehr als solches zu fixiren; es macht sich breit als gälte es positiv, weil hier das Endliche in all seiner Kleinheit und Laune sein Recht zurückfordert, und der plötzliche Anprall, der lapsus in der nun eintretenden Bewegung ist ebenfalls zunächst immer ein Mißton, ein schneidend Häßliches. Dieser Umschlag besteht in einer plötzlichen Beleuchtung, der ein anscheinend Erhabenes vernichtet, indem er es für die Sinne und den Verstand deutlich macht; das Komische fordert also Anschauung und Reflexion, fällt hiemit ganz in das Gebiet des hellen Bewußtseins. Die tiefere Bedeutung des ganzen Acts aber haben wir in der Idee des stets bewegten Ineinander des Endlichen und Unendlichen gefunden, welche schließlich zu dem Begriffe der reinen Freiheit der Subjectivität führte, die sich als die Macht weiß, jedes Erhabene als ein dem Subject Fremdes jederzeit zerstören zu dürfen, weil sie es jederzeit als ihr Eigenes und Inneres herstellt. In dieser Tiefe seiner Bedeutung setzt das Komische noch entschiedener den ganz wachen, sicheren Geist voraus, der das dunkle Gefühl hinter sich hat. Wie soll nun eine Kunst diesen Vorgang darstellen können, die so körperlos ideal ist, die keine Objecte aufzuzeigen vermag und darum auch nichts weiß von dem selbst- bewußten freien Ich und den höchsten Gegensätzen, welche dieses klar ein- ander gegenüberstellt? Und doch hat die Sache eine andere Seite. Der komische Vorgang ist recht im engsten Sinne des Worts eine Bewegung; die Stoffe, um die es sich handelt, werden gleichgültig, der plötzliche Con- trast, das Ineinander im Contrast ist Alles; das Subjective am Vorgang aber ist so ganz Stimmung, daß das Subject bis zur Unmittelbarkeit der physiologischen Schüttlung überwältigt wird. Wir haben daher offenbar auch hier eine Amphibolie, die sich in dem Satz ausdrückt: die Musik vermag das Subjective am Komischen, richtiger, das Subjective am Subjectiven des Komischen (denn subjectiv ist der ganze Vorgang, auch in Anschauung und Denken, das Subjective am Subjectiven ist die bloße Stimmungsseite) auszudrücken, und wie sie überhaupt eine Ahnung des Objects erweckt, so wird sie dieß auch hier vermögen. Den ersten Theil dieses Satzes hat F. Hand klar ausgesprochen (Aesth. d. Tonkunst I. Th. §. 79). Man kann nun streiten, ob dieß dann eigentlich Komisches sei, und das ist eben die Amphibolie. Durch welche Mittel die Musik das Komische in dieser Be- schränkung ausdrücke, darüber ist kein Zweifel: dasselbe ist ja wesentlich widersprechende Bewegung, in welcher die scheinbar ansteigende Linie plötzlich durch eine andere abgerissen, über den Riß hinüberwirkt und umgekehrt die abreißende Linie zurückwirkt; es sind also Sprünge, es sind unvermittelte Uebergänge jeder Art, wodurch die Gesetze der Consonanz und der quantitativ- rhythmischen Ordnung wie durch plötzliche Willkühr aufgehoben werden und doch so, daß die Nöthigung entsteht, das Widersprechende in Eins zusammen- zufassen. Es ist aber klar, daß der Boden sehr gefährlich ist, indem es durchaus nahe liegt, statt komischer Musik eine Komik gegen alle Musik hervorzubringen, so daß nicht innerhalb der musikalischen Stimmung gelacht wird, sondern außerhalb derselben über die Sünde gegen ihre künstlerischen Gesetze. Dann ist die Musik mehr Ursache, daß Andere witzig werden, als selbst witzig. Ein anderes Mittel ist die Tonmalerei. Wir haben es dem speziellen Theil der Lehre von der Musik vorbehalten, die Frage aufzuführen, ob oder wie weit die Musik malen darf. Daß sie im Großen und Ganzen zu verneinen ist, folgt streng aus der Begriffsbestimmung der Objectlosigkeit des Gefühls. Allein die strengen Grundbegriffe sind überall nicht bis an ihre äußersten Grenzen rigoristisch durchzuführen, wenn man nicht die leben- dige Wirklichkeit zerstören will, und so wird man die Tonmalerei wenigstens im Komischen, wie die Parabase in der alten Komödie, sich gefallen lassen müssen, wenn sie in ihren Schranken bleibt. — Es fragt sich nun, ob nicht die ganze Betrachtung sich anders stelle, wenn von der begleitenden Musik die Rede ist, denn hier zeigt der Text den komischen Vorgang für Anschauung und Verstand auf und erhellt ihn dem tieferen Bewußtsein. Allein in Wahr- heit wird ja in diesem Verhältnisse die Natur der Musik nicht verändert; nimmt man den Text weg, so wird man auch im Komischen nie sagen können, daß die Musik gerade dieß Object ausdrücke, sondern es bleibt nur die komische Stimmung an sich übrig, die sie auch ohne Text ausdrücken kann. Wie das Gefühl überhaupt durch das begleitende Bewußtsein bereichert wird, so allerdings auch hier: unendlich komische Motive wären von der Musik nicht erfunden ohne Text, aber diese Bereicherung ist nur eine Bereicherung innerhalb der aufgezeigten Grenzen. Klar ist, daß die Musik in dieser Ver- bindung, da sie den höchsten Werth darauf legen muß, daß sie durch das Anschauliche unterstützt werde, namentlich Motive der burlesk komischen Stimmung gewinnt, denn die Burleske ist wesentlich das anschaulich Komische im engeren Sinne des Worts. Allein hier ist sie auch der Versuchung aus- gesetzt, in das Gemeine der ungemischten Lust zu verfallen, das wir in §. 751, 2 . verworfen haben. Der wahren Natur der Musik entspricht die Tiefe des Humors in seiner wunderbaren Mischung von Lust und Unlust, seiner lächelnden Wehmuth. Und es fragt sich, ob nicht die selbständige Musik diese höchste Form des Komischen reiner zu entwickeln vermöge, als die begleitende. §. 766. Im System der Künste steht die Musik in einer Beziehung tiefer Ver- 1. wandtschaft bei tiefem Unterschiede mit der Baukunst . Wie diese ist sie eine Kunst der reinen Verhältnisse, wesentlich messend, zählend; ebendaher fällt auch bei ihr Erfindung und Ausführung auseinander; in derselben Stellung wie die Architektur als vorbereitende Urform vor die bildende Kunst, tritt sie vor die Dichtkunst, in tieferer Bedeutung aber erscheint sie als die mittlere Halle zwischen der bildenden Kunst und der Poesie, worin der Geist von der Zerstreuung im Räumlichen zu einer Wiederherstellung desselben in neuem Sinne sich sammelt. Dem Zeitverhältniß nach ist sie zwar die früheste Kunst, zu ihrer wahren Gestalt 2. aber kann sie nur im Boden einer reifen und späten Bildung gedeihen. 1. Die eigenthümliche Wahlverwandtschaft zwischen Baukunst und Musik haben wir schon in der Frage über die Anordnung der Künste angedeutet und die daraus entspringenden, obwohl für uns nicht entscheidenden Gründe für eine andere Anordnung des Ganzen der Künste berührt (§. 542, Anm.), wir haben bei der Baukunst selbst bereits auf die Musik hinübergewiesen, als wir zeigten, wie sie nur durch den Rhythmus der Verhältnisse wirke, und das bekannte Wort Fr. Schlegel’s angeführt, sie sei eine gefrorne Musik (§. 557, Anm. 1 .) Nicht scheint die Natur zweier Künste entgegengesetzter, als die der Baukunst und Tonkunst: dort die spröde, bewegungslose, schwere Materie, in ihrer Schwere geltend, die unorganische Natur, der Raum, hier der körperlose Ton, der nur Leben und Bewegung ist, die Zeit, das fühlende Herz, dort die objectivste unter den objectiven Künsten, hier die schlechthin subjective Kunst. Das Merkwürdige ist die innige Verwandtschaft gerade bei der Härte dieses Unterschieds. Dieselbe liegt nun vor Allem in dem Charakter der Allgemeinheit, der beide Künste von allen andern als solchen unterscheidet, welche eine geschlossene Lebensgestalt, ein Inneres mit seinem individuellen Körper geben, wogegen jene nur ein allgemeines Medium durch das Netz abstracter Ordnungen durchziehen. Da die feste Gestaltung im Sichtbaren oder innerlich Vorgestellten den Aether des Allgemeinen in ein- zelne, abgegrenzte Welten zersprengt, so sind Baukunst und Musik, wie wir es von der letzteren schon in §. 764 ausgesprochen haben, in gewissem Sinn Künste des Ideals im engeren Sinne des Worts, des reinen Aufschwungs an sich, der Idee, die noch nicht in die Gegensätze des Lebens sich versenkt. In diesem Sinne stellt Solger beide Künste symmetrisch neben die Plastik und Malerei: die Baukunst tritt neben jene, die Musik neben diese, wie eine noch körperlose Seele neben ihre körperliche Verdichtung. Wir werden darauf zurückkommen, eine Seite dieser Auffassung beibehalten, die andere verändern und wesentlich ergänzen. Die Natur der reinen Allgemeinheit in diesen Künsten liegt nun näher darin, daß sie Künste der bloßen Stimmung sind: Künste des Ideals in dem Sinn, daß sie die ideale Stimmung über- haupt darstellen. Es ist gezeigt worden, wie die Baukunst von dem Inhalt, der ihr Inneres in concreter Form erfüllen soll, die Stimmungsseite ab- löst und symbolisch andeutend für sich darstellt; ist sie dadurch, daß sie die Stimmung in der harten Materie krystallisirt, gefrorne Musik, so kann man die Musik, welche dieses Band löst, aufgethaute Baukunst nennen. Schlagend zeigt sich die Verwandtschaft in den verschiedenen Seiten des Systems der Kunstformen: das Quantitative als Takt offenbart sich analog in dem regelmäßig Wiederkehrenden der Säulenabstände, der theilenden Ein- rahmung durch umsäumende Glieder, das Qualitative, Höhe und Tiefe und die Bewegung der Melodie, in den auf Grundlage fester Gesetze frei wechseln- den Unterschieden der architektonischen Erstreckungen nach Höhe, Breite, Länge, der Rhythmus der Composition in der Anordnung dieser Verhältnisse zu den großen Gegensätzen der structiven Hauptglieder und ihrer Verbindung; die Harmonie als gleichzeitiges Ertönen verschiedener Stimmen und Melodieen sieht man klar sich ausbilden, wo der einfache antike Bau zur organisch geeinigten Gruppe wird im mehrschiffigen, kreuzförmigen Bau, dessen Wölbungen als reichere Accorde die reicher gegliederte Mannigfaltigkeit zu- sammenfassen. Diese Analogieen ließen sich leicht vermehren, allein man darf nun nicht übersehen, wie der tiefe Unterschied der Grundform beider Künste sich gerade auch in der Seite der Verwandtschaft selbst geltend macht: die Musik als Kunst der fühlenden Subjectivität verhält sich zur Baukunst wie eine unendliche zu einer armen Welt; jene in ihrer höchsten, monu- mentalen Thätigkeit gibt zwar immer eine Ahnung des Absoluten als der weltbauenden Kraft, aber nur sparsam kann sie dieß Grundgefühl in unter- schiedene Stimmungstöne auseinanderlegen, die ganze Geschichte der Bau- kunst befaßt sich in wenigen Hauptmodificationen; die Musik erregt, wie wir gesehen, auch eine Ahnung des Sichtbaren und weltbauender, räumlich ordnender Weltkräfte, aber nur, um über diese Ahnung fortzuführen zu der höchst concreten Einheit alles Lebens in der geistigen Unendlichkeit des menschlichen Innern, das in der warmen Gegenwart seiner vertieften Innig- keit nur eine ferne Reminiscenz der Planetenbauenden Urthätigkeit der Welt- kraft bewahrt. Allerdings wird die Vorstellung eines idealen Weltbaus in der Baukunst zugleich dunkel symbolisches Bild eines idealen Baues der menschlichen Gesellschaft. Dieß ethisch politische Element wirkt in die Musik entfernter herein, als in die Architektur; die musikalischen Genien als Reprä- sentanten ihrer Zeit nach der politisch geschichtlichen Seite zu betrachten, hat etwas Schwieriges und verführt leicht zu gesuchtem Symbolisiren. Die Musik aber ist überhaupt auch an sich nicht mehr symbolisch wie die Bau- kunst; die Kunstform der Tonwelt spricht das Innere unmittelbar und direct aus: ein neuer Beweis dafür, wie wesentlich es ist, die Schwingungsver- hältnisse als im Innern des Gefühlslebens angelegt zu betrachten und dieser dunkeln Quelle nachzuspüren. Wenn aber die Tonkunst weniger nach dem Weltgeschichtlichen hinweist, so entfaltet sie dagegen das subjective Leben als rein Menschliches in einer Unendlichkeit des Reichthums, welcher der Baukunst ganz verschlossen ist. Und daraus folgt dann, daß sie in dem Architekturähnlichen Rahmen ihrer mathematischen Grundlagen einen schlecht- hin weiteren Spielraum hat; sie kennt so, wie die Baukunst, kein Gesetz der Regelmäßigkeit und Symmetrie; entspricht z. B. der Takt den Säulen- abständen, so wogt ja zwischen seinen Einschnitten die Melodie frei in unendlichem Wechsel der zwischen sie eingegrenzten Töne, während in der Baukunst um die Säulenaxen, welche eigentlich die Takt-Theilung dar- stellen, die ästhetische Form zwar als Säule sich ansammelt, aber in gleicher Wiederholung und mit leeren Zwischenräumen. Sucht man die Symmetrie in den parallel sich entsprechenden Wiederholungen gewisser Sätze in der musikalischen Composition, so sind sich doch diese niemals abstract gleich, sondern unterscheiden sich wie Frage und Antwort, Einfaches und reich Entwickeltes, Sehnsucht und Befriedigung u. s. w. Kurz hier schwebt ein freier Geist zwischen den gleichen Ordnungen der Marksteine hin, dort sind die Marksteine die Sache selbst und es gilt nur, ihre strengen Massen aus der groben Kernform zur Schönheit umzubilden. — Noch aber ist ein weiteres wesentliches Moment der Verwandtschaft hervorzuheben: das Aus- einanderfallen der künstlerischen Schöpfung und der Ausführung. Sie hat ihren Grund ebenfalls in der mathematischen Natur der Kunstformen: wo immer das Ausdrucksmittel ein solches ist, das wesentlich gemessen und gezählt wird, da legt der Künstler sein inneres Bild zunächst nur in einem abstracten Schema nieder; in der Musik mußte für diesen Zweck ein beson- deres Zeichensystem erfunden werden; was der Componist in diesem sym- bolischen Alphabet niederschreibt, entspricht dem Riß in der Baukunst, und dort wie hier kann nach diesem Schema das Kunstwerk von dem, der es nimmermehr erfunden hätte, aber die Technik erlernt hat, ausgeführt werden, weil das ideal Gemessene, Gezählte in der Anordnung einer Masse, dem Anschlagen von Instrumenten nur nachzumessen, nachzuzählen hat. Der Unterschied tritt freilich auch hier wieder hervor, indem der musikalische Er- finder nicht wegen der Gröbe des Kampfs mit einem massenhaften Material auf die eigene Ausführung verzichten muß wie der Baukünstler, sondern auch nur darum seine Erfindung zunächst in einem bloßen Zeichengerüste abbildet, weil sie ja dem Elemente der Zeit angehört, unbestimmt oft zum Leben gelangen soll und ihren bleibenden Bestand eben blos in der Zeichen- schrift hat. Der Erfinder muß natürlich auch Executor sein können, oft exequirt haben, er exequirt probweise auch im Componiren, aber ein Virtuos braucht er nicht zu sein. Ein weiterer, tieferer Unterschied ist nun aber das, daß in der Musik eine blos mechanische Ausführung des Grundrisses bis auf einen gewissen Grad (denn ganz ohne Seele kann der Mensch nichts thun und die buchstäblich mechanische Musik der Drehorgel, Spieluhr u. s. w. ist keine) zwar möglich ist, daß aber die ächte Ausführung eine lebendige Reproduction durch die eigene Empfindung sein muß, die nun sogar das Kunstwerk durch verschiedene Arten und Grade des Ausdrucks weiter individualisirt; wogegen die ausführenden Kräfte in der Baukunst rein mechanisch verfahren und selbst das unmittelbar wärmer Gefühlte des Ornaments so vorgezeichnet ist, daß kein noch so inniges Gefühl des Arbeiters davon oder dazu thun darf. — Erwägen wir nun die Unend- lichkeit der neuen Welt, welche durch die Musik in der Kunst aufgegangen ist, so können wir sie nicht wie Solger als die abstractere, geistig durch- sichtigere Schwester neben die Malerei stellen, sondern müssen sie als den brütenden Schooß betrachten, woraus die geistigste Kunst, die Poesie, ge- boren wird. Es versteht sich, daß das nicht heißen soll, der Dichter müsse vorher Musiker sein, sondern nur begriffsmäßige Bedeutung hat, die sich jedoch real allerdings darin bewährt, daß nichts poetisch heißen kann, was nicht vor Allem den Eindruck des tief Empfundenen macht und im Gemüthe des Dichters unmittelbar mit dem anklingenden entsprechenden Sprachrhythmus aufgeht. Darauf kommen wir zurück. So steht die Musik als Vorhalle vor der Dichtkunst wie die Baukunst vor den beiden andern bildenden Künsten. Allein sie hat zugleich die tiefste Beziehung rückwärts zu dieser ganzen Gruppe der objectiven Künste: diese klingen in ihr aus, der Stimmungs- athem, der sich in der Baukunst krystallisirt hat, in Plastik und Malerei als warmer Lebenshauch aus der organischen Gestalt und den elementarischen Medien uns entgegenkommt, aber immer sich nicht befreien kann von seiner räumlichen Fesslung, hat Luft bekommen und strömt frei aus. Erscheint so von der einen Seite das Räumliche als eine Fesslung, so ist es gegenüber der idealen innigen Einfachheit des Gefühls ebensosehr Zerstreuung. Von ihr sammelt sich der Geist in der Kunst der empfindenden Phantasie, geht in sich, besinnt sich auf seine Tiefen und diese Sammlung ist zugleich eben die Vorbereitung auf eine neue Form, worin die räumliche Welt raumlos, die sichtbare innerlich geschaut, daher unzerstreut, geistig zusammengehalten und bereichert mit unendlichem neuem Inhalt sich wieder entfalten soll. Nun erscheint also die Musik als die mittlere Halle im großen Gesammtbau der Künste, die Halle der innern Sammlung, welche ebensosehr die Zusam- menziehung eines Ausgebreiteten als der Keim einer neuen Ausbreitung ist, und in dieser ihrer Stellung drückt sich eben das Wesen des Gefühls aus, wie wir es in der obigen Grundlegung bestimmt haben: als die lebendige Mitte des Geisteslebens. 2. Es gehört noch zur Betrachtung der allgemeinen Grundzüge der Musik, daß ihr zeitliches Vor oder Nach im Verhältniß zu den andern Künsten in’s Auge gefaßt wird. Auch hier stoßen wir auf eine Zwei- seitigkeit des Begriffs. Das Gefühl als die wesentlich subjective Geistesform ist zugleich die im vollsten Sinn unmittelbare; so findet es auch sein Aus- drucksmittel auf dem Wege des Instincts und gibt ihm ohne langen Kampf mit sprödem Materiale, also vor aller eigentlichen Schule den Grad von Ausbildung, der nöthig ist, um seine einfacheren Bewegungen ihm anzu- vertrauen. Dieß ist nun jene naive Kunst, jene Kunst vor der Kunst vergl. §. 519, 1 ., wo auch bereits gesagt ist, daß es eine solche eigentlich nur in der Poesie und Musik geben könne; genauer: in der unmittelbaren Ver- bindung beider, dem Volksliede ; die Instrumentalmusik begleitet es, bleibt aber auf diefer Stufe der bloßen Naturkunst dürftiger, als der Ge- sang, weil das Material hier nicht das unmittelbar dem Fühlenden selbst eigene Werkzeug ist, sondern als gegenständlicher Stoff den längeren Kampf, daher Kunstübung, Schule schon ursprünglich fordert. Allein die Unmittel- barkeit des Gefühls besteht wesentlich in einer Auslöschung vorausgesetzter Vermittlungen; es ist einfach, aber seine Einfachheit eine gefüllte, und in Wahrheit erreicht es sein volles Leben erst, wenn es eine ganze Welt von Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 55 Vermittlungen hinter sich hat; nur der Mensch, der viel erfahren, von einer mannigfaltigen, vielseitig getheilten Welt vielseitig erregt, durch tausend- fältigen Stoß auf das Object tiefer in sich gewiesen worden ist, faßt sich der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zusammen und nimmt ebenso die Welt in sich herein, wird eine Welt. Die im engeren Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menschen, dessen Bildung noch Naturbildung ist, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt- ganzen, wie es in das Herz des Menschen eingegangen, aber unentwickelt, tief und frisch, aber beschränkt und arm. Selbst wo beziehungsweise ein großes Stück Geschichte und Erfahrung durchlaufen ist, wo die Musik längst eine Kunstübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geist sich in seine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt ist, wird diese Kunst in einem Zustande bleiben, der jenem der Malerei entspricht, wie in §. 716 geschildert ist: sie wird gewisse Momente, die spezifisch zu ihrem wahren Wesen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher ist die Musik zwar die früheste, ebenso sehr aber, und dieß vielmehr ist das Wahre, eine sehr späte, durchaus moderne Kunst. β . Die einzelnen Momente. §. 767. 1. Die Betrachtung der einzelnen Momente des Wesens der Musik führt zunächst zur Erörterung des dieser Kunst eigenthümlichen, die musikalische Com- position bedingenden Materials . Von einem Material im gewöhnlichen Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen und stofflichen Mitteln, wie die bildenden Künste sie haben, weiß die Musik nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantasie mittelst technischer Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört 2. hat. Wie das Material, in welchem die Musik arbeitet, nur noch der innere ideale Raum der Phantasie des Zuhörers ist, der sie ihre Gebilde vorführt, so 3. ist auch das Material, mit welchem sie dieselben erschafft, nur noch das zwar der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper bedingte, aber für sich immaterielle und erst durch die eigene Thätigkeit des Menschen hervorgebrachte und künstlerisch gestaltete Element des Tons. Die bildenden Künste finden ihr Material vor; die Musik schafft es sich selbst, in- dem sowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung, durch welche sie sich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Composition abzugeben, das eigene Werk der musikalischen Phantasie ist. 1. Die Lehre vom Material ist bei der Musik von größerer Wichtigkeit als bei den bildenden Künsten. Die letztern brauchen ihr Material nur als Stoff, an dessen Qualität sie weit weniger gebunden sind als die Musik, sie drücken daher ihrem Stoffe mit freiem Belieben Formen und Gestalten auf, die anderwärts her, aus der Phantasie oder aus der äußern Natur (dem Naturschönen) genommen sind; nur die Malerei hat bereits an den Farben ein Stoffelement von spezifisch bestimmter Eigenthümlichkeit, das sie nicht mit Willkür modificiren, sondern nur verschiedenartig benützen und verarbeiten kann. In der Musik dagegen besteht das ganze künstlerische Verfahren in nichts Anderem als in verschiedenen Combinationen des „Tonmaterials.“ Die Musik trägt nicht so wie Plastik und Malerei ander- wärts her genommene Gestalten auf einen gegen dieselben indifferenten Stoff über, sie errichtet nicht, wie die Architektur, aus unorganischen, formlosen Massen ein Gebäude, dessen Gestalt von der Phantasie ganz selbständig, wenn auch immerhin mit Rücksicht auf die Beschaffenheit des Materials, construirt ist, sie kann nicht objectiv bilden, nicht Gestalten in eigentlichem Sinne schaffen, sie kann nur das Tonmaterial in Bewegung setzen, nur Tonverknüpfungen verschiedener Art hervorbringen; ihre Gebilde sind blos Reihen und Gewebe von Klängen, die nie zu plastischer Objectivität und Individualität gelangen, und bei deren Hervorbringung sie schlechthin ge- bunden ist an die Qualität des Materials selbst, dessen sie sich bedient, d. h. an eine Reihe von Verhältnissen der Intervalle, der Accorde, des Wohl- und Mißklangs, welche in der natürlichen Gehörorganisation ihre Grund- lage haben und daher der künstlerischen Thätigkeit mit unabänderlicher Natur- nothwendigkeit gegenüberstehen; das Material der Musik ist nicht ein in- differentes, formloses, sondern es hat schon in sich selbst eine Gesetzmäßigkeit, eine Mannigfaltigkeit fester, charakteristischer Formen und Verhältnisse, welche zwar unendlich viele und verschiedene Toncombinationen zulassen und in dieser Beziehung der Composition den freisten Spielraum gewähren, aber ihr doch vorausgehen als gegebene Elemente, deren sie sich überall bedienen muß. Wie die malerische Composition die natürlichen Farbencharaktere und Farbenverhältnisse einfach aus der Natur aufzunehmen hat, so die musika- lische die natürlichen Tonverhältnisse, sie fußt überall auf ihnen, sie kann nur durch sie wirken; in der rhythmischen Gliederung der Töne ist sie frei, aber in der Verbindung der Töne selber nicht. Die musikalische Composition ist blos eine mannigfaltige praktische Anwendung der in der Natur vor- ausgegebenen verschiedenartigen Beziehungen der Töne zu einander, und die Kenntniß dieser Beziehungen, die Kenntniß der natürlichen Beschaffenheit und Eigenthümlichkeit des Tonmaterials ist daher eine wesentliche Voraus- setzung für das Begreifen des Wesens der Composition selbst, noch weit mehr als es die Kenntniß der Farben für das Begreifen der Malerei, die 55* in der Hauptsache, in der Zeichnung vom Material frei ist, irgend sein kann. — Allein diesem Satze, daß in der Musik „das Material die Com- position bedingt,“ steht ebenso auch der andere, scheinbar widersprechende gegenüber, daß nämlich das Tonmaterial durch die musikalische Phantasie bedingt ist, daß es durch sie erst zu Tage gefördert und für die Zwecke der Composition zubereitet, organisirt, künstlerisch gestaltet werden muß. Das Material der Musik ist nicht ein einfach empirisch gegebenes, wie bei den bildenden Künsten, denen es der Hauptsache nach bereits zur Hand ist, wenn sie ihr Werk beginnen; es ist nur da als ein in der Natur ange- legtes, aus ihr heraus zu entwickelndes, nicht aber als fertiges; es ist selbst Kunstproduct, es ist ein Erzeugniß der musikalischen Phantasie, die an Körpern und körperlichen Organen die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr wird und durch diese Wahrnehmung angeregt, die Töne und deren Ver- bindungen, auf welchen die Musik beruht, selbst erst hervorbringt, ordnet und ausbildet. Daher namentlich die eigenthümliche Erscheinung, daß das musikalische Material nach Umfang und Beschaffenheit wesentlich abhängt von dem Standpunct der Ausbildung, auf welchem die musikalische Phan- tasie selbst angekommen ist; wie die ausgebildetere Malerei selbst neue Farb- stoffe sucht, um den künstlerischen Bedürfnissen und Anforderungen, die auf höhern Bildungsstufen entstehen, Genüge zu thun, so und zwar in noch weit höherem Maaß ist es auch bei der Musik; es gibt Zeiten und Völker, bei denen ein großer Theil dessen, was wir Tonmaterial nennen, ganz unbekannt oder doch ungenützt blieb, und daher auch die Ausbildung nicht erhielt, deren es an sich fähig ist (Tongeschlechter, Harmonie, rhyth- mische Formen u. s. w.). Das Tonmaterial muß, ehe es wirklich Material für die Kunst werden kann, eine Reihe von Gestaltungen durchlaufen, die sich keineswegs gleich von selbst verstehen; dasselbe ist empirisch zunächst blos gegeben als eine noch ganz unbestimmte, ungeordnete, innerhalb ihrer selbst beziehungslose Mannigfaltigkeit einer Masse von Einzeltönen und Klängen, mittelst welchen noch kein Kunstwerk von schöner Form oder von bestimmtem Inhalt und Charakter zu Stande zu bringen wäre; dieser chaotischen Ele- mentargestalt muß es entkleidet und zu einem geordneten, bildsamen Ton- system erhoben werden; es muß z. B. Klarheit und Gefälligkeit der Ton- folge hergestellt, es müssen die charakteristischen Tonunterschiede und Ton- verhältnisse, ohne die das Tonmaterial keine Möglichkeit mannigfaltiger Combinationen und concreter Bildungen darböte, z. B. die Unterschiede höherer und niederer Tongebiete, die Eigenthümlichkeiten der Intervalle, die harmonischen Verhältnisse zu Tage gefördert, es muß endlich auch rhyth- mische Ordnung und Gliederung hinzugebracht sein; dann erst ist das Material vollständig da und vollkommen brauchbar. Dieß Alles, wie namentlich die Intervall- und Harmonieverhältnisse, ist wohl von Natur begründet und präformirt im Wesen des Gehörs und des Gefühls, aber es ist damit noch nicht nothwendig auch im Bewußtsein da, es muß und mußte Alles erst allmälig durch jene Thätigkeit der musikalischen Phantasie entdeckt, herausentwickelt und im Einzelnen näher bestimmt werden. Auch ist diese der Composition vorausgehende künstlerische Gestaltung des Ton- materials gar nicht so klar in der Natur vorgezeichnet, daß sie sich für die musikalische Phantasie ganz von selbst, mit aller Sicherheit und Vollständig- keit ergäbe. Die verschiedenen Tonsysteme verschiedener Zeiten und Völker zeigen, wie unsicher Alles wird, sobald es sich um das Speziellere, um den Umfang der Tonreihe, um die normale Größe der Tondistanzen, um Ton- geschlechter und Tonarten handelt; Harmonie und (jetziger) Rhythmus sind großentheils eine Erfindung von ziemlich spätem Ursprung; natürlich ist Alles, aber nicht Alles ist schon von der Natur empirisch an die Hand ge- geben und nicht Alles von ihr schon so fest bestimmt, daß nicht in einzelnen Puncten abweichende Vorstellungen sich bilden könnten, oder wenigstens die naturgemäße Begründung von Diesem oder Jenem (z. B. von unserer Durtonleiter) nicht hie und da schwierig nachzuweisen wäre. Aus diesem schwebenden, unsichern Charakter der speziellern Gestaltung und Gliederung des Tonmaterials entsteht für die musikalische Aesthetik die Aufgabe, nicht nur die Beschaffenheit des Tonmaterials, wie sie sich im Verlauf der Zeiten gebildet hat, und ihre Bedeutung für die Composition zu analysiren, son- dern auch der Begründung, welche sie im Wesen des Gehörs und des Gefühls hat, nachzugehen, die akustischen und psychologisch ästhetischen Gesetze, auf denen Alles beruht, zu erforschen und so eine aus der Natur geschöpfte Theorie des Tonmaterials zu gewinnen. 2. Der §. berührt auch die Frage nach dem Material im zweiten Sinne des Worts (vergl. §. 660) oder nach dem Medium, durch welches die Musik ihre Gebilde zur subjectiven Anschauung bringt, sie hörbar, vernehmlich macht. Auch hier fällt alles Aeußere im Begriff des Materials weg; das Material, in welchem die Musik arbeitet, ist die Phantasie des Zuhörers selbst, welcher der Componist sein Werk unmittelbar vor- oder „aufführt,“ indem er es mit den Mitteln, die er für dasselbe gewählt, mit natürlichen oder künstlichen Musikorganen, ertönen läßt. Durch die Aufführung, durch die Umsetzung des von der Phantasie des Künstlers zunächst blos gedachten Tones in wirklichen Ton, fließt derselbe unmittelbar über in die nachbil- dende Phantasie des Hörers; der Ton geht, nur flüchtig durch Stimmen oder Instrumente für den Moment fixirt, von der einen Phantasie hinüber in die andere, ohne daß ein äußeres Medium zwischen beide hineinträte. Auch hiemit trennt sich die Musik vollständig von den bildenden Künsten und tritt auf Eine Seite mit der Poesie, die gleichfalls nur für die Phan- tasie arbeitet; das musikalische Kunstwerk gewinnt (§. 763) nur momentan subjective Existenz im Geiste dessen, der es vernimmt; die hörende Phantasie muß ihm entgegenkommen, damit es zu realer Existenz außer dem Geiste des Künstlers gelange. Dieses Entgegenkommen ist zunächst ein Verhältniß der reinen Passivität, der schlechthinigen Empfänglichkeit; die hörende Phan- tasie bekommt das Tonwerk nicht in einem Moment als Ganzes, als Fer- tiges, das man überblicken, wieder bei Seite stellen, abermals beschauen kann und so fort, sondern sie bekommt es nur als successiv sich entfaltende Reihe von Tonbewegungen, denen sie continuirlich folgen, deren Vernehmung sie sich ganz und unbedingt hingeben muß, nicht nur um nichts Einzelnes, kein Glied der Reihe, sondern namentlich um den innern Zusammenhang sich nicht entgehen zu lassen, der die einzelnen Glieder überall unter sich und mit dem Ganzen des „Tongewebes“ verflicht. Diese Passivität der Hingabe an das Tonwerk wird zwar vermindert durch die Fixirung der Töne in der Notenschrift, welche ein freieres Ueberschauen des Ganzen ermöglicht; aber das wahre, den rechten Eindruck gebende Verhalten ist dieses Tonlesen nicht, das Tonwerk kommt hiebei nie ganz zu derjenigen Existenz in der Phantasie des (jetzt zum Leser gewordenen) Hörers, die es eigentlich haben soll und will; das Tempo, die verschiedene Betonung und Tonstärke einzelner Stellen, der Fluß des Ganzen und der Theile, der lebendige Zusammenhang an jedem einzelnen Puncte, dieß Alles geht dem Leser mehr oder weniger verloren, und er verliert auch dadurch immer noch etwas am vollen Eindruck, daß die nachbildende Thätigkeit der Phantasie durch die Verstandesthätigkeit des fortwährenden Umsetzens der Tonzeichen in Tonvorstellungen gehemmt und eingeengt ist; er verliert hiedurch noch weit mehr als man z. B. beim Lesen eines Gedichtes einbüßt, weil das Aufnehmen der Poesie selbst schon mehr zugleich Verstandesthätigkeit ist und daher hier jenes Umsetzen der Zeichen in Vorstellungen weniger störend einwirkt. Sogar das eigene Ausführen (Spielen) eines Tonstückes, durch welches jene Einseitigkeit eines verstandesmäßigen Tonlesens durch das Hören der gelesenen oder auch aus unmittelbarer Erinnerung reproducirten Töne wiederum einigermaßen ausgeglichen wird, ist nicht dasjenige Ver- halten, durch welches die Phantasie das Kunstwerk ganz und vollkommen sich aneignet; es ist auch hier zu viel Selbstthätigkeit, die das reine Ver- nehmen des Gebotenen trübt, der Spieler greift seinem Spiel immer zugleich vor, er ist im Geist immer schon weiter voran als mit der Hand, die beiden in ihm vereinigten Personen des Executors und des Hörers gehen doch nicht recht zusammen, jede greift der andern in’s Handwerk und läßt sie nicht frei für sich agiren; nur wer ein Kunstwerk durch Andere aufführt, nur der Dirigent ist so glücklich, Executor und Hörer zugleich ohne Schaden für den Einen oder Andern sein zu können. Oefteres Lesen und Vortragen gleicht natürlich allmälig alle jene Mängel aus, indem durch die Wieder- holung eine so innige Bekanntschaft mit dem Kunstwerk sich bildet, daß man am Ende auch den ganzen vollen und lebendigen Eindruck hat, den das passive Hören gewährt; aber auch dieß kommt dadurch zu Stande, daß die allmälig erworbene genaue Kenntniß des Stückes die dem Aufnehmen hin- derliche verständige Selbstthätigkeit beim Lesen oder Vortrag mehr und mehr entbehrlich macht und so dem rein empfänglichen Verhalten Raum geschafft wird. Die Phantasie des Zuhörers ist jedoch nicht in dem Sinne passiv, aufnehmend, daß sie nicht, nur in anderer Weise als bei eigenem Exequiren, auch zugleich lebendig thätig sich verhielte; sie ist kein todtes Material, sondern sie bildet das Gehörte Schritt für Schritt nach, wie sie beim Ge- mälde von Gestalt zu Gestalt geht und damit eine concrete Anschauung des Ganzen gewinnt, sie folgt den Tonbewegungen und hat daher nachher ein Bild von ihnen in der Erinnerung, sie faßt im Aufnehmen immer zu- gleich selbstthätig zusammen, und von diesem selbstthätigen Zusammenfassen hängt es ab, ob das Kunstwerk im Hörer wirklich bewußte Existenz gewinnt, ob es nicht blos in sein Gehörorgan übergeht, sondern auch vom Geiste angeeignet, als Ganzes empfunden und angeschaut wird. Es ist hier ein ähnliches zweiseitiges Verhältniß wie bei dem Tonmaterial; wie dieses ein- fach der Natur abzulauschen ist und doch selbstthätig ihr erst abgewonnen, aus ihr heraus erst producirt werden muß, so muß die hörende Phantasie dem Gange des Tonwerks in voller Hingebung lauschen und ihn doch mit bewußter Reproduction verfolgen, seine verschiedenen Wendungen und Richtungen von einander unterscheiden und auf einander beziehen, bei allem Einzelnen die Beziehung zum Uebrigen und zum Ganzen mitauffassen, sie hat nie blos einzelne Puncte und Knoten des Fadens, sondern diesen selbst überall in ununterbrochener Stetigkeit festzuhalten. Dieses Auffassen und Festhalten kann natürlich bei längern, ungewöhnlichern, verwickeltern Ton- reihen schwierig sein, der Zusammenhang, die Motivirung, das Verhältniß eines Gliedes der Tonreihe zu einer folgenden kann möglicherweise unklar und unverstanden bleiben, weil es an Sinn für die musikalischen Formen und Verhältnisse, an entwickelterer musikalischer Phantasie oder auch z. B. bei dramatischen Werken an der erklärenden Zugabe des Wortes fehlt; Naturanlage, Musikkenntniß, Uebung im Auffassen muß da sein, öfteres Hören oder geradezu Studium muß zu Hülfe kommen, wenn die Phantasie im Stande sein soll, alles Gehörte selbstthätig zu verfolgen und zu begreifen. Die andern Künste fordern auch dieß weniger, weil ihre aus der Natur und dem Leben genommenen oder doch analog gebildeten Gestalten und Schilderungen dem Bewußtsein etwas Gewohntes und Bekannteres sind; die Musik aber hat solche objective Gestalten nicht, sie hat nur Gestaltungen des Tonmaterials, nur Verhältnisse, Reihen, Combinationen, welchen eine so unmittelbare Evidenz nicht zukommt und welche darum schwerer innerlich nachzuconstruiren sind; was bei der Architektur, Plastik, Malerei erst das Zweite ist, das selbstthätige Erfassen der Proportionen, des Zusammenhangs der Theile und Glieder, das ist bei der Musik das Erste, die Bedingung, ohne welche das Tonwerk für den Hörer gar nicht zur Existenz kommt; nur bei dem verwickeltern Drama findet etwas ganz Aehnliches statt, indem auch hier das Verfolgen des Ganges der Handlung das Allererste ist, was der Zuschauer thun muß, um das Ganze sich selbst anzueignen, — eine Verwandtschaft zwischen Musik und Drama, die uns auch später wiederum begegnen wird. 3. Kehren wir zum Material zurück, mit welchem die Musik arbeitet, und zerlegen es in seine Elemente, so ist es zunächst der einzelne Ton, den sie einem Körper durch eine von außen nach innen und von innen wieder nach außen dringende Erregung und Erschütterung seiner Moleküle abge- winnt, um in diesem schwingenden Erzittern körperlichen Stoffes die innere Erregung des bewegten Gemüthslebens abzubilden. Ihr Material ist so nicht mehr materiell; materiell sind nur die Mittel, die Organe, aus welchen es zu Tage gefördert wird, es selbst aber ist ein Ideelles, ein Dynamisches, ein Product einer auf die Materie erregend wirkenden geistigen Kraft, obwohl immer ein Ideelles, das, weil es nur aus der Materie herauszuheben ist, seiner concreten Beschaffenheit nach durch die reelle Qualität der Materie, durch ihre Textur, durch die Grade ihrer Elasticität und Beweglichkeit bedingt bleibt, ja selbst erst durch dieses Nachklingen des Materiellen in ihm auch für sich concrete Qualität, bestimmten Charakter, eigenthümliche Farbe, Klang bekommen kann, ein Punct, an welchen sich später die Betrachtung der verschiedenen Tonmittel (Instrumente) anknüpfen wird. Um dieser seiner ideellen, dynamischen Natur willen ist der Ton auch nur vorhanden, sofern er stets auf’s Neue producirt, d. h. der für sich stummen Materie, wie der leuchtende Funke dem harten Stein durch An- schlagen entlockt wird; der Ton ist eine Sprache des Innern, welche dieses selbst bildet, eine Sprache, welche das Innere unmittelbar aus dem eigenen Organismus hervortreibt in der Menschenstimme, und die es ebenso auch aus der außermenschlichen Natur hervorzutreiben weiß; die Musik setzt die Materie in eine Bewegung, die dem Gemüthe des Menschen gehorcht, leiht ihr Rede und Stimme, aus welcher dem Geist sein eigenes Leben und Bewegen wie ein wunderbares Echo entgegentönt. Der Satz, daß der Ton nur ist als ein Producirtes, Selbstgeschaffenes, gilt sodann insbesondere auch von seiner bestimmtern Qualität, wie er sie haben muß, um einen für die Kunst brauchbaren Stoff abzugeben; die Erzeugung distincter und reiner, voller und schöner, stärkerer und schwächerer Einzeltöne ist bedingt durch Aufmerksamkeit des Gehörs und kommt zu Stande durch eine die Forderungen desselben realisirende Kunstfertigkeit, sei es nun des Sängers oder Spielers oder des Künstlers, der musikalische Instrumente fertigt; kurz, es verhält sich mit dem Einzeltone gerade so wie mit dem Tonmaterial überhaupt, er ist bereits Kunstproduct, welchem die Natur vorarbeitet, das aber erst durch freie Phantasiethätigkeit gewonnen wird. §. 768. Der Ton wird hervorgerufen durch regelmäßige Schwingungen eines 1. elastischen Körpers. Mit der verschiedenen Geschwindigkeit, in welcher die einzelnen Schwingungen auf einander folgen, sind die Unterschiede der Höhe und Tiefe der Töne gegeben. Empfindbar wird die Höhe eines Tons im 2. Verhältniß zu andern durch unbewußt vergleichende Auffassung der Zahl der Schwingungen, welche während seiner Dauer den Hörnerv getroffen haben, sowie durch den qualitativ verschiedenen Eindruck, welchen höhere und tiefere, aus schnellern und langsamern Schwingungen entstehende Töne auf das Gehör- organ hervorbringen. Der Höhenunterschied trennt jedoch nicht blos einzelne 3. Töne von einander, sondern er theilt auch die ganze Tonmasse ab in ver- schiedene, höhere und niederere Tonlagen und Tongebiete , durch deren gegensätzliche Beziehungen zu einander zuerst ein Element charakteristischen Unterschiedes innerhalb des Tonmaterials hervortritt. 1. Die Natur kennt keine absolute Starrheit und Ruhe. Das Gleich- gewicht der Theile eines Körpers kann durch äußere Einwirkung aufgehoben werden, und zwar entweder bleibend oder vorübergehend; nach geringen Störungen stellt es sich von selber wieder her: die Körper erweisen sich elaftisch . Ein Anstoß von außen ist im Stande einen Körper im Innersten erbeben zu machen; die zunächst getroffenen Moleküle weichen aus, kehren zurück, erhalten sich einige Zeit in dieser oscillirenden Bewegung und theilen sie zugleich den benachbarten Theilchen mit, so daß die Oscillation sich durch die Gesammtmasse des Körpers fortpflanzt, zuweilen ihn als Ganzes in sichtbare Erschütterung versetzt, ja selbst noch auf andere ihn berührende Körper sich überträgt, insbesondere auf die umgebende Luft und durch deren Vermittlung auf unser Gehörorgan; der irritirte Hörnerv schlägt die räthsel- hafte Brücke zwischen Außen- und Innenwelt und läßt uns jenes Erzittern als Schall vernehmen. Zum Ton veredelt sich der Schall, wenn die Schwingungen des Körpers regelmäßig erfolgen, d. h. in gleichen Zeit- abschnitten, in gleichem Rhythmus sich wiederholen; erst mit dieser Regel- mäßigkeit wird der Schall ein meßbares, den Eindruck einer bestimmten „Höhe“ oder „Tiefe“ gebendes und damit die Phantasie klar und deutlich ansprechendes Tönen, erst mit dem Eintreten der Regel, des Ebenmaßes beginnt die Musik. Je kürzer die Zeitdauer einer Schwingung, je schneller die Gesammtbewegung ist, desto höher der Ton. Soll ein Ton dem Ohre überhaupt noch wahrnehmbar sein, so dürfen nach neuern Untersuchungen auf die Secunde nicht weniger als 8 und nicht mehr als 24000 (nach Andern 36000) Schwingungen treffen; faßlich aber, d. h. nach Tiefe und Höhe genau bestimmbar, ist der Ton nur zwischen den Grenzen von 16 Schwingungen und ungefähr 8500 Schwingungen in der Secunde (wobei unter einer Schwingung hier die doppelte Zurücklegung des kleinen Wegs verstanden ist, den die Theilchen des Körpers in abwechselnd entgegengesetzter Richtung beschreiben); das jetzt gewöhnliche Tonsystem geht über die Grenzen von 16 und 4200 nicht leicht hinaus; Zahlen, immer noch weit genug von einander entfernt, um nicht nur einer großen Zahl von Einzeltönen zwischen sich Raum, sondern auch diese Einzeltöne sich selbst wiederum zu verschieden- artigen, dem obersten und untersten klaren Tone näher oder ferner liegen- den, „hohen, tiefen und mittlern“ Tongebieten sich gruppiren zu lassen. 2. Die Höhenunterschiede zwischen den Einzeltönen (die Intervalle der Töne) bestimmen sich nach dem Verhältniß ihrer Schwingungsgeschwindig- keiten zu einander; dieses Verhältniß faßt (§. 762. Anm.) das Gefühl mittelst unbewußten Vergleichens auf und erhält so den bestimmten Eindruck der größern oder kleinern Distanz zwischen beiden. Anzunehmen ist übrigens, daß dieses Wahrnehmen der Höhe und Tiefe des Tons zugleich unterstützt ist durch das qualitative, dynamische Moment der verschiedenen, mehr oder weniger scharfen Einwirkung, welche das Gehörorgan von den verschiedenen Tonschwingungen erfährt. Die Alten wußten, weit richtiger als wir, nichts von „hohen und tiefen,“ sondern von „scharfen,“ akuten und „schweren“ (stumpfen, dumpfen, weniger beweglichen) Tönen; in der That, „höher und tiefer“ sind nur uneigentliche, auf das Liegen aller Töne in Einer stetigen Scale zwar passend hinweisende, aber doch blos bildliche, zufällige Bezeichnungen. Die schnelle Vibration des tönenden Körpers ver- setzt auch das Gehörorgan in eine schnellere, gereiztere, schärfer ein- schneidende Bewegung als die langsame (daher denn auch die „hohen“ Töne auf das Nervensystem angreifender wirken als die mehr breiten, ruhigen Töne der tiefern Lagen). Bei langsamer Schwingung steht der Körper seinem Zustande der Ruhe, in welchem er tonlos ist, d. h. der Ton- losigkeit selbst noch näher, und der Ton behält daher, je „tiefer“ er ist, desto mehr den Charakter geringerer Erregung der Elasticität, geringerer Schärfung des Klanges, womit auch der noch mehr materielle und elemen- tarische, weniger distincte, dem dunkeln Tiefen vergleichbare Laut dieser Töne zusammenhängt. Je schneller aber die Schwingung, je rascher der elastische Körper aus dem Gleichgewicht seiner Theile gerissen wird, je krampfhafter er in sich zusammenzittert, desto mehr empfängt auch die Empfindung den Eindruck eines verschärften, verdünnten, sich mehr und mehr zuspitzenden Erklingens; der hohe Ton ist eben der geschärftere und darum auch distinctere, die materielle Schwere immer mehr abstreifende, freiere, idealere, geflügeltere und darum „höher“ erscheinende Ton; ja — was für Späteres von Wich- tigkeit ist, — der hohe Ton ist die eigentliche Realisation des Tones, der eigentliche Gegensatz zur Tonlosigkeit, in der Reihe der hohen Töne realisirt sich in immer steigender Entschiedenheit das, was eben den Ton ausmacht, die Herauspressung des Klanges aus der an sich stummen Materie durch schnelle Erschütterung ihrer Theile, die Musik ist wesentlich Aufsteigen aus der tonlosen Tiefe zu immer schärfern oder höhern Tönen, die auf- steigende Bewegung ist eben die tonerzeugende und darum das eigentlich Lebendige, Schöpferische, sich Bewegende an der Musik, die absteigende Bewegung ist nur die Rückkehr zu geringerer Volubilität des Tons, sie ist bereits das Aufhören, das beginnende Verklingen, sie ist das Ende, wie das Aufsteigen der Anfang und der lebendige Fortgang ist. Diese Unter- schiede des mehr oder weniger Scharfen fühlt die Gehörempfindung unmittel- bar; wie die Töne an sich selbst verschieden sind, so ist auch ihr Eindruck an sich selbst ein verschiedener und gibt sich auch dem vergleichenden Hören von selbst als ein verschiedener zu erkennen, obwohl weiterhin Reflexion und Uebung dazu gehört, das bestimmtere Verhältniß der Stumpfheit und Schärfe (Tiefe und Höhe) zwischen einzelnen Tönen sicher wahrzunehmen. 3. Die ästhetische Bedeutung der höhern und tiefern Töne und Tonlagen für die musikalische Kunst ist schon §. 752 erörtert. Das dort Gegebene erhält nun hier eine noch genauere, aus dem Wesen der Ton- erzeugung hergenommene Begründung. Die höhern, geschärftern, der materiellen Schwere entfliehenden, ideellern Töne sind es, in welchen sich die „gelöste Subjectivität“ (s. d. §.) bewegt, zu denen sie aufsteigt im Jubel der Freude, wie in der ringenden, einen Ausweg suchenden Ver- zweiflung des Schmerzes; die höhern, distinctern, freiern Töne sind es, in welchen sich in der Regel die Melodie, die den klaren Ausdruck der Be- wegtheit einer Stimmung gebende Aneinanderreihung von Tönen, bewegt, wogegen die tiefern die ruhige elementare Grundlage jenes bewegten Auf- und Absteigens, die substantielle Basis der zum Höchsten hinanstrebenden Subjectivität zu bilden haben. Wohl können in besondern Fällen auch die obern Töne die Rolle der untern übernehmen, indem die Töne der Harmonie in sie hinauf verlegt werden, während eine tiefere Stimme die Melodie über- nimmt. Aber es hat dieß immer seinen speziellen Grund und kann nicht die Regel sein, es tritt dann ein, wenn die Begleitung einer Baßmelodie oder Passage es nicht anders gestattet, oder wenn der Componist in einem größern Tonstück eine Melodie abwechselnd in mannigfaltigen Tonlagen auftreten lassen will, oder erfüllt es den Zweck, einer Melodie bei ihrem ersten Erscheinen, z. B. im Anfang einer Symphonie, einen noch ruhigern, unentwickeltern, dumpfern Charakter zu geben und sie erst, nachdem sie sich so zuvor in der dunkeln Tiefe geregt, zu ihrer eigentlichen Region der hohen und klaren Töne aufsteigen zu lassen; die Begleitung höherer Töne dient in solchen Fällen dem Bedürfniß deutlicher Harmonisirung sowie der Vor- bereitung der höhern Lagen, in welche nachher die Melodie selbst empor- gehoben wird. Die Melodie kann aber auch ohne eine solche Begleitung höherer Töne in tiefern Lagen erscheinen, und zwar entweder ganz ohne alle Begleitung oder mit einer noch tiefern als sie selbst es ist; hier, wo das höhere Element ganz fehlt, ist es vorzüglich der Charakter des ruhigern, gefaßtern, ahnungsvollen, feierlichen, drohenden Ernstes, oder auch bei be- wegtern Tonstücken des Wühlens, Arbeitens in der Tiefe, des Ankämpfens gegen eine Gebundenheit, Schranke, Fessel, was durch diese Verlegung der Melodie in tiefere Lagen (z. B. im Uebergang zum Finale der Beethoven’- schen Cmoll -Symphonie) hervorgebracht wird. Der Begriff der Tonlage führt über zu dem der Tongebiete, d. h. der Hauptregionen oder (mit Beziehung auf einzelne in einer solchen Tonregion sich bewegende Menschenstimmen, Instrumente) der Hauptstimmen, in welche die ganze Reihe der Töne in Bezug auf Höhe und Tiefe zerfällt. Eine ansehnliche Reihe niederer Töne theilt mit dem niedersten immer noch im Ganzen den Charakter des Dumpfen, Breiten, Tiefen; dasselbe ist der Fall in den obersten Lagen und so treten zunächst zwei wesentlich verschiedene Tongebiete einander gegenüber, die tiefe und hohe Region, Baß und Sopran , jener dumpf, schwer, unbehülflicher, aber ernst, kräftig gehalten, männlich substantiell, dieser hell, leicht, fein, jugendlich weiblich, anmuthig, beweglich und weich, ebenso aber auch für das Scharfe, Durchdringende, Einschneidende wesentlich geeignet. Die Mittelregion zwischen beiden theilt sich selbst wiederum in zwei Gebiete, deren jedes den Charakter der höchsten und niedersten Region in sich auf interessante Weise vereinigt dar- stellt. Der Tenor ist dem Sopran gegenüber tief, dem Basse gegenüber selbst wieder Sopran mit allen Eigenschaften desselben, nur mit Ausnahme des Einschneidenden, das ihm natürlich fehlt, so daß vorzugsweise das Helle, Weiche, Freie im Verein mit Männlichkeit, aber freilich ohne die substantielle Tiefe und Kraft, an ihm hervortritt. Der Alt ist der Baß des Soprans, das Weibliche ohne das Kindlichjugendliche und Scharfe, das anmuthig Runde, Volle, das Weiche und doch Ernstere und Kräftigere. Am sprechendsten treten diese Gegensätze und Beziehungen hervor bei der Menschenstimme, bei welcher sie durch die ihnen entsprechenden Alters- und Geschlechtsunterschiede noch klarer als sie es an sich schon sind in’s Licht gesetzt werden; aber auch bei den Instrumenten kehren sie wieder, so daß einerseits jedes Instrument von besonders großem Umfange eine Scala dieser charak- teristischen Höhenunterschiede, oft mit ganz merkwürdiger Aenderung der Klangfarbe, durchläuft und andererseits unter den beschränktern Instrumenten jedes vorzugsweise den Charakter der einen oder andern Tonregion eigen- thümlich darstellt. Eine Beschränkung der Musik auf die eine oder andere Region, eine Ausschließung z. B. der höhern Stimmen vom Gesange, wie sie bei den Alten wenigstens Regel war, bringt in das Tonmaterial eine Einförmigkeit, welche die freie Bewegung der Musik nur hindern kann. So wenig das andere der neuesten Zeit angehörige Extrem, die unnöthige, gewaltsame und unnatürliche Hinaufschraubung des Gesangs zu schrillenden und zirpenden Hochtönen irgend zu entschuldigen ist, da der Umfang des Tonsystems, wie er früher gewöhnlich angenommen wurde, in der That einer Musik von Geist und Inhalt Raum genug verstattet, um die mannig- fachsten Differenzen und Gegensätze der Tonhöhe anzuwenden: so wenig ist es zu billigen, wenn dieser Raum nicht wirklich benützt wird; erst hiemit bekommt die Musik Farbe und Contrast, Leben und Mannigfaltigkeit. Natürlich muß nicht in jedem einzelnen Tonwerke diese Verschiedenheit der Tonlagen und Tonregionen zur Anwendung kommen; es gehört zur Mannigfaltigkeit der Musikformen selbst wieder, daß es auch Stücke gebe, welche in engern Grenzen, ja in nur ganz wenigen Tönen sich bewegen, um damit Ruhe, Ansichhalten oder Aehnliches auszudrücken; aber solche Stücke können nur eine einzelne und zwar untergeordnete Art der Musik bilden, die vielmehr eben in der Gegenüberstellung, dem Wechsel, dem ein- ander Antworten, dem zu einem Ganzen Zusammenwirken der verschiedenen Stimmgebiete ihre eigenthümliche Belebtheit, Kraft und Fülle gewinnt. Von selbst versteht es sich, daß sowohl der Contrast als das Ent- sprechen und Zusammenwirken der verschiedenen Stimmen nur möglich ist, wenn die vier Tongebiete nicht beziehungslos auseinander fallen, sondern neben aller Besonderheit wiederum in einem Verhältniß der Toneinheit, des Zusammenklingens zu einander stehen; wie dieses sich bildet, zeigt der nächste Paragraph. §. 769. Zwischen den dem Ohre noch vernehmlichen Grenzen der Höhe und Tiefe 1. liegt an und für sich eine unendliche Menge von Tönen, welche den Abstand zwischen beiden Endpuncten in stetiger Aufeinanderfolge, in unendlich kleinen, fließenden Unterschieden von einander ausfüllen. Aber die musikalische Phan- tasie, geleitet durch die natürlichen Forderungen des Gehörsinns, greift, um distincte Töne zu erhalten, aus jener unendlichen stetigen Reihe eine endliche discontinuirliche Reihe neben einander liegender höherer und niederer Tonstufen in der Art heraus, daß zwischen der tiefern und der nächstliegenden höhern Stufe zwar kleine, aber doch deutlich ansprechende Unterschiede der Lage (Intervalle) entstehen, die sich selbst wieder in weitere und engere, Ganz- und 2. Halbtöne, theilen. Innerhalb dieser Reihe, durch deren klare und gleichartige Gliederung das Reich der Töne bereits zu einem geordneten Ganzen, zum Tonsystem, erhoben ist, treten aber auf Grund des natürlichen mathematischen Verhältnisses der Töne zu einander auch noch weitere, jene Gliederung erst wahrhaft vollendende Intervallverhältnisse hervor, Verhältnisse theils der Ein- heit (Einstimmigkeit), theils der mehr oder weniger spezifischen Zusammen- gehörigkeit entfernterer Töne unter sich, das Verhältniß der Octave einer-, das der Quint, Quart und großen Terz andererseits, während den andern größern Intervallen, Sext, Septime, kleiner Terz eine gleich spezifisch aus- geprägte Beziehung ihrer Töne zu einander nicht zukommt. 1. Vom untersten bis zum obersten wahrnehmbaren Tone ließen sich, wenn man die Höhenunterschiede zwischen den Einzeltönen unendlich klein nähme, unzählige Zwischenstufen denken; es ist aber klar, daß die Unter- schiede der einander nächstliegenden Töne desto unbemerkbarer und unerfaß- barer werden, je weniger sie von einander abstehen, und daß daher nicht Kleinheit, sondern eher Größe der Intervalle musikalisches Gesetz ist. Zu kleine Intervalle können weder allgemein deutlich vernommen, noch vom ausübenden Musiker leicht und sicher hervorgebracht werden; ihr Gebrauch würde allen Eindruck des Hellen, Durchsichtigen, Freien unmöglich machen; wenn die Tonreihe in eine zu große Zahl kleiner Tonstufen sich zersplittert, so sind die Nachbartöne einander zu nahe, die distantern durch zu viele Zwischenstufen von einander getrennt, sowohl der klare Unterschied als die nähere Beziehung der Töne zu einander ist aufgehoben. Manche Völker des Alterthums, auch die Griechen, haben allerdings einen Werth auf kleine Intervalle gelegt und daher neben dem Fortgang durch Ganz- und Halb- töne auch den durch Viertelstöne für schön und effectreich gehalten, die so- genannte enharmonische Tonleiter; aber eine solche Tonfolge kann doch nur eine sehr bedingte Anwendung finden, sie würde bei längerem Gebrauch wegen der Anstrengung des Unterscheidens der Intervalle, sowie wegen des Umstandes, daß die Tonreihe in so ganz kleinen Absätzen vorwärts rückte oder vielmehr schliche, auf Gehör und Phantasie theils unnatürlich spannend und überreizend wirken, theils den Eindruck einer gedehnten, unklar gedrückten und gepreßten Bewegung hervorbringen. Eine solche einerseits nervös auf- regende, andererseits keinen freien und klaren Aufschwung gestattende Musik kann natürlich nur da Platz finden, wo das Bewußtsein noch nicht zu wahrer Geistigkeit und Freiheit gekommen, sondern noch mit einer sinnlichen Bestimmtheit des Fühlens behaftet ist, die auf der einen Seite heftige Er- regung will, auf der andern einem trüben und dumpfen Empfinden sich nicht zu entwinden im Stande ist. Bemerkenswerth ist es in dieser Be- ziehung, daß dieselben Völker, welche enharmonische Tonfolgen im Gebrauche haben (z. B. auch Araber, Aegypter, Hindus), zugleich diejenigen sind, bei welchen nicht das melodische und harmonische, sondern das aufregende rhythmische Element der Musik vorherrscht, noch mehr aber, daß ihr Ton- system nach Umfang der Höhe und Tiefe ein enges und beschränktes ist und daher auch aus diesem Grunde keinen Raum hat für gehörige Klarheit und Mannigfaltigkeit der Töne; diese wird ja nur da möglich, wo das Ton- system nach beiden Seiten, nach oben und unten, hinlänglich ausgedehnt ist, um für alle möglichen hohen und tiefen und eben hiedurch bestimmt von einander geschiedenen Tongattungen Platz zu bieten. Weite Ausdehnung des Tonsystems bis zu den Grenzen des klar Vernehmlichen und innerhalb dieser Ausdehnung klare und distincte, einfach und mühelos hervorzubringende und zu erfassende Distanzen der Nachbartöne, dieses zusammen erst macht natürlich und deutlich ansprechende, gesundkräftige, lebendigfreie und reich gegliederte Musik möglich; wie die Sprache des lebendig erregten Menschen nicht in continuirlicher Tonerhöhung und Tonverminderung auf- und ab- gleitet, sondern in freiem Schwunge klar geschiedene höhere und niederere Tonlagen ergreift, so auch die Musik; es gibt für Gehör und Verstand nichts Widrigeres als eine stetige Hinauf- oder Herabschiebung des Tones, wie eine solche z. B. beim Stimmen einer Saite oder bei dem eben durch diese Stetigkeit uns unausstehlichen Hundegeheul stattfindet. Nur so viel ist hiebei zu fordern, daß die Distanzen der Einzeltöne nicht eine Weite haben, bei welcher eine enge und fließende Verbindung derselben unmöglich wäre. Es ist ein nicht minder wesentliches Gesetz, daß von jedem Tone nach beiden Seiten ein fließender Uebergang in eine andere Tonstufe möglich sei, weil Einheit des Mannigfaltigen nicht minder ein Postulat der Kunst ist als die Mannigfaltigkeit; in diesem Sinne muß das Tonsystem allerdings eine continuirliche Reihe sein ohne Lücken und Entfernungen, die nur eine sprungweise Hinundherbewegung auf ihm gestatten würden. Diesem Be- dürfniß enger Verbindung und fließenden Uebergangs dienen in unserem Tonsystem namentlich die Halbtöne , die nicht nur zwischen den Ganz- tönen überall nach freiem Belieben eingeschaltet werden können, sondern auch längst durch naturgemäße Praxis eine feste Stellung auf gewissen Stufen der Tonleitern angewiesen erhalten haben; durch sie tritt dem Momente klarer Distinctheit das ebenso unentbehrliche der engen und stetigen Verknüpfung ergänzend zur Seite, freilich immer in untergeordneter Bedeutung, da der weniger klare, freie, gehobene Fortgang durch Halbtöne nicht der vorherrschende sein kann. 2. In Betreff des im §. über die weitern wesentlichen Intervallver- hältnisse Gesagten ist zunächst auf die unmittelbare acustische Erfahrung und sodann auf die Ergebnisse der Physik zu verweisen, welche Dem, was das Gefühl vom Tonsysteme fordert, vielfach eine so schöne Bestätigung geben. Wie es eine Thatsache ist, daß im Sprechen, im Rufen, im natürlichen Singen der Fortgang durch mindestens den Halb- und Ganztönen ent- sprechende Tondistanzen dem menschlichen Gefühl ganz von selbst nahe liegt, so ist es eine nicht minder gewisse Thatsache, daß auch gewisse größere Intervalle für Gehör und Gefühl etwas ganz besonders Einleuchtendes, Faßliches, charakteristisch Ansprechendes haben. Für’s Erste nämlich begegnen uns im Tonsysteme höhere und niederere Töne, die für uns doch qualitativ ganz dieselben sind, an denen wir keinen Unterschied mehr wahrnehmen als eben den quantitativen Unterschied des Höhern und Tiefern, so daß es oft schwer wird sie auseinander zu halten, namentlich wenn sie von verschie- denen musikalischen Organen angeschlagen werden, — die eintönigen, unisonen, sogen. Octaventöne . Es treten ebenso zweitens höhere und niederere, nur etwa um die Hälfte des Octavenintervalls von einander entfernte Töne auf, die wir zwar als qualitativ verschieden empfinden, die aber deßungeachtet untrennbar zusammen zu gehören scheinen, indem das Uebersetzen von einem auf den andern und nicht minder das wechselnde Hinundhergehen zwischen beiden, ja selbst das Fortgehen vom einen auf den andern durch das ganze Tonsystem aufwärts uns durchaus leicht und natürlich ist, ja wenn einmal begonnen fast geboten erscheint, — die sogen. Quintentöne . Setzen wir einen bestimmten Ton als Anfang einer Octavenreihe (als Grundton), so ergibt sich zudem das weitere Resultat, daß die über demselben liegende Quint sowohl beim Aufsteigen als beim Absteigen zwischen dem Grundton und seiner Octave als natürlicher Ver- mittlungston sich darbietet, der das Treffen der Octave wesentlich erleichtert (was die andern Zwischentöne nicht thun), sowie daß der Fortgang von der Quint zur Octave des Grundtons hinauf für das Gefühl doch ästhetisch ansprechender und gefälliger ist als der obige Fortgang von Quint zu Quint u. s. f. Ein drittes ähnliches Verhältniß findet endlich innerhalb des Quintenintervalls statt bei der sogen. großen Terz . Die große Terz des Grundtons führt von letzterem ähnlich zur Quint hinüber, wie diese vom Grundton (Prim) zur Octave, sie ist gleichfalls von jenem aus leicht zu treffen, leichter z. B. als der auf ihn nächstfolgende Nachbarton (die Secund). Nur dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von der Quint, daß der Fortgang in großen Terzen auf- und abwärts nicht mehr natürlich, vielmehr ohne besondere Aufmerksamkeit und Tendenz ganz unvollziehbar ist. Auf die große Terz folgt naturgemäß vom Grundton aufwärts nicht wieder eine große Terz, wie Quint auf Quint folgen kann, sondern naturgemäß folgt die Quint des Grundtons, die von seiner großen Terz etwas weniger weit, nur um eine sogen. kleine Terz absteht; das Terzenintervall findet sonach im Quintenintervall seinen ergänzenden Abschluß, es bleibt diesem unter- geordnet, die große Terz ist nicht so wie die Quint Hauptton innerhalb der Octave, sondern ein die Quint vorbereitender und die Quintdistanz aus- füllender Vermittlungston, ein Verhältniß, das in dem Namen Dominante für Quint, Mediante für Terz passend ausgedrückt ist. Vergleichen wir diese drei Hauptintervalle, so ist das Octavenintervall einerseits das ein- fachste und faßlichste, andererseits das selbständigste, am meisten in sich befriedigte, sofern der Fortgang von Octave zu Octave nichts Wider- sprechendes, Unbehagliches an sich hat, sondern ganz natürlich und an- sprechend ist; in zweiter Linie steht das Quintenintervall, es ist bei aller Natürlichkeit doch weniger selbständig, weil das Gefühl, nachdem die Quint angeschlagen ist, doch hierauf den Grundton oder seine Octave lieber hört als eine zweite Quint, wie wenn es aus dem durch die Quint gesetzten Unterschied wieder zur Einheit, zum Tone, von dem es ausgegangen, zurück- strebte; in dritter Linie endlich das Terzintervall, sofern es der Quint ähnlich untergeordnet ist wie diese der Octave. Mit allen diesen Sätzen, welche die unmittelbare musikalische Erfahrung, Beobachtung, Singpraxis an die Hand gibt, treffen nun, zum Beweise, daß hier keine Willkür stattfindet, die Entdeckungen der Physik über die mathe- matischen Verhältnisse dieser Intervalle sehr significant zusammen. Die Octave entsteht, wenn auf 1 Schwingung des untern Tons 2 des obern kommen, wenn z. B. eine Saite um’s Doppelte schneller als eine andere ihr sonst gleiche erregt wird; bei der Quint kommen auf 2 Schwingungen unten 3 oben, bei der großen Terz 5 obere auf 4 untere. Bei der Octave also schwingt der obere Ton im Verhältniß zum untern mit 2facher, bei der Quint mit 1 ½facher Schnelligkeit; in der Octav ist die Dauer der einzelnen obern Schwingung 2 mal, bei der Quint 1 ½mal kürzer als die der untern. In der Octav kehrt also ganz dasselbe Schwingungsverhältniß wieder, wie bei der Prim, dasselbe nur verdoppelte Schwingungstempo, es ist qualitativ ganz dieselbe Erregung des Gehörorgans, nur um’s Doppelte (4fache, 8fache u. s. f.) geschärft. Am nächsten verwandt ist das Schwingungs- und Erregungsverhältniß bei der Quint, indem hier zwar nicht Verdoppelung, aber 1 ½fache Beschleunigung der Bewegung stattfindet, welche zwischen der einfachen und gedoppelten in der Mitte liegt. Nicht so ganz einfach verhält es sich bei der großen Terz, welche merkwürdiger Weise von den Alten, ja bis tief in’s Mittelalter hinein für ein (beim Zusam- menklang) nicht consonirendes Intervall gehalten wurde, während sie uns schlechthin wohlgefällt. Ein so natürlich sich von selbst aufdrängendes Mittelglied, wie die Quint zwischen den beiden Octaventönen, ist sie aller- dings nicht, weder dem acustischen Eindruck noch dem Zahlenverhältniß nach; das Verhältniß 4 : 5 hat keine nähere Analogie zu 2 : 3, wie dieses sie hat zu 2 : 4 (1 : 2); blos die Aehnlichkeit findet statt, daß wie in der Quint den geraden Bewegungszahlen der Octaventöne eine ihnen nächstliegende Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 56 ungerade Bewegungszahl, also ein in letzterer Beziehung wesentlich ver- schiedenes Bewegungsverhältniß entgegentritt, so auch bei der Terz dasselbe der Fall ist, jedoch mit dem Unterschied, daß die Bewegungsdifferenz geringer und daher die Distanz zwischen Prim und Terz eben nur so groß ist, um der letztern eine Mittelstellung zwischen Prim und Quint anzuweisen — weßwegen wohl den Alten die Terz als nicht scharf und distinct genug erschien. — Dieses Zusammentreffen der acustischen Faßlichkeit und Gefällig- keit der Intervalle mit den mathematischen Geschwindigkeitsverhältnissen ist gewiß nicht zufällig. In der Octav empfindet das Gefühl dasselbe Bewe- gungsverhältniß wie im Grundton, es hat hier die Befriedigung in beiden Tönen eine durchaus gleichartige Erregung wiederzufinden, auf der es wie auf einem Ruhepunct stillhält, wenn es sie erreicht hat; in der Quint findet es sich halbwegs der Octave zu gehoben, wie der rechnende Verstand in der Zahl 3 die Mitte zwischen 2 und 4, das mit seiner Hälfte vermehrte (anderthalbfache) Zwei erkennt, das nur noch ein zweites Mal mit seiner Hälfte vermehrt werden darf, um die Zahl Vier zu haben; in der Terz findet immerhin eine ähnliche Erhebung zur Quint hin statt, wie in dieser zur Octave. Sehr einfach, mathematisch einfacher noch als das der Terz ist das Zahlenverhältniß der Quart , nämlich 3 : 4. Die Quart ist ver- möge dieses Verhältnisses das Intervall zwischen der Quint (3) und der obern Octave (4) des Grundtons (2), und sie steht daher zur Quint in engster Beziehung, sie füllt mit ihr zusammen die Octavenreihe aus; aber sie hat doch nicht gleiche Bedeutung mit ihr; vom Grundton aus führt die Quart nicht zur Octave hin, wie die Quint es deßwegen thut, weil die 1 ½fache Beschleunigung zwischen der einfachen Geschwindigkeit (Grundton) und der verdoppelten (Octavton) in der Mitte oder mit beiden in gleicher Reihe liegt; auch der Terz kommt sie insofern nicht gleich, als sie nicht wie diese vermittelnd zu einem Hauptintervall, wie die Quint, hinführt; die Quart ist ein sehr natürliches, befriedigendes Intervall, aber sie ist von der Prim einerseits zu entfernt, um so ansprechend wie die Terz auf sie zu folgen, und andererseits ihr noch zu nah, um durch sie zur Octav empor- zusteigen. — Weniger einfach sind die Schwingungszahlverhältnisse der übrigen größern Intervalle. Bei der kleinen Terz , die in ähnlicher Weise die große Terz zur Quint ergänzt, wie die Quart diese zur Octave, ist das Verhältniß 5 : 6, bei der großen Sext 3 : 5, bei der kleinen 5 : 8; bei der kleinen Septime 5 : 9 oder (ohne leicht bemerkbaren Unterschied des Tones) 9 : 16, bei der großen 8 : 15. Diesen weniger einfachen Zahlenverhältnissen entspricht auch die acustische Eigenthümlichkeit dieser Intervalle. Die kleine Terz macht, wenn sie selbständig und nicht blos als naturgemäße Ergänzung der großen Terz zur Quint auftritt, den Eindruck eines weniger natürlichen und distincten Fortschritts; die große und kleine Sext sind vom Grundton zu entlegen, als daß sie ohne die Mittelstufe der Quart von ihm aus leicht zu erreichen wären; die große Septime (15 : 8) klingt bereits wie ein Uebergang zum Octaventon (16 : 8), leitet aber ebendeßwegen zu ihm mit zwingender Gewalt hinüber und hat in dieser Eigenschaft (als „Leitton“) allerdings wiederum eine besondere Bedeutung. In ähnlicher Weise ist das Gefühl auch bei der Erhebung vom Grundton zur kleinen Septime nicht beruhigt, sondern muß nothwendig entweder zur großen und durch sie zur Octav vollends hinauf oder zur Sext und von da weiter bis zur Quart herabgehen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das Zahlenverhältniß der großen Secund ist, indem auch hier wie oben, zwei Verhältnisse neben einander Geltung haben, entweder 9 : 10 (kleiner) oder 8 : 9 (großer Ganz- ton), das des großen Halbtons 15 : 16, des kleinen 24 : 25; für das Ge- fühl liegt die große Secund zwischen Prim und Terz in der Mitte als die von jener aus sich natürlich ergebende und klar zur Terz hinüberführende Tonstufe, ein Verhältniß, das sich auch bei der kleinen Secund im Ver- hältniß zur großen wiederholt. — Gemeinsam ist all diesen Intervall- verhältnissen, die auf unser Gehör den Eindruck des Natürlichen und Bestimmten machen, daß sie sich durch Zahlen ausdrücken, in welchen überall 2, 3, 5 die letzten Factoren sind. Wo versuchsweise Zahlen wie 7, 11 u. s. w. als Factoren von Schwingungsgeschwindigkeiten genommen werden (7 : 8 und dergl.), da entstehen Tonverhältnisse, die den Eindruck des Unklaren, Verschwommenen machen; es muß, wie es scheint, wenn das Gefühl eines ansprechenden Tonintervalls entstehen soll, das Verhältniß der Schwingungsgeschwindigkeiten und der durch sie hervorgebrachten Er- regungen des Gehörorganes ein möglichst einfaches sein; die Verhältnisse von 1 zu 2 (4 zu 8 u. s. f.), 2 zu 3 (3 zu 4 u. s. f.), 2 oder 3 zu 5 (4 zu 5, 5 zu 6 u. s. f.) sprechen allein oder vereinigt (z. B. 4, 5, 6 = Prim, Terz, Quint) Gefühl und Geist an durch das einfach Propor- tionirte, leicht Zusammenzuschauende, das sie an sich haben. Der Geist strebt von Natur nothwendig nach Einheit, nach einfach klarer Pro- portion des Verschiedenen und vernimmt daher eine solche überall mit Befriedigung; am größten ist diese Befriedigung bei dem Verhältniß 1 : 2, beim Zusammentreffen der doppelt so starken mit der hälftigen Erregung, indem hier der Rhythmus der Bewegung dem Grundverhältniß nach ganz identisch ist und jede der beiden Bewegungen auf die andere als mit ihr identisch hin- und zurückweist; schon geringer, aber doch durch die leichte Vergleichbarkeit der beiderseitigen Tempozahlen immer noch groß genug ist die Befriedigung bei dem Verhältniß 2 : 3, 3 : 4, 8 : 9, 4 : 5, weil hier zweitheilige, gerade, und dreitheilige, ungerade Rhythmen einander gegen- übertreten; weit geringer aber bei den Verhältnissen, wo nicht 2 und 3 oder 5, sondern zwei ungerade, 3 und 5, einander gegenüberstehen und 56* die Unterschiede der Zahlen überhaupt zu groß sind, wie bei Sexten und Septimen. Die Töne sind Rhythmen und sie rufen desto mehr das befrie- digende Gefühl der natürlichen Zusammengehörigkeit hervor, je gleichartiger, je einfacher zu einander in klares Verhältniß zu setzen ihre Schwingungs- schnelligkeit ist; das klarste, am unmittelbarsten einigende, ja identificirende Verhältniß ist das durchaus ebenmäßige der einfachen Gedoppeltheit; das nächstklare die nicht zu große gerade Zahl gegenüberstehend der ihr nächsten ungeraden Zahl; weniger klar zwei ungerade und noch weniger gerade und ungerade Zahlen, die numerisch zu weit von einander abstehen, bei diesen hört die engere Beziehung auf, sie werden gegen einander gleichgültig; blos beim Halbton ändert sich dieses wieder dadurch, daß hier (15 : 16) das Gefühl der unmittelbaren quantitativen Nähe sich natürlich unmittelbar auf- drängt. Auf der andern Seite ist jedoch neben der Thatsache, daß Gleich- artigkeit der Schwingungsverhältnisse befriedigt, auch ein zweites Moment nicht zu übersehen; der Geist will nicht nur Eintönigkeit, einfache Zusam- mengehörigkeit, er weilt mit Befriedigung auf ihr und fordert sie unbedingt, damit die Tonreihe nicht ein einheitsloses Aggregat verhältnißloser Töne sei, aber er ist trotzdem auch wieder im Einfachen, Unterschiedslosen unbefriedigt, er fordert nicht abstracte, sondern concrete Einheit , Einheit Verschiedener, Mannigfaltigkeit, und darum findet unter den bisher betrachteten Intervallen auch noch ein zweites Werthverhältniß statt; das Gefühl verlangt gebieterisch neben den gleichartigen, absolut klaren Intervallen auch ungleichartigere, weniger wasserklare, es gibt diesen, wenn es die erstern zu oft nach ein- ander vernehmen muß, sogleich den Vorzug, es will nicht Quintenzirkel, sondern nach der Quint die Quart, es fordert Ausfüllung der Octave durch die Quint, der Quint durch die Terz u. s. f., es ist befriedigt durch Einheit, aber positiv gefällig ist ihm nur die durch Mannigfaltigkeit ergänzte, belebte Einheit, es ist ihm im Leeren, Einartigen nicht wohl, obwohl es schließlich zum Einartigen immer zurückstrebt, um in ihm zur Ruhe zu kommen und daher z. B. den Schluß eines Tonstücks außer im Grundton selbst entweder in seiner Octave oder höchstens in Terz oder Quint gestattet, indem es eben nach Durchlaufung der concretern Intervalle zu den einfachen und klaren sich wieder zurückwendet. Diese Zweiseitigkeit des Werthverhältnisses der Hauptintervalle wird sich noch bestimmter herausstellen, wenn wir nun dazu fortgehen, die Bedeutung derselben für die Ordnung und Gliederung des Tonsystems überhaupt, sowie für die musikalische Composition zu betrachten. §. 770. Durch das Octavenverhältniß theilt sich das Tonsystem ab in ein System kleinerer, gleichstimmiger, höherer und niederer Perioden; durch die andern Hauptintervalle gliedert sich die Octave innerhalb ihrer selbst wiederum zu kleinern Abschnitten, durch welche das Verhältniß der übrigen innerhalb der Octave zu liegen kommenden Einzeltöne zu einander erst seine genauere natur- gemäße Bestimmung empfängt. Zur Gliederung des Tonsystems tragen diese Intervallverhältnisse aber auch dadurch bei, daß vermöge des von der Natur fest bestimmten Charakters, der diesen Intervallen sowohl für sich als in ihrer Verbindung mit einander eigen ist, in ihnen die ersten Grundlagen zu natur- gemäßer, charakteristischer, ansprechender Verbindung der Töne (zur Melodie und Harmonie) gegeben sind. In §. 769, 1. ist darauf hingewiesen, daß die Musik vor Allem distincte Intervalle bedarf, deutlich von einander geschiedene Klänge, deren keiner ist was der andere, die Schärfe der Scheidung, der Auseinander- haltung der einzelnen Momente ist das Erste, jeder Ton muß von seinem Nachbar so weit abliegen, daß er unmittelbar als ein von ihm schlechthin verschiedener vernommen wird, und diese Distinction muß sich durch die ganze Tonreihe nach beiden Dimensionen hin in gleicher Weise vertheilen. Allein wie schon dieß Verhältniß der Nachbartöne zu einander von der Art sein muß, daß sie sich doch auch wiederum als Klänge vernehmen lassen, die einander nicht schlechthin fremd, sondern nahe zusammengehörig, einander einfach proportionirt sind: so tritt nun auch noch das weitere Postulat ein, daß die Tonreihe nicht ein bloßes Aggregat verschiedener, heterogener, sich fliehender Töne sei, sondern vielmehr ein Ganzes, innerhalb dessen sich auch wieder eine Einheit, eine engere Zusammengehörigkeit, eine spezifische Ver- wandtschaft einzelner seiner Theile und Stufen darstellt. Die Tonreihe würde ein bestimmungs-, begriffs- und charakterloses Nebeneinander atomi- stischer Toneindrücke, wenn nicht auch auf einzelnen ihrer Puncte ein solches qualitatives Einheits- oder Verwandtschaftsverhältniß von Tönen zu ein- ander hervorträte. Man kann sich dieß veranschaulichen, wenn man sich vorstellt, die Tonreihe stiege in lauter Ganztönen aufwärts, die so weit genommen wären, daß weder das Quinten- noch das Octavenverhältniß irgendwo sich ergäbe; in diesem Fall wäre das Resultat ein Progreß in’s Unendliche, eine Reihe ohne Ende und Ziel, ohne Sinn und Zweck, eine Reihe des abstracten Unterschieds, die durchaus in beziehungslose Tonatome und Tondistanzen auseinander fiele, eine einseitige Expansion und Dis- traction ohne alles Einheitsband. Einheit, klare innere Beziehung und Verknüpfung, wie sie hienach erforderlich ist, kommt nun in die Tonreihe zunächst in unmittelbarster einfachster Weise durch das von der Natur an die Hand gegebene Octavenverhältniß , durch die absolute Einstimmung der Octaventöne; durch sie theilt sich die ganze Tonreihe in Octavenabschnitte, deren Anfang jedesmal durch den gleichlautenden, nur gehobenern und schärfern Ton markirt ist; sie zerlegt sich in eine Reihe gleichartiger Perioden, welche durch die stete Wiederkehr gleicher Töne innerhalb ihrer Identität und Ein- heit in die Mannigfaltigkeit der Einzeltöne bringen. Die Octaveneintheilung erst gibt der Tonreihe Helligkeit, Gliederung, Bestimmtheit; sie thut der Mannigfaltigkeit keinen Eintrag, sofern ja die gleichlautenden Töne verschie- dener Octaven unter sich doch immer noch differiren durch ihre verschiedene Höhe und Tiefe, aber sie stellt allerdings vorzugsweise die Einheit her, so- fern durch sie die Einzeltöne in das Verhältniß der Identität unter sich gebracht werden; sie flicht alle Tonlagen, Tonregionen, Stimmen, die höchsten wie die tiefsten, zu untrennbarer Einheit gegenseitigen Entsprechens und Wiedertönens zusammen; sie reducirt die Gesammtzahl denkbarer Töne auf den kleinen Kreis der wenigen eine Octave ausfüllenden Klänge, sie macht durch diese Gliederung, welche bewirkt, daß die Einzeltöne insgesammt mehrmals durch alle Tonlagen hindurch wiederkehren, alle Töne der Reihe weit überschaulicher, weit leichter zu erkennen und nach ihrem gegenseitigen Verhältnisse zu bestimmen, als es ohne das der Fall wäre, und sie erwirkt auch dieß doch ohne Beeinträchtigung der Mannigfaltigkeit; im Gegentheil die Octaveneintheilung erzeugt selbst eine solche, indem sie Gelegenheit gibt, denselben Ton, dieselben Accorde, dieselbe Melodie die ganze Leiter höherer und niederer Regionen durchwandern, sie bald in höhern, bald in niedern Gebieten, bald einfach, bald begleitet von entsprechenden Octaventönen anderer Lagen erklingen zu lassen. Einheit also in der Mannigfaltigkeit, diese erste Bedingung einer künstlerischen Gestaltung des Tonmaterials, ist mit der Octaveneintheilung gegeben, daher die Hochhaltung der Octave in griechischer Musik und Philosophie keineswegs verwundersam sein darf; mit ihr hat die Musik bereits ein wenn auch erst sehr einfaches Element der Gliederung und Zusammengruppirung der Töne gewonnen. Auch die übrigen Hauptintervalle des Tonsystems tragen zur Einheit und Gliederung der Töne bei, auch sie sind für das Ohr, weil sie ein ein- faches und doch bestimmtes Verhältniß gegenseitigen Entsprechens verschie- dener Klänge darstellen, gleichsam Einschnitte in die Klangreihe, durch welche eine natürliche, von selbst ansprechende, klare Systematik in’s Ganze gebracht wird. Aber so einfach, so unmittelbar wie die Octave, sind diese Intervalle nicht, sie bringen ebenso sehr auch Mannigfaltigkeit in’s Tonganze, sie stellen concretere Tonverhältnisse dar, neben denen das Octavenverhältniß als ein abstractes, leeres, eintöniges erscheint. Die Musik bedarf auch noch weitere Tonverhältnisse, durch welche die Klänge sich wiederum zu kleinern, in sich abgeschlossenen Reihen von bestimmter Größe und bestimmtem Charakter gruppiren; es ist ein Bedürfniß, innerhalb der Octave selbst doch nicht blos einen ganz gleichförmigen, unterschiedslosen Fortgang der die Reihe aus- füllenden Töne, sondern einen gegliederten Fortschritt zu haben, in welchem sich das schon der Octave zu Grund liegende Gruppirungsgesetz nur in anderer, spezifischerer Weise wiederholt. Wie die Octave den Abschluß einer Tonreihe und zugleich den Anfang einer neuen der vorhergehenden ent- sprechenden bildet, so ergibt sich innerhalb ihrer ein ähnlicher Abschnitt durch die Quint . Die Quint ist zwar nicht gleich der Octave ein Knotenpunct, welcher Abschluß und Anfang in sich vereinigte, aber sie ist entschieden der Anfangspunct der neuen mit ihr beginnenden Reihe, von welchem aus, wenn er einmal erreicht ist, der weitere Fortgang (bis zur Octave) ganz wie von selbst gegeben erscheint, so daß durch sie das Ganze in zwei kleinere gleichartige Reihen gesondert ist. Die Quint ist jedoch durch diese ihre zur Octave hinleitende Stellung auch der Ton, auf welchen das Ohr beim Sprung von einer Octave zur andern von selbst wie auf eine den Ueber- gang erleichternde Brücke zwischen beiden verfällt; sie ist daher so oft der Mittelton, durch den die Musik, wenn sie möglichst einfach und doch nicht ohne alle Vermittlung von einer Octave zur andern übergehen will, diesen Uebergang bewerkstelligt, und zwar sowohl aufsteigend, als insbesondere absteigend, wie namentlich am Schluß der Tonstücke, wo die einfache Rück- kehr zu einer tiefern Octave des Grundtons so häufig mittelst Durchgangs des Basses durch die Quinte geschieht. Ebenso ist die Quint oder Domi- nant auch da, wo es sich nicht um den Uebergang von einer Octave zur andern handelt, (meist von unten her, als untere Quint, wo sie dem Grund- ton näher liegt, oft aber auch mit guter, lebendiger Wirkung von oben her) der natürliche Vorton des Grundtons der Octave, der Vorbereitungs- ton, von welchem man zum Grundton (oder auch zu seiner Terz) aufsteigt, welchen man diesem voranschickt, wenn das Tonwerk nicht unmittelbar mit ihm selbst, nicht uneingeleitet beginnen soll. Desgleichen ist sie sonst ein vielgebrauchtes Intervall, das sich z. B. wegen seiner engen Beziehung zum Grundton und wegen seiner Mittelstellung in der Octave nicht blos zur Einleitung, sondern auch zum eigentlichen, definitiven Anfang eines Ton- stücks sehr gut eignet, indem das alsbaldige Einsetzen auf der Quint statt auf dem zunächst erwarteten tiefern Grundton einerseits uns über den Grund- ton des Ganzen nicht im Geringsten unklar läßt, andererseits aber doch einen eigenthümlichen Eindruck des Gehobenen und Schwunghaften, oder des Leichten und Frischen, des Hineintretens, des Sprungs in mediam rem hervorbringt (z. B. Terzett und Menuett im ersten Finale von Don Juan, Terzett im zweiten Act u. s.). Zum Schlusse eignet sich die Quint eben wegen ihres Uebergangscharakters weniger, sie kann aber auch hier von großer Wirkung sein, wenn eben dieß beabsichtigt wird, dem Schluß den Charakter des Nichtabschließenwollens, des Ungelösten, Schwebenden, Ahnenden, Fernes Andeutenden zu geben (wie im Gesang des Gouverneurs vor der Kirchhofscene). Verwandt mit der Quint, aber zugleich wieder von besonderer Bedeu- tung, ist zunächst die (große) Terz . Sie eröffnet zwar nicht eine neue Reihe wie die Quint, sie gliedert die Reihe nicht direct, sondern blos mit- telbar durch die ihr zukommende Wichtigkeit, in Folge welcher sie eine wesentliche Tonstufe der normalen Tonreihe ist und ihr nicht fehlen darf. Ihre Hauptbedeutung ist eine ausfüllende; sie bietet eine nicht nur erleich- ternde, sondern eine wesentlich befriedigende, ja unentbehrliche Mittelstufe dar für den Uebergang von Prim zu Quint, der an sich bei aller Natür- lichkeit, die wir ihm zuerkennen müssen, eben doch, wenn gleich weit weniger als der von Octave zu Octave, immer noch ein Sprung ist und bleibt. Die Terz erst gewährt beim Auf- und Abgehen auf den Hauptintervallen der Tonreihe eine wahrhaft concrete Vermittlung; während bei längerem Auf- und Absteigen blos auf Grundton und Dominante doch wieder eine allzu einfache, einförmige, nichtssagende, leere, unnatürlich hüpfende Ton- folge entsteht, so wird dagegen durch Hinzunahme der Terz dieses Auf- und Absteigen ein zwar auch noch ganz simples und klares, aber doch zu- gleich natürlich vermitteltes, volllautendes, nirgends eine Lücke fühlen lassen- des Auf- und Abwärtssichbewegen, das ebendarum an sich selbst bereits musikalisch schön, bereits vollkommen ansprechender Wohllaut, das erste wohllautende Intervallverhältniß ist ; wie die Octave, so ist auch die Quinte immer noch ein gar zu einfaches Tonverhältniß, Octav und Quint sind natürlich, aber sie sind nicht concret genug; concret wird alle Musik erst mit dem Terzintervall . Die große Terz steht aber auch, von dieser ihrer vermittelnden Bedeutung abgesehen, namentlich zum Grundton in einer Beziehung, die sie nicht minder wichtig macht. Es kann zwar mit ihr, wenn sie in die untere Octave verlegt ist, nicht so treffend wie mit der Dominante der Grundton von unten her eingeleitet werden, weil nur die Dominante unmittelbar und bestimmt auf den Haupt- ton gebieterisch hinweist. Wohl aber kann die Terz von oben her dem Grundton vorangeschickt oder mit ihr geradezu sowohl angefangen als ge- schlossen werden. Der Anfang mit der Terz macht einen ähnlichen, nur natürlichern und ruhigern Eindruck wie der mit der Quint, den Eindruck, daß man alsbald auf einen höhern Punct, als man eigentlich erwartete, gehoben wird, also wieder den des Freien, des Gehobenen, des nachdrücklich Hervortretenden; am Schluß hat auch sie, jedoch mit demselben Unterschied von der Quint wie vorhin und daher weit häufiger als diese anwendbar, die Wirkung des Nichtabschließenden, weniger Bestimmten, des Schweben- den, romantisch Verklingenden, Sehnsuchts- und Erwartungsvollen, des Hinausweisens in unbestimmte Fernen, es ist ein Schluß und ist doch keiner, es ist ein Stillhalten auf einer Stufe, die zur Höhe emporführt, von welcher es uns nach oben zieht und auf der wir doch wider Willen fest- gehalten werden und nun gleichsam verwundert uns umschauen nach einem Höhern und Fernern, das uns in Aussicht gestellt und doch nicht wirklich geboten wird. — Die übrigen Intervalle haben für sich nicht mehr gleiche Wichtigkeit wie die eben besprochenen. Die aufsteigende Quart mit der Sext zusammen füllt den Zwischenraum zwischen den Octaventönen wohl auch in befriedigender (concreter), aber nicht in unmittelbar erwarteter Weise aus; Terz und Quint können durch nichts Anderes ersetzt werden, man fühlt namentlich den Fortgang vom Grundton zur Quart als zu weit vor- geschoben, als eine nicht natürliche Distraction, die Tonfolge 1468 treibt mit Gewalt zu 1358 zurück. Die Quart wird zwar sowohl nach der großen als nach der kleinen Terz unbedingt erwartet, weil sie acustisch ein Hauptintervall ist, und sie ist so der natürlichste Schlußstein der ersten Hälfte der Octave, der natürliche Vorton der Quint, der so mit dieser zusammen die Octave in ihre zwei Hälften abtheilt; aber sonst fehlt ihr die tief ein- greifende Bedeutung der letztern; sie theilt diese Bedeutung nur da, wo sie als tiefere Octave der Quint unter dem Grundtone als dessen hinabverlegte Dominante liegt und so nicht blos im Quart-, sondern zugleich im Quint- verhältniß zu ihm sich befindet. Ganz vollständig kann die Bedeutung der verschiedenen Haupt- und Nebenintervalle natürlich erst bei der Lehre von der Harmonie hervortreten, wo sie nicht mehr blos als Nach-, sondern auch als zusammentönendes Neben- und Ineinander betrachtet werden. Indeß ist es schon hier am Platze, vorläufig darauf hinzuweisen, daß auch harmonisch betrachtet das Verhältniß der Intervalle unter sich ganz dieselben Resultate ergibt. Die Octave dient der Musik da, wo es eben um die absolute Einstimmigkeit zu thun ist; sie kann in solchen Fällen gerade durch diese reine Einfachheit, durch die Beseitigung aller vermittelnden, ausfüllenden, wohlthuenden Zwi- schenstufen, durch die Leere, die sie zu empfinden gibt, groß, erhaben, hohl, unheimlich, geisterhaft wirken. Der Monotonie des Octaveneinklangs tritt zunächst entgegen das Zusammentönen von Grundton und Dominante; aber gerade da zeigt es sich, daß doch erst mit der Terz Vermittlung, Voll- stimmigkeit gegeben ist. Grundton und Quint zusammen erregen das Ge- fühl einer unausgefüllten, traurigen, unbehaglichen, schreienden Leere, wo- gegen die Terz schon für sich mit dem Grundton einen befriedigenden Zusammenklang bildet. Der Haupt- und Grundaccord, der durchaus voll anspricht, ist aber erst Grundton Terz Quint zusammen oder auch noch vermehrt mit der obern Octave; mit ihm ist der Urtypus, das concrete Urbild aller Harmonie gegeben. Anders verhält es sich dann gleich wieder mit 1468 ; dieser Accord könnte nicht wie 1358 gut für sich allein , z. B. als Accord eines harmonisch gestimmten Glockengeläutes, bestehen, er befriedigt für sich nicht trotz allen Wohlklangs, er führt nothwendig zurück zu 1358 , indem nur dieser den Eindruck vollkommenen Zusammengehörens und natürlichen Aufeinanderfolgens, Entsprechens und Zusammenklingens der Töne, aus denen er besteht, hervorzubringen vermag. §. 771. 1. Das Tonsystem gestaltet sich zur Tonleiter , wenn unter Zugrundlegung seiner Eintheilung in Octavenabschnitte der Zwischenraum zwischen den Octaven- tönen stetig durch eine Reihenfolge neben einander liegender Töne ausgefüllt wird. Diese Reihenfolge kann von verschiedener Art und verschiedenem Charakter sein je nach der verschiedenen Stellung, welche den Halb- und Ganztönen innerhalb der Reihe angewiesen, und je nach der verschiedenen Eigenthümlichkeit, welche eben durch diese verschiedene Stellung dem ganzen Fortgange aufgeprägt wird. Der Hauptunterschied ist der zwischen Dur- und Molltonleiter ; in der erstern ist der Fortgang vorherrschend ein den Charakter freien ungehemmten Fortschritts an sich tragender Fortgang durch Ganztöne, indem in ihr die Halb- töne so gelegt sind, daß sie nur die Stellung von Uebergangs- und Schluß- tönen an einzelnen Hauptabschnitten der Leiter einnehmen; in der Molltonleiter 2. dagegen findet das Umgekehrte statt. Das Prinzip des Fortgangs durch Halb- töne ist rein durchgeführt in der chromatischen Leiter , welche aber hiedurch die charakteristischen Verhältnisse der Hauptintervalle verwischt und daher nur untergeordnete Bedeutung ansprechen kann. 1. Streng genommen sollte am Anfang des §. gesagt sein, das Ton- system gestalte sich zur Tonleiter, wenn unter Zugrundlegung der Eintheilung des Tonsystems in Octavenabschnitte und der Octave in die zwei durch die Dominante gegebenen Octavenhälften der Zwischenraum zwischen Prim und Octav, sowie zwischen beiden und der Dominante stetig (also eben leiterförmig) durch Töne ausgefüllt wird. Mit der Abscheidung des Tonsystems in Octa- ven, mit dem Herausgreifen der Octavenperiode aus der ganzen Tonreihe ist die Gestaltung der Tonfolge eben an das Octavverhältniß gebunden, muß nach ihm sich richten, und so entsteht die Aufgabe, die zwischen Grundton und Octav liegenden Einzeltöne in der Art zu bilden und zu ordnen, daß ihr Fortgang einerseits den Zwischenraum in stetiger und gefälliger Mannig- faltigkeit ausfülle, andererseits in natürlicher Weise wieder zum Grundton (in der Octave), dessen Wiederkehr das Gefühl erwartet, hinführe. Soll dieß geschehen, so kann natürlich das Hauptintervall, die Dominante, in der Leiter nicht fehlen, indem mit ihr ein ebenso gefälliges als den Ueber- gang von Prim zur Octave wesentlich vermittelndes Tonelement verloren gienge; ist aber einmal die Dominante in der Leiter, so zerfällt diese durch sie in zwei Abschnitte, weil mit dem Eintreten der Dominante das Gefühl, eben mit ihr die Region der Prim schon verlassen zu haben und aus ihr in die der Octave übergeschritten zu sein, sich von selbst einstellt. Es handelt sich also genau gesprochen nicht mehr um Ausfüllung der Octavenreihe, sondern um Ausfüllung dieser zwei Abschnitte vor und nach der Dominante. Die Ausfüllung — diese Bemerkung ist nothwendig voranzustellen — ge- schieht, weil nach §. 768, 2 . die aufsteigende Bewegung die maßgebende sein muß, von unten her, oder sie geschieht so, daß der den Gesetzen des Gefühls und der Phantasie entsprechende Tonfortgang, durch den diese Ausfüllung zu Stande kommen soll, von unten nach oben zu verwirklicht wird. Dieser Fortgang ist nun zunächst mittelst Ganztönen zu machen, da dieß einmal der natürliche, der einzig leichte, freie, klare Fortgang ist. Aber Ganztöne allein können darin doch nicht vorkommen, da in diesem Falle, wie eine einfache Rechnung mit den Intervallzahlen zeigt, weder von der Prim aus die Dominante, noch von dieser aus die Octave zu erreichen wäre; Halbtöne sind also nothwendig und zudem der Mannigfaltigkeit wegen wünschenswerth; es fragt sich nur, wie sie gestellt werden, und es ist für den ganzen Charakter der Tonfolge entscheidend, wie dieß geschieht. Werden sie — dieß ist das Erste, worauf es ankommt — so gestellt, daß in beiden Abschnitten der Tonreihe eine größere Periode von Ganztönen erhalten bleibt, so herrscht natürlich in der ganzen Reihenfolge der Charakter der Bewegung durch Ganztöne vor; werden sie aber so gestellt, daß die Ganztonbewegung nach kurzer Dauer sogleich von der Halbtonbewegung unterbrochen wird, so ist der Eindruck des Ganzen der einer durch die Halbtonbewegung immer wieder aufgehobenen und durchbrochenen Ganz- tonbewegung, also — weil dieses den Normalverlauf durchbrechende Element eben als solches vorzugsweise hervortritt — eines Vorherrschens der Halb- tonbewegung. Ferner: werden die Halbtöne so gestellt, daß sie erst am Schluß der beiden Abschnitte der Octave stehen, so ordnen sie sich auch hiemit den Ganztönen als bloße Uebergangs- oder Schlußtöne unter und tragen andererseits auch zur Leichtigkeit, Klarheit, Gefälligkeit der ganzen Leiter bei, weil gerade am Schlusse ein kleineres Intervall, ein stetigerer Uebergang gefordert ist, damit das zu Ende Gehen, das nicht mehr weiter Wollen der Bewegung klar hervortrete, die Bewegung gefällig sich abrunde und ausklinge; werden die Halbtöne aber so gestellt, daß sie schon in der Mitte oder gar am Anfang der Leiter, sowie ihrer einzelnen Abschnitte stehen, so erhalten sie vorwiegende Bedeutung und geben zudem der ganzen Leiter- bewegung einen schwerfälligern, dunklern, trübern Charakter, weil ihr passende Schlüsse fehlen. Dieß sind die Momente, auf welchen die Unter- schiede der Haupttonleitern und namentlich des Dur und Moll beruhen. Die Durtonleiter ist diejenige, in welcher die Ganztonbewegung vorherrscht und zugleich die befriedigendsten Schlußformen gegeben sind. Zu Anfang beider Hälften haben wir zwei Perioden von Ganztönen, eine zweimalige Fortschreitung durch Ganztöne ( c zu d, d zu e, g zu a, a zu h ); der eine Halbton schließt befriedigend das Ganze ( h zu c ); der zweite steht nicht, wie man etwa erwarten könnte und wie es in der sog. lydischen Tonart wirklich der Fall ist, vor der Quint (vor g ), sondern er steht richtiger eine Stufe weiter zurück, zwischen Terz und Quart; er schließt diese letztere eng an die Terz an, er faßt die Quart mit der Terz und durch sie mit dem ersten Abschnitt der Octave überhaupt eng zusammen, während er sie von der Quint durch den so entstehenden Ganzton ( f zu g ) abtrennt; er bildet so aus Prim Secund Terz Quart Eine Periode, was ganz richtig ist, weil mit der Quint ja selbst schon eine zweite beginnt, er stellt die Quint nach dieser Seite selbständig hin und weist sie der zweiten Octavhälfte zu, der sie an sich schon angehört und die ohne sie (d. h. wenn die Quint z. B. durch die übermäßige Quart fis zur ersten Hälfte gezogen würde) zu klein ausfiele; er macht also durch seine Stellung die beiden Hälften symmetrisch, und er muß diese Stellung außerdem auch deswegen haben, weil sonst der Tonleiter das natürliche Intervall der einfachen Quart verloren gehen oder ein Widerstreit der Scala mit den Intervallverhältnissen sowie mit den auf diese gebauten Harmonieverhältnissen entstehen, die Scala eine übermäßige Quart haben, die Harmonie aber deßungeachtet auf der einfachen Quart bestehen würde. So aber wird durch diese Stellung des Halbtons der erste Abschnitt der Octave ( c—f ) zu einer für sich stehenden, von der zweiten deutlich geschiedenen und zugleich zu einer in sich selbst vollkommen abge- rundeten, die Momente des Anfangs, Fortgangs und Abschlusses in sich vollständig vereinigenden eigenen Periode abgeschlossen, welche eben hiedurch auf die zweite, nach demselben Gesetze gegliederte Periode ( g—c ) vorbereitend hinweist und mit ihr zusammen der Durscala den Charakter eines symme- trisch periodischgegliederten Ganzen verleiht. Einfaches, entschiedenes Vor- wärtsgehen oder Aufsteigen, verbunden mit wohlgefälligen Halt- und Schlußpuncten und schöner Periodicität des Ganzen ist so in Folge der hier angenommenen Stellung der Halbtöne Charakter der Durleiter, um deß willen sie als die natürlichste, heiterkräftige und schlechthin befriedigende Tonfolge erscheint. Auch bei absteigender Bewegung bleibt dieser Charakter, obwohl er in ihr nicht so scharf hervortritt; auch hier schlüpft die Bewegung über die Halbtöne, die ja hier nicht als Hemmung eines Aufstrebens, sondern nur als den Uebergang zu tiefern Tönen vermittelnde und erleich- ternde Zwischenglieder gefühlt werden können, leicht hinweg, und es scheint namentlich darin eine Befriedigung zu liegen, daß durch den Beginn mit der dem Octavton ganz nahe liegenden großen Septime dem Herabgehen sogleich der Typus des Bleibens in der Scala eben dieses Tones, aus welchem sich die Tonbewegung mittelst des Halbtons der Septime gleichsam unmittelbar loswickelt, aufgedrückt wird. Zugleich hat die Durleiter namentlich den Vorzug der großen Terz, des natürlichen, wohlklingenden Mittelglieds zwischen der Prim und den höhern Intervallen. — Ganz anders die Molltonleiter . In ihr wird gerade das Intervall der großen Terz und ebenso das der großen Sext aufgehoben; der hier schon nach der zweiten Stufe und dem entsprechend nach der Dominante (die bleiben muß) eintretende Halbton wirkt hemmend, erschwerend, von der geradlinigen Bewegung ablenkend; nach oben zu fehlt es der Mollbewegung, sofern sie auf die kleine Sext eigentlich die kleine Septime folgen lassen muß, an dem Moment der Zuspitzung und des leichten Schlusses durch die große Septime, sie schließt eigentlich ohne Schluß und damit in so unerträglicher Weise, daß man für die aufsteigende Mollleiter aus der Durleiter die große Septime entweder allein ( as h ) oder zu ihr noch die große Sext ( a h ) entlehnen und so entweder das Prinzip des sprunglosen Fortgangs durch einfache Ganztöne oder den Mollcharakter preisgeben muß, jedenfalls aber nur im Absteigen eine reine Mollleiter zu Tage kommt. Sehr abweichend ist auch die Gestaltung der Octave, die durch die Stellung der Halbtöne in der Molleiter hervorgebracht wird. Die klare, ebenmäßige Gliederung, die scharfe Zweitheilung der Durscala ist verschwunden; die Halbtöne stehen nicht mehr an den natürlichen Halt- und Endpuncten, sie kommen zu früh, sie bilden keine Schlußcäsuren wie in Dur, sie sind nicht mehr Schluß-, sondern blos Bindetöne, welche durch die Bedeutung, mit der sie in der Mollleiter hervortreten, allerdings dieser Scala den Charakter eines weniger scharf gegliederten, stetigern, schleifendern und damit „weichern,“ ebendamit aber etwas vom Verschwommenen und Schleppenden an sich tragenden Fortgangs aufdrücken. Nicht zu verkennen ist übrigens, daß in absteigender Bewegung die Mollleiter doch natürlicher erscheint als in aufsteigender; die absteigende Bewegung fordert weniger Schwung und Fortschritt, daher hier die Mollbewegung weniger fremdartig für unser Gefühl ist, und zudem hat die absteigende Mollleiter den großen Vorzug vor der aufsteigenden, daß der unnatürliche Schluß der letztern nach oben und die ebenso unnatürliche Cor- rection desselben durch Durtöne wegfällt. Neben Dur und Moll lassen sich natürlich auch noch weitere Ton- leitern denken, dergleichen wir im Alterthum und Mittelalter wirklich im Gebrauche finden. Während die sog. ionische mittelalterliche Tonart unser Dur ist, weicht die sog. lydische ( F ) dadurch von ihm ab, daß der erste Halbton der Scala erst vor die Quint fällt ( f g a h c ); diese Stellung hebt die schöne Gliederung der Octave auf, sie gibt zwar der aufsteigenden Leiter den nicht ungefälligen Charakter unaufhaltsam ohne Ruhepunct auf- strebenden Fortschritts, aber sie verunstaltet die absteigende Leiter, macht sie irrationell, indem in dem Halbton zwischen c und h durch die enge Ver- bindung dieser beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante C überschweift (nach demselben Gesetz, wie vorher f e die Leiter F ankündigt) und dann doch wiederum schwerfällig in F zurücksinkt. Das Mixo- lydische ( G ) ist Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn sein Charakter rein festgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton, der namentlich zu einem befriedigenden Schlusse eines ganzen Tonstücks (z. B. fis g ) und ebenso zu präciser Verknüpfung wesentlicher Accorde (z. B. d fis a c, d g h ) unentbehrlich ist, daher schwebende Unbestimmtheit und (wie auch bei den meisten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung der Charakter dieser Tonreihe ist. Während die äolische Weise ( A ) mit unserem absteigenden Moll identisch ist, weicht die dorische ( D ) darin von ihm ab, daß sie zwar die kleine Terz ( f ), aber die große Sext ( h ) und kleine Septime ( c ) hat, also das kräftige Dur und das trübere Moll in sich gewissermaßen vereinigt; die phrygische endlich ( E ) ist das gerade um- gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne ( f, c ) nach der ersten und fünften Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; sie ist das extrem gewordene Moll, sie hat nicht nur dessen Intervalle, kleine Terz und kleine Sext, sondern sie hat vollends ganz den Charakter der Halbton- bewegung, indem die aufsteigende Bewegung gleich mit dieser beginnt und ebenso die absteigende mit ihr ( f e ) schließt, so daß aufwärts die Bewegung gleich von vorn herein bedeutsam gehemmt und zurückgehalten erscheint, ab- wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons ganz besonders schwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un- gewöhnlichen, Bedeutsamen, eines auf die Seele drückenden Geheimnisses, einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen Uebersicht hervor, daß diese Nebenscalen nicht ohne Eigenthümlichkeit sind, die dieselben für den Ausdruck gewisser besonderer Stimmungen und Be- wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher sie auch in der modernen Musik hie und da zur Anwendung kommen; aber sie haben doch unsern Dur- und Molltonweisen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort- gang und Schluß, sie sind größtentheils nicht reiner, sondern gemischter Gattung, sie haben trotz des Bedeutsamen keine klar, weich und gefällig sich gliedernde Tonfolge, sondern aus allen diesen Ursachen etwas Schwebendes, Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an seinem Orte ist, im Ganzen aber diese Tonleitergattungen hinter dem wohl- proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu schweren und düstern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll- kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieser Nebentonleitern nur nachzuweisen, wenn man zugleich auf die Art und Weise näher eingienge, wie sich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrstimmigen Tonstücks nothwendigen Hauptaccorde gestalten; aber der Gegenstand ist zu speziell, als daß er hier behandelt werden könnte. 2. Die chromatische Leiter , die sich in Halbtönen auf- und ab- wärts bewegt, kann der in Ganz- und Halbtönen gehenden, „diatonischen“ gegenüber nur eine Nebenart sein. Sie ist theils zu indifferent, weil in ihr Alles gleich ist und namentlich die Intervallverhältnisse sich ganz verwischen, theils nicht von freier und rüstiger Bewegung; es drängt sich in ihr Alles zusammen, will nicht recht auseinander; es ist eine Linie, die sich fort- während in kleinsten Windungen schlängelt, ohne je auch zu einer einfach decidirten geradausgehenden Bewegung zu kommen; es ist die abstracte Leiter, die das Prinzip der Continuität übertreibt, die nur kleine, gleich zugemessene Schritte machen will. Natürlich kann die chromatische Leiter ebendarum für gewisse Zwecke sehr bezeichnend und wirksam sein. Das einerseits nicht recht von der Stelle wollende, andererseits trotz des erschwerten Fortgangs unauf- haltsam vor sich gehende Fortrücken, Fortdrücken und Fortschieben eignet sich trefflich, ein langsames Austönen einer innigen, von sich selbst nur mit Mühe, mit Bedacht loskommenden Empfindung (so am Schluß des zweiten Satzes des Beethoven’schen Septetts), oder ein gewaltsames, dringliches Hinausstreben zu einem Abschluß, oder ein mächtiges Herandringen eines Affectes, einer Seelenbewegung, auch Verwunderung, die nicht recht von der Stelle kommt, Furcht, die sich nicht zu rühren wagt, auszudrücken (wie z. B. im Sextett des Don Juan das Chromatische in mehrfachen Beziehungen dieser Art angewandt ist). Außerdem aber kann die chroma- tische Leiter, für sich oder mit der diatonischen combinirt, wegen ihrer Klein- theiligkeit auch den mehr formellen Eindruck des Zierlichen, Feinen, des zierlich Fortfließenden und Fortrollenden hervorbringen; nach dieser Seite, als figurirendes, ornamentisches Element, hat sie namentlich für die In- strummentalmusik Bedeutung, welche um der Formenmannigfaltigkeit willen, die ihr Gesetz ist, nicht immer auf die diatonische Leiter oder Melodie sich beschränken kann. Die chromatische Tonleiter ist vollständiger als die diatonische, sie enthält alle überhaupt zur Anwendung kommenden Töne, sie ist das ganz in seine kleinsten Theile zerlegte Tonsystem, das Tonsystem als abstracte, unterschiedslose, aber überall stetig in sich zusammengehaltene, ihre Glieder wie an einer Perlenschnur engst aneinander reihende Tonfolge; darin liegt sowohl ihre Einseitigkeit als ihre Eigenthümlichkeit. §. 772. Der innere Unterschied des Dur und Moll ist so wesentlich, daß jede der beiden Tonweisen eine eigene Art von Tonsystem, ein eigenes Tongeschlecht, begründet. Beide Tongeschlechter haben ihre Berechtigung und charakteristische Bedeutung; aber Dur ist nicht nur das kräftigere und freiere, sondern auch das einfachere, naturgemäßere, einer weit umfassendern Anwendung fähige Tongeschlecht, während Moll in Folge seines gedämpften, gedrückten Charakters den Typus abstracter, rein in sich und in ihre Zustände versenkter Subjectivität repräsentirt und ebendarum selbst eine individuellere, beschränktere Form ist. Der Unterschied von Dur und Moll erstreckt sich natürlich nicht blos auf die Leiter und nicht blos auf die Hauptintervalle in ihrem Nacheinander, sondern auch auf sie in ihrem Zugleich oder auf die Accorde; Moll hat vor Allem, was hier vorausgenommen werden muß, den Grundaccord aller Harmonie, den Dreiklang auf den Grundton der Leiter ( 135 ), deßgleichen den Dreiklang auf der Quart mit der kleinen Terz, so daß schon hiedurch auch der Harmonie des Moll das Gepräge des Zurückgehaltenen, Gedämpften, Herabgestimmten, obwohl damit auch einer gewissen Bedeutsamkeit aufgedrückt wird, die eben in der Verschiebung der Harmonie, in der Abweichung von dem gewöhnlichen und natürlichen Stimmungsausdruck unmittelbar gegeben ist. Dur und Moll sind daher völlig verschiedene Tongeschlechter, so ver- schieden wie Licht und Dämmerung, frohe Kraft und gedrückte Weichheit oder Wehmuth, worüber schon in §. 753 das Genauere ausgesprochen ist. In dem dort Gesagten ist bereits angedeutet, daß Moll nicht gerade blos das Traurige, Weiche, sondern überhaupt das „Verhüllte“ der Stimmung ist, das Versenktsein des Subjects in eine Stimmung, der es sich nicht zu entwinden vermag, durch die es gebunden, an einfach freiem und kräftigem Heraustreten aus sich gehindert ist. Moll repräsentirt das durch irgend etwas in sich zurückgeworfene, nicht frei in die Welt schauende, in sich gekehrte, mit etwas kämpfende Subject; es ist ebendamit abstract subjectiv, es ist nicht das der Objectivität geöffnete, sondern unfrei in sich reflectirte, zurückgedrängte Gefühl, es ist das Gefühl in einseitiger Subjectivität. In Dur klingt nicht von vornherein eine besondere Stimmung an, es ist Gefühl, Erregung überhaupt, die ihren bestimmtern Inhalt erst durch den Charakter des einzelnen Tonwerks erhält; aus Moll aber tönt gleich mit dem ersten Klange dieß Subjective der Stimmung heraus, es sagt uns alsbald, daß wir das Subject vor uns haben als von einer besondern Stimmung befangen, beherrscht, gepreßt, und so tritt denn zugleich über- haupt das Subjective, das Empfinden als solches in Moll spezifisch hervor. Hierin liegt nun sowohl seine Berechtigung als seine untergeordnete Stellung. Die Musik wäre nicht Musik, nicht Kunst der Empfindung, wenn sie nicht auch Mittel hätte, die Empfindung in ihrer Macht über das Ich, das Subject als rein in sich selbst und sein Fühlen versenkt darzustellen; bloßes Dur wäre, wie alles einfach Schöne, zu farblos, zu klar; die helle Färbung fordert als Complement die dunkle, wenn sie nicht eintönig und fade werden will; kurz es muß auch Darstellungen geben, in welchen der einfach leichte, freie Gang der Musik, wie ihn Dur repräsentirt, verstellt, verschoben, erschwert und zurückgehalten wird durch Mollaccorde, Mollintervalle, Moll- tonarten, damit diesem Gegensatze gegenüber das Dur in seiner Natur- wahrheit und schönen Helligkeit wiederum um so bestimmter hervortrete. Auch die dem Moll verwandten Nebentonarten haben daran ihr Recht, auch sie haben in Folge ihrer gedämpften Accorde das Helldunkel, das man auch zu sehen begehrt, um an der Sonnenklarheit des Lichtes nicht zu ermüden. Das Moll tritt mit Recht überall ein, wo es gilt, entweder überhaupt eine beengende, beklemmende Stimmung zu schildern, oder eine sonst in Dur einhergehende Bewegung mit einem Male als gehemmt, zurückgehalten, sich in sich zurückziehend erscheinen zu lassen; in letzterem Falle ist das in Dursätze hineintretende Moll ein Hauptmittel der Musik für Charakteristik besonders im Dramatischen (z. B. in Opernfinale’s, wie das erste in Don Juan, in bewegten Arien), wo ja eben die Hemmungen, das plötzliche Still- und Ansichhalten in Folge eines Hindernisses, einer Angst, Furcht, Vorsicht, ebenso das Umschlagen, das Sichverdüstern und Ernsterwerden der Stimmung eine so große Rolle spielen; oft sind es nur ganz kurze Taktreihen oder Perioden, in welchen Moll wie eine den hellen Himmel plötzlich umnebelnde, alsbald aber wieder zurückweichende Wolke zwischen hineintritt, um das momentane Auftauchen einer tiefer ergreifenden, beängstigenden Empfindung zu veran- schaulichen (so der Gmoll -Accord im ersten Theil des Chors O Isis u. s. w.). Bald ist es die Bangigkeit des Schmerzes, was Moll für sich oder in solchen Zwischensätzen veranschaulicht, bald auch die höchste, herzergreifende Lust, der die gewohnten Ausdrucksmittel nicht mehr genügen (wie in einer Stelle des Duetts aus Fidelio „O namenlose Freude“), oder die sanftere Rührung der Freude (Orest in Iphigenie in Tauris unmittelbar vor dem Schlußchor), oder das Schmachten der Liebe ( Amoll -Duett in Figaro); auch das Fremd- artige, Geisterhafte (das Elfengetrippel in Mendelssohn’s Ouvertüre zum Sommernachtstraum), das Rauhe und Wilde (Gluck’s Scythenchöre, Trink- lied der Soldaten in Gretry’s Richard), das Täppische und Ungelenke (Osmin’s erstes Lied in der Entführung) spricht die Musik mit Recht in Moll als der Tonweise aus, der einmal das Verschleierte, Dumpfe, Schwere eigen ist; und wenn auf anderer Seite die Kirchenmusik für Chöre und Chorale sich des Moll oder seiner Nebentonarten häufig, ja mit Vorliebe bedient, so geschieht auch dieß deswegen, um die Gefühle der Demuth, des gepreßten Herzens, der Ehrfurcht, der ernstdurchdrungenen Freude darin auszudrücken und der Ton- sprache überhaupt tiefere Bedeutsamkeit zu verleihen. Allein etwas Unauf- gelöstes und etwas einseitig Subjectives ist in Moll immer. Es belastet die Seele mit einem Druck, den sie hinwegwünscht wie einen dunkeln Flor, der das Auge an freiem Aufschauen hindert, es läßt unwillkürlich Lösung, Befreiung erwarten, daher nicht ganz ohne Unrecht ältere Componisten Stücke in Moll mit dem Durdreiklang schließen; wir hören lieber Symphonieen, deren Moll Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 57 in einen Satz aus Dur ausgeht, wir verkennen zwar die Wahrheit des Ausdrucks, die Folgerichtigkeit der Durchführung nicht, wenn in Mozart’s Gmoll -Symphonie das Moll auch im Schlußsatze dominirt, aber wir gehen doch nicht ganz befriedigt davon hinweg; wir finden unwillkürlich den in Dur ausgedrückten Ernst oder Schmerz edler, männlicher, weil die Passivität subjectiver Empfindung nicht so stark sich geltend macht, die Empfindung tritt in Moll zu naturalistisch wahr mit ihrer Gepreßtheit und Weichheit hervor, sie ist gleichsam noch nicht zu freier künstlerischer Idealität erhoben. Und darum ist Dur doch das Normaltongeschlecht, Moll nur Ausnahme, nur ein Gegenbild zu Dur, das in der Regel nicht das Vorwiegende sein kann und selbst die religiöse Musik nicht einseitig beherrschen darf. §. 773. 1. Auf jeder Stufe des Tonsystems kann eine nach dem Dur- oder Moll- tongeschlecht gebildete Leiter errichtet werden. Es entsteht so eine Mehrzahl von Leitern, Tonarten , die nicht nur durch den verschiedenen Grundton, sondern auch innerhalb der Octave durch verschiedene Tonhöhe der einzelnen Tonstufen differiren, sofern mit der Verschiebung des Grundtons auch andere Leitertöne in gleichem Verhältnisse verändert, erhöht oder erniedrigt werden müssen, damit die Intervallverhältnisse innerhalb der jedesmaligen neuen Leiter dieselben bleiben. 2. Durch dieses Auseinandergehen in verschiedene Tonarten erhält das Tonsystem einen neuen Zuwachs an concreter Gliederung; unter den einzelnen Tonarten treten nämlich die mannigfaltigsten Verhältnisse näherer oder fernerer Ver- wandtschaft hervor, welche die Grundlage des für die Musik sehr wichtigen Verfahrens der Modulation , der Abwechslung mit Tonarten, abgeben; 3. deßgleichen erhält jede Tonart hauptsächlich durch die Höhe, die sie innerhalb des gesammten Tonsystems einnimmt, einen eigenthümlichen Klangcharakter. 1. Dem allgemeinen Unterschied zwischen Dur und Moll ist unter- und beigeordnet der zwischen den auf den einzelnen Stufen der Tonscala entstehenden Tonarten. Da was die spezielle Musikwissenschaft hierüber lehrt vorausgesetzt werden kann, so sind nur die allgemeinern, für die Composition bedeutenden Momente hervorzuheben. Und zwar zunächst die Entstehungs- und hieraus sich ergebenden Verwandtschaftsverhältnisse der verschiedenen Tonarten. In gewissem Sinne sind natürlich alle, selbst die auf den ent- legensten Stufen aufgebauten Tonarten unter einander verwandt, sofern alle in stetigem Fortgange letzlich aus Einer Tonart, die um einen festen Aus- gangspunct zu haben als „Normaltonart“ angenommen wird, entstehen durch Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Stufen um einen Halbton, die vorgenommen wird, um das Intervallverhältniß (nach Dur oder nach Moll), das durch den neuen Grundton verschoben war, herzustellen. Bleiben wir zunächst bei den Durtonarten stehen, so bilden sich neue Ton- arten einmal durch Fortgang vom Grundton („Tonica“ der Tonart) zur Quint; aus jeder Tonart entsteht, wenn ihre Dominante (Oberquint) als Tonica einer neuen Scala genommen wird, eine zweite Tonart, die nur durch einen einzigen, um eine kleine Secund erhöhten Ton von der ersten verschieden ist, sonst aber noch alle Tonstufen mit ihr gemein hat; so aus der als Normaltonart angenommenen Tonart C die nächstverwandte Ton- art G mit fis, um die große Septime herzustellen u. s. w. Indeß so stetig dieser Uebergang von der einen zur andern Tonart ist, so zeigt sich doch bald, daß jede spätere Tonart immer wenigere Töne mit den frühern gemein hat; unter den Tonarten, die selbst erst auf erhöhten Tönen entstehen ( Fis, Cis u. s. w.), hat nur noch Fis einen Ton ( h ) mit C gemein, ebenso H nur noch 2, E nur noch 3. Ein zweiter Weg, neue Tonarten zu bilden, ist das Herabgehen zur Unterquint (Oberquart), von C zu F, F zu B u. s. f. Auch hier entsteht mit jeder neuen Tonart eine Differenz um einen halben Ton, nur daß hier nicht die Septime um einen Halbton erhöht, sondern die Quart um einen Halbton erniedrigt wird, h zu b u. s. f. Diese letztern Tonarten entstehen somit auf eine ähnliche Weise wie die Molltonarten durch Verkleinerung der Intervalle der Durtonart, und es werden daher auch in der Wissenschaft wie in der Praxis (z. B. beim Spiel auf Streich- instrumenten) die B töne der Dur- mit denen der Molltonarten als voll- kommen identisch angenommen, während die durch Erhöhung entstehenden Töne, die Kreuztöne (und die auf ihnen errichteten Tonarten), wie dieß die Acustik nachweist und auch das Gefühl natürlich findet, streng genommen etwas tiefer liegen als die ihnen entsprechenden B töne (z. B. ais tiefer als b, cis tiefer als des u. s. f.); jene sind dem ursprünglichen Tone (z. B. a ) noch näher liegende, kleine, diese aber in Verhältniß zu ihm große Halb- töne. Bei der jetzigen Einrichtung des Tonsystems verschwindet allerdings wenigstens für die Tasteninstrumente dieser Unterschied vollkommen, weil hier der Einfachheit wegen die Vorkehrung getroffen ist, daß die entsprechen- den B- und Kreuztöne durch eine und dieselbe Taste angeschlagen, durch dieselbe Saite u. s. w. hervorgebracht werden; aber ein Gefühl des Unter- schieds bleibt immer, namentlich bei der Führung der Streichinstrumente und ebenso für die tonbildende Phantasie zurück, ein Gefühl, das z. B. nicht gestattet, Tonarten, die auf dem Klavier ganz identisch sind, wie As und Gis, als wirklich identisch aufzufassen; As bleibt mit F, Es mit C näher verwandt als Gis und Dis. Auch eine andere verwandte Einrichtung des gegenwärtigen Tonsystems schwächt die Unterschiede der Einzeltöne und Tonarten ab, die sog. gleichschwebende Temperatur oder Herabstimmung der Quinten; sie hat den Zweck, eine merkwürdige Differenz der Tonhöhe zu heben, die, wenn 57* die Quintendistanz rein oder voll (d. h. einfach als 2:3) genommen und bei der Stimmung zu Grunde gelegt wird, sich ergibt (indem z. B. bei einer Reihe von zwölf reinen Quinten, die räumlich einer Reihe von sieben Octaven gleichsteht, der oberste Ton dieser Quintenreihe nicht in reinem Octavverhältniß zu dem Tone, mit welchem die beiden Reihen gemein- schaftlich begannen, sondern um etwas höher steht, daher die Quinten und mit ihnen die übrigen Nebenintervalle durch das ganze Tonsystem hindurch etwas kleiner genommen werden, um überall Gleichheit und Octaveneinklang herzustellen); auch diese gleichschwebende Temperatur hat zur Folge, daß die Octav sich in zwölf völlig gleiche Halbtöne zerlegt und so die feinern Unter- schiede zwischen großen und kleinen Halbtönen auf allen so gestimmten In- strumenten verschwinden. Allein ganz können auch hiedurch die ursprüng- lichen Differenzen nicht verwischt werden; im Gesang oder bei der Begleitung der Klaviere durch Streichinstrumente machen sie sich unwillkürlich zum Nach- theil der Tonreinheit geltend, indem auf letztern Terz, Quint u. s. f. dem natürlichen Gefühle gemäß und somit reiner gegriffen werden. Dasselbe ist der Fall mit den Kreuz- und B tönen, und es kann daher der Unterschied der beiderseitigen Tonarten nie ganz verschwinden, die B tonarten bleiben von den andern für den innern musikalischen Sinn stets geschieden, so wenig sie auch in der Praxis überall auseinander gehalten oder von einem weniger feinen Gehör überall sicher unterschieden werden können. Unter den Moll- tonarten finden, wie sich von selbst versteht, dieselben Verwandtschaftsver- hältnisse statt wie unter den Durtonarten; diejenigen, welche unter sich am meisten Töne gemein haben, stehen einander näher als die, bei welchen diese Coincidenz abnimmt. Zwischen Dur- und Molltonarten aber findet ein zweifaches Verwandtschaftsverhältniß statt: Dur- und Molltonarten, die den Grundton mit einander gemein haben, bleiben aller Differenz ungeachtet immer wesentlich verwandt, „Schwestertonarten,“ einmal weil sie dieselbe Lage innerhalb des ganzen Tonsystems haben; sodann differirt die auf- steigende Molltonart von der entsprechenden Durtonart in der Septime oder auch in der Sext nicht, und eine weitere Annäherung ist vorhanden in den Accorden, sofern ein Hauptaccord der Molltonart (z. B. C moll ), der Drei- klang auf der Dominante ( g h d ), identisch ist mit dem der Durtonart; es muß nämlich der Dominantdreiklang der Mollleiter nothwendig die große Terz ( h ) haben, da sonst die hier eben durch sie zu vermittelnde enge Ver- bindung ( h c ) mit dem Accord auf der Tonica c es g (g c es) , eine enge Verbindung, die wegen des stetigen Fortschritts vom einen zum andern durchaus nothwendig ist, verloren gehen würde. „Paralleltonarten“ da- gegen sind die Dur- und Mollleitern, welche, wenigstens in absteigendem Moll, alle Töne gemein haben, wie A moll und C dur, C moll und Es dur; diese Verwandtschaft ist sehr wichtig, sofern sie leichte, schnelle, frappante Uebergänge aus Moll in Dur und zwar in eine sonst auf verschiedener Höhe stehende Durleiter und umgekehrt möglich macht. 2. Die ältere Musik trennte noch nicht zwischen Tongeschlecht, Tonart, Tonleiter; sie stellte ihre Tonweisen als feste Typen neben einander; sie machte jede Stufe der C scala ( h ausgenommen, weil h d f mit seinen zwei kleinen Terzen keinen Drei-, weder Dur- noch Molldreiklang ergibt) zu einer eigenen besondern Tonweise, die Scala spaltete sich für sie in verschiedene Klanggeschlechter, die nur beschränkter Combinationen unter einander fähig waren; doch konnte schon damals jede Tonart auch aufwärts oder abwärts um ein Quartenintervall, z. B. die ionische Tonart ( C ) nach f (hyperionisch) oder g (hypoionisch), ja bereits auch ausnahmsweise auf sonstige Stufen der Leiter willkürlich verlegt werden. Die neuere Musik hat mit Recht alle diese Schranken vollkommen abgeworfen, sie gestattet auf jeder Stufe des Tonsystems auch jedes Tongeschlecht, Dur wie Moll, aufzubauen; die musikalische Bewegung wird hiedurch, sowie durch ein Accordsystem, das die Uebergänge erleichtert und vermannigfaltigt, weit freier und belebter; die Musik kann so nach Belieben Dur und Moll auf höhern oder niedern Tonstufen ertönen lassen und ebenso innerhalb des einzelnen Tonwerks die vielfältigsten Uebergänge, Ausweichungen, „Modulationen“ in nähere oder entferntere, verwandte oder disparate Tonarten des einen oder andern Klanggeschlechts vornehmen; das jetzige Tonsystem erst ist ein ebenso bunt mannigfaltiges als flüssiges Material, dessen Elemente eine nicht zu berech- nende Menge der verschiedenartigsten Abwechslungen und Verschlingungen gestatten, ohne den Künstler durch irgend ein anderes Gesetz als durch das des Wohlklangs sowie der Faßlichkeit, Stetigkeit, Natürlichkeit, Motivirtheit des Fortgangs zu binden. Kurz die freie Auswahl und Gegenüberstellung der Tonarten und ihre Combinirung oder die Modulation ist in der neuern Musik mit Recht in den Vordergrund getreten; an ihr hauptsächlich hat sie ein formelles Element charakteristischer und lebendiger Mannigfaltigkeit er- rungen, das ihr eine Art von Ersatz gewährt für die ihr sonst abgehende concrete Gestaltenfülle. Der Contrast der Tonarten mehrerer Tonsätze und ihr Wechsel innerhalb des einzelnen Tonsatzes ist der Wirkung nach mit nichts besser zu vergleichen als mit einem Contrast und Wechsel von Scenen und Scenerien, die an dem Auge des Zuschauers vorübergehen; die Musik führt uns mit ihrem Tonartenwechsel herum in verschiedenen Regionen des Tonsystems, deren jede uns wieder anders als die vorhergehende anspricht, sie führt uns oft in einfacherem Gange blos von einer Tonart zu einer nächstverwandten, so daß der Wechsel weniger bemerkbar wird, sie versetzt uns aber ebenso leicht mit einem Male oder mittelst Uebergängen, die schnell von der Grundtonart weiter abführen, hinein in Tongänge, welche ganz neu, ja fremdartig klingen, wie eine Episode, die dem Ganzen doch Reiz verleiht, sie kann weiterhin auch die Modulationen in rascher Aufeinander- folge häufen, wie im Sturm uns von einer Tonart in die andere treiben, bis am Ende die Grund- oder nächstverwandte Tonart wieder hervortritt und so der bunte Wechsel wieder zur Ruhe gebracht, die verloren scheinende Einheit des Ganzen mit sich selbst hergestellt wird. In der Mannigfaltigkeit der Gedanken, die Ein größerer Tonsatz umfaßt, sind der Musik ziemlich beschränkende Grenzen gesetzt, da sonst kein einheitliches Kunstwerk, sondern ein Melodieenaggregat entstünde; aber die Modulation gleicht diese Be- schränkung wieder aus, sie läßt die Gedanken in verschiedenen Lagen und dadurch mit verschiedenem Klang- und Stimmungscharakter auftreten, zeigt sie wechselnd in neuen Farben und Stellungen, ganz in dem Maaße und Umfange, wie der Gang und Charakter des einzelnen Tonwerks es fordert. Vielheit der Gedanken und Modulation stehen daher häufig in umgekehrtem Verhältnisse; je mehr diese (und eine mit ihr Hand in Hand gehende variirende Bearbeitung der Gedanken) die Hauptsache ist, desto eher kann ein Tonsatz sich auf wenige Hauptgedanken beschränken, wogegen mannig- faltige Modulation entbehrlicher wird, wenn der Gedankenentwicklung freier Lauf gelassen ist (man vergleiche z. B. die Ouvertüren zu Don Juan, Cosi fan tutte, Titus, welche letztere ein Meisterstück von Modulation ist, mit der zu Figaro, deren sprudelnder Erguß sich viel nach rechts und links zu wenden keine Zeit hat, sondern mit Ausnahme weniger Seitensprünge in dem vereinigten Bette der Haupt- und ihrer Dominantentonart dahineilt). Indeß auch da, wo die Modulation zurücktritt, ist sie von wesent- licher Bedeutung, sobald ein Tonstück sich nicht in ganz engen Grenzen bewegt; sie sondert die verschiedenen Hauptsätze von einander ab, sie macht die Wiederholung derselben, wie sie nothwendig ist, um die Einheit des Gedankens in einem Tonwerk festzuhalten, möglich ohne unisone Einför- migkeit, sie gibt überhaupt der Musik eine Freiheit, eine Möglichkeit der Ausbreitung nach allen Seiten, die namentlich für pathetische, dramatische Tonwerke unentbehrlich ist, und von der nur da kein oder nur ein sehr sparsamer Gebrauch gemacht wird, wo gerade durch Festhalten der Grund- tonart die Beschränkung auf eine einfache Empfindung oder das Verharren einer inniger gefühlten Stimmung in sich selbst veranschaulicht, der Ton- folge der Charakter der Einfachheit oder der an sich haltenden Innigkeit gegeben werden soll (wie z. B. in Liedern und liedartigen Instrumental- sätzen). 3. Die verschiedenen Tonarten geben der Musik ein Element der Mannigfaltigkeit schon dadurch an die Hand, daß jede mehr oder weniger nicht ist was die andere, jede verschiedene Töne und Tonverbindungen (Accorde) hat, welche eben die Ursache davon sind, daß die Abwechslung mit den Tonarten ganz durch sich selbst vermannigfaltigend und hiedurch belebend, reizend u. s. w. wirkt. Allein es ist eine weitere Frage, ob nicht jede Tonart auch eine positive Charaktereigenthümlichkeit habe, welche sie für den Ausdruck einzelner Stimmungen, Empfindungen spezifisch geeignet mache, so daß das Verhältniß der Tonarten nicht allein jenes negative des Unterschiedes wäre, der blos in und mit ihrer contrastirenden Gegenüber- stellung hervortritt, sondern auch ein inneres Verhältniß qualitativer Ver- wandtschaft und Differenz unter ihnen stattfände, etwa wie unter den Farben, worüber §. 249 gehandelt ist. Die musikalischen Theoretiker neuester Zeit verweisen den Glauben an besondere Charaktere der Tonarten in das Gebiet der Täuschung und des Vorurtheils, während ältere Aesthetiker, z. B. Hand, ihn unbedenklich festhielten; man wendet gegen ihn hauptsächlich dieß ein, daß seit Einführung der gleichschwebenden Temperatur sich über jedem Tone unseres Tonsystems eine absolut gleiche Stufenfolge erhebe und folglich von einem Klangunterschied zwischen den Tonarten, entsprechend dem zwischen den Tongeschlechtern, absolut keine Rede sein, sondern blos die verschiedene Höhe der Lage des Grundtons und damit der Tonart überhaupt von Einfluß auf ihren Klangcharakter sein könne; alle übrigen Unterschiede, die man wahrzunehmen glaube, kommen darauf zurück, daß das Ohr durch die herrschende Orchesterstimmung und Klaviereinrichtung C dur als Grundtonart und damit als den Ausdruck des Einfachen und entschieden Klaren und Kräftigen zu betrachten sich gewöhnt habe und nun von hier aus jede andere Tonart um so mehr sich von jenem Charakter zu entfernen und vielmehr dem Ausdruck aller gegentheiligen Empfindungen sich darzubieten scheine, je fremder ihre harmonischen Verhältnisse denjenigen der Cdur -Harmonieen sind (so Zamminer , die Musik in ihrer Beziehung zur Acustik S. 153). Andererseits wird durch den seit Jahrhunderten constanten Gebrauch einzelner Tonarten für gewisse musikalische Stimmungs- und Ausdrucksweisen der Gedanke doch immer nahe gelegt, ob nicht an der Lehre von den Tonarten- charakteren irgend etwas wahr sein möge, wenn auch natürlich nicht in der Weise, daß eine Tonart heiter, eine zweite traurig, eine dritte ausgelassen, eine vierte verzweiflungsvoll sei — denn bei solchen Behauptungen trägt man die Charaktere gewisser Tonstücke auf ihre Tonarten über und ist mit- hin allerdings in völliger Selbsttäuschung befangen, — wohl aber etwa so, daß die Annahme einer Grundtonart und ebendamit die Vorstellung von bestimmten Klangcharakteren der ihr ferner stehenden Tonarten keineswegs Zufall sei, sondern wirkliche objective Gründe habe. Als selbstverständlich ist von Allen zugegeben, daß es für ein Tonstück nicht gleichgültig sein kann, auf welchem Tone der Scala es aufgebaut wird. Jedes Stück durchläuft sowohl mit seinen Melodieen als mit den begleiten- den Harmonieen eine Reihe von Stufen, Intervallen, Regionen des Ton- systems, seine melodischen und harmonischen Fortgänge kommen je nach Umständen bald in diese bald in jene Tonlage, sie breiten sich mehr oder weniger in die Tiefe und Höhe aus, und da ist es nun gar nicht gleich, welchen Raum aus dem allgemeinen Tonsysteme das Stück, seinem Haupt- gange und seinen Haupttheilen nach betrachtet, gleichsam herausschneidet, welche Gebiete es vorzugsweise betritt, wie weit hinab oder hinauf seine einzelnen melodischen Perioden, seine tiefern, mittlern und höhern Accorde zu liegen kommen; ein Tonstück aus C hat alle seine Lagen um einige Stufen höher oder tiefer als eines aus G ; in einem nach G transponirten Stück dieser Art werden Sätze und Accorde in sehr verschiedene Tonlagen kommen, und es werden so beide durch diese verschiedenen Positionen das eine Mal einen tiefern, schwerern, dumpfern, das andere Mal einen höhern, leichtern, schärfern Klangcharakter erhalten. Auch wird ein Tonstück je nach seiner Anlage von dieser Tonstufe, z. B. von C aus, sich freier nach beiden Seiten hin bewegen können, als etwa von G aus, indem der tiefste und höchste deutlich vernehmliche und daher musikalisch brauchbare Ton der Gesammtscala eben das sog. C nebst seinen Octaven (16 u. s. w. Schwin- gungen) ist; doch ist dieser Punct von untergeordneter Wichtigkeit, da die Ausbreitung nach den weitesten Grenzen des Oben und Unten immer nur Ausnahme ist. Allein dieß ist gewiß, daß die gewöhnlich gebrauchten, d. h. die besonders durch den Umfang der Menschenstimmen als normal vorge- schriebenen Baß-, Tenor-, Alt- und Sopranlagen in jeder Tonart einen eigenthümlichen Charakter und Klang haben, weil sie in jeder etwas höher oder tiefer liegen. Namentlich gilt dieß von den eigentlichen Mittel- lagen (in den mittlern Octaven des Tonsystems). Ein Stück oder ein Satz bewegt sich stets und so auch in der Mittellage um seinen Grundton herum ; bei jeder Tonart aber steht der Grundton höher oder tiefer; ein Variationenthema in der Mittellage von A (d. h. aus dem A der dritten Violinsaite gehend) lautet daher gleich anders als eines in der Mittellage von C (d. h. aus dem nächsthöhern C gehend); beide sind nur um eine kleine Terz von einander entfernt, aber das aus C gehende ist immer höher, leichter, heller als das andere, obwohl es mit wenigen Ausnahmen in der Mitte bleiben wird. Setzen wir beide um eine Octave herab, so nimmt das aus A gehende bereits einen ziemlich tiefen Ton an, das aus C weit weniger, jenes ist schon mehr Alt, dieses weit mehr noch Sopran (dessen gewöhnliche Untergrenze bei der Menschenstimme eben das hier gemeinte C ist); ja es scheint hier sogar das Resultat sich zu ergeben, daß C (was freilich dann auch H und Cis ziemlich gleich zu gute kommt) für Tonstücke, die nun einmal eine Mittellage einnehmen wollen, einen größern Raum gewährt als A oder G u. s. w., was von großer Bedeutung wäre, da auch in größern Tonstücken die Mittellage als Gegensatz gegen die Extreme zu beiden Seiten, als Region des Hellen und doch noch Vollen, Kräftigen und Runden immer eine Hauptregion bleibt . Wir stellen diesen Satz, daß C nebst seinen Nachbartönen sozusagen die beste Mittellage und damit einen Vorzug in Bezug auf Helle und ruhige Tonkraft habe, daß es zwei Octaventöne besitze, die der Mittellage angehören, einen untern immer noch hellen und einen obern immer noch nicht zu scharfen und spitzen, während z. B. F, G, A sie schon nicht mehr so haben, nicht als Behaup- tung, sondern als ein Ergebniß hin, das sich vielleicht auch Andern bestätigt; wir können auch die weitere Vermuthung nicht unterdrücken, ob nicht über- haupt C von Natur schon in einem freilich nicht näher zu erforschenden spezifischen Verhältniß zu unserer Gehörorganisation stehe, indem etwa der Factor seiner Schwingungsgeschwindigkeit dieselbe in besonderer Weise an- spräche, so daß die Erwählung von C zur Grundtonart nicht so zufällig wäre als es den Anschein hat. Es ist zwar natürlich und an einzelnen Beispielen sicher erwiesen, daß nicht alle Instrumente, Orchester, Stimm- gabeln das gleiche C haben, indem z. B. bei französischen und deutschen Theaterorchestern der gebräuchliche Normalton A zwischen 428 und 442 Schwingungen schwankt (Zamminer S. 13), aber es würde durch solche Schwankungen an jenem Factor nur wenig verändert, und der Umstand, daß gerade C den ersten faßlichen Tiefton gibt, ist doch vielleicht nicht ohne Bedeutung. Ja es wäre sogar nicht undenkbar, daß die Grundtonart selbst einem gewissen Schwanken, namentlich einer Inklination höher hinauf zu rücken unterläge, indem es z. B. wohl möglich ist, daß ein Zeitalter mehr gedämpfte, ein anderes schärfere und höhere Töne haben will, wie ver- schiedene Zeiten auch in Bezug auf ihre Anforderungen an kräftigen, energischen Farbenton unter einander differiren; jenes hypothetisch ange- nommene spezifische Verhältniß des C zur Gehörorganisation würde so zwar um etwas alterirt, aber es würde auch da noch die letzte Grundlage für die Bevorzugung der C tonart bilden. — Von diesen Voraussetzungen aus würde sich der verschiedene Charakter der Tonarten so bestimmen: die einen sind in der Lage C benachbart und theilen seine Einfachheit, Kraft und Helligkeit; bei B verschwände die letztere schon, träte aber bei H Cis (Des), D noch hervor, während andererseits die beiden erstern für das Gefühl etwas Fremdartigeres und damit Bedeutsameres hätten, weil sie in ihren Einzel- tönen von C so ganz differiren. Es und E stehen schon höher und haben daher in der Mittellage der beiden mittlern Octaven (oberhalb und unter- halb des Violin A ) einen hellern, aber weniger kräftigen Klang, den z. B. das unterste Sopran C durch seine und falls es begleitet ist durch seiner Accorde größere Tiefe hat; diese Einbuße an Kraft nähme zu bei den Ton- arten F bis A, da diese, wenn sie in der Mittellage bleiben wollen, noch weniger als Es und E herabgehen können, und da sie ebendamit innerhalb der Sopranregion stets höher stehen als das unterste Sopran C, ohne doch andererseiss wie C auch noch eine zweite immer noch tiefere Sopranlage ( C über dem Violin A ) einnehmen zu können. Andererseits wären jedoch, dem allgemeinen Gefühl entsprechend, F und G der Grundtonart auch wieder näher verwandt durch die vielen Töne, die sie mit ihr gemein haben, während A und As nach dieser Seite an E und Es, Fis an H sich näher anschlössen. Weiter in’s Einzelne können die Differenzen nicht verfolgt werden; es wäre durch das hier Bemerkte bereits hinlänglich erklärt, warum C einfach, natürlich, kräftig, G einfach und natürlich ohne Kraft, D wiederum energisch und klangvoll, aber C schon unähnlicher, A leicht und weich, E weich, aber noch gewichtiger und bereits weniger gewöhnlich, H kräftig, aber ungewöhnlich und damit bedeutsam, F mit G aber auch mit E verwandt und daher sanft ohne leer zu sein, B dumpfer als C , aber an F in Weichheit anklingend, Es weich und gehaltvoll, aber noch natür- licher ( C noch ähnlicher) als E, As weich wie G, aber in ähnlicher Art wie E weniger gewöhnlich erscheint. Die Instrumente bringen freilich noch weitere Unterschiede hinzu und entscheiden damit häufig über die Wahl des Componisten unter den Tonarten; auf Saiteninstrumenten ist E dur be- sonders klangvoll, die Blechinstrumente klingen um so glänzender, je höher ihre Stimmung ist, z. B. in D und E dur, wogegen z. B. in B ihr Klang ernster ist; auf dem Klavier bringen die Obertasten eine etwas andere Wirkung hervor als die übrigen, so daß an der hiemit entstehenden ver- schiedenen Klangfarbe der Tonarten dieses Instrument gewissermaßen einen Ersatz hat für die ihm sonst fehlende Tonmannigfaltigkeit. Der eigenthüm- liche Klang einer Tonart (besonders des Dreiklangs auf der Tonica) in den mittlern Lagen, wie derselbe bedingt ist durch die Höhe der Scala, und die größere oder kleinere Verwandtschaft mit der C tonart ist es somit, was den Tonartencharakteren zu Grund zu liegen scheint; was sich aus diesen zwei Verhältnissen nicht ergibt, ist allerdings bloßes Vorurtheil. Die Mollton- arten theilen natürlich den Charakter ihrer Schwester- und Paralleltonarten, daher z. B. C moll sich kräftiger anläßt als G moll; aber spezieller hierauf einzugehen wäre überflüssig. — Mit den Ansichten Zamminer ’s (a. a. O.) kommt das Bisherige überein, nur daß wir auf die Tonhöhe mindestens gleiches Gewicht, wie auf das Verhältniß zur C tonart legen, und daß wir den normalen Charakter der letztern für bloßen Zufall zu halten uns nicht entschließen können. Wenn früher in §. 752 gesagt ist: „da die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, so wird in diesen dunkeln Vor- gängen (die eben den Charakter der Einzelstimmung bedingen) auch etwas sein, was der Tonart entspricht, eine Neigung sich auf einer bestimmten Vibrationshöhe der Seele festzusetzen, sie zur Basis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf sie zurückzutreten,“ so ist auch dort auf die Tonhöhe der Hauptnachdruck gelegt; jede Stimmung wird gewiß zunächst auf diejenige Tonart verfallen, deren durch ihre Höhe bestimmter (in den Mittellagen am klarsten hervortretender) Klangcharakter ihr un- mittelbar entspricht. §. 774. Töne des Gesammttonsystems können nicht blos nach einander, sondern auch zu gleicher Zeit erklingen; durch diese Gleichzeitigkeit kommt in das Tonmaterial ein neues, obwohl in den Intervallverhältnissen (§. 770) bereits vorgebildetes Moment, das der Einstimmung und Nichteinstimmung, Harmonie und Disharmonie . Das Zusammenklingen einer Mehrheit verschiedener Töne kann je nach den Intervallverhältnissen, in welchen sie stehen, entweder völlig befriedigen, oder Gehör und Gefühl unbedingt verletzen, oder auch den nicht verletzenden, sondern nur beunruhigenden Eindruck eines Zusammengefaßtseins sich nicht zusammenreimender Töne in Eins und damit einer Spannung unter ihnen hervorbringen, welche einerseits auf das Gefühl selbst spannend, auf- regend und in dieser Beziehung nicht mißfällig (vielmehr interessirend) wirkt, andererseits aber doch gebieterisch eine Wiederaufhebung oder Lösung verlangt. Unter diesen drei Fällen kann der zweite, der Mißklang, die schlechthinige Dissonanz, nur als kurzes, rasch verklingendes, jedoch auch sehr wirksames Durchgangsmoment gebraucht werden. In den beiden andern ist ein Zusammen- klang zusammenhörbarer Töne, ein Accord, im ersten ein einfach consonirender, im zweiten ein dissonirender, gegeben; beide begreifen unter sich verschiedene Unterarten von charakteristischer Wirkung und Bedeutung für die Tonver- knüpfung. Ein Verhältniß des Zusammenklangs und zwar der Einstimmigkeit kam uns schon bei der Octave vor, und eben dort wurde auch darauf hin- gedeutet, daß Intervalle, wie 1 3 5, 1 4 6 wohltönende Zusammenklänge oder Accorde geben, wie die Octave einen das Gefühl befriedigenden Ein- klang ergibt. Streng genommen sind jedoch Zusammenklang und Accord nicht ganz identisch, indem ein Zweiklang, 1 und 3, 1 und 5 gewöhn- lich noch nicht Accord genannt wird; zum Accord gehört eine Mehrheit von Tönen, er ist erst da, wo beide Momente, das der Einheit und das der Mannigfaltigkeit, vollständig vertreten sind und eben aus der Mannig- faltigkeit Einheit heraustönt; ein Accord ist immer schon ein Tonganzes, er gewährt die Befriedigung eben eines aus einem größern Ganzen sich ergebenden, concreten Zusammenklanges. Aber die Elemente des Accords sind zunächst allerdings eben consonirende Intervalle, und das Accordver- hältniß beruht daher schließlich ganz auf denselben Momenten, in welchen die §. 769 besprochenen Intervallbeziehungen ihre Ursachen haben. Nur Eine Ausnahme findet statt; das Secund- und das Septimenintervall begründen, so befriedigend namentlich das erste als Intervall an sich, als Nacheinander der beiden Töne ist, keine Consonanz, sondern mehr oder weniger starke Dissonanzen, die stärkste die kleine Secund, schon geringere die große Secund und große Septime, die geringste die kleine Septime. Bei der großen Wichtigkeit der Consonanz und Dissonanz für die Musik verlohnt es sich, ihren physikalischen Bedingungen wo möglich auf den Grund zu sehen, und zu diesem Behufe zunächst das bloße Zusammenklingen der Hauptintervalle, aus welchem dann weiterhin die Accorde sich bilden, in Betracht zu ziehen, wobei sich zugleich wieder zeigen wird, daß auch hier Bewegungsverhältnisse, Rhythmen es sind, was über Consonanz uud Dissonanz entscheidet. Die Octav macht den wohlthuenden, aber abstracten, leerlassenden Eindruck absoluten Zusammenstimmens eines höhern und tiefern, schärfern und weniger scharfen Tones. Da nämlich hier immer 2 Schwingungen des obern Tones auf 1 des untern kommen, so ist das Verhältniß dieß, daß 1) die Schwingungen beider möglichst oft mit einander coincidiren , indem nur 1 Plusschwingung des obern Tons zwischen 2 Coincidenzen der beiderseitigen Vibrationen hineinfällt, und daß ebenso 2) beide Töne ganz nach demselben Gesetz, ganz regelmäßig schwingen, indem der eine gerade um’s Doppelte so stark schwingt als der andere; der obere folgt der Schwingungsschnelligkeit des untern, der untere gibt die Schwingungs- schnelligkeit auch für die Schwingungen des obern an, schließt diese bereits ganz in sich, und die Plusschwingungen des obern fallen genau in die Mitte zwischen die coincidirenden Schwingungen (wie im \frac{4}{4} Takt 2 in die Mitte von 1 und 3). Das Ohr fühlt daher einerseits in wohlthuender Deutlichkeit nach oben zu eine um’s Doppelte beschleunigte oder geschärfte Erregung, aber es empfängt andererseits auch den Eindruck 1) absoluter Congruenz und 2) absolut regelmäßiger Bewegung, und dieser Eindruck ist theils abstract und leer wegen der fast bis an Identität reichenden Con- gruenz, theils auch wiederum wohlthuend, sofern Congruenz und nicht minder die Regelmäßigkeit auf das menschliche Gefühl, vielleicht auch schon auf das physische Sensorium, doch stets ansprechend und befriedigend ein- wirkt. Bei der Quint kommen 2 untere Schwingungen auf 3 obere; hier also tritt 1) die Coincidenz erst ein nach der dritten der obern Schwingungen, d. h. schon nicht so oft (im Verhältniß zu der Gesammtzahl aller Vibrationen), wie bei der Octave, es sind hier schon mehr nicht coincidirende Schwingungen beiderseits vorhanden; und 2) sind die auf die Coincidenzmomente folgenden obern Schwingungen nicht mehr in jenem einfach regelmäßigen Verhältniß zu den entsprechenden untern, beide treffen nicht mehr sozusagen gleichmomentig zusammen, sondern sind nur im Allgemeinen gleichzeitig, sie verschieben sich gegen einander (wie Achtelstriolen gegen Achtel sich verschieben). Darum findet sich das Gehör hier in verschiedenartiger Weise erregt, es wird nach zwei incongruenten Bewegungen hin gleichsam auseinandergezogen; durch das baldige Wiedereintreten der Coincidenz wird jedoch diese Incongruenz immer wieder zur Congruenz aufgehoben, und auch in der Incongruenz selbst, wie sie hier ist, liegt nichts Verletzendes, die beiden Bewegungen sind ja einerseits so verschieden von einander, daß sie ein klares und darum an- sprechendes Gefühl zweier geschiedener Tonerregungen geben, und sie passen andererseits auch wieder zu einander, indem die obere Bewegung 1 ½mal so schnell ist als die untere, was immer noch ähnlich wie bei der Octav ein sehr einfaches, regelrechtes, harmonirendes, in seiner steten Wiederkehr Seele und Nerv wohlthuend ansprechendes Verhältniß ist. Aehnlich ist es bei der Terz , nur daß hier mehr als bei der Quint wohlthuender Ein- druck der Congruenz stattfindet. Bei der Terz tritt die Coincidenz allerdings erst ein nach 4 Schwingungen des untern Tones oder nach 5 des obern, und so empfängt auch hier das Ohr den Eindruck wesentlich verschiedener und auf verschiedene Momente fallender Bewegungen, es wird getheilt, (distrahirt) zwischen einer 4- und einer 5momentigen, zwischen einer langsamern untern und einer 1 ¼mal schnellern (schärfern) obern Bewegung. Aber diese Verschiedenheit ist wohlthuend, weil sie immer noch den Eindruck eines Unterschiedenen und noch nicht den des Verworrenen gibt; sie gewährt zwar keinen so distincten Eindruck der Verschiedenheit wie die Quint, aber nach anderer Seite hin doch mehr Befriedigung; die 5theilige Bewegung liegt der 4theiligen noch näher als die 3theilige der 2theiligen, so daß mit- hin das befriedigende Gefühl im Unterschiede doch etwas eng Verwandtes, etwas ganz nahe Zusammenpassendes, zwischen dem keine Lücke mehr ist, zu haben sich stärker als dort einstellt; es ist dieß der „concrete“ Charakter des Terzklangs im Gegensatz zu dem immer noch abstracten Quintenklang (S. 862). Bei der Quart findet die Eigenthümlichkeit statt, daß die obere Bewegungszahl eine gerade (4), die untere eine ungerade (3) ist. Vermöge innerer Nothwendigkeit fühlt sich das Gehör hier zu der geraden (obern) als der regelrechtern stärker hingezogen, und daher eben, daß bei der Quart der obere Ton als Hauptton gefühlt wird, kommt es wohl, daß die Quart uns gefällt und natürlich erscheint nicht als (untergeordnetes) Intervall innerhalb der Octave (wo wir ja 3 und 5 vorziehen), sondern (S. 863) als untenliegende Dominante, als untere zum Grundtone (dessen Quint sie innerhalb der Octave ist) hinaufweisende Quart; hier haben wir den Grund des gebieterischen Hinaufweisens der Dominante zum über ihr liegenden Grundton, das weit stärker ist als sein Hinaufweisen zu ihr, wenn sie über ihm liegt, und damit zugleich auch den Grund des (erst hier seine Erklärung findenden) Wohlgefallens am Abschließen eines Tonstücks mit schnellem wiederholtem Wechsel zwischen unterer Quint und Grundton, sei es nun blos im Basse oder in der Melodie selbst; ein solches Aufundab dieser beiden Töne wirkt ebenso belebend, aufregend, sofern es ein Hinundherhüpfen zwischen schon entferntern Tönen ist, als auch wiederum bewegung-abschließend, ausathmend, indem in dieser Figur die bisherige mannigfaltigst concrete Bewegung des Tonstücks sich ver- einfacht zu einer Bewegung, in welcher nur noch der Alles abschließende Grundton selber mit seiner ihn immer wieder fordernden Dominante sozu- sagen einen kurzen Wechseltanz ausführt, um sodann endlich wie alle andern Töne auch sie zu verabschieden und allein als Schlußnote des Ganzen stehen zu bleiben. — Ganz anders verhält sich nun aber dieß Alles bei der Secund . Beim großen Ganzton tritt die Coincidenz erst ein nach der achten Schwingung des untern, nach der neunten des obern (beim kleinen Ganzton erst nach \frac{10}{9} , beim Halbton erst nach \frac{16}{15} Schwingungen), und die zwischeninneliegenden Schwingungen beider Töne treten zudem alle in verschiedene Zeitmomente auseinander — dieß Beides gibt den Eindruck eines wesentlich verschiedenen Tones; — aber zugleich sind nun die beider- seitigen Vibrationen wiederum so wenig verschieden, d. h. die Zeitmomente der nicht coincidirenden Erzitterungen liegen einander so außerordentlich nahe (indem die obere Vibration von der untern nur um ⅑, ⅒, \frac{1}{16} differirt und zwar in einer schon an sich selbst außerordentlich schnellen Erregung), und sie wechseln ihre Zeitstellungen zu einander in so außerordentlich kleinen Unterschieden, daß neben der distincten Empfindung der Verschiedenheit beider Bewegungen doch der Eindruck einer complicirten Verworrenheit, eines Hinundhergezerrtwerdens zwischen zwei verschiedenen und doch stets in ein- ander überfließenden Erregungen, der peinliche Wechsel zwischen Streben nach Scheidung der beiden Töne und Unvermögen diese Scheidung zu haben ent- steht. So macht denn das gleichzeitige Vernehmen von Nachbartönen den Eindruck des Zusammengedrängtseins zweier heterogener und darum absolut auseinanderstrebender Kräfte auf Einen Punct; es ist der Eindruck des ab- soluten Widerspruchs, verletzender noch als eine Disharmonie der Farben, beklemmend und zerreißend wie ein physischer Schmerz, und daher mit der schlechthinigen, spannenden Erwartung alsbaldiger Wiederaufhebung des Widerspruchs verbunden. Am stärksten ist hier die Dissonanz natürlich bei der kleinen, schon schwächer bei der großen Secund. Das Verhältniß der Schwingungen der Septime ist dem der Secund verwandt; es ist gleich- falls sehr complicirt, weil es sich bereits dem Octavenrhythmus nähert, ohne ihn doch zu erreichen; der Eindruck ist daher hier ein ähnlicher, man hat auch hier das Gefühl des Vereintseins heterogener Töne; die Septime ist gewissermaßen selbst nur eine umgekehrte und auseinander gerückte Secund, da ihre Töne, wenn man der Prim ihre gleichlautende Octave substituirt, im Secundenverhältniß zu einander stehen. Aber bei der großen Septime (8:15) ist der Eindruck der Dissonanz dadurch etwas minder verletzend, daß wegen der großen Verschiedenheit der Geschwindigkeit der beiderseitigen Bewegungen doch ein weniger verworrener, vielmehr ein neben dem sehr distincter Eindruck der Tonverschiedenheit und zugleich ein Gefühl des nur noch kleinen Unterschiedes der obern Bewegung von derjenigen, welche den Octaveinklang herstellen würde (16), vorhanden ist (was bei der Secund fehlt); durch dieses Gefühl kommt die Empfindung des absoluten Hin- getriebenwerdens zum Octaveinklang und damit das Vorgefühl leichter baldiger Auflösung der Dissonanz in die absoluteste Consonanz herein, so daß der Zusammenklang schon nicht blos zerreißend und entzweiend, sondern spezifisch spannend, forttreibend und daher mehr beunruhigend als verletzend wirkt. Noch mehr ist dieß der Fall bei der kleinen Septime (9:16 oder 5:9). Hier ist gleichfalls, wenn auch weniger als bei der großen, das Gefühl weiter Entfernung oder deutlicher Unterscheidbarkeit der Töne, das Gefühl in die höchste innerhalb der Octave mögliche Region hinauf- gehoben zu sein, vorhanden; aber die beiden Bewegungen sind in ihrem Zusammensein doch weniger verworren (wie sie es bei der großen Secund weniger sind als bei der kleinen), sie treten mehr auseinander und streben daher auch weniger auseinander, und da zugleich die weite Entfernung oder der große Bewegungsunterschied die Empfindung des zu nahe Zusam- mengehörens auch wiederum mindert, so ist hier gar kein eigentlicher, klar bewußter Dissonanzeindruck mehr vorhanden, sondern ein diesem Septimen- zusammenklang eben seinen eigenthümlichen Charakter und Reiz verleihendes Gefühl einer dunkeln Unaufgelöstheit, einer weichern Spannung, einer allerdings zu weit hinaufgreifenden, aber gar nicht ungefälligen Hebung. Das nächste consonirende Intervall, zu welchem die kleine Septime hin- treibt, ist die blos um einen Halbton entfernte große Sext , das höchste nicht dissonirende Intervall (3:5), das, wenn es für sich allein mit der Prim zusammenklingt, einen ähnlichen Eindruck des Leeren und Hohlen, jedoch zugleich mehr des Weiten und Gehobenen, gibt, wie die Quint, und daher gleichfalls für die Harmonie von Wichtigkeit ist. Daß kleine Terz und Sext weniger rein und hell klingen, bedarf nach Früherem keiner weitern Erläuterung mehr. Auf der Grundlage der so eben betrachteten Zusammenklänge der In- tervalle erhebt sich das reiche und doch einfache System der Accorde. Die Bedingung des eigentlichen Accords ist, daß er nicht etwa blos aus Grund- ton Quint und Quart, Sext, Septime bestehe, sondern mindestens Ein weiterer ergänzender Ton hinzutrete, ohne daß dieser jedoch gerade räumlich zwischen Grundton einer-, Quint u. s. w. andererseits stehen müßte. Der Accord muß mindestens Dreiklang sein, damit die unbefriedigende Leere, welche (mit Einer nachher zu erwähnenden Ausnahme) der bloße Zweiklang besonders größerer Intervalle an sich hat, wieder aufgehoben, ein voller und enger Tonzusammenhang hergestellt werde. Der Sinn für Harmonie entwickelt sich zwar sowohl in der Geschichte als bei einzelnen Individuen in der Regel erst später, weil es leichter ist, dem einfachen Gange einer Scale oder Melodie Schritt vor Schritt nachzufolgen, als zumal erklingende Töne ebenso zu unterscheiden wie in der Unterscheidung zugleich wieder als Eins zu hören, wie überhaupt das Vorstellen einzelner Dinge leichter ist als das Zusammenschauen coexistenter Mannigfaltigkeit, und in Folge dieser langsamern Entwicklung des Sinnes für Harmonie kommt es allerdings, z. B. in der mittelalterlichen Musik und im Volksgesange vor, daß eine Melodie blos mit Quinten, Quarten, Terzen in einförmigem Gange be- gleitet und schon darin eine gewisse Befriedigung des Bedürfnisses nach Harmonie gefunden wird; aber es ist dieses eine Stufe unreifer Entwicklung, die gegen die Naturgemäßheit und gegen den Vorzug vollerer Harmonieen nichts beweisen kann. Genauer betrachtet besteht der consonirende Accord aus zwei unmittelbar neben einander liegenden Terzen, und zwar normaler Weise aus einer großen und kleinen, c e, e g, oder muß er sich doch darauf zurückführen lassen, wie dieß z. B. bei e c g, g c e, g e c der Fall ist, oder der consonirende Accord ist im Prinzip nichts Anderes als Tonica und Quint mit dazwischenliegender Terz. Im dissonirenden Accord dagegen, im Septimenaccord ( g h d f ) und ebenso im Nonenaccord ( g h d f a ), steckt dem früher über die Septime Bemerkten zufolge, obwohl er auch aus Terzen aufgebaut scheint, doch ein Secundverhältniß, im letztern sogar ein doppeltes, da der Grundton, in der Octave genommen, obere Secund des Septimen- tons und untere Secund der None ist, und dieses Secundverhältniß, um deß willen diese Accorde eben dissonirende sind, tritt in den sog. Umkehrungen des Septimenaccords, nämlich im sog. Secundaccord ( f g h d ), Terzquart- accord ( d f g h ) und Quintsextaccord ( h d f g ), geradezu hervor und gibt diesen Umkehrungen bereits einen weniger gefälligen, etwas dumpfern und härtern Charakter; beim Septimenaccord mit großer Septime und beim Nonenaccord kann der Aufbau in Terzen ohnedieß weit weniger leicht verlassen werden, damit nicht z. B. bei letzterem 3 Nachbartöne ( a g h ) unmittelbar neben einander kommen und so eine gräuliche Dissonanz ent- stehe. Bei den consonirenden Accorden ist die Terz das vermittelnde Glied, welches die Leere ausfüllt; bei den dissonirenden dagegen ist der Aufbau in Terzen das auseinanderhaltende Moment, das die Secundtöne trennt, damit sie nicht zu stark dissoniren. Die Terz selbst aber bedarf den Hinzu- tritt eines dritten Klanges nicht nothwendig; Tonica, Terz und Octave tönen schon für sich allein zwar nicht klangreich, aber doch befriedigend, indem durch das Hinzutreten der Octave dem schon für sich wohllautenden Terzzweiklang, dem nur nach oben eine abschließende Abrundung fehlt, dieser Abschluß in hinreichender Weise zu Theil wird; es scheint diese Eigenthümlichkeit der Terz eine Anomalie zu sein, aber sie beweist vielmehr das vorhin und schon früher Ausgesprochene, daß die Terz wegen der kleinern Distanz ihrer Töne das ist, was die volllautende Harmonie oder den Accord bedingt. Dieser eigenthümliche Charakter der Terz zeigt sich dann auch darin, daß im Septimenaccord ( g h d f ) eine Terz, d, h, wegfallen kann, ohne daß er aufhörte Accord zu sein; die eine überbleibende Terz läßt auch hier keine Leere empfinden. Das Gesetz, daß in einem Zusammenklang keine Leere sein darf, wenn er ein Accord sein soll, schließt aber auf der andern Seite eine Anwendung weiterer Intervalle in der Harmonie nicht aus; die weite Lage der Accordtöne, z. B. e c g, c g e, g e c, e c g c u. s. w. kann vielmehr, theils wenn diese Accorde eine über ihnen liegende Melodie begleiten, theils auch wenn sie allein auftreten, von sehr treffender Wirkung sein, durch die Helligkeit und Klarheit, welche durch diese Auseinanderhaltung der zusam- mengehörenden Töne entsteht, oder durch den Ausdruck des Umfassenden, Großartigen, der eben dadurch hervorgebracht wird, daß wenige Töne einen weiten Raum des Tongebiets umspannen; ja selbst die bei dieser Lage noch bleibende, freilich nur relative Leere kann zu diesem Eindruck des Bedeut- samen mitwirken. Nach ihrem Charakter und ihrer Bedeutung innerhalb eines sich fort- bewegenden Tonganzen unterscheiden sich die Accorde nicht blos in consonirende und dissonirende, sondern zugleich einestheils in selbständige und sich selbstgenügende, anderntheils in unselbständige , überleitende, Uebergang und Auflösung in andere Harmonieen postulirende Accorde, welche letztern wiederum in verschiedenen, theils nähern, theils entferntern Verwandtschafts- verhältnissen zu den erstgenannten stehen. Selbständig sind die sogen. Dur- oder Molldreiklänge , c e (es) g; jedoch haben sie, wie dieses eigentlich schon mit dem §. 770 über den Schluß mit Terz und Quint Bemerkten gesagt ist, diese Eigenschaft nur, wenn die Octave der Tonica hinzutritt. Wie der Fortgang durch die Intervalle der Prim, Terz, Quint, Octav sich selbst genügender concreter Wohllaut ist, so auch ihr Zusammenklang; er wird für sich mit Befriedigung vernommen, er ist der einfachste Anfang und der einzige, ein Tonganzes wirklich abrundende und zu wirklichem Ende bringende Schluß, falls dieser nicht ohne allen Accord gemacht wird; er ist der musikalische Ausdruck absoluter Befriedigtheit, der Sammlung, der Rück- kehr in sich selbst, des Ruhens und Behagens, mit dem alle Bewegung austönt und verklingt. Heiterkräftig ist natürlich nur der Durdreiklang, während der Molldreiklang dumpf, ernst oder sehnsüchtig ahnend sich ver- nehmen läßt und daher auch am Schluß nicht so absolut befriedigt, wie der erstere. Der Dreiklang mit Octav kommt allerdings auch als über- leitender Accord vor, indem er anderen, nachfolgenden Accorden, z. B. c f a c, c e g b, den Weg bahnt. Es ist ein allgemeines Gesetz, daß von Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 58 jedem Accord aus, sei es nun durch Aenderung einzelner seiner Töne oder aller zusammen in jeder Richtung fortgeschritten werden kann, wenn der Fortgang nur natürlich ist, welche Natürlichkeit namentlich, obwohl nicht ausschließlich, dann vorhanden ist, wenn wenigstens an Einer Stelle der Fortgang eine (stetige) Halbtonbewegung (S. 853) ist; von diesem Gesetz macht der volle Dreiklang keine Ausnahme, aber er unterscheidet sich doch dadurch, daß er auch für sich gültig und befriedigend ist, und er behält auch als überleitender Accord einen Charakter natürlicher und ruhiger Harmonie, den andere Accorde nicht haben. Unselbständig, überleitend ist bereits der Dreiklang ohne obere Octav, weniger noch in seiner ursprünglichen Lage c e g, die unter gewissen Bedingungen einen ganz guten Schluß und einen durch- aus befriedigenden Anfang gibt, aber schon mehr in seinen „Umkehrungen,“ die durch Hinabsetzung der Terz oder Quint unter die Tonica entstehen, e c g (Sextaccord), g c e (Quartsextaccord); der letztere Accord z. B. kann nicht für sich selbst bestehen, er drängt zu dem Dominantdreiklang g h d, weil dieser die einfachere natürlichere Form des im Terzintervall aufgebauten Accords für sich hat, nothwendig hinab, oder breitet sich die in ihm bereits vorhandene höhere Hebung (die Sext) vollends aus zum Dominant- septimenaccord g h d f, um von da die Bewegung zu g c e zurück oder zu a c e oder andern nachfolgenden Accorden fortzusetzen. Der vorhin er- wähnte Dominantdreiklang in seinen verschiedenen Lagen und Umkehrungen ist derjenige Accord, zu welchem der auf der Tonica errichtete, „tonische“ Dreiklang am einfachsten und gewöhnlichsten übergeht, wie schon an sich der Schritt von der Tonica zur Dominante von Natur der nächste ist; in ganz einfachen Tonstücken können alle andern Accorde fehlen, und auch in größeren Werken bestehen die letzten Takte oft aus nichts Anderem als einem Wechsel dieser einfachsten und nächstliegenden Accorde; je einfacher eine Tonreihe oder Melodie sein will, desto mehr darf sie nur Wendungen machen, welche die Begleitung eben blos dieser Accorde erfordern. Ein anderer Grund der engen Anziehung dieser zwei Accorde ist der, daß der Dominantdreiklang ( g h d, g d h ) die große Septime oder den Leitton, der auf die nur einen Halbton entlegene Tonica ( c ) weist, in sich enthält und daher von ihm aus der Fortgang zu der letztern unmittelbar nah liegt. Andere Fortgänge, wie z. B. vom tonischen Dreiklang zum Dreiklang auf der zweiten oder vierten Stufe der Leiter oder von diesen auf jenen zurück, sind nicht ausgeschlossen, aber sie sind nicht nothwendig und natürlich und daher namentlich für den Schluß eines Tonstücks in der Regel nicht geeignet. Ueberleitende Accorde sind nun aber weiter vor allen die Septimen- (und Nonen-) Accorde, weil sie gebieterisch die Auflösung der in ihnen enthaltenen Spannung verlangen. Der wichtigste und darum häufigste Septimenaccord ist der Dominantseptimenaccord, von C aus g h d f, welcher ganz bestimmt zum Uebergang nach g c e drängt, weil die zu hoch hinauf geschobene Septime zur Sext herabdrückt, obwohl von ihm z. B. auch direct oder mittelst Umwandlung zum verminderten Septimenaccord ( gis h d f ) in Amoll oder dur übergegangen, oder zunächst ein anderer nächstliegender Septimenaccord, nach diesem wieder ein dritter u. s. f. gesetzt werden kann, so daß die Auflösung sich verzögert und erst nach einer Reihe von Septimen- accorden erfolgt. Um der in ihm liegenden Unaufgelöstheit und Spannung willen kann weder dieser noch ein anderer Septimenaccord ein Tonstück schließen, in der Regel es auch nicht anfangen, obwohl in einzelnen Fällen, wie in Beethoven’s Prometheusouvertüre, ein eigenthümlicher Effect des Unerwarteten, heftig Aufprallenden damit erreicht wird; wohl aber kann inmitten eines Tonwerks länger auf ihm, namentlich in seiner ursprüng- lichen Lage, verweilt werden, um eine rasche, heftige pathetische Bewegung ihren Höhe- und Endpunct in diesem Accord finden zu lassen, der gerade vermöge seines gespannten, Lösung verlangenden Charakters sich ebenso dazu eignet, ein mächtiges sich zur Höhe Ringen, ein höchstes Durchdrungensein von Schmerz, Sehnsucht, Liebe auszudrücken, als dazu, einen Passus, in welchem solche Empfindungen sich lebendig aussprechen, zu beschließen und den Uebergang zu einer wieder ruhigern Bewegung anzubahnen. Kaum weniger bedeutend ist der auf der großen Septime oder dem Leitton der Mollscala errichtete, blos aus kleinen Terzen bestehende Vierklang, der sogen. verminderte Septimenaccord ( h d f as ); er klingt seiner Zusammen- setzung gemäß etwas enger, beklemmter, pathetischer, wollüstiger als der Dominantseptimenaccord, wiewohl auch noch gefällig; in Dur dagegen, mit großer oberer Terz ( h d f a ) hat er etwas weniger gleichförmig Ab- gerundetes, etwas Uebergreifendes, Ueberschwellendkräftiges, jedoch nicht das Einleuchtende und Natürliche des gleichmäßiger gebauten verminderten Septimenaccords. Verwandt mit dem Durseptimenaccord auf dem Leitton, wiewohl weniger ungewöhnlichen Klangs, weil er nicht wie jener einen verengten, „verminderten“ Dreiklang ( h d f ) hat, ist der Septimenaccord auf zweiter, dritter und sechster Stufe der Durleiter ( d f a c u. s. f.) oder auf erster, vierter und fünfter Stufe der (absteigenden) Mollleiter (auch weicher Septimenaccord genannt); die Spannung ist bei diesem Accord sehr groß, der Charakter des Unaufgelösten tritt in ihm weit entschiedener hervor, als beim gewöhnlichen oder verminderten Septimenaccord, es fehlt durch- aus der diesen beiden eigene Reiz des Unentschiedenen und des durch die Dissonanz hindurchklingenden hellen Wohlklangs. Absolut dissonirend und daher nur als Uebergangsaccorde zu gebrauchen sind Accorde, in denen Tonica und große Septim zusammen kommen ( c e g h, c es g h u. s. w.), wogegen unter den Nonenaccorden der große (der Duraccord g h d f a ) einen ähnlichen nur noch kräftigern Eindruck zu großer Ueberfülle, zu weiten 58* Uebergreifens, wie der Durseptimenaccord auf dem Leitton, der kleine aber (der Mollaccord, … as ) den des scharfen bittern Einschneidens hervor- bringt, daher auch die Nonenaccorde wesentlich Auflösung verlangende, mit dringendster Nothwendigkeit zu andern überleitende Accorde sind. Verwandt mit den Septimenaccorden ist endlich noch der sogen. verminderte Drei- klang ( h d f, c es ges ), durch seine zwei kleinen Terzen beengend und zu- gleich als Dreiklang weniger voll und daher unbefriedigter wirkend als jene, die er aber wegen seiner Verwandtschaft mit ihnen bei weniger reicher Har- monie häufig ersetzt. Eine eigene Stellung unter den überleitenden Accorden nehmen Accorde ein, die durch Veränderung von Tönen der Normalscala entstehen, nämlich einerseits der übermäßige Dreiklang c e gis, welcher wegen zu großer Intervalle, wegen Ueberschreitung der Quint mißfällt und daher den Ein- druck einer zu hohen Schärfung des obern Tons hervorbringt; andererseits der doppeltverminderte Dreiklang cis es g, entstehend durch Hinaufrückung der Prim des Molldreiklangs, und endlich der hartver- minderte Dreiklang c e ges, entstehend durch Erhöhung der Terz des verminderten Dreiklangs. Als ganz besonders drängende Uebergangsaccorde sind alle diese Accorde sehr wichtig, und unter ihnen besonders der doppelt verminderte Dreiklang, der namentlich in der Lage es g cis oder cis g es energisch auf den D dur -Dreiklang und durch ihn hindurch weiter auf G dur oder moll hintreibt. Alle diese Accorde heißen, weil sie durch Erhöhung von Tönen der Leiter entstehen und also Töne in sich haben, welche der normalen diatonischen Leiter fremd sind, chromatische Accorde, eine Be- nennung, die ebenso auch den aus ihnen gebildeten, noch entschiedener Auf- lösung verlangenden Septimenaccorden ( c e gis b oder g h dis f u. s. w.) zu- kommt. Verwandt mit dem geschärften Dreiklang oder, wenn die Terz ausfällt, Zweiklang ( c gis ) ist der Zweiklang mit erhöhter oder übermäßiger Secund c dis (h cisis), gleichfalls nicht wohlgefällig, sondern Auflösung fordernd. Merkwürdig ist nun, was diesen Zweiklang und die übermäßige Quint betrifft, daß dieselben Zusammenklänge, wenn sie als kleine Sext ( c as ) oder kleine Terz ( c es ), d. h. wenn sie vermöge des ganzen Zusammenhangs einer Tonreihe nicht als erhöhte Dur-, sondern als Mollintervalle erscheinen, ganz und gar nichts von Mißfälligkeit oder gar Dissonanz mehr an sich haben; es ist auch dieß ein klarer Beweis, daß in unserem Gehör, sobald es entwickelt und gebildet ist, eine sehr entschiedene Systematik, ein Hören des Einzelnen in strengstem Zusammenhang mit dem Ganzen stattfindet, vermöge dessen der Eindruck acustisch oder doch instrumental ganz identisch scheinender Töne ein ganz verschiedener, ja entgegengesetzter sein kann; gerade so hören wir auch Es dur als Scala auf der Terz von C moll, nicht aber als Scala auf Dis oder auf der Secund von H dur, As als verwandt mit F, nicht als Gis, F als verwandt mit D moll u. s. w. (§. 773). — Accorde, die man Durchgangsaccorde nennen kann, entstehen durch die sogenannten Vorhalte , d. h. dadurch, daß bei der Aufeinanderfolge zweier Accorde eine Stimme (z. B. d ) des ersten Accords ( h f g d ) nach Anschlagen zweier Stimmen ( c und e ) des zweiten Accords ( c e c ) noch forttönt und die dritte Stimme ( c ) des zweiten daher erst nachträglich eintritt. Diese sich gleichsam verspätenden Töne oder Vorhalte dienen, wie nur in anderer Weise die geschärften Zusammenklänge, zur engern Verknüpfung des Ton- fortgangs und können ganz eigenthümliche Effecte des Ineinanderüberfließens, einander nur allmälig Ablösens der Tonfolgen hervorbringen. Wiederum verwandt hiemit ist ein Accord, den man überladenen Accord nennen kann; auf einen Accord folgt ein zweiter vollständig, aber es bleibt ein Ton des erstern, sich gleichfalls verspätend, unter oder über diesem zweiten Accorde stehen, oder tritt zu einem Accord ein Ton hinzu, der erst Haupt- ton des folgenden Accords werden soll, diesem also vorgreift (z. B. am Ende von Tonstücken die Tonica zum Dominantseptimenaccord). Ein solcher fremder Ton kann während einer längern Reihe aufeinander folgender Accorde liegen bleiben; solche Stellen heißen, wenn dieser Ton, sei es nun Tonica oder Dominant, in der Tiefe liegt, Orgelpunct (weil auf diesem Instrument die Anwendung dieser Form sich ganz besonders leicht und wirksam anwenden läßt). Zufällige Accorde endlich entstehen, wenn über einem liegenbleibenden Accord (z. B. dem tonischen Dreiklang) eine melodische Folge (z. B. die Scala) sich bewegt und so der Accord zum Theil mit Stufen der Tonleiter, die ihm an sich fremd sind, zusammentönt; diese Accorde, da sie nur vorübergehende Zusammenklänge sind, werden kaum als Dissonanzen wahrgenommen, sind aber gleichfalls sehr wichtig und häufig, da sie einer beweglichen Melodie eine einfachere, ruhiger beharrende Har- monie zur Basis geben. Aus dem über die verschiedenen Gattungen der Accorde Bemerkten geht zugleich hervor, daß sich unter ihnen wesentliche Unterschiede finden in Bezug auf Einfachheit und Natürlichkeit. Alle über den Dur- oder Moll- Dreiklang hinausgehenden, sowohl die Septimen- und die ihnen verwandten als die durch Hereinnahme leiterfremder Töne entstehenden Accorde haben etwas Ungewöhnliches, Spannendes, Drängendes, etwas halb Trübes, halb Wollüstiges, und ebenso bringt ihr Gebrauch in die Tonverknüpfung, weil sie weit unmittelbarer als die Dreiklänge zur Auflösung in nächststehende, namentlich nur um Halbtöne entlegene Accorde hinführen, einen Charakter theils des leidenschaftlich Drängenden, theils der weichen, innigen, reizen- den, schmelzenden Continuität der einander ablösenden Töne, den der Fort- gang in Dreiklängen nie so erreichen kann; dieser letztere ist ruhiger, heller, ernster, weniger sentimental pathetisch, aber auch unvermittelter, härter und schroffer. Es ergibt sich so rücksichtlich der Anwendung dieser Accord- gattungen ein Unterschied zwischen einer strengern und weichern Schreibart, deren erstere sich möglichst auf die Dreiklänge beschränkt, die zweite mit Vorliebe der Septimen- und chromatischen Accorde sich bedient; es ist dieß nichts Anderes als ein Unterschied zwischen directem und indirectem Idea- lismus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird. §. 775. 1. Während die entweder stetig gerade fortlaufende oder in verschiedenen Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der Musik das Moment des Linearen, des Umrisses vertritt, das Moment, aus welchem die Melodie sich bildet, vertritt die Harmonie das malerische Moment; sie entspricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel, Färbung ist; sie erhöht die Bestimmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung, und sie ist dazu da, Fülle und Wärme, sowie strenge Einheit, continuirliche 2. Verknüpfung, Verschmelzung und Weichheit in sie zu bringen. An das Melo- dische knüpft sich in der Musik vorzugsweise, jedoch keineswegs in ausschließender 3. Weise, der directe Idealismus an, an die Harmonie der indirecte, wie sie auch dasjenige Element der Musik ist, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit selbständiger Stimmenführung dem Prinzip der Individualisirung Rechnung trägt. 1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben sich bis jetzt ergeben die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der Töne zu Zusammenklängen und Accorden; es ist nun zunächst anzugeben, wie sich diese beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung insbesondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter- valle ist das, wovon alle Musik ausgeht. Es ist natürlich, daß der Mensch, der seiner Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein musikalisches In- strument, eine Syrinx, Flöte u. s. w., zum Spiel einladet, zunächst an gar nichts Anderes denkt, als an dieses Auf- und Abgehen in Tönen, an diesen Wechsel der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. s. w., sei es nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus- drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunächst nur spielen, eine in sich mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen sein Gehör und seine Phantasie, letztere bildend und nachbildend zugleich, so lange folgen, bis ein Abschluß, ein Genughaben eintritt; sowohl die directe, sub- jective Empfindungs- als die freiere objectivere spielende Musik ist zunächst eben Tonwechsel, Tonreihe, Scalenbewegung, sei es nun continuirlich in geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwischen größern Inter- vallen hin und her suchend, herumgehend und herumspringend. Die Melodie haben wir damit zwar noch nicht, aber ihre Anfänge, das melodische Element der Musik, das Bilden einer so oder anders gestalteten Folge von Einzel- tönen als eines für sich bestehenden, durch sich selbst befriedigenden musika- lischen Ergusses der Empfindung und der Phantasie. Dieses Aneinanderreihen, Aneinanderfügen kann ganz zusammenhangslos sein, wie man Striche neben und unter einander machen kann, die kein Bild geben, aber es kann auch Zusammenhang haben und hat ihn immer, wo Empfindung und Phantasie wirklich dabei sind; die Empfindung strebt in der Tonfolge sich selbst aus- zudrücken und drückt ihr daher mittelst der tonbildenden Phantasie ihren eigenen Charakter von Anfang bis zu Ende auf, die Phantasie, wo sie mehr nur spielt, ergeht sich, um sich zu beschäftigen, nicht in discreten Ton- atomen (was nur der allererste Anfang des Erwachens des musikalischen Gehörs interessant findet), sondern in Toncombinationen, seien es nun Reihen hinauf und hinab oder Wechsel zwischen Intervallen, deren Be- ziehungen unter einander das Gehör ansprechen, Wechsel zwischen Höhe und Tiefe u. s. w. Wo nun aber eine solche mannigfaltige und in der Mannigfaltigkeit nur irgend inneren Bezug und Zusammenhang an sich tragende Tonfolge producirt wird, da wird gleichsam aus der an sich unendlichen Menge möglicher Tonbewegungen eine bestimmte charakteristische Richtung der Tonbewegung, eine in die Länge sich fortziehende Tongestalt oder Tonfigur herausgeschnitten, es ist eine so oder anders fortgehende, sich so oder anders drehende und wendende Linie da, die unter der Voraus- setzung, daß unter (oder auch über) sie noch etwas Weiteres, den leeren Raum unter (über) ihr passend Ausfüllendes hinzutreten werde, gleich auch als ein Umriß, als eine einen ausgefüllten Raum begrenzende Linie be- zeichnet werden kann. Die Bewegung auf der Scala und ihren Intervallen zeichnet etwas hinein in das Reich der Töne, sie producirt ein charakteristisches Bild, das schon an sich selbst etwas ist, etwas darstellt und bedeutet, mag es nun directer Ausdruck einer bestimmten Empfindung, also materiell bedeutend oder mehr nur Combination von Tönen, die Gehör und Ein- bildungskraft anspricht und beschäftigt, also von formeller Natur und Be- deutsamkeit, oder Beides zugleich sein. Auch das ist nicht zu bezweifeln, daß eine solche Tonfolge bereits eines bestimmten, energischen Ausdrucks fähig ist, daß die mannigfaltigsten Nüan ç en der Stimmung und Empfindung sich in sie legen können, namentlich wenn noch von den Mitteln, welche der Rhythmus und die verschiedene Stärke des Anschlagens der Töne dar- bieten, Gebrauch gemacht wird, sowie endlich auch dieses nicht, daß eine solche Tonfolge, je nachdem sie gestaltet ist, ganz für sich allein den engsten und befriedigendsten Zusammenhang aller ihrer einzelnen Sätze und Satz- theile haben und so auch von dieser Seite her den Eindruck eines in sich abgeschlossenen Kunstwerks machen kann. — Aber etwas, das in der bloßen Tonfolge nicht schon gegeben ist, kommt in der Harmonie hinzu, die Be- stimmtheit, die concrete Mannigfaltigkeit und concrete Wirkung, die im Zusammenklang selbst und ebenso in den Uebergängen der Zusammenklänge unter einander, in der Harmoniefolge gegeben ist. Die bloße Tonfolge ist, außer da, wo sie die wesentlichen Intervalle anschlägt, eine freie, subjective, sie ist ein Wechsel von Fortschreitungen, der ebensogut auch ein anderer sein könnte, es ist keine acustisch strenge Nothwendigkeit und Bestimmtheit, es ist kein Tonverhältniß darin, das als ein wesentliches, als ein unmittelbar schon an sich im Gehör liegendes und von ihm gefordertes gefühlt würde; das hat erst die Harmonie, denn in ihr treten auf Grund der natürlichen Organisation des Gehörs, welches die eine Tonverbindung als mehr oder weniger consonirend, die andere als mehr oder weniger dissonirend, die eine als in sich ruhend, voll, gesättigt, eine andere als für sich unbefriedigend, zu einer andern forttreibend, den einen Accordfortgang als natürlich, er- laubt, begründet und klar, den andern als das Gegentheil hievon empfindet, gerade jene Tonverhältnisse hervor, welche die bloße Tonfolge nicht hat; das Ohr trifft hier auf ein Nach- und Nebeneinander nicht blos von Tönen, sondern von Tonverbindungen und Accordfolgen, deren jede es in vollster Bestimmtheit so oder so, als gefällig oder als mißfällig, als beruhigend oder als spannend, als festhaltend oder als fortleitend, als normal oder als nichtnormal fühlt; in der Harmonie erst kommen Tonverhältnisse hervor, die von Natur so oder anders wirken , in ihr erst ver- körpert oder objectivirt sich geradezu die natürliche Gesetzmäßigkeit der ganzen acustischen Organisation des Menschen, sie erst läßt dem Ohr Töne in Verbindungen entgegenklingen, die es selbst fordert, von denen es selbst naturgemäß einen qualitativ bestimmten Eindruck hat, sie bringt weit mehr als die einfache Tonfolge in die Musik ein Naturschönes, ein von Natur Charakteristisches, ein von Natur sogleich bestimmte Eindrücke Erregendes, wie ganz Dasselbe, nur mit weniger bestimmtem sinnlichem Eindruck, durch die Farben und ihre Verbindungen in der Malerei geschieht. Die Bewegung in der Scala oder in Intervallen derselben ist wohl auch natürlich, an- sprechend, auch in irgend einer Weise charakteristisch, aber sie ist es in weniger ausgesprochener Weise; die spezifischen acustischen Unterschiede und Eindrücke des Gefälligen und Mißfälligen, des Gesetzmäßigen u. s. w. gibt erst die Harmonie, und darum erscheint uns die Tonfolge für sich allein, selbst wenn sie an sich charakteristisch geformt ist, doch zu unbestimmt, zu schwebend, ja unmotivirt und willkürlich; wir wollen, die Tonfolge solle zugleich eine Harmoniefolge sein, durch welche das Ganze größere Bestimmt- heit des Klangs und Eindrucks und strengere Motivirung des Fortgangs und Fortschritts erhalte, durch welche namentlich sowohl Erhebung und Aufschwung als Nachlassen und Zurruhekommen der Melodiebewegung be- stimmt angedeutet werde; wir verlangen, die Tonfolge solle auf der an sich klaren und gesetzmäßigen Basis der Harmonie sich bewegen, sie solle aus ihr emporwachsen und mit ihr in Einheit sich erhalten, statt für sich allein im Unbestimmten sich ergehen zu wollen; Tonfolge ohne Harmonie ist wie ein Gedanke, dessen nähere Vermittlung und Begründung durch einen Zu- sammenhang mit dem allgemeinen Gedanken- und Erkenntnißsystem vermißt wird, sie schwebt wie der Vogel in der Luft, in dessen Bewegungen wir eine natürliche Gesetzmäßigkeit wohl voraussetzen, aber dieselbe doch nicht erkennen, so daß sie uns unverstanden bleiben und uns willkürlich, zufällig erscheinen. Die Harmonie gewährt dann für’s Zweite eine concrete Mannigfaltigkeit von Klängen , von Färbungen der Töne , welche die bloße Tonfolge in dieser Weise nicht hat; sie führt in den ver- schiedenartigen Accorden, sowie in ihren verschiedenen Lagen und Umkehrungen, eine Reihe von Klangbildern an uns vorüber, die so sprechend und charak- teristisch sind, daß die Musik Harmoniefolgen sogar ohne melodischen Ueberbau anwenden kann, wiewohl nur als Ausnahme und auch da nicht ohne ge- wisse natürlich ansprechende Intervallfortgänge, sei es nun in der obersten Stimme (so im Andante der Donjuan-Ouvertüre) oder in der zweiten Haupt- stimme, im Basse. Dieselbe Mannigfaltigkeit bringt die Harmonie auch von den einzelnen Klängen abgesehen in den Fortgang des Ganzen, sie kann, je nachdem die Accordfolgen einfacher und leichter oder künstlicher, weniger natürlich und unmittelbar einleuchtend sind, dem Fortschritt des Tonwerks den Charakter des Leichten, Fließenden und Klaren, nicht minder aber auch den Charakter einer ernsten, schweren, an sich haltenden, verwickelten, dunkeln, oder einer einschneidenden, schroffen Bewegung verleihen, sie kann mit Beidem abwechseln und so Gegensätze und Contraste in die ganze Tonbewegung bringen, wie Licht und Schatten, helle und dunkle Färbung; sie kann deß- gleichen auch an einzelnen Puncten der Tonfolge mittelst Consonanz und Dissonanz das Element des Gegensatzes, der Entzweiung, der Spannung auftreten lassen, und auch dieses wiederum in den verschiedensten Graden von der leisesten Andeutung einer Beklemmung an bis hinauf zur erschüt- terndsten und zerreißendsten Darstellung des Schmerzes. Alles was dem rein Einfachen und Unmittelbaren gegenüber in das Gebiet der concreten Mannigfaltigkeit gehört, spezifischer Ausdruck, Bedeutung, Tiefe, erhöhte Kraft, drastische Wirkung, Intensität, Energie, steht der Harmonie zu Gebot und wird erst durch sie vollkommen erreicht; sie malt mit Licht und Schatten, mit Farbe und Farbenmischung Dasjenige, was die melodische Tonfolge nur andeutet und ahnen läßt, sie belebt die Zeichnung, sie fügt zur Linear- bewegung eine Flächenbewegung, sie läßt mit dem Tone das ganze Ton- system fortrücken in stets wechselnden Stellungen und Verbindungen, welche genauer erklären und schärfer markiren, was die Tonfolge mit ihren Gängen und Wendungen beabsichtigt. Dazu kommt aber auch, von diesen qualitativen Elementen abgesehen, drittens ein quantitatives, das freilich selbst wieder sogleich in ein qualitatives umschlägt, nämlich die Ausfüllung des neben der Scalenbewegung für das Gefühl übrig bleibenden leeren Raums durch verwandte, mitfortschreitende Klänge. Diese Füllung ist gar nicht etwa blos dazu da, ein Gefühl der Leere, das bei bloßer Melodiebewegung entstehen kann, ferne zu halten, sondern sie hat auch positive Bedeutung; die Ausfüllung jenes Raums durch verwandte höhere und tiefere Klänge gibt erst wahre Musik; sie erst ist es, worin die Tonerzeugung vollständig sich realisirt, d. h. wodurch ein wahres, von allen Seiten her an die Seele herankommendes Erklingen der stillen Materie hervorgebracht und so der Geist nicht nur von Einzeltönen berührt, sondern in das Tonreich selbst ganz hinein gerückt, in das Tonmeer hineingetaucht, erst ganz und voll- kommen in musikalische Erregung und Stimmung versetzt wird. Der ein- fachen Tonbewegung fehlt immer noch etwas zur Musik im eigentlichen Sinne, weil (vergl. §. 757) eben nur dann Gehör und Gefühl nach ihrer ganzen Erregungsfähigkeit, im ganzen Bereich dieser Erregungsfähigkeit wirklich erregt, nur dann alle höheren und tieferen Saiten des Inneren wirklich angeschlagen, nur dann Gemüth und Phantasie ganz und bis auf den Grund nach allen Dimensionen hin ergriffen und in Anspruch genommen werden, wenn mit den verschiedenen Tonfolgen zugleich verschiedene Ton- lagen mit ihren eigenthümlichen Wirkungen ertönen. Ohne die Füllung durch Harmonie ist daher auch die volle Lebenswärme , die ganze zum Herzen dringende seelenvolle Innigkeit nicht da, und es ist, so viel auch in dieser Beziehung schon die einfache Tonfolge gerade durch (kunstlose) Ein- fachheit zu leisten vermag, doch ein rein vergebliches, in Unnatur aus- artendes Unternehmen, wenn die melodische Bewegung dieselbe um jeden Preis durch sich allein hervorbringen, wenn sie da, wo es einmal nicht geht, durch künstliche Mittel des Zitterns, des seufzenden Verklingens u. s. w. die der Harmonie vorzugsweise zugehörigen Wirkungen sich selbst zueignen will. Zu dieser spezifisch musikalischen seelenvollen Wirkung der Harmonie trägt aber zugleich auch eine andere im Bisherigen noch nicht berührte Eigenthümlichkeit bei. Die Harmonie tritt zur Melodie wohl als concretes, bestimmter motivirendes und wirkendes Element hinzu, aber sie ist nach einer andern Seite hin auch wiederum ihr gegenüber ein Unbestimmtes, wie die Farbe gegenüber von der Zeichnung; die Melodie zeichnet der Seele eine bestimmte Richtung der Tonbewegung vor, einen Gang, dessen Wendungen die Phantasie überall in vollster Klarheit und Distinctheit folgen kann; die Harmonie dagegen schmilzt mehrere Töne zu Einem Klang zu- sammen, die Harmoniefolge läßt der Phantasie nicht die Zeit, jedem einzelnen Uebergang der Töne des einen Accords in die des nachfolgenden direct zu folgen, es ist so in der Harmonie etwas Dunkles, Undurchsichtiges, Ge- heimes, eine Weichheit ohne schärfere Umrisse, sie wirkt eben durch dieses unbestimmte romantische Wogen auf das Gemüth als solches, sie thut hie- durch zu der Einzelerregung, wie sie die Melodie vorzeichnet, eine über das Innere nach allen Seiten sich verbreitende Gesammterregung hinzu, sie gibt zur bestimmten Musik Musik überhaupt , sie hüllt die klar dahinschreitende Tonfolge in ein magisches Helldunkel von Klängen ein, die wie Geister in dunklem Hintergrunde sie umschweben, um ihre Bewegung in schönem, aber stillem Einklange zu begleiten. Wenn wir somit genöthigt sind, der Harmonie zwei scheinbar ganz entgegengesetzte Bedeutungen beizu- legen, die Bedeutung scharfer Charakteristik und weicher seelenvoller Innigkeit, so ergibt sich ganz Dasselbe auch noch von anderer Seite her; wie die Harmonie kräftige Tonmassen auf einzelne Puncte werfen und diese dadurch stark markiren und hervorheben, wie sie hiedurch in das Ganze einer Ton- bewegung besonders hervortretende Einschnitte bringen kann, so vermittelt sie umgekehrt auch die Stetigkeit, den Fluß, die Bindung und Ver- schmelzung der Theile, sie verwandelt das bloße Nacheinander der Töne in ein zusammenhängendes, zusammenfließendes Ineinander, innerhalb dessen Alles continuirlich zusammenhängt, Eines aus dem Andern sich entwickelt, Eines in’s Andere hinüberführt, sie kann wohl wie die Melodie größere oder kleinere Intervalle überspringen, unruhig hin und her gehen, ja sogar selbst erst durch ihren bewegtern Rhythmus stärkere Lebendigkeit zur Melodie hinzubringen, aber sie kann ebenso auch für die lebhaftere discretere Be- wegung der Melodie eine in einfachem, ruhigem, gebundenem Hinundher- schreiten fortrückende Begleitung abgeben, sie kann einer größern oder kleinern Reihe von Tönen der Melodie einen oder wenige Accorde unterlegen, sie kann liegen bleiben oder sich nur wenig verschieben, während die Melodie auf verschiedenen Intervallen auf- und absteigt, so daß die mannigfaltige Beweglichkeit und Unruhe der Melodie an ihr eine einfache und verein- fachende, das Viele zusammenhaltende und bindende, das Mannigfaltige verschmelzende Unterlage erhält; die Melodie spaltet sich in der Regel wie eine mannigfaltigst gewundene und gebrochene Linie in ein Nacheinander einzelner einander ablösender kleinerer Puncte, die aus der Tonreihe auf- steigen, die Harmonie arbeitet mehr im Großen und Breiten, sie legt der kleintheiligen punctuellen Bewegung eine weniger getheilte, in größern Ab- sätzen, in längeren Windungen sich fortziehende Massenbewegung unter, die sich der erstern überall anschmiegt, aber doch ein Band der Einheit um sie herschlingt, durch welches Stetigkeit und Zusammenhang in das Ganze gebracht wird. 2. Die Musik, obwohl das Gefühl und damit vorzugsweise das In- dividuelle der Empfindungen, Stimmungen, Affecte, ihr Gebiet ausmacht, steht doch in Beziehung auf die Gesetze der künstlerischen Behandlung und Darstellung wesentlich auf der Seite des directen Idealismus, sie kann nur harmonische oder die Disharmonie sogleich wieder auflösende Tonfolgen und Tonverbindungen dulden, sie kann nichts Häßliches sich fixiren lassen (§. 765), sie fordert, daß das Einzelne und das Ganze schön sei, in Wohlklang und Ebenmaaß sich bewege, sie hat es mit dem Gehör zu thun, das den Mißklang direct als Verletzung fühlt und die Seele ihn als solchen fühlen läßt. Ganz ausgeschlossen ist aber damit (wie derselbe §. es ausspricht) der indirecte Idealismus nicht, wie sich dieses einfach schon darin ankündigt, daß das musikalische Gefühl neben dem directen auch einen indirecten, d. h. erst aus der Lösung einer verwundenden Dissonanz sich herstellenden Wohlklang nicht nur duldet, sondern mit Wohlgefallen und Interesse aufnimmt. Der Harmonie fällt (vom Rhythmus hier noch ab- gesehen) das Moment des indirecten Idealismus vorzugsweise zu wegen der markirten Bestimmtheit, die ihr eigen ist, wegen ihrer Fähigkeit mannigfache und starke Farben, Contraste, Gegensätze auf die Bahn zu bringen. Aber auch von der Melodie ist es nicht ausgeschlossen, sobald sie den natür- licheren und einfacheren Gang in schön gewundener, einfach klar gezeichneter Linie verläßt und statt dessen in weiten Intervallen, in unerwarteten Wen- dungen, Sprüngen, Stößen oder sonstigen dem einfach Schönen fremden Bewegungen sich ergeht; nur hat auch hier die Harmonie mitzuwirken, theils um die Melodie im Ausdruck dessen was sie sagen will zu unter- stützen, theils um zu verhüten, daß die Abweichung der Melodie vom Typus des einfach Schönen nicht in’s Unschöne gerathe; die Harmonie vertritt im letztern Fall das Prinzip des directen Idealismus neben dem des indirecten, indem sie sich der excessiven Bewegung der Melodie als wohl- klingende und in strenger Gesetzmäßigkeit fortschreitende Basis unterlegt. Geht die Individualisirung nach der Seite des Komischen, des Humors, der Keckheit, Lustigkeit u. s. w., so wird sie vorzugsweise dem leicht beweg- lichen Elemente der Melodie zufallen; ist sie aber mehr ernster, schwerer Natur, handelt es sich um Veranschaulichung tieferer, schrofferer, das Innerste aufwühlender, gewaltsamer Erregungen und Erschütterungen, so hat die Harmonie die reichen Mittel aufzubieten, die ihr zu Gebot stehen. Das einfach Schöne, die reine gegensatzlose Idealität gehört zunächst der Melodie an, weil schärfere Charakteristik und Bewegung in Gegensätzen ihr theils ganz fremd, theils wenigstens nicht natürlich ist; aber auch die Harmonie muß, wenn in einem Tonwerk die reine Idealität sprechend her- vortreten soll, dazu mitwirken, sei es nun durch Einfachheit und Helligkeit der Accordfolge oder durch den ihr eigenthümlichen Schmelz und Wohllaut; wir wollen zwar von der Harmonie nicht blos dieses, weil wir wissen, daß sie noch Weiteres leisten kann, aber wir müssen anerkennen, daß auch diese direct ideale, klare und weiche Harmonie eine für sich bestehende und berechtigte Kunstform bildet, in welcher das unterscheidende ideale Wesen der Musik den übrigen Künsten gegenüber zu seinem eigentlichsten Ausdruck gelangt. 3. Ein Gegner der Harmonie war J. J. Rousseau ; er sprach den Verdacht aus, alle Harmonie sei am Ende nur eine gothische barbarische Erfindung, die gar nie gemacht worden wäre, wenn die neuern Völker mehr Gefühl für die wahren Schönheiten der Kunst, für wahrhaft natür- liche und rührende Musik besäßen, wie die feingebildeten Griechen, deren Musik ohne Harmonie so wunderbare, unsere dagegen mit Harmonie so schwache Wirkungen gehabt habe. Daß in einem Lande wie Frankreich, das allerdings (von Volksgesängen abgesehen) nicht Heimath wahrhaft natürlicher und rührender Musik ist, und in einem Jahrhunderte, wie das vorige, in welchem allerdings Rückkehr von übertriebenem Cultus der Har- monie zur melodischen Einfachheit noth that, von einem Manne, der überall das Recht des unmittelbaren Gefühls vertrat, solche Ansichten aufgestellt wurden, kann nicht auffallen. Nur auf Eines hätte R. sich nicht berufen sollen, auf die griechische Musik. Sah denn er, der Mann der individuellen Freiheit, nicht, welch großer Fortschritt zur Freiheit darin liegt, daß mittelst der Harmonie innerhalb mehrstimmigen Gesangs jede Einzelstimme ihren eigenen Weg gehen, selbständig neben und mit den andern singen, selbst- thätig zu vollerer, großartigerer Gestaltung des Ganzen mitwirken kann? Einstimmigkeit löst alle Individualität in’s Ganze auf, läßt alle persön- lichen Unterschiede im Allgemeinen aufgehen, bringt aber ebenhiemit doch nur ein unterschiedsloses, wenig gegliedertes Ganzes von wenig Ballast und Volumen, von wenig Gewicht und Umfang hervor, ganz wie der griechische Staat, der groß war durch das Aufgehen der Individuen im Ganzen und klein war durch die fehlende Ausbildung der individuellen Lebenskreise. Man sagt, in rein germanischen Ländern singe das Volk überall mehrstimmig, in romanischen in der Regel einstimmig; was läge darin Anderes als der Unterschied des germanischen Sinnes für Individua- lität, der auch im Singen selbständig sein will und nur an einem durch Sonderung der Stimmen individuell belebten Gesange Freude empfindet, vom romanischen Charakter, der zu dieser Hochhaltung der Individualität nie gekommen ist? Ebenso ist diese Vorliebe des germanischen Geistes für Harmonie wesentlich begründet nicht, wie Rousseau meint, in den groben und stumpfen Organen dieses nordischen Volkes, die mehr durch Stärke und Getöse der Stimmen als durch die Süßigkeit der Accente und die Biegungen der Melodie gerührt werden müssen — Harmonie und Gebrüll sind sehr verschiedene Dinge, — sondern sie ist begründet durch das innigere und tiefere deutsche Gemüth, das weicher, voller, umfassender angeregt sein will als durch bloße Melodie. Die Melodie ist freilich Anfang und Ende aller Musik, mit ihr steht und fällt die Musik, was von der Harmonie nicht gesagt werden kann, aber sie ist eben nur der Anfang, das primitiv Einfache, das eine Erfüllung durch Harmonie fordert, und nur das Ende, nur das Resultat, das nur dann festen Halt, klaren und motivirten Gang gewinnen kann, wenn es aus der Harmonie und ihrer Folge wie die Blüthe aus Stamm und Zweigen emporwächst und von ihr getragen wird. Harmonische Musik ist ein Bild der ideedurchdrungenen Welt, des ganzen großartig nach allen Dimensionen sich ausbreitenden, nach allen Richtungen fest und schön in sich zusammenhängenden und geordneten, überall concrete Einzelgestaltungen aus seinem Schooße an die Oberfläche hervortreibenden Universums; die Melodie ist die Einzelgestalt, die Harmonie das Ganze, auf dem sie ruht und dessen Theil und Glied sie ist; nur der vom Ganzen losgerissene, einsam in sich selbst zurückgezogene, und damit doch zugleich des wahren individuellen Lebens, der unendlich empfänglichen, sich im Ganzen und das Ganze in sich fühlenden Gemüthstiefe verlustig gegangene Geist war im Stande, in der Melodie, in der frei in Lüften schwebenden, die einzig wahre Musik erkennen zu wollen. §. 776. 1. Die Musik als Bewegung in der Zeit bedarf für ihre einzelnen Töne eine bestimmte, größere oder kleinere Zeitdauer, zwischen deren Maximum und Minimum eine Reihe der verschiedensten Tonzeitmaaße liegt. Das Zeitmaaß der einzelnen Töne ist innerhalb eines Tonganzen entweder ein durchgehends iden- tisches, oder müssen, wenn das Tonganze Töne von verschiedener Zeitdauer (entweder nacheinander oder gleichzeitig) enthält, die Zeitmaaße seiner Töne wenigstens gleichartige, proportionale Zeitmaaße sein, die sich durch numerische Theilung auf ein gleiches Grundmaaß zurückführen lassen. Die aus diesem Verhältniß der Identität oder Proportionalität der Tonzeitmaaße resultirende geregelte Bewegung der Tonreihe und ihrer einzelnen Glieder ist ihr Rhythmus . Die Regelmäßigkeit des Rhythmus wird vollendet und damit feste Ordnung und klare Gliederung in die Gesammtbewegung der Tonreihe gebracht durch den Takt , durch den Aufbau des Ganzen in stetig auf einander folgenden kleinen Zeitabschnitten von durchaus gleicher Dauer und von durchaus gleichem Zeitmaaß ihrer einzelnen Glieder, welchem als beherrschendem Grundmaaß die verschie- denen Zeitlängen der einzelnen Töne des Abschnitts entweder direct entsprechen 2. oder indirect proportional sich unterordnen. Richt minder wesentlich als geregeltes Zeitmaaß ist für die musikalisch rhythmische Bewegung die Belebtheit, die in sie gebracht wird durch den auf einzelne rhythmische Glieder oder Takttheile gelegten Accent und durch den hiemit gegebenen periodischen Wechsel von Hebung und Senkung, accentuirten und nicht accentuirten Gliedern der Reihe. Je nach dem numerischen Verhältnisse der letztern zu den erstern innerhalb des Takts be- stimmen sich die verschiedenen Taktarten . Die (absolute) Größe der Zeit- 3. dauer der einzelnen Takte oder ihrer Glieder ergibt das Tempo des Ganzen mit seinen verschiedenen Gattungen und Arten. 1. Der vorhergehende §. führte schon zu einer Berührung des ver- schiedenen Zeitverhältnisses, in welchem zusammenklingende Töne und Ton- reihen zu einander stehen können; in der Lehre von der Harmonie treten zuerst solche Verhältnisse hervor, und wir haben daher die genauere Be- sprechung derselben, ohne welche auch das Wesen der Melodie nicht voll- ständig behandelt werden kann, hier anzureihen. Auszugehen ist von der verschiedenen Zeitdauer der Töne überhaupt und dann von hier aus zu sehen, wie aus dieser ganz abstracten Grundlage die reiche Gliederung der metrischen und rhythmischen Verhältnisse (der Kürze wegen befassen wir sonst alles hieher Gehörige unter „Rhythmik“) sich ergibt. — Der Einzelton für sich, ohne oder mit begleitendem Accord, kann an sich eine Länge oder Kürze von nicht näher zu bestimmender Größe haben; hierüber läßt sich im All- gemeinen nur dieses sagen, daß die Länge des Tons (mit Ausnahme des Orgelpuncts — und selbst hier darf sie nicht zu groß sein —) ihre Grenze findet an der Forderung, daß die einzelnen Töne die Bewegung des Ganzen nicht durch ihre Länge übermäßig verlangsamen, oder mit langen Aufent- halten hemmend unterbrechen, wie andererseits die Kürze des Tons an der deutlichen Vernehmlichkeit und Unterscheidbarkeit, die mit der Kürze stetig abnimmt, ihr Maaß hat. Der Satz, daß zwischen diesen beiden Aeußersten eine Reihe von Zeitmaaßen liegt, unter welchen gewählt werden kann, bedarf keiner näheren Erörterung; es braucht zu ihm blos hinzugefügt zu werden, daß in der Wirklichkeit die an sich unendliche Zahl dieser Zeitmaaße sich auf wenige reducirt, weil die feineren Unterschiede unter ihnen nicht mehr wahr- genommen werden können. Gehen wir vom Einzelton zu einem Nach- und Miteinander von Tönen fort, so können sie alle wohl dieselbe Zeitlänge haben; das Ganze erhält hiedurch den Charakter vollkommen gleichartiger ruhiger Bewegung, die aber, wenn sie ausschließlich und überall angewandt werden wollte, natürlich sich als einförmig und schleppend darstellen müßte. Verschiedene Zeitdauer wird daher das Vorherrschende sein; diese Verschiedenheit aber kann sich gleichfalls beziehen entweder auf die Töne in ihrem Nacheinander oder in ihrem Miteinander, indem auch Töne von verschiedener Dauer zusammenklingen können, wie wir schon in §. 774 bei der Lehre von den consonirenden und dissonirenden Intervallen Aehnliches in Bezug auf die tonerzeugenden Schwingungsverhältnisse gesehen haben. Diese verschiedene Zeitdauer darf nun in der Musik nicht ohne Regel und Gesetz sein, eine vollkommen disparate Dauer der Einzeltöne innerhalb einer Tonreihe würde dieselbe aller Einheit, aller Gleichmäßigkeit und Symmetrie berauben, und nichts liegt denn auch tiefer in der menschlichen Natur, als das unwillkürliche Verlangen, eine Tonfolge nach Einem bestimmten Zeitmaaß sich bewegen zu hören; selbst wo der musikalische Sinn noch wenig entwickelt ist, bei Kindern, für Harmonie und eigentliche Melodie unempfänglichen Völkern oder Individuen, für die „der Takt das Einzige ist, was sie in der Musik hören, weil’s einem da so recht in die Beine fährt,“ findet sich für gleichförmig rhythmische Bewegung eine Empfänglichkeit, über deren Zusammenhang mit allgemeineren, durch das ganze Natur- und Geistesleben hindurchgehenden Bewegungs- und Bildungsgesetzen §. 754 zu vergleichen ist. Zunächst jedoch ist diese Symmetrie nur in einer ganz allgemeinen Weise gefordert, in welcher sie noch nicht das ist, was wir nachher als Takt- mäßigkeit bezeichnen; es ist zunächst nur so viel unbedingtes Postulat, daß die Dauer der längern und kürzern Töne innerhalb einer Tonfolge eine gewisse Proportion unter sich habe; es kann (recitativische) Tonfolgen geben und gibt wirklich solche, nicht nur in der alten, sondern auch in der neuern Musik, die ohne Takt mit einer solchen allgemeinen Proportion der Ton- dauer sich begnügen; es ist genug, daß die kürzern und längern Tonzeiten sich in einfacher Weise auf ein ihnen gemeinschaftlich zu Grunde liegendes Zeitmaaß reduciren lassen, daß z. B. die Dauer der kürzern Töne die Hälfte oder das Viertel, das Drittel oder Sechstel oder auch etwa das Fünftel der Dauer des längeren sei; solche Proportionen der Zeitlängen sind auch hier, wie bei den Tonschwingungen, natürlich, nahe liegend, leicht zu er- fassen und zu übersehen, sie wahren die Regelmäßigkeit der Tonbewegung in ihrem Nacheinander, und sie machen es möglich, längere und kürzere Töne, die gleichzeitig erklingen, klar zusammenzufassen, indem die kürzeren einfach aliquote Theile der längern sind und sich daher unter diese leicht wie unter die höhere zusammenfassende Einheit subsumiren lassen. Ausnahmen von dieser numerischen Proportionalität der Töne können nur in besondern Fällen, wo z. B. das Tempo eines Tonstücks sich stetig beschleunigt oder verlangsamt, oder wo durch verlängerte Zeitdauer eine einzelne Stelle einer Tonreihe stärker hervorzuheben ist, gestattet werden. Indeß auch eine die Proportionalität der Zeitdauer der Einzeltöne streng einhaltende Rhythmik, die hiebei stehen bleibt und nicht zur Taktmäßigkeit fortgeht, kann, falls sie nicht etwa am Rhythmus der Rede, am Metrum der Poesie, welcher die Musik sich anschließt, einen festen Haltpunct gewinnt, nicht befriedigen. Sie liegt einmal nicht in der Natur — denn die Natur verlangt durchaus gleichförmiges Fortgehen einer einmal begonnenen Erregung bis zu ihrem Verklingen, da Ungleichförmigkeit ein Abbrechen einer bereits eingeschlagenen Richtung und somit eine nur mit Sträuben und Widerwillen aufgenommene Störung ist, wogegen fortgesetzte Gleichförmigkeit der Bewegung den Genuß gewährt, einer Erregungsweise, die einmal angeschlagen ist, nun ein für allemal, bis das Ganze zu Ende ist, frei zu folgen und sich hinzugeben, ohne jeden Augenblick wieder aus ihr durch ein anderes Maaß heraus- geschnellt zu werden; — sie liegt ebensowenig im Wesen des Geistes; nur eine Empfindsamkeit, die in Einzelheiten sich verliert, kann die nicht geregelte Bewegung der geregelten schlechthin vorziehen, die geregelte ist einerseits in Wahrheit die freiere, da wir eine nach festem Maaße vor sich gehende Be- wegung leichter fassen und überschauen, sie ist andererseits die gemessenere und damit kräftigere Art der Bewegung, die das Einzelne nicht einseitig für sich hervortreten läßt, sondern es dem Ganzen unterordnet. Wir können daher in die Lobsprüche, die z. B. Krause dem „wandelnden freien Zeitmaaß“ spendet, nicht einstimmen; wir müssen vielmehr, ohne die Bedeutung, die der freie Rhythmus besonders für declamatorische Musik hat, irgend zu ver- kennen, darauf beharren, daß gleichförmiges Zeitmaaß, wie es im Takte sich realisirt, die höchste Form des Rhythmus ist, welche die Musik davor be- wahrt, in eine verschwommene Empfindungsmalerei zu verfallen; die Musik ist nicht die unbestimmt aufundabwogende Empfindung selbst, sondern ihre künstlerische Darstellung, ihre objective Verkörperung, sie würde ohne gleich- mäßig beharrenden Rhythmus gerade diese Objectivität verlieren und in das Empfindungsleben selbst unterschiedslos zurückfallen, statt es klar und gesetzmäßig zu veranschaulichen. Eine gewisse ebenmäßige Bewegung ist natürlich dem „Aufundab“ der Empfindung nicht schlechthin fremd (§. 754), auch die Empfindung ist ein in einem schnellern oder langsamern Zeitmaaß gleichförmig fortgehendes Erzittern, Pulsiren des Gemüthslebens; aber für das Bewußtsein ist dieses Maaß nicht da, die bewußte Empfindung hängt an den Gegenständen, die sie erregen, folgt regellos den Gefühlen und Phantasien nach, die in ihr angeregt sind, verliert sich an Dieß und Jenes, eilt schnell wieder zu Anderem fort; dieses Ungeregelte sucht die Musik symmetrisch zu gliedern, sie bringt den Wechsel der Gefühle in den Rahmen eines ganz bestimmten Zeitmaaßes, sie hebt diesen im Gefühl selbst innerlich auch waltenden, aber ihm verborgenen regelmäßigen Rhythmus an’s Licht des Bewußtseins heraus, sie ordnet die Einzelempfindungen in diese allge- meine Form des Gefühlslebens, sie wäre nicht mehr Kunst, wenn sie nicht mit dem Einzelnen zugleich sein allgemeines Wesen zur Anschauung und damit zugleich in das Einzelne Ordnung und Regel bringen wollte; wie der Ton erst entsteht durch regelmäßige Schwingungen, so die eigentliche Tonkunst erst mit der Regelmäßigkeit des Taktzeitmaaßes, die Allem in ihr festen Halt gibt und dadurch zugleich sie selbst von der Gebundenheit an Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 59 das Wortmetrum emancipirt, sie selber erst hinstellt als besondere, Maß und Gesetz in sich tragende, nicht anderwärts her borgende Kunstgattung. Zur vollständigen Realisirung des Taktes gehört jedoch noch ein weiteres Moment, das des rhythmischen Accentes, welches daher vorerst in Betracht zu ziehen ist, ehe das Genauere über den Takt und seine Formen besprochen werden kann. 2. Die Tonbewegung, und zwar auch die ganz gleichmäßig und sym- metrisch geordnete, hätte keine Stetigkeit, keinen Fluß, sie zerfiele immer noch in isolirte Tonatome, sie wäre hart, schroff, eckig (und auch praktisch fast unausführbar), sie wäre ebendamit ohne Leben, Schwung und Kraft, sowie ohne ganz und vollkommen distincte Gliederung, wenn in ihr nicht auch dasjenige Moment, das der §. als periodischen Wechsel accen- tuirter und nicht accentuirter Takttheile bezeichnet, als beherrschende Grundform zur Anwendung käme. Es tritt hier wieder das für die Musik so wichtige Gesetz der Periodicität auf, das Gesetz periodischer Abwechslung von Hebung und Senkung, Stoß und Ruhe, Vorschreiten und Nachlassen der Bewegung. An sich ist jeder Ton ein Ansatz zur Bewegung, ein Hineingreifen in’s Tonsystem, ein Stoß auf den tönenden Körper und damit auch auf Gehör und Gefühl selbst; aber anders gestaltet sich die Sache in der Tonreihe, diese kann nicht eine Reihe solcher Stöße sein, sie wäre sonst ein unerträgliches, hackendes, am Ende in sich selbst erlahmendes Einerlei, und es versteht sich daher für ale Musik ganz von selbst, die Tonreihe zu theilen in Töne, auf welchen die unverminderte ursprüngliche Kraft des Stoßes oder der Accent liegt, und in solche, bei denen dieselbe so bis zum Verschwinden gemildert ist, daß sie neben dem auf den ersten Ton fallenden Accent gar nicht mehr als solcher bemerkt, sondern der zweite (dritte u. s. w.) Ton ganz als accentlos vernommen wird. Damit sind von selbst alle jene Uebelstände beseitigt; die Tonreihe geht dahin, sich anmuthig wiegend in dem steten Wechsel von Spannung und Nachlaß, Hebung und Senkung, sich immer wieder beruhigend und doch stets neue Kraft sammelnd, neue Anläufe nehmend, ebenso schön in sich zusammenhängend als lebendig bewegt durch die Reciprocität, mit welcher die stoßende Kraft zur Ruhe des Nachlasses und diese wieder zur Erregung des Stoßes hinübereilt. Aus- nahmsweise kann natürlich auch die stoßweise Fortbewegung für den Ausdruck gewisser innerer Bewegungen gefordert, aber Regel kann sie nicht sein. — Dieser Rhythmus des Accentwechsels steht aber nun in einem sehr wesent- lichen Verhältniß zur Taktmäßigkeit. Er ist zwar durch sie nicht schlechthin bedingt, er kann auch ohne sie als einfacher Tonfall, wie z. B. in der Rede, zur Erscheinung kommen, aber er bedarf derselben doch, um vollkommen Realität zu erhalten; erst wenn der Wechsel regelmäßiger Taktschläge durch eine ganze Tonreihe hindurch wiederkehrt, kann auch der Accentwechsel sich gehörig geltend und bemerklich machen und die Wirkung wirklich thun, die ihm zusteht. Umgekehrt kommt auch die Taktmäßigkeit erst durch den Wechsel des Accents zu voller Realität und Klarheit; das Eintreten des Zeitab- schnitts, den der Takt ausfüllt, wird nur dadurch bemerkbar, daß auf seinen Anfang ein Nachdruck, ein Accent fällt, den die übrigen Takttheile nicht haben. Deßgleichen empfängt der Takt erst durch diese Scheidung der Töne in accentuirte und nicht accentuirte nähere Bestimmtheit und Gestaltung. Die bestimmte Qualität, Art, Größe des Takts hängt nämlich lediglich davon ab, in welchem numerischen Verhältniß die nicht accentuirten Takt- theile zu den accentuirten stehen. An sich kann dieses Verhältniß der ver- schiedensten Art sein, es können auf einen Takttheil, der den Accent hat, oder auf eine Arsis 1, 2, 3, 4, ja 5, 6 und darüber Takttheile ohne solchen Accent (Thesen) folgen, namentlich bei schnellerer Bewegung der Tonreihe. Nur ist von selbst klar, daß diese Zahl unaccentuirter („schlechter“) Takt- theile nicht zu groß sein darf. Es ist keine distincte Eintheilung und Gliederung einer Reihe aufeinanderfolgender Töne möglich, wenn der accen- tuirten Anfangspuncte im Verhältniß zu den nicht accentuirten Momenten zu wenige sind; je weiter einzelne Töne, besonders bei langsamerem Tempo (von welchem überhaupt bei der Betrachtung der rhythmischen Verhältnisse nie schlechthin abgesehen werden kann), von dem accentuirten („guten“) Takttheil entfernt sind, desto mehr zerfallen sie in ein Nebeneinander ohne Einheit, ohne feste Bezogenheit, ohne distincte Sonderung von andern Gliedern der Reihe; ja sie verselbständigen sich unwillkürlich, sie werden, je weniger die accentuirende Kraft des guten Takttheils noch nachwirkt, je mehr sie aus der Gebundenheit an ihn heraustreten, desto mehr eigene, für sich bestehende, gleichsam sich selbst accentuirende Puncte der Reihe. Daher ist es ein nothwendiges, dem Gefühl sich von selbst aufdrängendes Gesetz, daß die Takte nicht zu lang seien, sondern der Wechsel zwischen Arsis und Thesis nur in kleinen Gliedern vor sich gehe. Am klarsten und distinctesten ist so wirklich diejenige Taktanordnung, bei welcher die Zeitlänge der Arsis und die der Thesis einander möglichst entsprechen, bei welcher also auf die Arsis nur Eine gleich lange Thesis oder nicht mehr als zwei gleich lange Thesen folgen, also der einfach zwei- und der einfach dreitheilige Takt. Auf der andern Seite jedoch kann sich die Musik mit diesen kurzen Takten, die das Ganze der Tonreihe in so gar kleine Abschnitte zerspalten, auch wiederum nicht begnügen; der Tonfall würde bei dieser Kleintheiligkeit theils zu ein- förmig, schleppend, theils (bei schnellerer Bewegung) zu hüpfend und springend, zu leicht, der Ruhe und Haltung zu sehr entblöst; die Musik bedarf daher neben diesen, an ihrem Orte ganz wohl brauchbaren einfachen Taktarten auch zusammengesetztere, breitere Taktformen. Diese ergeben sich dadurch, daß die Größe des einfachen Takts doppelt oder dreifach genommen 59* und zugleich der zweiten und dritten Taktabtheilung eine gewisse Selb- ständigkeit eingeräumt wird, indem auch auf ihren Anfangston eine eigene, jedoch dem Accent des ersten Takttheils untergeordnet bleibende Arsis fällt, so daß der Takt sich symmetrisch zu kleinern in ihm befaßten Gruppen gliedert und so nicht nur an Größe und Breite, sondern auch an charak- teristischer Mannigfaltigkeit gewinnt. Dem zweitheiligen Takt entspricht der viertheilige, dem dreitheiligen der sechstheilige (mit Arsis auf dem ersten und vierten Gliede), sowie der neuntheilige Takt. Selten ist der durch Vervierfachung des dreitheiligen Takts entstehende zwölftheilige, der für gewöhnlich zu lang ist, um eine eigene Taktperiode abzugeben, noch seltener die noch größeren, und dasselbe gilt auch von dem fünftheiligen (mit Arsis blos auf dem ersten Takttheil), der keinen ganz natürlichen Rhythmus ent- hält, jedoch als ein erweiterter, verlängerter dreitheiliger Takt hie und da auch durch seine lebendighüpfende Bewegtheit von guter Wirkung sein kann (wie z. B. im Liede vom Prinz Eugen). Das wesentliche Prinzip des Unterschieds unter den Taktarten ist das Verhältniß der Zahl der Thesen zur Arsis; die Dreitheiligkeit eben in diesem Sinne, daß auf jede der Arsen des Taktes doppelt so viele Thesen kommen als im zweitheiligen, verleiht durch diese Reducirung der Zahl der Arsen auf die Hälfte der Thesen und durch die hiemit gegebene schwungreichere und unruhigere Bewegung dem so gebildeten Takte ein vom zweitheiligen so wesentlich verschiedenes Ge- präge, daß sogar eine zweite Art des sechstheiligen Taktes, nämlich mit drei Arsen (auf erstem, drittem, fünftem Takttheil, \frac{6}{4} Takt), weil er rück- sichtlich seiner einzelnen Glieder zweitheilig ist, nicht einfach zu den drei- theiligen Taktarten gezählt, sondern als eine mittlere Form betrachtet werden muß, die ihrem prinzipiellen Charakter und Eindruck nach mit der zwei- theiligen Taktform in wesentlicher Verwandtschaft steht. Die ästhetische Bedeutung der verschiedenen Taktarten folgt einfach aus ihrem Wesen. Das Moment gehobener, kräftiger, markirter, unruhiger, hüpfender Be- wegung tritt hervor in den dreitheiligen Taktarten, sie sind die bewegtern und entsprechen nach dieser Seite am directesten dem Wesen der Musik, sofern sie eben das bewegte Gefühl und Gemüth darzustellen hat. Die zweitheiligen Taktformen geben der Tonfolge mehr Gleichförmigkeit, Haltung, Gemessenheit, sie sind der Takt des reinen Gleichmaaßes, das über aller Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der Bewegung ruhig stehen bleibt, sie bilden die strengere, kunstmäßigere und insofern höhere Form des Taktes; der dreitheilige Takt läßt den Rhythmus, die charakteristische Bewegtheit stärker hervortreten, der zweitheilige dagegen eben die Regelmäßigkeit, welche das Wesen des Taktes überhaupt ausmacht; jener ist der Rhythmus, dieser der Takt in erhöhter Potenz. Modificirt werden jedoch diese Unterschiede durch die Verschiedenheit der engern und breitern, kürzern und weitern Taktarten; die größere Breite gibt auch der dreitheiligen Taktbewegung ( \frac{9}{8} , \frac{12}{8} Takt) mehr Gemessenheit und Gewicht durch die längern Ton- reihen, die sie zu Einem Taktganzen zusammenfaßt, wogegen die Kürze auch den zweitheiligen Takten ein Gepräge einer in kleinen Schritten vorwärts gehenden, nirgends festern Fuß fassenden Leichtigkeit und Unruhe aufdrückt. Vermehrt wird die Mannigfaltigkeit der rhythmischen Gliederung noch dadurch, daß es möglich ist, ohne Beeinträchtigung des gleichförmigen Takt- zeitmaaßes einem Ton zwei, drei und mehr Zeittheile des Taktes einnehmen zu lassen. Es gehören hieher namentlich die sogen. punctirten Noten , die drei oder anderthalb Theile des viertheiligen Taktes einnehmen, so daß sie dreimal so lang sind als der ganze oder halbe Takttheil, der ihnen ent- weder, was das Einfachere ist, nachfolgt oder auch vorausgeschickt wird; im erstern Fall ist der längere Ton ein verlängerter und verstärkter guter Takttheil, im zweiten dagegen entsteht ein dem längern Ton gegenüber ver- kürzter und hiemit dem an sich gesetzmäßigen Vorherrschen der Arsis wider- sprechender guter Takttheil; Beides trägt zum charakteristischen Ausdruck der Tonbewegung wesentlich bei, indem das Verweilen auf einem langen Tone vor einem kürzern nachdrücklich, d. h. kräftig und gewichtig zu neuer Be- wegung ansetzend, wirkt, das unerwartete Ruhen auf einem längern Tone aber, dem ein kürzerer vorangeht, einen eigenthümlichen Eindruck des Nach- lassens, Stillhaltens, Gehemmtseins der Bewegung hervorbringt. Dasselbe ist, obwohl in schwächerem Maaße, nach beiden Seiten hin der Fall, wenn in dreitheiligen Takten entweder der erste und zweite oder der zweite und dritte Takttheil (oder Taktgruppentheil) zu Einem Tone zusammengenommen werden. Ganz besonders wirksam aber sind die Accentverschiebungen . Wenn z. B. im viertheiligen Takt der zweite und dritte Takttheil zu Einem Tone zusammengenommen („syncopirt“) oder die letzte Note eines Taktes mit der ersten des folgenden zu Einer verschmolzen wird, so ist hiedurch das normale Taktverhältniß verschoben; es wird entweder eine Arsis durch Verschmelzung mit der Thesis eliminirt, oder es wird eine Thesis durch Zusammennehmung mit der Arsis selbst zu einem Takttheil, der den Accent hat, erhoben. Welche von diesen beiden Wirkungen im einzelnen Falle beabsichtigt sei, muß der Zusammenhang der Tonfolge und ihr Vortrag zeigen; die erstere bringt in die Tonbewegung durch Neutralisirung des scharfen Abschnittes der Arsis etwas Schwebendes, Fließendes, die zweite aber bringt durch das Vorschieben der Arsis den Effect erhöhten, markirten Nachdrucks, gewaltsamen Unterbrechens der Gleichförmigkeit des Tonganges hervor und ist so ein Hauptmittel für energische, pathetische, leidenschaftliche Tonbewegungen. Auch der Charakter des Gepreßten und Gespannten kann durch diese und ähnliche Verschiebungen einem Tongange aufgedrückt werden, und zwar treten alle diese Wirkungen namentlich dann prägnant hervor, wenn die mitgehenden Stimmen die normale Takteintheilung festhalten und so ein Gegensatz des Rhythmus der einen Stimme gegen den der andern entsteht. Tausch des Taktes in einem und demselben Stücke, Mischung verschiedener gleichzeitig ertönender Taktarten (wie im ersten Finale des Don Juan) müssen als zu unregelmäßig vereinzelte Ausnahmen bleiben; nur die vorübergehende Combination der Zwei- und Mehrtheiligkeit mittelst der Triolen , Sertolen, Septolen u. s. w. ist eine überall anwendbare, zur Lebhaftigkeit und Mannigfaltigkeit beitragende Form. Vorschläge , d. h. kurze, vor oder zwischen die normalen Taktnoten schnell eingeschobene, un- gezählt bleibende Noten, oder ähnlich eingeschobene verzierende Figuren erhöhen die Belebtheit des Rhythmus gleichfalls, wie andererseits die accelerirte Bewegung des auf Instrumenten leichter als bei der Menschen- stimme ohne Naturwidrigkeit anwendbaren Trillers wiederum der nach- drücklichen Hervorhebung einzelner Töne des Taktes oder ganzer Takte dient. Ueber die Pausen und den Unterschied des gebundenen und ge- brochenen Vortrags ( legato und staccato ) ist in der Erörterung des allgemeinen Wesens der Musik (§. 754) das Erforderliche bereits bemerkt, und es ist daher nur dieß noch beizufügen, daß die große Zahl und Ver- schiedenheit aller dieser rhythmischen Formen zeigt, wie sehr das jetzt ange- nommene rhythmische System nicht nur naturgemäß, sondern auch mit der Freiheit der Composition in vollem Einklang ist, indem es ihr den größten Spielraum zu den kunst- und effectreichsten Combinationen offen läßt. 3. Die Bedeutung des Tempo (vergl. §. 754) ist hier nur noch rücksichtlich seines Verhältnisses zum Rhythmus in Betracht zu ziehen. Beide stehen überall in Wechselwirkung. Schnelleres oder langsameres Tempo rückt die Takttheile enger zusammen oder weiter aus einander; die rhythmischen Glieder und Accente verlieren oder gewinnen hiemit an selb- ständiger Bedeutung, an eigenem Gewichte. Je schneller das Ganze sich bewegt, desto mehr sinkt das durch die Accentuirung und durch die längere Tondauer auf den einzelnen Theilen ruhende Gewicht, sie verflüchtigen sich, lösen sich in’s Ganze auf, so daß nicht mehr die schnell vorüberrauschenden einzelnen Rhythmen für sich, sondern die Gesammtbewegung Dasjenige ist, worin der Schwerpunct liegt, worauf Charakter und Eindruck des Stücks beruhen. Das schnell bewegte Tonwerk wirkt mehr als Ganzes, das lang- samer dahingehende mehr in seinen Einzelheiten; das erstere läßt nicht Zeit zum Beschauen des Einzelnen, wie das letztere, es ist ebendarum auch weniger durchsichtig als dieses und kann auch aus diesem Grunde seinen einzelnen kleinern Gliedern nicht die concrete Bedeutsamkeit zufließen lassen, wie ein Andante oder Adagio; jenes wirkt indirect, dieses direct idealistisch. Ebenso ist Klein- oder Großtheiligkeit des Taktmetrums (Sechszehntel; halbe Noten) von wesentlichem Einflusse auf den Geschwindigkeitscharakter eines Tonstückes oder einzelner Theile desselben; die beiderseitigen Momente können entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem Chorgesange) zu absoluter, maaßvoller, schwerwiegender Langsamkeit zu- sammenwirken, oder können sie in Gegensatz zu einander treten, indem beschleunigterem Tempo langsamere, gehaltenerem Tempo schnellere Fort- bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im erstern dieser letztgenannten Fälle hat die Geschwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, sie ist eine muntere, rüstige, kräftige, nicht aber ungestüm eilende Schnelligkeit, wogegen beim zweiten Falle die langsame Gesammtbewegung des Stücks durch die in einzelnen Takten eintretende schnellere Theilbewegung kurz- gliedriger gemacht oder „figurirt“ und durch diese leicht dahingehenden Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin- wallender Strom durch leichtes Wellengekräusel, das an seiner Oberfläche spielt. In diesen Combinationen des Tempo und des Rhythmus das Richtige zu treffen, namentlich in längern Tonstücken passend mit ihnen zu wechseln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im Allegro nicht durch einseitige Beschleunigung (besonders in Läufen) aus- druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechanische, Charakter- lose, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab- gewonnen werden kann, ist eine Hauptaufgabe der Composition, an deren befriedigender Lösung es sich namentlich erprobt, ob der Tonsetzer mit freiem Blick das Tonmaterial zu beherrschen und ihm auch in diesen feinsten und abstractesten Beziehungen eine von künstlerischem Geiste eingegebene Ge- staltung zu verleihen vermag. §. 777. Die allgemeine Bedeutung des rhythmischen Elements für die Musik ist 1. eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es bestimmt den Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Weise; und es verleiht demselben eine in aller mathematischen Gesetzmäßigkeit höchst mannigfache und kunstvolle Gliederung, die sich sowohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem Racheinander, als auf die Zusammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine 2. falsche Stellung erhält die Rhythmik, wenn sie zur Hauptsache gemacht wird, indem hiedurch die abstract formelle Seite der Musik einseitig hervortritt und so das eigentlich Musikalische verloren geht. 1. Der erste Satz des §. faßt die der Sache nach schon im Früheren enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zusammen, um daran die Er- örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das Wesen der Musik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus ist kurz gesagt das archi- tectonische Element der Tonkunst. Er bringt in das freie Spiel der Töne einmal Proportion, Symmetrie, durch welche es zu einer geordneten Tonreihe mit klarem Verlaufe gestaltet wird. Er bringt in dasselbe ferner einen bestimmten Bewegungstypus, er gibt verschiedene Bewegungsformen her, innerhalb welcher die ganze allmälig hervortretende Tonreihe zu einem gleichmäßig geformten Ganzen gleichsam anschießt, wie eine nach gleich- förmigem Typus sich krystallisirende Masse. Und zwar ist dieser Bewegungs- charakter dabei doch ein außerordentlich mannigfacher, indem der Rhythmus einem Tonwerk das Gepräge der reinsten Ruhe in der Bewegung auf- drücken, ebenso aber auch die lebendigste, bis zum Stürmischen fortgehende Erregung in dasselbe bringen, wie beruhigend, so auch im höchsten Grad aufregend wirken kann. Nicht minder mannigfaltig bei aller strengen Regelmäßigkeit ist die Gliederung der Tonbewegung, welche durch die musikalische Rhythmik ermöglicht wird. Sie erlaubt den mannigfachsten Wechsel der Tonlängen, sie gestattet ohne irgend Beeinträchtigung der Gesetzmäßigkeit des Fortgangs jeden Augenblick den Uebergang vom lang- samen zum schnellen Zeitmaaß, sie ermöglicht überall die Einschiebung kleinerer kürzerer Zwischenglieder zwischen größere und längere, womit sie allerdings über die Architectur hinausgeht, die auch die Einfügung kleinerer Glieder in regelmäßiger Wiederkehr verlangt, sie gestattet ferner überall eine mathematischlogisch strenge und doch mannigfaltigste Subsumtion kleinerer Glieder unter größere, sie läßt in mehrstimmiger Musik die eine Stimme im 2-, 3-, 6fach verstärktem Geschwindigkeitsmaaß die andere begleiten, sie läßt verschiedene Bewegungsverhältnisse neben einander hergehen und doch Ein Ganzes mit einander bilden, sie läßt bald eine langsamere Tonreihe über einer schnelleren sich aufbauen, bald umgekehrt, sie läßt ebenso auch die Reihen ganz mit einander vorschreiten, sie setzt gleichsam mehrere, sei es nun gleich oder verschieden gegliederte und doch in Länge oder Breite einander vollkommen entsprechende Stockwerke über einander, und auch dieses mit einer Freiheit, mit einer unabsehbaren Künstlichkeit und Mannig- faltigkeit, die in der Kunst sonst kaum ihres Gleichen hat. Der Rhythmus bindet, ordnet, charakterisirt, belebt, gliedert den freien Gang der melodischen Bewegung, er verknüpft mit ihr die Harmonie in verschiedenster Weise; er ist nach allen Seiten das formulirende Prinzip, das die verschiedenen Elemente des Tonmaterials fest gestaltet und unter einander zusammenhält. Der Rhythmus vertritt daher vorzugsweise das Prinzip des directen Idealismus in der Musik, er ermöglicht feste gediegene Formen, er kann durch einfache Gemessenheit des Gangs zum Ernst, zur Würde, zur Er- habenheit des Eindrucks oft wunderbar mitwirken, er hält die Bewegung in Maaß und Schranke, ja er verbirgt sie fast, wenn er recht gleichmäßig ist, er bringt dann jenen Eindruck ruhiger, besonnener Haltung des Ganzen hervor, bei welcher es mehr als ein allmälig auftauchendes und vorüber- ziehendes Nebeneinander von Tongestalten, denn als ein flüchtig sich ab- spielendes Nacheinander von Tonreihen erscheint. Aber auch der indirecte Idealismus kann sich des Rhythmus in wirksamster Weise bedienen; nicht nur das gewaltig Aufregende, sondern auch der Effect des Stoßenden, Harten, Eckigen, Aufprallenden gehört, namentlich wenn zugleich die in den verschiedenen Graden der Tonstärke gegebenen Mittel mit angewendet werden, dem Gebiet des Rhythmus an, und nicht minder endlich gilt dieses vom Komischen, Lustigen, Scurrilen, Behäbigen, Burlesken, Bizarren und Barocken, indem ja gerade springende, hüpfende, tanzende Bewegung, ironisirende Gravität langsamen Tongangs, oder andererseits unerwartete Schärfung und Beschleunigung der Geschwindigkeit, ferner plötzliche Pausen, überraschendes Umschlagen und Wechseln des Zeitmaaßes, plötzliche Ver- schiebung der normalen Accente, Tongänge und Tonschläge, die wie Stampfen, Pochen und Poltern sich gebahren, die Hauptmittel der Musik für komische und verwandte Effecte sind. Dieses Alles muß natürlich auch durch analoge Behandlung der Melodie und Begleitung mit erreicht werden; auch in Melodie und Begleitung müssen mittelst hierauf berechneten Ge- brauchs der Intervalle und Accorde die Sprünge, die ernst oder komisch- pathetischen Erhebungen und Läufe, die gravitätisch sich schleppenden Ton- schritte, die Ueberraschungen, die Gewaltsamkeiten, die kreisenden, hinund- herhüpfenden Bewegungen auftreten, wenn drastische und besonders komische Effecte hervorkommen sollen, aber der Rhythmus ist namentlich für Letzteres immer das Wesentliche, indem nur durch ihn alle jene Contraste, alle jene mannigfaltigen und prägnanten Bewegungsfiguren schlagend hervortreten, welche der musikalische Ausdruck des Komischen sind. 2. Im vorhergehenden §. zeigte sich Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß die Bedeutung eines streng geregelten Rhythmus nicht zu gering zu achten sei; es muß nun aber auch die andere Seite der Sache hervorgekehrt, auch die Ueberschätzung des Rhythmus bekämpft werden. Es liegt schon im Wesen desselben, daß er eine abstracte Form ist, deren einseitiges Hervor- treten das wahrhaft Musikalische nicht aufkommen läßt. Wenn das Haupt- gewicht in einem Tonstück ganz auf das rhythmische Element fällt, wenn das Melodische und Harmonische gar nicht zu eigener Bedeutsamkeit ent- wickelt, sondern eigentlich nur dazu da sind, die an sich leere rhythmische Bewegung auszufüllen und zu vermannigfaltigen, so ist Charakter und Eindruck des Ganzen nothwendig entweder ein vorherrschend sinnlicher, wie bei einer schlechten Tanzmusik, deren Bewegtheit nicht die tiefer in’s Innere dringende Erregung, sondern nur die äußere sinnliche Aufgeregtheit ist, oder wenigstens ein einseitig pathetischer, d. h. der Eindruck der sogleich in Auf- geregtheit, Affect, Leidenschaft aufbrausenden, nicht auch in sich selbst sich vertiefenden, sich sammelnden, innerlich austönenden Empfindung. In beiden Fällen läßt das Tonstück, selbst wenn die rhythmische Bewegung an sich gar nicht einförmig, sondern charakteristisch gegliedert und variirt ist, doch wesentlich kalt, es wirkt nur äußerlich erregend, nicht aber ansprechend; es treten einem da nur verschiedene Bewegungsfiguren entgegen, denen das Qualitativconcrete, das Tönen und Klingen fehlt; man bekommt nichts Seelisches, sondern eigentlich nur die in der Erregtheit außer sich seiende, aus sich herausgerissene Ichheit; man sieht nur diese Aufgeregtheit in künstlerische Form gebracht, man sieht, können wir sagen, mehr etwas, als daß man etwas hört, man sieht Tanz, Gesticulationen, Aeußerungen des Affects, kurz man kommt, je mehr das rhythmische Element vorherrscht, aus der musikalischen Sphäre desto mehr heraus in die mimische, aus der Kunst des Tons in die der stummen körperlichen Geberde, aus der Kunst des Gesangs in die der pathetisch erregten Rede. An seinem Ort hat dieses Alles, mit Maaß angewandt, wohl auch seine Berechtigung; aber durch- gehendes Vorherrschen des Rhythmus ist schlechthin unmusikalisch und daher, wo es wirklich sich findet, Beweis des Mangels an wahrhaft musikalischer Begabung. Ein großes musikalisches Kunstwerk wird immer auch Partien haben, in welchen das rhythmische Element das Dominirende ist; aber das melodische und harmonische Element müssen doch den ersten Platz behaupten, und es ist ihnen ebendarum auch gestattet, sich für sich unter derartiger Zurückdrängung rhythmischer Bewegtheit oder rhythmischer Regelmäßigkeit geltend zu machen, daß Rhythmus oder Takt nur ganz allgemein als ordnendes Maaß zu Grund liegen, ohne besonders hervorzutreten. Es kann dieß überall geschehen, wo das Gemüthliche, Seelische, das ruhige Weben des Gefühls in sich zur Darstellung kommen soll, und es gibt daher Ton- stücke in nicht geringer Zahl, namentlich Lieder und Instrumentalandante’s, in welchen der Fluß der melodischen und harmonischen Fortbewegung das Interesse so ganz aufzehrt, daß die Taktform fast unbemerkt bleibt, ja gar nicht einmal streng eingehalten wird. Marx hat (Musiklehre S. 111) dieses Letztere in Bezug auf eine Stelle des Andante’s der Mozart’schen großen Cdur -Symphonie nachgewiesen, welche übrigens nebendem durch eine sich länger fortziehende, sehr scharf und einschneidend wirkende Accentverschiebung in der Oberstimme auch wiederum ein sehr bezeichnendes Beispiel der Wichtigkeit des Rhythmus abgibt. §. 778. Ein für den musikalischen Ausdruck wichtiges quantitatives Element ist die größere oder geringere Intensität des Tones, die Tonstärke , durch deren ein- seitige Benützung übrigens eine ähnliche unmusikalische Aeußerlichkeit in die Musik kommen kann, wie durch einseitiges Hervortreten des rhythmischen Elements. Die durch den kräftigern oder schwächern Druck (Stoß) auf den tönenden Körper hervorgebrachte größere oder kleinere Tonstärke entspricht (§. 753) der größern oder kleinern Intensität, mit welcher das Gefühl sich aussprechen soll, und ist daher von großer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Großartige Effecte des Tönens und des Schalls, scharfe Anti- thesen zwischen markiger Kraft und stiller Zartheit, reizende sowohl als spannende Wechsel in stetiger Zu- und Abnahme des Forte oder Piano stehen hier der Musik zu Gebote, und zwar, wie es scheint, in höchst ein- facher, leicht handzuhabender Weise. Allein nirgends ist die Gefahr un- musikalischer Musik größer als gerade hier, indem die Versuchung sehr nahe liegt, durch den äußern Schalleffect oder durch den spannenden Reiz des Crescendo und Decrescendo mangelnden innerlichen Ausdruck, der in den musikalischen Gedanken und in ihrer gediegenen und charaktervollen Aus- führung selber vor Allem liegen muß, ersetzen zu wollen; die Musik geht in Lärm, der blos momentan körperlich wirkt, das Innere aber schlechthin gleichgültig läßt oder es geradezu empört, und in ein hohles Spiel des An- und Abschwellens über, das oft gehört sogleich abgenützt ist. Und auch von diesem Mißbrauch abgesehen, ist die praktische Anwendung der Tonstärke zum Behuf des Ausdrucks und Effects keineswegs so einfacher Natur als man glauben könnte. Man hat mit Recht bemerkt, die Mozart’- sche Gmoll- Symphonie mit ihren wenigen Blasinstrumenten wirke auch blos in quantitativ dynamischer Hinsicht weit stärker als manche neuere Symphonien, deren Partituren von reich besetzten Posaunen- und Trom- petenstimmen strotzen. Es ist dieß z. B. der Fall im ersten Satze, nach der zweiten Wiederholung des das Ganze beginnenden Thema’s, in der Partie, wo die Oberstimmen von lebhaft bewegtem Basse begleitet eine kräftig stoßende Figur ausführen, und der große dynamische Effect dieser Partie ist auch wirklich gar nicht blos durch das Forte, sondern wesentlich auch eben durch den kraftvoll belebten und klaren Rhythmus sowohl der Haupt- als der Nebenstimmen bewirkt. Beispiele dieser Art ließen sich noch viele an- führen; sie zeigen alle, je klarer und heller die Tonbewegung und je belebter und charakteristisch markirter ihr Ausdruck ist, desto kräftiger wirkt sie auch. Alles unklar Gedachte, Trübe, Schwülstige, Unlebendige verbreitet über die Tonmasse eine Dumpfheit, die auch den Schalleffect abstumpft; das Quali- tative der Helligkeit der Klangmassen, der Frische und des Feuers der Be- wegung wirkt auch quantitativ energisch, wogegen übermäßige Häufung von Schallquantitäten geradezu die umgekehrte Folge hervorbringen kann, indem sie verursacht, daß die einzelnen Schallkräfte, statt die Kraft des Ganzen jede an ihrem Theile zu verstärken, vielmehr in dem betäubend dröhnenden, unorganisch lärmenden Ganzen wirkungslos verlöschen. Es findet also hier etwas ganz Aehnliches statt, wie beim Rhythmus; das quantitative Dynamische muß dem qualitativen untergeordnet bleiben, und nur wahrhaft künstlerischer Geist und Sinn ist im Stande, die dynamischen Mittel in der Art handzuhaben und sie mit den innerlichen Mitteln des Ausdrucks so zu verschmelzen, daß alle Ausartung der Musik in groben Materialismus der Schallwirkung ferne gehalten wird. Die Betrachtung der musikalischen Gestaltung des Tonmaterials und der mit derselben sich ergebenden Mittel musikalischer Wirkung ist hiemit abgeschlossen; wir gehen nun über zum Wesen und zur Entstehung des musikalischen Kunstwerks selbst. §. 779. 1. Das musikalische Kunstwerk entsteht dadurch, daß die Phantasie eine kürzere oder längere, einfachere oder zusammengesetztere Tonreihe schafft, welche sich durch die Art und Weise ihrer Bewegung auf Tönen und Inter- vallen der Scala, ihres Tempo, ihres Rhythmus, sowie auch ihrer Begleitung als eine Tonfolge von natürlichem, unmittelbar einleuchtendem Fortgange, von klarem, sich in sich selbst abschließendem Verlaufe, von bestimmtem Charakter und Ausdruck zu vernehmen gibt; alle Musik ist rhythmisirte, charakteristisch 2. geformte Tonfolge, oder Melodie . Nur ist sogleich als wesentlich zu beachten der Unterschied zwischen Melodie im engern und weitern Sinn ; Melodie im engern Sinn ist eine Tonfolge, die mit selbständiger, charakteristischer, in sich abgeschlossener Bedeutung und ebendamit auch dann verständlich und an- sprechend auftritt, wenn sie außerhalb des Zusammenhangs mit einem größern Ganzen und ohne Begleitung gehört wird; Melodie im weitern Sinn oder blos melodiöser Tongang dagegen eine solche, die nur innerhalb eines größern Zu- sammenhangs oder mit Begleitung klar und schön ist, weil ihr für sich etwas zum Charakteristischen, Bedeutenden, in sich Vollendeten fehlt. 1. Die musikalische Composition unterscheidet sich von jeder andern (die architectonische Ornamentik ausgenommen) durch ihre ganz absolut scheinende Freiheit; sie hat ein bewegliches, der mannigfachsten Combinationen fähiges Material, sie ist nicht an gegebene spezifische Formen der natürlichen Existenz oder des (sprachlichen) Ausdrucks gebunden, wie Plastik, Malerei und Poesie, sie scheint sich das Alles selbst hervorbringen zu können, und kann es auch bis zu einem gewissen Grad, selbst Rhythmus und Harmonie lassen ihr die größte Freiheit der Auswahl und Abwechslung. Aber diese ihre Freiheit ist auch wiederum ein erschwerendes Moment; sie stellt ihr die Aufgabe, aus dem Formlosen, Unbestimmten, absolut Freien etwas zu schaffen, das Gestalt, bestimmten Sinn, spezifische Bedeutung habe (ein Tonbild), ja sogar etwas, das nicht den Eindruck des frei, willkürlich Gemachten, sondern auch den des Natürlichen hervorbringe, so gut wie irgend ein Naturschönes oder ein dem Naturschönen analog gebildetes Werk anderer Künste; auch das musikalische Kunstwerk muß objectiv, muß Geistiges in Naturform sein. Dieses nun erreicht die Musik, abgesehen von den einzelnen Ausnahmen, in welchen ein bestimmter Ausdruck durch bloße Accordfolgen erreicht oder der Ton zu blos rhythmischen Wirkungen ver- wendet wird, durch Melodie ; Melodie ist nicht eine spezielle Form inner- halb der Musik neben andern Formen, sondern sie ist die allerdings durch Rhythmus und Harmonie bedingte und unterstützte wesentliche Form, mit welcher die Musik selbst erst entsteht, sie ist die Form des musikalischen Kunstwerks, wie Gestaltenbildung die des plastischen; alles Andere ist nur Stoff, Element, Mittel, Material, erst mit der Melodie kommt auch ein Werk, eine Gestalt, ein Kunstgebilde hervor, das den Stoff belebt und in- dividualisirt; Lehre von der Form des musikalischen Kunstwerks und Melodik sind identisch, nur mit Ausnahme davon, daß jene auch die begleitenden, zur Melodie hinzutretenden Momente der Harmonie in ihrer Bedeutung für die Melodie selbst und die Musik überhaupt zu erkennen hat. Analysiren wir die Genesis des musikalischen Kunstwerks, so wird sich dieß ganz von selbst herausstellen. I. Die formlose Masse von Tönen erhält Form einmal dadurch, daß aus der unbestimmten Menge von Tönen ein begrenztes Quantum sich folgender, möglicherweise jedoch identischer, sich nur wieder- holender Töne (für sich oder mit Begleitung) gleichsam herausgehoben wird. Damit wäre aber erst ein Nach- und Nebeneinander von Tönen gegeben ohne Einheit, Ordnung und Gleichförmigkeit der Bewegung; dieses zweite Moment kommt hinzu durch Rhythmus , Takt und Tempo. Bliebe es nun hiebei, so hätten wir nur eine rhythmisirte Tonfolge, an der nichts Bestimmtes und Charakteristisches wäre als der Rhythmus selbst, der doch für die Musik nur Element, nicht das Ganze ist; es muß also, damit sie wirklich musikalisch sei, noch ein weiteres Qualitatives hinzukommen, d. h. es muß auch die Tonfolge selbst, abgesehen vom Rhythmus, Mannigfaltig- keit, Bestimmtheit, Charakter, Einheit an sich haben. II. Dieses Qualitative entsteht zuerst damit, daß die Tonreihe eine Folge von Tönen ver- schiedener Höhe und Tiefe , ein Auf- und Absteigen auf Tönen und Intervallen der Scala ist; schon die Scala selbst, rhythmisch gespielt, ist eine musikalische Tonfolge, eine in ihrer Art bereits befriedigende Formirung des formlosen Tonmaterials. Bleiben wir zunächst bei der Scala stehen (um uns die Melodie Schritt vor Schritt entstehen zu lassen und dadurch ihr so schwer begrifflich zu erfassendes Wesen uns zu anschaulichem Ver- ständniß zu erheben), so thut sich hier sogleich ein Unterschied hervor zwischen der Bewegung auf der Scala selbst und der Bewegung blos auf ihren Hauptintervallen (Terz, Quint u. s. f.). Die erstere gibt ein Ganzes, ein in sich zusammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht; und diese Differenz hat darin ihren Grund, daß die erste eine stetige Ton- folge ist, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern, nächstgelegenen fortschreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere sich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es ist in ihr eine Reihenordnung, ein Zusammenhang, ein aus vielen sich an einander reihenden Gliedern erwachsendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere, abstracte, dürre, starre Form, sondern ein inhalterfülltes und ein lebendig, organisch in sich fortschreitendes Ganzes ist; sie hat concrete Fülle, und sie hat Fluß und Leben, sie ist eine nirgends abgebrochene, fortströmende Linie, nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen, ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen dagegen führt zwar wohlthuende und charakteristische Tonverhältnisse vor (§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit zu großen Lücken, und darum macht sie den Eindruck einer blos abstracten Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten Inhalt, einer unzusammenhängenden Punctenreihe. Zur musikalischen Form gehört also nicht blos Wechsel von Höhe und Tiefe überhaupt, sondern dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie). Der discontinuirliche Wechsel zwischen entlegenen Tönen (z. B. das An- schlagen der Hauptintervalle) ist zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, er kann am gehörigen Ort auch seine Dienste thun, wenn es der Sache oder des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger stetige Tonfolge sich handelt, aber Stetigkeit ist das Vorherrschende, und sie kann oft (z. B. in Läufen) ganz für sich allein befriedigen, da stetig auf einander folgende Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben. Nur darf diese den Charakter des Stetigen an sich tragende Tonfolge weder ein leeres, unterschiedsloses Einerlei, noch eine Reihe ohne distincte Gliederung sein, wenn sie Kunstform sein will; die Scala z. B. ist (§. 771) dieses erst, wenn sie so gebildet ist, daß der Wechsel zwischen ganzen und halben Tonweiten und die Periodisirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und Gliederung in sie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der musikalischen Form stellt sich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar vorherrschend, aber nicht absolut stetigen, keinen gleichförmigen, stets in denselben Tonweiten sich bewegenden, sondern einen zwischen verschiedenen Tonweiten wechselnden Fortgang habe, und daß derselbe kein aggregatartiger, sondern ein in sich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß sie eine in kleinere Reihen sich theilende und dadurch ebenso mannigfaltige als wiederum ebenmäßige, leicht überschauliche und zur Einheit zusammenzufassende Tonreihe sei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechsel und Periodicität haben. In erster Beziehung darf sie nicht einförmig und träg hinundher- schleichen, um den Grundton ermüdend sich herumbewegen, wie so viele Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kiesewetter’s Ge- schichte der Musik mittheilt); sie darf auch nicht auf den Grad von Inter- vallenwechsel sich beschränken, den die Scala anwendet, da in dieser doch zu wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung ist, als daß sie für sich befriedigen könnte; neben dem stetigen Fluß ist Mannigfaltigkeit der Hebung und Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Gesetz. In zweiter Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenso zusammengehörigen als sich gegen einander abgrenzenden Gliedern bestehen, sie ist so anzulegen, daß von einem Ton aus ein gewisser Fortgang durch mehrere Töne bis zu einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher- gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf diese Wendung wieder eine andere folgt u. s. w. III. Indeß auch damit haben wir noch nicht die ganze musikalische Kunstform; man vergleiche z. B. eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächstuntere Be- gleitungsstimme, die nicht selbst wieder melodisch geführt ist; in einer solchen kann alles bisher Geforderte beisammen sein, und doch fehlt ihr noch gar Vieles zur musikalischen Form, sie leuchtet nicht ein, sie bedeutet nichts, sie hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortschritts und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, sie gefällt nicht. Darin erst, auch Dieses hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Musik; wie es aber hinzuzuthun sei (oder was volle musikalische Form gebe, was die Melodie schließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, ist einer der schwierigsten Puncte der musikalischen Aesthetik. Erforderlich hiezu ist weiter 1) Dieses, daß der Fortgang nicht blos stetig, wechselnd, periodisch, sondern zugleich gebunden ist durch die in seinem Verlauf stets festgehaltene Beziehung zu einem Grundton . Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes, entsteht erst dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabsteigen von einem Grundton aus ist, das die Beziehung zu diesem Grundton stets durch- scheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Gesetz, das sich selbst dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton- stücken mit verschiedenen Grundtönen besteht, indem diese Grundtöne der einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander stehen und wo möglich der Grundton des letzten Tonstücks mit dem des ersten identisch ist). Gehen wir zum Behuf bestimmterer Orientirung zunächst wieder auf die Scala zurück, so befriedigt sie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und Periodicität, sondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel- töne zum Grundton; sie ist eigentlich nichts als dieses, daß der Grundton eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm selbst (Prim oder Octave) zurückgeht, und welcher man, auch bevor dieß erreicht ist, diese Beziehung auf ihn immer wieder durch drei Umstände anmerkt, einmal dadurch, daß die stetige Hinauf- und Herabbewegung ein Ankommen bei der Octave vermuthen läßt, für’s zweite dadurch, daß die Bewegung innerhalb der Tonart des Grund- tons bleibt, und für’s dritte dadurch, daß diese Bewegung die auf den Grundton unmittelbar hinweisenden Hauptstufen der Leiter, Quint und Terz, berührt. Eine solche Bewegung leuchtet ein, sie ist motivirt und in sich abgeschlossen — denn man sieht, daß in ihr alles einen Zweck hat, man sieht, auf was sie hinaus will, auf Vorführung aller Töne, die nach einem bestimmten Tongeschlecht sich vom Grundtone aus als Mitte zwischen ihm und seinen Octaven ergeben, sowie auf Wiedererreichen des Grundtones; — sie macht den Eindruck des natürlichen, nicht willkürlich subjectiven, sondern objectiv begründeten Fortschritts — denn sie geht vom Grundton aus vor- wärts in Tonweiten, die der natürlichen Gehörorganisation gemäß sind, und durch Tonstufen, welche das Gehör als wesentliche, in charakteristischer Beziehung zum Grundton stehende Intervalle sogleich ansprechen; — sie gefällt, weil sie die Bewegung vom Grundton aus und zu ihm zurück in concreter lückenloser Weise, mit immerhin mannigfachem Tonwechsel zur Anschauung bringt und dabei doch durch ihre Einfachheit Alles ausschließt, was diese Anschaulichkeit verdunkeln oder stören könnte. Alle diese Ver- hältnisse, welche die Scala als Bewegung vom Grundton aus und zu ihm zurück klar, natürlich und gefällig machen, kehren, nur in weniger einfacher Weise und in großartigerem Maaßstabe, bei aller kunstmäßig geformten Musik, bei aller Melodie wieder und sind Bedingung derselben; klar wird alle Musik nur durch Festhaltung des Grundtons und seiner Tonart, durch Vermeidung zu vieler und entlegener Modulationen, durch rechtzeitiges Zurücksteuern zum Ausgangspuncte; natürlich wird sie bei kleinern Stücken nur durch einen Tonfortgang, der die Hauptstufen der gewählten Scala auch mitergreift, sie hervortreten läßt, hie und da auf ihnen ruht, bei größern durch längere Ausweichungen nur in solche Tonarten, die zur ursprünglichen in näherer Beziehung stehen; gefällig nur durch die ebenso mannigfaltige, wechselreiche als einfach ungezwungene, anschauliche Weise, mit der sie ebenso den Fortgang vom Grundton oder der Grundtonart hinweg wie die Zurückwendung zu ihnen bewerkstelligt. In anderer Rück- sicht freilich, nämlich noch mannigfaltigeren Tonfolgen gegenüber, gefällt die Scala nicht, weil sie zu stetig und uniform ist; sie gefällt doch nur in Vergleich mit gar zu einfachen Fortbewegungen, z. B. von Prim über Quint zur Octave, sowie in Vergleich mit ganz unbestimmt in’s Blaue gehenden Tonaggregationen, und dieser Punct führt uns nun 2) auf eine weitere Hauptbedingung der musikalischen Kunstform, auf das Charakteristische und Ausdrucksvolle . Das Charakteristische fehlt auch der Scala ihrer Uniformität ungeachtet nicht, und wir gehen daher auch hier wieder von ihr aus. Sie hat nicht blos die Eigenthümlichkeit, daß sich in ihr alles auf den Grundton bezieht und so ihr Gang einleuchtende Klarheit, moti- virten Fortschritt, natürliche Gesetzmäßigkeit und befriedigende Einheit erhält; sondern sie hat auch einen Charakter, eine Bedeutung, einen bestimmten Ausdruck; sie stellt eine bestimmte Art der Bewegung dar, nämlich die geradlinige Bewegung zwischen zwei Puncten (Prim und Octav), oder wenn sie auf- und abwärts genommen wird, die in gerader Linie auf- und absteigende, in gerader Linie aus sich heraus und in sich wieder zurück- gehende, kurz eine bestimmte Art von Bewegung, die nicht nur andern gegenüber ihre charakteristische Eigenthümlichkeit, sondern auch innerhalb der verschiedenen Bewegungsarten eine gewisse besondere Bedeutung und Be- deutsamkeit hat; die geradlinige Bewegung repräsentirt ja einen einfachen regelrechten Fortgang nach oben, welcher so gut als weniger einfache in der Musik vorkommen darf und muß, indem er z. B. der ganz treffende Aus- druck leichten oder entschiedenen Vorwärtsgehens (wie im Schlußchor des ersten Donjuanfinales), einfacher, ungehemmter Erhebung u. s. w. ist, wie auf der andern Seite die unmittelbar wieder in sich zurückgehende Bewegung der auf- und abwärts genommenen Scala eine einfache, gleichförmige, in sich kreisende Aufeinanderfolge identischer Hebung und Senkung darstellt, die gleichfalls eine berechtigte, in ihrer Art zu treffendem Ausdruck geeignete Bewegungsform ist. Ganz ebenso verhält es sich mit der musikalischen Form überhaupt. Ein Tongebilde, eine Melodie muß auch durch die Art und Weise ihrer Hebungen, Senkungen, Windungen, Schritte, Sprünge eine eigenthümlich charakteristische und bedeutsame, irgendwie interessante Bewe- gungsart darstellen, wie in der bildenden Kunst jeder Umriß Charakter und Bedeutung haben soll; ein Tongebilde entsteht sozusagen damit, daß aus den unendlich vielen an sich möglichen Zusammen- und Umstellungen der Töne eine einzige herausgegriffen wird, die so bestimmt ist in ihrer Art und Weise, daß wir in ihr sogleich einen eigenthümlichen Modus von Toncombination, einen eigenen etwas Bestimmtes ausdrückenden, einer bestimmten Bewegung der Empfindung, des Affects, des Willens u. s. w. (ähnlich wie vorhin die Scala) entsprechenden Bewegungsmodus, einen charakteristischen, etwas sagenden Verlauf erkennen, wozu natürlich die Rhythmik auch wiederum wesentlich mitwirken muß. An dieses letztere Moment schließt sich sodann 3) noch eine weitere Eigenthümlichkeit an; es ist nämlich in der hinaufsteigenden Scalenbewegung auch ein Rhythmus (im höhern Sinn des Worts §. 500), ein Bewegungsrhythmus , ein Aufschwung, ein Zug nach oben, der mit dem Uebergang von der Septime zur Octav wieder in Ruhe übergeht, und noch mehr ist dieser Rhythmus in der auf- und absteigenden Scala, indem hier dem Ansteigen die Senkung, der abwärtstreibende Zug nach unten folgt, welcher gleich- Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 60 falls erst mit dem letzten Uebergang von der Secund zur Prim sich wieder beruhigt (ein Verhältniß, das unter Anderem durch die Scalenläufe im Andante der Ouvertüre zu Don Juan vortrefflich in’s Licht gesetzt wird); es ist hinauf- wie hinabwärts sowohl ein Anschwellen, Forttreiben als auch ein Nachlassen und Verklingen der Bewegung, ein Hinauf- und Herab- drücken vom Anfangspunct zu den von ihm entferntern Mittellagen, von diesen wiederum zu dem dem Anfang entsprechenden Endpunct, sodann von diesem herab wieder zur Mitte und von da zum Ausgangspunct zurück. Dieser Bewegungsrhythmus ist es, welcher der Scala, und wie ihr auch jeder andern Tonreihe, erst vollkommen den Charakter eines in sich abge- schlossenen, alle Momente, deren eine Bewegung fähig ist, durchlaufenden, in sich lebendigen Tonganzen verleiht, das Empfindung und Phantasie ebenso hebt und emporträgt, als es sie wieder zur in sich befriedigten Ruhe herabläßt. Durch alle diese Eigenschaften hat endlich die Scalen- bewegung 4) auch vollkommenste Naturschönheit , sie ist ein Natur- schönes, das man nicht anders haben möchte, ein Naturschönes zwar von sehr großer Einfachheit und daher für sich allein nicht befriedigend, aber darin doch gefällig durch reine, unmittelbare, ungekünstelte Objectivität. Hiemit haben wir nun sämmtliche Momente beisammen, durch welche das Tonmaterial zum Kunstwerk sich gestaltet; wo alles Dieses ist: Begrenzung, Taktmäßigkeit und Zeitmaaß, Wechsel in Höhe und Tiefe und doch Fluß und Stetigkeit, Abwechslung der Tonweiten und periodische Gliederung, feste Beziehung auf einen Grundton, klar motivirte, natürliche, charakteristische Bewegungsrichtung und lebendiger Bewegungsrhythmus, da ist künstlerische Composition (vergl. §. 495 ff.) und Eindruck einer solchen vorhanden. Eine solche Tonreihe ist aber zugleich nichts Anderes als Melodie (oder eine Reihe, eine Gesammtheit von Melodieen); die Analyse der Melodie in ihrem Unterschied von der bloßen Tonreihe führt ganz auf dieselben Re- quisite, die sich uns für die musikalische Kunstform überhaupt ergeben haben, indem ja, wie die Erörterung an den Hauptpuncten es bereits hervorhob, keine Melodie ist, wo irgend eines derselben fehlt, und wir haben so zu- gleich den Satz, daß alle Musik Melodie ist. Die Fälle, in welchen um besonderer Wirkungen willen Rhythmus oder Harmonie allein dominiren, können nur Ausnahmen sein, da Rhythmus noch keine Musik, Harmonie aber Musik noch ohne distincte und lebendige Form ist. Maaß und Energie der Bewegung gibt der Rhythmus; seelenvolle Innigkeit, Schmelz, aus- drucksreiche Färbung und Markirung gibt die Harmonie; alles Andere aber, Begrenzung, feste Gestalt, anschaulichen Fortgang, Sinn und Klarheit, directen Ausdruck der Stimmung und Empfindung, Charakter und Leben erst die Melodie; sie erst gibt zu der Färbung das Licht, den Umriß, die Zeichnung, die Belebtheit und innerlichrhythmische Bewegtheit des Kunstwerks hinzu. Bezeichnend ist es in dieser Beziehung, daß man nur eine melodische oder melodiöse Tonfolge einen „ Gedanken “ nennt, ein Etwas, bei dem man zu denken und nicht blos äußerlich an einander Gereihtes zu hören bekommt; die Melodie ist eine gedankenmäßige, das Viele zur Einheit eines Ganzen gestaltende Gliederung des Tonmaterials; sie ist, eben weil sie die absolute Form ist, die weder abstracte Einheit noch abstracte Vielheit duldet, sondern Beides zu concreter Gestaltung verbindet und ein Ganzes aus ihnen bildet, auch Gedanke, während Rhythmus abstracte inhaltsleere Form, Harmonie nur Ergänzung einer schon vorhandenen Form, kein einheitliches Ganzes für sich ist und ebendeßwegen beide wohl gedankenmäßig sein können, aber noch keine „Gedanken“ sind. Weiter kann hier auf die einzelnen Momente des Wesens der Melodie noch nicht eingegangen werden; nur so viel ist noch zu bemerken, daß die Analyse jeder gegebenen Melodie, die wirklich anspricht und gefällt, alle jene obigen Merkmale vom ersten bis zum letzten, vom „begrenzten Quantum“ bis zur „Natürlichkeit und Gefälligkeit,“ ob- wohl natürlich nicht überall alle in gleichem Verhältnisse entwickelt (da sonst keine Mannigfaltigkeit von Melodieen wäre), in ihr aufzeigen, und daß sich als Grund des Unbefriedigenden einer Melodie immer das Fehlen des einen oder andern herausstellen wird. 2. Der zweite Satz des §. macht einen Unterschied zwischen Melodie im engern und weitern Sinn . Es kann nämlich nicht gefordert werden, daß ein Tonwerk blos aus solcher Melodie bestehe, die ganz für sich allein selbständige charakteristische Bedeutung und Verständlichkeit, durchaus regelmäßigen Verlauf, vollständig entwickelte Periodicität, schlecht- hin gefällige Tonfolge u. s. w. habe. In größern Tonwerken entstände dadurch Einseitigkeit, Uniformität, abstracte Klarheit und abstracte, leer und kraftlos werdende Gefälligkeit; die Musik, und besonders die weniger als die Menschenstimme auf einfach klaren, die Einzeltöne länger aushaltenden Fortgang angewiesene Instrumentalmusik, bedarf mannigfaltigere Formen, sie muß sich auch sozusagen frei tummeln können, ohne alle jene Gesetze der eigentlichen Melodie (Cantilene) zu beobachten, sie muß Sätze bilden dürfen, die wie z. B. die sehr rasch in verschiedenen Wendungen gespielten Töne der diatonischen oder chromatischen Scala mehr Figuren als selbständige Ton- gestalten geben, Figuren, in denen (vergl. §. 776, 3. ) die einzelnen Töne enger zusammenrücken und weniger bedeuten, Figuren, die zur eigentlichen Melodie sich verhalten, wie etwa Arabesken zur plastischen Zeichnung. Solche Figuren sind allerdings auch melodiös; aber die einzelne Figur für sich ist, wenn auch charakteristisch, doch theils quantitativ, theils qualitativ zu unbedeutend, von zu wenigem Gewicht, als daß sie eigentliche Melodie heißen könnte, so daß es mehr die Wiederholung oder Variirung der Figur oder die Aneinanderreihung mehrerer solcher Figuren ist, worauf das Be- 60* friedigende und Gefällige dieses Fortgangs beruht, wie z. B. in so vielen Orchestermelodieen, künstlichern Arienpartien u. s. f. Oder kann der gerad- linige Fortgang, sei es nun einfach oder variirt durch einzelne Wendungen, die jedoch dem geradlinigen Fortgang untergeordnet bleiben, angewendet werden in Passagen, Läufen, Tongängen ; ein solcher geradliniger Fortgang ist auch Melodie, wie sich dieß oben bei der Betrachtung der Scala ergab, er ist aber doch nicht vollkommene Melodie, weil er zu wenig Wechsel und Charakter darbietet; auch hier haben wir nur Melodie im weitern Sinn. Ein dritter Fall ist der, daß ein Tonwerk aus einem möglichst einfachen Gedanken durch Variirung ein größeres Ganzes aufbaut, oder daß es aus einem kurzen Satz (Thema) Keime (Motive) heraushebt, die weiter entwickelt, „thematisch“ verarbeitet werden; ein solcher einfacher Grundgedanke braucht auch nicht alle Erfordernisse der Melodie zu ver- einigen, er kann zu eng begrenzt, zu einfach sein, um Melodie im vollen Sinn des Worts zu heißen. Alle diese Melodieen im weitern Sinn oder melodiösen Sätze haben dieses mit einander gemein, daß sie, eben weil sie nur unvollkommene Melodieen sind, blos innerhalb eines größern Zusammenhangs befriedigen und verständlich sind. Verschieden ist ein vierter Fall, wenn nämlich eine Melodie erst durch die Accord - oder Stimmen- begleitung vollen Sinn erhält, indem das Hauptgewicht auf den charakteristischen Accordklängen und Stimmencombinationen liegt; auch da kann der Wechsel, der Bewegungsrhythmus, der eigenthümliche Charakter fehlen, der zur eigentlichen Melodie gehört, indem diese Momente von der Harmonie oder von der kunstreichen Stimmführung übernommen werden, und so ist auch hier nur Melodie im weitern Sinne vorhanden. Ganz hört die Melodie nur da auf, wo die Accordfolge so das einzig Gewichtige ist, daß die Reihe der obersten Accordtöne keinen für sich irgend verständ- lichen und bedeutenden Fortgang mehr bildet, oder wo einzelne Töne oder Accorde (identische oder verschiedene) ohne Verbindung unter sich blos nach einander mehrmals angeschlagen werden; dieses Fehlen der Melodie kann aber nur ausnahmsweise vorkommen, indem die bestimmte Melodiebewegung durch solche noch unbestimmtere Töne und Tonfolgen eingeleitet, mit Unter- brechungen weiter geführt oder abgeschlossen werden soll. Daß die Melodie selbst da, wo sie für sich charakteristische und schöne Form hat, in der Regel die Harmonie postulirt, als die für volle Musik unentbehrliche Ergänzung, durch welche in ihren Gang festerer Zusammen- halt, wahrer Fluß, bestimmtere Charakteristik kommt, ist im §. 775 bereits ausgeführt. Insbesondere aber gilt dieß von den melodischen Figuren, die für sich selbst weniger Bedeutung haben; sie sind bei längerer Auf- einanderfolge zu leer, zu leicht, zu schwebend ohne Harmonie und gehören in dieser Beziehung mit denjenigen Tonfolgen, die wir vorhin als vierte Art von Melodieen im weitern Sinne bezeichneten, zu einer Gattung zu- sammen. Die Frage, welche dieser beiden Arten von Melodie für die Musik höhere Bedeutung habe, ist dahin zu entscheiden, daß Musik nie blos aus melodischen Sätzen im weitern Sinn des Worts bestehen kann. Die nur uneigentlich melodische Composition steht allerdings in einer gewissen Be- ziehung höher als die einfach melodische, sie ist freier, größerer Abwechslung und Lebendigkeit fähig, sie vertritt innerhalb der Melodie das Prinzip des indirecten Idealismus , ohne das die Kunst nie recht concret wird, sie ermöglicht die Instrumentalmusik, welche eben die freieste und concreteste musikalische Kunstform ist. Aber sie kann nie für sich allein ein schönes musikalisches Kunstwerk hervorbringen; wenn innerhalb eines Tonganzen nicht auch eigentliche Melodie zu Tage tritt, sei es nun als Thema oder innerhalb der figurirten Tonsätze, so fehlt etwas Wesentliches. Die figurirte Bewegung ist wegen ihrer Kleintheiligkeit die unruhigere, wegen der Man- nigfaltigkeit von Figuren, die sie an einander reihen muß, die wechselvollere, wegen der geringern Bedeutung, die in ihr das Einzelne für sich hat, die weniger helle und deutliche, sie ist mehr ein in mannigfaltigsten Wendungen sich fortziehendes Gewebe, als ein ruhig klar und einfach hinschreitendes Gebilde. Blos figurirter Musik fehlt die Helligkeit, die Concentrirung auf klar bestimmten Gefühlsausdruck, es fehlt ihr die klare Sprache der Empfin- dung, der einfach volle Erguß innerer Bewegung, und sie muß daher ent- weder einer Melodie, die das Hauptthema des Ganzen bildet, untergeordnet sein, aus ihr hervorwachsen als ihre Variirung oder thematische Verarbei- tung, oder ist es gefordert, daß sie an einzelnen Puncten zur eigentlichen Melodie übergehe, sie aus sich hervortreibe, um in ihr zur Sammlung, zur ausgesprochenen Klarheit, zur ruhig schönen Haltung zu kommen, sie muß sich zu ihr entfalten, wie die Pflanze zur Blüthe und Blume, wie der Organismus zum Auge, zu dem ruhigen und in Ruhe Alles sagenden Spiegel des bewegten Innern. Kleinere Tonstücke, mit Ausnahme von mehr technischen Etüden, einleitenden Präludien, zum Gesang überführenden Recitativen u. s. w., können nur aus vorherrschend eigentlicher Melodie bestehen, da sie sonst keine Bedeutung für sich hätten, während in größeren Compositionen allerdings die eigentliche Melodie, wie schon bemerkt, schlecht- hin unzureichend ist, weil man nie blos das einfach Gefällige will. Das Gebiet der eigentlichen Melodie ist vorzugsweise die Vocalmusik; in ihr die Figurirung zu viel anwenden, ist ein Widerspruch, an dem manche sonst mit höchster Kunst gearbeitete Werke älterer Componisten und noch mehr eine Unzahl von Opernarien kranken; der Widerspruch war verzeihlich, so lange die Instrumentalmusik noch weniger ausgebildet und in ihrem Recht aner- kannt war, aber er ist es nicht mehr, seitdem die Möglichkeit da ist, die beiden Arten von Melodie an die beiden Hauptgattungen der Composition zu vertheilen. Ein ausschließender Gegensatz zwischen eigentlicher und un- eigentlicher Melodie findet des wesentlichen Unterschieds beider nicht statt; beide können, falls nur Fehler wie der eben angeführte vermieden werden, in einem und demselben Tonstück zusammen angewendet werden, so namentlich in Instrumentalstücken von einfachem und doch lebendig bewegtem Charakter, wie Tänze, Märsche und dergleichen. Ja die eigentliche Melodie kann in uneigentliche, in figurirte sich verwandeln; die Richtung des Tonfortgangs, seine lineare Bewegung bleibt im Allgemeinen dieselbe und spezificirt sich doch in den einzelnen Theilen zu einer Mannigfaltigkeit von Wendungen, welche größeres Leben in ihn bringen; die einzelnen Glieder (Noten, Takte) der ursprünglichen Melodie verselbständigen sich, regen sich, treiben kleinere ineinander übergreifende Sprossen und Zweige, und die Gestalt des Ganzen scheint deßungeachtet unverändert durch diese Zuthaten hindurch. An dieser Figurirung der Melodie hat die Musik ein Hauptmittel der Belebung und Mannigfaltigkeit, das auch die Vocalmusik für diese Zwecke reichlich verwenden kann. §. 780. 1. Wie zwischen Melodie im engern und weitern Sinn zu unterscheiden ist, so ist auch die ihr wesentliche Periodicität eine doppelte; sie bezieht sich theils auf die Anordnung des Ganzen, sofern diese einen nach den Gesetzen der Sym- metrie gesialteten Periodenbau darstellen muß, theils auf die größern und kleinern Glieder der längern periodischen Abschnitte, indem auch diese untergeordneten Glieder eigene, unter sich zusammengehörige Gruppen darstellen müssen. Quan- titativ läßt die periodische Gliederung sehr vielfache Unterschiede der Zahl der 2. Haupt- und Unterabtheilungen zu; in qualitativer Beziehung aber ist noth- wendig, daß die einzelnen Theile und Gruppen bei aller Selbständigkeit natür- lich, fließend, in lebendigem Bewegungsrhythmus sich an einander anreihen. 1. Das so weich und schwebend scheinende Gebilde der Melodie verbirgt in sich eine strenge Gliederung und Gruppirung, deren Nothwendigkeit der vorhergehende §. nachgewiesen hat und deren Wesen nun noch spezieller zu betrachten ist. Am klarsten tritt sie hervor bei der Melodie im engern Sinne, während die blos melodiöse Tonfolge wenigstens in größern Ton- stücken keinen so einfach bestimmten Gesetzen der Anordnung unterworfen ist (§. 779, 2. ), daher hier zunächst nur von eigentlicher Melodie und kleinern Melodieen im weitern Sinn die Rede ist. Das melodische Tonstück baut sich in der Regel auf aus zwei in Bezug auf Länge einander conformen Haupttheilen; dieselben können, wie namentlich in bewegtern Stücken (beson- ders Arien), auch einen dritten in die Mitte nehmen, aber die normale und für sich ganz befriedigende Form ist die Zweitheiligkeit . Durch sie stellt sich die Melodie einerseits dar als eine Tonfolge von nicht zu kleinem Umfang, als ein nicht zu inhaltloses, gehörigen Raum umspannen- des Ganzes; andrerseits bewirkt sie, daß das Nacheinander der Töne durch Sonderung in Theile die ihm sonst fehlende Ueberschaulichkeit und durch gleiche (symmetrische) Gruppirung eine Regelmäßigkeit des Verlaufs erhält, ohne welche Einheit und Zusammenstimmung an ihm vermißt würde. Das Ohr rechnet besonders bei kleineren Tonstücken unbewußt die Zeitlänge des einen Theils nach und erwartet ihre Wiederkehr; wird sie im zweiten Theil gekürzt oder überschritten, so entsteht, auch wenn der Fehler nicht bemerkt wird, das unbehagliche Gefühl unsymmetrischer Anlage (wie bei einem Gebäude mit ungleichen Langseiten), und es ist daher, wo nicht der beson- dere Inhalt oder Charakter eines Stücks es anders verlangt und hiedurch die Abweichung rechtfertigt, ein unabänderliches Gesetz, daß die zwei Theile einander entsprechen; sie müssen mindestens, wenn nicht geradezu gleich, doch einander proportional sein, indem z. B. ein 12taktiger Theil auf einen 8taktigen folgt. Dieselbe Gliederung fordert ein Tonstück, wenn es nicht unklar und unsymmetrisch sein will, innerhalb der einzelnen Theile; die Regel ist auch hier, daß sie aus Unterabtheilungen, gewöhnlich Perioden genannt, gebildet werden; kleinere Melodieen, z. B. Lieder, Themas zu Variationen, können auch blos aus Perioden oder aus periodisirten Ab- schnitten, die nicht förmlich als Theile von einander geschieden sind, (sowie andrerseits größere melodische Stücke, deren Inhalt die Sonderung in größere Theile nicht verstattet, aus einer Reihe solcher Perioden oder Abschnitte) bestehen. Ein 16taktiger Theil z. B. ist schon zu lang, wenn er nicht peri- odisirt ist; man hätte an ihm eine Reihenfolge ohne Einschnitte und Ruhe- puncte, welche weder klar überblickt noch mit dem Wohlgefallen, das nur die gegliederte Anordnung gewährt, aufgenommen werden könnte; Aus- nahmen von dieser regelmäßigen Periodisirung finden auch hier nur statt bei sich länger hinziehenden figurirten Tonfolgen oder bei Figurirung ein- zelner Stellen der Melodie durch Läufe, Verzierungen u. s. w. Die Theile sowohl als die Perioden und Abschnitte haben, obwohl nicht in völlig gleicher Weise, ein Merkmal mit einander gemein, sie bilden gesonderte Partien des Ganzen. Jeder Theil schließt den melodischen Fortgang ab; beide Theile haben eigene Schlüsse, die sich nur dadurch von einander unter- scheiden, daß um der Einheit des Ganzen willen der zweite Theil noth- wendig im Grundton des Stückes schließt, der erste aber nicht. Die Periode ist zwar nicht so selbständig wie der Theil, sie kann sich z. B. der nächsten durch eigens dazu bestimmte Zwischen- und Uebergangstöne anschließen, sie hat nicht einen eigenen Schluß; aber einen Endpunct mit Schlußcharakter muß sie haben, der sich durch den Gang der Tonfolge, sowie der Begleitung, durch ein Zuruhekommen, Anhalten der Bewegung, namentlich durch Still- halten auf der Tonica oder auf der Quint ankündigt. Dieser äußern Aehn- lichkeit der Construction des Theils und der Periode liegt die innere zu Grund, daß der Theil und die Periode mehr oder weniger selbständige Theile des Ganzen sind, eine Selbständigkeit, durch welche es eben seine nothwendige Gliederung erhält. Es ist zwar kein Theil ohne den andern, keine Periode ohne die ihr vorhergehende oder folgende ganz und recht ver- ständlich, da sonst die Einheit des Tonstücks aufgehoben wäre, aber relativ sind sie doch ein Ganzes für sich. Der zweite Theil ist eine entsprechende Weiterführung oder theilweise Wiederholung des ersten, der erste ist eine Vorbereitung des zweiten, so daß keiner ganz selbständig ist; der erste sagt nicht genug, nicht Alles ohne den zweiten, der zweite baut auf dem ersten fort, er stände ohne ihn in der Luft; aber sie verhalten sich zu einander doch immer zugleich wie Vor- und Nachbild, Bild und Gegenbild; es ist jeder doch selbst ein Bild, wie zwei Gemälde, deren eines den Anfang, das zweite den dem Anfang entsprechenden Abschluß einer Handlung oder Be- gebenheit darstellen wollte, bei aller Zusammengehörigkeit doch selbständig gegen einander wären; gerade bis zu dieser scharfen Sonderung in selb- ständige Ganze muß die Theilung des Tonstücks fortgehen, wenn sie voll- ständig sein will. Eine ähnliche, wenn auch schon geringere Selbständigkeit kommt sowohl dem periodisirten Abschnitt als der Periode selbst, also z. B. der ersten viertaktigen Hälfte eines ersten Theils zu; sie macht für sich schon weit mehr den Eindruck des Unvollständigen, das eine Ergänzung und Weiterführung fordert, aber sie ist doch noch eine Tonfolge, die auch schon ausgedehnt und charakteristisch genug ist, um ein Tonbild zu sein, was namentlich dann klar hervortritt, wenn mit der zweiten Periode eine neue Tonart, die Tonart der Dominante eintritt; wäre nicht jede Periode ein Tonbild, das sich gegen das nächstfolgende klar abhebt, so wäre der aus Perioden bestehende Theil eben auch nur eine Tonreihe, in der nichts Be- zeichnendes, nichts Bestimmtes zu Tage träte; er wäre eine gerade Linie, eine Reihe von Puncten, so aber ist er eine (in der ersten Periode) sich hebende und wieder zu einem Abschlusse sich herabsenkende, eine (mit der zweiten Periode) sich hebende und sich abermals senkende Wellenlinie, wie die Musik sie fordert, weil sie ihr Wesen in concreter Mannigfaltigkeit der Bewegung eines beweglichen und nur in distincter Beweglichkeit schönen Tonmaterials hat. Aber auch mit der Periode ist die Gliederung noch nicht vollendet. Die Periode ist immer so groß, um ein relativ selbstän- diges Tonbild zu sein; sie hat also immer mindestens so viel Umfang (z. B. 4, 6, 8, 10 u. s. w. Takte), daß auch in ihr Raum für Gliederung ist, wenn auch nur für eine einfache zweitheilige Gliederung, und sie kann wirklich als Periode, als ein Ganzes für sich nur erscheinen, wenn sie diese Gliederung in Theile wirklich hat, d. h. wenn sie so gestaltet ist, daß die erste Hälfte sich von der zweiten sondert, auf sie vorbereitet, in ihr gleichsam eine Antwort, ein Gegenbild, eine Ergänzung ihrer selbst findet. Diese Unterabtheilungen der Periode heißen Vorder - und Nachsatz , die beide von einander auch äußerlich getrennt sein können, jedoch nicht müssen, wenn nur die Richtung der Melodie nebst der Begleitung einen Ruhe- oder Wendepunct, einen Einschnitt zwischen beiden Theilen kenntlich macht. Vor- der- und Nachsatz sind natürlich noch weniger selbständig als erste und zweite Periode, aber sie bedeuten doch etwas für sich, sie geben eine eigene, bereits irgendwie charakteristische Tonfigur, der man allerdings durch ihre Kürze und Unabgeschlossenheit sogleich anfühlt, daß sie integrirender Theil eines größern Tonganzen ist. Die Theilung kann sogar noch weiter herabgehen, es kann innerhalb größerer Vorder- oder Nachsätze jedes Taktpaar, in klei- neren jeder Takt ein besonderes Glied mit eigenthümlicher Bewegung bilden; aber überall nothwendig ist namentlich diese letztere ganz bestimmte Glie- derung, so sehr sie zur Lebendigkeit und charakteristischen Gestaltung beiträgt, deswegen nicht mehr, weil eine gleichförmige Bewegung durch 2 oder bei Tonstücken von größerem Maaßstab durch 4 und 5 Takte hindurch immer noch kurz genug ist, um auch ohne vermannigfaltigende Gliederung den Eindruck einer klaren und ansprechenden Tonfolge zu machen. Die gesammte Gliederung des melodischen Tonstücks stellt sich somit dar als symmetrisch sich eintheilend und abstufend; es zerfällt in Theile mit größter, mittlerer, kleinerer und kleinster Selbständigkeit gegen einander, es zerfällt in Theile, die im Verhältniß gegenseitiger Ueber- und Unterordnung untereinander stehen; es ist so in der Gruppirung der Melodie eine gemessene architecto- nische Logik, auf deren Durchführung ihre Ueberschaulichkeit und Einfachheit, ihre Klarheit und Haltung, ihre Abrundung und Gefälligkeit, kurz ihre Schönheit der Form nach beruht; ja selbst zur Idealität und Erhabenheit des Eindrucks kann sie mitwirken eben durch die gemessene, sichere Ruhe, die mit ihr gegeben ist. In bewegtern, dem Inhalt nach mannigfaltigern Tonstücken darf und soll die streng mathematische Eintheilung freilich nicht eingehalten werden; aber auch hier, wie desgleichen auch in größern Ton- werken, sind immer wenigstens einige Partien symmetrisch gegliedert und tragen so zur Ordnung und Natürlichkeit des Ganzen bei. Man vergleiche z. B. die Arien „dieß Bildniß“ und „O Isis“ in der Zauberflöte. In der erstern finden wir strenge Gliederung nach gleichförmigen Sätzen und Satzreihen nicht durchgehend, wir treffen in ihr der Zahl der Takte nach sehr ungleichartige Glieder, Sätze und Perioden, indem die Länge der ein- zelnen Partien sich ganz nach dem Inhalt der Empfindungen bestimmt, welche veranschaulicht werden sollen; diese Arie ist mit Recht psycho- logisch, nicht streng logisch construirt, sie schmiegt sich den Bewegungen des Gemüths an, und die Ruhe, die wir dessen ungeachtet an ihr bewundern, hat der Meister ihr vorzugsweise durch andere Mittel, durch das gehaltene Tempo, durch den schönen Fluß der Melodie, durch die kunstreiche Compo- sition der einzelnen Haupttheile zu geben gewußt. Die Arie des Sarastro dagegen besteht in vollkommenster Regelmäßigkeit aus sechs 8taktigen Pe- rioden; sie ist, da der unumwundene, strömende Erguß des Gesangs nir- gends ein Abbrechen duldet, nicht in zwei Theile gesondert, sondern erhält nur durch das Einfallen des Chors am Ende der dritten und sechsten Periode eine gewisse Abgrenzung; aber gerade diese durchaus gleichförmige und gleichmäßige Fortbewegung in einem und demselben Rhythmus verleiht ihr jenes Gepräge priesterlicher Feierlichkeit, erhabener Seelenruhe, das im Verein mit der seelenvollen Innigkeit und schönen Pracht der Melodie und Harmonie diese Arie zu einer in ihrer Art einzigen Erscheinung macht (wogegen der schon wieder stärker bewegte Chor „O Isis“ mit kleinern und größern Sätzen wechselt und überhaupt nicht diese ganz gleichförmige periodische Anordnung zeigt). Eine feste Bestimmung der Zahl kann, wie schon eigentlich für die Theile nicht, so noch weniger für die Perioden und Sätze gegeben werden; letztere können je nach Umständen 2-, 3-, 4-, 5taktige sein u. s. w.; die Hauptsache ist nicht die Zahl an sich, sondern die Sym- metrie, vor Allem also gleiche Taktzahl des Vorder- und Nachsatzes, weil Ungleichheit hier am störendsten wirkt, wogegen die Taktzahl der Perioden und der Theile dem Symmetrieverhältniß nicht so streng unterworfen ist, weil hier je nach Bedarf Erweiterung, Verlängerung das Richtige sein kann. Je einfacher, überschaulicher, in sich abgeschlossener, je mehr nach dem Prinzip des directen Idealismus abgefaßt das Stück ist, desto mehr strenge geradzahlige Symmetrie; je freier, mannigfaltiger, bewegter dagegen das Ganze ist oder je mehr es unter das Prinzip des indirecten Idealismus fällt, desto freier ist auch die Handhabung der Symmetrie, obwohl sie nie ganz fehlen darf, sondern wenigstens einzelne Abschnitte beherrschen muß, damit sie innerhalb des Ganzen doch auch zur Erscheinung komme und ihm dadurch der Charakter der Uebersichtlichkeit und Ordnung gewahrt werde. Dieses Nebeneinander von Gebundenheit an das Symmetriegesetz und von Freiheit in seiner Anwendung ist tief begründet im Wesen der Musik als subjectiver, den Ausdruck immer wieder über die Form stellender Kunst, sowie als Bewegung in der Zeit, die einerseits Maaß und Gliederung wesentlich braucht, aber andrerseits eben doch nur ein Maaß und eine Gliederung überhaupt , nicht wie die Architectur eine exakte, die Prüfung des messen- den Auges aushaltende geometrische Gliederung; es weist hin auf die Ver- wandtschaft der Musik mit der Poesie, deren Verse und Strophen so ziemlich dasselbe sind mit den musikalischen Sätzen und Perioden, obwohl sie in Bezug auf die Zahl der Strophen sowohl des ganzen Gedichts als seiner einzelnen Theile eine (für den Gedankenausdruck nothwendige) Freiheit hat, welche der Musik als wesentlich rhythmischer Kunst versagt ist. 2. In der Theorie der Musik ist es gewöhnlich, die Taktgruppen, welche zusammen einen größern Satz oder auch kurze Perioden bilden, Rhythmen zu nennen; diese Bezeichnung ist in so fern passend, als die Sonderung des Tonstücks in Theile u. s. w. nicht nur der übersichtlichen Gliederung dient, sondern auch zum Bewegungsrhythmus in wesent- licher Beziehung steht. Der Theil führt zum Theil, die Periode zur Periode, der Vorder- zum Nachsatz, die Taktgruppe zur Taktgruppe hinüber; das erste Glied ist allemal — dieß geht durch die ganze Musik hindurch — ein An- fangen, ein Anheben, das im zweiten Glied zur Vollendung oder zur Ruhe, eine unvollkommen gebliebene Tonerhebung, die im zweiten zur Ergänzung und Vervollständigung gelangt; das erste Glied lüftet den Vorhang nur halb, zeigt nur erst ein halbes Tonbild, ganz bekommen wir es erst im zweiten; das erste Glied führt uns irgendwie hinaus in das Reich der Töne und Tongestalten, aber es läßt uns stehen auf halbem Weg, es gibt uns keinen Abschluß, zeigt uns den Rückweg nicht, dieß geschieht erst durch das zweite. So kommt in die Musik Hebung und Senkung, Spannung und Lösung, Erwartung und Befriedigung, und hiedurch eben ist die Musik theils für uns spannend, theils das wahrhafte Abbild des Gemüths, das eben in dieser die Ichheit ergreifenden, mit sich fortführenden und erst all- mälig sich wieder lösenden Spannung der Gefühle und Affecte sein Leben hat. Die eine Taktgruppe treibt mit der Richtung, die ihre Töne nehmen, schlechthin fort zur nächsten; diese mit ihr zusammen oder der Vordersatz zum Nachsatz, indem er ohne diesen unvollständig erscheint wie eine Frage, die auf Antwort wartet; die Periode ist nun zwar im Nachsatz zu einer Beruhigung gekommen, aber sie als Ganzes ist doch wiederum nicht fertig in sich, sondern erwartet ihre Ergänzung durch die zweite; aber auch mit dieser darf die Bewegung nicht aufhören, wenn nicht das Musikstück über- haupt aufhören soll; will es nicht aufhören, so muß die zweite Periode mit der ersten zusammen wieder ein Unvollständiges sein, das Ergänzung durch Weiteres fordert oder doch erwarten läßt, eine Eigenschaft, die namentlich damit erreicht wird, daß mit der zweiten Periode eine Ausweichung in eine andere Tonart und somit eine Abweichung des ganzen Tonstücks von sich selbst eintritt, die wieder aufgehoben werden muß und daher eine weitere Fortsetzung der Tonreihe verlangt. Aus diesen rhythmischen Beziehungen der Sätze und Perioden ergibt sich nun zugleich der Bewegungsrhythmus des ersten Theils überhaupt; dieser Bewegungsrhythmus ist ein Complex aus kleinern Rhythmen, in welchem die Spannung stets zunimmt; es ist zwar eine Bewegung, die innerhalb ihrer selbst (in der zweiten Taktgruppe, im Nachsatz und in der zweiten Periode) mehrere Ruhepuncte hat, und sie trägt auch hievon abgesehen gar nicht nothwendig den Charakter einseitiger Erregtheit an sich, sofern sie zunächst doch nur der blos allmälig sich hebende und daher verhältnißmäßig noch immer ruhigere Anfang des Ganzen ist, der die Hauptgedanken desselben exponirt; aber es ist doch immer eine Be- wegung, welche, namentlich bei Anwendung der Modulation, als Ganzes unvollständig ist und weiter treibt, so daß Alles zusammengenommen das Moment der noch nicht abgeschlossenen Hebung, der Spannung, der Er- wartung das Uebergewicht behauptet; der erste Theil ist eine die Haupt- gedanken gebende, aber sie noch nicht weit genug fortführende Exposition, die eben weil sie Manches noch zurückhält auch noch weiter vorwärts treibt. Anders der zweite Theil (oder in kleineren Stücken die zweite Periode, so- wie in nicht genau nach Theilen gesonderten Stücken, wie die vorhin an- geführte Arie aus der Zauberflöte, die zweite Periodenreihe des Ganzen). Steigt der erste Theil auf, so steigt der zweite ab; führt jener vorwärts, so führt dieser zurück; spannte uns der erste, so löst dieser die Spannung wieder in Ruhe und Befriedigung auf. Dieses ist nun aber nicht so gemeint, als trete mit dem zweiten Theil sogleich ein Nachlassen der Bewegung und Lebendigkeit des Tonstücks ein. Es kann dieß, außer wo Inhalt und Aus- druck eine Ausnahme gebieten, schon deßwegen nicht stattfinden, weil die Musik doch immer Erhebung und Bewegung ist und daher das Moment des Nachlassens, so wenig es fehlen darf, doch dem Moment der Hebung stets untergeordnet bleiben muß, und es ist auch dadurch ausgeschlossen, daß der erste Theil eine immer nur erst anschwellende, vorwärtstreibende Bewegung ist, die den höchsten Grad der Hebung noch gar nicht erreicht hat. Die Sache verhält sich mithin vielmehr so, daß nur der ganze Charakter und ganze Verlauf des zweiten Theils ein Nachlassen der Bewegung, ein Sichlösen einer Spannung darzustellen hat. Der zweite Theil hat daher wesentlich selbst auch noch Hebung, Aufstreben, Fortschritt in sich; er setzt zunächst die Hebung des ersten Theils fort, vollendet sie, führt sie weiter, steigert und verstärkt sie auch (ein Zweck, dem in größern Werken der den zweiten Theil beginnende „Mittelsatz,“ der bewegteste Theil des Ganzen, seine Entstehung verdankt). Ist aber dieß geschehen, dann tritt das Nach- lassen ein; die Bewegung sammelt, beruhigt sich, sie kehrt namentlich zur Grundtonart zurück, ja sie wiederholt geradezu oft die erste Periode oder den ganzen ersten Theil, sie läßt diese ersten Partien, denen nun, nachdem sie (im Anfang des zweiten Theils) die geforderte Ergänzung und Ver- stärkung oder die Fortführung zu weitern Bewegungsformen, die sie er- warten ließen, bereits erhalten haben, der Charakter des Unbefriedigenden, Unvollständigen und Erwartunganregenden benommen ist, noch einmal auf- treten als die Grundlage des Ganzen, zu welcher dieses, nachdem es seinen Kreislauf gemacht, nachdem es Alles, dessen es fähig war, aus sich hervor- getrieben hat, einfach zurückkehrt, um in ihr zur Ruhe zu kommen; höchstens am Schluß hebt und erweitert sich der Grundgedanke noch einmal, um nicht (wie dieses allerdings häufig der Fall ist) in leicht monotoner Wiederholung und mattem Nachlaß zu verklingen, sondern mit einem Nachklang des höhern Aufschwungs, der gegen das Ende des ersten Theils oder am Anfang des zweiten genommen war, und so doch mit immer noch lebendig bewegtem Wellenschlag zu schließen (ein Moment, das sich in größern Werken, z. B. Symphonien, zu eigenen stärker erregten Schlußsätzen ausbreitet). Der zweite Theil ist so das vollkommenste Gegenbild des ersten, er hat den um- gekehrten Rhythmus, er fängt in und mit der Bewegtheit an, führt sie eine Weile noch fort, läßt sie aber mehr und mehr sich beruhigen; wie der erste aus immer wieder vorwärtstreibenden Rhythmen besteht, so der zweite aus Rhythmen, die immer mehr zur Ruhe hinführen, wovon selbst die bewegtern Rhythmen im Anfang des zweiten Theils nicht ausgeschlossen sind, indem gerade mit dem höchsten Grade der Erregung die Umkehr, der Nachlaß, die Senkung bereits angebahnt, ja am bestimmtesten motivirt ist. Im Einzelnen modificirt sich dieses Alles freilich auf mannigfaltige Weise, da theils Größe, theils Charakter einzelner Tonwerke oft eine weit concretere Gliederung der Haupttheile verlangen, indem z. B. in größern Compositionen schon im ersten Theil neben dem Moment der Hebung das der Beruhigung stärker vertreten sein muß, als dieses bei kleineren Melodieen möglich ist; aber das Gesetz ist überall durch die größten wie durch die kleinsten Tonwerke hin- durch eines und dasselbe: Aufschwung, Hebung, Spannung, damit ein innerlich motivirter Fortgang, ein Interesse, — Nachlassen, Senkung, Lösung, damit ein Resultat und Abschluß da sei und nicht die Musik eben da abbreche, wo sie blos umkehren und allmälig zur Beruhigung zurück- lenken sollte; alles Erklingen, sei es nun eines Tones oder einer Tonreihe, fordert Verklingen, alles Erzittern ein Ausbeben, eine Herstellung des Gleichgewichts; so nur ist für den Geist Befriedigung, Vollendung, An- schauung eines zur Einheit sich abrundenden Ganzen da, und es wird daher sogleich als Uebelstand gefühlt, wenn ein Kunstwerk nicht zu lebendigem, bewegtem Aussichherausgehen, noch mehr, wenn es nicht zu einem erst nach Erschöpfung aller Stufen und Grade der Bewegung eintretenden, dann aber die Spannung völlig lösenden, die Bewegung zur Ruhe führenden Aus- tönen, kurz zu einem natürlichen und befriedigenden Abschluß gelangt. Wirklich schöpferische Phantasie (die namentlich eben das unter Anm. 1. Geforderte versteht, „für sich unvollendete, zu weitern vorwärtstreibende“ und hiedurch den Fortgang belebende und motivirende Sätze zu bilden), vermählt mit ursprünglichem, sicher treffendem Sinne für Gleichmaaß, allein kann diese Rhythmik des Tonwerks hervorbringen, deren gelungene Vollendung wesentlich über den Totaleindruck des Ganzen entscheidet; keine hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung, ohne Ausgestaltung selbständiger, sich gegen einander abhebender Gedanken- gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einseitige Erregtheit ohne besonnenes Zurückstreben zur Ruhe, dieß sind auch in der Musik Grund- gesetze, die nie veralten, sondern immer nur in neuen Formen angewendet werden können. Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber- gänge zwischen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Absonderung und Gliederung, verstehen sich von selbst. Dieses Moment mußte aber doch besonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das Tonstück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur Wiederholung von Sätzen des ersten zurücklenkt, ist es von großer Wich- tigkeit, daß dieses Zurücklenken durch passende Uebergänge, z. B. von der ersten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abschließenden gehörig motivirt und ausgeführt erscheine. Die Uebergänge sind, obwohl schon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und schwierig als die Schlüsse; ob der Componist das Tonmaterial wirklich beherrscht, dieses muß sich ganz besonders daran zeigen, ob er im Stande ist, Uebergänge einzu- führen und zu bilden, welche wie in melodischer Beziehung so rücksichtlich des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend schroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem bestimmten Eindruck, daß das Einschlagen einer andern Richtung oder der Rückgang zu schon Dagewesenem sich vorbereite, irgend etwas vermissen zu lassen. §. 781. Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere und niedere Stimmen, deren Gang seiner Bezogenheit auf die Melodie unge- achtet sehr mannigfaltig sein und daher auch mit einer gewissen, der Melodie analogen charakteristischen Selbständigkeit ausgestattet werden kann. An diese Selbständigkeit der Einzelstimmen knüpft sich die Entstehung der ersten über die einfache Melodie hinausgehenden Form des zusammengesetzten musika- lischen Kunstwerks , die Entstehung der polyphonen Musik im Gegensatz zur homophonen. Die Melodie ist die Grundform der Musik; aber sie tritt zugleich, worauf schon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache Melodie“ andern und reichern Formen der Musik gegenüber, sofern das Wesen der Musik einen Fortschritt über die einfache Melodie hinaus zu entwickeltern und zusammengesetztern melodischen und melodiösen Compo- sitionen fordert, wenn sie nicht abstract eintönig werden und auf zu enge, zu leichte, zu wenig sagende Formen sich beschränken will. Mit diesen höhern Formen haben wir es jetzt zu thun und bemerken über die Ein- theilung der ganzen Lehre vom zusammengesetzten musikalischen Kunstwerk gleich dieß zum Voraus, daß die Hauptformen desselben am richtigsten (auch der geschichtlichen Entwicklung am besten entsprechend) sich ergeben und classificiren, wenn man zunächst reflectirt auf die Form, welche die Melodie selbst annehmen kann mittelst concreter Ausbildung ihres eigenen Prinzips, d. h. durch melodische Gestaltung der Einzelstimmen, durch welche an die Stelle der einfachen Melodie ein Gewebe zusammenklingender Me- lodieen tritt, die „Polyphonie“ (indem dieses Wort zur Bezeichnung einer Vielheit selbständiger, „Vielstimmigkeit“ dagegen zur Bezeichnung unselb- ständig begleitender Stimmen gebraucht wird). Diese Form ist die erste, da die Melodie hier aus sich selbst nicht heraustritt, sondern nur eine mit andern Melodieen sich umgebende und in Wechselwirkung mit ihnen tretende Melodie wird. Indeß wird die speziellere Betrachtung der polyphonen Musik zeigen, daß die entwickeltern Arten derselben bereits über die bloße Melodie hinausführen zu einer Kunstform, in welcher schon längere Reihen melodischer Sätze mit einander zu einem Ganzen verflochten werden. Damit wird sich uns dann von selbst der Uebergang zu der zweiten Hauptform des zusam- mengesetzten Kunstwerks ergeben, deren Wesen dieses ist, daß eine Reihe von Melodieen und melodiösen Sätzen oder weiterhin auch mehrere solcher Reihen zusammen an die Stelle der einfachen Melodie treten; diese Form hat die einfache Melodie als Element in sich, sie kann ebenso auch die Polyphonie in sich aufnehmen, und sie ist überhaupt dasjenige Gebiet, auf welchem die Musik erst ganz frei die ganze Mannigfaltigkeit der Composition und Com- bination, der sie fähig ist, zu entwickeln vermag, daher diese Form zuletzt zu stellen ist. Einfach (homophon) melodische, polyphon melodische, ganze Reihen und Cyclen melodischer Tonstücke vereinigende Musik sind die drei Grundformen aller Tonkunst, zu denen alle weitern Gattungen von Com- positionen nur als untergeordnete Arten sich verhalten. In der homophonen Musik dominirt das Prinzip der Melodie; in der polyphonen nimmt es das der Harmonie in selbständiger Weise in sich auf, die Melodie wird hier Melodieenharmonie, harmonische Melodie; in der dritten Form handelt es sich um concretere Entwicklung der Melodie und der melodiösen Sätze, sowie um Nebeneinanderstellung melodischer und melodiöser Sätze von verschiedenem und doch innerlich zusammengehörigem Charakter, und daher wird für diese dritte Form das rhythmische Prinzip besonders wichtig; denn mannigfaltige Melodiegestaltungen sind durch Figurirung bedingt, welche letztere vor allem durch weniger einfache und gleichförmige Rhythmisirung zu Stande kommt, und ebenso ist charakteristischer und mannigfaltiger Rhythmus ein Haupt- band, das Reihen und Cyclen von Tonstücken theils gliedert, theils unter sich zusammenhält; ja solche Reihen und Cyclen sind wesentlich rhythmisch (im höhern Sinn des Worts) sich fortbewegende Ganze, sie sind concrete umfangreichere Realisationen des „Bewegungsrhythmus,“ die „cyclische“ Musik ist wesentlich auch rhythmische, aus Melodie und Melodieenharmonie große „Rhythmen,“ große rhythmisch gegliederte und bewegte Reihen auf- erbauende Musik. Kurz, wie die ganze Musik aus Tonfolge, Zusammen- klang und Tonbewegung, aus Melodie, Harmonie und Rhythmus besteht, so ordnen sich hienach ganz einfach auch ihre Hauptformen, die alles Ein- zelne unter sich begreifen. — Daß auch melodielose Harmonie und ebenso dominirender Rhythmus mit gänzlicher Unterordnung des melodischen und harmonischen Elements möglich und anwendbar ist, wurde schon früher bemerkt; aber eigene Musikkunstformen ergeben sich hieraus nicht, da bloße Accordfolgen und bloße Tonschläge nur vorübergehend in Anwendung kommen können. — Die Melodie muß nicht nothwendig, aber sie kann und soll Begleitung haben, wenn sie wirklich ganz musikalisch sein will; dieses steht uns aus Früherem fest; Begleitung wird schon nahe gelegt durch die Unterschiede der Stimmen der Menschen und Instrumente in Beziehung auf Höhe und Tiefe, und wir finden daher wenigstens Anfänge zu ihr überall, wo musikalisches Gefühl rege ist, wie z. B. namentlich in dem sonst ganz einfachen und kunstlosen Volksgesang. Die Begleitung ist nun aber wiederum mannig- faltiger Formen fähig. Sie ist zunächst entweder unisone Octavenbegleitung, die unter gewissen Verhältnissen großartig einfach, selbst erhaben wirken (S. 863), aber für sich nicht genügen kann; oder ist sie eine die Melodie blos unterstützende und verdeutlichende, möglichst einfache, für sich unselb- ständige und nichts bedeutende Begleitung, die entweder in bloßen Zusam- menklängen oder in Accorden besteht, also entweder ein- oder mehrstimmig ist. Indessen zeigt sich doch schon hier unter gewissen Bedingungen ein Element der Selbständigkeit, nämlich zunächst bei der untersten Stimme. Sie kann der Melodie nicht willenlos in stets gleichem Abstand folgen; der Führer der untersten Stimme fühlt sich vielmehr getrieben, zu den Zusammenklängen oder Accorden der obern Stimmen (oder auch zu dieser allein, aber eben dann unter der Voraussetzung, daß Zwischenklänge eigent- lich hinzuzudenken sind oder mittönen sollten) Grundtöne anzuschlagen, welche den Hauptaccorden, durch die die Melodie sich hindurch bewegt, eine selbständige Haltung und Betonung geben und zugleich den Fortgang vom einen zum andern natürlich vermitteln. Jeder Accord kann in verschiedenen Stellungen seiner Töne zu einander genommen werden; einen dieser Töne schlägt die Melodie an, nimmt ihn für sich in Anspruch; der Begleitung steht es zunächst frei, die andern Töne nach Belieben zu stellen, aber diese Willkür ist dadurch beschränkt, daß das Gefühl einen selbständigen vollen Klang der Harmonie und zugleich einen natürlichen in’s Ohr fallenden Fortgang derselben fordert. Diese Forderung hat zur Folge, daß diejenige Lage der Accordtöne, in welcher der Grundton des Accords zu unterst liegt, stets wiederkehren, ja überhaupt vorherrschen muß; denn der Accord tönt für’s erste am vollsten und selbständigsten, wenn sein Grundton unten liegt, und er gibt ebendamit für’s zweite auch sich selbst, hiemit aber zugleich auch den ihm zunächst verwandten Accord oder den Accord, zu welchem die Tonfolge natürlicher Weise überzugehen hat, am deutlichsten zu erkennen. Beginnt z. B. oder schließt ein Tonstück mit einem Ton des tonischen Drei- klangs, so muß wenigstens im letzten Falle die Tonica immer unten liegen, damit Vollständigkeit und Abschluß da sei; geht die Melodiebewegung (z. B. c, d ) in den Dominantdreiklang oder Dominantseptimenaccord, so ist es auch hier das Natürlichste, die Dominante hinab zu legen; geht sie von der Septime ( h ) oder Secund zur Tonica zurück, so wird in der Begleitung diesen beiden erstern Intervallen wiederum am besten die Dominante zum Grundton gegeben, da so der Fortgang vom Accord auf der Dominante (in welchem jene liegen) zum Dreiklang der Tonica am klarsten markirt wird, sofern die Dominante zur Tonica hintreibt. Die unterste Stimme hat mit- hin stets die Tendenz, sich in den Hauptintervallen und um sie herum, besonders zwischen Tonica und Dominante, zu bewegen, und diese Bewegung, die sog. baßgemäße Bewegung, gibt dieser Stimme bereits einen selbständigen und zwar zu dem der Melodie contrastirenden Charakter, es ist der Charakter einerseits einer gewissen einförmig hin und her schreitenden gravitätischen Gemessenheit, andrerseits eines auf wenige Hauptrichtungen und kleinere Tonweiten beschränkten, aber nur um so bestimmteren und klareren Ganges, der durch seine kräftige und entscheidende Accordintonation die Modulation des ganzen Stücks verdeutlicht, sie zu dirigiren, in Ordnung zu halten, zu beherrschen scheint. Während die oberste Begleitungsstimme am natürlichsten, obwohl keineswegs ausschließlich, meist in der untern Terz oder Sext dem Gang der Melodie nachrückt, um denselben hiedurch zu verdeutlichen und zu unterstützen, und deßhalb die Mittelstimmen mehr ausfüllender als selb- ständiger Natur sind, tritt somit im Baß bereits ein Streben oder doch eine Anlage zu melodieähnlicher Selbständigkeit hervor, die ihm auch um so eher zukommt, da er der Melodie auch darin entspricht, daß sein Gang, weil er nach unten, wie der der Melodie nach oben zu, abschließt, nach einer Seite hin frei, also weniger verdeckt und deßwegen distincter zu vernehmen ist, als der der Mittelstimmen. Diese Selbständigkeit des Basses zeigt sich auch darin, daß er neben seiner gewöhnlichen Bewegung noch zwei spezifisch charakteristische Bewegungsformen anzunehmen im Stande ist; der Baß kann entweder dem Steigen und Sinken der Melodie, so weit es sein Bewegungs- gesetz gestattet, folgen, oder er kann steigen, wenn sie fällt, fallen, wenn sie Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 61 steigt, jenes die sogen. gerade, dieses die Gegenbewegung. Bei der geraden Bewegung leistet er allerdings auf seine Selbständigkeit gewissermaaßen Verzicht; ihr längerer Gebrauch würde einem Tonstück die Haltung und Gemessenheit benehmen, weil das lediglich nach der Melodie sich richtende Hinauf- und Herabspringen der Unterstimme den Eindruck des Unsteten, des Mangels an Basis macht, und diese Bewegung kommt daher vorzugs- weise nur vor in Tongängen, wo die ganze Tonmasse mit Entschiedenheit hinauf- oder herabrückt, oder auch in kurzen Sätzen, z. B. in Horn- und Trompetenpartien, denen eben dieser Charakter des leicht hingeworfenen, nicht auf besondern Ausdruck, sondern auf kräftige, rasche Intonation aus- gehenden Tonwechsels gegeben werden soll. Um so selbständiger erscheint dagegen der Baß bei der Gegenbewegung. Durch sie entsteht die interessante Form, daß die Tonmasse aus einander und wieder zusammenrückt, an Breite zunimmt oder abnimmt und so gleichsam das Schauspiel eines sich mächtig oder behaglich ausdehnenden und hinwiederum in enge Schranken oder zu intensiverer Gedrungenheit zusammenziehenden Ganzen gewährt; es entsteht ebenso ein eigenthümliches Spiel der Stimmen, die sich bald einander nähern, bald einander fliehen, gegen einander jetzt vortreten, jetzt zurück- weichen, ein Spiel, welches schon an sich durch seine wechselvolle Lebendig- keit zur Schönheit eines Tonwerks beiträgt, und welches dann weiterhin bei bestimmterer Ausbildung des melodischen Gangs der einzelnen Stimmen, z. B. in Chören, geradezu zum Ausdruck sowohl contrastirenden Entgegen- tretens als wiederum harmonischen Entgegenkommens und Zusammenfließens verschiedener Elemente und Kräfte gebraucht werden kann. Außer dem Baß können auch die übrigen Stimmen der Melodie gegenüber die gerade oder die Gegenbewegung einhalten oder sie auch unter sich vertheilen, so daß auch sie charakteristische Selbständigkeit erhalten. Diese Selbständigkeit läßt sich sodann noch erweitern, indem ihnen ein mit der Melodie fortschreiten- der, aber doch selbst dem Melodischen sich annähernder Gang oder eine von der Obermelodie abweichende Figurirung mit eigenem Rhythmus gegeben oder endlich geradezu eigene Melodieen, welche neben der Obermelodie her- gehen, jedoch ihr untergeordnet bleiben, in sie verlegt werden (wie dieß z. B. bei melodiöser Instrumentalbegleitung einer Vocalmelodie der Fall ist). Bei allen diesen Formen relativer Selbständigkeit der begleitenden Stimmen bleibt jedoch die Musik noch homophon, d. h. der Gang der ganzen Ton- masse liegt immer noch in der Hauptmelodie, sie allein hat volle Selb- ständigkeit und hat für sich allein vollen Sinn und klare Bedeutung, es ist immer noch eine Stimme, die von andern blos umspielt und begleitet wird. §. 782. Die relative Selbständigkeit der verschiedenen Stimmen kann zunächst dazu fortschreiten, daß die einseitige Unterordnung der einen unter die andere auf- hört und die Einzelstimmen in der Art mit einander verknüpft und ver- flochten werden, daß keine Stimme für sich allein, sondern nur sie zusammen eine fortschreitende Tonfolge bilden. Den directen Uebergang von der Homophonie zur Polyphonie bildet die Zusammensetzung der Tonfolge eines Stücks aus zwei oder mehreren Stimmen, deren keine für sich allein den Fortgang des Ganzen vertritt, indem vielmehr jede nur mit einer oder mehreren andern Stimmen zusammen Melodie ist und zur melodischen Bewegung der ganzen Tonmasse ihren Beitrag gibt. Der nächste Schritt dazu, der Homophonie eine con- cretere Gestaltung der Stimmführung entgegenzusetzen, ist offenbar der, die absolute Selbständigkeit einer einzelnen Stimme einfach aufzuheben und die Stimmen so untereinander zu verbinden, daß eben nur diese Verbindung von Stimmen, deren jede gleichsam blos ein Bruchtheil, einen kleinern Ansatz oder ein größeres Fragment von Melodie darstellt, dem Ganzen melodischen Charakter verleiht. Die einfachere Form dieser Verknüpfung der Stimmen ist, wenn sie nach einander, sich gegenseitig antwortend und ergänzend, auftreten, indem z. B. der zuerst angeschlagenen Baßstimme eine (anders geformte, aber ihr entsprechende) Oberstimme antwortet. Die Auf- hebung der absoluten Selbständigkeit der Einzelstimme hat hier noch nicht den höchsten Grad erreicht, da jede, obwohl sie für sich kein fortlaufendes vollständiges melodisches Ganzes ist, doch ihren eigenen melodischen Gang hat. Eine verwickeltere concretere Gestalt nimmt dagegen die Verbindung der Stimmen an, wenn sie zur Verflechtung oder Verwebung wird. Hier (wie z. B. gleich nach dem Anfang der Ouvertüre zu Gluck’s Iphigenie in Aulis) ertönen die verschiedenen Stimmen zugleich, jede mit melodischem oder melodiösem Gang, aber doch jede in wesentlicher Beziehung auf die andere, so daß der melodische Fortschritt immer in beiden zugleich liegt; keine Stimme ist vollständig, für sich Sinn gebend ohne die Ergänzung durch die zugleich mittönende andere; beide zusammen nehmen den Faden des melodischen Fortschritts nicht blos abwechselnd nach einander auf, sondern führen ihn zu gleicher Zeit weiter; die eine Stimme setzt den Gang der andern nicht blos fort, sondern greift in ihn ein, motivirt und bedingt ihn, so daß er ohne diese mittönende Stimme gar nicht verständlich ist. Es findet hier nicht mehr eine Ergänzung in der Weise des Nacheinanders, sondern des Ineinanders statt, ein Verhältniß der Wechselwirkung; die Stimmen sind hier Glieder, die erst zusammen ein organisches Ganzes ausmachen. Wegen dieser engen Beziehung zu einander treten hier zugleich 61* auch concretere rhythmische Verhältnisse ein; da der bewegtere charakteristisch- melodische Gang an die Stimmen sich abwechselnd vertheilt, so ergibt sich von selbst, daß die eine Stimme, nachdem sie denselben an die andere ab- gegeben hat, eine zuwartende, aushaltende, mehr begleitende Stellung einnimmt, bis die Fortführung der Melodie wieder an sie kommt u. s. f. Einer bestimmteren methodischen Behandlung unterliegen diese zwei Arten der Stimmenverbindung der Natur der Sache nach nicht, da es sich bei ihnen ganz nur um das Einfache handelt, einander ablösende oder in ein- ander eingreifende Stimmen zu erfinden; aber obwohl in Folge hievon diese Stimmführung weit weniger Gegenstand der Musikwissenschaft ist, als die künstlichern polyphonen Formen, so sind sie dessen ungeachtet von der größten Wichtigkeit in der Praxis, sie stellen der Homophonie ein Entsprechen, ein Hinundhergehen, ein Ineinanderfließen, kurz eine lebendige Verkettung und Wechselwirkung der Stimmen gegenüber, welche mit dem gewichtigern Ein- druck des bereits Kunstvollern die Klarheit des immer noch einfach Schönen ansprechend verbindet. §. 783. Die vollständig entwickelte Polyphonie realisirt sich zunächst in zwei Haupt- formen, Contrapunct und Nachahmung , die sich dadurch unterscheiden, daß die erste Stimmen mit verschiedenen Melodieen einander gegenüberstellt, die zweite aber dieselbe Melodie oder dieselben melodischen Sätze an verschiedene und zu verschiedenen Zeiten eintretende Stimmen vertheilt. Die bei der §. 782 betrachteten Form der Stimmverflechtung ver- loren gegangene Selbständigkeit der Einzelstimmen wird hergestellt, wenn jede Stimme Melodie für sich ist und doch alle zusammen ein Ganzes, eine harmonische Verknüpfung oder Verflechtung von Melodieen bilden. Auch hier sind nämlich Verknüpfung und Verflechtung, nur von anderer Art, zu unterscheiden. Melodieenverknüpfung ist ein Nacheinander von Melodieen oder melodischen Sätzen, von der in §. 782 besprochenen Verknüpfung melodischer Bruchtheile dadurch verschieden, daß es hier größere selbständige melodische Sätze oder geradezu ganze Melodieen sind, die mit einander ver- einigt werden, einander antworten und einander ablösen (wie häufig in Duetten, Terzetten u. s. w.); jeder Satz tönt für sich, läßt hierauf den andern folgen, wiederholt sich oder setzt sich fort, nachdem der andere ver- klungen ist u. s. w., so daß das Ganze wie eine Kette von Ringen erscheint, die in schönem Wechsel sich an einander reihen. Das Wesen der Polyphonie ist hierin freilich beinahe ganz zurückgetreten, indem die verschiedenen Stimmen nur an einzelnen Knotenpuncten, nämlich in den Takten, in welchen sie einander ablösen, vorübergehend gleichzeitig ertönen; ja selbst dieses Letztere kann fehlen, und die streng polyphone Form ist daher hier, wo es sich um größere melodische Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver- flechtung, welche die selbständigen Sätze nicht mit einander abwechseln, sondern zusammentönen und sie doch in ihrer Selbständigkeit sich behaupten läßt. Passend ist der für solche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang- bare Name Contrapunct ; es stehen hier wirklich Reihen gegen Reihen, durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der sie aus einander hält, von einander geschieden, jede ein Ganzes für sich, aber doch jede vollkommen charakteristisch und bedeutend nur in ihrer Verbindung mit der ihr gegenüberstehenden. Wie überhaupt die Harmonie das malerische Element der Musik vertritt, so insbesondere dann, wenn sie zum Contra- punct sich fortbildet; es treten selbständige Gestalten neben einander, aber in strenger gegenseitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach ihrer besondern Eigenthümlichkeit in’s Licht gesetzt durch die andere, beide an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des Takts, der Begleitung, wenn solche dabei ist, des allgemeinen Inhalts und Charakters, und doch jede sich entschieden von der andern trennend in der spezifischen Richtung oder Bewegung und in der spezielleren rhythmischen Gliederung. Nur hat der Contrapunct der malerischen Zusammengruppirung contrastirender Figuren (und ebenso den früher betrachteten Verknüpfungs- und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß die Selbständigkeit der beiden zusammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl- barer, mit entschieden spannendem Eindruck hervortritt. Wir sehen sie nicht als ein einfach sich ergänzendes Nebeneinander, sondern wir haben beide zugleich, wir müssen sie zusammenhören und wir hören daher um so mehr ihre schlechthinige Verschiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver- folgen wollen, nach verschiedenen Seiten hin distrahirt, es ist, als ob die Musik, deren Wesen einheitliche Tonverschmelzung ist, diese ihre Natur aufgeben und in’s Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten einer in größerem Maaßstab durchgeführten contrapunctischen Behandlung sogleich, daß die gewöhnliche Musik abgebrochen und uns die Aufgabe gestellt wird, eine ganz andere Musik zu vernehmen, in welcher das ursprüngliche musikalische Verhältniß der Einheit und der Verschiedenheit umgekehrt ist und die Verschiedenheit überwiegt über die Einheit, wir sehen den Raum sich erweitern zu einer Scene, auf der selbständige Gestalten und Kräfte zusammen und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyrischen Drama, die Sub- jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen- satz und Harmonie zumal ihre Gefühle darstellen. In gewisser Beziehung ist der Contrapunct freilich auch wiederum eine wesentliche Verwirklichung des Begriffs der Musik; die bewegte Subjectivität, mit der sie zu thun hat, kommt hier zu ihrem vollen Recht, sie tritt auf als besondere, neben andern stehende Individualität, die einzelnen Stimmen ordnen sich nicht mehr dem Ganzen unter, sondern machen sich in ihrem Fürsichsein geltend, und das andere Element des Wesens der Musik, die Einheit und Harmonie, ist doch als zusammenhaltendes Band vorhanden, die Einzelsubjectivität bleibt inner- halb des Ganzen und wirkt zu dem von diesem ausgehenden Totaleffect mit, wie die begleitenden Stimmen den Eindruck einer homophon melodischen Tonreihe verstärken und vervollständigen. Allein die Umkehrung des ur- sprünglichen Verhältnisses der beiden Elemente und die damit gegebene Spannung bleibt nicht minder und wird noch verstärkt durch die subjective Schwierigkeit, den verschiedenen Tonbewegungen genau zu folgen; es haftet der contrapunctischen Musik der Uebelstand an, daß der weniger im Unter- scheiden Geübte nur eine verworrene Einheit von Stimmen hört ohne Viel- heit oder nur eine Verschiedenheit ohne Einheit. Aus all diesen Gründen gestattet der Contrapunct nur eine beschränkte Anwendung; er ist da an seinem Platz, wo weder ein Aufgehen vieler Stimmen zur Einheit einer identischen Gesammtstimmung noch ein einfaches Hervortreten einer sub- jectiven Einzelstimmung, sondern eben ein in der Mitte zwischen Beiden Liegendes beabsichtigt ist, eine Wechselwirkung selbständiger Stimmen, die entweder geradezu eine in allen ihren Gliedern lebendig bewegte Mehrheit von Personen darstellen will oder den mehr allgemeinen Zweck hat, durch die Vervielfältigung der vortragenden Stimmen und durch die breitere, man- nigfaltigere, kunstreichere Ausführung den Ausdruck einer Empfindung mit einer ihrem Inhalte entsprechenden höhern Bedeutsamkeit auszustatten. Ohne diese Zwecke ist der Contrapunct unmotivirt und sinkt zu einer ebenso leeren als pedantischen Form, zu unerquicklicher Künstelei herab; aber innerhalb des ihm angewiesenen Gebiets ist er, sei es nun in kürzerer oder längerer Anwendung, unentbehrlich und von intensivster Wirkung, daher z. B. auch die in freierer Weise sich bewegende Opernmusik nicht nur, wo Ensemble- stücke von selbst darauf führen, sondern auch ohne diese bestimmte Veran- lassung wohl daran thut, hie und da der contrapunctischen Composition sich zu bedienen, um durch sie dem weichen Fluß der homophon melodischen Musik an geeigneter Stelle ein strengeres Element beizugeben. Die speziellere Gestaltung des Contrapuncts ist sehr mannigfaltig; es ist nicht nur ein einfacher Contrapunct, sondern auch ein Contrapunct mit Umkehrung der Stimmen (der gewöhnlich allein diesen Namen führt) möglich; während beim ersten mehrere höhere und niederere Stimmen selbständig neben ein- ander hergehen, schreitet die zweite Art dazu fort, zwei Stimmen zu erfinden, die sich zugleich eignen, ihre Stelle im Tonsystem zu vertauschen, indem die eine zuerst als Ober-, dann in der Octave oder einem andern Intervall als Unterstimme auftritt; dasselbe thut der „dreifache“ Contrapunct mit drei Stimmen u. s. f. Die musikalische Erfindung ist freilich hier sehr beengt, da jede Stimme so gedacht sein muß, daß sie mit den andern zusammen in jeder Lage, oben oder unten, ein harmonischmelodisches Ganzes bilden kann; aber es wird dadurch der weitere Vortheil erreicht, daß die Melodieen ihre Plätze wechseln und dadurch theils neue Toncombinationen hervorbringen, theils in verschiedenen Tonlagen (Baß, Tenor u. s. f.) zu stehen kommen; die Melodieen erscheinen jetzt als verschiedene Stimmen, und die Stimmen bekommen verschiedene Melodieen vorzutragen; die Melodieen durchlaufen verschiedene Tonhöhen und erscheinen daher in mannigfaltiger Färbung und Schattirung; die Stimmen werden Träger verschiedener Bewegungen, sie erweitern ihren Umkreis und Inhalt, sie singen oder spielen jede das Ganze ab; so ist sowohl das Ganze in mannigfaltigerer Weise dargestellt, als auch die Selbständigkeit der Einzelstimmen vergrößert und doch Alles aus Einem Guß und in strengster Einheit unter sich gehalten. Die zuletzt hervorgehobene Seite des mehrfachen Contrapuncts, daß in ihm eine und dieselbe Melodie in verschiedenen Tonlagen erscheint, führt über zu einer weitern Hauptform der polyphonen Musik, zur Nachahmung . Eine Tonfolge kann zuerst in einer Stimme auftreten, dann auch in andern, die eben hiedurch nachahmende Stimmen werden. Diese, zunächst wiederum der „Verknüpfung“ der Stimmen näher stehende Form ist äußerst mannig- faltig. Nachahmen lassen sich Figuren, Takte, ganze Perioden, Theile, Melodieen; die Nachahmung kann einfach oder mehrfach sein, d. h. in einer oder mehrern Stimmen geschehen; diese nachahmenden Stimmen können von der nachgeahmten und deßgleichen von einander selbst in verschiedenen Intervallen, Octav, Quint u. s. f. abstehen; es steht frei, die obern oder untern Stimmen in beliebiger Folge vortragen und nachahmen zu lassen; die Nachahmung selbst geschieht entweder blos in der Form der „Ver- knüpfung,“ d. h. so daß ein Satz von der zweiten Stimme erst nachgeahmt wird, wenn die erste mit ihm vollständig zu Ende ist, oder zugleich in der Form der „Verflechtung“ („enge Nachahmung“), d. h. so daß die zweite Stimme schon nachzuahmen beginnt, wenn die erste nur erst einen Theil des nachzuahmenden Satzes vorgetragen hat; dieser nachahmenden Stimme kann eine dritte folgen, gleichfalls bevor der Satz von der ersten ganz be- endigt ist u. s. w. Ein weiterer Unterschied ist sodann der, daß eine Ton- reihe entweder ganz oder nur theilweise aus nachgeahmten und nachahmenden Sätzen besteht. Das Erstere kommt am einfachsten dadurch zu Stande, daß die erste Stimme nach dem Vortrag des Satzes schweigt und ebenso jede folgende, nachdem sie ihn nachgeahmt; wegen der hiedurch entstehenden Leerheit kann aber diese Form natürlich nur selten, namentlich in Ueber- gängen oder in Schlußsätzen gebraucht werden, in welchen die Tonbewe- gungen sich naturgemäß vereinfachen, und auch da gewöhnlich doch so, daß die Nachahmungen wenigstens nicht ohne begleitende Harmonie auftreten. Eine andere Art und Weise ist die, eine Zeit lang sämmtliche Stimmen vortragen, nachahmen, wieder vortragen und wieder nachahmen zu lassen, so daß in die ganze Tonreihe, eine zur Füllung dienende Nebenbegleitung etwa ausgenommen, nichts aufgenommen wird, als der fortwährend aller- seits nachgeahmte Satz, sei es nun ganz unverändert, oder mit kleinen Ab- weichungen der Modulation, wie dieß z. B. in den durch ihre Nachahmungen so wohl bekannten Stellen der Don Juan-Ouvertüre der Fall ist. Diese Art der Nachahmung, an einem selbständigen Tonstück regelmäßig und vollständig durchgeführt, ist der sogen. Kanon . Eine Melodie wird hier von mehrern Stimmen, die nach einander eintreten und nachdem sie eingetreten sind un- unterbrochen fortfahren, vorgetragen, und zwar von jeder gleich und von Anfang bis zu Ende, so daß die eine Stimme der andern immer um einen Theil des Tonstücks voraus ist. Die Zeit des Eintretens der verschiedenen Stimmen kann verschieden sein. Es kann erfolgen, nachdem die vorangehende Stimme bereits eine ganze Periode oder wenigstens einen ganzen Satz des Tonstücks vorgetragen hat, so daß eine Stimme der andern eben um eine Periode, einen Satz voraus ist und so im Verlauf des Ganzen die ver- schiedenen Perioden oder Sätze allmälig unter einander zu stehen kommen. Diese Form, die man den periodischen Kanon nennen könnte, ist die ein- fachste, durchsichtigste und eigentlich auch kanonischste d. h. regelrechteste, weil hier das Eintreten der Stimmen nicht willkürlich bestimmt wird, sondern an die der Melodie wesentliche Satz- oder Periodeneintheilung anknüpft und so zugleich diese selbst hervorhebt; es kommt ferner bei dieser Form das schöne Verhältniß heraus, daß die melodischen Bewegungen der Perioden oder Sätze sich in das Verhältniß der Harmonie oder Ergänzung zu einander begeben, oder daß jede Periode die andere nicht nur fortsetzt, sondern auch begleitet, und endlich ist darin auch ein sehr regelrechter Bewegungsrhythmus, indem die Tonbewegung nur allmälig und stufenweise sich verstärkt. Kunst- reicher und verwickelter wird der Kanon, wenn die Stimmen bälder ein- treten, so daß sie nur um wenige Takte oder Noten einander voraus sind; die Stimmen treten hier weit weniger klar aus einander, so daß hiemit das Ganze den Eindruck eines streng in sich verketteten, mit jedem neuen Takte neue Verflechtungen eingehenden Tongewebes hervorbringt. Beachtenswerth ist, daß mit Nachahmung und Kanon auch das contrapunctische Verhältniß wiederkehrt. Tonstücke beider Art können allerdings auch so angelegt werden, daß die über einander zu stehen kommenden Sätze rhythmisch conform sind und so in ein einfacher harmonisch begleitendes Verhältniß zu einander treten; aber es kommt mehr Lebendigkeit und Gedrungenheit in das Ganze, wenn diese Conformität vermieden wird und die verschiedenen über einander kommenden Stimmen durch rhythmische Differenz entschiedener den Charakter selbständiger und somit eigentlich contrapunetisch einander gegenüberstehender Tonreihen erhalten. Die praktische Anwendbarkeit der Nachahmung übersteigt bei Weitem die des Contrapuncts. Die Nachahmung ist eine weit freiere, leichtere, den Componisten viel weniger beengende und viel faßlichere Form als jener; sie hat den Vortheil, daß sie sich in allen möglichen Formen, sowohl in längerer kunstmäßiger Durchführung als nur ganz vorübergehend wie ein schnell auftauchendes und wieder verschwindendes Ornament anwenden läßt, während der Contrapunct nothwendig ganze Sätze und Perioden bedarf, um sich gehörig entwickeln zu können. In ästhetischer Beziehung ist sie das gerade Gegenbild des Contrapuncts; wie dieser Mannigfaltigkeit darstellt in Einheit, so die Nachahmung Einheit in der Mannigfaltigkeit, sie dient vorherrschend der Einheit, indem sie verschiedenen Stimmen ganz einen und denselben Inhalt gibt, sie verleiht damit dem Kunstwerk Identität und Gleichartigkeit seiner Theile, engern Zusammenhang, festere Haltung. Indeß wie der Contrapunct seine mannigfaltigen Stimmen zu strenger Gebunden- heit zusammenhält und hiedurch auch wiederum die strenge harmonische Ein- heit des Vielen, in der die Musik ihr Wesen hat, recht concret veranschaulicht, so fördert die Nachahmung auch wiederum die Mannigfaltigkeit, sie läßt denselben Gedanken in verschiedenen Lagen erscheinen, die Stimmen einander antworten, und sie gibt durch diese Vervielfältigung des einzelnen Gedankens dem Tonstück lebhaften, anmuthigen Wechsel, der besonders mittelst An- wendung verschiedener Instrumente sehr erhöht werden kann. Was von der Nachahmung überhaupt gilt, findet auf den Kanon freilich nicht un- mittelbare Anwendung. Der einfache periodische Kanon läßt die Identität der Stimmen, aus denen er besteht, klar durchscheinen; hiedurch entsteht bei öfterer Wiederholung leicht Monotonie, es tritt als ein Mangel hervor, daß die Stimmen, die doch einmal verschiedene Stimmen sind, doch immer nur dieselbe Melodie absingen, und dieser Kanon ist daher doch nur in seltenern Fällen, wo eben diese absolute Gleichheit bezweckt wird, wie in Quartetten und ähnlichen Stücken, die eine mehrere Individuen nach einander ganz gleichförmig ergreifende Stimmung darstellen sollen (wie im ersten Akt des Fidelio), ganz an seinem Platze. Der Werth des kunstreichern Kanon ist im Obigen bereits hervorgehoben; aber es ist doch auch hier beizufügen, daß er die Composition sehr beengt, daß wegen seiner schweren Uebersicht- lichkeit der Eindruck bei ihm selten so groß sein wird wie die Kunst, die auf ihn verwendet werden muß, und daß er leicht in’s Kunststück ausarten kann, das blos den Werth geschickter Erfindung und Verarbeitung eines passenden Thema’s hat. §. 784. Ihre Vollendung findet die polyphone Musik durch die Fuge . In ihr 1. treten die Formen der Nachahmung und des Contrapuncts nicht in vorüber- gehender Anwendung, sondern als Grundgesetz der ganzen Gestaltung eines größern Tonstücks auf, und zwar so unter sich verbunden, daß sowohl das durch die Nachahmung vertretene Prinzip der Wiederholung melodischer Sätze durch mehrere Stimmen als das Prinzip contrapunctischer Selbständigkeit der 2. Stimmen gegen einander zur Realisirung gelangt. In Folge der vollständigen Durchführung und der durchgehenden Verknüpfung beider Prinzipien vereinigt die Fuge strenge Einheit der Grundgedanken mit wechselnder Mannigfaltigkeit und reicher Fülle der harmonischen Combinationen, sowie mit lebendiger Be- wegtheit der sich über einander aufbauenden und einander ablösenden Stimmen in einer Weise, welche Alles erschöpft, was die polyphone Musik zu leisten vermag, welche aber auf der andern Seite doch die Einseitigkeit dieser musikalischen Form, den Mangel an ungebundener Melodieentwicklung, desto mehr hervor- treten läßt, je mehr gerade in der Fuge das Prinzip der Mannigfaltigkeit und Selbständigkeit der Stimmführung bereits zu größerer Berechtigung gelangt ist. 1. Sowohl nach dem Gesetz des Contrapuncts als nach dem der Nach- ahmung können eigene Tonstücke gebildet werden. Aber beim Contrapunct sind die einander correspondirenden und ihre Stimmlagen austauschenden Tonsätze gleich lange und gleichzeitig eintretende Reihen, die eben deswegen stets in demselben Verhältniß zu einander bleiben und keine weitere Man- nigfaltigkeit gestatten, als daß alle Tonsätze nach einander die Plätze wechseln, abwechselnd über und unter einander zu stehen kommen; bei der Nachahmung treten zwar die Stimmen zu verschiedenen Zeiten ein, aber sie selbst sind ihrem Inhalte nach so gleich und ähnlich, daß das Ganze leicht monoton wird; kurz der Contrapunct hat Einförmigkeit der Bewegung, die Nach- ahmung Einförmigkeit der Gedanken, und es ist daher ganz natürlich, daß die eine Form sich zu ergänzen sucht durch die andere; es ist dieß namentlich dann natürlich, wenn ein größeres Tonganzes geschaffen werden soll, indem gerade in einem solchen die Einförmigkeit nur um so auffälliger hervortreten würde. Diese Vereinigung beider Formen ist die Fuge (das kunstreiche „Satzgefüge“); die Fuge ist eine streng geregelte Nachahmung mit contra- punctischer Stimmenverflechtung. Sie bildet sich zunächst aus zwei Sätzen von verschiedener metrischer Construction, die jedoch wie Theile einer Periode zusammenhängen können; der erste Satz wird von einer Stimme ergriffen, mit dem Beginn des zweiten tritt der erste Satz in einer zweiten die erst- eingetretene nachahmenden Stimme auf, während die erste zu gleicher Zeit den zweiten Satz vorträgt; so kommen die zwei Sätze contrapunctisch über einander, daher der zweite Satz Gegensatz, der erste dagegen Thema ge- nannt wird, weil er der Hauptgedanke bleibt, welcher zuerst für sich auftritt und von den Einzelstimmen immer zuerst angeschlagen wird, während der zweite Satz nicht für sich, sondern sogleich in Verbindung mit dem ersten und in Unterordnung unter ihn auftritt. Auch „Führer“ wird der Haupt- satz passend genannt, weniger passend „Gefährte,“ wenn er auf anderer Stufe der Scala als zuerst und etwa auch mit einigen Veränderungen wiederholt wird. Der Verlauf der Fuge besteht darin, daß die Aufnahme des Thema’s durch eine weitere Stimme sich mehrmals wiederholt, bis es an allen (2, 3, 4, selten mehr) Stimmen herumgekommen ist; jede Stimme gibt das Thema an die nächstfolgende weiter und tritt, indem sie dieses thut, in die untergeordnete Stelle des „Gegensatzes“ zurück, daher dieser, indem er so allmälig in mehrern nach einander kommenden Stimmen fort- geführt wird, auch in harmonischer Beziehung allmälig vollstimmiger, je nach Umständen in den einzelnen Stimmen mannigfach verändert und er- weitert und jedenfalls zum Thema in verschiedene contrapunctische Stellungen versetzt wird, durch die erst wahres Leben und reicher Wechsel in das Ganze kommt. Wenn das Thema mit so begleitendem Gegensatz durch sämmtliche Stimmen hindurch geführt ist, so könnte die Fuge an sich aufhören; sie wird aber in der Regel weiter geführt, um die begonnene mannigfaltige Bewegung nicht zu schnell wieder abzubrechen. Es folgt daher auf diese erste Durchführung ein selbst wieder kunstreich ausgeführter, mit Thema und Gegensatz jedoch blos verwandter „Zwischensatz,“ der zu einer neuen Durchführung überleitet, in welcher die Ordnung des Eintritts der Stimmen und damit die contrapunctischen Verhältnisse unter ihnen andere sind als das erste Mal u. s. f. Wenn die Fuge dem Schluß sich nähert, tritt passend die sogen. Engführung ein, d. h. die Stimmen treten näher zusammen, fassen das Thema auf, und zwar in der Weise des strengern Kanons nicht gleichzeitig, sondern kurz nach einander eintretend, so daß eine eng ver- schlungene Stimmführung entsteht, die von sehr guter Wirkung ist; denn dieses nähere Zusammentreten der Stimmen und ihre Vereinigung im Thema stellt sowohl einen Einheits- und Beruhigungspunct dar, gegenüber den vielfachen und weiten Ausschreitungen, welche sie im Verlauf der Fuge un- ternommen haben, als zugleich einen Knotenpunct, an welchem die bis jetzt zerstreuten und freier wirkenden Kräfte zusammenrücken, auf einander ein- dringen, sich in einander verwickeln, um erst, nachdem so auch diese engste, gespannteste Form der Stimmenverflechtung erschöpft ist, in und mit der Lösung der Spannung vom Schauplatz abzutreten. Auch ein Orgelpunct (S. 891), über welchem Nachahmungen des Thema’s hörbar werden und dieses so gleichsam in seinen letzten bewegten Schwingungen auszittert, bildet einen passenden Schluß des Ganzen, da die durch den Orgelpunct zum Stehen gebrachte Harmoniebasis einen ebenso kräftigen als beruhigenden Contrast zu dem bisherigen Durcheinanderlaufen aller Stimmen darbietet und das allmälige Ausklingen des Hauptgedankens ohnedieß eine zum Ab- schluß ganz besonders geeignete Form ist. Es kommt ganz auf den Umfang und die Anlage der einzelnen Fuge an, ob sie alle diese Formen in sich aufnehmen, desgleichen in wie weit sie während ihres Verlaufs freiere und strengere Nachahmungen, künstlichere contrapunctische Ausführungen der Haupt-, Gegen- und Zwischensätze in größerer Zahl auf die Bahn bringen will; auch zwei (selten mehr) Thema’s können zu Grund gelegt und dann wiederum in verschiedenster Weise an die Stimmen vertheilt werden. Oder wird das Thema selbst verkehrt, oder metrisch verändert, „verkleinert“ oder „vergrößert,“ d. h. die Zeitwerthe seiner Noten halbirt (gedrittelt) oder ver- doppelt, ein Verfahren, durch das die Bewegung je nach Bedürfniß be- schleunigt oder verlangsamt wird. Das verkleinerte Thema kann sodann auch neben der ursprünglichen Form oder neben der Vergrößerung hergehen, so daß hiemit eine neue Complexion verschiedener und doch verwandter Stimmen entsteht. Kurz, wenn nur das Hauptgesetz der Fuge, Durchführung der Themen durch alle Stimmen nebst Gegensatz, das Durchherrschende bleibt, so kann sie weiterhin alle sonstigen Formen polyphoner Musik, sowie man- nigfaltige Modulationen, Verstärkungen des Thema’s und der andern Sätze durch Nebenharmonieen in sich aufnehmen; denn in ihr ist nicht Einfachheit, sondern Vermannigfaltigung, Verflechtung, volle und vielgestaltige Bewegung der Hauptzweck, wiewohl natürlich in manchen Fällen auch eine einfachere Ausführung nothwendig und von guter Wirkung ist. 2. Um ihres ebenso reichen als bewegten Organismus willen ist die Fuge die eigentliche Kunstform für reich gegliederte und rhythmisch erregtere Massenbewegung, sie ist ein sprechendes Bild einer der Reihe nach alle ein- zelnen Glieder einer Masse ergreifenden, von den übrigen lebendig mitge- fühlten und lebhaft begleiteten Empfindung; sie verdichtet einerseits durch die Verflechtung der zu einander hinzutretenden Stimmen das Tonganze zu massenhafter Breite und tiefer Intensität, und sie steigert andrerseits durch das allmälige Ertönen der Hauptsätze aus allen Stimmlagen, sowie durch die kunstreichen Nebenausführungen die rhythmische Erregtheit in steigendem Maaße, bis dieselbe endlich, nachdem die Spannung den höchsten Grad erreicht hat, sich doch wiederum auch beruhigt und gleichsam erschöpft in sich zusam- mensinkt. Was schon vom Contrapunct gesagt wurde, daß mit ihm die Musik ihre gewöhnliche, einfach harmonische Haltung aufgebe und sich zu einer ihrem Wesen scheinbar widersprechenden Selbständigkeit der Tonreihen ausbreite, dieß gilt noch weit mehr von der Fuge wegen ihrer weit reichern Anlage; sie kann nicht unpassend einer Masse verglichen werden, die, nach- dem sie vorher in geschlossenem Zuge gleichförmig vorwärts geschritten war, mit einem Male sich expandirt, sich in Kolonnen und Reihen sondert, welche nun selbständige und doch in wesentlicher Beziehung zu einander stehende Bewegungen ausführen, bis sie endlich sich einander wiederum nähern und wieder zu Einem Ganzen zusammentreten. Nur bleibt auch bei der Fuge alle diese contrastirende Mannigfaltigkeit streng gebunden an das Gesetz der Einheit der Hauptgedanken; es ist in ihr doch nur Alles Wiederholung, verschiedene Gegenüberstellung derselben Gedanken, und sie eignet sich daher doch blos zur Darstellung solcher Empfindungen und Erregungen, die an sich von der Art sind, daß diese stete Wiederholung, dieses stete Drehen und Wenden eines und desselben Inhalts, dieses Sichhineinarbeiten in ihn in der Natur der Sache liegt, also zur Darstellung von Empfindungen, die eine Masse beherrschen, in denen sich all ihr Fühlen concentrirt, von welchen sie nicht hinweg, welche sie vielmehr immer auf’s Neue in stets gesteigerter und erhöhter Weise aussprechen will, oder ohne diese speziellere Beziehung auf bestimmte Empfindungen zu solchen Tonwerken (z. B. In- strumentalstücken), welche durch das beharrliche Festhalten und strenge Durch- arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernsten und Feierlichen hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, sind Ein- heit und Mannigfaltigkeit gegen einander gespannt; die erstere hält die letztere, welche die ihr gezogenen Schranken stets durchbrechen zu wollen scheint, mit eisernen Armen stets davon zurück, sie bändigt den selbständigen Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang betretene Bahn; der „Führer“ ist überall hinten und vorn und führt strengste Aufsicht, er erhebt seine Stimme stets auf’s Neue, um das mächtig wogende Ganze in Ordnung zu halten, und doch ist die Selbständigkeit der einzelnen Glieder bereits so groß, daß sie die mannigfaltigsten und verwickeltsten Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn sie nirgends stille halten, sondern den um sie geschlossenen Zauberkreis bald hier bald dort sprengen möchten. Die Fuge ist so wohl die rechte Form für das ernst von einer großen Empfindung bewegte Gesammtgefühl, aber sie ist viel zu eng für den ganzen weiten Umkreis menschlicher Stimmungen und Erregungen; sobald sie munter oder gar lustig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit sich selbst nicht ernst, daß sie da ein bloßes Phantasiespiel ist; für das Heitere und Freudige hat sie, da sie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ- barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichst einfach einrichten muß, zu wenig melodischen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und Ungebundenheit, sowie andrerseits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe- fangenheit und Formschönheit. Im Gegentheil, es ist in der Regel nichts abstracter, unliebsamer, einförmiger, ja oft weniger besagend, es ist nichts mehr erst durch die Ausführung interessant werdend als der Anfang einer Fuge mit der obligaten Einfachheit seines Thema’s und der nicht minder obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unansehnlichkeit seines Gegen- satzes; ansprechend, direct gefällig ist die Fuge nie, sie hat Ernst, Gemessen- heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja selbst für das einfach Ernste und Gewichtige ist sie nicht die geeignete Form; dafür ist sie wie- derum zu unruhig und bewegt; sie ist Erregtheit durch etwas Ernstes, aber nicht der Ernst selbst; sie hat vom directen Idealismus, in dessen Gebiet das einfach Ernste (wie es z. B. im weniger kunstreichern vollen Chor- gesange sich darstellt) gehört, nur das Element der strengen Einheit und Gesetzmäßigkeit, in der Hauptsache aber gehört sie dem indirecten Idealis- mus an, indem ihr ästhetischer Eindruck doch erst aus der Totalität der in ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirksamen Elemente entspringt; es fehlt ihr wie die einfache Formschönheit so die ruhige Erhabenheit, sie hat architectonische Gemessenheit der Construction, aber nicht ruhige archi- tectonische Haltung, sie ist lebendige Erregungs-, nicht an sich haltende Stimmungsmusik. Dem Werth der Fuge, den sie an ihrem Orte hat, soll durch diese Bemerkungen nicht das Geringste entzogen werden; es gibt Vieles, was nur die Fuge aussprechen und malen kann, und sie wird nie veralten, so lange die Musik nicht aufhören wird, mit ernsten Dingen und insbeson- dere mit massenbewegenden Empfindungen sich zu befassen. Aber wie diese nicht das Einzige sind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerseits auch einen erhaben ruhigen Ernst und andrerseits einen unabsehbaren Kreis frei sich ergehender individueller Gefühle gibt, so ist auch die Fuge nur eine der vielen Formen der Musik, die nicht einseitig gepflegt und geschätzt werden darf, und wie jene „ernsten Erregungen“ psychologisch schon ganz auf dem Uebergange von der ernsten Stimmung zu einer eben ganz unruhig werden wollenden Beweglichkeit stehen, so ist auch die Fuge diese Mitte zwischen gemessener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele- mente schon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere Kunstformen hinausweist, in welchen diese Spannung durch Freilassung der Mannigfaltigkeit sich wiederum lösen muß. §. 785. Wie bei Rhythmus und Harmonie, so tritt auch bei der polyphonen Musik der Unterschied einer strengern und freiern Behandlung ein, durch welche letztere diese Musikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und auch für andere, freiere Musikgattungen anwendbar wird. Schon bei der Nachahmung wurde darauf hingewiesen, daß sie der mannigfaltigsten Anwendungen und Formen fähig sei; es ist dieß der Fall, sofern sie theils nach Belieben vorübergehend an jeder passenden Stelle eines sonst ganz frei sich bewegenden Tonstücks gebraucht werden kann, theils auch sie selbst nicht nothwendig „streng“ sein muß, indem sie sich vielmehr quantitative und qualitative Modificationen des nachzuahmenden Satzes, Verlängerungen und Verkürzungen, „Vergrößerungen und Verklei- nerungen“, Aenderungen der Intervalle, auch Verkehrungen des Ganzes einer Tonfigur erlauben kann. Aehnliches tritt ein beim Contrapunct . Die Musik hat den beneidenswerthen Vorzug, innerhalb der Symmetrie des Ganzen, die stets gewahrt sein muß, doch im Einzelnen irregulär sein zu dürfen; so kann sie auch im Contrapunct die Stimmen nicht nur umkeh- ren (ihre Lage vertauschen), sondern auch ihre Richtung (hinab oder hinauf) verkehren, um hiedurch mehr Leben und Wechsel in’s Ganze zu bringen. Der Kanon scheint am wenigsten Freiheit zu gestatten, da sein Wesen eben in der gleichförmigen Stimmenwiederholung besteht; aber auch er kann, wenn er nur sonst den Gang der Stimmen genau einhält, ihn abwechselnd auch verkehren; auch er kann in größern Tonstücken vorübergehend vorkom- men oder sich in eine Tonbewegung von freierem Gange auflösen, um nicht monoton zu werden (so im Fidelio). Große Freiheit der Behandlung gestattet endlich die Fuge . Nicht nur können einzelne Partien einer voll- ständigen Fuge, wie Engführung und Orgelpunct, fehlen, sondern es können auch die Zwischensätze größern Raum einnehmen, oder einzelne Motive des Thema’s oder Gegensatzes herausgegriffen und ohne Mitgehen der andern Fugenstimmen für sich allein eine Zeit lang weiter ausgeführt, neue Mo- tive und neue Melodieen an sie angeknüpft, aus ihnen herausentwickelt, über sie hergebaut werden. Durch dieses letztere Verfahren entsteht die sog. freie Fuge, die ganz als eigene Kunstgattung, nicht etwa als Abart zu betrachten ist. Sie macht mit Recht von der unendlich mannigfaltigen Entwicklungsfähigkeit aller musikalischen Gedanken Gebrauch, und sie hält deßungeachtet den Charakter der Fuge fest, sofern sie die ursprünglichen Gedanken, auch wenn sie neue aus oder über ihnen formirt, doch nicht fallen läßt, sondern sie den neu hinzugefügten mindestens als Unterlage und Begleitung zur Seite gibt. In solchen freiern Partien öffnet und erhellt sich die Fuge gleichsam und emancipirt sich von sich selbst; es tritt aus dem spannenden, innerlich unruhigen, immer etwas undurchsichtigen Ineinanderarbeiten selbständiger und doch unselbständig an einander geketteter Stimmen ein klares, die Spannung lösendes Resultat hervor, ein einfach geradausschreitender, ungehemmt sich vorwärts bewegender und dadurch bei aller etwaigen Belebtheit an sich doch beruhigterer Gang einer einzelnen Stimme oder der ganzen Tonmasse; es ist eine ähnliche Lösung einer Spannung, wie sie beim Uebergang von einem Auflösung verlangenden Accord zu einem einfach befriedigenden, eine ähnliche freie Erhebung, wie sie beim Fortgehen von undurchsichtigern harmonischen Fortbewegungen zu einfach melodischer Tonfolge statt hat. Verwandt mit der freien Fuge ist in Bezug auf Wirkung die vorübergehende Anwendung einzelner fugirter, sowie contrapunctischer, nachahmender und kanonischer Sätze innerhalb eines sonst ganz in freiem homophonem Styl gehaltenen Tonganzen. Hier (z. B. im „Mittelsatze“ eines Symphonirsatzes) ist das Verhältniß dieses, daß die freie, einfache Bewegung zu einer gebundenern, verwickeltern sich verdichtet; die Stimmen, die bisher homophon waren, spannen sich für einige Zeit gegen einander, um ein in sich mannigfaltigeres, lebendigeres, gedrungeneres Tonbild hervorzubringen und damit die Gesammtbewegung zur höchsten Höhe der Erregtheit oder Energie hinanzuführen. Hier ist umgekehrt die polyphone Verwicklung Resultat der homophonen Einzel- bewegung, das erst dann wieder verlassen wird, nachdem auch dieses ver- wickeltere Gegeneinanderarbeiten der Töne seinen Kreislauf durch verschie- dene Stimmen hindurch vollendet hat; es wird ein Knoten vorbereitet, in den polyphonen Sätzen wirklich geschürzt und wieder entwirrt und hiemit der Rückgang zur Hauptbewegung, zur Homophonie gemacht, die nun um so mehr mit dem Eindruck des Leichten und Freien einhergeht, nachdem sie die polyphonische Verwicklung sich selbst als ihren Gegensatz gegenüberge- stellt, sich in sie wie in eine dunklere Region hinein verloren und sich wie- der aus ihr herausgefunden hat. Es ist klar, daß solche polyphone Sätze ihre vollste Berechtigung haben, daß ein ganz richtiges Gefühl auf sie ge- führt hat, und daß sie so wenig als die strengen polyphonen Formen je veralten können, so wahr es immerhin bleibt, daß in frühern Jahrhun- derten viel zu großer Werth auf diese gelegt worden ist. Eine besondere Anwendung findet die Polyphonie endlich noch als Begleitung einfacher melodischer Sätze. Eine homophone Tonbewegung, eine Einzelstimme kann mit contrapunctischen, nachahmenden, fugirten Sätzen umgeben werden; namentlich ward früher der Contrapunct zu derartiger Begleitung einer Hauptstimme, des sog. cantus firmus, gebraucht. Häu- fig ist auch die eine von zwei contrapunctisch zusammengehenden Stimmen selbst Hauptstimme, ein Verfahren, bei welchem zwar die gleiche Selbstän- digkeit der Stimmen verloren geht, dagegen mehr Einheit in der ganzen Bewegung ist, so daß natürlich auch diese Form des Contrapuncts, welche in freier Weise besonders die Instrumentalmusik anwenden kann, um ein Thema mit Nebenmelodieen zu umspielen, nicht im Geringsten zu bean- standen ist. §. 786. 1. Die zweite Form des zusammengesetzten musikalischen Kunst- werks (§. 781) entsteht dadurch, daß die Musik über die Form des ein- fachen für sich bestehenden melodischen Tonstücks hinausgeht und sich ausbreitet zu einer Reihenfolge von melodischen oder melodiösen Sätzen, die zusammen ein Ganzes ausmachen. Innerhalb dieser Gattung sind aber gleich drei Unterarten zu unterscheiden. Die Reihenfolge ist entweder α ) selbst wiederum eine einfachere, d. h. ein aus mehrern Sätzen bestehendes, mehrtheiliges Tonstück , dessen Sätze blos Abschnitte oder Theile Eines Ganzen sind; oder ist sie β ) eine zu- sammengesetztere, d. h. ein Tonstück mit mehrern Sätzen , die selbständige, obwohl unter einander zusammengehörige Ganze sind; oder ist sie endlich γ ) ein größeres Tonwerk , das ebenso einfache als auch mehrtheilige und aus mehrern Sätzen bestehende Tonstücke in sich aufnehmen und ein umfassenderes Ganzes aus ihnen bilden kann. Ein zweiter, mehr innerer Unterschied dieses 2. zusammengesetzten Kunstwerks beruht darauf, daß es sich bildet entweder auf dem Wege der Aneinanderreihung verschiedener Tonsätze oder auf dem Wege thematischer Ausführung musikalischer Grundgedanken. 1. „Einfaches Tonstück“ und „einfache Melodie“ (§. 781) sind nicht Dasselbe, aber verwandt; eine Fuge oder eine sonstige größere melodische oder melodiöse Composition, die blos aus einander entsprechenden Perioden und periodisirten Theilen besteht, ist ein einfaches Tonstück (eine selbst wie- der einfache Form des zusammengesetzten Kunstwerks), mag sie nun homo- phon oder polyphon sein (die Terminologie ist hier eben wegen Mangels an hinreichend verschiedenen Bezeichnungen schwierig). Es ist aber klar, daß ein und derselbe Grundcharakter und Bewegungsrhythmus sich durch eine Mehrheit von Tonstücken hindurchziehen kann, deren Zahl keiner festen Grenze unterliegt, sondern nur an die Bedingung geknüpft ist, daß nicht gar zu viele, um ihrer Menge und Mannigfaltigkeit willen unübersehbare, zu keinem Totaleindruck zusammengehende Tonstücke an einander gereiht werden. Die im §. angegebenen Arten dieser Form des zusammengesetzten musikalischen Kunstwerks bedürfen daher keiner nähern Deduction, sie liegen in der Natur der Sache. Um für dieselben einen gemeinschaftlichen Namen zu haben, könnte man sie einfach als die cyclische Compositionsform be- zeichnen. Streng genommen scheint diese Bezeichnung nur für die zuletzt aufge- führte Unterart (das „Tonwerk“) anwendbar, aber sie paßt auch auf die übrigen, da selbst das kleinste zusammengesetzte Tonstück cyclisch, d. h. nicht blos ein Neben- oder Nacheinander von Sätzen, sondern ein aus diesem Nacheinander in sich selbst, in seinen Anfang sich umbiegendes Ganzes, also ein Cyclus ist, sei es nun daß der Anfangssatz geradezu (wie z. B. beim Menuett) nach den Mittelsätzen wiederholt oder wenigstens der letzte Satz dem ersten mehr oder weniger conform gebildet ist. Die aus selbständigen Sätzen (in dem Sinne, wie ein Symphonienadagio „Satz“ genannt wird) bestehenden Tonstücke sollte man eigentlich zum Unterschied von den blos „mehrtheiligen“ mehrsätzige nennen dürfen, da die Sprache kein anderes Wort dafür darbietet. 2. Es versteht sich von selbst, daß das cyclische Kunstwerk nicht in ähnlicher Weise feste Hauptformen haben kann wie die polyphone Musik. Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 62 Einerseits herrscht in ihm weit größere Freiheit, da es die Gestalt der An- einanderreihung von Sätzen oder ganzen Tonstücken hat, die höchst mannig- fach sein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus durch das Ganze geht; andrerseits ist es, je weiter es seinen Umfang aus- dehnt, desto nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen zusammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe eines Oratoriums oder gar einer Oper die Anschaulichkeit, das klare Her- vortreten einer beherrschenden Grundidee sowie des Zusammenhangs der Theile verloren gehen würde, und zwar selbst bei der größten, Beethoven noch überragenden Fähigkeit eines Componisten, charaktervolle und eben hiedurch anschauliche Tongemälde in umfassendem Maaßstabe hervorzubringen. Hier, wo wir nur erst im Allgemeinen stehen, kann daher nur von kleinern und größern „Tonstücken“, nicht aber von „Tonwerken“ die Rede sein. — Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern sich gliedert, ist ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von homophoner und polyphoner Musik beruht. Das mehrtheilige und das aus mehrern Sätzen bestehende Tonstück entsteht nämlich entweder auf dem Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa- tion mehrerer Abschnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen Ausführung eines und desselben Grundgedankens (entsprechend den poly- phonen Themenausführungen). §. 787. α ) Das dem einfachen musikalischen Kunstwerk noch ganz nahe stehende, aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfassenderer Formen hervorgehende mehrtheilige Tonstück ist dasjenige, in welchem sich an einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die so entstehenden drei Theile können einander gleichstehen, indem der zweite und dritte zum ersten sich einfach verhalten wie Fortsetzung und Abschluß; oder kann, indem der erste und zweite unter sich enger zusammengehören, der dritte, das sog. Trio , das dann selbst wiederum zweitheilig sein darf, ihnen gegenüberstehen als besonderer Satz mit charakteristischer, den beiden andern Sätzen contrastirend und ergän- zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit. Mit der zweiten Form des zusammengesetzten Kunstwerks beginnt eine auch nach den verdienstvollen Vorarbeiten in Marx’s Compositionslehre begrifflich schwer zu umfassende Freiheit und Mannigfaltigkeit der musikalischen Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des „mehrtheiligen“ Tonstücks hat jedoch ihre gute Begründung in dem Wesen der Sache, und es finden sich daher auch beide Arten überall angewandt. Die erste ist mehr Satz- reihe, die zweite mehr förmlicher Satzcyclus; die erste ist unbestimmterer Art und läßt daher auch eine weniger scharfe Sonderung der Theile sowie eine Erweiterung zu noch größerer Zahl derselben zu; die zweite hat mehr Abgeschlossenheit, Abrundung und bestimmte Gliederung; die erste ist mannig- facher anzuwenden, z. B. in größern Gesangstücken, durchcomponirten Liedern u. s. w. so gut als in Märschen und dergleichen; die zweite fällt wenigstens in ihrer strengen, die Theile bestimmt von einander sondernden Form vorzugsweise der Instrumentalmusik zu, da der contrastirende Charak- ter, mit dem das Trio den übrigen Theilen gegenübertritt, für die weniger mannigfaltig bewegte Vocalmusik sich weniger eignet, sie ist aber auch von dieser nicht ausgeschlossen, indem z. B. Gesangstücke mit kürzerem, vom Uebrigen verschieden gestaltetem Mittelsatze (so das schöne Finale des ersten Akts von Idomeneo) ihr angehören. Das dreitheilige Tonstück mit Trio ist sonach nicht etwa eine untergeordnete, beschränkte, sondern eine wesent- liche Musikgattung, der eine große Zahl der schönsten Compositionen ent- springt; sie ist dieses durch das in ihr zur Anwendung kommende Gesetz des Contrastes. Das Trio entsteht nämlich eben dadurch, daß beabsichtigt wird, irgendwie contrastirende Tonbewegungen in einem Musikstück einander gegenüberzustellen, und zwar ist es der auch für weitere Musikformen sehr wichtige Contrast des stärker und weniger Erregten oder der erregtern und ruhigern Empfindung, der hier zu bestimmter Verwirklichung gelangt. Auf die erregtere Empfindung folgt naturgemäß die ruhigere als das Resultat, zu dem sie hinführt, in dem sie ausruht und ausklingt; auf die ruhigere ebenso auch die erregtere als die gesteigerte Empfindung, zu der die ruhigere allmälig anschwillt, in welche sie plötzlich durch irgend etwas getrieben über- geht, um hernach zu sich selber wieder zurückzukehren. Schon die einfache Melodie und schon die concretern Formen der polyphonen Musik wenden dieses Gesetz an; aber erst hier wird es streng durchgeführt, erst hier wird es zum Grundprinzip der Gestaltung des ganzen Tonstücks gemacht. Na- türlicher und darum auch gewöhnlicher ist es, daß das Trio die ruhigere Empfindung übernimmt; die stärkere Erregtheit nimmt schon an sich weitern Raum in Anspruch, um sich gehörig auszusprechen und auszubreiten, und es kommt dazu der äußere Umstand, daß es wie natürlich meist kleinere bewegtere Tonstücke (Märsche, Tänze oder verwandte Stücke in Sympho- nien) sind, welche dieser Form sich bedienen, so daß der ruhigern Empfin- dung nur ein geringerer Raum zugemessen werden kann. Das Trio ist daher meist einfach melodiös, leicht, graciös, behaglich, humoristisch, den figuren- und harmoniereichern, lebhafter rhythmisch bewegten, kräftiger ein- herstürmenden Hauptsätzen gegenüber; es erscheint gern in dem klaren Dur, wenn die Hauptsätze in düsterem Moll auftreten (wie z. B. in dem unüber- trefflichen Menuett von Mozart’s Gmoll- Symphonie), es tritt wie heiteres 62* Spiel oder wie eine den sonst unaufhaltsamen Fortgang der Handlung unterbrechende Episode oder wie eine zur Ruhe einladende Pause, wie freund- licher Sonnenstrahl zu den intensiver, unruhiger vorwärtsdrängenden und darum auch undurchsichtigern Hauptsätzen hinzu oder zwischen sie hinein, indem es das Gewöhnliche ist, daß die Hauptsätze als der wichtigere und selbständigere Theil des Ganzen, nachdem ihnen im Trio ein ergänzendes, milderndes Gegenbild gegenübergestellt worden ist, am Schluß wiederholt werden, um sie damit eben als das, was sie sind, als die Hauptbestand- theile, auf welchen vorzugsweise das Gewicht des Ganzen ruht, erscheinen zu lassen. Auszuschließen ist aber auch die andere Art des Contrastes nicht; das Trio kann auch als Mittelstück auftreten, in welchem die Bewegung sich zusammennimmt, steigert und höher anschwillt (wie in dem bemerkens- werthen zweiten Satz des Menuetttrio der großen Mozart’schen Cdur- Sym- phonie) oder doch wenigstens ernster, innerlicher, intensiver, gedrungener wird (wie im Mittelsatze des Scherzo von Beethoven’s Adur- Symphonie). Doch bleibt immer die erstere Art die der Grundidee dieser ganzen Musik- form entsprechendere; die Bewegtheit mitten in die Ruhe hereingeworfen hat etwas Unerwartetes, Befremdendes, während die Ruhe eine ihr voraus- gehende Bewegung naturgemäß ablöst. — Aus dem Wesen des dreitheili- gen Tonstücks mit Trio folgt von selbst, daß es wie die Einzelmelodie ebensowohl selbständig wie als Theil eines größern Ganzen auftreten kann. Durch das Eine oder Andere wird jedoch an seinem eigenthümlichen Cha- rakter contrastirender Ergänzung nichts geändert, zu welcher hier das in §. 780 erwähnte Verhältniß der Gegenbildlichkeit zwischen erstem und zwei- tem Theile fortgebildet ist. §. 788. Den Uebergang von dem durch Anreihung und Combination entstehenden Tonstück zu dem auf thematischer Ausführung beruhenden bildet die Rondo- form . Hier erweitert sich der Hauptgedanke zu einem oder mehrern unterge- ordneten Uebengedanken, worauf der Hauptgedanke und ihm folgend die Ue- bengedanken, im Einzelnen verschieden gewendet und erweitert, jedoch mit Festhaltung der Grundtonart für den erstern, sich mehrmals wiederholen, bis das Ganze mit ihm oder einem ihn enthaltenden größern Schlußsatz zu Ende geht. Das Rondo, schon durch seinen Namen sich als Hauptart der cyclischen Musik charakterisirend, schließt sich sehr nahe an den dreitheiligen Satz mit Trio an, sofern auch bei diesem die Haupttheile nach dem Trio sich wieder- holen. Es unterscheidet sich aber von ihm doch wiederum wesentlich dadurch, daß es nur Einen Hauptgedanken hat und dagegen mehrere Nebengedanken gestattet, sodann dadurch, daß die Theile nicht abschließend von einander gesondert sind, sondern continuirlich zusammenhängen und endlich durch die mannigfaltigen Veränderungen namentlich der Nebengedanken, die hier nicht nur zuläßig, sondern auch um Einförmigkeit zu vermeiden gefordert sind, sobald das Rondo sich nicht auf einen ganz kleinen Umfang beschränkt. Kurz, das Rondo ist eine die Vielheit bestimmter der Einheit des Gedankens unterordnende und andrerseits doch eine freiere, weniger scharf gegliederte Form; es ist der umgekehrte Refrain, es ist ein Strophengedicht, das mit dem Hauptgedanken stets wieder beginnt, nachdem die Nebensätze zu dem- selben hinzugethan sind; es gehört nach jener ersten Seite dem directen Idealismus an, unter den der dreitheilige Satz mit Trio durchaus fällt, nach der zweiten aber bereits dem indirecten Idealismus, der die Strenge der Form verläßt. Den Uebergang zu dem auf Evolution und thematischer Gedankenverarbeitung beruhenden Kunstwerk bildet es dadurch, daß es nicht anreiht, sondern „erweitert,“ nicht zwei oder drei melodische Sätze blos an einander fügt, sondern die Nebengedanken in organischer Continuität aus dem Hauptgedanken sich herausentfalten und im weitern Verlauf beide sich zu einzelnen Erweiterungen und Veränderungen fortentwickeln läßt. Die musikalische Berechtigung dieser Form ergibt sich daraus, daß sie in eigen- thümlicher Art Einheit mit Mannigfaltigkeit verbindet; die Einheit umspielt sich hier mit Mannigfaltigkeit, aus der sie immer wieder, wenn auch mit dieser oder jener Modification, emportaucht; es ist die kreisförmige, in sich selbst zurückkehrende, einen Gedanken immer wieder fixirende (hiemit an die Fuge erinnernde) Bewegung, deren Rhythmus allerdings vorherrschend nicht ein fortschreitender, sich steigernder, sondern ein wesentlich an sich haltender, regelmäßig zwischen Hebung und Nachlaß, zwischen Aufsteigen zum Haupt- und Herabsteigen zu den Nebengedanken hinundhergehender Rhythmus ist, wiewohl auch hier (z. B. in der Arie der Donna Anna aus F dur ) die Steigerung nicht schlechthin ausgeschlossen ist. Das Rondo ist so natur- gemäß, wie die einfache Melodie; es ist das ganz natürliche stete Zurück- kommen der Empfindung oder Phantasie zu einem sie vorzugsweise be- schäftigenden Gefühlsinhalt, und es ist daher die geeignete Form für Ton- stücke, in welchen die Innigkeit einer sich immer wieder auf Einen Punct concentrirenden Empfindung veranschaulicht, oder ein die musikalische Phan- tasie durch sich selbst ansprechender, charakteristischer, reizender Gedanke um- sponnen von der Ornamentik beiherspielender Nebengedanken wiederholt vorgetragen, oder endlich bewegtern Tonsätzen gegenüber (z. B. in Andantes von Sonaten u. s. w.) eine in der Beschränkung auf Einen Hauptge- danken behaglich ausruhende Stimmung dargelegt werden soll. Von selbst versteht es sich auch hier, daß das Rondo entweder selbständig oder als Theil eines größern Ganzen auftreten kann. In letzterem Falle eignet es sich besonders auch zum Schlußstück; sowohl wegen seines gehaltenern, bei Einem Gedanken sich beruhigenden, zwischen ihm und den Nebensätzen sich hinundherschaukelnden Charakters als nach Seiten der Beharrlichkeit, mit der es einen Hauptsatz stets in den Vordergrund drängt, ist es ganz dazu an- gethan, die Rolle des Schlußstücks zu übernehmen, wenn in diesem der. Sturm der Bewegung des Ganzen zu Ende gehen und sich entweder zur stillern Sammlung abklären oder sich noch einmal kräftig zu energisch wie- derholender Aussprache starker und mächtiger Empfindungen zusammenfassen soll. Umfang und spezielle Gestaltung des Einzelnen können beim Rondo als freierer Musikform sehr mannigfaltig sein. Namentlich ist große Freiheit zuläßig bei der Behandlung des Nebensatzes, welcher ebensowohl blos die Form eines unselbständigen, für sich bedeutungslosern Tonganges als die eines dem Hauptgedanken an Gewicht nahezu an die Seite rückenden „Seitensatzes“ erhält, je nachdem der Gesammtcharakter des Stückes es verlangt. Desgleichen kann Ein Nebensatz genügen oder zu ihm ein zweiter hinzutreten; der Hauptgedanke kann das eine Mal mit dem ersten, das andere Mal mit dem zweiten oder auch jedesmal mit beiden zusammen auf- treten; die Nebensätze können sich erweitern, im Einzelnen sich verändern, „Zwischensätze“ zwischen sich und den Hauptgedanken einschieben, und na- mentlich der Schluß kann mit dem Hauptgedanken allein oder mit einer Combination aus ihm und den Nebengedanken gemacht werden. So naturgemäß und künstlerisch berechtigt die Rondoform ist, so haften ihr doch zwei Einseitigkeiten an, die noch zu weitern Formen forttreiben; es überwiegt in ihr die Einheit über die Mannigfaltigkeit, und die Mannig- faltigkeit, soweit sie in den Nebengedanken auftritt, ist dann doch wiederum zu frei, zu wenig unter ein bestimmtes Gesetz gestellt, zu sehr der Phantasie überlassen. Das Ueberwiegen der Einheit führt die Gefahr der Eintönigkeit und Einförmigkeit sowohl des musikalischen Inhalts als des Rhythmus mit sich; die Freiheit in der Gestaltung der Nebensätze benimmt dem Ganzen den Charakter einer streng gegliederten Kunstform, sie läßt es als ein Gedicht mit Episoden erscheinen, in welchem diese letztern einen unverhältnißmäßigen Raum einnehmen, sie gibt dem Rondo zwar den eigenthümlichen Reiz romantischpoetischer Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit, aber sie schließt es aus den Werken strengern und höhern Styles aus, daher es z. B. im Ganzen doch besser für die Concert- als für die Symphoniegattung sich eignet und in bedeutsamern Tonstücken sehr oft nicht für sich allein ange- wandt, sondern zu andern Satzformen von ihm übergegangen wird. Kurz, die Mannigfaltigkeit kommt in ihm einerseits zu kurz und macht sich andrer- seits auch wiederum zu sehr geltend auf Kosten der höhern Einheit des Gedankens. Diese Einseitigkeit hebt sich auf in zwei weitern Formen des cyclischen Kunstwerks, einmal in der Variation, und sodann in den zu thematischer Verarbeitung der Grundgedanken fortgehenden mehrtheiligen Tonsätzen, beides Formen, welche an die Stelle des Prinzips der Anreihung entschieden das der Entwicklung setzen. §. 789. Die Variation ist die erste Hauptart der auf dem Prinzip der Ent- wicklung oder thematischen Ausführung beruhenden Form der cyclischen Musik. Sie steht einerseits dem einfachen homophonen Kunstwerk am nächsten, indem sie nichts ist als ein in gleicher Tonart mit mannigfachen Veränderungen sich wiederholender melodischer Satz; sie bildet andrerseits den entschiedensten, an die polyphone Musik erinnernden Gegensatz zu aller blos durch Aneinander- reihung von Tonsätzen oder blos durch Erweiterung entstehenden Musik, indem in ihr der ganze musikalische Inhalt durch Entwicklung des Thema’s zu neuen Formen erzeugt und höchstens am Anfang und Schluß selbständigere, obwohl mit dem Thema verwandte Sätze angefügt werden. Die Variation wird zwar blos in der Instrumentalmusik angewendet, weil sie in vollständiger Durchführung sich für die weniger mannigfaltige und formenreiche Vocalmusik weniger eignet; aber sie ist doch eine Musik- form allgemeinern Charakters, da sie ganz auf denselben Prinzipien beruht, wie alle bisher betrachteten concreten Compositionsformen, und zudem ist die figurirte Vocalmusik (vgl. S. 924) im Grund bereits eine Variation, eine Species der letztern, die auch bei Instrumentalvariationen (einfacherer Art) häufig genug ist. Das eigenthümliche Wesen der Musik tritt eben in der Variation in ganz sprechender Weise hervor; die Variation ist möglich durch die Unbestimmtheit und Freiheit der musikalischen Formen im Gegen- satze zu den plastischen und malerischen; sie ruht darauf, daß ein und derselbe Gedanke, wenn nur die Ton- und Taktfolge im Allgemeinen festgehalten wird, doch in verschiedener Figurirung, Rhythmisirung, Stimmenvertheilung, Stimmenverflechtung, Contrapunctirung, Fugirung erscheinen kann. Die ursprüngliche Tonfolge scheint hinter allen diesen Veränderungen durch, wie die Gesammtrichtung einer gewundenen Linie immer sichtbar bleibt, auch wenn sie an einzelnen Puncten im Kleinen vielfach gebrochen und geschlängelt dargestellt wird; der Inhalt bleibt derselbe, die Form ändert sich. Zugleich jedoch ist diese Aenderung der Form nicht schlechthin gleichgültig; mit der Aenderung der Form wechselt natürlich und soll auch mehr oder weniger wechseln der Bewegungsmodus, und damit die Stimmung, der Ausdruck, der Charakter der ursprünglichen Melodie, sie soll sich selbst zu neuen und Neues enthaltenden Gestaltungen fortentwickeln, und auch der ganze Cyclus von Variationen soll nicht blos ein Aggregat, eine Kette sein, in der alle Ringe gleich sind, sondern es soll ein Fortschritt vom Einfachern zum Zu- sammengesetztern, vom Ruhigern zum Bewegtern, vom Ernstern zum Leich- tern und umgekehrt sich darstellen, es soll in ihm ein sich allmälig hebender und endlich wiederum harmonisch verklingender Bewegungsrhythmus zu Tage treten. Allerdings liegt es nahe, die Variation vorzugsweise als Spiel mit mannigfaltigen Formen zu behandeln, bei dem es um nichts zu thun ist als eben um die Mannigfaltigkeit selbst und den in ihr liegenden Reiz, und es kann auch dieser Behandlungsweise ihre Berechtigung nicht abge- sprochen werden, da die Kunst und namentlich die Instrumentalmusik, welcher die Variation hauptsächlich zufällt, dieses freie Phantasiespiel nicht nur nicht ausschließt, sondern es im Gegentheil postulirt als eine die Freiheit der künstlerischen Gestaltung, die Freiheit, mit der der Gedanke das Gegebene beherrscht und zu immer neuen Formen umwandelt, ganz besonders zur Darstellung bringende Gattung; aber selbst hier darf Fortschritt und Rhyth- mus der Bewegung nicht fehlen, wenn er auch nicht gerade auf significante Weise hervortritt, und es ist daher namentlich am Schluß eine Erweiterung des Variationencyclus zu freiern, das Thema selbständig fortbildenden, nicht mehr blos variirenden Sätzen, ein Hinausgehen über den engen Kreis des Thema’s zu breitern, weitschichtigern Tonstücken, welche z. B. die Form längerer Adagio’s oder des Tanzes oder Marsches haben können, von sehr guter Wirkung. Entbehrlich ist eine solche Erweiterung eigentlich nur dann, wenn schon in die Variationen selbst ein höherer Gehalt und ein entschie- dener Fortschritt in Bezug auf Kraft, Individualisirung, Bedeutsamkeit, Tiefe gelegt, oder wenn die Variation nicht als ein wesentlich nichts Neues zu Tage förderndes Formenspiel, sondern als Fortentwicklung des Grund- gedankens zu neuen charakteristischen Gestaltungen seiner selbst behandelt wird. Mittelst erfindungsreicher Anwendung der Mittel der Harmonie, des Rhyth- mus, der Stimmführung kann diese Fortführung eines an sich einfachen und leichten Thema’s zu gehalt- und charaktervollern Gestaltungen in sehr wirksamer, ja großartiger Weise bewerkstelligt werden, wenn die Geistestiefe und der Ideenreichthum auf Seiten des Componisten dazu in vollem Maaße vorhanden ist; die Musik kann auf diesem Gebiete Triumphe höchster Art feiern, indem hier der Künstler, trotzdem daß er in jedem Takte an das Thema streng gebunden bleibt, ihm doch ganz neue Wendungen zu entlocken, es in höhere Formen umzuwandeln, eine in ihm latente höhere Bedeut- samkeit aus ihm hervorzuzaubern weiß. Die Variation ist so wirklich ein ganz geeignetes Feld für Bewährung des musikalischen Genies nach der Seite des Gehaltes wie nach der der reinen Form; das Unbedeutendste und Leichteste, die spielende Unterhaltung durch mancherlei Wendungen, aber auch das Größte und Schwerste, die schöpferische Entwicklung gehaltreicher und charakteristischer Tongebilde aus einfachen Grundelementen fällt der Variation zu; sie belebt, sie verdichtet und vertieft das helle und klare Grundmotiv, sie läßt aus seinen Keimen Organismen mannigfachster Art und Stufenfolge hervorwachsen, deren jeder eine neue im ursprünglichen Thema enthaltene mögliche Form desselben zu lebendiger Anschauung bringt, sie offenbart die unendlich mannigfaltige Bildsamkeit des Musikalischen, die Unerschöpflichkeit der Mittel, welche der Musik zu Gebote stehen, um ihre Gebilde reicher, voller, gewichtiger zu machen; die Musik wird in ihr deco- rativ, aber sie wird auch productiv, freistes und doch in festen Schranken und Grenzen sich bewegendes Spiel der rein künstlerischen, lediglich auf schöpferische Formenentwicklung bedachten, in ihr ungehemmt sich bewegenden Phantasie; ja es ist in der That auch etwas tiefer Geistiges in der Va- riation, sie stellt einerseits mehr oder weniger erschöpfend einen Cyclus partikulärer Gestaltungen auf, deren ein Thema fähig ist, sie läßt ein und dasselbe individuelle Gebilde eine ganze Reihe verschiedener Entwicklungs- weisen und Entwicklungsstufen durchlaufen, die es annehmen kann, ohne sein ursprüngliches Wesen zu verlieren, sie läßt andrerseits die allgemein musikalischen Bewegungstypen, Stimmungsarten, Compositionsformen nach einander an Einem Thema heraustreten, sie erweitert hiemit das Individuelle zu einem universellen Bilde, sie drängt ebenso das Allgemeine in den Rahmen des Einzelbildes hinein, sie ist eine Erweiterung des einfachen Gedankens zu einer Gallerie von Bildern, welche ihn selbst in immer neuen musikalischen Formen und damit eine Reihe verschiedener Formen der Musik selbst, ein Miniaturbild musikalischer Formenmannigfaltigkeit überhaupt uns vor Au- gen stellt. Die Variation hat dem über sie Bemerkten zufolge ihre volle ästhetische Berechtigung, die nie veralten kann; sie ist zudem so naturgemäß, wie irgend ein künstlerisches Spiel es ist, sie entsteht auch in ihren höhern Formen dadurch, daß das Einfache die ihrer Formenfülle bewußte Phantasie reizt, es zu reichern Gestaltungen zu entwickeln. Ihre Anwendung ist allerdings eine beschränkte; sie kann namentlich nicht regelmäßig als Theil eines größern Tonstücks erscheinen, sie kann eigentlich nicht Theil sein, weil sie an sich schon Ganzes ist, das in den mannigfachen Wendungen, welche es durch- läuft, für sich gehört und verfolgt sein will; tritt sie in einem größern Werk auf, so kann sie sich nicht gehörig ausbreiten, nicht alle Formen vor- bringen, deren sie fähig wäre, und thut sie es doch, so ist es gleich ein Zeichen, daß das ganze Tonstück (z. B. eine Sonate) mehr der aggregat- artigen Form, die selbständige Sätze an einander reiht, als der streng ein- heitlichen Kunstform angehören will. — Einseitig ist die Variation, ähnlich wie das Rondo, durch ihre Einförmigkeit. Sie hat zwar vor dem Rondo eine strengere Gedankeneinheit voraus; aber dieß schlägt auch wieder zu ihrem Nachtheil aus, sie enthält stets dieselben Grundmotive und ist dadurch zugleich genöthigt stets wieder von vorne anzufangen, ein Ganzes von Variationen zerfällt in selbständige Stücke, die einander verwandt, aber jedes wieder ein Ganzes für sich sind. In dieser Beziehung gehört die Variation selbst wieder der aggregatartigen Musikform an, sie hat zu wenig Continuität, Fluß und ungehemmten Fortgang. Wie das Rondo zur Variation fort- treibt, damit strengere und zugleich reicher entwickelte Gedankeneinheit erzielt werde, so treibt die Variation zu einer noch höheren Kunstform fort, welche Gedankeneinheit hat ohne Einförmigkeit, reiche Gedankenentwicklung ohne Zersplitterung in selbständige variirende Stücke. Diese Form entsteht da- durch, daß die cyclische Musik wieder zurückkehrt zur Grundform aller Musik, d. h. zu der in Perioden und (kleinere) Sätze sich gliedernden Zweitheiligkeit, die aber das Erweiterungsprinzip des Rondo und das Entwicklungs- oder Verarbeitungsprinzip der Variation in sich aufnimmt und auf diesem Wege große, die beiden Elemente der Einheit und der Mannigfaltigkeit völlig befriedigend vereinigende Tonsätze hervorbringt. §. 790. Die zweite Hauptart der auf dem Prinzip thematischer Ausführung be- ruhenden cyclischen Musik ist die Compositionsform, die man kurz als die Form der freien musikalischen Gedankenentwicklung bezeichnen kann. Ein in sich bereits mannigfaltig gegliederter Hauptgedanke führt un- mittelbar oder durch Zwischensätze zu einem zweiten, mit innerer Nothwendigkeit aus ihm hervorgehenden, in andrer Tonart auftretenden fort, mit dessen voll- ständiger Durchführung, sowie mit hinzukommenden Nebensätzen oder kürzern Wiederholungen, variirenden Entwicklungen des ersten Hauptgedankens, zunächst ein Abschluß eintritt. Aus dem so gebildeten ersten Theil entwickelt sich ein zweiter, welcher in der Regel den ersten durch modulatorisch, harmonisch und rhythmisch noch reichere und belebtere Bearbeitung von Gedanken desselben weiter führt und sodann allmälig wieder in den einfachern und ruhigern Gang des ersten Theils einlenkt, um mit ihm, wiewohl wiederum nicht ohne einzelne Erweiterungen, Veränderungen, Entwicklungen seiner Gedanken oder auch mit Fortführung derselben zu eigenen Schlußsätzen, in der Grundtonart zu schließen. So entsteht ein Satz, in welchem Einheit sich selbst zur Mannigfaltigkeit organisch erweitert und fortentwickelt, diese Mannigfaltigkeit aber ebenso naturgemäß zur Einheit wiederum zurückgeht und so neben allem Wechsel die vollständigste, fließendste, einheitliche Abrundung des ganzen Tonbilds erzielt wird. Die Grundform der Musik, Zweitheiligkeit sich gliedernd in Perioden und (kleinere) Sätze, war in den bis jetzt betrachteten Formen nicht das beherrschende Prinzip der ganzen Anordnung des Tonstücks; als solches tritt sie nun wieder hervor in der Kunstform der freien Gedankenentwicklung (auch die Form der Evolution könnte man sie nennen), welche jene Zwei- theiligkeit in großartigerem Maaßstab wieder anwendet, um innerhalb dieses Rahmens eine die Prinzipien des Rondo’s und der Variation, sowie nach Umständen auch die der Polyphonie in sich verschmelzende höhere Com- positionsgattung hervorzubringen. Es fallen unter dieselbe sowohl Gesang- stücke von größerem Umfange, Arien, die nach dem ersten Theile zu con- creterer Verarbeitung der Hauptgedanken fortschreiten, als besonders Instru- mentalstücke, Sonaten- und Symphoniesätze, Ouvertüren u. s. w. Die Evolutionsform ist geradezu die höchste Form der Composition, sie ist die der Urform nächste und darum klarste und anschaulichste, bestgegliederte, und sie ist zugleich die concreteste, entwicklungsfähigste, zur Aufnahme aller andern Formprinzipien in sich geeignetste Musik. Sie ist ihrem ganzen Plane nach durchaus einfach übersichtliche zweitheilige Melodie, nur daß sie die Perioden der Theile zu größern Hauptsätzen erweitert, Neben- und Zwischensätze zwischen diese einschiebt und den zweiten Theil mit mannig- faltigen Umgestaltungen des ersten bereichert, die dem Ganzen mehr Be- wegungsrhythmus verleihen als die Melodie für sich es vermöchte; sie ist ebenso, im Einzelnen betrachtet, erweiternd wie das Rondo, entwickelnd wie die Variation, combinirend wie die Polyphonie, indem sie namentlich zum Behuf ihrer thematischen Ausführungen Stimmenverflechtung, Contrapunct, Nachahmung, Fugirung anwendet; sie hat ferner vor allen diesen Formen theils die Mannigfaltigkeit voraus, theils die Freiheit, sie wiederholt nicht einseitig wie das Rondo, stellt nicht wie dieses blos Nebensätze zum Haupt- satz hin, sondern hat eine wirkliche Mehrheit selbständiger und doch innerlich zusammengehöriger Sätze, sie hat eine in wirkliche Mannigfaltigkeit aus- einandergehende, nicht abstracte Einheit, sie gebraucht die Formen der Po- lyphonie ganz ungebunden, so lange und wie sie will, ohne an ein abstractes Formgesetz sich zu kehren und so das Formelle zur Hauptsache zu machen; endlich thut sie „in der Regel,“ d. h. da wo sie sich ganz vollständig in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit und namentlich in ihrem spezifischen Unter- schied von der Rondoform entwickelt, zu dem allen noch Eines hinzu, die Ausweitung und Ausarbeitung kleinerer Perioden, Sätze und Satzglieder (Motive) zu größern Sätzen, was auch wieder nur eine spezielle Art von Evolution, Herausentwicklung größerer Gedanken aus kleinern ist. Das Genauere namentlich über diesen letztern Punct muß jedoch der Lehre von den Musikzweigen vorbehalten bleiben, weil diese Form so mannigfache, erst in den einzelnen Zweigen besonders der Instrumentalmusik spezifisch hervor- tretende Unterarten in sich schließt, daß eine schon hier genauer als der §. auf das Einzelne eingehende Besprechung dem später zu Sagenden unpassend vorgreifen würde. Bei der der Musik vor allen andern Künsten eigenen Freiheit der Bewegung ist es nicht anders zu erwarten, als daß diese Form „der freien Gedankenentwicklung“ auch vollends die im §. ihren Grundzügen nach auf- gestellte Gliederung, so wenig beengend sie an sich ist, aufgibt und sich zu absoluter Freiheit fortbewegt. Abgesehen von den Fällen, in welchen auf dem Gebiete der Vocalmusik, z. B. bei dem Recitativ und auch bei der Arie diese Freiheit durch den wiederzugebenden Inhalt veranlaßt, ebendamit aber durch diesen auch wieder bedingt und in Schranken gehalten ist, gehört hieher namentlich die freie „ Phantasie “ der Instrumentalmusik, sowie Instrumentalwerke, welche sich ihr mehr oder weniger annähern. Es ergibt sich jedoch von selbst, daß dieselbe nur eine Nebenform sein kann trotz des großartigen Gedanken- und Formenreichthums, den der Componist je nach seiner Individualität in sie zu legen vermag; sie ist eben eine „individuelle“ Form, welche der musikalischen Stimmung und Laune, der musikalischen Bildungs- und Gestaltungslust freien Spielraum gewährt, aber neben den gesetzmäßig gegliederten Formen nur den Rang eines Neben- und Beiwerks, eines momentanen ungebundenen Spieles des musikalischen Genius behaupten kann, von welchem er selbst mit innerer Nothwendigkeit zu strengern Ge- dankenformen hin- oder zurückgetrieben wird. §. 791. β ) Das aus mehrtheiligen Sätzenbestehende größere Ton- stück ist diejenige Form, in welcher sich (abgesehen von umfassenderen Ton- werken) die cyclische Musik vollendet. Es entsteht dadurch, daß die Composition sich ausbreitet zu einer kleinern oder größern Zahl selbständiger Sätze, die, nach Inhalt, Form, Bewegung, theilweise auch nach Tonarten verschieden, doch zu- gleich durch gemeinsame Charaktereigenthümlichkeit verbunden sind und ein innerhalb seiner selbst fortschreitendes, rhythmisch sich fortbewegendes Ganzes bilden. Die Sätze werden abermals Theile; so entsteht „das Tonstück mit mehrern Sätzen“ (§. 786), im Großen dasselbe was das dreitheilige Ton- stück (§. 787.) im Kleinen, und dieses selbst je nach Bedarf, z. B. als dreitheiliges melodisches Zwischenstück oder als Marsch, Tanz, Scherz, in sich aufnehmend, wie andrerseits auch polyphone Sätze, Variation, Rondo, besonders aber die im vorhergehenden §. behandelte Form (weil sie für freien Gedankenfortschritt die geeignetste ist) innerhalb seiner als Theile auf- treten können. Es wird hier gleich ein größeres Ganzes concipirt und auf eine Ausdehnung zu mehrern Sätzen berechnet, seien es nun 2 oder 3 oder darüber, obwohl für großartigere Orchestermusik die Vierzahl an sich die passendste ist, weil sie einen nicht zu beschränkten und doch auch nicht zu weit ausgedehnten, zugleich durch die Symmetrie der Theilung des Ganzen in zwei Hälften befriedigenden Cyclus von Tonsätzen darstellt. Der erste Satz führt zum zweiten hinan oder kommt in ihm zur Ruhe, der erste findet im zweiten sein Gegenbild, seinen Gegensatz oder sein positives Re- sultat, seinen Abschluß, der zweite zieht wiederum in der einen oder in der andern Weise einen dritten nach sich u. s. w., bis im Schlußsatz Alles kräftig austönt oder die Bewegung ruhig sich abklärt; dieß ist im Allge- meinen der Typus dieser höchsten Form cyclischer Musik, die größern lyrischen und dramatischen Vocalstücken sowie unter Instrumentalwerken namentlich Sonaten und Symphonieen zu Grunde liegt. Die Formfreiheit der Musik ist auch hier so groß, daß im Einzelnen die mannigfaltigsten Gestaltungen in Bezug auf Zahl, Länge, Construction und gegenseitiges Verhältniß der Sätze möglich sind. Doch lassen sich die wesentlichen Grundunterschiede, die hier möglich sind, wohl von einander sondern. Das Tonstück ist ent- weder blos zweitheilig; die Bewegung ist zuerst ruhigere Stimmung oder Empfindung (s. S. 953) in langsamerem Tempo, auf welche dann erregtere Musik folgt (wie in größern Arien ein Allegro auf ein Andante); oder ist der Gang der umgekehrte, wiewohl dieses der seltenere Fall ist, weil bei langsamerem Tempo das Gefühl des Austönens, des zur vollen Ruhe Hin- treibens der Bewegung weniger leicht entsteht; ruhige Stimmung braucht langsames Tempo, aber der Prozeß der Beruhigung, des erst zur Ruhe Kommens erfordert in der Regel eine schnellere Bewegung, das langsamere Tempo hält uns an einem Gedanken gleichsam in contemplativer Ruhe fest, das schnellere aber ist geeignet uns fühlen zu lassen, daß die Hauptsache bereits gesagt ist und Alles zum Abschlusse drängt. Oder ist das Tonstück mehr als zweitheilig; dann ist, obwohl auch hier von (längern) Adagio’s oder Andantes zu Allegro’s und Presto’s aufgestiegen werden kann, der Gang naturgemäß in der Regel ein weniger einfacher: zuerst „erregtere,“ uns gleich oder nach kurzer langsamer Einleitung in den lebendigen und lebendigergreifenden Strom der Tonbewegung hineinversetzende, dann ruhigere „Stimmungs- oder Empfindungsmusik,“ bei der das Gemüth sich wieder sammelt und nun auch zartere, innigere, gerührtere Gefühle zum Worte kommen können, hierauf Neuanheben der Erregung, neuer Aufschwung des lange genug im Schmelz der Empfindung, in der Stille der Contemplation, im Ernst der Trauer und dergleichen zurückgehaltenen Geistes zu belebterem, muntererm, kräftigerm Einhergehen in einem oder in zwei Sätzen, womit das Ganze naturgemäß sich abschließt, indem es so die Momente der Er- hebung und Erregung, der Rückkehr aus ihr zur sinnigen Ruhe des sich wieder sammelnden Selbstbewußtseins, der neuen Aufraffung, des endlichen raschen Zumschlussebringens der ganzen Empfindungsbewegung, kurz den ganzen Prozeß, in dem alles Gefühls- und Geistesleben sich bewegt, voll- ständig durchlaufen hat. Dieß der eine Grundunterschied. Der andere betrifft das innere Verhältniß der Sätze zu einander. Dieses Verhältniß ist äußerlicher oder innerlicher, es ist nämlich entweder das des Wechsels oder das des Contrastes oder das eines qualitativen, intensiven Bewegungs- rhythmus. Irgend ein Bewegungsrhythmus ist (S. 934) natürlich bei dieser Kunstform immer, weil sie zwischen Erregungs- und Stimmungs- musik hinundhergeht; aber er kann ein äußerlicher, formeller, dem Tonstück selbst nicht immanenter sein, wenn die erregtern und die ruhigern Sätze blos entfernter unter sich verwandt, zu selbständig gegen einander, blos nach dem Gesetz und zum Behuf rhythmischer Mannigfaltigkeit oder rhythmischen Contrasts neben einander gestellt sind; hier gefallen mehr die einzelnen Sätze für sich und zugleich ihr Wechsel und Gegensatz, aber ein tieferer Zusam- menhang und Fortgang ist nicht vorhanden. Dieser ist erst dann da, wenn der Bewegungsrhythmus innerlich, intensiv ist, wenn die Sätze in dem Verhältniß zu einander stehen, daß der eine zum andern hintreibt, daß die scharf ausgesprochene Unruhe, Spannung, Bewegtheit, Gedrücktheit des einen ihre ebenso entschieden hervortretende Beruhigung, Lösung, Befreiung im andern findet, kurz, wenn der Fortgang etwas vom Dramatischen, von Verwicklung an sich hat. Schon das Verhältniß des Contrasts ist tiefer als das des bloßen Wechsels, indem es ein Bild des durch das ganze Leben hindurchgehenden Gegensatzes von Lust und Unlust, Bewegung und Ruhe, Erregung und Sammlung, Affect oder That und Selbstbesinnung, Herausgehen aus sich und Rückkehr zu sich darstellt; aber noch tiefer ist das des dramatischen Fortgangs, bei welchem die beiderseitigen Elemente in eine innere Beziehung zu einander treten, indem das Gemüth wirklich als durch diese Stadien der Erhebung, der Niederdrückung, der abermaligen Er- hebung u. s. f. hindurchgehend, sich hindurchkämpfend dargestellt wird. Einen ihrer Form wirklich vollständig adäquaten, Alles was sie leisten kann wirklich leistenden Inhalt, sowie vollkommene innere Einheit der Sätze unter einander bekommt diese Gattung von Tonstücken nur durch diesen dramatischen Be- wegungsrhythmus, der nicht blos Wechsel und Contrast, sondern auch Fort- gang und Prozeß ist und hiemit alle Beziehungen zusammenfaßt, die bei einer längern Tonbewegung möglich sind. Natürlich sollen nicht alle Werke dieser Gattung eine solche dramatische Bewegtheit haben; das epische, aggre- girende Prinzip hat auch seine Berechtigung; aber die höchste Stufe ist die dramatische Construction deßungeachtet, weil hier das formelle Nebeneinander durch das Band innerlicher Einheit überwunden, und weil erst in ihr neben reicher Entwicklung des melodischen und harmonischen Elements auch das rhythmische zu seiner vollen Entfaltung gekommen ist, welches doch für diese ganze Musikgattung das unterscheidende ist. Die möglichen Formen des musikalischen Kunstwerks sind, abgesehen vom „umfassendern Tonwerk“, das uns in seiner speziellern Bestimmtheit erst mit der Gliederung der Musik in ihre großen zwei Hauptzweige entsteht, erschöpft, da andere nicht mehr denkbar sind; wir wenden uns daher zur Lehre vom Styl, die zugleich den Uebergang zu der von den Zweigen bildet. §. 792. Der Reichthum an ausdrucksvollen und charakteristischen, an streng gesetz- mäßigen, wie an leichten, gefälligen und wirkungsreichen Formen, welcher der Musik zu Gebote steht, und die scheinbar unumschränkte Freiheit, mit welcher in ihr der Künstler durch keine typischen Naturvorbilder gebunden, sein Mate- rial in mannigfaltigster Weise handzuhaben vermag, führt die musikalische Com- position besonders leicht zu Einseitigkeiten und Willkührlichkeiten, die das natürliche Gefühl als solche erkennt und denen auch die wissenschaftliche Betrach- tung entgegenzutreten hat durch Aufstellung der Gesetze des musikali- schen Styls . Der eine Fehler, welcher nahe liegt, ist gesuchtes falsches Stre- ben nach Ausdruck, nach Bestimmtheit, nach naturalistischer Objectivität und überconcreter Individualisirung (einseitig indirecter Idealismus), verbunden mit Mißachtung der Gesetze der Klarheit, Gefälligkeit und Rundung, der Eben- mäßigkeit und Idealität, kurz Ueberwiegen des Moments des Inhalts über das der Form. Der andere dagegen ist einseitiger Formalismus, Formencultus (directer Idealismus), Formeffect, sowie abstracte, farb- und inhaltlose Ton- bewegung. Diesen Einseitigkeiten gegenüber verlangt das Wesen der Musik, hierin zur Poesie sich ähnlich verhaltend wie Architectur und Plastik zur Ma- lerei, ein Gleichgewicht der beiden Elemente, von welchem möglichst wenig und eher zu Gunsten des formalen als des objectiv materialen Elements abzu- weichen ist. An die Betrachtung der musikalischen Kunstformen reihen wir die Lehre vom Styl an, die sowohl ihrer (im gegenwärtigen §. besprochenen) nega- tiven als ihrer positiven Seite nach diesen ganzen Kreis der verschiedenen Gestaltungen des Tonmaterials voraussetzt. Die im §. aufgestellten Sätze sind jetzt ziemlich allgemein anerkannt; es bedurfte aber Zeit genug, bis sie durchzudringen vermochten, und es fehlt auch gegenwärtig nicht an Rich- tungen von ganz entgegengesetzter Art. Das ganze Material der Musik ist wesentlich ein schwebendes, welchem die körperliche Massenhaftigkeit, die geometrische Formbestimmtheit, die sinnliche Objectivität, die verständige, erpressive Deutlichkeit des Materials der andern Künste schlechthin abgeht. Diesen Charakter des Schwebenden, das nicht bauen, bilden, zeichnen, malen, schildern kann, sondern von allem Diesem nur eine Analogie zuläßt, darf die Musik nicht verleugnen wollen, d. h. sie darf, obwohl sie nichts als Gefühlsausdruck ist, deßungeachtet nicht nach einer Bestimmtheit des Einzelausdrucks, noch weniger nach einer Objectivität und Individualität streben, die nicht in ihrem Wesen liegt. Sie kann Massen aufthürmen, um mit der Architectur im quantitativ Erhabenen zu wetteifern, aber sie verliert damit ihre eigenthümliche melodische Beweglichkeit, die nichts Starres und Abstractes duldet, sie ist innerlichst architectonisch in ihrer Gliederung, aber sie darf nicht, was blos innerliches Gesetz ist, materiell herauskehren, nicht die Anschauung architectonischer Objecte erregen wollen, gerade wie die Architectur malerisch sein, aber nicht selbst malen, plastisch bilden kann und darf; sie kann Bewegungen von Körpern, Blitze und Donnerschläge, Kanonaden, Windesbrausen, Platzregen, Pferdegetrappel, Karavanenzüge, öden Wüstensandes Wehen, Gebrumm und Gebrüll und Gezwitscher, Ge- schrei und Geflüster, Gezänk und Schlägerei, Geächze Verwundeter, Schnurren von Spinnrädern, Sprudeln von Quellen, Rauschen der Wasserfälle, ja am Ende selbst Sieden und Braten direct nachahmen, aber sie gibt damit nur sich selbst auf, sie tritt aus dem Gebiet der Kunst heraus in das der gemeinen Wirklichkeit, aus dem Gebiet des Tones und der melodischen harmonischen und rhythmischen Tonverhältnisse heraus in das sinnliche Ge- biet des Geräusches, Schalles, Knalles und Gezirpes, und sie erweckt zudem mit allen solchen Versuchen, weil sie doch immer halb und unklar bleiben, blos das unbehagliche Gefühl des Unzureichenden ihrer Mittel. Auch Innerliches, Geistiges, Individuelles kann sie direct wiederzugeben versuchen; sie kann den stolzen Schritt des Uebermüthigen, den Unmuth des Uebellaunigen, den Leichtsinn des Verschwenders, die Unbehülflichkeit des Schwerfälligen, das eckige Wesen des Herben und Schroffen, den stechenden Schmerz der Eifersucht, die romantische Stimmung einer Landschaft unmittelbar natura- listisch ausdrücken oder abbilden wollen durch melodische, rhythmische, har- monische Künste, sie kann namentlich fehlgehen in Schilderungen des Häß- lichen und des Komischen durch unkünstlerische, aller Formschönheit spottende Mißtöne, Contraste, Ueberraschungen, plumpes Poltern, zu große Häu- fung übermäßiger Intervalle u. s. w. Aber alles Dieses, jede förmliche Zeichnung, jede ganz direct nachbildende Malerei und Schilderung gehört nicht in ihr Gebiet, außer etwa da, wo durch solche Dinge von Seiten des Componisten mit selbstbewußtem Humor eine recht burleske Komik, eine recht treffende Ironie, eine scherzhaft idyllische Heiterkeit beabsichtigt wird, und auch da nur vorübergehend, da der Humor die Kunstgesetze nur vor- übergehend bei Seite zu stellen berechtigt ist, wenn die Sache nicht ernst, das Spiel mit dem Gesetz nicht grober Verstoß gegen dasselbe werden soll. Nicht die Dinge selbst, sondern ihren Eindruck auf die Empfindung hat die Musik darzustellen, einen Eindruck, der immer weniger concret, weniger objectiv ist als der Gegenstand, der ihn hervorruft. Ja auch die Empfin- dung selbst darf sie nicht zu stark, nicht zu scharf, nicht zu detaillirt heraus- treten lassen, wenn sie nicht schwer und dumpf oder weich und süßlich oder peinlich schneidend oder regel- und einheitslos werden soll; gerade dieses Sinnlichnaturalistische (vgl. S. 872) hat die Kunst der Empfindung abzu- streifen, sie hat den Beruf die Empfindung immer zugleich zu idealisiren (vgl. S. 903), sie sowohl in beweglichere, leichtere, gefällige, als in kräf- tiger stylisirte und wohlgegliederte Formen zu erheben; sie stellt zwar einer Kunst wie die Architectur gegenüber „den Ausdruck über die Form“ (S. 928), d. h. über bestimmte, numerisch exacte Form, aber nicht über die Form überhaupt, sie ist desto mehr an die Gesetze der Idealität, des Maaßes, der Unterordnung des Details unter das Ganze gebunden, je weniger sie der Hinstellung einer festen, anschaulichen Einzelgestalt fähig ist. Die Frage, ob und wieweit die Musik malen dürfe, ist jedoch hiemit noch nicht abge- macht; die Musik muß doch auch in gewissem Sinne objectiv darstellen, da sonst aller Charakter, aller bestimmtere Stimmungsgehalt, alle drama- tische Belebung verloren ginge, und wenn wir sagen, nicht die Dinge, sondern ihren Eindruck solle sie schildern, so ist ja im Eindruck, in der vom Ding erregten Empfindung das Ding selbst als Ursache, als Anlaß, als das was eben dieser Empfindung ihren bestimmten Inhalt, ihren Charakter, ihre Farbe (Schrecken, Grauen u. s. w.) gibt, auch mitgesetzt, folglich darf nicht nur, sondern muß gemalt werden, wie z. B. Haydn zu Anfang der Schöpfung das Chaos, das Aufflammen des Lichtes zu malen nicht unter- lassen konnte, wenn er seinen Gegenstand vollkommen musikalisch wieder- geben wollte. Allein gerade in diesem Einwand liegt auch die Lösung der Frage; der Wiederhall des Dinges in der Empfindung ist doch nicht mehr das ganze und reine Ding selbst, die Empfindung wird zwar bestimmt und so oder so gefärbt durch das Ding, aber sie hat von ihm doch nur ein allgemeines Bild, einen allgemeinen Reflex in sich, dem eben die spezifisch- sinnliche Bestimmtheit, z. B. daß ein schreckendes Geräusch gerade Donner oder ein Grauenerregendes gerade eine Sandwüste oder ein Ermuthigendes gerade eine herbeieilende Reiterschaar ist, bereits abgestreift ist. Diesen vom Ding in die Empfindung miteingehenden allgemeinen Reflex braucht die Musik zwar nicht nothwendig und überall zu malen, wenn sie nur die Empfindung selbst recht malt, sie kann ihn aber allerdings auch mitmalen, wenn sie ausdrücklich, ernst- oder scherzhaft, sich objectiver- als gewöhnlich halten will, aber sie darf ihn doch nur mitmalen, wie z. B. Haydn’s Chaos nicht blos Chaosvorstellung sein will, sondern ebensosehr Veranschaulichung einer feierlich erwartungsvollen Stimmung, eines dumpfen Webens und Hinundherwogens der Empfindung, die keinen bestimmten Gegenstand vor sich hat, sondern nur erst nebelhafte Gestalten sich erheben und durcheinan- Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 63 der sich bewegen sieht, und sie darf ihn für’s Zweite nur so mitmalen, daß die malenden Töne, Figuren doch zugleich, auch abgesehen von Dem was sie nachbilden, musikalisch, melodisch, harmonisch, rhythmisch, klar und schön sind. Was aber Charaktermalerei betrifft, so kann die Musik hier eher objectiv darstellen, weil die bestimmte Haltung eines Charakters sowie seine eigenthümlichen Stimmungen, Gefühle, Affecte, Leidenschaften nichts An- deres sind als Bewegungen, Erregungen, Spannungen, welche die Musik ausdrücken kann und welche gerade ihr eigenthümliches Gebiet ausmachen; aber sie darf sie nicht unmittelbar abformen und sie darf namentlich nicht etwa einzelne Tonfiguren bilden wollen, welche direct Zorn, Schmerz, Niedergedrückt- heit, Stolz und dergleichen wieder geben sollen, sondern sie muß immer in den ganzen Verlauf einer kürzern oder längern Tonbewegung eine Beschaffenheit, eine eigenthümliche Bewegtheit legen, welche jene Stimmungen veranschau- licht; einzelne Stiche, Stöße, Risse, Hebungen sind noch keine musikalische Schilderung von Empfindungen, Stimmungen, Aufwallungen, sie bilden dieselben, wie z. B. stechenden Schmerz, zerreißende Eifersucht, unmittelbar physisch, momentan mimisch nach, statt sie musikalisch, d. h. in der Form der Expansion in eine Zeitbewegung, die der Entwicklung der musikalischen Mittel (Melodie, Harmoniefolge, Contraste und Wechsel der Rhythmen und Tonstärken) Raum läßt, wiederzugeben. Der einfache Kanon für das musikalische Verfahren ist der: drückt die Musik unmittelbar ein Object aus, so daß wir es wiedererkennen, wie wenn wir es sähen oder hörten, so ist das falsche Tonmalerei, namentlich wenn gar keine spezifisch musikalische Wirkung mehr dabei ist; deutet sie ein Object blos an, so daß es ohne beglei- tendes Wort nicht klar ist, was gemeint sei, so ist die Malerei recht; ver- anschaulicht sie eine Stimmung, Empfindung, Leidenschaft blos durch einzelne Tonfiguren oder Klänge, so ist es wiederum verfehlt; gibt sie aber Ton- reihen und Tonstücken eine die Gemüthsbewegung nachbildende Bewegungs- eigenthümlichkeit (z. B. Schnelligkeit und Langsamkeit, An- und Abschwellen, intensive Spannung oder frohe Leichtigkeit, Vorwärtsgehen, -drängen, -stürmen u. s. w. vgl. S. 919), so ist das Verfahren das rechte. Es ist wenigstens in Zeiten, in welchen die allgemeinern Stoffe, Liebe, Sehnsucht u. dgl., schon erschöpft sind, sogar gut, wenn der Componist von bestimm- ten, durch Ereignisse, Naturanschauungen, Reflexionen über Glück und Un- glück u. s. w. hervorgerufenen Empfindungen ausgeht, um seine Phantasie durch solche bestimmte Empfindungen recht concret anzuregen, sie auf einen Empfindungskreis recht entschieden zu concentriren; aber in der Ausführung muß das Materielle zurücktreten und nur im Charakter der Empfindung selbst (z. B. in der Wehmuth) auch die Veranlassung (verlorenes Glück) mittelbar sich abspiegeln. Zugleich ist der obige Kanon noch durch eine weitere Regel zu ergänzen: mit Ausnahme einzelner Fälle, in welchen, wie z. B. im Recitativ oder in der melodramatischen Begleitung einer bestimm- ten Handlung mit Instrumenten, das musikalische Element sich nicht voll- ständig zu entwickeln Raum hat, muß der Inhalt in die Form, die Em- pfindungsbewegung in die Tonbewegung so ganz übergegangen sein, so ganz in Tönen sich verkörpert haben, daß das Tonstück dem Gefühl und der Phantasie ein wenigstens in der Hauptsache verständliches und gefälliges Tonbild abgibt, auch wenn auf das was es andeuten will nicht reflectirt wird; ein Tonstück darf die Empfindung nicht blos andeuten (so wenig als die Malerei den Körper), sondern soll sie musikalisch geradezu zeichnen und malen, es soll den Charakter der Empfindungsbewegung in die ganze Ton- bewegung übertragen als beherrschende, Alles durchdringende, aus Allem hervortönende Einheit — hiezu und zu nichts Anderem gibt es Musik und ist die Musik fähig —; wenn diese Einheit da ist, wenn sie dem Tonstück einheitlichen Charakter und Rhythmus gibt, so ist es ebendamit verständlich und gefällig, auch wenn man nicht weiß, was eigentlich gemeint ist, ob- wohl natürlich der Genuß größer, der Eindruck tiefer ist, wenn die Idee des Tonsetzers entweder durch den begleitenden Text uns bekannt ist oder sich doch beim Anhören seines Werks mit einer gewissen Klarheit und Wahr- scheinlichkeit zu erkennen gibt. Eine Musik dagegen, welche noch mehr sagen und malen will als die Musik überhaupt geben kann, welche (wie z. B. selbst Beethoven’s große Ouverture zu Leonore) in der Instrumental- einleitung die Oper ihrem ganzen speziellen Verlaufe nach vorauszugeben sucht, eine Musik, die hiemit voll von latenten Beziehungen auf Einzelnes und Empirisches ist, das der Hörer nicht weiß oder sich erst aus erklärenden Programmen mühsam hinzudenken muß, kurz eine Musik, die einen Inhalt haben will, der in die Form gar nicht übergehen kann und darum auch nicht in sie übergegangen ist, kann natürlich ( sofern sie nämlich nicht nebenbei doch einzelnes wirklich Musikalische darbietet) für sich auch nicht klar und gefällig sein, sondern sie kann (unter der so eben angegebenen Voraussetzung) nur den Eindruck eines Etwas machen, zu welchem man keinen Schlüssel besitzt, eines unfertigen Mitteldings, welches weder einen Ausdruck, einen wirklich heraustretenden Inhalt und Charakter, noch eine Form, eine musikalische Entfaltung und Entwicklung hat, ja geradezu eines Zwitters, welcher weder Gemälde noch Musik ist, sondern Ton- und Klang- symbolik (im übeln Sinne des Worts), die nicht durch Tiefe, sondern durch Unklarheit geheimnißvoll scheint; ein falsches Zuviel des Ausdrucks und der Zeichnung schlägt von selbst um in das Gegentheil des Beabsichtigten, in ein Nichtzustandekommen eines wirklichen Tonbildes; das musikalische Kunstwerk (das nicht von vornherein blos begleitender Art sein will und soll) muß vollständig einleuchten und gefallen, wie jedes andere, und in dieser Beziehung haben alle Diejenigen, welche auf die Form den Nachdruck 63* legen und der Musik einen eigentlichen Inhalt geradezu absprechen, nicht schlechthin Unrecht, sofern nämlich was sie meinen Dieses ist, die Musik müsse vor Allem musikalisch klar und schön sein, sie sei ein unendlich reiches System von Tonbewegungen und Tonverknüpfungen, die schon an und für sich selbst durch ihre eigene Form, durch gesetzmäßige und zugleich mannig- faltige Verwendung der musikalischen Mittel, Melodie, Harmonie, Perio- dicität, Rhythmus u. s. f. wirken können und sollen. Nur ist dem beizu- fügen, daß alle diese Tonbewegungen doch blos, sofern sie zugleich ein bewegtes geistiges Leben nachbilden, künstlerisch wirken, daß sie selbst da, wo sie sich auf speziellern Gefühlsausdruck nicht einlassen, doch ein Ausdruck des Gefühlslebens überhaupt in irgend einer seiner Erregungsweisen sind, und daß ihnen auch die Eigenschaft des Charakteristischen, wenn sie schön sein wollen, nie fehlen darf; gerade mit diesem Moment des Ausdrucks und der Charakteristik ist aber der Musik doch ein „Inhalt“ gewonnen, näm- lich die Darstellung bestimmter Empfindungen und je nach Umständen auch Andeutung empfindungenerregender Objecte. Die Musik, wurde oben gesagt, soll den Charakter des Schwebenden nicht verleugnen, über das Empfindungsgebiet nicht hinausgehen wollen; um so mehr folgt auch hieraus, daß sie durch die Form wirken, daß sie ihr ätherisches Material in feste, klare, acustisch gefällige, die Phantasie beschäftigende und drastisch erregende Formen bringen muß. Die feste Form (Periodicität, Stimmenverflechtung, thematische Entwicklung u. s. w.) be- wahrt sie vor nebelhafter Unbestimmtheit und Verschwommenheit, vor Halt-, Zusammenhang- und Gestaltlosigkeit, die gefällige und drastische Form (Fluß und Figurirung der Melodie, Wohllaut der Harmonie, schlagender Rhyth- mus) sichert sie vor Nüchternheit, Eintönigkeit, indifferenter Farb- und Wir- kungslosigkeit; die Musik bedarf in letzterer Beziehung wirklich Anmuth einer-, „Effect“ andrerseits, damit Gehör, Gefühl, Phantasie gleichsam gereizt und genöthigt werden, ihre duftigen Gebilde einzusaugen, ihnen ungetheilt zu folgen und sich ihnen hinzugeben und so einen lebendigen Eindruck von ihnen zu empfangen. Aber es ist klar, daß durch diese Forderung, die Musik solle sich selbst an die Form binden und den Hörer durch die Form fesseln, weder pedantischer Formalismus, der blos in den polyphonen Kunst- formen das Heil erblickt, noch ein Formencultus, dem über Melodiereiz Harmonie und Ausdruck, über Figuren und Coloraturen oder andrerseits über harmonischem Schmelz die Melodie selbst verloren geht, noch endlich ein abstracter Formeffect, der durch rhythmische Mittel überrascht, übertäubt und aufregt, irgend gerechtfertigt ist. Diesen Einseitigkeiten gegenüber hat die Forderung des Inhalts, der gedanken- und gefühlvollen Belebtheit, des Ausdrucks und Charakters, der innern Wahrheit und Tiefe, die Forderung, daß in der Musik bestimmte Empfindung sei und sich rein auspräge, ihre volle Berechtigung. Das Gleichgewicht beider Elemente, des Inhalts und der Form, ist es, worauf die Schönheit der Musik entschieden beruht; nur freilich mit der nähern Bestimmung, daß sie doch mehr Musik bleibt beim Uebergewicht des formalen als bei dem des objectiv materialen Factors. Innerhalb der subjectiven Kunstform ist die Musik trotz aller ihrer Freiheit der Architectur gegenüber doch ähnlich wie diese an die Formschönheit gebunden, weil die eigenthümliche Beschaffenheit ihres Materials diese for- dert (S. 898), wogegen sie für die Darstellung des eigentlich Concreten nicht zureicht. Materiell schildern und so durch concreten Inhalt interessiren, wie Malerei und besonders Poesie, kann sie nun einmal nicht und sie ist nicht mehr sie selbst, sobald sie es versucht, wogegen sie doch wenigstens Musik und immer noch Bild des mannigfach bewegten Gefühlslebens bleibt, wenn sie einseitig melodisirt, harmonisirt, fugirt u. s. w.; die Trockenheit und Steifigkeit des Formalismus, die Fadheit und Seichtigkeit des Formen- cultus halten sich doch noch innerhalb der Grenzen der Musik selber, so lange jene nicht zu rein unacustischem und ausdruckslosem mathematischem Calcul, diese nicht zu leerem Geklingel ausartet, während alle Sachen- und Ideenmalerei, wo sie nicht vorübergehend eine Begründung durch besondere Umstände und Zwecke erhält, unmusikalisch frostig und hölzern oder unkünst- lerisch nebelhaft und dunkel ist. Der rhythmische Formeffect, der schon sehr nahe an den materialistischen Schalleffect streift und mit diesem gerne sich verbindet, ist freilich auch unmusikalisch, indem auch mit ihm dem Gehör und Gefühl nichts mehr geboten wird (S. 912). Das Gleichgewicht beider Elemente mit leisem Uebergewicht der Form als Hauptelementes der Musik ist das eigentlich Musikalische; interessanter, spannender, geistreicher und geistvoller nimmt das Uebergewicht eines ideellen oder eines scharf charak- teristischen, objectiven Inhalts sich freilich aus, aber die Gefahr des Ueber- schweifens über die Grenzen der Musik liegt dabei außerordentlich nahe, daher denn z. B. Beethoven nicht in Werken der letztern Art (wie in der großen Ouvertüre zu Leonore), sondern in denjenigen am bewundernswer- thesten ist, in welchen er das starke Hervortreten des Inhalts nicht zum Ueberwiegen werden läßt, sondern es, wie namentlich in der Cmoll- und Adur- Symphonie, aufwiegt durch streng systematische Form, reiche Themen- verarbeitung, fließende, anmuthige und frische Melodie, kurz durch eine rein musikalische Haltung des Ganzen, die alle Mittel der Musik erschöpfend gebraucht und doch innerhalb ihrer Schranken sich bewegt. §. 793. Die Entschiedenheit, mit welcher das musikalische Stylgesetz möglichstes Gleich- gewicht des Inhalts und der Form verlangt, schließt solche Stylarten nicht aus, in welchen trotz des Ineinanders beider Momente, durch das namentlich der für die Musik überall unentbehrliche Gefühlsausdruck bedingt ist, doch das eine oder andere das vorherrschend bestimmende ist. Ueberwiegt die Form, so entsteht daraus nach der einen Seite der strenge, hohe, ideale (plastische), nach der andern der anmuthige, reizende, drastische (auf Effect ausgehende) Styl; über- wiegt der Inhalt, so ergibt sich der freie und weiterhin entweder der ausdrucks- reiche, gefühlsweiche, sentimentale, rührende, pathetische, oder der charakteristische, naturalistische, individualisirende (malerische) Styl; das Gleichgewicht gibt den schö- nen Styl, der von den übrigen die mit ihm selbst verträglichen Elemente, Idealität, Anmuth, Charakteristik, an sich hat und sie doch zugleich zur Einheit verschmilzt. Mannigfache Mischungen, namentlich der Strenge und Hoheit mit Charak- teristik und innigerem Ausdruck, der Anmuth mit Weichheit, des Drastischen mit Naturalismus, sind möglich und gehören mit zur Vollständigkeit der Stylarten. Die im §. gegebene, an §. 531 sich anschließende Eintheilung bedarf nach Dem, was im vorigen über das Stylgesetz gesagt wurde, keiner nähern Rechtfertigung. Die Musik wäre nicht die freie Kunst, die sie ist, wenn diese Freiheit sich nicht auch in der Möglichkeit mannigfacher Stylarten bewährte. Die Hauptunterscheidung des §. fällt mit der des directen und indirecten Idealismus zusammen, deren auch das Moment des Charakteristi- schen in sich aufnehmendes Gleichgewicht mit Recht der eigentlich schöne Styl zu nennen ist. Wenn der §. deßungeachtet nicht die Kategorie von directem und indirectem Idealismus, sondern das Verhältniß von Inhalt und Form voranstellt und zum Ausgangspunkte nimmt, so hat dieß seinen Grund darin, daß bei der Musik, weil sie nicht objectiv darstellende Kunst ist, die Frage eben nach jenem Verhältniß, d. h. die Frage, ob die Musik überhaupt einen Inhalt habe, und wieweit und wie ein solcher in ihr zur Darstellung komme, die Grundfrage ist, so daß die Begriffe von directem und indirectem Idealismus eine eben hierauf beruhende weitere Bedeutung haben als z. B. in der Malerei; in letzterer handelt es sich blos um die Frage, ob jedes einzelne Object formschön dargestellt werden müsse oder nicht, so daß hier directer Idealismus die Bedeutung der Schönheit des einzelnen Objects hat; in der Musik dagegen fragt es sich, ob überhaupt ein bestimmter objectiver Inhalt dargestellt oder blos das Tonmaterial nach den Gesetzen des Wohllauts, des melodischen Flusses, der Symmetrie, Perio- dicität, kunstreichen Stimmencomplexion u. s. w. formal schön gegliedert werden soll, und hiemit erhält der Begriff des directen Idealismus in ihr den Sinn des Prinzips der reinen Formschönheit, die nie einem Inhalte (z. B. ernster oder scherzhafter Charakteristik) zu lieb von der Linie der Idealität abweicht. Eine Analogie des strengen Styls in seinem Gegensatz zum freien ist uns bei den polyphonen Formen vorgekommen, bei welchen eine gebun- denere und eine freiere Behandlungsweise einander gegenüberstehen. Aber nur eine Analogie; denn hier handelt es sich nicht mehr um das rein Technische der Composition, sondern um die streng formale Auffassung und Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl dieselbe sein kann, die aber allerdings vorzugsweise den erstern wählen wird, weil er das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. s. w., also eben die formale Strenge, ganz von selbst in sich schließt. Streng ist der musikalische Styl, wenn er die reine Form festhält im Gegensatze zu ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation, Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri- rung innerhalb der Grenzen stets festgehaltener Haupt- und Grundformen zurückhält, so daß die Bewegung gebunden, beherrscht, in Schranken gehalten erscheint durch diese sich stets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde, keinem Einzelnen ein besonderes Heraustreten gestattende Grundform; na- mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber- gänge, der in’s Weite schweifenden Melodiebewegung, unruhig springender Modulation, ausdrucksreicher dynamischer Mittel (S. 913.), gehört zum strengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes ist als der in §. 792 verworfene Formalismus und namentlich nie ausdruckslos ist, da er sonst kein Styl, sondern eine Abart wäre. Der hohe und der ideale Styl bedarf dieses sich selbst gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende Feststehen allgemeiner Grundformen nicht; er ist noch weit weniger als der strenge Styl blos positiv formal, formenvorführend, er geht ganz entschieden mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel- rechte Durchführung bestimmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und Idealen das Enge, Beschränktmethodische sich nicht verträgt, das in schlecht- hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht dieselben auch, um große, breite, feste Grundverhältnisse an ihnen zu haben, die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ernsten und Gewich- tigen verleihen, aber er gebraucht sie nur so weit, als sie dieß leisten, er hat mit dem strengen gemein die Vermeidung der Individualisirung, aber er strebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durchsichtig- keit überhaupt als nach Anwendung künstlicherer Behandlungsarten, ja er wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um mehr plastische Klarheit und idealen Schwung, den der strenge Styl immer bis zu einem gewissen Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier zugleich der Unterschied statt, daß der hohe Styl der künstlichern Formen sich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugsweise dahin strebt, die ganze Bewegung in festen Maaßen und Schranken zu halten und damit alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht, sondern auch entschieden hervortretende Würde zu verleihen; der ideale Styl dagegen, namentlich wo er zum eigentlich schwungvollen wird, bedarf gerade eine gewisse Leichtigkeit der Bewegung, denn es liegt in seinem Wesen, die Form bereits zu größerer Freiheit zu entlassen und eben durch diese, doch zugleich in reiner Klarheit, in gehaltener Gemessenheit und Gesetzmäßigkeit, in ruhiger, kunstloser Einfachheit dahinschwebende und dahinwallende Frei- heit der Bewegung dem Ganzen das Gepräge der Idealität, d. h. nicht blos einer negativ erhabenen Hoheit, sondern auch einer positiven Hebung und Gehobenheit aufzudrücken, die in jedem Tone und Accorde frei beweg- tes, frei sich aufschwingendes Leben athmet. Anmuthig, reizend, drastisch wird der Styl durch feine und berechnete Durchbildung des Flusses und Schmelzes der Melodie, der Stimmführung, der Uebergänge, der Har- monie, der Verzierungen, durch chromatische Fortgänge, durch wollüstig oder gelind spannende Accorde, nach anderer Seite durch schlagende, überraschende Harmonieen und Rhythmen; hier wendet sich die Form der verschönernden Pflege des Einzelnen zu, es ist nicht mehr die Form als festes Maaß, sondern als kunstreiche Formirung, welche das spezifisch Musikalische des formellen Wohllauts, der frappanten Erregung auf die höchste Stufe der Ausbildung zu bringen sucht. Dem strengen Styl gegenüber gehört natür- lich der anmuthige, reizende, drastische Styl schon auf die Seite des freien; aber er ist, wenn er wirklich consequent durchgeführt wird und nicht etwa blos (wie bei Mozart) neben und am schönen Styl erscheint, doch nicht der ganz freie Styl, er hat auch einen Formalismus, nur von anderer Art als der strenge Styl ihn hat. Unter freiem Styl verstehen wir dem so eben Bemerkten gemäß nicht blos den ungebundenen im Gegensatz zum gebundenen, sondern den überhaupt nichtformalistischen, einfachen Styl; er begreift einerseits die weiter folgenden Stylarten als besondere Arten unter sich, tritt aber andrerseits ihnen auch wieder als eigene Species gegen- über, ohne jedoch alle und jede Verbindung mit ihnen auszuschließen, da er eine solche bedarf, um nicht zu leicht zu werden, sondern nebendem auch bestimmtere Farbe und Haltung zu erlangen; als für sich bestehende Species tritt er namentlich in der recitativischen Musik auf, wo diese nicht auf spezifischen Ausdruck, sondern blos auf allgemein gehaltenen musikalischen Vortrag eines eigentlicher Composition nicht fähigen Wortinhaltes ausgeht. Ausdruck kann natürlich keiner wirklichen Musik, weder der strengen und hohen noch der anmuthigen ganz fehlen, da alle Musik Kunst der Empfin- dung ist; aber es ist darum nicht jede Musik spezifisch Musik des Ausdrucks; der ausdrucksvolle, ausdrucksreiche Styl beginnt doch erst da, wo wie die leichtern so auch die formalen Stylarten aufhören, da beide das besondere, volle Heraustreten einzelner Erregungen, Stimmungen und Stim- mungsmomente verschmähen, bei welchem die Musik ganz nur Abbild des Gefühles selbst sein und dieses in seiner ganzen drängenden Wärme und treibenden Lebendigkeit darlegen will. Sobald daher der ausdrucksreiche Styl entschieden fortgeht zu dem gefühlsweichen , gefühlsseligen, sentimentalen und rührenden oder zu dem erregtern pathetischen Styl , so tritt er sogleich in vollen Gegensatz zu der männlichen Ernsthaftigkeit des strengen und zu der ruhenden Großheit des hohen, sowie auch zu der maaßvollen Haltung des idealen Styls; er nähert sich dem graziösen und drastischen Styl, bleibt aber dadurch von ihm qualitativ verschieden, daß er nicht die spezifischmusikalische Form als solche cultivirt und steigert, sondern sie ledig- lich als Mittel benützt, um einen Inhalt durch sie zu veranschaulichen, Tiefe der Empfindung, Freude und Schmerz, Wonne und Trauer, elegische Rüh- rung, Zorn und Liebe, stolzes Pathos und heftigen Affect in sie zu legen. Zum idealen Styl, der sich zum Natürlichen, scharf Charakteristischen nicht herabläßt, wie der hohe nicht zum Passiven und Weichen, steht spezifisch entgegen der charakterisirende, zeichnende, malende Styl . Hier schreitet die Musik bis zu den äußersten Grenzen des ihr Möglichen fort, sie wird darstellend, objectivirend, sie wird epische, dramatische, orchestische, Natur und Individualitäten schildernde Charakter- und Genremusik, die sich natürlich je nach Bedarf mit dem energischen, für Darstellung von Massenbewegungen geeigneten strengen Styl, ebenso mit dem anmuthigen, drastischen, ausdruckreichen verbindet. Der schöne Styl ist der freie, Anmuth, Reiz und Effect nie einseitig erstrebende, auf Ausdruck bedachte, aber ihn von einseitigem gefühligem Sichvordrängen zurückhaltende, gemüth- reiche, aber nicht sentimentalisirende, das Charakteristische, Individuelle, Naturalistische mit dem reinen Duft gehobener und frei schwebender Idea- lität umgebende, auch die strengen Formen mit Abstreifung ihrer abstracten Regelmäßigkeit frei in sich verarbeitende Styl, der nichts, was die Musik an Formen und Mitteln bietet, verschmäht, ebenso aber Alles zu in sich gesättigter, abgerundeter, klarer Einheit zusammenfaßt. Er befriedigt zwar für sich allein nicht alle Anforderungen, da man das Hohe und Ideale, das Charakteristische, das Anmuthige u. s. w. nicht blos als Element, sondern auch in eigener selbständiger Ausprägung vernehmen will, aber er ist der Gipfel des musikalischen Styls durch seine Universalität, durch seine allseitige Vollendung und durch die Selbstbeschränkung, mit welcher er überall der Form, dem directen Idealismus, der in der Musik nun einmal Haupt- sache ist, Rechnung zu tragen weiß. Die mannigfaltigen Mischungen und Combinationen der verschiedenen Stylarten noch weiter der Reihe nach aufzuzählen, ist überflüssig, da sie sich von selbst ergeben, und da zudem von selbst klar ist, welche Stylarten ver- bunden werden können und welche nicht. Der strenge Styl kann höchst charakteristische und pathetische Gedanken in die festen Formen hüllen, von denen er keinen Schritt breit abweicht, obwohl er nur dann ganz er selbst ist, wenn er seine Gedanken einfach wählt und lediglich den Ernst und die Kraft, die in der Beugung alles Individuellen unter die Form liegt, her- vorzukehren sich zur Aufgabe macht. Der hohe Styl dagegen verschmäht zwar nicht alles Pathos, aber alle naturalistische Charakteristik sowie den Reiz und das gefühlig Ausdrucksreiche, und es gibt daher nichts Wider- sprechenderes und Widerlicheres als die Ausartung der hohen, z. B. der religiösen Musik in graziöse Sentimentalität. Ueber das für die Musik besonderes wichtige Verhältniß des ausdrucksvollen, die Empfindung unmittel- bar wiedergebenden (subjectiven) Styls zum charakteristischen, darstellenden (objectiven) Styl wird mehr die Rede sein aus Anlaß der Betrachtung des Verhältnisses von Vocal- und Instrumentalmusik, zu der nun mit der Lehre von den Zweigen überzugehen ist. Ebenso kann der Unterschied zwischen religiöser und weltlicher Musik, von denen die erstere Strenge Hoheit und Idealität mit Innigkeit und charakteristischer Mannigfaltigkeit des Gefühls- ausdrucks vereinigt, die letztere aber alle Stylarten und unter ihnen wieder insbesondere die freiern und leichtern mischt und combinirt, erst im Fol- genden seine Stelle finden. b. Die Zweige der Musik . §. 794. 1. Bei der Eintheilung der Musik in Gattungen und Arten ist zunächst zu Grunde zu legen der Unterschied des Materials, durch welchen die Gesammt- musik in zwei große Zweige, Vocal- und Instrumentalmusik , zerfällt. Dieser Eintheilungsgrund ist kein blos äußerer, da das Auseinandergehen der Musik in diese beiden Gattungen auf einem innern Momente, auf dem Streben neben der subjectiv unmittelbaren Form des Gesangs auch die objectiv freiere Form des Instrumentenspiels zu haben, beruht; und er ist zugleich der höchste Eintheilungsgrund, da die Musik als Kunst der Subjectivität, der empfindenden Phantasie in erster Linie nur eben danach sich in sich selbst unterscheiden und gliedern kann, ob die Form der subjectiven Unmittelbarkeit, des einfachen Empfindungsausdrucks rein festgehalten, oder ob sie nach der Seite des Objec- tiven hin fortgebildet wird durch Hinzunahme verschiedenartiger äußerer Musik- organe, welche der Phantasie einen Kreis von freiern, mannigfaltigern Dar- 2. stellungen des Seelenlebens eröffnen. Dieser Unterschied von subjectiver und objectivsubjectiver Musik tritt aber sodann auch innerhalb der beiden Haupt- gattungen wiederum in besonderer Weise auf; die Vocalmusik kann vermöge ihrer Anlehnung an die Poesie neben der abstract subjectiven (lyrischen) auch eine objectivere, mehr darstellende (epische, dramatische) Haltung annehmen, ohne damit aus ihrer subjectiven Unmittelbarkeit herauszutreten; die Instru- mentalmusik kann desgleichen das Lyrische in ihrer Weise und mit ihren Mitteln reproduciren, ohne den ihr wesentlichen objectivern Typus einzubüßen, und ebenso ist auch eine Combination der beiden Hauptgattungen möglich sowie zur Vollständigkeit der Formen musikalischer Darstellung nothwendig, mit welcher eine dritte, Gesang und Instrumente vereinigende Gattung gegeben ist. 1. Die Doppelheit des Materials, mit welchem die Musik arbeitet, veranlaßt ihr Auseinandergehen in zwei Hauptgattungen, durch deren con- crete, zu den mannigfachsten Combinationen stoffgebende Eigenthümlichkeit sie gewissermaßen entschädigt wird für die engen Schranken der Subjectivität, in welchen sie sich den andern Künsten gegenüber bewegen muß. Die Instrumentalmusik ist, wie der folgende §. näher zeigen wird, objectiverer und freierer Art als die Vocalmusik, wie denn sie selbst und ihre vollkom- menere Ausbildung aus nichts Anderem hervorgegangen ist, als aus dem durch Entdeckung tönender Körper angeregten Bestreben, mannigfaltigere, beliebiger handzuhabende Musik zu besitzen, als der bloße Gesang sie bietet, und diese zweite Art von Musik zu einer Begleitung von Handlungen (Processionen, Opfern, Tänzen, Märschen u. s. w.) anzuwenden, welche in dieser Art und diesem Umfang die in ihren Mitteln viel beschränktere Men- schenstimme weder ausführen kann noch auszuführen bestimmt ist. Der äußere Eintheilungsgrund ist also zugleich ein innerer; die Vocalmusik ist naturwüchsige unmittelbare Empfindungsmusik, die Instrumentalmusik tech- nisch vermittelte, mannigfaltiger malende Darstellungsmusik; jene ist rein subjectiv, diese objectivsubjectiv. Schon die zusammengesetztern Kunstformen stellen im Gegensatz zur einfachen Melodie einen ähnlichen Fortschritt vom rein Subjectiven zum objectiv Concreten, Gestaltenreichern dar; wie sich schon dort die Musik nach dem Gesetze, daß die Subjectivität über den einfachen Stimmungsausdruck zu reichern und vermitteltern Gestaltungen hinstrebt, in eine Reihe verschiedener Hauptformen gliederte, so theilt sie sich nach demselben Gesetz ein in zwei Gattungen, deren jede alle diese Formen wiederum innerhalb ihrer selbst auftreten lassen kann. Aus letzterem Umstande folgt zugleich, daß der Unterschied von Vocal- und Instrumental- musik logisch das oberste Eintheilungsprinzip ist; denn es ist das allgemeinste, jede dieser beiden ist in ihrer Art die ganze Musik, während jene Formen nur spezielle Arten musikalischer Kunstwerke sind. 2. Der zweite Satz des §. ist im Bisherigen namentlich durch Das- jenige eingeleitet, was in §. 793 über den Unterschied des plastischen und malenden Styls gesagt ward; er findet ebenso seine Vorbereitung in der Lehre von den Kunstformen, in welchen uns bereits noch ganz abgesehen von der Unterscheidung zwischen Vocal- und Instrumentalmusik der Unter- schied rein subjectiver und concret objectiver Musikarten entgegentrat. Die Vocalmusik kann mit Hinzunahme eines erläuternden Textes auch malen, individualisiren, wie z. B. in der Arie gegenüber vom Liede, das in der einfachen Stimmung bleibt; die Instrumentalmusik kann auch singen, indem sie eines ausgedehntern Gebrauchs ihrer Mittel sich begibt und sich auf unmittelbaren Gefühlsausdruck concentrirt, und doch ist hiemit der Grund- unterschied nicht aufgehoben; charakteristisch malender Gesang bleibt doch Gesang, unmittelbarer und einfach natürlicher Herzenserguß des seine ei- genen Empfindungen hier nur bestimmter als im Liede kundgebenden In- dividuums, selbst das erzählende Recitativ nicht ausgenommen, Instrumen- talgesang bleibt immer Instrumentenspiel (S. 892), aus der unmittelbaren Subjectivität hinausverlegtes, künstlerisch innerhalb einer andern Gattung reproducirtes Lied, Bild des Lieds, nicht dieses selbst; epischdramatischer Gesang ist doch immer Lyrik, wie Romanze und Ballade, Instrumental- lyrik bleibt immer ein charakteristisches, malerisches Tonbild, das uns als einzelne neben andern stehende Form der ihrem ganzen Wesen nach charak- teristischern und formenreichern Instrumentalmusik anspricht, die Gesangs- lyrik aber keineswegs ersetzt oder als gleich mit ihr gefühlt wird. Das Genauere über diese Unterschiede ist der Besprechung des Speziellen vorzu- behalten; dasselbe gilt von dem, was der §. über die dritte, Gesang und Instrumente vereinigende Gattung sagt, deren Wesen erst nach der bestimmtern Erörterung des Verhältnisses der beiden Hauptarten eingehender behandelt werden kann. §. 795. Weitere Neben- und Unterabtheilungen beruhen theils auf den Unter- schieden der „Formen des musikalischen Kunstwerks“ (§. 781 — 791), die innerhalb der beiden Hauptgattungen wieder besonders geartet auftreten, und auf den Unterschieden der Style, theils auf der Verschiedenheit der Stoffe, welche letztere mehr für die Vocal- als für die Instrumentalmusik umfassende Bedeutung hat, übrigens auch in dieser wie in jener sich wiederum mannigfach differenzirt. Ein- und mehrstimmige, homophone und polyphone, einfache und mehrtheilige (cyclische) Vocal- und Instrumentalmusik treten neben einander auf, und die Zahl dieser Arten vermehrt sich namentlich durch die ver- schiedenen Anwendungen und Combinationen der Instrumente. Die Styl- arten ergeben gleichfalls verschiedene Arten von Tonstücken und Tonwerken. Aber gerade bei der nähern Bestimmung und Gliederung hievon kann von einem andern, materiellen Eintheilungsprinzip, vom Prinzip des Stoffes, nicht abgesehen werden. Die Differenz der Stoffe, der mannigfachen Empfin- dungsunterschiede (Lust und Unlust u. s. w.), der verschiedenen Gefühls- und Stimmungskreise und zwar namentlich der für die Musik (§. 750, 2. ) so wichtige Unterschied zwischen Religiösem und Weltlichem sowie zwischen den einzelnen Gebieten des letztern greift so weit durch alle, auch durch die Instrumentalzweige hindurch, daß die durch die Unterschiede der Kunst- formen und Style begründeten Arten stets zugleich dem einen oder andern stofflichen Zweige zufallen, ja aus der Verschiedenheit der Stoffe selbst erst sich herausbilden und daher diese immer mitzuberücksichtigen ist. Die religiöse Musik fordert so spezifisch hohe Idealität des Styls und Innigkeit des Ausdrucks ohne subjective Sentimentalität und individualistische Stimmungs- nüancirung, daß sie ihren Erzeugnissen einen ganz besondern Charakter aufdrückt, der nur im Oratorium eine Verbindung mit der freiern Schön- heit, Anmuth und Bewegtheit des weltlichen Styls eingeht, und sie breitet sich zugleich zu einer Mannigfaltigkeit von Unterarten aus, die insgesammt wieder ihre Eigenthümlichkeit haben; die weltliche Musik hat größere for- melle Mannigfaltigkeit, aber sie umfaßt auch materiell so verschiedene Sphären, Ernst und Scherz, Tragik und Komik, allgemeinere Gefühls- und Stimmungsschilderung und daneben wiederum concrete Gebiete, wie Krie- gerisches, Tanz, Idylle, daß sich für sie auch hieraus die mannigfachsten Besonderungen ergeben. Diese besondern Unterarten religiöser und welt- licher Musik geben den Formen- und Stylarten erst ihre Erfüllung mit be- stimmtem Inhalt und Charakter, und es müssen daher bei der speziellen Zweiglehre immer beide Hauptgesichtspunkte, die formellen und materiellen, mit einander verknüpft werden. Es ergibt sich von selbst, daß die Ein- theilung nach materiellen Gesichtspunkten vor Allem für die Vocalmusik wichtig ist, weil sie mit dem Inhalte, den sie ausdrückt, so ganz und un- mittelbar verwachsen ist; z. B. gerade der Unterschied des Religiösen und Weltlichen ist für die Vocalmusik fester abgegrenzt, tritt in ihr ausgeprägter hervor, als in der Instrumentalmusik, die für sich allein mehr das Ideale, Feierliche, Ausdrucksvolle überhaupt als das spezifisch Religiöse, Kirchliche darstellen kann; in der Instrumentalmusik wiegen die formellen Eintheilungs- prinzipien vor, ihr eigenthümliches Gebiet ist eben die Formenmannigfal- tigkeit, aber auch bei ihr ist das Materielle keineswegs untergeordnet, wie sich dieß z. B. einfach daraus ergibt, daß der Unterschied des Ernsten und Scherzhaften gerade für die Gliederung der hauptsächlich auf reiche Form- entwicklung angelegten größern Instrumentalwerke von so wesentlicher Be- deutung ist. §. 796. Der Unterschied zwischen Vocal- und Instrumentalmusik ist dem zwischen einfacher und zusammengesetzter Kunstform in gewisser Oeziehung analog; er kommt nämlich darauf zurück, daß die Vocalmusik die subjectivere, aber un- mittelbarere, gebundenere, weniger formenreiche, die Instrumentalmusik die objectivere, aber freiere, beweglichere und mannigfaltigere Musikform ist. Sowohl die Erörterung des Tonmaterials als insbesondere die Be- trachtung der einfachern und zusammengesetztern Musikformen führte schon früher mehrmals zur Berührung des Unterschiedes zwischen Vocal- und Instrumentalmusik. Jene Formen sind zwar durch diese Theilung nicht erst bedingt, sondern unabhängig von ihr, aber sie stehen zu ihr in wesentlicher Beziehung, indem sich nicht alle Hauptformen gleich gut und gleich voll- ständig in Vocal- und in Instrumentalmusik verwirklichen lassen, sondern die einen mehr auf jene, die andern mehr auf diese angewiesen sind. Was der eigentlichen Melodie näher steht, sei sie nun einstimmig oder mehr- stimmig, homophon oder polyphon, fällt der Vocalmusik, was nicht mehr einfach melodisch, sondern melodiös, figurirt ist, der Instrumentalmusik vor- zugsweise anheim, und zu diesem Unterschiede treten nun die weitern, jedoch verwandten Momente hinzu, daß die Vocalmusik überhaupt weniger for- menreich, mehr für unmittelbaren subjectiven Gefühlserguß bestimmt, die Instrumentalmusik dagegen sowohl durch die Mannigfaltigkeit und charakte- ristische Eigenthümlichkeit der Organe, die ihr zu Gebote stehen, als durch die größere Freiheit der Handhabung derselben zu den verschiedenartigsten, nüancirtesten, bewegungsreichsten Tonschöpfungen, sowie zu einer über den bloßen Gefühlsausdruck hinausgehenden objectivern Darstellung musikalischer Gedanken befähigt ist. „Singen“ und „Spielen“ ist (vgl. S. 892) der populäre, in der That höchst treffende Ausdruck für die beiden Musikarten. Die Vocalmusik singt; sie entsteht dadurch, daß eine Empfindung unmittelbar sich äußert, und sie enthält und will nichts Anderes, als eben diese unmittelbare Em- pfindungsäußerung. Sie ist somit durchaus innerlich, subjectiv; denn die Empfindung, die innere Bewegung tritt in ihr wirklich so ganz und gar unmittelbar heraus, wie sie nur überhaupt in der Kunst heraustreten kann, und eben nur dieses Heraustreten-, Lautwerdenlassen eines Gefühls ist der Zweck; der Singende will seinem Gefühle freien Lauf verstatten und Sprache verleihen, der Hörende will im Gesang eben dieses sich unmittelbar äußernde Gefühl vernehmen, allerdings zugleich in schöner Form, aber doch in solcher Form, die nichts als die sich vernehmenlassen wollende Stimmung oder Empfindung selbst zum Inhalte hat. Schärfere, speziell darstellende (ma- lende) Charakterisirung einzelner Momente, concretere harmonische und rhyth- mische Kunst, sowie auch Darlegung rein formeller Gesangskunst (Virtuo- sität) ist nicht ausgeschlossen, aber dieß Alles kann hier nur in beschränkterer Weise erreicht werden, da das Naturorgan auf kunstreichere, figurirtere Be- wegungen nicht oder nur in geringerem Grad angelegt und vor Allem auf den Ausdruck angewiesen ist; dieser ist im Gesang das Wesentliche; der Gesang muß vor Allem, was er von Natur ist, sein und bleiben, seelisch, in die Empfindung versenkt, sie unmittelbar aushauchend; die tönebil- dende Phantasie dient hier dem Empfinden blos als Mittel der Aeußerung seiner selbst . Die Instrumentalmusik dagegen spielt; die empfindende Phantasie hat hier ein Organ vor sich, an dem sie die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr geworden oder dem dieselbe durch ab- sichtliche Technik gegeben ist; dieses Organ setzt sie in Bewegung, wohl auch getrieben durch das Gefühl, das sich in Tönen aussprechen will, aber die Empfindung tritt doch nicht so unmittelbar und nicht so sich selbst gleich heraus, wie im Gesang; das äußere Werkzeug folgt nicht so unmittelbar dem innern Gefühle, schmiegt sich ihm nicht so rein und unbedingt an wie das Stimmorgan, etwas von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder etwas von Innigkeit geht bei der mechanischen Uebertragung der musikalischen Empfindung auf das Organ, das zudem als materielle Masse Widerstand entgegensetzt, immer verloren, und das Organ ist immer ein Selbständiges, das zunächst seinen eigenen, nicht des Menschen Ton von sich gibt und somit auch nur ein Abbild, nicht aber den directen Ausdruck der den Menschen bewegenden Stimmung geben kann. Sodann steht der Spielende den Tö- nen seines Organs freier gegenüber als der Singende; er ist nicht selbst in den Ton, den er hervorbringt, versenkt, nicht unmittelbar mit ihm ver- wachsen, sondern er hat ihn sich gegenüber als ein Anderes, er verhält sich zu ihm nicht unmittelbar producirend, sondern weit mehr zugleich reflectirend, beobachtend, die Töne des Instruments treten ihm abgelöst von der eigenen Subjectivität als Figuren, Bilder gegenüber, deren Gestalt und Bewegung die Phantasie neben dem daß sie sie producirt weit freier verfolgen kann und wirklich mit spezifischem Interesse verfolgt, weil es eben Figuren, Bilder sind. Die Phantasie ist also hier weit mehr für sich thätig als beim Ge- sang und erhebt weit mehr Ansprüche darauf, daß auch ihr etwas sie spe- zifisch Angehendes geboten werde. Kurz, nicht Gefühlserguß, sondern min- destens ebensosehr Phantasiebeschäftigung ist hier Zweck; die Tonbilder sollen allerdings, weil Töne nichts Anderes als Gefühle malen können, durchaus Abbilder einer Gemüthsstimmung sein, aber ausgeführtere, selbständigere, durch concretere Formen und Figuren die Phantasie als solche anregende, beschäftigende, in freie Thätigkeit, „freies Spiel“ versetzende Bilder. Endlich bieten die Instrumente dem Spieler durch ihre leichtere, beliebigere Hand- habung eine so reiche Möglichkeit hervorzubringender Figuren und Bewe- gungen und durch ihre charakteristischen Eigenthümlichkeiten eine so große Verschiedenheit von Klangfarben an, daß sie auch nach dieser Seite die Phantasie für sich in Anspruch nehmen und in Thätigkeit versetzen; sie reizen die Phantasie zu mannigfaltigerer, namentlich rhythmischer Formenproduction, die über das bloße Gefühlsäußerungsbedürfniß weit hinausgeht, und diese Formenproduction beschäftigt ebenso auch die Phantasie des Hörers in gleicher Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Mit Einem Worte: die Instrumental- musik ist nicht bloßer Gefühlserguß, sondern auch Phantasiespiel, sie ist nicht bloße Sprache des Herzens, sondern auch objective Bethätigung des Ver- mögens der empfindenden Phantasie zur Hervorbringung mannigfaltiger, für sich selbst gefälliger und bedeutsamer Tonformen und Toncombinationen oder (S. 921.) musikalischer Gedanken; sie ist freie Thätigkeit, die über dem Gegenstande schwebt, Thätigkeit der Phantasie, die nicht blos dem Gefühle dient, sondern auch des Gefühles sich als Stoffes be- dient, dessen künstlerische Abbildung oder Darstellung ihr selbst Zweck ist , sie verfährt freier, wie sie an sich selbst betrachtet freier, mannigfaltiger, beweglicher, formenreicher ist als der Gesang. Die Vocal- musik ist subjectiv, die Instrumentalmusik in der Subjectivität zugleich objectiv; jene ist Aeußerung des Gefühls, diese Darstellung, welche die Darstellung, die Form zugleich zum Selbstzweck macht; jene kommt aus der Innerlich- keit und ihrem einfachern Ausdruck nie ganz heraus und soll es auch nicht, diese aber geht weiter zu den mannigfachsten Bewegungsformen und Klang- figuren, die überhaupt denkbar sind, und bildet diese in selbständiger Weise ungehemmt aus, wie und wieweit sie es irgend vermag. Der Gegensatz ist kein ausschließender; wie der Gesang auch bis zu einem gewissen Grade das Moment der spezifischen Form, der Charakteristik, der melodiösen Figuren, der polyphonen Künstlichkeit in sich aufnehmen kann, so kann ja auch die Instrumentalmusik einfach melodisch sein; aber es ist das nicht ihr eigen- thümliches und wichtigstes Gebiet, sie ist und bleibt Spiel, freie und man- nigfach charakteristische Formenerzeugung; die Vocalmusik ist plastisch, die Instrumentalmusik malerisch; jene ist Natur in Form der Kunst, die nicht mehr gibt als die Haupt- und Grundzüge der Natur, diese aber ist Kunst, welche die Natur in feinster und individualisirtester Ausarbeitung der sie darstellenden Formen und Farben zeigt und hierin ihre Hauptaufgabe hat. — Der Unterschied zwischen Vocal- und Instrumentalmusik beruht somit schließlich auf nichts Anderem, als darauf, daß die zwei Elemente, die in der Musik als Kunst der „empfindenden Phantasie“ enthalten sind, Em- pfindung und Phantasie, aus einander treten, sich gewissermaaßen verselb- ständigen, ein Unterschied, der jedoch die Einheit nicht aufhebt, und zwar weder die unmittelbare, indem, wie eben bemerkt, auch die Vocalmusik in die freiere Sphäre der Instrumentalmusik hinübergreift wie diese in die der Vocalmusik, noch die mittelbare, indem beide mit einander zusammentreten und gerade in dieser Vereinigung, in der sie sich gegenseitig verstärken, heben und ergänzen, ebenso großartige als charakteristische Gesammtwirkungen her- vorbringen können. §. 797. Die Vocalmusik ist zwar insofern nicht reine Musik als der Gesang des Hinzutretens eines das Gefühl erklärenden Textes bedarf; aber sie repräsentirt nach einer andern Seite doch das eigentlich Musikalische, sofern sie auf unmit- telbaren Gefühlsausdruck sich beschränkt, wogegen die Instrumentalmusik mit ihrer objectivern, phantasiereichern Richtung auf Hinstellung selbständigerer For- men bereits dem Typus anderer, nämlich der darstellenden Künste sich anzu- nähern beginnt. Schon in §. 749 und 764 ist die einseitige Ansicht abgelehnt, als hätte die Musik blos mit Formen, musikalischen Figuren, nicht aber mit wirklichem Gefühlsausdruck zu thun, und als wäre ebendarum nur Instru- mentalmusik, die allerdings freier in Formen spielt, wirkliche Musik. Das dort Gesagte wird nun hier geradezu dahin weiter fortbestimmt, die Vocal- musik sei in gewissem Sinne die wahre, eigentliche Musik. Jene ist, wie es S. 829 heißt, nicht reine Musik, weil sie das Gefühl nicht in seiner Reinheit, sondern in seiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtsein darstellt. D. h. die Musik tritt in ihr nicht allein, sondern zugleich mit der Rede auf, als Ausdruck eines bestimmten, in der Rede ausgedrückten Gefühles. Aber in anderer Beziehung ist gerade dieß eigentlich Musik, weil hier über den Gefühlsausdruck (wofern nicht Gesangvirtuosität Haupt- zweck ist) nicht hinausgegangen, nicht zu große Formbestimmtheit (Figuration, Malerei) erstrebt wird, was eben durch die begleitende Rede unnöthig ist. Jedes Gefühl ist, obwohl mehr oder weniger dunkel, doch ein so und nicht anders gewordenes und seiendes, ein schlechthin bestimmtes, und es ist da- her (s. S. 791) ganz dem Wesen der Musik entsprechend, daß sie bestimmt in Worten fixirte Gefühle singt und daß sie nicht singt ohne solche Fixirung; es wirkt hiezu auch der Umstand mit, daß es dem Wesen des Menschen als selbstbewußten Subjects widerspräche, blos Töne hervorzubringen, blos Instrument zu sein, der Mensch, wenn er singen will, muß Bewußtes, Bestimmtes singen wollen; er setzt entweder Worte, Gedichte in Musik, um ihren Gefühlsinhalt auch musikalisch sich vergegenständlichen, um sie auch singen zu können, oder er erfindet, wenn er singen will, musikalisch com- ponirbare Texte oder greift zu schon componirten, in beiden Fällen ist ihm Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 64 das Singen, aber das inhaltbewußte Singen, Selbstzweck. So tief uns auch die Instrumentalmusik durch Reichthum, Großartigkeit, dramatische Verflechtung und Fortbewegung ergreifen und staunenmachen mag, sie geht doch über das unterscheidende, spezifische Wesen der Musik schon auch hinaus, sie ist phantasievolle Poesie, die sich in freiem Gedankenflug über den ein- fachen Gefühlsausdruck erhebt, sie ist Malerei, die ihn mit mannigfachsten Klangfarben umgibt, sie ist Zeichnung, die ihn ausschmückt mit einem ver- schlungenen Gewebe von Figurationen, deren wechselnde Formen bereits die Phantasie, die innere Anschauung, überhaupt , nicht mehr blos die em- pfindende Phantasie als solche oder die Empfindung selber ansprechen. Weil somit hier die Musik über ihren spezifischen Charakter hinaus sich erweitert und zugleich Phantasiekunst, allgemeine Kunst wird, oder weil eben in der Instrumentalmusik sich das realisirt, was §. 542 (bei der Entwicklung des Satzes, daß die einzelnen Künste nur die Wirklichkeit der Kunst an sich sind und daher vielfach in einander übergreifen) gesagt ist, daß nämlich der Ton selbst auch „als gestaltenerzeugende Kraft“ auftritt, daß er auch für die Phantasie wirkt, auch vor ihr „schwebende Gestalten“ aufsteigen läßt: so fühlen wir uns in ihr, sobald sie sich entschieden auf diese letztere Seite wendet, doch bereits an der Grenze des rein Musikalischen, wir stehen da gleichsam in einem Mittelgebiete allgemeinerer Gattung, in welchem wir schon mehr als bloße Musik vor uns sehen, und da das Ganze nun doch Phantasiespiel bleibt, zu keiner vollen Bestimmtheit der Gestalt oder des Ausdrucks gelangt, sondern in der Romantik des Gestaltlosen verharrt, so macht sich am Ende gebieterisch die Forderung der Rückkehr zu bestimmterem Gefühlsausdrucke geltend; von der Instrumentalmusik müssen wir schließlich (vgl. S. 830.) entweder hinweg zur concretern Kunst der reinen Phantasie, zur Poesie, zu deren Einleitung und Begleitung sie sich ebendarum so treff- lich eignet, oder wir müssen — darum schloß gerade der größte Instrumen- talcomponist seine letzte Symphonie in dieser Weise, getrieben durch die innere Nothwendigkeit sein Herzensgefühl bestimmter auszusprechen — zurück zum Gesange, der uns zur ursprünglichen Heimath der Musik, zum unmit- telbar klaren Empfindungsergusse, zurückführt. Als „Künstler“ überhaupt, als Heros der Phantasie würde der reine Instrumentalcomponist den in seinem Fach gleich großen Vocalcomponisten uns in Schatten stellen; aber der größere „Musiker“ bliebe uns doch wiederum der Letztere, weil er die Empfindungen des Herzens im Ton uns offenbart, nicht aber vorherrschend an die Phantasie sich wendet, deren Ansprüche auch die übrigen Künste, nicht blos die Musik, zu befriedigen im Stande sind. Inwiefern die In- strumentalmusik allerdings gerade durch ihren unendlichen Gestaltenreich- thum, der sie nach der einen Seite über die Grenzen der Musik hinauszu- führen droht, nach der andern doch in Einem Punkte auch musikalisch über der Vocalmusik stehe, wird §. 798 zeigen; aber im Ganzen, in ihrem Verhältniß zur Idee der Musik überhaupt betrachtet, kann sie nicht über sie gestellt werden; die (letztlich durch die Beethoven’schen Instrumentalwerke veranlaßte) unbedingte Höherstellung der Instrumentalmusik gehört einer bereits wieder im Zurückweichen begriffenen ideellen Richtung an, welche das allgemein künstlerische Element einseitig betont und hierüber die jeder Kunst durch ihre besondere Natur vorgezeichneten Aufgaben und Grenzen zu unterschätzen geneigt ist. §. 798. Aus §. 797 ergibt sich in Betreff der Stellung der beiden Hauptgattungen, daß die Vocalmusik die vorangehende, den Mittelpunct bildende, die Instru- mentalmusik sich bei- und unterordnende Gattung ist. Sie hat vor letzterer auch dieß voraus, daß sie größere Reihen zusammenhängender Tonstücke bilden kann, wozu jene nicht fähig ist, weil ihr mit dem erklärenden Worte ein Haupt- mittel zu bestimmterem Inhaltsausdruck abgeht. Innerhalb ihrer natürlichen Grenzen aber behauptet die Instrumentalmusik eine Selbständigkeit, die eine reine Ausbildung auch dieser Gattung um so mehr fordert, als ihr doch der eigenthümliche Vorzug beiwohnt, durch die Mannigfaltigkeit ihrer Formen und Organe eine einzelne Stimmung ungleich umfassender, mannigfaltiger und vor Allem freier ausführen zu können, als der bloße Gesang es zu thun vermöchte. Die höchste Form der Musik ist ebendarum eine Vereinigung beider, in welcher die Vocalmusik voransteht, der hinzutretenden Instrumentalmusik aber zugleich hinlänglicher Raum gegeben ist, um auch ihrerseits in möglichster Vollständig- keit und Wirksamkeit sich zu entfalten. Die Vocalmusik ist der unmittelbare, durch Anlehnung an das Wort klare und bestimmte und in dieser so gewonnenen Bestimmtheit sich selbst ge- nügende Gefühlsausdruck. Mit ihr ist die Musik im Wesentlichen da; die Instrumentalmusik dagegen ist eine höhere und weitergreifende Ausbildung, welche das Wesen der Musik, statt objectiver Gestaltenproduction blos das Subjective der Empfindung zum Object zu machen, alles Objective in’s fühlende Subject zurückzunehmen, nicht in so spezifischer Beschränkung eben auf diesen Zweck wie jene verwirklicht. Die Vocalmusik ist ferner eben wegen dieser Bestimmtheit und dieser Subjectivität wesentlich selbständig, sie kann nicht als Zugabe der andern Gattung erscheinen, da das Bestimmtere nicht einem Unbestimmten, das Subjective nicht einem Objectiven als bloßes Accidens sich unterordnen kann; wenn Menschen die Staffage eines Land- schaftgemäldes bilden, so ist hier das Verhältniß ein anderes, der Mensch bildet Ein Ganzes mit der Natur, er ist ihr homogen, ja er ist ein Theil 64* von ihr und nach dieser Seite ihr untergeordnet, während bei Menschenge- sang und Instrumentenspiel diese Homogeneität und diese höhere Stellung des zweiten Factors nicht stattfindet. Der Gesang läßt sich daher von In- strumenten einleiten, begleiten, verstärken, aber nicht umgekehrt; die In- strumentalmusik verhält sich zum Gesang , sofern sie die in ihm hervortretenden Empfindungen noch mit weitern Formen musikalischer Dar- stellung umgibt, ähnlich wie er selbst zu der Empfindung , die er darstellt; sie tritt daher namentlich dann begleitend zu ihm hinzu, wenn er selbst, wie z. B. in der Arie, schon mehr in’s Einzelne und Mannigfaltige eingeht, sie fügt die concretere Ausführung solcher Stimmungsgemälde bei, gerade wie der Gesang zur Empfindung hinzutritt, wenn dieselbe aus ihrem dumpfen Weben in sich selbst zu einem bestimmtern Ausdruck ihres Inhalts herausstrebt. Die Anlehnung des Gesanges an das Wort hat aber noch den weitern Vortheil, daß durch sie allein größere „cyclische“ Tonwerke mög- lich werden. Längere Reihen von Instrumentalsätzen, wenn auch noch so kunstreich nach den Gesetzen der Abwechslung, des Contrastes, des Bewe- gungsrhythmus, des dramatischen Fortganges gegliedert, sind eine Unmög- lichkeit, sie würden in Folge der Unbestimmtheit, die das Fehlen des Wortes mit sich führt, den Geist, der vergeblich nach Licht in diesen gestaltlosen Tongeweben suchte, völlig abspannen und abstumpfen, daher schon Ouver- türen und Symphonien nicht zu lang sein dürfen; Bestimmtheit des Textes ist nothwendig erforderlich, wenn die Musik nicht auf kurze Tonstücke be- schränkt, sondern auch zu umfassendern Tongebilden größeren Styls befähigt sein soll. — Allein im Gegensatz hiezu tritt nun eben auch der eigenthüm- liche Vorzug der Instrumentalmusik hervor. Sie vermag nicht größere Reihen von Stimmungen vorzuführen, wohl aber einzelne Stimmungen in einer Weise in’s Große, Weite und Tiefe zu malen, zu der dem Gesang die Mittel fehlen, sie vermag die Einzelstimmung (sofern diese innerhalb ihrer selbst auch wiederum eine in’s Unendliche analysirbare Mannigfaltig- keit von Gefühlen, Lust und Unlust, Ruhe und Bewegung, Affect und Resignation u. s. w. enthalten kann) mit Hülfe der ihr zu Gebot stehenden Massen, Klangfarben, verstärkten Harmonieen, mannigfaltigen Rhythmen, Figurirungen so schlechthin concret für die Phantasie durchzuarbeiten bis in ihre mannigfaltigsten und feinsten Wechsel, Nüancirungen, Abstufungen, Steigerungen hinein, daß selbst der kunstvollste polyphone Gesang dadurch überboten wird, wenn man nämlich von der Innigkeit des Ausdrucks ab- sieht, die dem Gesange stets vorzugsweise als sein Eigenthum bleibt. Und in diesem Reichthum von Mitteln, Formen entwickelt sie zugleich eine, der Vocalmusik wiederum versagte, Freiheit , in der sich so spezifisch wie sonst nirgends die Unendlichkeit des Geistes, die unbegrenzte Erregbarkeit und Weite des Gefühls, die unabmeßbare Combinationskraft der Phantasie reflectirt. Sie ist nicht an das Naturorgan, nicht an erklärende Worte gebunden; sie bleibt bei aller concreten Mannigfaltigkeit doch stets im Un- bestimmten, Gestaltlosen, im Reich der reinen Form, die den Inhalt (die Stimmung und ihren Verlauf) blos symbolisch andeutet, nicht definitiv ausdrückt; sie bietet wohl innerlich Bestimmtes, aber sie sagt es nicht, sie erhält sich frei hievon, folgt nicht einzelnen Worten, Sätzen, sondern be- wegt sich ungebunden, wie das Gefühl selbst, bevor es sich gesammelt und in Worten sich ausgesprochen hat; sie hat ebendamit auch ein mit der All- gemeinheit des Denkens verwandtes Element, sie gibt wohl viele Ton- reihen, die an sich gerade so concret sind wie Vocalmelodieen, an Bestimmt- heit des Ausdrucks diesen nichts nachgeben, aber sie beläßt sie ohne den erklärenden Text, und damit läßt sie sie stehen wie allgemeine Typen, die so oder anders aufgefaßt, gedeutet werden können, sie hat auch mehr Raum zu Tonbewegungen, die nicht eigentlich melodisch sind und so gleich von vornherein nicht den Charakter spezifischen Gefühlsausdrucks an sich tragen, sondern mehr das lebendig aufgeregte, aufgerüttelte, in Spannung ver- setzte Gemüth überhaupt darstellen, sie muß sich allerdings quantitativ auf die Schilderung des Verlaufs einer einzelnen Stimmung beschränken, aber innerhalb dieser hält sie sich mit ihren die Stimmung und deren Gang erschöpfend analysirenden und doch das Qualitative, das Was des Ge- schilderten blos andeutenden Tongeweben so sehr im Allgemeinen, daß sie damit zugleich ein Abbild des in seine Innerlichkeit zurückgezogenen, die allgemeinen Formen, Verhältnisse, Verknüpfungen der Dinge an sich vorüber- ziehenlassenden Gedankenlebens wird. Der Gesang gibt die einzelne Stim- mung direct, einfach, in wenig Worten; die Instrumentalmusik dehnt sie aus in’s Weite und Breite, verfolgt und erschöpft den ganzen Umkreis der Gemüthsbewegungen, welche durch sie hervorgerufen werden, schildert sie in den mannigfaltigsten Farben und Wendungen, und läßt zugleich Alles in geisterhafter Idealität; so kommt es, daß nicht blos das einzelne Gefühl, sondern das Leben des Gemüths überhaupt und nicht blos das Gemüths- leben, sondern auch der ganze Schwung und Reichthum der Phantasie, dessen der Geist fähig ist, ja seine eigene ideale Unendlichkeit und Freiheit in ihr dem Bewußtsein gegenübertritt. Malerisch schildernde, dramatisch entwickelnde und in vollkommenster Lebendigkeit und Freiheit sich bewegende, die ganze Tiefe des Geistes und Gemüths enthüllende Darstellung der Ein- zelstimmung ist die Sphäre der Instrumentalmusik; diese hat sie anzubauen, in ihr steht sie da als eigene, vollberechtigte, das Tonmaterial erst ganz erschöpfende, den Gesang überbietende Kunst, und darum ist auch nicht die Vocalmusik für sich, sondern sie in ihrem Verein mit ihrer weniger seelen- vollen, aber erfindungsreichern und mannigfaltiger ausgerüsteten Schwester die höchste Form der Tonkunst überhaupt. Es muß auch Kunstwerke geben, in welchen die ganze Musik mit allen Mitteln und Formen zusammenwirkt, also Kunstwerke, die beide Gattungen vereinigen; in dieser Einheit gehört der Vortritt der selbstbewußtern, klar vom Herzen zum Herzen redenden Vocalmusik, aber auch der andern muß es gestattet sein, ihren Reichthum und ihre Kraft und Freiheit ungehemmt, so weit die Einheit es erlaubt, zu entfalten, wenn ein vollständiges, uns ganz ausfüllendes, alle unsere geistigen Kräfte in Anspruch nehmendes und befriedigendes musikalisches Kunstwerk entstehen soll. In der concreten Formenfülle der Instrumental- musik ist es dann endlich auch begründet, daß sie für die Vocalmusik in vielen Fällen unentbehrlich wird; sobald die Vocalmusik aus dem Gebiet des einfach innigen Stimmungsausdrucks herausgeht, bedarf sie instrumentaler Begleitung, um mehr Fülle und Anschaulichkeit zu gewinnen, und so zeigt es sich auch hieran, daß nicht Trennung beider Gattungen und einseitige Ueberschätzung der einen oder andern, sondern harmonische Vereinigung beider die höhern künstlerischen Zwecke der Musik erreichen hilft. — Das Verhältniß der Instrumental- zur Vocalmusik ist dem hier Entwickelten gemäß auch noch mit etwas Anderem, nämlich mit dem zwischen Melodie und (selbständig rhythmisirter) Harmonie zu vergleichen; Melodie ist Ausdruck, Harmonie verstärkter, erwärmter, vermannigfaltigter Ausdruck; wie eben- darum die Melodie der Harmonie voransteht und doch in Tiefe, Wärme und Kraft mit ihr nicht wetteifern kann und nicht volle Musik ist ohne sie, so behauptet die Vocalmusik ihrer Schwester gegenüber den ersten Rang, muß sie aber als die reicher ausgestattete Begleiterin und Gehülfin aner- kennen, die Vieles allein leisten und ohne die sie selbst nicht vollkommen das musikalische Gefühl befriedigen kann. α . Die Vocalmusik. §. 799. Die Gliederung der Vocalmusik ist in der allgemeinen Eintheilung der Formen des musikalischen Kunstwerks in der Hauptsache bereits vorgezeichnet; sie zerfällt 1) qualitativ einerseits in einfach melodischen und melodiösen, figurirenden, andrerseits in ein- und mehrstimmigen, in homophonen und poly- phonen Gesang, 2) quantitativ in für sich stehenden Einzelgesang und größere Gesangwerke. Die weitern Unterschiede, welche zu diesen hinzutreten, sind die zwischen rein subjectiver (lyrischer) und objectiv subjectiver (darstellender, epischer, dramatischer), zwischen weltlicher und religiöser, sowie in formeller Beziehung zwischen unbegleiteter und begleiteter Vocalmusik; ebenso reflectiren sich die verschiedenen Stylarten und die Stimmungsunterschiede auch in der Vocalmusik. Die im §. angegebenen Unterschiede sind durch die §§. über Melodie, allgemeine Musikformen, Stylarten, Vocal- und Instrumentalmusik hin- länglich motivirt und vorbereitet, so daß sie keiner speziellern Rechtfertigung bedürfen. In welcher Art diese Unterschiede bei den einzelnen Formen sich vielfach kreuzen und combiniren, wird bei der Entwicklung von selbst her- vortreten. Der Unterschied des Volks- und Kunstgesangs ist in die allge- meine Eintheilung nicht aufgenommen, da er nur innerhalb der Liedform seine Geltung hat. — Ein Zweifel könnte bei einigen in den nächsten §§. besprochenen Formen der Vocalmusik, die in der Regel Instrumentalbegleitung fordern (Arie u. s. w.), darüber entstehen, ob sie nicht etwa erst zur dritten Hauptgattung gehören, welche durch Vereinigung der Vocal- und Instru- mentalmusik zu Stande kommt; allein so lange die letztere blos begleitend auftritt, nicht aber zugleich sich selbständig entwickelt und eben durch diese selbständige Entwicklung ihres eigenen Wesens zum Ganzen mitwirkt, haben wir immer noch Vocalmusik in Vereinigung mit Instrumenten, nicht aber eine Einheit beider Hauptzweige, durch welche eine ganz neue Gattung entsteht. §. 800. Die erste Stufe der Vocalmusik ist das Lied , das „Stimmungsbild“ der Musik, die einfache Melodie, welche die in ein lyrisches Gedicht niedergelegte Stimmung in ihrer einfachen Allgemeinheit musikalisch wiedergibt, entweder mehr volksmäßig natürlich, in ungebundener Weise vor Allem den Ausdruck anstrebend, oder in kunstmäßiger, die eine oder andere Stylart principiell durch- führender, die Tendenz auf Ausdruck jedoch gleichfalls voranstellender Form; endlich entweder mit oder ohne Begleitung von Instrumenten und Nebenstimmen, mit oder ohne Mehrstimmigkeit. Den Naturgesang ohne Worte, das zum Jodeln ausgebildete Jauchzen, von dem schon S. 816 die Rede war, übergehen wir hier und wenden uns gleich zu der bestimmtern Form des Liedes, die aus dem poetischen Liede hervorwächst und selbst wiederum es mitproduciren hilft, indem das Ge- sangsbedürfniß ebenso zur Liederdichtung anregt, wie die Liederdichtung zur Liedercomposition weiterführt. Das Lied ist zunächst rein lyrisch, die Lieder- melodie will nichts sein als der Ausdruck der Gesammtstimmung des Ge- dichtes nach ihrem eigenthümlichen Charakter der Erregtheit, der Lust, des Scherzes, der Trauer, der Wehmuth u. s. w. Das Lied geht einerseits auf bestimmten Ausdruck und hat eben in ihm sein Wesen, nicht etwa in selbständigerer Ausbildung der musikalischen Form, es ist einfache Musik, deren Werth ausschließlich in dem Sprechenden, Treffenden, Charakteristischen besteht; aber andrerseits bleibt es bei der Gesammtstimmung stehen, es ver- folgt nicht die einzelnen Wendungen und Momente der Dichtung, es malt, charakterisirt noch nicht Einzelnes, sondern es bringt gleichsam den allge- meinen Gefühlsgehalt, der die ganze Dichtung durchdringt, auf einen kurzen, d. h. möglichst plastisch und anschaulich sich abrundenden Ausdruck, es hebt jenen Gefühlsgehalt heraus, es löst den Duft der Empfindung, der im Ganzen weht, von ihm ab; das Lied kehrt die Seele der Dichtung heraus, macht die Gemüthsbewegung, welcher sie entsprossen war, in Tönen offenbar, es faltet den in poetische Worte, Gedanken, Sätze auseinander getretenen Inhalt des Gefühls wiederum zusammen zur einfachen Gefühls- form, ohne das Einzelne der poetischen Ausführung nachbilden, musikalisch veranschaulichen zu wollen. Diese einfache Allgemeinheit zeigt sich als Grundcharakter des Liedes namentlich darin, daß es für das in mehrere Strophen zerfallende Gedicht nur Eine in jeder Strophe wiederkehrende Melodie hat, es bleibt sich wie das Metrum gleich, dessen starre Form es in den weichen Fluß der Musik auflöst, es kann natürlich, sofern die An- lage des Gedichtes es gestattet oder geradezu fordert, in einzelne Takte, Sätze, Perioden einen besonders charakteristischen, einen etwas erhöhten Ausdruck und Nachdruck legen, aber es tritt im Ganzen aus den Schranken der einfachen Melodie nicht heraus. Allein dieser Einfachheit ungeachtet ist das Lied so mannigfaltig wie die Unterschiede der Stimmungen und die auf ihnen beruhenden Unterschiede lyrischer Dichtungen selbst es sind; ja es schließt, obwohl es auf Charakteristik einzelner Momente der Empfindung sich nicht (wie die Arie) einläßt, doch einen mehr individualisirenden Natura- lismus nicht aus, sondern es theilt sich gerade hienach in zwei Hauptklassen, in das weniger concrete Stimmungen ausdrückende, einfach empfindende und das entschiedener charakteristische, naturalistische Lied , welche beide wiederum die mannigfachsten Unterarten unter sich begreifen, indem z. B. der ersten Klasse Lieder angehören, deren Gegenstand die einfachen, allgemein menschlichen Gefühle und Stimmungen, elegische Empfindungen, Liebe, Freude, Trauer und dergleichen bilden, der zweiten Klasse aber die con- cretern Arten der Gesellschaft-, Bundes-, Fest-, Kriegs-, Trink-, Spottlieder, der Lieder, welche geschichtliche Erinnerungen oder Sagen feiern (ohne damit aus dem einfach lyrischen Charakter herauszutreten). Wegen seiner Ein- fachheit und seiner blos dem unmittelbaren Ausdruck des natürlichen Ge- fühls zugewandten Innigkeit ist das Lied etwas Naturwüchsiges, das aus dem Leben selbst sich erzeugen kann, auch wo es noch ganz an höherer Ausbildung der musikalischen Formen fehlt; ebenso aber läßt es auch eine künstlerische Behandlung zu, und so entsteht der weitere sehr wichtige Unter- schied des Volks - und Kunstlieds . Das erstere ist das einfachere, ungebundenere, formlosere, indem es in ihm nur um den möglichst sprechen- den und natürlichen Empfindungserguß zu thun ist; exacte Symmetrie der Periodisirung, strenges Ebenmaaß und feinere Gestaltung des Rhythmus, kunstvolle Modulation, ja selbst strenges Festhalten eines bestimmten Ton- geschlechts (Dur oder Moll) wird hier noch nicht angestrebt und entsteht mehr zufällig, aber Alles, was zum Ausdruck gehört, Klarheit und Be- stimmtheit, kräftige Erregtheit, Derbheit, heitere Laune, Humor, Herzens- freudigkeit, Liebesdrang, sowie andrerseits tiefe Weichheit, elegische Weh- muth, traurige Sehnsucht, düstere Melancholie, tritt in der Volksmelodie mit einer Frische, Ursprünglichkeit und Naivität hervor, die sie nur mit der Volkslyrik theilt, die Musik tritt hier auf in dem Gewande unverkünstelter Natur, daher das Volkslied stets die reine Quelle bleibt, aus welcher auch der höhern Tonkunst jedes Zeitalters stets neue Läuterung und Erfrischung zuströmt. Eine weit schwerer und seltener gedeihende Pflanze ist das Kunst- lied, es kann nicht gelingen, wenn die Kunst aufgehört hat naiv zu sein; es soll allerdings seinen Charakter als Kunstlied nicht verleugnen, sondern im Gegentheil alle Mittel der Kunst, die auf so beschränktem Gebiete an- wendbar sind, für sich aufbieten, es soll nicht durch erkünstelte Popularität, sondern durch ideale Einfachheit oder, wo es um dieß zu thun ist, durch treffenden, schlagenden Naturalismus wirken, aber es setzt Naivität sowohl des Fühlens selbst als des Erfindens voraus; denn das Lied soll ja doch immer den unmittelbarsten Ausdruck wirklicher Empfindung, der überhaupt möglich ist, geben, auch das Kunstlied muß stets eine wirkliche, durch keine Reflexion abgeschwächte, abgeblaßte, beirrte Bewegtheit des Herzens ab- spiegeln und das in einer Form, die gleichfalls überall diese ihrer selbst sichere, unbeirrte, frisch zugreifende Unmittelbarkeit an sich hat, und die ebendarum nicht gemacht, künstlich erdacht, sondern nur, nachdem sie aus künstlerisch gebildeter Phantasie sogleich in kunstmäßigerer Gestalt als das Volkslied emportauchte, dann auch im Einzelnen kunstmäßig ausgeführt werden kann. Während das Volkslied seines mehr stofflichen Charakters wegen sich mehr nach den verschiedenen Stimmungsqualitäten, wie sie oben der Hauptsache nach aufgezählt sind, in verschiedene Gattungen gliedert, kommt beim Kunstlied als der bewußtern, ideellern Form auch der Styl- unterschied in wesentlichen Betracht, der freilich mit dem Inhaltsunterschied selbst wieder in enger Beziehung steht; einfache, ernste Idealität, kräftig malender Naturalismus, soweit er die Grenzen des Liedes nicht überschreitet, rührende Weichheit, reizende Anmuth sind hier die Hauptunterschiede, wo- gegen das Erhabene im Liede nur annäherungsweise erreicht werden und das Derbkomische nicht in ausgeführterer Weise in ihm vorkommen kann. Verwandt, aber nicht zusammenfallend mit diesen Unterschieden ist der zwischen religiösem und weltlichem Liede ; das erstere ist immer ideal, kann aber ebensosehr den Charakter des Ernsten, des an sich Halten- den, als des Weichen, Gebrochenen an sich haben, wogegen dem weltlichen Liede neben der Idealität und Weichheit das Naturalistische, das charak- teristischer Individualisirende, ebenso das Anmuthige und nicht minder die Fortführung der Weichheit der Empfindung bis zum Schmelz reiner Senti- mentalität (im guten Sinne des Wortes), die eben im Liede den passenden Ort zu ihrer Aeußerung findet, vor Allem zugehört. Das religiöse Lied fällt unter den oben aufgeführten zwei Hauptklassen der ersten, dem „einfach empfindenden“ Liede zu; Einfachheit ist bei aller Innigkeit sein Gesetz; ein religiöses Lied, selbst wenn es nicht von vorn herein zu einem Chorgesang bestimmt ist, muß immer allgemeiner Natur sein, in dem Sinne, daß die Andachtsstimmung den beherrschenden Grundton bildet und daher die speziellere Stimmungsindividualisirung ausgeschlossen bleibt; das Natürlichmenschliche darf sich hier nicht frei in die Weite und Breite ergehen, sondern darf nur erscheinen als aufgelöst in die Idealität des frommen Gefühles überhaupt. Die dem religiösen Liede nicht minder wesentliche Idealität schließt aber ebenso auch ein zu starkes, zu ausdruckreiches Hervortreten des Empfindens selbst aus (vgl. S. 975), die Empfindung darf hier nicht auftreten mit dem Reiz und Schmelz des Schwelgens in sich selbst, des Anmuthiglockenden, des Rührenwollens, und auch das Süße, Weiche, sehnsüchtig oder weh- müthig Zerflossene findet in diesem Gebiete seine Stelle nur unter der Hülle edler Idealität, die das Empfindselige, Sentimentale, Schmachtende von ihm abwehrt; kurz wie durch Naturalismus, so durch überfließende Anmuth und Weichheit wird die Musik weltlich, wogegen auf der andern Seite das weltliche Lied, z. B. wo es ethischen Inhaltes ist oder wo durch die Dichtung eine Mischung beider Gattungen (frommer Kriegesmuth, religiöser Patrio- tismus) an die Hand gegeben ist, durch idealen Charakter sich dem reli- giösen bis zur Ununterscheidbarkeit annähern wird, nur etwa mit Ausnahme der weniger activkräftigen Haltung, die sich im religiösen Lied immer noch irgendwie ausprägen sollte, weil die Ichheit hier nicht auf sich selbst gestellt, sondern vom Gefühl der Abhängigkeit von einer universellern Macht durch- drungen ist. In formeller Beziehung ist es natürlich nicht blos die Ton- folge (nebst Modulation und Harmonie), sondern namentlich auch Rhythmus (und Tempo), in dessen verschiedener Gestaltung jene Unterschiede sich musi- kalisch ausprägen; wie die Tonfolge bald einfachere, gleichförmigere, bald geschwungenere, verschlungenere, in stärkerem Wechsel und Contrast sich hebende und senkende, schärfer und eckiger sich zuspitzende Linien zieht, so ist auch der Rhythmus bald ruhiger, gehaltener, gleichartiger, bald auch energisch, provocirend, leicht, lebendig, springend, wechselvoll, wie der Charakter des einzelnen Tonstücks es erheischt. Eine weitere, zu diesen Stoff- und Stylunterschieden noch hinzukommende Unterscheidung ist die zwischen Liedern für verschiedene Stimmen; die sich hier ergebenden speziellern Unterschiede sind wiederum theils materieller Natur (Männergesang, Kinder- lied u. s. w.), theils formeller Art, indem der verschiedene Charakter der Stimmen, wie er S. 850 angegeben ist, auf die Gestaltung dieser Lieder- gattungen von Einfluß ist und in ihnen zu naturgemäßem Ausdruck kommen soll. Wir betrachteten das Lied bis jetzt noch ohne Rücksicht auf die Frage, ob es als Einzelgesang (Monodie) oder als unison vielstimmiges oder als mehrstimmiges oder endlich mit oder ohne instrumentale Begleitung auftritt. Monodie ist das Lied seinem allgemeinen Begriffe nach nicht, da es in der Regel die natürlichen und hiemit auch zu sympathetischem Mitgefühle ge- eigneten Empfindungen des Menschenherzens ausspricht, und ebensowenig schließt es an sich die Begleitung aus; die letztere dient im Gegentheil zu einer Verstärkung, Verdeutlichung, charakterisirenden Ausmalung des ein- fachen Liedestones und Liedesausdrucks, die an sich seine Wirkung nur heben kann, wenn sie nämlich seinem Charakter gemäß ist und sich dem Gesang gebührend unterordnet, sie thut zum Gesang einen instrumentalen Wiederklang hinzu, der ihn gleichsam aus seiner Einsamkeit herausnimmt, ihn voller, tonreicher macht; sie umgibt ihn mit der Lieblichkeit der Har- monie, durch die er an Innigkeit gewinnt, sie muß nur etwa da noth- wendig fehlen, wo das Lied, wie z. B. Gretchen’s „Meine Ruh’ ist hin“ entschieden einen stillen, verhüllten, beklemmten Monolog des Herzens mit sich selbst darstellen soll. Lieder solcher Art sind natürlich auch wesentlich monodisch; und nicht minder, jedoch wohl begleitbar, sind es alle die- jenigen, welche etwas rein Individuelles oder ganz besonders zarte Gefühle aussprechen; die Grenze ist hier freilich schwer zu ziehen, und schlechthin ist von Liedern der letztgenannten Art jede Mehrheit mitsingender Stimmen nicht auszuschließen, wenn nur diese Nebenstimmen selbst in Führung und Vortrag dem Liedcharakter angemessen sind. Die Angemessenheit der uni- sonen Viel- oder der harmonischen Mehrstimmigkeit nimmt zu, je mehr das Lied allgemeinere Bedeutung, Lebendigkeit, Kraft, Wärme hat, so z. B. bei nationalen, kriegerischen, gesellschaftlichen Liedern; bei diesen letztern wird sie geradezu zur Nothwendigkeit, und hiemit tritt denn auch die einzige con- cretere Form auf, welcher das Lied fähig ist, nämlich das Einandergegen- übertreten einer Einzelstimme und des mehrstimmigen Gesangs, die bereits in dramatisirender Weise einander antworten. Lieder, die wesentlich auf Vielstimmigkeit angelegt sind, machen eine eigene Gattung aus, das Chor- lied (indem wir die Bezeichnung Chor für den über das einfach mehr- stimmige oder unison vielstimmige Lied hinausgehenden gewichtigern, ent- wickeltere Musikformen in sich aufnehmenden vielstimmigen Gesang auf- behalten). Das Chorlied ist schon weniger als das melodische Lied auf Melodie und Rhythmus allein angewiesen, es wirkt auch durch Tonkraft und Tonfülle, es kann ebendarum in die Melodie weniger spezifische Entwickelt- heit und Bedeutsamkeit legen, sie und ihre Rhythmisirung vereinfachen, ja es muß Letzteres thun, wenn es allgemein singbares Volks- oder Gemeinde- lied werden will. Davon gibt insbesondere das volksmäßige religiöse Chor- lied, der Choral , eine klare Anschauung. Der Choral streift vermöge innerer sachlicher Nothwendigkeit alle spezifischere melodische und rhythmische Gliederung ab, er sucht den Gang des Gesangs und die Takteintheilung möglichst einfach und gleichförmig zu gestalten, er gewinnt, was er hie- durch an Mannigfaltigkeit und Belebtheit verliert, wieder theils durch die sicherer und leichter gewordene Bewegung der Masse, theils durch die Würde und Ruhe, die in diesem regelmäßigen Fortgange liegt, sowie durch rhythmisch bewegtere und melodiösere Zwischenspiele zwischen den einzelnen Strophen, welche der Massenbewegung zugleich die für sie nothwendigen Ruhe- und Sammlungsmomente gewähren, und welche schon aus diesem Grunde nur ein viel zu weit greifender Puritanismus vom Kirchengesange ausschließen zu müssen glauben kann. Im Choral kommt so die dem Liede wesentliche Einfachheit, verbunden mit idealer Großheit und mit einer von aller Ueber- weichheit fernen ernstkräftigen Haltung, zu ihrer vollen Verwirklichung, der Choral ist das Lied in seiner eigentlichsten Gestalt, auf seiner höchsten Potenz. Die Harmonie der Instrumentalbegleitung überlassend, strömt er im klaren Octavenzusammenklange aller Tonregionen machtvoll und gemessen einher, das reinste Bild des Zusammengehens aller individuellen Empfindungen in Ein sie befassendes Allgemeines, verschmähend alle spezielle Individualisirung, blos Eine Gesammtstimmung darstellend, in der die persönlichen Gefühle der Einzelnen wie zu Einem unauflösbaren Gusse verschmolzen sind. Den Gegensatz zum Choral bildet dasjenige Chorlied, das einen großen oder den größten Theil der Wirkung entweder in den Rhythmus oder in Harmonie und Modulation legt; auch hier kann die Tonkunst innerhalb enger Schranken, oft nur durch einzelne an rechter Stelle angebrachte Harmoniewendungen, die schönsten und charakteristischsten Effecte hervorbringen, obwohl natürlich Ebenmaaß, Fluß, bestimmter Charakter der Melodie die Haupteigenschaften des Liedes zu bilden haben; das vorzugsweise durch Harmonie wirkende Chorlied nähert sich bereits dem „Chore“ selbst, in welchem die verschiedenen Tonmittel und Tonformen zu entwickelterer Anwendung gelangen. Das Lied als die Realisation der einfachen Melodie ist wie diese (§. 779) Anfang, Mitte und Ende aller Musik; mit ihm erst gewinnt sie Klarheit, Seele, Innigkeit; zur Liedform kehrt sie überall, auch in In- strumentalwerken, zurück von den zusammengesetztern Kunstformen; aus ihr bildet sie durch Figurirung, Variirung, Nachahmung u. s. w. diese höhern Formen selbst heraus; Lieder jeder Art, besonders Volkslieder, Chorale fügt die Composition gerne (freilich oft auch mißbräuchlich als Nothbehelf) in größere Tonwerke ein, als Momente der Ruhe, in welchen die erregtere, verwickeltere und künstlichere Tonbewegung sich erweicht und sammelt, sich abklärt und vereinfacht und das Gefühl in seiner ursprünglichen Natürlich- keit und Innigkeit zum Worte kommen läßt. Aber die Sphäre des Liedes ist zu eng, sein Gang und seine Mittel zu einfach, als daß schon die Vocalmusik, geschweige denn die Instrumentalmusik bei ihm stehen bleiben könnte; die lyrische Musik würde zu elegisch, zu wenig charakteristisch ent- wickelt, zu einförmig, wenn sie auf das Lied sich beschränken wollte, und das Lied muß daher reichere Gestalten aus seinem Schooße hervorgehen lassen. Dieses Ungenügende der Liedform kündigt sich zuerst damit an, daß schon innerhalb ihrer selbst ein Streben nach Erweiterung und mannig- faltigerer Charakteristik hervortritt, durch welches sie über ihre ursprüngliche Gestalt hinausgetrieben wird. §. 801. Aus der einfachen Liedform tritt das Kunstlied zuerst damit heraus, daß es durch variirende Begleitung einen Wechsel und Lortschritt in den Ausdruck der lyrischen Stimmung zu bringen sucht. Hieran schließt sich weiter das durchcomponirte Lied , eine Form, die besonders dann ihre Geltung hat, wenn der Inhalt des Lieds nicht mehr rein lyrisch, sondern erzählend, epischlyrisch ist, d. h. bei der Ballade , wiewohl das epischlyrische Lied auch innerhalb der einfachen Form bleiben kann, womit die Romanze gegeben ist. Variirung der Instrumentalbegleitung ist eine durch das natürliche Streben nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung hervorgerufene Form, die aber aus dem Liede bereits etwas Anderes macht als es ursprünglich ist. Die Melodie bleibt sich in ihren Wiederholungen gleich, aber die Neben- stimmen wechseln; dadurch ist sogleich (falls nämlich die Abwechslung nicht bloße bedeutungslose Form ist) eine verschiedenartige Nüancirung der Stim- mung und mit ihr ein Fortgang, eine Fortbewegung von einer Stimmungs- modification zur andern gegeben; das feste, gerade durch die gleichförmige Wiederholung des Ganzen um so mehr in’s Licht gesetzte Verweilen des Gefühls auf Einer Grundstimmung beginnt sich zu lockern, die plastische Gestalt des Liedes bekommt Leben und Bewegung, welche seine ruhige Gleichheit mit sich selbst erschüttert, welche jedoch z. B. innerhalb größerer Tonwerke, Opern u. s. w., in denen Vermannigfaltigung des Ausdrucks ohnehin das Grundgesetz bildet, ganz in Ordnung ist, indem sie das Lied den sonst in diesen Werken herrschenden Formen annähert. Das in der Begleitung variirte Lied bildet den Uebergang zum durchcomponirten, das einzelne oder alle einzelnen Strophen mit eigenen, mehr oder weniger unter sich verwandten, natürlich aber von Einer Grundidee getragenen Melodieen ausstattet. Schon beim lyrischen Lied kann dieß eintreten, wenn es mehr eine werdende, in stetigem Fortgange begriffene, sich steigernde Stimmung, oder eine reflectirtere, die Empfindungen bestimmter auseinander legende, nach verschiedenen Seiten des Fühlens sich hinwendende oder geradezu in gegensätzliche Gefühlsmomente (vgl. S. 796) sich spaltende und aus ihnen erst wieder in sich zurückkehrende Gemüthsbewegung darstellt; hier muß die Musik, wenn nicht vielfach völlige Incongruenzen einzelner Theile des Ge- dichtes mit der Gesangcomposition entstehen sollen, dem Gange und den Wendungen des Gedichtes nothwendig folgen und kann es auch mit vollstem Rechte, da sie im Festhalten des Grundtons, in beschränkterer Anwendung von Modulationen, sowie in der Gestaltung der Tonfolgen, Harmonieen und Rhythmen immer Mittel genug besitzt, um die Einheit des Ganzen nicht verloren gehen zu lassen. Innerhalb des eigentlich lyrischen Liedes ist jedoch die durchgehende Composition immer Ausnahme, niemals Regel; sie ist je nach Umständen Sache freier Wahl des Componisten, der einen auch einfacher Behandlung fähigen Text umfassender bearbeiten, eine reichere Fülle von Empfindung in ihn hineinlegen kann, als er zunächst zu enthalten schien. Bestimmter gefordert aber ist sie, wenn das Gedicht nicht einfach lyrisch, sondern erzählender Art ist, so daß in ihm nicht blos ein Wechsel von Em- pfindungen, die doch wieder zusammen Ein Stimmungsganzes ausmachen, sondern zugleich ein realer Wechsel differenter, gegensätzlicher Zustände, Handlungen, Begebenheiten zur Entwicklung kommt, welche ebendarum auch von bestimmterem Wechsel und Contrast der innern Zustände, der Stim- mungen (sowohl objectiv der Personen, deren Schicksale und Handlungen Inhalt des Gedichtes sind, als subjectiv des Zuschauers und Hörers) be- gleitet sind. Diese episch- und, sofern die Personen als ihre Empfindungen selbst aussprechend auftreten, zugleich dramatisch-lyrische Poesie ist die Ballade , die sich zur musikalischen Composition eignet, wenn das lyrische Element in ihr das hervorstechende ist. Die Musik kann hier bereits eine mannigfaltige Charakteristik, wie sie das einfache Lied nicht zuläßt, ent- wickeln, sie kann den Gesang an einzelnen Stellen in’s Declamatorische übergehen lassen, um einen bestimmtern dramatischen Ausdruck zu erzielen, sie findet ebenso in freierer Modulation und kunstvollerer Gestaltung der Begleitung, z. B. in selbständigen, den Gesang unterbrechenden, einzelne Hauptwendungen der Erzählung einleitenden Zwischenspielen Mittel zu con- creterer Zeichnung, kurz sie ist hier durch den objectivern Stoff aufgefordert, selbst objective, darstellende Musik zu werden. Indeß leidet die Ballade, so erfindungsreich sie auch ausgeführt sein mag, an dem Widerspruch, daß die Form doch die der einfachen musikalischen Lyrik ist; als Poesie ist sie von diesem Widerspruche frei, da sie ihre Erzählung rein objectiv der Phantasie entgegenbringt, aber bei der musikalischen Composition und Recitation wird die Form der Objectivität doch wiederum nicht wirklich festgehalten, das Ganze wird in die Form eines lyrischen Gefühlsergusses gebracht, der Vortragende muß abwechselnd die Rolle des empfindenden Zuschauers der Handlung und die des dramatischen Darstellers der in ihr redenden und handelnden Personen übernehmen, es ist eine stets in die Subjectivität zurückgenommene Objectivität, ein Vorherrschen der erstern über die letztere, das doch wiederum den Eindruck eines Mangels an Lebendigkeit des Ganzen, des Mangels einer wahren, dem Inhalt adäquaten, für seine vollkommen sprechende Darstellung zureichenden Kunstform machen muß; die durchcom- ponirte Ballade gehört mit Einem Wort einer einseitig subjectiven Richtung an, die auch das Objective subjectiv umgestaltet, sie ist keine reine Gattung. Befriedigender ist daher die, bei einfachern (z. B. Göthischen) Dichtungen dieser Art statthafte, nichtdurchcomponirte, höchstens die Begleitung wech- selnde, etwa auch an einzelnen Stellen, z. B. am Schlusse, die Melodie ändernde, erweiternde, ihr mehr Kraft oder Innigkeit gebende Ballade, die das Geschichtliche nicht malend schildern, sondern nur seine allgemeine Be- deutsamkeit für das Gefühl, die Stimmung, die es durchweht, den Eindruck, den es auf die Empfindung macht, veranschaulichen, kurz wie das einfache Lied durch den Ausdruck, nicht aber durch speziellere Charakteristik wirken will. Eine Nebenart nichtdurchcomponirter, sondern einfach melodischer episch- lyrischer Lieder, die Romanze , entsteht, wenn das epische Element in ihnen vorherrscht, wenn das eigentlich Lyrische, Weiche, Rührende zurücktritt und das Ganze mehr eine objectiv plastische Haltung hat, die auch in der Melodie sich abspiegelt. Die Romanze kann ernster oder auch komischer Art sein, aber in beiden Fällen tritt der lyrische Ausdruck zurück, es ist weniger auf Innigkeit, Wärme der Empfindung, als auf eine (wiewohl nicht speziell malende) charakteristische Gestaltung der Tonfolge abgesehen, die dem rein Lyrischen gegenüber das Gepräge der Ruhe, der Objectivität, des Ansich- haltens, wie um anzudeuten, daß erzählt werden soll, an sich trägt, dem Inhalte aber deßungeachtet im Allgemeinen wohl entspricht durch das Ge- präge des Ernstes, der Bedeutsamkeit oder andrerseits des Komischheitern, in das sie sich kleidet. Die Romanze schließt sich nicht enger an den Text, sie schlägt mehr den allgemeinern, ernst gewichtigen oder burlesken Erzähler- ton an, der zum Bänkelsängertone herabsinkt, wenn aus der für die Romanze wesentlichen Zurückhaltung des Ausdrucks Ausdruckslosigkeit, mechanische oder gar plumpe Recitation wird. Auch in die Instrumentalmusik ist die Romanze übergegangen; sie bezeichnet hier dem Rondo verwandte Sätze mit kürzerem, leichtem, nicht auf Tiefe des Ausdrucks, sondern auf klare, freie, wohl- gefällige Tonfolge abzweckendem melodischem Hauptsatz, der wie die Lieder- strophe fortwährend in gleicher Weise, zuerst ohne, sodann mit Zwischen- sätzen, die sich allmälig erweitern und vermehren können, sich wiederholt und endlich das Ganze abschließt. Das wesentlich auf variirende Begleitung angelegte Kunstlied, die Ballade und die Romanze sind bereits mehr oder minder entschieden monodisch . Am wenigsten noch das erstere, da z. B. ein Chorlied wechselnde Instrumentalbegleitung wohl verträgt; doch ist diese gerade beim Chorlied, dessen Hauptgewicht doch immer in dem vollkräftigen Ausdruck der unisonen oder harmonisirten Melodie selbst liegt, von geringerer innerer Bedeutung; da wo die Begleitung wirklich höhere Bedeutung hat, da ist überhaupt der Ausdruck ein nüancirterer Ausdruck, der dem Chorgesang weniger angemessen und nur beim Einzelvortrag vollkommen zu erreichen ist. Aus demselben Grund neigt sich auch das durchcomponirte Lied vorherrschend der Monodie zu, ganz entschieden aber die durchcomponirte Ballade, deren spezifisch malende, die verschiedensten Wendungen nehmende, freie Form sie mit Nothwendigkeit dem monodischen Vortrage zuweist; wenn dramatische Chöre nicht minder reich sind an kunstvollern Wendungen, so ist hiebei zu beachten, daß dieselben ganz und gar nichts Anderes sind als der Ausdruck einer eine Mehrheit von Personen bewegenden Gesammtstimmung, wogegen es der Ballade nicht wesentlich ist, als Massengesang aufzutreten. Der Balladensänger ist nicht Publikum, das ist vielmehr der Chor, sondern er ist Erzähler, der vor das Publikum hintritt, und daher ist die Ballade Einzelgesang. Nichtdurchcomponirte Balladen können allerdings von einer Mehrheit gesungen werden; die Sänger sind in diesem Falle das von der musikalischen Erzählung lebendig bewegte, sie dem Dichter und Tonsetzer nachsingende Publikum; aber auch die nichtdurchcomponirte Ballade ist, wenn ihr Styl mehr episch darstellend als lyrisch fühlend ist, dem strengen Begriff nach Monodie. In gleicher Weise verhält es sich mit der Romanze; je bestimmter sie ihren objectiv plastischen, erzählenden Charakter bewahrt, desto mehr ist sie Monodie, die vom Publikum gehört, nicht aber mit- gesungen werden kann, weil nicht ein allgemein menschliches Gefühl, sondern ein charakteristisches Tonbild speziellern Inhalts ihr Wesen ist. §. 802. Die Liedform hebt sich auf und macht einer freiern Gestaltung der Voral- musik Platz, wenn dieselbe dazu fortschreitet, dem musikalisch wiederzugebenden Inhalte einen Ausdruck zu verleihen, welcher den einzelnen Momenten, in die jener Inhalt sich aus einander legt, folgt, und eben die charakteristische Dar- stellung des Einzelnen sich zum Zwecke setzt, ohne in dieser Ausmalung der Einzelmomente an irgend ein anderes Formprinzip als an das Gesetz, daß die Einheit der Grundstimmung des Ganzen mit hervortrete und bei dem Fortgang von einem Momente zum andern Stetigkeit und Motivirung nie vermißt werde, gebunden zu sein, — Recitativ, declamatorischer Gesang und Arie . Das Moment des charakteristischen Einzelausdrucks, das wir an der Liedform vermißten und zu dem auch Ballade und Romanze sich noch nicht ganz entschieden erheben, weil sie die Wiederkehr gleicher oder gleichartiger Strophen festhalten, verwirklicht sich vollständig in Recitativ, declamatorischem Gesang und Arie. Die beiden erstern erheben das declamatorische Element, das uns schon bei der durchcomponirten Ballade begegnete, zu selbständiger Ausbreitung, die Arie führt die lyrische Charakteristik zu ihrer Vollendung. Auf den ersten Anblick liegt die Arie dem Liede näher als das Recitativ, so daß jene voranzustellen wäre, die Form der Arie entfernt sich ja von der des Liedes weit weniger als die des Recitativs; aber die Arie hat deß- ungeachtet das declamatorische Prinzip selbst wiederum in sich, und es ist daher begrifflich das Richtigere, dem Liede zunächst das Recitativ (und den declamatorischen Gesang) als erste die Liedform ganz sprengende Musik- gattung gegenüberzustellen und erst von ihm aus zur Arie fortzugehen. Die Musik strebt Alles darzustellen, was die Empfindung irgend an- regt, auch das Historische; sie erhält namentlich in größern Gesangwerken religiösen, epischen, idyllischen, dramatischen Inhalts Anlaß genug, einzelnes Historische, an dessen Recitation sich dann nachher wiederum eigentlich lyrische Gefühlsergüsse knüpfen, in der Weise des Gesangs vorzutragen, nicht etwa blos um auch in solchen Partieen die musikalische Form des ganzen Ton- werks äußerlich festzuhalten, sondern vor Allem, um durch die musikalische Darstellung, die sie auch dem Historischen zu Theil werden läßt, die Be- deutung, welche es je nach Inhalt und Charakter für das Gefühl hat, mehr oder weniger bestimmt zu veranschaulichen. So entsteht das epische Recitativ , der objectiv epischen Liedform entsprechend wie die Arie der subjectivlyrischen. Bei dieser Gattung des Recitativs geht nun freilich der musikalische Ausdruck insofern wiederum verloren, als die Melodie hier auf- hört und ein Mittelding zwischen ihr und der bloßen Rede an ihre Stelle tritt, und es scheint daher von diesem Recitative nicht gesagt werden zu können, daß es sich durch charakteristische Ausmalung der Einzelmomente des Inhalts vom Liede unterscheide; wo die Musik auf Melodie verzichtet, wo sie sich mit Tongängen begnügt, bei welchen es zu concreter Anwendung ausdrucksvollerer musikalischer Formen gar nicht kommt, da, hat es den Anschein, könne auch kein charakterisirendes Eingehen in das Spezielle des Inhalts erwartet werden. Allein das Minus von Ausdruck, das hier allerdings eintritt, weil recitirt und nicht mehr liedartig gesungen wird, ist kein Null; wo es zu diesem Null kommt, da ist gar keine Musik mehr; innerhalb seiner den lyrischen Fluß und Schmelz allerdings ausschließenden Objectivität ist das Recitativ doch wesentlich gerade auf sprechenden Aus- druck und zwar eben des Einzelnen gerichtet. Die Musik tritt hier aus ihrer wesentlichen Form, der eigentlichen Melodie, heraus, aber doch in Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 65 keiner andern Absicht, als um einem Inhalte, dessen objectiver Charakter keine melodische Composition erlaubt, eine musikalische Fassung zu geben, welche Dasjenige an ihm, was für das Gefühl Bedeutung hat, charakteri- stisch hervorhebt; seelenvoller, in den Inhalt aufgehender Erguß kommt hier nicht zu Stande und ebendeßwegen keine Melodie, keine der musikalischen Empfindung vollen Lauf lassende, stetig dahinfließende, den Text ganz in sich auflösende Tonreihe, aber deßungeachtet eine der Melodie analoge Tonbewegung, die durch ihre ganze Haltung, durch Tempo, Rhythmus, Modulation, durch die Art der Auf- und Abbewegung in Intervallen, der Hebungen und Senkungen, durch Accentuation einzelner Stellen, durch Steigerung des Tones, der innern Bewegung, des Affects, sowie endlich auch durch harmonische Begleitung einen spezifisch musikalischen Ausdruck sowohl der Gesammtstimmung als insbesondere einzelner Hauptmomente erzielt. Gerade diese Hervorhebung einzelner Momente gibt dem erzählenden Recitativ die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit, die ihm an sich der Melodie gegenüber fehlt; eine unvollkommene, zur Ergänzung durch wahrhaft lyrische Musik hintreibende und daher auch nicht populäre, sondern aus Reflexion entstandene Kunstform bleibt dieses Recitativ immer, aber im Einzelnen lebendig charakterisiren und zeichnen kann es, in ausdrucksvollern Stellen und Wendungen dieser Art kehrt es gleichsam immer wieder zu dem musi- kalischen Typus zurück, den es durch seine übrige kältere, gebrochenere Weise aufgeben zu wollen scheint; es ist Rede, die eben anfängt musikalisch zu werden, und die im Ganzen blos den musikalischen Ton überhaupt anschlägt, im Einzelnen aber bereits Ansätze wirklich musikalischer Rhythmik und Melodik aus sich hervortreibt. Das Gleiche findet sodann auch statt bei dem rein lyrischen und dem dramatisch lyrischen Recitativ , nur mit dem Unterschiede, daß es frei von der epischen Breite und Ruhe, die den spezi- fischen Ausdruck mehr nur an einzelnen Stellen hervortreten läßt, von Anfang an concentrirter, bewegter, affectvoller, nüancirter und daher einer durchgehend festgehaltenen, in immer wieder neuen Formen erscheinenden Charakteristik fähiger ist. Diese beiden Recitativgattungen entstehen, wenn die das Innere bewegende Empfindung zwar hervortritt, aber nicht in den stetigen Fluß der Melodie einmündet, entweder weil es (ähnlich wie im epischen Recitativ) um ein deutlicheres, das Einzelne markirter darlegendes Aussprechen des Gefühlsinhalts (z. B. in kirchlichem Gesang) zu thun ist, oder weil die Empfindung sich noch nicht zu einfachem Ausströmen ihrer selbst gesammelt hat, sondern noch zu sehr reflectirend mit ihrem speziellen Inhalt, ihren Motiven beschäftigt, noch zu stürmisch aufgeregt, hinundher- gezogen und -getrieben ist, oder endlich (besonders im Drama) weil der Inhalt neben seinen Gefühlselementen auch andere, mehr der Reflexion an- gehörige enthält, die für einfach melodischen Vortrag sich nicht eignen, so daß hier das dramatische Recitativ dem epischen sich wiederum annähert. Möglich ist auch, daß der Fluß der Melodie wieder abgebrochen und in recitativische Sätze übergegangen wird, wenn ein einzelnes bewegendes Moment zur schärfern Aussprache, zur Heraushebung aus dem gleichförmigen Gange der Melodie drängt; in allen Fällen ist es eben immer das Sich- geltendmachen einzelner Elemente, was dazu treibt, die Recitativform an die Stelle der Liedform zu setzen. In einem großen Vortheil befindet sich das lyrische und dramatische Recitativ dem epischen gegenüber dadurch, daß es bewegter und erregter und so nicht nur schon durch sich selbst musikalischer ist, sondern auch des Hülfsmittels malender, markirender, hebender, Fluß, Wärme und Schmelz über das Ganze verbreitender Begleitung weit mehr als jenes sich bedienen darf; die reichere Begleitung kann so ziemlich Alles, was dem Recitativ zum Musikalischen fehlt, von sich aus hinzuthun, ohne seinen Charakter zu beeinträchtigen, sie stellt neben die Worte, in denen das Gemüth sich Luft macht, das innere Wogen, Sehnen, Erzittern des Gemüths selbst, sie läßt die bewegte Seele schauen, die bis jetzt nur in gebrochenen Lauten ihre Empfindungen äußert; auf diesem Gebiete kann die Musik die charaktervollsten und ergreifendsten Kunstwerke schaffen, so schwierig es freilich immer ist, dem gebrochenen Redegang wahrhaft musikalisches Leben einzuhauchen. Denn gebrochen , zertheilt in scharf auseinander gehaltene Worte und Sätze bleibt das Recitativ immer, es besteht eben in dieser Fixirung des Einzelnen, in dem Abwerfen einer das Ganze umspannenden und verschmelzenden Melodie, in der Pronuntiation jeder Periode, jedes Wortes, jeder Sylbe mit einem besondern eben nur an diesen Punkt ge- hörenden Accent und Ausdruck, daher namentlich die fortwährenden starken Intervallwechsel oder vielmehr Sprünge, die eben die einzelnen Momente von einander recht sondern sollen; es ist immer eine nur angefangene, stockende, vor der Reflexion nie in Gang kommende oder vor ihr wieder zurückweichende Musik, es ist das Ueberwiegen des Inhalts über die Form, es ist eine musikalisch gehobene, rhythmisirte Sprache, welche dabei doch das was sie ist bleiben muß, eine gebrochene Wortreihe; das Recitativ ist eben noch nicht oder nicht mehr wirkliche Musik und ist daher auch keine selbständige Musikform, es bildet immer nur die Vorbereitung, den Ueber- gang zu eigentlichem Gesange oder tritt es an einzelnen Punkten sprechend aus ihm hervor; ja das Recitativ muß, sobald in ihm die Empfindung eine tiefer bewegte ist, dem melodischen Element innerhalb seiner selbst Raum geben, es muß wechseln zwischen Wort- und eingefügten Melodiepartieen (Arioso), in welchem Wechsel dann allerdings der Kampf des Gemüths mit sich selbst, das durch Reflexion und Affect immer wieder zurückgehaltene Sichherausdrängen der Empfindung sich auf wahrhaft dramatische Weise darstellt. 65* Der Hauptmangel des Recitativs, das Gebrochene, Atomistische, hebt sich zunächst auf im declamatorischen Gesang . Das Recitativ ist auch Declamation, wenn nämlich sein Ausdruck einfach und doch markirt und das Gebrochene der Rede nicht zu stark ist — denn Declamation ist ein Vortrag, der die Hervorhebung des Einzelnen wesentlich in Einheit hält mit Veranschaulichung des Ganges, des Fortschritts, der Steigerung u. s. w. des Ganzen, sie verfährt nicht bruchstückweise, sondern sie wirkt in und mit dem Ganzen, sie veranschaulicht den dem Ganzen inwohnenden „Bewegungs- rhythmus“, sie erzielt Gesammteffect —; aber declamatorischer Gesang ist das Recitativ nicht, das unmelodische Recitativ ist nicht Gesang und das ganz melodisch-werdende nicht declamatorisch. Der declamatorische Gesang ist nicht mehr gebrochene Rede, sondern er hat wie die Melodie Fluß, Continuität, Biegsamkeit, aber er ist auch noch nicht Melodie, er hält viel- mehr innerhalb des continuirlichen Tonfortschritts die Einzelworte fest und folgt einfach ihnen, so daß nicht melodische Ausführung, Dehnung, auch nicht nothwendig melodische Gruppirung, Periodisirung, sondern blos melo- diöser Vortrag des Ganzen und seiner einzelnen Worte und Sätze zu Stande kommt. Die altkirchliche Ritualmusik bildete vorzugsweise diesen declama- torischen oder Sprechgesang aus, der, um einen gewichtigen Inhalt deutlich und doch mit musikalischem Ausdruck ausgestattet zu pronuntiiren, die Worte in das Gewand einfacher, gebundener, fließender melodiöser Sätze kleidet, ohne damit schon zu Melodieganzen fortzuschreiten. Auch die Oratorien- und die dramatische Musik wendet diese Gattung mit großer Wirkung z. B. in Chören an, die man mehr Sprech- als Singchöre nennen muß; Mendels- sohn hat in seinen Compositionen zu sophokleischen Tragödien gezeigt, was für ein lebendiger, drastischer Eindruck mit diesem Sprechgesange zu erzielen ist; und nicht minder ist von dieser declamatorischen Singweise anzunehmen, daß sie die Hauptform der griechischen Musik war und daß eben auf ihr der tiefe Eindruck beruhte, den diese Musik trotz ihrer einfachen Mittel her- vorzubringen vermochte; ja sie ist ohne Zweifel überhaupt die älteste Kunst- musik. Der Eindruck des Sprechgesangs ist, wenigstens im Moment, der wirksamste, rührendste, stärkste; ist der Sprechgesang mehr lyrischer Natur, dem lyrischen Recitativ verwandt, aber eben gesangreicher, so wirkt die Ein- fachheit der melodischen Wendungen, mit welchen die Worte vorgetragen werden, die Verschmähung alles Künstlichen, die Natürlichkeit und Hellig- keit, die rein vom Herzen zum Herzen spricht, der ruhige, sanfte, fließende Wechsel zwischen Hebung und Senkung ebenso erhebend als gewinnend und eindringend; ist aber der Sprechgesang mehr dramatisch und daher nament- lich in rhythmischer Beziehung bewegter, gegliederter, geschärfter, so macht die Energie und Unmittelbarkeit, mit der hier die ganze im Textinhalt latitirende Erregtheit, ohne alle melodische Dehnung und Erweichung nur dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig sich entladet, im Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck drasti- scher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer absolut vollendeten dramatischen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des Sprechgesangs, die lyrische mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama- tische mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit sind weit mehr als das Recitativ wesentlich berechtigte Musikgattungen; in ihnen ist Musik, Seele, Gesang, zwar in allgemeinster, einfachster, aber ebendamit in potenzirtester Weise; aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit musikalischem Ausdruck begleitetes Musikdrama sich entwickeln, falls nämlich eine spätere Entwick- lung der Kunst und der geistigen Anschauungsweise überhaupt dahin führte, Stoffe in der Art und Weise der griechischen Tragödie zu finden, die, in der Mitte zwischen Oper und Wortdrama liegend, für musikalische Decla- mation sich eigneten, ethisch dramatische Stoffe, welche feierlich innigen und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere musikalische Ausführung ver- langten, so daß eben diese Mittelgattung die richtige für sie wäre. So hoch der declamatorische Gesang in den so eben hervorgehobenen Beziehungen steht, so falsch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die höchste oder gar einzige Form des über die Liedform hinausstrebenden Ge- sanges zu erblicken. Es ist Musik in ihm , aber keine freie und ganze Entfaltung der Musik; er löst die Rede in Musik auf, aber er bindet die Musik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu- fällig zur Realisirung der der Musik eigenthümlichen Formen gleichartiger entsprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern, läßt keinen Gedanken sich selbständig entwickeln, er wirkt nur in und mit dem Worte, unterstützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm kein Tongebilde zu eigener Consistenz, sondern das Ganze schwebt oder rauscht vorüber wie das verhallende Wort selbst; der musikalischen Phantasie wird Nichts geboten, sie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu- sikalischrhythmisch erwärmter und belebter declamatorischer, nicht ein wirklich musikalischer Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ auch hier die Form, die Kunst nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der Ausdruck selbst trat ebendarum nicht voll und wirksam genug hervor, weil es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen bestimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollständiger an- gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck, es war musikalische Rede, aber nicht Musik. Es kann daher kein Zweifel sein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak- teristisch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmusik geben muß, in der nicht blos Musik ist, sondern die ganz und vollkommen Musik ist. Die Tonkunst ist so formenreich, daß es in der That sonderbar wäre, wenn gerade dieß, die concrete Darstellung eines Empfindungsinhalts in allen seinen Nüancen, Wechseln, Steigerungen u. s. w., ihr versagt sein sollte. Mit Recitativ und Declamation begann einst die Kunstmusik, aber sie schritt mit Recht fort zu dem wahrhaft musikalischen Empfindungsgesange, zur Arie , sie gerieth hiebei in einseitige Cultivirung der Form auf Kosten des Ausdrucks, aber diese vorübergehenden Verirrungen beweisen gegen die Wahrheit der Sache so wenig als überhaupt bekanntlichst der Mißbrauch jemals den rechten Gebrauch aufheben kann. Im Gegentheil, die Arie ist die Krone aller monodischen Vocalmusik, sie einigt den charakteristischen Ausdruck des Einzelnen wiederum mit der strengeren Form und dem leben- digen Fluß der Melodie, sie ist das recitativischdeclamatorisch gewordene und doch wiederum vollkommen melodische Lied. Gerade weil die Arie Beides zumal ist, kann bei ihr leicht einseitig das eine oder andere Element geltend gemacht werden; überwiegt das Streben nach charakteristischem Aus- druck, so nimmt sie leicht die gebrochene, kühle Recitativform oder die pathe- tische und doch bis zur Nüchternheit concise Form der dramatischen Decla- mation an; ist aber die Tendenz vorhanden, das rein musikalische Element, die Periodicität der Gliederung oder die reiche Entwicklung oder den Fluß und Reiz der Melodie zur Geltung zu bringen, so wird sie leicht steif formalistisch oder andrerseits mit sog. schönen Gedanken und deren Wieder- holungen überladen oder weich, charakterlos, ja am Ende ein leeres, schnör- kelhaftes Singstück, das zu nichts Anderem nütze ist als um die Kehlen- fertigkeit des Sängers zu zeigen. Auch können sehr wohl Mißgriffe in der Anwendung der einzelnen Formen der Arie gemacht, z. B. eine Arie mit reicher und darum an sich der Wiederholung wohl werther Melodieent- faltung in eine Situation verlegt werden, deren Eigenthümlichkeit nicht gestattet, daß das lyrische Element der Herzensergießung sich breit mache, den Gang der Handlung aufhalte, während wir anderswo gerade da, wo eine solche Ergießung ganz am Platze wäre, mit einer viel zu kurzen, un- entwickelten Melodie abgefertigt werden. Allein dieß Alles beweist nichts gegen die Arie selbst, sondern gegen Geschmack und Takt des Componisten; soll es überhaupt Musik als eigene Kunst und nicht blos halbmusikalische Rhetorik geben, soll die ganze Musik nicht auf den Standpunkt des sechs- zehnten Jahrhunderts oder vielmehr der athenischen Tragödie zurückgeschraubt werden, so ist die Arie, die Rousseau mit Recht das Meisterstück der (Vo- cal-)Tonkunst nennt, in ihrer bleibenden Bedeutung anzuerkennen. Nur in ihr spricht das Gemüth das was es erfüllt ganz, nach allen Seiten, in ungehemmtem Ergusse aus, nur in ihr legt sich die Seele ganz hinein in den Gesang, nur in ihr kommt das Individuelle zu seiner musika- lischen Darstellung, nur in ihr fühlen wir vollkommen mit, was das Innere des Andern bewegt, da das Lied und der Chor jedes in seiner Art hiefür zu allgemeiner Natur sind; nur von der Arie empfangen wir den Eindruck des vollkommenen, reine Form und charakteristische Wahrheit, Gefühlsinnig- keit und scharfe psychologische Entwicklung der einzelnen Gefühlsmomente in sich verknüpfenden Kunstwerks der Vocalmusik. Recitation ist indirecter, Declamation directer Idealismus, das Lied und die Arie vereinigen beide, neigen sich nach der einen oder andern Seite vorzugsweise hin, nur wie- derum beide in verschiedener Weise, das Lied hat zu wenig Raum, um beide Elemente zu umfassenderer Entfaltung kommen zu lassen, die Arie aber geht zunächst ein in die ganze Breite und concrete Bestimmtheit des indirecten Idealismus, weiß aber doch wiederum mittelst ihrer periodischen Gliederung, mittelst ihrer innigen Verbindung und flüssigen Verschmelzung der Theile das hohe, klare, einfach schöne Gepräge directer Idealisirung demselben auf- zudrücken. Die verschiedenen Formen der Arie ergeben sich einfach daraus, daß sie entweder lyrische oder dramatische Arie ist, und daß sich die eine oder andere entweder mehr dem Liede oder dem Recitativ und Sprechgesang annähert; im ersten Falle findet strophen- oder rondoartige Ausführung, Wiederholung, Entwicklung der Gedanken und abgemessenere Periodisirung ihre Stelle, wogegen im zweiten der einfache Ausdruck des Inhaltes das Ueberwiegende ist. Welche Form anzuwenden sei, ergibt sich im einzelnen Falle aus ihrem Zweck und aus der Situation, in der sie gesungen wird (vgl. S. 955). Ganz falsch ist es natürlich, der Arie, die sich ganz den jeweiligen individuellen Empfindungen anzuschmiegen hat, eine feste allge- meingültige Form geben und z. B. vorschreiben zu wollen, daß und wie einzelne Hauptgedanken wiederholt werden sollen; das Eigenthümliche der Arie ist vielmehr, keine Form , d. h. wohl Form (rein musikalische, melo- dische Form), aber nicht irgend eine bestimmte Form zu haben, sondern die Form ganz dem Inhalt gemäß zu bemessen. Die Wiederholung wird stets am Platze sein, wenn die Situation so ist, daß das Individuum als von einer Empfindung beherrscht, immer wieder auf sie zurückkommend erscheint; auch in solchen Fällen, wo ja die Wiederholung gerade höchst dramatisch ist, sie als undramatisch, den Gang der Handlung störend zu bezeichnen, wäre ein absolutes Mißverständniß einer modernen, einseitig den dramatischen Fortschritt betonenden Richtung, die, wenn sie folgerichtig sein wollte, auch aus dem Drama alle Exposition der Gedanken und Gefühle verbannen und aus ihm ein wahres Todtengerippe, eine geist- und leblose Folge von Begebenheiten und Situationen zu machen versuchen müßte. Das Richtige über diese Frage liegt schon bei Mozart vor, der sich, die bekannten Bra- vourarien abgerechnet, von aller Schulform emancipirt und ganz nach Erfor- derniß der einzelnen Fälle Arien theils von liedartiger, streng periodisirter, wie- derholender, theils von ganz freier, lediglich dem Ausdruck folgender Form componirt, übrigens auch in Arien der letztern Art keineswegs pedantisch prinzipiell alle und jede Wiederholung vermieden, sondern, wo sie natürlich und zur einheitlichen Abrundung des Ganzen passend war, sie gleichfalls zur Anwendung gebracht hat (Tamino im ersten, Sarastro im Anfang des zweiten Acts der Zauberflöte). Wie sehr sodann im Wesen und in der Form der Arie als der ganz freien Darlegung des Empfindungsergusses namentlich Dieses liegt, dem Verlaufe, den Wechseln, den Steigerungen des Gefühls ungehemmt nachzugehen und durch diese lebendige Veranschau- lichung der Pulsschläge des Herzens, durch voll und energisch sich entfal- tenden Bewegungsrhythmus gerade wahrhaft dramatisch, ja noch dramati- scher als das Schauspiel zu wirken (keineswegs aber, wie man meint, den dramatischen Ausdruck zu stören), bedarf nur kurzer Erwähnung; mit der Arie wäre nicht blos die Musik, sondern eine Hauptgattung des Drama selbst, das rein musikalische, nur in der Musik den adäquaten Ausdruck seiner bewegtern Stimmungen und Situationen findende Drama, aus dem Kreis der Künste herausgerissen und vernichtet. Auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Sprechgesang und Arie ist noch hinzuweisen; die Decla- mation schließt die Instrumentalbegleitung nicht gerade nothwendig aus, namentlich die dramatische nicht, deren größere Erregtheit wohl durch Mit- wirkung von Instrumenten stärker hervorgehoben werden kann, aber selbst hier darf diese Mitwirkung nur eine im eigentlichsten Sinne des Worts „begleitende“ sein, sich aber nicht für sich geltend machen wollen; die Decla- mation schließt sich so unmittelbar an das Wort an und verdankt alle ihre Wahrheit und Wirksamkeit so sehr eben nur dieser Unmittelbarkeit, mit der sie die einzelnen Worte und Sätze mit zutreffendem Ausdruck, Accent und Ton hervorhebt, daß eine selbständigere Instrumentalmusik ihre Klarheit und Schärfe nur trüben, ihre Einfachheit nur in Schatten stellen, die distincte Auffassung auf Seiten des Hörers nur unmöglich machen würde. Noch mehr gilt dieß von der lyrischen Declamation; auch neben ihr müssen die Instrumente entweder schweigen oder mit einer Begleitung sich begnügen, die den einfachen, kunstlosen Eindruck der gesungenen Worte nicht stört und beeinträchtigt durch Hinzuthat concreterer, den zarten Hauch, der über dem Ganzen schwebt, verwischender, die reine ätherische Klarheit zerstörender Formen. Bei der Arie dagegen verhält es sich in dieser Beziehung gerade wie bei dem Recitativ und dem kunstreichern Liede; die malende Charakteristik der Arie fordert mit Recht noch eine genauere Individualisirung durch In- strumente, und auch der Eindruck, den die Arie machen soll, der Eindruck des Ueberfließens des Gefühls in rückhaltlose volle Aeußerung seiner selbst, wird nur erreicht, wenn die Stimme nicht allein ertönt, sondern Orchester- töne sich zugesellt, deren Harmonie und Klangfülle die ganze Tiefe und Weite der Gemüthsbewegung, welche in den Einzeltönen der Melodie sich ausspricht, veranschaulichen; die Melodie für sich, eben weil sie nur ein Nacheinander von Einzeltönen ist, reicht nicht zu, um die Wärme und Erregtheit des in allen seinen Regionen lebendig bewegten Gemüths voll- kommen zur Erscheinung zu bringen, dieß geschieht erst durch die Harmonie, die mit dem Einzelnen das Ganze, mit dem Einfachen das Volle, mit der Empfindung die Gesammtstimmung gibt. Beschränkt man die Vocalmusik auf declamatorischen Gesang, so sei man so consequent und gebe aller rei- chern Instrumentalbegleitung den Abschied; will man aber diese haben, so belasse man es auch bei demjenigen; wozu sie allein paßt, bei der Arie, wie sie durch Mozart zur Vollendung gekommen ist. Es versteht sich, daß die Begleitung dem Gesange untergeordnet bleiben muß, selbst wenn sie sich noch so reich und bedeutungsvoll ausbreitet; das Orchester kann selbst im Drama (blos mit Ausnahme solcher Fälle, wo es die Aufgabe hat, eine neben dem Gesang hergehende Handlung, auf die er sich selbst bezieht, zu veranschaulichen) trotz aller concretern Individualisirung der Figuren, Läufe u. s. w. vorherrschend doch nur mitsingen, nicht aber neben dem Gesange selbständige Instrumentalmusik aufführen wollen; seine Bestimmung ist zu- nächst einzig die, den Gesang zu heben und zu tragen, zu bewirken, daß er mit der ganzen Innigkeit, mit der ganzen fließenden Weichheit, mit der gesättigten vollen Kraft, mit der klaren Individualisirung, die er eben in der Arie haben muß, der empfindenden Phantasie vorgeführt werde und so in ihr mit derselben Wärme und derselben Bestimmtheit des Eindrucks sich reflectire, mit welcher er aus dem Gemüthe des bewegten Individuums selbst hervortönt. Das ist eben das Eigenthümliche der Arie, das Subjectivste, Individuellste unmittelbar auszusprechen und mitzutheilen, das Innerste und Verborgenste herauszukehren, die Seele selbst und was sie bewegt überflie- ßen zu lassen in die Seele des Hörers; mit der Arie treten wir aus dem Gebiete des Allgemeinern ganz und vollkommen hinein in das der einzelnen Persönlichkeit; dieses Persönliche mit seiner ganzen Eigenheit und Eigen- thümlichkeit ansprechend, penetrant und ergreifend (wie Lied und Sprechge- sang), klar und anschaulich (wie das Recitativ) hinzustellen, es herauszu- leiten aus der ideellen Welt des Innern in die reale objective Welt ist ihr Beruf, daher sie auch auf Seiten des Künstlers eine „Objectivität“, eine Fähigkeit das Subjectivste in einfach zutreffenden, unmittelbar anschaulichen Formen zu reproduciren, vorausgesetzt, die ihm nur eine reiche Phantasie, verbunden mit ebenso großer, das Wesentliche direct erfassender Schärfe und Klarheit des Geistes, sowie mit feiner Empfänglichkeit für das Charak- teristische gewähren kann. Nirgends ist, weil alle diese Bedingungen nicht überall beisammen sind, so viel Werthloses, theils Steifes und Trockenes, theils Inhaltloses, blos formell Melodisches producirt worden als auf dem Gebiet der Arie; aber nirgends kommt auch die ganze Lebendigkeit und Wärme der Musik so wie in ihr zu Tage, wenn sie nicht durch Unvermögen oder Ungeschmack verkümmert und verdorben wird. Die seit Gluck so vielfach besprochene formelle Frage, ob die Arie der- gestalt an das Wort gebunden sei, daß auf jede Sylbe nur Eine oder höchstens in Ausnahmefällen etliche Noten weiter fallen dürfen, erledigt sich einfach durch die Unterscheidung zwischen ihr und dem declamatorischen Ge- sange. Nicht einmal dieser ist (wie auch das Lied seiner allgemeinern Hal- tung ungeachtet nicht) so mechanisch an die Sylbenfolge gekettet, daß er nicht hie und da, wo mit einem Worte oder Satze der Strom der Empfin- dung seinen Culminationspunct erreicht, weiter ausholen, das Gewicht, das auf solche Puncte fällt, durch ausgeführtere melodische Wendungen ausdrücken, daß er ebenso nicht hie und da Manches wiederholen dürfte, was von besonderer Bedeutung ist; Form und Inhalt kämen ja mit einan- der in Widerspruch, wenn der letztere auch da, wo er eine bestimmtere Markirung, ein Verweilen auf ihm fordert, ganz ebenso kurz und schnell, d. h. (S. 908) ganz ebenso ungewichtig wie weniger gewichtige Momente, behandelt würde. Noch viel weniger aber kann an die Arie eine Anfor- derung dieser Art gestellt werden. Die Musik ist nun eben einmal die Kunst, welche zur Rede hinzutritt, um den dieser letztern nicht erreichbaren vollständigen Ausdruck der Wärme und Tiefe der Empfindung zu ihr hin- zuzuthun, sie „fängt da an, wo die Rede aufhört“; die Rede ist etwas Practischzweckmäßiges, sie ist der concise Gedankenausdruck , der zum Behuf klarer und leichter Mittheilung des Gedachten aus einfachen, leicht überschaulichen Bezeichnungen (Worten) und Combinationen derselben (Sätzen) besteht, und der ebendarum unverweilt vom Einen zum Andern fortschreitet, um das Gedankenbild in zusammengedrängtem, schnell zusam- menzufassendem Umriß zu geben; die Musik aber ist dieß Alles nicht, sie ist nicht logische Bezeichnung, nicht Syllabirung, nicht Abbreviatur, nicht Geschwindschrift, nicht Mittel für den Zweck leichter und scharfer Gedanken- verdeutlichung, zu all Dem wäre sie außerordentlich unpassend gewählt, sondern sie ist breiter, voller Gefühlserguß , sie ist dazu erfunden, um sich auszusingen, wie es einem um’s Herz ist, um der ganzen das Gemüth nicht oberflächlich momentan berührenden, sondern es mehr oder weniger tief und dauernd beherrschenden, erfüllenden, schwellenden, nieder- drückenden Bewegtheit einen natürlichen, nichts als sich selbst bezweckenden Ausdruck zu geben, wie er sich vermöge der Einrichtung der menschlichen Organisation im Ton darbietet; die Rede setzt für Alles Ein Wort, spricht Alles ein- höchstens zweimal aus, auch wenn sich gerade eben an dieses Wort, diesen Namen u. s. w. im Augenblick, wo er ausgesprochen wird, die tiefste und mannigfachst bewegte Gemüthserregung knüpft, die Rede kann eine solche Erregung wohl auch ausmalen in einer Folge von Sätzen, Strophen, Gedichten, aber an einem einzelnen Punkte, wenn er auch inner- halb des Ganzen noch so schwer wiegt, kann sie nicht stillhalten, höchstens durch die Stellung im Satze und durch accentuirten Vortrag seine hohe Bedeutung einigermaßen andeuten, denn die Logik oder der Umstand, daß sie logische Gedankendarstellung ist, gestattet es nicht anders; die Musik dagegen ist von dieser Gebundenheit frei, sie muß sie abwerfen, da sie sonst eben das ihr eigenthümlich Zukommende, das Gefühl, zurückdrängen, ver- schweigen müßte, statt es kundzuthun, und sie kann sie abwerfen, da das längere Verweilen auf einem Puncte, wenn es nicht übermäßig ist, die Symmetrie und Ueberschaulichkeit, die natürlich auch der musikalische Aus- druck haben muß, nicht beeinträchtigt, sondern im Gegentheil die Gleichför- migkeit des streng periodischen Melodienbaus in ganz berechtigter Weise durch Auslassungen dieser Art unterbrochen wird. Rede und Musik haben nicht dasselbe Tempo (Zeitmetrum), die Musik richtet sich in ihrem Tempo, in ihrem Eilen und Verweilen nach der Empfin- dung, nicht nach Begriff und Wort ; „der Gedanke“, sagt Moritz ganz richtig, „hat Licht, die Empfindung Fülle; der Gedanke kann sich auf einmal äußern, die Empfindung nur nach und nach sich ihrer Fülle entle- digen; der Gedanke ist ein Blitz, die Empfindung die regenschwangere Wolke, ihr Erguß ist der langsamere oder schnellere Tropfenfall“. Die Läugnung dieses Unterschieds zwischen Rede und Musik, die Behauptung der syllabi- schen Melodie als der einzig zulässigen ist derselbe Widerspruch, wie wenn man der lyrischen Poesie die Ausmalung einer Empfindung durch mehrere Strophen hindurch verbieten, die Disposition der Scenen eines Drama’s, die Skizze eines Gemäldes u. s. w. für den bessern Ausdruck der Idee des Ganzen erklären wollte, weil sie alles überflüssige Beiwerk bei Seite lasse, oder weil, wie Wagner und seine Schule in Bezug auf die Oper behauptet, die breite Ausführung an dem Widerspruch leide, das was blos Mittel für den Ausdruck sei zur Hauptsache zu machen. Melodie in der Musik, Ausführung in der Poesie, Musik im musikalischen Drama sind Zweck, nicht Mittel (außer soweit alles Einzelne, was Zweck ist, auch wieder Mittel ist für irgend etwas Allgemeineres, für vollständige Realisirung der Idee der Kunst, sowie für Förderung und Bereicherung des Geisteslebens überhaupt), Musik und Kunst überhaupt wollen nicht belehren, sondern schön und aus- drucks voll darstellen (wiewohl sie hiemit indirect auch Dieß und Jenes mit tiefem Eindruck lehren können), man will in der Kunst die Idee in voller Realität, nicht in dürftig symbolischer Andeutung, nicht in einem Ausdruck, der blos Mittel ist, man will sehen, hören und genießen, und insofern ist eine in Coloraturen, Läufen, Cadenzen das Maaß überschreitende Arie, wenn sie nur Vocal- und nicht Instrumentalmelodie darbietet und keine unnatürlichen Anforderungen an das Organ macht, immer noch dramatisch musikalisch, weil auch in diesen Figuren an sich ein immerhin adäquater Ausdruck der stärkern Bewegtheit des Gemüthslebens, wie sie eben im Drama nicht im lyrischen Lied zu Tage tritt, gegeben ist. Die Arie ist nicht blos einfache Melodie, wie das Lied, sondern auch figurirte; die Figuren mit ihren schnell auf einander folgenden Wendungen stellen das Unruhige, aus dem Gleichgewicht herausgehobene, unendlich Wechselvolle der Gemüthsbewegtheit, die Rouladen das ganze und volle Sichausladen und Sichauslassen der durch alle Tonregionen hindurcheilenden, das ganze Tongebiet durchmessen- den, nur durch dieses Sichausbreiten zu größern Tondimensionen sich selbst genügenden Empfindung so treffend dar, daß gegen ihre (richtige) Anwendung in der That nichts mit Fug eingewendet werden kann. — Um- gangen werden konnte die Erörterung dieser Fragen, obwohl sie ganz einfach mit der Frage, ob es eine Musik überhaupt geben solle oder nicht, zusam- menfallen, an diesem Orte deswegen nicht, weil neuerdings „die musikalische Melodie“ für undramatisch erklärt worden ist; wir bestreiten die Möglich- keit eines blos recitativisch-declamatorischen musikalischen Drama’s gar nicht, aber wir leugnen, daß es das einzige und höchste sei, wir können ihm nur einen sehr engen Kreis, der über den der antiken Tragödie nicht hinausginge, zuweisen, und wir müßten zudem namentlich rücksichtlich der mehr lyrischen Partieen eines solchen einfachethischen Drama’s (auf welches in der That das Kunstwerk der Zukunft, wie es S. 208 u. s. f. sich exponirt, hinaus- kommt) als Hauptbedingung seiner etwaigen Entstehung ein Wiederaufleben einer einfachen ethischreligiösen Anschauungsweise und einer damit gegebenen einfach humanen Gemüthsinnigkeit betrachten, zu welcher in Betracht der gespannten Verhältnisse und der reflectirten, in sich gespaltenen Bildung des modernen Lebens die Zeit wohl noch nicht da sein dürfte. In Bezug auf die bisherige dramatische Musik aber ist der Theorie der Zukunftsmusiker entgegenzuhalten, daß wir dramatisch declamatorische Musik schon längst in Fülle haben, und daß sie also nicht erst geschaffen oder aus vermeintlichem Untergange wieder hergestellt zu werden braucht; wir finden in Ensemble- stücken, Quartetten, Terzetten, auch in Arien unsrer klassischen Opern sehr häufig, nämlich in allen Stellen, wo der Gesang mehr dem parlando als der Melodie sich nähert (ohne doch förmlich recitativisch zu werden), den Sprechgesang ganz richtig angewendet; auch den Vergangenheitsmusikern war es von selbst klar, daß in dramatischen Werken nicht Alles breit melo- disch fließend und ebenso wenig Alles recitativisch gebrochen, mit recitativi- scher, das Einzelne gesondert hervorhebender Umständlichkeit componirt wer- den kann, und die Vertheidiger der Zukunftsmusik irren sich mithin gewaltig, wenn sie uns sagen, unser jetziger musikalischer Geschmack sei durch die „musi- kalische Melodie“, die uns noch immer „in den Ohren klinge“, so verdorben und verwöhnt, daß er eine nicht absolut musikalische, declamatorische Melo- die gar nicht mehr zu begreifen im Stande und daher auch einer richtigen Würdigung der neuesten Richtung unfähig sei. Recitativ und Arie haben zwar ihren Hauptort in größern lyrischen, epischen, dramatischen Werken, in Cantate, Oratorium und Oper; sie waren aber deßungeachtet schon hier zu betrachten; sie entstehen doch nicht einzig und allein erst mit diesen breitern Musikformen; das Recitativ bildet sich, wie oben erwähnt, schon aus dem umfangreichern Liede hervor, es ist auch Theil von diesem, die Arie aber kann auch selbständig bestehen als musika- lischer Ausdruck einer Empfindung oder Stimmung, die durch Inhalt, Cha- rakter, Situation so concret ist, daß die Liedform zu allgemein für sie wäre. Allerdings aber ist auch die Arie, dem Recitativ hierin gleichfalls verwandt, vorzugsweise Theil eines größern Ganzen, da innerhalb des Verlaufs eines solchen sich am ehesten und am klarsten solche „concrete“ Stimmungen er- geben, für welche die Arie die charakteristische Form ist. §. 803. Dem Liede und den monodischen Formen des Recitativs und der Arie stehen gegenüber die polyphonen Gattungen der Vocalmusik , welche von den mehrstimmigen Solosätzen (Duetten u. s. w.) an in immer steigender Mannigfaltigkeit und Verwicklung sich bis zu mehrchörigen Compositionen aus- breiten und zugleich der Anwendung der kunstreichern Formen der Figurirung und Verflechtung der Stimmen, der Nachahmung und Fuge, des Canons und Contrapuncts Raum verstatten. Die Polyphonie ist der Vocal- und Instrumentalmusik gemeinsam und wurde daher schon bei den allgemeinen Formen des musikalischen Kunstwerks besprochen. Allerdings aber ist der Gesang das Hauptgebiet für die syste- matisch durchgeführte Polyphonie. Die Gesangstimmen sind zwar nicht man- nigfaltigere, aber gewichtvollere, selbständigere Größen als die Instrumental- stimmen, weil in jenen die menschliche Subjectivität selbst unmittelbar sich ausspricht, und daher gehört die Polyphonie, deren Wesen und eigenthüm- licher Eindruck eben im Zusammentönenlassen selbständiger, in ihrem Zu- sammensein selbständig bleibender, mit selbständigem Gewicht sich vernehmen lassender Einzelstimmen besteht, vorzugsweise dem Gesange an. Auch hat nur der Gesang in allen Lagen die einfache Helligkeit und Klarheit, die Distinctheit, die deutliche Unterscheidbarkeit der zusammenerklingenden höhern und tiefern Stimmen, die erforderlich ist, um die polyphone Musik recht durchsichtig zu machen — selbst die in den mittlern und obern Lagen so helltönenden Rohrblasinstrumente werden in der Tiefe dumpfer, wogegen der Baß der Menschenstimme so voll, rund und klar ist, wie irgend eine andere Stimmregion, — und somit ist auch von dieser Seite her der Ge- sang das Hauptgebiet für die systematische Polyphonie, besonders für die Fuge, deren Haupteffect, das lebendige, unendlich schwungreiche Durcheinan- derwogen der neben einander doch klar vernehmlich bleibenden Stimmen, für die Instrumentalmusik nicht in gleichem Grade erreichbar ist. Jedoch wie die kunstgerechtern und strengern kann der Gesang auch die freiern und leichtern polyphonen Formen für lyrische, besonders religiöse, und für dra- matische Zwecke benützen; für sie hat das Vocaltonsystem vollends Hellig- keit, Beweglichkeit, Combinationsfähigkeit genug; eine und dieselbe Gattung, Duett, Terzett u. s. w., Chorgesang kann entweder freier, einfach melodisch, lied-, recitativ-, arienartig, als Zusammen- und als Wechselgesang, oder strenger, figurirt, mit Stimmenverflechtung, contrapunctisch u. s. w. behandelt werden. Die musikalische Aesthetik hat hier nichts zu thun, als auf die großartige Mannigfaltigkeit schöner und charakteristischer Gestaltungen, welche hier der Tonkunst offen stehen, einfach hinzuweisen und formzerstörenden modernen Theorieen gegenüber, welche consequenterweise auch sie angreifen müssen, die Berechtigung und Nothwendigkeit aller dieser Gattungen har- monisch-melodischer Vocalmusik aus denselben Gründen festzuhalten, welche uns nicht erlaubten, mit J. J. Rousseau der Harmonie und mit jenen Neuern „der musikalischen Melodie“ den Abschied zu geben. Musik ist nun eben einmal Stimme (nicht Rede), Stimme aber ist erstens biegsam und zweitens eines harmonischen Verhältnisses zu andern Stimmen fähig; soll es also Musik geben, so ist Biegung der Stimme, d. h. Melodie, und Harmonie der Melodieen auch auszubilden; Musik ist ferner nun eben ein- mal Gefühlsausdruck, zu andern Dingen ist sie nicht zu brauchen, sie hat Mittel, Gefühle mehrerer oder ganzer Massen sowohl auseinanderzuhalten, als auch zu harmonischer Einheit zusammenklingen zu lassen, und zwar ent- weder contrapunctisch als Zugleich oder imitatorisch als sich ablösendes Nacheinander; diese Mittel nicht zu gebrauchen, wäre gerade Dasselbe, wie wenn die bildende Kunst blos einzelne Individuen darstellen, die Poesie des Epos und des Drama sich enthalten wollte; die polyphonen Formen können also nie veralten, das Publikum der Zukunft wird stets auch in ihnen um so mehr Befriedigung und Erhebung finden, je weniger die Kunst selbstän- dige Stimmen, d. h. Melodieen, nicht bloße Tongänge, in Einheit zu setzen, verloren gehen, und je weniger man diese Kunst, welche das Schwerste, Einheit und concreteste Mannigfaltigkeit in Einem, herzustellen weiß, durch Aeußerlichkeiten frappant sein sollender Modulationen, Instrumenteneffecte u. s. w. zu ersetzen bedacht sein wird. Die kunstgerecht polyphonen Formen (mehrchörige Compositionen mit eingeschlossen) genügen nun aber, wie dieß schon §. 784 bemerkt wurde, freilich nicht; den erhabensten, beruhigendsten, abschließendsten, seelenvollsten Eindruck gewähren zuletzt doch immer die einfachern Chöre , bei denen die Selbständigkeit der Stimmen doch nur eine untergeordnete ist; sie erheben, sie schließen ab, sie ergreifen dadurch, daß sie die Einheit wiederum hervorkehren, daß sie die Tonmasse ganz, ungetheilt und dadurch sowohl groß als ruhig, einfach und concentrirt zum Gefühle reden lassen; nur in ihnen ist wahre Totalität, schwere Wucht, Auflösung aller individuellen Bewegungen und Empfindungen in den Strom Einer universellen, allumfassenden, die Harmonie des Weltalls nachbildenden, das Gemüth über alles Einzelne beseligend hinaushebenden, in sich gesät- tigten großen Gesammtstimmung; mit ihnen, mit den einfachern Chören langen wir an beim Ende, bei dem höchsten und letzten Sammel- und Ruhepunct, über den hinaus die Musik uns nichts mehr zu bieten vermag; in ihnen faßt sie alle Kraft, alle Freude, alle Wehmuth, die aufgeboten werden kann oder dargestellt werden soll, zu einem Gesammtbilde zusammen, das selbst, wenn es trauriger Klaggesang ist, die unendlich beruhigende Wirkung auf uns ausübt, die allem Hohen und Großen, aller Vereinigung der Einzelexistenzen und Einzelkräfte zu Einer Totalwirksamkeit eigen ist. Die einfachern Chöre eignen sich wohl auch für die Darstellung erregterer Massenempfindungen, wenn es sich nämlich um eine schlechthin einmüthig bewegte Masse, wie z. B. um Kriegerchöre handelt; das Höchste aber, was sie leisten können, sind doch jene zusammenfassenden und abschließenden Ge- sammtstimmungen, über die hinaus kein weiteres Fortschreiten der musika- lischen Bewegung stattfindet. Allein damit verlieren die streng polyphonen Formen an ihrem Werthe nichts, sie sind da für alle bewegtern und zugleich die einzelnen Individuen oder Theile eines Ganzen lebendiger durchdringen- den Mehrheits- oder Massenempfindungen, sie stellen die Mehrheit oder Masse als eine in ihren Gliedern, Personen, Altern, Geschlechtern von einer Stimmung aufgeregte dar, sie sind dramatischer, wie jene lyrischer, sie führen die Gesammtbewegung der beruhigten Auflösung in Ein großes Ganzes erst entgegen; sie können zwar (wie z. B. Schlußfugen) in vielen Fällen auch selber abschließen, indem auch ihnen in Stimmführung und Rhythmi- strung die Mittel zur allmäligen Herbeiführung eines beruhigenden Total- eindrucks nicht durchaus fehlen, sie sind namentlich dann zum Schlusse ge- eignet, wenn das ganze Tonwerk so lebhaft erregt war, daß eine Abschließung mittelst polyphoner Musik im Gegensatz zum Uebrigen immer noch beruhigend wirkt, allein eigentlich sind sie doch dazu da, die Bewegung in Gang zu bringen, sie in’s Weite und Breite auszudehnen, sie zu steigern und zu vermannigfaltigen, sie anschwellen und immer lebendiger wogen und pul- siren zu lassen, bis der Culminationspunct erreicht und daher die Zeit zu einfach großem Ausklingen des Ganzen gekommen ist. Auch in den kleinern mehrstimmigen Tonstücken, in Terzetten u. s. w. zeigt sich dieser Unterschied individuellerer Erregtheit, bei der die Stimmen sich spalten, gegen einander agiren, einander wechselvoll ablösen u. s. f., und ruhigerer, allgemeinerer Haltung, bei der sie zu Einem Gesammtgesange verschmelzen, ohne damit ihre Eigenthümlichkeit ganz aufzugeben; man vergleiche z. B. das Terzett im Anfang des zweiten Acts von Don Juan und das Terzett aus B dur im ersten Finale, die den Unterschied beider Arten so schlagend veranschau- lichen. So lange aber dieser Unterschied besteht, werden auch die kleinern künstlich polyphonen Gattungen stets in Kraft bleiben; es wird namentlich auch der Canon seine Geltung behalten, der die Mittheilung der Empfin- dung von einem Individuum zu andern, das Auftauchen Eines Gefühls in mehrern, dabei doch getrennt bleibenden, für sich singenden Personen ganz naturgemäß wiedergibt. Also auch hier keine neuen Formen, keine Umstürzung des Alten und weil es naturgemäß war auch Bewährten, son- dern richtige Anwendung und Combination der verschiedenen Gattungen! Auszuscheiden oder vielmehr längst ausgeschieden ist nur die contrapunctische Madrigalform, die polyphone Composition eines Liedtextes, die eben als solche eine unhaltbare, widersprechende Kunstart war; das Richtige ist für das Lied seinem Begriffe nach unison oder harmonisch begleitete Einstim- migkeit; erst wo verschiedene Personen mit verschiedenem Gesangsinhalt auftreten oder wo ein Gesangsinhalt ausdrücklich von verschiedenen Per- sonen zugleich und zwar in selbständiger Weise ausgesprochen werden soll, tritt die Polyphonie ein, entweder frei oder kunstgerecht, und entweder als bloße Mehrstimmigkeit (Duetten u. s. w.) oder als Allstimmigkeit, als alle Klassen, Geschlechter, alle Individuen eines Standes u. s. w. vereini- gender Chor, der eben hiedurch, daß er nicht blos Viel-, sondern wesentlich Allstimmigkeit ist, den universell abschließenden Charakter erhält, welcher ihm allein eigen ist. Die Eigenschaft des Chors, daß er wesentlich „Allstimmigkeit“ ist, hindert natürlich nicht, daß mehrere Chöre, von denen so jeder doch wieder nur Theil einer noch größern „Allgemeinheit“ ist, einander gegenübergestellt, ebensowenig daß Chöre aus Stimmen einer besondern Tonregion, „Halb- chöre,“ z. B. Männerchöre mit Ausschluß des Alts und Soprans, gebildet werden. Der Begriff der Allstimmigkeit ist ein doppelter; es kann darunter entweder absolute oder nur relative Allstimmigkeit verstanden sein. Die ab- solute Allstimmigkeit mit ihrem umfassenden, mächtigen Eindruck wird aller- dings nur erreicht durch einchörige und durch vollchörige, d. h. sämmtliche Stimmregionen vereinigende Composition (letztere gewöhnlich nicht ganz treffend „gemischter“ Chor genannt); aber auch die relative Allstimmigkeit behauptet den Charakter der Großartigkeit, sei es nun daß sie als mehr- chöriger Gesang zwei oder mehr selbständige Ganze gegen einander und zusammenführt, wodurch die erhabensten und schlagendsten dramatischen Wirkungen erreicht werden können, oder daß sie als Halbchor auftritt, und zwar insbesondere als vollkräftiger Männerchor (da die obern Stimmen wegen des Mangels der substantiellen Baßbasis sich zu selbständigem Chor- gesange weniger eignen). Der Männerchor ist an sich nur Halbchor, aber er hat die Mittel, die wesentliche Eigenschaft des Ganzchors, d. h. das Vereintsein tiefster, mittlerer und höherer (nach oben zu abschließender) Stimmregionen, auf sich selbst überzutragen, sofern der Tenor vom untersten Basse durch Höhe wie durch helle und weichere Klangfarbe sich so spezifisch unterscheidet und zugleich in Folge dieses weiten Abstandes so entschieden nicht nur Eine, sondern zwei Mittelstufen zwischen sich und der untersten Stimme zuläßt, daß der (drei- oder vierstimmige) Männerchor ein in sich selbst durchaus concretes Abbild des eigentlich allstimmigen Ganzchors ist, welches vor diesem zudem das Kräftigere der tiefern Lage des Ganzen voraus hat und so gerade ein Hauptmerkmal des Chors überhaupt, das Kräftiggroße, zu spezifischer Anschauung bringt. Im Ganzchor wird dieses Kräftiggroße wiederum gemildert und erweicht durch die mitwirkenden Ober- stimmen; im männlichen Halbchor dagegen tritt es für sich in voller Macht und Activität heraus, und es entsteht zudem durch die Beschränkung auf die Unterstimmen ein Charakter der Gleichartigkeit, der auch noch ein an- deres Merkmal des Chores, das gleiche Durchdrungen-, Bewegt-, Begeistert- sein Aller von Einem Inhalte, Einer Gesammtstimmung zwar unvollstän- diger, aber unmittelbarer und darum schlagender als der Ganzchor veran- schaulicht. Diese zwei Momente, das Vollkräftige und das sprechendere Hervortreten der Einheit einer Gesammtstimmung, weisen dem Männerchor eine ganz eigenthümliche Stellung unter den Formen der Musik an, eine Stellung, durch die er, obwohl er dem Lied gegenüber durch selbständigere Stimmenführung schon kunstgerechte Form ist, doch aus dem Gebiete der reinen Kunst zugleich hinüberreicht in das des Lebens und zwar sowohl des socialen und religiösen als ganz insbesondere des nationalen Gesammt- lebens. Der Männerchor ist nicht eigentlich „volksmäßig“ — denn er ist ja Kunstform, — aber er ist national; er ist auch social und religiös, aber er ist für den geselligen Zweck doch nicht einfach, leicht, populär, für den religiösen, gemeindlichen nicht allumfassend, nicht menschheitlich genug; national dagegen ist er im vollsten Sinne des Worts, er hat noch nicht die Schwierigkeiten und Feinheiten der strengen Polyphonie und ist so immer noch „volksthümlich,“ er hat das zarte Nebenelement des Ganzchors nicht mehr, sondern repräsentirt durch seine reine Männlichkeit sowie durch seine individualisirtere und kunstmäßigere Stimmführung eben die „Nation,“ das Volk als active, ihrer selbst energisch bewußte, von höhern Ideen kräftig beseelte, gebildete, aus frei zum Ganzen mitwirkenden Gliedern (S. 899) bestehende Gesammtheit. Natürlich eignet er sich aus all diesen Ursachen auch zum Gesellschaftlichen im Unterschied vom blos Geselligen, zum Aus- druck der von einer Gesellschaft vertretenen ethischen, künstlerischen Ideen, aber doch vorzugsweise zum Nationalen, weil doch erst in diesem die ganze Vischer ’s Aesthetik. 4. Band. 66 Kraft und Vollstimmigkeit, welcher der Männerchor fähig ist, zur vollstän- digen Anwendung gelangt. Mit dem Männerchor wird so die Kunstmusik unmittelbar praktisch, sie tritt in’s Leben hinein oder zurück mit einigender, erhebender, massenverschmelzender, allbegeisternder Kraft; der Männerchor bildet die Brücke, über welche die Kunstmusik überhaupt, auch mit ihren strengern Formen, allmälig in’s Leben der Gesammtheit hinüber sich ver- pflanzen kann, er macht auch die Kunstmusik zur Volksmusik, er zieht sie aus der engen Sphäre musikalischer Gelehrsamkeit heraus und führt sie auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um auch dem nationalen Gesammtleben die erwärmende und einigende Kraft der Tonkunst einzuhauchen und Das- jenige, was dort bereits als Gefühl in den Einzelnen lebt, durch die Macht des Gesangs zu einem alles verschmelzenden und in immer weitern Kreisen zündenden Gesammtheitsausdruck zu bringen. Weiter findet sich dieß Alles ausgeführt in der Schrift „der volksthümliche deutsche Männergesang“ von Dr. O. Elben , in welcher zugleich die historischen Nachweisungen über die allmälige Herausbildung dieser Musikform gegeben sind. Unter den „Män- nergesang“ fällt natürlich auch das von Männerstimmen vorgetragene Chor- lied (§. 801), und auch von ihm gilt bis zu einem gewissen Grade, was im gegenwärtigen §. über den Männerchor gesagt wurde; aber die drei Puncte, daß durch ihn der Kunstgesang national, der Volksgesang kunst- mäßig und (durch die Stimmführung) ein sich freier individualisirender wird, gehören dem Männerchor eigenthümlich an und machen ihn zu einer ganz besonders wichtigen, in seiner Art einzig dastehenden Form der Ge- sammtmusik. §. 804. 1. Die Combination der verschiedenen homophonen und polyphonen Formen macht es der Musik möglich, zusammenhängende größere Gesangwerke zu schaffen, und zwar hauptsächlich Werke kirchlichen Inhalts , sofern bei ausgedehntern Vocalcompositionen, die nicht dieser Sphäre angehören, die Noth- wendigkeit einer selbständigern Mitwirkung der Instrumentalmusik sich so sehr geltend macht, daß sie nicht der Vocal-, sondern der aus der Vereinigung beider 2. Hauptzweige entstehenden Gattung beigezählt werden müssen. Die verschiedenen Arten kirchlicher Gesangwerke unterliegen, sofern sie der Musik zum Theil von außen her durch die Institutionen des Cultus gegeben sind, keiner strengern musikwissenschaftlichen Bestimmung; doch lassen sich im Allgemeinen unterscheiden Werke, in welchen die einfache mehr beschauliche Versenkung des Gemüths in einen religiösen Inhalt vorherrscht, dann solche, in denen ein gehobenerer mehr lyrischer Aufschwung zum Unendlichen das Charakteristische ist, endlich solche, welche, die zwei ersten Arten in sich aufnehmend, den religiösen Inhalt in seiner ganzen objectiv ausgesprochenen Bestimmtheit, in seiner ganzen Höhe und Weite dem Subject gegenüberstellen und die Empfindungen, mit denen es sich von ihm erfüllt findet, zu musikalischem Ausdrucke bringen. Nebenarten sind die mehr declamatorisch-recitativischen Gesänge, deren Formen weniger fest und entwickelt sind. 1. Die zahlreichen Formen der Vocalmusik geben der Kunst Gelegenheit und Anlaß zu den mannigfaltigsten, wirkungsreichsten Combinationen, durch welche größere Gesangwerke entstehen. Monodie, Mehrstimmigkeit, Poly- phonie, einfacher und kunstreich gegliederter Gesang lassen sich in vielfachster Art contrastirend einander gegenüberstellen, verwandtschaftlich einander bei- ordnen, nach dem Gesetz rhythmischer Steigerung und Wiederberuhigung mit einander verknüpfen; durch dieses Verfahren, durch die Combination der Gattungen, bilden sich, wie durch architectonische Gruppirung großartige und charakteristische Gebäudecomplexe, Gesangscyclen, ebenso belebt durch Mannigfaltigkeit, Antithese und Fortschritt als erhebend durch den Reich- thum musikalischer Formen, die hier nach und mit einander, eine die andere ergänzend und weiter führend, auf den Schauplatz treten. Der geeignetste Name für diese größern Gesangwerke zusammen wäre der der Cantate ; er wird jedoch gewöhnlich blos für Gesangwerke weltlichen und allgemein- religiösen Inhalts gebraucht, deren äußere Form eine freiere, nicht durch kirchliche Sitte fester bestimmte ist, sowie andrerseits nicht ganz passend hie und da auch für objectiver gehaltene, epischdramatische Gesangwerke, die in eine andere Klasse von Compositionen als die hier zu besprechenden gehören. Die Cantate im richtigen Sinne des Worts, als größeres lyrisches Ge- sangwerk, ist eine Reproduction des Liedes auf höherer Stufe und in uni- versellerer Weise, sie führt einen Inhalt von allgemein menschlicher Bedeutung musikalisch aus, einen Inhalt, der nicht blos Einzel-, sondern Gesammtge- fühl, und der ebenso, was die speziellere Gestaltung betrifft, breiter aus- einandergelegt, durch genauer eingehende, die Gedanken reicher entwickelnde strophische Poesie bestimmter in seine einzelnen Momente zerlegt ist. Je nachdem diese einzelnen Theile sich mehr für den musikalischen Ausdruck durch eine oder mehrere Einzelstimmen oder durch Chöre eignen, werden sie den einen oder andern zugewiesen, jedoch so, daß auch die Einzelgesänge das Gefühl der in der Cantate sich aussprechenden Gesammtheit aussprechen; die Stimmenvertheilung ist blos musikalisches Mittel des Ausdrucks, indem z. B. ein lebendiger bewegtes Schmerzgefühl passender in der weichern Mo- nodie- als in der kräftigern Chorform dargestellt wird, sachliche Bedeutung hat sie keine, es sind nicht Arien, Duette u. s. w. verschiedener Personen, sondern blos einzelner Stimmen, welche die Gesammtheit abwechselnd in ihrem Namen reden läßt. Die Instrumentalbegleitung ist der Cantate, wenn 66* sie sich vollständig entwickeln soll, nothwendig; bei Festcantaten wird sie schon der verstärkten Wirkung wegen nicht leicht fehlen; bei religiösem In- halte wäre sie an sich eher entbehrlich, da auf diesem Gebiete gerade durch die Beschränkung auf den Gesang ein eigenthümlicher Eindruck rein in sich versenkter, rein nur das innere Gefühl ohne alles Nebenwerk aus- sprechender, einfachernster Innigkeit hervorgebracht wird, allein sie ist auch bei religiösen Cantaten doch das Gewöhnliche, sofern sie nicht dem Cultus dienen und daher bei ihnen die reichere Charakteristik dem religiösen Ernste nicht aufgeopfert zu werden braucht. Von selbst versteht es sich aber, daß die Instrumentalmusik dem Gesange wesentlich untergeordnet bleibt; die Cantate erhält zwar durch die Vertheilung der einzelnen Inhaltsmomente an verschiedene Personen bereits eine objectivere, spezieller charakterisirende Gestalt als das Alles in die Subjectivität des Einzelindividuums ein- schließende Lied, und insofern bedarf sie auch mehr malende Charakteristik durch Instrumente, welche eigentlich nichts thun, als daß sie das Prinzip der Vertheilung an mehrere Stimmen noch weiter fortsetzen, aber die in der Cantate auftretenden Personen sind ja nicht verschiedene Persönlichkeiten, deren jede etwas Eigenes hätte und zum Ganzen mit hinzu brächte, sondern sie sind blos Theile, blos Stimmen des Ganzen selbst, in der Cantate über- wiegt die Einheit immer noch die Besonderung, und daher kann auch die Instrumentalbegleitung nur den Gesang einleiten und unterstützen, nie aber zu selbständiger Mitwirkung sich erheben, außer wenn eine Cantate auf ein spezielles, zur Instrumentalmalerei aufforderndes Ereigniß, wie Kampf und Sieg, ihre Beziehung hat, und selbst hier darf dieselbe sich nicht so weit ausbreiten, daß dadurch die Wirkung des in Einem Zuge fortschrei- tenden Gesanges gestört würde. In diesem Ueberwiegen der Einheit über das Besondere liegt das Eigenthümliche, zugleich aber auch das Schwierige, ja Undankbare der Cantate, sobald sie sich, wie z. B. Neukomm’s Oster- morgen, zu größerem Umfange ausdehnt; es soll Vertheilung, Individuali- sirung der Stimmen stattfinden und doch nicht bis zu wirklichem Heraus- treten des Einzelnen aus dem Ganzen fortgegangen, es soll die Mittellinie getroffen werden zwischen dem Allgemeinen und Besondern, es soll starke Färbung und farblose Allgemeinheit gleich sehr vermieden werden, dieß gelingt nicht immer und tritt auch, wenn es gelingt, nicht so von selbst klar und sprechend hervor, wie bei Gesangwerken objectiverer Haltung und noch umfassendern Umfanges; kurz die größere Cantate ist nicht concret genug, nicht hinlänglich mannigfaltig gegliedert, und auch wieder nicht einfach und überschaulich genug, sie ist ein weit ausgedehntes Lied, das doch nicht mehr Lied ist, sie ist eine Mittel- und Uebergangsgattung, die nicht ganz befrie- digt und daher nur eine beschränkte Geltung in Anspruch nehmen kann. 2. Die Schwierigkeiten, die bei der blos allgemein religiösen Cantate obwalten, verschwinden bei andern Formen der Gesangmusik, denen durch ihre Bedeutung für den Cultus entweder ein einfacherer oder ein bestimmter charakteristischer Typus aufgedrückt ist. Das Erste ist der Fall einmal bei den kürzern Kirchencantaten (wie sie z. B. in den ersten Bänden der neuen Ausgabe S. Bach’s enthalten sind), indem sich diese auf wenigere, leichter überschauliche Theile beschränken. Sodann bei den sog. Motetten , d. h. „Spruchgedichten“; es sind dieß kürzere, oft nur aus wenigen (bibli- schen oder sonsther entnommenen) Sätzen bestehende Texte, welche eine für das religiöse Gefühl bedeutende Wahrheit, Erinnerung, Lehre, Andachts- empfindung enthalten, und welchen nun eine eben dieser ihrer Bedeutung, entsprechende, sie ganz und voll ausdrückende und ausführende mehrstimmige, insbesondere polyphone Composition unterlegt wird. Die Motetten sind, wenn sie sich an Sprüche mehr objectiven, historischreligiösen Inhalts an- schließen, eine Art didactischer Musik; sie gehören überhaupt, auch wo ihr Inhalt ein lyrisch gehobener (z. B. ein Psalmspruch) ist, weniger dem Gebiet subjectiv erregten Aufschwungs als der objectivern Sphäre einer ruhiger sich erbauenden contemplativen Stimmung an, sie stellen sich die Aufgabe, einzelne religiöse Grundgedanken und Grundgefühle, die in gegebener fester Form vorliegen, dem religiösen Bewußtsein in erhebender, wirksamer Weise gegenüberzustellen, und darum eben ist die Pronuntiation durch Mehr- und Allstimmigkeit, durch energische, die Gedanken in vereinigter Kraft der Stimmen und immer neuen Wendungen darlegende Polyphonie, sowie dabei Beschränkung des Textumfangs, Kürze ihre wesentliche Form; nur besondere Kunst ist im Stande, auch längere, z. B. Choraltexte mit Anwendung mannigfaltigerer Gesangformen und in größerem Umfange motettenartig zu componiren und dabei doch den Charakter der Energie und Gedrungenheit nicht preiszugeben. Auch hier könnte man freilich sagen: die Motette mit ihrer im Verhältniß zu ihrem kurzen Texte doch immer breiten Ausführung ist ein Irrthum, wie die alte Oper, sie macht die Musik, die blos Mittel des Ausdrucks sein soll, zum Zweck. Allein wenn man so redet, so lasse man doch die Musik ganz weg und declamire einen reli- giösen oder Sittenspruch einfach und kurz ab, natürlich nicht ohne Aus- druck; sieht man denn nicht, daß der musikalische Ausdruck, um den es doch in der Musik ohne Zweifel zu thun sein möchte, wächst, je mehr man die Musik ihre Mittel entfalten läßt, und abnimmt, je engere Grenzen man ihr ziehen will? So ist es auch hier. Die Motette erfüllt voll- kommen den Zweck, einem einzelnen Grundgedanken des religiösen Gesammt- bewußtseins einen vollen, erschöpfenden, hinter der innern Bedeutung nicht zurückbleibenden Ausdruck zu verleihen, sie läßt ihn als Allgemeines, das in den einzelnen Gliedern der religiösen Gesammtheit sich lebendig reflectirt, d. h. eben in breit ausgeführter Polyphonie auftreten. — Der mehr didac- tischerbaulichen Motette tritt zunächst gegenüber der Gesang poetisch sich aufschwingender Andacht, Psalm und Hymne . Die Formen sind hier, namentlich bei manchen nicht einfach lyrisch, sondern antiphonisch geglieder- ten, Wechselreden verschiedener Stimmen gegen einander stellenden alttesta- mentlichen Psalmen, weit mannigfaltiger; je nach Umständen kann die Motettenform, allein oder mit andern gemischt, einfacher Chor, ein- und mehrstimmiger Sologesang angewandt werden; nur die großartigere Fest- hymne, das Tedeum , bewegt sich wie natürlich vorzugsweise in mehrstimmi- gem und polyphonem Gesang. Eine Hauptsache bei Psalm- und Hymnodie ist das Erzielen eines umfassenden Totaleindrucks, weit mehr als bei der mehr auf das Einzelne eingehenden längern Cantate; nur ist dieser Total- eindruck qualitativ ein sehr verschiedener, je nachdem der Inhalt mehr in- dividueller oder allgemeiner, mehr gehobener oder niedergedrückter, dankender, verherrlichender oder sehnender, flehender Art ist. Instrumentalbegleitung ist bei allen diesen Musikgattungen, Kirchencantate, Motette, Hymne mehr oder weniger entbehrlich, am meisten bei der ruhiger gehaltenen Motette; überall kann, wenn es um den Eindruck einfach ernster Innigkeit zu thun ist, auf instrumentale Colorirung, namentlich auf rauschendes Blech und auf die Violine Verzicht geleistet werden; die Töne dieses Instruments liegen von der Menschenstimme, die in der Kirchenmusik Hauptsache ist, weil in ihr eben die reine Hingabe des menschlichen Gemüths an das Göttliche zu ungetrübter Darstellung kommen soll, viel zu weit ab, sie klingen ihr gegenüber zu künstlich, nicht natürlich und einfach, nicht voll und weich genug, nicht so unmittelbar der fühlenden Brust des Menschen entströmend, wie z. B. Töne der Blasorgane; in dem Alleinauftreten der Menschen- stimme dagegen liegt eine Schmucklosigkeit, eine vor allem Prunk sich scheuende, ihn verschmähende Demuth und ernste Fassung, und dabei doch in Folge der Beseitigung alles Dessen, was das Hallen und Verhallen des Tones hindern könnte, eine Klarheit, welche die Entweltlichung des Geistes, die heilige Erhebung des Gemüths über alle Wirrnisse und alles Trübe der Endlichkeit, die in dieser Erhebung liegende Seligkeit und Frei- heit vortrefflich ausdrückt. Indeß folgt daraus nicht, daß, wie auch neuer- dings wieder von Verehrern altkatholischer Kirchenmusik angenommen wird, reine Vocalmusik ausschließlich kirchliche Form sei. Diese reine Idealität, diese Negativität gegen das Endliche ist doch nur die Eine Seite; das religiöse Gefühl hat auch ein positiveres und concreteres Verhältniß zu seinen Gegenständen, es bleibt nicht stehen oder vielmehr schweben in jenem Hinweg vom Endlichen zum Unendlichen, sondern es erhebt sich zu diesem wirklich hinauf als zu dem Absoluten, in welchem es die über Alles übergreifende, Alles ebenso ordnende und niederhaltende als auch wiederum tragende, hebende und versöhnende Macht des Guten hat, und von dessen Anschauung es daher auch wiederum zum Endlichen herabsteigt mit der versöhnten An- schauung seines Befaßtseins im Unendlichen. Diese Seite des religiösen Gefühls darf und muß auch zu ihrem Rechte kommen; das Erhabene, Große, Wohlthuende der Macht, Gerechtigkeit, Herablassung des Absoluten muß auch veranschaulicht, die Ehrfurcht, Begeisterung, Gemüthsberuhigung, Freude, die sich daran knüpft, auch ganz und voll ausgesprochen werden, wenn das religiöse Gefühl in der religiösen Musik sich selbst vollständig wiederfinden soll, und zwar ist dieß namentlich dann der Fall, wenn die Andacht sich an einzelne bestimmtere Momente des Verhältnisses zwischen dem Unend- lichen und Endlichen hält, wie in Psalmen an die Erhabenheit des Gött- lichen in der Natur, in Hymnen an das preiswürdige Walten des Göttli- chen in der Geschichte; wo die religiösen Empfindungen so lebendig, so concret werden, wie es hier der Fall ist, würde reine Vocalmusik zu ruhig und farblos, nicht metallreich genug, ja zu bescheiden, dem Gegenstand nicht seine volle Ehre anthuend erscheinen. Wir müssen also unterscheiden zwi- schen kirchlicher Musik überhaupt und heiliger Musik insbesondere; wo dieser Charakter des Heiligen rein hervortreten soll, müssen die Instrumente schwei- gen; wo aber hierüber zu positivern Empfindungen fortgegangen wird, da ist Füllung, Verstärkung und Charakterisirung durch Instrumentalbegleitung nicht nur gestattet, sondern nothwendig, obwohl in verschiedenen Graden, zunächst Orgel und Bläser, Violinen erst dann, wenn ein kirchliches Musik- werk überhaupt und in jeder Beziehung so umfassend von den mannigfal- tigen Mitteln der Tonkunst Gebrauch macht, daß auch die Mitwirkung dieser Streichinstrumente in dem großen Chore preisender Stimmen nicht mehr störend, sondern vielmehr als Erhöhung des Totaleindrucks willkommen ist. — Ihren Gipfel erreicht die kirchliche Musik in größeren Compositionen, welche die Eigenthümlichkeiten der Cantate, Motette u. s. w. in sich vereinigen und so zum Aussprechen des gesammten religiösen Inhalts in seiner ganzen Höhe und Weite fortschreiten, wie dieß in der christlichen Messe geschieht. Sowohl die gewöhnliche Messe als das Requiem, das dem Ganzen nur eine engere Beziehung auf die Persönlichkeit des einzelnen Individuums gibt, stellen einen Cyclus von Kirchengesängen dar, welche den religiösen Inhalt ebenso sehr in seiner objectiv fixirten Bestimmtheit als in seiner unmittelbaren Bedeutung für die Menschheit, als Gegenstand der Gefühle unbedingter Ehrfurcht und Dankbarkeit, unbedingten Sehnens und Ver- trauens zur Anschauung bringen. In der Messe, als dem Mittelpunkt des Cultus, treten das Göttliche und Menschliche in ihrem ganzen absoluten Unterschiede einander entgegen und ebenso als absolut sich einigende zusam- men; es ist die Feier der Transscendenz des Unendlichen und seiner Imma- nenz im Endlichen, des Gegensatzes zwischen beiden und seiner ewigen Auf- hebung zumal, und so vereinigt sie die religiösen Grundgefühle des bangen Bewußtseins der Endlichkeit und des versöhnenden Bewußtseins der Auf- hebung der Endlichkeit zur Gemeinschaft mit dem Unendlichen unmittelbar in sich, das religiöse Gefühl durchläuft in ihr alle Stadien des Processes, in dem es sich bewegt, Andacht überhaupt, Furcht und Niedergeschlagenheit, unendliche Gewißheit der Versöhnung. Die Messe ist so nicht blos nach der Seite ihres tiefen und ergreifenden Gefühlsinhalts, sondern auch durch den in ihr vorhandenen Fortgang und Fortschritt, durch die innere Be- wegung von einem Momente zum andern, die sich schließlich in die abso- lute Beruhigtheit, in das absolute Erfülltsein des Gemüths vom Versöh- nungsbewußtsein auflöst, durchaus musikalisch; sie bietet der Tonkunst den trefflichsten Anlaß zur Aufbietung aller melodischen, harmonischen, rhyth- mischen Mittel, die ihr zu Gebote stehen; sie kann den ruhigern, die Unter- schiede und Gegensätze weniger zur Entfaltung bringenden einfach harmo- nischmelodischen Typus, ebenso aber zugleich mit Hülfe des Rhythmus auch eine bewegtere, reicher entwickelte Haltung annehmen, indem im ersten Falle die passivere Gefühlshingabe, im zweiten eine activere Form der Religiosität zu Grund liegt, welche sowohl von der Entzweiung des Endlichen mit dem Unendlichen als von der Vollkommenheit der Versöhnung zwischen beiden und der Höhe, auf welche durch sie das Subject gestellt ist, ein energischeres, schärferes und lebendigeres Bewußtsein hat. In der Messe, weil sie den tiefsten und den ergreifendsten Gefühlsinhalt hat, erreicht die Vocalmusik ihre Vollendung sowohl nach der Seite reiner Idealität als rücksichtlich innerer subjectiver Bewegtheit; beide Elemente, (allgemein künstlerische) Idealität und (spezifisch musikalische) Bewegtheit, treten hier im Großen zusammen, wie beim wirklich ausdrucksvollen Kunstliede im Kleinen, obwohl gewöhnlich unter Vorherrschen des einen oder andern Elementes. Auf diesem Unterschiede beruht auch die Anwendung oder Nichtanwendung der Instru- mentalmusik; sie fehlt mit Recht, wenn die Messe eine rein idealische, hin- gebende Gefühlsmusik ist, sie ist aber nothwendig, wenn die subjectivactivere Frömmigkeitsform sich in ihr aussprechen soll, und sie ist auch für eine passivere Religiosität nicht überall entbehrlich, weil auch sie neben jener reinen Idealität auch stärkere Färbungen des Ausdrucks ihrer Andachtsgefühle bedarf. Festhalten läßt sich, wie Thatsachen zeigen, der Ausschluß der Instrumentation auf die Dauer niemals; die idealische Vocalmusik kann nur die Eine Seite der Kirchenmusik bilden, nie die ganze, das Bedürfniß nach concreterer Tonfülle und Tonmalerei macht sich z. B. bei der Form des Requiems wegen der hier stattfindenden nachdrucksvollern Vergegen- ständlichung der ethischen Beziehungen zwischen dem Endlichen und Unend- lichen unabweisbar geltend, und auch im sonstigen Cultus verlangt es seine Berücksichtigung, da die Form der absoluten Idealität nur unter besondern Verhältnissen, bei besonders ernster Feierlichkeit die passende ist und bei steter Wiederholung auch einförmig und ermüdend würde. Mit der religiösen Musik, auf deren weitere historisch gegebene Formen (Antiphonien, Litaneien, Lamentationen u. s. w.) der Schluß des §. der Vollständigkeit wegen kurz hinweist, hat die Vocalmusik quantitativ und qualitativ ihre höchste Höhe erreicht; eine ihr verwandte „ethische Musik“ (vgl. S. 1003) würde, weil sie doch weniger transscendent wäre, der In- strumentalmusik mehr Umfang einräumen und daher in die dritte Haupt- gattung gehören, unter welche Oratorium und Oper fallen; wir gehen daher zunächst über zur Instrumentalmusik. β . Die Instrumentalmusik. §. 805. Die Körperwelt bietet der Musik eine Reihe von Organen an, welche der menschlichen Stimme in Bezug auf Weichheit, Innigkeit, Rundung des Tones nachstehen, aber sie, alle zusammengenommen, übertreffen nicht nur durch größere Freiheit der Handhabung, durch raschere Beweglichkeit, sondern auch in Bezug auf Umfang, Kraft, Intensität, Dehnbarkeit des Tons, sowie durch eine den verschiedenen Stimmungskreisen und Stylarten entsprechende Mannigfaltigkeit der Klangfarben. Am nächsten stehen in letzterer Rücksicht der Menschenstimme die Blasinstrumente , am fernsten diejenigen Saiteninstrumente , denen der Ton durch Anschlagen oder Reißen entlockt wird, wiederum weniger fern die Streichinstrumente , in denen der Begriff des „Instruments“ als eines allen künstlerischen Zwecken dienenden, vollkommen fügsamen Organes sich am vollständigsten realisirt. Durch Construction und Klangfarbe stehen die ver- schiedenen Gattungen und Arten der Instrumente zugleich in spezisischen Be- ziehungen zu den Hauptelementen der Musik, zu Melodie, Harmonie und Rhythmus. Von dem Wesen der Menschenstimme (das gerade durch seinen Contrast zu dem der Instrumente klar in’s Licht gesetzt und daher erst hier spezieller besprochen wird) gilt in Vergleich mit den äußern Musikorganen Dasselbe, was in §. 794 ff. von der Vocalmusik überhaupt gesagt wurde. Sie ist das singende, die Empfindung direct ausströmende, die Bewegungen des Innern in allen Graden, Stufen, Wechseln, Nüancen mit vollster Unmittel- barkeit und Wahrheit wiedergebende, bei aller Kraft weich-innig dem Gefühl sich anschmiegende Organ, das zugleich durch die eigenthümliche Rundung und Klarheit seines Tones, welcher das eigentlich Scharfe, Spitze, Dünne, Dumpfe fern bleibt, das unmittelbare Abbild der ganz und voll von einer Empfindung ergriffenen und sie rückhaltslos, offen und frei in harmonischem Schmelz ausströmenden Seele darstellt; nur ist sie andrerseits rücksichtlich des Umfangs, der Tonstärke, der leichtern und feinern Beweglichkeit auch wiederum beschränkt und gebunden durch die natürliche Organisation und zudem trotz der Mannigfaltigkeit des Klanges der verschiedenen Stimmlagen und der individuellen Stimmeigenthümlichkeiten zu sehr stets sich selbst gleich, zu einartig, als daß sie das alleinige Musikorgan bilden könnte; die Stimme ist das einer großen Kraft, bis zu einem gewissen Grad einer intensiven Schärfung sowie einer lebendigen Volubilität und eines mannigfach charak- teristischen Ausdrucks wohl fähige, im Ganzen aber doch einfache und „einfach schöne“ unter den Musikorganen. Merkwürdig ist es nun, wie die Instrumente die Eigenthümlichkeit der Menschenstimme quantitativ und qualitativ theils weiter führen, theils ergänzen. Sie thun zu ihr nicht blos hinzu, was ihr fehlt in Bezug auf frei figurirende Beweglichkeit, Umfang, Stärke, Gewalt, elastische, scharf einschneidende Intensität, langes, energisch gedrungenes, dehnendes, an- und abschwellendes Aushalten des Tones, sondern sie bringen auch eine Mannigfaltigkeit von Klangfarben herbei, deren jede ihre eigene Bedeutung hat und die ebenso ganz oder theilweise zusammengenommen zu den verschiedenartigsten und wirksamsten Combina- tionen Gelegenheit geben. Diese Klangfarben sind in den verschiedenen Eigenschaften der Menschenstimme bereits auch wie im Keime vorgebildet; aber sie treten erst in den Instrumenten ganz heraus, und zwar dieß so, daß die eine Art derselben der Stimme noch näher steht, nur sie selbst zu reproduciren scheint, eine zweite dagegen sich entschieden von ihr entfernt, eine dritte endlich, in welcher die Instrumentalmusik ihre höchste Vollendung erreicht, ihr des Gegensatzes gegen sie ungeachtet sich wiederum wesentlich annähert. — Die Betrachtung der musikalischen Instrumente, zu der wir hiemit übergehen, führt namentlich auf das Ergebniß, daß nicht nur ihrer Gliederung in Hauptgattungen die einfachen Unterschiede des Subjectiven, Objectiven, Subjectivobjectiven zu Grund liegen, sondern auch die Unter- arten der verschiedenen Klassen, in bemerkenswerther Uebereinstimmung, nach den verschiedenen Verhältnissen des Subjectiven und Objectiven sich bestimmen; es ist eine Systematik contrastirender Wechselergänzung und verwandtschaft- licher Analogie in dieser scheinbar ganz zufällig zusammengewürfelten In- strumentenwelt, welche beinahe überrascht, da sie sich ganz ungesucht aufdrängt. 1. Die erste der im §. angegebenen drei Hauptgattungen bilden die Blasinstrumente . In ihnen ist, wie in der Stimme, der Ton ein Hauch, der direct aus dem Innern kommt, und darum sind sie ihr noch auf’s Engste verwandt; sie setzen, ähnlich wie das Stimmorgan, eine in festem, und zwar cylindrischem Raume, jedoch nicht zu schmal und eng ein- geschlossene, aus ihm (in der Regel) frei herausschwingende Luftsäule in Bewegung, und sie haben daher wie jenes den runden, vollen, hellen, weichern Ton, wie er sowohl der Construction des Instruments als der Natur des Elements (der Luftsäule) entspricht; sie schallen und hallen einer- seits nicht dermaaßen frei wie Schlag- und Reißinstrumente, sie „tönen“ andrerseits nicht so gebunden und gedämpft wie die Streichorgane, sondern sie „klingen“ geschlossen und hell zugleich. Dieß Alles jedoch wiederum mit mannigfaltigsten Unterschieden, indem namentlich die Rohrblasorgane von den Blechinstrumenten sich sehr wesentlich unterscheiden. Haucht die Menschen- stimme in der Regel einfach ihre Töne aus, so thun am ähnlichsten Dasselbe die Pfeife und die Flöte . Ein Luftstrom wird in den geradlinig geformten, fest mit Holz oder Metall umschlossenen, meist runden, weitern oder engern, aber nie so sehr, daß ein eigentlich acuter Ton entstände, schmalen Raum einfach hineingehaucht und strömt aus ihm frei wieder aus; so entsteht ein immer geschlossener und gerundeter, in der Tiefe allerdings dumpferer, in der Höhe allerdings schärferer, aber wesentlich doch einfach heller, mühelos weicher, spannungsfreier, milder Ton, nicht eben sehr scharf, intensiv, charakter- und bedeutungsvoll, sondern im Verhältniß zu andern weniger besagend (daher das Cherubini zugeschriebene Wort, daß etwas noch ennuyiren- der sei als Eine Flöte, nämlich zwei), aber lieblich, zart, rührend, elegisch, ideal durch ihre gleichsam unkörperliche Weichheit; „unser Geist“, läßt der Dichter sie sagen, „ist himmelblau, führt Dich in die blaue Ferne, zarte Klänge locken Dich im Gemisch von andern Tönen, lieblich sprechen wir hinein, wenn die andern munter singen, deuten blaue Berge, Wolken, lieben Himmel sanft Dir an, wie der letzte leise Grund hinter grünen frischen Bäumen“; weniger direct gilt dieß Alles von der unfeinern Pfeife, von dem lustig schrillenden Piccolo, aber es findet auch auf sie seine An- wendung, auch sie haben das Helle und auch das Weiche der ungehemmt singenden Menschenstimme. — Die Einseitigkeit der Flöte, die an’s Charak- terlose streifende Rundung und Weichheit, verlangt einen Gegensatz; neben dem Idealen und einfach Gefälligen muß auch das Subjective, das Charak- teristische, Ausdrucksreiche, Scharfe, Naturalistische vertreten sein; dieß bietet sich dar in der Oboe . In ihr ist die Erzeugung und Qualität des Tones eine ganz andere; der Luftstrom muß durch ein zusammengepreßt vibriren- des Mundstück hindurch; damit wird ihm das Runde, Flüssige, Ruhige des Flötenklanges genommen, er wird gepreßt und zitternd und erhält zugleich den Charakter eines theils materiell getrübtern, theils dünnern und spitzern Tones, vergleichbar einem durch die einander genäherten Lippen mehr her- vorgeblasenen, herausgedrückten als frei herausgehauchten und durch diese Beengung des Luftstromes der idealen Klanghelligkeit schon ziemlich beraubten, näselnd gewordenen Tones. Die Oboe „klingt“ auch noch, aber nicht mehr mit der gesangverwandten Unmittelbarkeit der Flöte, sondern mit einem er- heblichen Zusatz von näselnder Bedecktheit und einschneidender Schärfe, sie ist in der Tiefe kräftig, hart, schnarrend, schreiend, in der Höhe Dasselbe, nur dünner und spitzer und daher hier auch neckisch, humoristisch, in den mittlern Lagen allerdings von zarter und feiner Eindringlichkeit, indem hier der Ton sich doch erweicht und erhellt und dabei durch die deßungeachtet bleibende Schärfe und Bedecktheit eine ganz eigenthümliche, schmelzende, auflösende, schmeichelnde, geheim ergreifende, gemütherregende Farbe gewinnt; „ungewiß schreit’ ich voran, Seele, willst Du mit mir geh’n? auf, betritt die dunkle Bahn, wundervolles Land zu seh’n: Licht zieht freundlich uns voran, und es folgt auf grünen Matten hinter uns der braune Schatten.“ Die Leidenschaft, die Liebe, die bange Erwartung, die tiefe Sehnsucht, der wehthuende Schmerz, die herzzerreißende Klage sprechen aus diesem allerdings am meisten charakteristischen und ausdrucksreichen unter den der Menschen- stimme näher verwandten Instrumenten. Sofern die Oboe aber doch unter diesen bereits von der Menschenstimme am weitesten abliegt, ist es bezeichnend, daß sie mit den die Töne ebenso verdünnenden als dämpfend bindenden Streichinstrumenten eine unverkennbare Verwandtschaft hat; sie steht zur Flöte in einem analogen Verhältniß, wie die Violine zur Stimme. Einen ähnlichen bedeckten und gedämpften, aber dabei vollern, weichern Ton zeigt das Fagott , für das Weh- und Schwermüthige, ebenso aber durch seine wie Gutmüthigkeit sich ausnehmende Unbeholfenheit und Schwerbeweglichkeit, sowie durch seinen in den meisten Lagen nicht feinen, leicht zur Annäherung an’s Grunzen zu bringenden Ton auch für den Humor, sonst namentlich zu intensiver, tondehnender Verstärkung anderer Instrumentalbässe sehr geeignet. Gleichfalls weniger einfach und frei als in die Flöte strömt die Luftmasse in die Clarinette ein; ihr offeneres Mundstück wie ihr sonstiger Bau begünstigt aber doch einen weit vollern, breitern, sozusagen fettern Ton als der der Pfeifen- wie der Oboeninstrumente. Der Luftstrom breitet sich zwar auch hier nur allmälig von dem Mundstück, das mit gepreßterem Hauch angeblasen wird, in die breitere Röhre aus und entspricht hiemit wiederum nicht den einfach hauchenden, sondern den gepreßter sich hervordrängenden Tönen der Menschenstimme, auch er erhält etwas Zitterndes, Bebendes durch den hierauf eingerichteten beweglichen Theil des Mundstücks; aber er ist doch lange nicht so geklemmt, beengt, bedeckt, getrübt wie der Oboenton, er ist runder, heller, voller und freier. Auf dieser vermittelnden Vereinigung des nur weit vollern und fettern Flötentones und des gepreßtern, bebendern Oboentons beruht die Eigenthümlichkeit der Clarinetteninstrumente. Sie stehen am höchsten unter den Rohrblasorganen; zwar weniger silberhelle Klarheit, aber Weichheit, jedoch eine weit gesättigtere, vollere, männlichere und zugleich innerlich bewegtere Weichheit steht ihnen zu Gebot, sie haben etwas Großartigeres und Bedeutsameres durch den mit kräftiger Bestimmt- heit strahlenförmig sich expandirenden, intensivvollen Ton, der daher auch zum kräftig und derb Lustigen sich gut eignet, sie haben etwas wahrhaft Zartes und Inniges ohne Schwäche und ohne das extrem-subjective Sen- timent der Oboe, sie haben eine ganz und voll, unabgeschwächt und doch ungezwungen, nicht zu subjectiv drängend und spannend sich gebende Herz- lichkeit, sie entsprechen, wie die Flöte dem leichtern Sopran, graduell und qualitativ dem in schöner zarter Fülle sich aussprechenden Alt der Menschen- stimme, auch da, wo sie (wie Baßclarinette und Bassethorn) in der Scala noch tiefer hinabgehen, sie klingen auch hier kräftig weich und rund mit einem heranschwellenden Ernst, der sie in dieser Lage für das Schreckhafte, Ahnungsvolle sehr geeignet macht; die Clarinetteninstrumente können wegen ihres fetten Tons am ehesten zum Naturalistischen, Niedrigkomischen gebraucht oder zum Gemeinen mißbraucht, aber wegen ihrer sonstigen Eigenthümlich- keiten zum schönsten, reinsten, wahrhaftesten Ausdruck tief bewegter, in unumwundener Aeußerung heraustretender Herzensgefühle verwendet werden. Aus der gegebenen Charakterisirung geht zugleich hervor, daß die Rohrblas- instrumente, wie die Stimme, wesentlich melodische Organe sind; sie können zwar natürlich, wie diese, auch harmonisch wirken, aber sie haben nicht nur so viel Volubilität, um zur Melodie brauchbar, sondern auch eine so aus- gesprochene Rundung, Weichheit, Klarheit, Eindringlichkeit, einen solchen Fluß der Töne, um gerade für die Melodie vor Allem geeignet zu sein, sie sind vorzugsweise und mehr als alle andern subjective Singinstrumente. Wenn die Menschenstimme hie und da nicht blos Töne aushaucht, herauspreßt und herausdrückt, sondern auch heftiger in sich erbebt und mit der sei es nun tief ergreifenden oder energisch niederschmetternden Gewalt dieses innern Erbebens sich vernehmen läßt, so entsprechen ihr nach dieser Seite die Blechinstrumente , nur mit der nähern Bestimmung, daß sie dieses Erbeben auch in einen Ausdruck des unendlich sanften und doch von innerlichster Ergriffenheit zeugenden Durchzittertseins umzuwandeln im Stande sind. Schmetternde, jubelnde, tief dröhnende, mit schwerem Gewicht auf- fallende Kraft, Fülle und Breite des Klanges, zwar auch nicht vollkommen klar, sondern in einen Flor des Helldunkels gehüllt, jedoch befreit von dem Gebundenen des Klanges der Rohrinstrumente, von der fettigen Weichheit der Clarinette, von der spitzen Eindringlichkeit der Oboe und damit erhoben zu unsagbarer Idealität und zugleich verbunden mit jener nervös durch- zitterten Erregtheit macht das Eigenthümliche dieser Instrumente aus, sie sind die subjectiv innerlichsten, aber das Subjective am meisten zu vollem objectivem Heraustreten bringenden Instrumente. Von den stark zusammen- gepreßten Lippen aus voller Brust mit intensiver oder an sich haltender Kraft, heftig oder sanft, in die nicht mehr starre, sondern erregt mit- vibrirende, lange, gewundene Metallröhre hineingetrieben, in ihr circulirend, sie erbeben machend drängt sich der Luftstrom stark oder mild erschütternd aus ihr hervor, zwar durch das miterregte Material dunkel schattirt, aber voll, metallreich, weithin hallend; das energisch Vibrirende, das dem dürren Holze und der festen Metallröhre nicht abzugewinnen war, wird hier endlich Herr, die Materie wird besiegt, zum Mitklingen genöthigt; der Ton auf höchster Potenz, als seele- und weltdurchzitternde, jetzt mit schmetternder Gewalt, jetzt mit wonnigem Erbeben an die Pforten des Gemüthes pochende Kraft ist endlich da, er tritt an uns heran mit dem erhabenen Schauer des Unendlichen, das Alles vor sich nieder wirft, wie mit der süßen Lust herz- ergreifender Unwiderstehlichkeit. Sie singen nicht mehr, diese Metalltöne — sie verstehen sich wenigstens nur mit Widerstreben dazu, — sie haben hiefür eben zu viel Metall, zu schweres Gewicht, zu stark schmetternde Kraft, zu sehr in’s Weite gehenden Wiederhall, sie gleichen in dieser negativen Be- ziehung den tiefern Stimmlagen, die auch weniger beweglich sind, sie haben einen Klang, bei dem der Ton schon für sich ein Ganzes und Volles ist, nicht aber erst in formen- und figurenreicher Beweglichkeit wirksam wird, sie eignen sich ebendamit entschieden entweder zu einzelnen kraftvollern Stößen oder zu einfachern Fortgängen, Hebungen, Sprüngen, welche nur Hauptintervalle intoniren mit Uebergehung der Zwischenglieder, oder zu nachdrücklichem Wiederholen und gewichtvollem Aushalten einzelner Klang- stufen und Zusammenklänge, nicht aber zu wirklicher Melodie, sie paßten dazu nicht, selbst wenn sie keine von selbst davon abmahnende technische Schwierigkeiten in den Weg legten, sie sind wesentlich ausfüllende Instru- mente, sowohl in dem Sinne, daß die Füllung, Verstärkung, Vertiefung, Färbung und Weichheit, welche die Harmonie in die Tonbewegung zu bringen hat, ganz vorzugsweise ihnen zufällt, als auch in dem weitern, daß sie da eintreten, wo noch nicht oder nicht mehr fließend bewegliche Melodie, sondern Anschlagen oder Aushalten einzelner Töne, Tongänge, Accorde beabsichtigt wird. Das bei aller Tonfülle sanfteste und gemüth- weichste, das am meisten romantische Blechinstrument ist das Horn , welches ebendarum trotz seines weiten Abstands von der Flöte doch dieselbe Stelle innerhalb seiner Gattung einnimmt wie diese in der ihrigen. Das ganze und volle Wiederklingen der Empfindung im Innern des Gemüths, nicht das Zerfließen in Gefühle, das der Oboe zufällt, sondern das tiefe, un- nennbar ergreifende, aber nicht sinnlich schwache Durchbewegtsein von etwas, kurz die ideale Gemüthsbewegung und Gemüthsstimmung, welcher Art sie nun auch im Einzelnen sei, gehört diesem Instrumente an, in welchem zuerst die Instrumentalmusik ein spezifisch ihrem Charakter (S. 987) entsprechen- des, die ganze Gemüthsweite, nicht das Einzelgefühl ausdrückendes Organ erhält; wie die Flöte noch mehr stimmenartig das einfache Gefühl des Herzens in kindlich naiver Weise ausspricht, so thut es das Horn mit der tiefern Gemüthsstimmung in ernstdurchdrungener, bewegterer, aber allerdings in ähnlich treuherziger Art, weil so ganz und gar nichts Zurückhaltendes in ihm, sondern der ganze, reine, volle Erguß und Aushall des Tones sein Wesen ist; sein Ton trägt eben dieß, daß er aus voller Brust kommt, an sich und ist eben dadurch so ganz eigenthümlich gemüthreicher Natur. Männlicher, heller und zugleich wie die Oboe schärfer, spitziger, subjectiver als das Horn ist die Trompete ; sie repräsentirt vorzugsweise die Kraft, das Siegesgewisse, Schwunghafte, Gehobene, Eindringendenergische, sie ist nicht zunächst für das Ernste und Weiche, sondern für Töne des Muthes und Triumphes, der Freude und Freiheit vorhanden; aber auch sie hat doch nebendem eine wesentliche Beziehung zum Gemüth, sie ist auch schmetternd, erbebenmachend, sie hat auch das romantische, in weite Fernen winkende Austönen des Klanges, sowie sein offenes Heraus- und Herantreten, und sie kann daher auch für ruhigere, innigere, nur nicht eben gerade sentimen- tale Herzensempfindungen höchst wirksam angewendet werden, wie z. B. in dem schönen Andante der kleinern C dur -Symphonie Mozart’s. Weniger äußerlich schmetternd, aber um so intensiver erschütternd, gehaltener, tiefer, nachdrücklicher, breitern, vollern Klanges ist die Posaune ; sie ist weder so empfindsam wie das Horn noch so subjectiv energisch wie die Trompete, sie hat (wie die Clarinetteninstrumente) einen vermittelnden Charakter, eine das subjective Moment weniger durchhören lassende, zudem hauptsächlich langgezogene Töne begünstigende Spielart, einen weder sanft hallenden noch scharf stoßenden, sondern wieder etwas mehr gebundenen, straffen, ruhigen, aber gedrungenen mächtigen Klang; durch diese an sich haltende Ruhe im Verein mit ihrer Nachdrücklichkeit und Tonfülle hat sie eine Hoheit, Pracht, Majestät, Feierlichkeit, einen tiefen, ergreifenden Ernst, der auch in den höhern Lagen bleibt, so daß sie das idealste und in der Idealität zugleich effectreichste aller Instrumente ist, das freilich nur da diesem seinem Charakter gemäß wirkt, wo es nicht äußerlich zu bloßem Klangeffect gemißbraucht wird. Jeder Styl und jeder Stimmungskreis hat ein ihm eigenthümlich entsprechendes Instrument, aber vergeblich ist es deßungeachtet, durch das Instrument allein einer Tonbewegung einen Ausdruck und Charakter, sei es nun der Hoheit oder der Kraft oder der wahrhaft gefühlvollen Weichheit verleihen zu wollen; das Instrument macht den Ausdruck nur vollständig und vollkommen, aber es bleibt unwirksam, wo der musikalische Gedanke mit dem durch das Instrument beabsichtigten Ausdruck im Mißverhältniß oder gar im Widerspruche steht. 2. Die directe Verwandtschaft mit der Menschenstimme trat bei den Blechinstrumenten bereits entschieden zurück, sie greifen über das, was der Stimme möglich ist, schon sehr weit hinaus, sie reproduciren sie nicht mehr, sondern ergänzen sie, obwohl wir auch in ihnen eine gewisse Analogie mit ihr nicht verkennen konnten. In ähnlicher Weise verhält es sich nun mit den durch Schlagen oder Reißen in Bewegung gesetzten Saiteninstru- menten oder den Lautinstrumenten . Bei ihnen ist der Ton ganz und gar nicht mehr ein Hauch und nicht mehr ein innerhalb des Hauches beschlossener, mit ihm entstehender, dauernder und vergehender Klang, sondern er ist Product eines mehr oder weniger intensiven Druckes und Stoßes und ein nach demselben frei forttönender, in’s Weite sich verlierender Laut , wie schon bei den Blechinstrumenten dieses vom Instrument sich mehr ent- bindende Klingen und Hallen als spezifische Eigenthümlichkeit hervortritt. Stoß und schneller Druck, Laut stehen auch der Stimme zu Gebot, aber nicht (selbst in eingeschlossenem Raume nicht) dieses gleichweithingehende selbständige Forthallen, dieses sich rings nach allen Seiten Verbreiten, dieses Nachtönen des in keine (Mund-) Höhle und Röhre eingeschlossenen, sondern in freiem Raum erzeugten, blos in einer resonirenden Basis gefangenen, concentrirten und verstärkten, keineswegs aber in ihr zurückgehaltenen Tones. Stoß oder Schlag und Riß auf der einen, freies Vibriren und Verhallen auf der andern Seite macht die Eigenthümlichkeit dieser Instrumente aus, die natürlich auch dann nicht aufgehoben wird, wenn durch angebrachte Dämpfer das Fortvibriren auf möglichst kurze Zeit beschränkt wird, wie beim Clavier, wo die allerdings (in den Körper des ganzen Instruments) schon wieder mehr eingeschlossenen Töne ohne solche Vorrichtungen sich unter einander vermischen würden. Beide Merkmale, die stoßweise Entstehung und das freie Verhallen nach allen Seiten hin widersprechen einander in gewisser Beziehung, ergänzen sich aber auch wieder. Durch die stoßweise Entstehung sind die Töne selbst eigentlich blos Stöße, augenblicklich ent- stehende und ebenso augenblicklich wieder aufgehobene „Laute,“ sofern nur im Augenblick des Stoßes und Risses selbst die Straffheit der Saite, welche sie haben muß, um schnell vibriren zu können, entschieden überwunden, ein distincter Klang hervorgebracht wird; das was nachher von diesem Laute noch forttönt, ist kein distincter Klang mehr, wie z. B. ein ausgehaltener Hornton, sondern ein weit weniger bestimmtes und zudem mit der stetigen Abnahme der Weiten der Schwingungen selbst jeden Moment schwächer werdendes Tönen, und so scheinen denn diese Saiteninstrumente wesentlich Instrumente des kurzen, distincten, articulirten Lautes und eben nur auf diesen und was mit ihm sich erreichen läßt angewiesen zu sein. Verhielte es sich wirklich ausschließlich so, dann wäre dieses Forttönen blos ein stö- rendes, der Distinctheit der Laute feindliches Element, das man um jeden Preis ganz zu beseitigen suchen müßte. In der That, der wohlthuende Eindruck eines aus ziemlicher Ferne gehörten Clavierspiels, beruht er nicht darauf, daß wir, da die Laute rein, ohne alle Spur von mitsummenden Nebentönen und somit in voller gefälliger Klarheit zu hören bekommen? Allein genauer betrachtet gilt dieß doch nur von den schnell nach einander gespielten Tönen; bei langsamerer Bewegung ist ein längeres, nicht zu rasch verklingendes Forttönen unentbehrlich und verleiht dem Ganzen doch erst neben der Distinctheit, die für sich allein zu spitz, klanglos und hart wäre, auch die Weichheit, die engere und fließendere Verbindung der Töne. Freilich ist es nicht eine so enge Verbindung, wie andere zum gleichförmigen Aus- halten und stetigen Ineinanderüberführen der Töne geeignete Instrumente sie haben, sondern eine Verbindung, die dadurch immer eine losere ist, daß der vorangehende Ton mehr oder weniger merklich bereits im Abschwellen begriffen ist, wenn der nächstfolgende eintritt; aber diese Art von Verbin- dung ist hier, bei diesen nur Laute erzeugenden Instrumenten eben die rechte, sie gibt ihnen die Zartheit zurück, die sie durch das Stoßweisetönen ver- lieren, sie schiebt zwischen die jedesmaligen Stöße oder zwischen die mit den Stößen hervortretenden schlechthin distincten Laute Momente des Verklingens, der Erweichung der Härte des Stoßes, des gleichsam Immateriellerwerdens des Klanges hinein. Der oben angeführte schöne Eindruck eines in der Ferne gehörten Claviers mag nebenbei auch dieß zu seiner Ursache haben, daß wir die Töne weniger deutlich als Stöße, sondern ätherischer, schwe- bender, als weiche, leichte Klänge vernehmen; so ist es aber auch sonst bei allen Instrumenten dieser Klasse, bei denen durch gehörige Resonanz für das Forttönen gesorgt ist; der harten Distinctheit des Stoßes, des Risses, der „Arsis“ (vgl. S. 904) tritt bei ihnen sogleich die Weichheit des nach dem Stoß durchaus frei, leicht, schwebend gewordenen und in diesem Fort- tönen immer mehr vers chwebenden Klanges entgegen oder vielmehr theils mildernd, theils contrastirend gegenüber, und damit haben nun diese Instru- mente eine ganz spezifische Eigenthümlichkeit; sie sind hart, stark, scharf, klar intonirend und weich austönend, verklingend zumal, sie sind glockenhell und romantisch in’s Weite verschwimmend, kräftig und zart zugleich. Und ebendeßwegen, weil sie neben dem Distinctmarkirenden auch das zart Ver- schwimmende haben, schließen sie auch das Forttönen schon angeschlagener Klänge nicht aus, sondern verwenden es zu eigenthümlicher Wirkung, sie umgeben durch dieses sich immer neu erzeugende Forttönen älterer Klänge die distincte Tonbewegung mit Schallwellen, in denen nichts Einzelnes mehr sich unterscheiden läßt, gleichsam mit einer duftig wehenden, das Ganze einhüllenden und doch durchsichtigen, lichten Schallatmosphäre, die sowohl den Eindruck der Fülle als der Verschmelzung, den Eindruck einer unbestimmt gewordenen und doch nach diesen beiden Seiten hin noch wirksamen Har- monie hervorbringt. Alle diese Eigenthümlichkeiten reflectiren sich nun in den verschiedenen Arten der Saiteninstrumente mit mehrfachen Modificationen. Die Schlagsaiteninstrumente , Lyra mit Plectrum, Hackbrett und Vischer ’s Aesthetik. 4. Band. 67 besonders Clavier, haben eine mildere, weniger hart und scharf articulirte Intonation, auch ein weniger volles Nachklingen, sie sind hiemit einerseits weicher und heller, runderen Klanges, andrerseits weniger hallend, weniger romantisch, nüchterner und ruhiger, sie entsprechen innerhalb ihrer Art wie- derum der Flöte. Um dieser größern Milde und Einfachheit willen sind sie weniger charakteristisch und ausdrucksvoll, aber um so universeller, objec- tiver, wozu auch ihre leichtere Handhabung mitwirkt, und so ist denn ge- rade das Clavier durch die Natur der Sache das Universalinstrument ge- worden, das von allen andern Musikorganen etwas an sich hat und sie gewissermaaßen ersetzen kann, weil es neben der scharfen Lautarticulation doch des Weichen, Gefälligen, Sanften fähig ist. Nicht so ist es bei den Saiteninstrumenten, denen der Ton durch Reißen entlockt wird. Zunächst treten uns hier, in ähnlicher Antithese zu den Schlagsaiteninstrumenten, wie Oboe zur Flöte, Trompete zum Horne, entgegen die eigentlichen Laut- instrumente, die Reißinstrumente mit stark widerstehenden und dünn lautenden Saiten (namentlich Metallsaiten), Cither, Guitarre, Mandoline u. s. w. Sie articuliren außerordentlich scharf, haben nach oben zu feine, spitze, unendlich distincte, nach unten harte, kräftig stoßende Töne, aber wenig Nachhall, sie sind eindringlich, aber das Weiche, Warme der Stimme und der Blasinstrumente fehlt, so lebendig sie auch besonders durch schnelles Hingleiten auf Accordtönen (Arpeggiren) auf Phantasie und Gemüth wirken können. Die Harfe dagegen hat durch ihren Bau und durch Material und Spannung ihrer Darmsaiten wieder einen nicht blos scharf articulirten, kräftigen, sondern auch einen weichern, vollern, frei, warm, romantisch nach allen Seiten hallenden Ton, der „Laut“ wird hier wieder zugleich „Klang,“ der in den untern Tönen großartig breit, in den mittlern gewichtvoll und anmuthig zugleich, in den obern mit sanfter Zartheit sich vernehmen läßt. Die Harfe hat unter den Lautinstrumenten dieselbe Stellung wie die Cla- rinetteninstrumente und Posaunen innerhalb ihrer Gattungen, sie ist erhaben, prächtig, seelenvoll, herzlich, innig, zugleich aber als scharf und leicht arti- culirendes, gleichsam punktirendes Lautorgan beweglich, munter, selbst spie- lend und neckisch, sie ist ein Instrument, das lange mit Unrecht zurücktreten mußte und das durch das idealische Verhallen seiner Töne namentlich re- ligiöser und ähnlicher Musik erst die wahrhaft feierlich, festlich bewegte Weihe gibt, soweit dieselbe durch instrumentale Begleitung erzielt werden soll. Indeß Eine Eigenschaft hat eben doch auch die Harfe mit allen Lautinstrumenten gemein: die höhere Ruhe, die tiefere Intensität des dehnbaren Tones und die engere Verbindung und Verschmelzung der Töne unter einander fehlt, es ist auf diesen Instrumenten kein directer Aushauch des Innern, kein energisches und tiefbewegtes Sichergießen, kein völliges Hineintreten der Empfindung in das Organ, keine Vermählung des Gefühls mit ihm mög- lich, weil die Töne nicht Stand halten, nicht an- und abgeschwellt, nicht mit der Continuität in einander übergeführt werden können, die ebenso reizend als für den Ausdruck des Gefühls, wo es in ungehemmtem Flusse sich bewegt, schlechthin unentbehrlich ist; die wahre Tiefe, die sinnige Innigkeit ist allen diesen Lautinstrumenten unerreichbar, weil sie weder das Hervor- quellen einer Erregung aus dem Innersten noch eben das ruhigsinnige Verweilen bei einem Gefühlsinhalt mit ihren leichten und schnell entfliehenden Tönen darzustellen im Stande sind, und sie erscheinen daher ausschließlich oder zu viel gebraucht allerdings oberflächlich, klingelnd und klimpernd; ganze und volle Musik ist nicht in ihnen, ihre Töne sind Klänge, die der Materie nur durch momentane Berührung entlockt sind, nicht aber durch beharrliches Hineinwirken (Blasen, Drücken) in sie abgewonnen werden, sie sind allerdings romantisch durch diese ihre Eigenschaft als flüchtiger „Berüh- rungstöne“ und ergreifend durch ihr eben hiemit gegebenes Verhallen, aber Metall, Gewicht, Energie haben sie nicht und können sie nur annäherungs- weise durch reiche Harmonie erreichen, wie dieß z. B. beim Clavier der Fall ist, sie sind schließlich doch blos das leichte Geschütz in der Heeresmasse des Orchesters, sie tönen am besten zu Romanzen, Balladen, Ständchen, und sie sind, auch wenn sie sich wie die Harfe zu höherer Feierlichkeit erheben, in ihrer ästhetischen Wirkung eben nur den Blumenkränzen zu vergleichen, deren saftige Farbenpracht zum festlichen Schmuck nothwendig gehört und ihn eben festlich macht, obwohl sie für sich allein nur ein flüchtiges Entzückt- werden durch den reichen und zarten Reiz der Pflanzenschönheit, nicht aber ein tieferes ästhetisches Interesse zu erregen vermögen. 3. Das den Blasinstrumenten versagte Scharfarticulirte, unendlich Zarte, Feine, Duftige der Lautinstrumente wird erhalten, aber zugleich mit der tiefinnerlichen Energie und Intensität, mit der Flüssigkeit und Wärme des Tones, die den Blasinstrumenten theils mit der Stimme gemeinsam, theils in erhöhtem Maaße ihnen allein eigen ist, wiederum vermählt in den Streichinstrumenten , der größten musikalischtechnischen Erfindung, die je gemacht worden ist. Sie sind reine Kunstwerke, während die übrigen nur veredelte, vergrößerte, verwandelte Naturinstrumente (Rohre, Kuhhörner, Muscheln, Sehnen) sind; die Application des Bogens auf die Saite mußte erst gefunden werden, mit dem Bogen hat die Musik weit mehr als mit dem weniger besagenden Plectrum oder Clavierhämmerchen den Zauberstab in die Hand genommen, durch den sie in vollster künstlerischer Freiheit der Materie nach Belieben die verschiedensten Töne und Klangfarben entlocken kann, welcher sie zu sprechendem Ausdruck der Empfindung bedarf. Die Freiheit des Künstlers, seine Emancipation vom Organe begann zwar schon in den Lautinstrumenten; während die geblasene Musik derselbe Aushauch ist wie die gesungene, so daß hier der Instrumentist mit seinem Organe 67* ganz verwachsen und in ähnlicher Weise von ihm abhängig ist wie von der Stimme, stehen der Kitharist und Clavicembalist bereits frei über dem- selben; aber diese Freiheit war hier erkauft durch eine zu groß werdende Trennung zwischen dem Subject und Object, zwischen dem Künstler und dem Organe, der Künstler konnte in das Organ nicht Alles hineinlegen, was er fühlte, das Organ blieb zu objectiv, zu spröde und kalt, es duldete seine Griffe und Risse, aber es antwortete ihm nur in gebrochenen Lauten, die, wenn sie auch schön und prachtvoll in’s Weite hallten, doch dem war- men Leben des Gemüths so wenig entsprachen, als in der Vocalmusik die gebrochene Sylbenrecitation es vermochte. Durch den Bogen soll es nun hiemit anders werden, durch ihn bekommt der Künstler das widerstrebende Organ ganz in seine Gewalt, aber allerdings dadurch, daß er auch selbst weniger gewaltsam verfährt, es nicht mehr martert durch Schläge, Risse und Kniffe — außer etwa hie und da zur Abwechslung, um das Instru- ment auch seine Fähigkeit, als Lautinstrument zu wirken (im pizzicato ), erproben zu lassen, — sondern sich dazu versteht, es blos zu streichen mit dem zart und weich sich anfühlenden Medium des elastisch-straffen, glatten Haarbündels, der die Saite mit ihrer rauhern Oberfläche durch sein Auf- undabziehen an ihr in fein vibrirende Bewegung versetzt, sie electrisirt, Funken ihr entlockt, ohne sie unsanft hinundherzustoßen, wie der fühllose Hammer des Clavierschlägers und der unbarmherzige Finger des Harfners es zu thun gewohnt sind. Die Poesie der äußern Erscheinung ist damit freilich weg, der freie, feierliche Anstand des kitharischen Apoll weicht der banausischen Handarbeit des jetzt bedächtigst hinundherfahrenden, jetzt eifrigst fuchtelnden Violinisten, welche seine Haltung kaum minder verunstaltet als das Flöten- spiel die jungfräulichen Gesichtszüge der Göttin Athena und nur wenn er zum Contrabasse greift ihm wiederum besser ansteht durch den gewaltigen Kampf mit dem brummenden Ungeheuer, das er mit ganzer Leibeskraft an- fassen und angreifen muß, um es zum Stehen und Reden zu bringen. Aber aus dem prosaischen Apparat entspringt um so reicher die Quelle einer ebenso zarten als gewaltigen und großartigen Poesie des Tones; denn er ermöglicht es dem Künstler, seinem Instrumente Alles abzugewinnen, was ein einzelnes musikalisches Organ überhaupt leisten kann. Qualitativ nämlich gestattet der Gebrauch des Bogens sowohl die schärfsten, spitzesten als die langgezogensten, gedehntesten Töne in ganz gleicher Vollkommenheit hervorzubringen und zudem die einzelnen auf einander folgenden Töne so eng zu verbinden, zu „schleifen,“ wie dieß auf keinem andern Instrument möglich ist. Der Bogen streicht schnell an und gleitet ebenso schnell wieder ab, damit erhalten wir die momentansten, feinsten oder auch stechendsten Laute; er bleibt liegen, geht nur langsam auf und ab, dadurch haben wir die Töne in unsrer Gewalt, der Zug des Armes hält länger aus als der des Athems, und so können wir beliebig dehnen, beliebig unter einen Bo- genzug eine größere oder kleinere Zahl von in einander geschleiften Einzel- tönen subsumiren; wie auf jenem raschen und spitzen Absetzen die Schärfe und Klarheit des Instruments beruht, so auf diesem Aushalten und Schleifen seine Fähigkeit, ebenso großartig gedehnt und ruhig als mit anmuthsvollstem, schmelzendstem, ausdrucksreichstem Fluß, mit jener Stetigkeit der Tonver- knüpfung zu wirken, die wir schon mehrfach als Hauptbedingung der mu- sikalischen Schönheit erkannten. Quantitativ und dynamisch sind die Vor- theile der Bogenführung gleich groß; das Spiel der Streichinstrumente ist das allein ganz gelenkige, von mechanischen Schwierigkeiten ganz befreite, soweit dieß überhaupt erreichbar ist. Nicht nur das schnelle Herumgreifen und Herumspringen in den mannigfaltigsten Intervallen, das beliebig rasche Aufundabgehen in der Leiter, sondern namentlich das in außerordentlicher Schnelligkeit wiederholte Anstreichen eines Tones oder abwechselnd zweier Töne, ein Hauptmittel zur Energie der Tonbewegung, steht den Streich- instrumenten zu; sie sind in dieser Beziehung die spezifisch rhythmischen Instrumente, und, sofern sie ebenso alle Mittel zum Vortrag jeder Art von Melodie, namentlich der künstlichern und verschlungenern Melodieweisen haben, auch die spezifisch „melodiösen,“ figurirenden Instrumente, wogegen Flöte und Genossen mehr einfach „melodische“ Organe sind. Die Bogen- führung gestattet ferner die größten Contraste und das feinste ausdrucks- vollste An- und Abschwellen zwischen Forte und Piano, sie gestattet kräftiges, absolut energisches Stoßen und Reißen, intensivste Erhöhung der Spann- kraft des Tones ebensogut, wie einen durchaus leichten, getragenen Vortrag, bei welchem aller Druck auf das Instrument so unhörbar wird, daß das Instrument selbst frei zu reden, der Ton des materiellen Elementes, das er von dem Druck her an sich hat, ganz entbunden in reiner zartester Idealität dahinzuschweben scheint; die Streichinstrumente sind nicht schon an sich spe- zifisch ausdrucksreich, wie die Blechinstrumente, aber sie werden es unter der Hand des Menschen, und sie gewähren die Möglichkeit zu einer weit mannigfaltigern Nüancirung des Ausdrucks, als jene sie zulassen. Durch alle diese Eigenschaften sind sie die vollkommenste Verwirklichung des We- sens der Instrumentalmusik in ihrem Unterschiede von der Vocalmusik, sie haben ganz die subjective Freiheit und am meisten die objectivmannigfaltige Gestaltungsfähigkeit, welche die erstere von der letztern unterscheidet. Durch ihre Distinctheit, Feinheit und Volubilität sowie durch ihre Spannkraft und gedrungene Energie stehen sie ebenso den übrigen Instrumenten gegenüber als diejenigen Organe, welche vorzugsweise sowohl die Stimmführung als die dirigirende Basis der Harmonie zu übernehmen, sowohl die äußerste bewegliche Spitze als den substantiellen Kern des Orchesters zu bilden und damit zugleich den Eindruck des zu subjectiv Weichen, Schmelzenden oder anderntheils des einseitig Klangvollen und Breiten von ihm abzuwehren haben, der durch das Vorherrschen der verschiedenen Gattungen von Blas- instrumenten entstehen würde. Auch innerhalb ihrer selbst besitzen sie eine sehr ausgesprochene Mannigfaltigkeit von Charaktereigenthümlichkeiten, durch welche sie vom übrigen Orchester gleichfalls als eigene, weit selbständigere Instrumentalgattung sich unterscheiden. In der Violine sind die Eigen- schaften der Streichorgane überhaupt am vollständigsten vereinigt, obwohl wegen der höhern Lage unter Vorherrschen des Scharfen und Spitzen, wie des Leichten und Beweglichen, des Weichen und Flüssigen, sowie mit einem Charakter größerer Helligkeit, der eben mit der Höhe und mit der Leichtig- keit dieses kurz- und dünnsaitigen Instruments gegeben ist. In der Viola wird, ähnlich wie bei den der Altregion angehörigen Blasinstrumenten, der Ton wie der Bau des Instruments schon schwerer, härter, weniger dünn und hell, auch bei sanftem Anstreichen kräftiger und gewichtiger, daher sie zur Violine durch alles dieses höchst reizend und ausdrucksvoll contrastiren kann. Bei dem Violoncell ist Haupteigenthümlichkeit das völlige Auf- hören der Helligkeit des Tones, seine völlige Bedecktheit; dieselbe schließt zwar eine bei starkem Anstreichen sich ergebende klangvollere Resonanz gar nicht aus, aber sie herrscht durchaus vor, sie gibt dem Instrument in höhern Lagen etwas fein Näselndes und damit etwas theils Liebliches, theils Hu- moristisches (das eben in dem Verdeckten, Zurückhaltenden, in dem sich gleichsam Versteckthalten des Tones liegt), in den mittlern und tiefern Lagen dagegen etwas gedämpft Ernstes, welches im Verein mit der immer auch vorhandenen ungemeinen Elasticität und Biegsamkeit des Tones auf dem Violoncell vorzugsweise das gemessen und doch sanft Intensive der Streich- organe hervortreten läßt. Der Contrabaß hat das Leichte, Weiche, Klangvollere, Bewegliche nicht mehr; er ist schwer zur Ansprache zu bringen, seine Töne lassen dieß deutlich erkennen, sie sind selber schwer, aber absolut intensiv, sie sind Töne, welche in Folge der sie erzeugenden herbern Friction etwas durchaus Gespanntes, Gedrungenes, Straffgezogenes, ebendamit aber etwas durchaus Energisches, Substantielles haben, sie sind einerseits wegen des schwer beweglichen Saitenkörpers materiell dumpf, andrerseits wegen des starken und entschiedenen Striches, welcher sie der stark bebenden Saite abpreßt, ungemein kraftvoll, erschütternd, weltbewegend mächtig, tiefernst und tiefsterregend, und dabei doch im Piano und mezzo Forte von einem ansprechenden feinen Zug, dem man das Kräftige wohl anmerkt, obwohl es ganz zurückzuweichen und sich im Dunkeln halten zu wollen scheint. Dieß die Kräfte und Tugenden des Streichquartetts, durch die es den kräf- tigsten und doch zugleich feinsten Theil des Gesammtchors der Instrumente bildet. — Ungerecht jedoch wäre es, wenn man eine Einseitigkeit verkennen wollte, die ihm anhängt und die ebendeßwegen seine Ergänzung durch andere Musikorgane fordert, ja in vielen Fällen es diesen geradezu in blos beglei- tender Stellung unterordnet. Der Ton der Streichinstrumente ist nämlich Alles, nur nicht voll, breit, hell (wiewohl relativ die Violine immer hell ist in Vergleich mit den übrigen); der Ton ist hier gefangen und gebunden nicht blos im resonirenden Körper des Instruments, sondern auch durch den Bogenstrich, der kein freies, hallendes Vibriren, kurz keinen eigentlichen Klang gestattet (außer bei schnellem, kräftigem, stark resonirendem Anstrich), der Ton ist in Folge hievon theils dünn, dünner noch als bei den Laut- instrumenten, bei denen er sich durch das Verhallen wieder expandirt, theils gedämpft, bedeckt, nicht hellklingend, es ist der eigentliche „Ton“ (vibrirende „Spannung“), aber auch der abstracte, heisere Ton, der zum klaren Laut und vollen Klang sich nicht fortbildet und daher der Menschenstimme doch wiederum sehr ferne steht. Inwiefern auch dieses Gedämpfte, Zurückgehaltene charakteristisch verwendet werden kann, wird die Betrachtung des Streich- quartetts zeigen; aber es ist doch auch ein Mangel, der bewirkt, daß bloßes Streichinstrumentenspiel bei längerem Hören einseitig dumpf, farblos, schat- tenhaft erscheint und eine Sehnsucht nach dem Hinzutreten der hellen, klaren, in lichten Farben spielenden Blasinstrumente erweckt. Aus demselben Grunde eignen sich die Streichorgane sehr gut zu einer in den Hintergrund zurück- tretenden Begleitung der Stimme, der Flöte und anderer klangreicherer In- strumente, sie stellen ihnen eine deutlich intonirende und doch stille, die Klar- heit der Melodie nicht beeinträchtigende Harmonie zur Seite, begeben sich aber hiemit in ein Verhältniß der Abhängigkeit und Unterordnung, das nicht möglich wäre, wenn nicht auch an ihnen eine Einseitigkeit, ein Mangel an Tonfülle haftete. An einer solchen Einseitigkeit darf es aber in der That keinem Instrumente fehlen, da sie sich sonst nicht gegenseitig zu Einem Ganzen ergänzen würden; wie die verschiedenen Regionen der Menschen- stimme jede ihr eigenthümlich Schönes und jede den übrigen gegenüber auch ihr Unzureichendes und Mangelhaftes haben (vgl. S. 850), das aber eben die Grundlage für ihre Vereinigung zu dem alle Stimmen in wirk- samen Rapport zu einander setzenden Ensemble oder Chore abgibt, so ist es auch bei den Instrumenten, sie sind das Gebiet, in welchem der Ton sich besondert, sich nach verschiedenen Richtungen hin vereinseitigt, aber dieß schließlich nur dazu, damit durch die Gegenüberstellung und Zusammenfassung dieser particularen und conträren Klänge die ganze, in ihre Unterschiede aus einander gelegte und sie zu lebendiger Wechselwirkung bringende Fülle der Tonwelt zu concreter Manifestation gelange. Auf eine vollständige Aufzählung auch untergeordneterer Instrumente (Serpent, Bombardon u. s. w.), sowie auf eine noch mehr in’s Einzelne gehende Charakteristik derselben, z. B. der verschiedenen Arten höherer und niederer Flöten, Clarinetten, Hörner, kann die musikalische Aesthetik sich nicht einlassen, da die allerdings auch hier sich ergebenden mannigfaltigen Klang- unterschiede auf die wesentlichen Verhältnisse der Instrumentengattungen zu einander keinen weitern Einfluß haben, und da sie zudem hauptsächlich auf der größern oder geringern Tonhöhe beruhen, von deren Bedeutung für den Klangcharakter schon in §. 768 und 773 die Rede war. §. 806. Aus den durch die Natur an die Hand gegebenen, der menschlichen Ein- zelstimme entsprechenden Musikorganen bildet die Kunst Instrumente zusammen- gesetzterer Art, welche das gleichartige Ertönenlassen mehrerer Stimmen ermög- lichen, und es entsteht so der weitere Unterschied zwischen monodischen, homophonen und mehrstimmigen, polyphonen Instrumenten ; die letztern unterscheiden sich selbst wieder (quantitativ) in einfach vielstimmige und in umfassendere Chorinstrumente, (dynamisch) in Instrumente relativer und absoluter Tonkraft und endlich (qualitativ) in solche von subjectiverem und von schlechthin objectivem Charakter, — hauptsächlich Clavier und Orgel . 1. Während die Blasorgane, welche §. 805 aufzählt, wie die Men- schenstimme monodisch sind, traten uns in den Saiteninstrumenten bereits vielstimmige Instrumente entgegen, am meisten in den Reißinstrumenten, deren neben einander ausgespannte, möglicherweise ziemlich zahlreiche Saiten ein gleichzeitiges Anschlagen mehrerer Töne gestatten, weniger schon wieder in den Streichinstrumenten, deren Tonschönheit, Ausdruck und Volubilität so entschieden durch monodische Führung der Melodieen und Gänge bedingt ist, daß auf ihnen schon das arpeggirende und noch mehr das mehrstim- mige Spiel, so kräftig es auch im Forte dreinreißt, nur als Ausnahme zur Anwendung kommt. Nicht nur mehrstimmig, sondern zugleich homo- phon ist dagegen das Clavier , dessen allgemeiner Klangcharakter schon besprochen ist. Es ist „Universalinstrument“ auch insofern, als es ein Neben- einanderspiel verschiedener, mehr oder weniger selbständiger Stimmen gestattet, wiewohl allerdings seine ganze Construction doch wieder zu einfach ist, als daß selbständige Stimmführung, eigentliche Polyphonie dem Clavierspiel vorzugsweise zufallen könnte; das Hauptgebiet desselben ist vielmehr die Vielstimmigkeit, die Polyphonie nur in freier, mit bloßer Vielstimmigkeit abwechselnder Anwendung (natürlich mit Ausnahme des Zusammenspiels mehrerer Individuen, von dem hier noch nicht die Rede ist). Das Clavier ist für blos melodische Musik nicht geeignet, weil es zu wenig fließende Verbindung und Verschmelzung der Töne zuläßt, es ist vielmehr hauptsäch- lich auf harmonisirte Melodie angewiesen; aber daraus folgt keineswegs, daß man es ganz als polyphones Instrument zu behandeln hätte. Die neuere Zeit mit ihrem Streben nach absoluter Ausbildung der einzelnen Musikzweige ist auch hier in ein ganz unnatürliches Extrem, in eine völlige Verkennung und Vermischung der Gattungen hineingerathen; „Orchestration des Claviers“, Erhebung desselben zu vollkommenster Polyphonie, ist das Ziel, das sich einer der geistvollsten Meister des modernen Clavierspiels gesteckt hat, während doch damit gerade die eigenthümliche Wirksamkeit und Schönheit dieses Instrumentes aufgehoben wird. Die wirkliche und aus- schließliche Durchführung des polyphonen Prinzips auf dem Clavier ist ein Irrthum, denn sie macht zur Hauptsache, was auf dem Clavier seiner Natur nach nur Nebensache sein kann, die Selbständigkeit neben oder über einander herlaufender Stimmen; Nebensache muß diese der Natur des Claviers gemäß immer sein, weil die Toncharaktere aller Regionen der Clavierscala doch zu gleichartig und die streng polyphone Spielart auf ihr doch zu gemacht und erkünstelt ist, als daß ein wahrhaft distinctes und ein naturgemäß erscheinendes Zusammenspielen selbständiger Stimmen hier durchführbar wäre. Harmonisirte Melodie, nicht in Melodieen zerlegte Harmonie ist das Feld des Clavierspiels, das Clavier ist Ensemble-, aber nicht Chorinstrument, es ist zu uniform, zu compact , als daß es anders denn als eine will- kürliche Zerreißung einer natürlichen Tönecontinuität erscheinen könnte, wenn fortwährend eigene, freie Stimmen in den verschiedenen Regionen seiner Scala einander gegenübertreten; es hat in diesen seinen Stimmregionen zu wenig streng geschiedene Klangfarben, als daß es klar und deutlich bliebe, wenn nicht Eine Prinzipalstimme dominirt, und weder es selbst noch die spielende Hand ist im Stande ein ungezwungenes Zusammenklingen beson- ders geführter Stimmen auf die Dauer zu ermöglichen. Man kann es daher nur beklagen, wenn man sieht, wie durch die „Orchestration“ des Claviers sein ursprünglicher Charakter und Eindruck verwischt, wie an die Stelle reich figurirter und entweder mit einfachen oder mit gleichfalls figu- renreichen (frei polyphonischen) Harmonieen zart oder kräftig begleiteter Melodie ein Gewebe von Melodieen und Läufen gesetzt wird, das uns als persönliche Virtuosität Bewunderung abnöthigen mag, aber die wahre Ton- fülle, Tonkraft und Tonklarheit preisgibt und den Charakter des Strebens nach Unmöglichem, des Uebergreifens über das natürlich Gebotene nicht verleugnen kann. Das Clavier ist polyphon, aber es ist polyphon in Un- terordnung unter das homophone Prinzip; das Clavier weist schon durch das schnelle Ausklingen seiner Töne darauf hin, daß es als Instrument des Tonnacheinanders, nicht des Tonmiteinanders behandelt werden will, außer soweit unter letzterem nicht wirklich polyphone Melodieensimultaneität, sondern ein bloßes Anschlagen harmonischer Nebentöne, Nebenfiguren, Neben- läufe u. s. w. verstanden wird. Durch den Versuch polyphon zu spielen, beraubt sich der Clavierspieler gerade des Hauptvortheils, den ihm dieses Instrument und die Applicatur der Hand auf ihm gewährt, des Vortheils in vollster Freiheit ein mannigfaltigst verstärktes und begleitetes Tonnacheinander her- vorzubringen; er begibt sich statt dessen hinein in ein Stimmen- und Läufe- gewirr, dem das klare Sichabheben der Einzelstimmen gegen einander, der klare melodiöse Umriß, die Freiheit der Bewegung abgeht. Die Mechanik thut beim Clavier alles Mögliche, um diese Freiheit des Spiels zu fördern, die Fingerübung desgleichen; aber die unrichtige Anschauung von der Be- stimmung des Claviers zu orchestrischer Polyphonie macht Alles wiederum vergeblich. Das Clavier ist wie die Violine ein subjectives, freies, der mannigfaltigsten Melodieenformen fähiges und dabei doch nicht einsam monodisches, sondern vieltöniges, vollstimmiges Instrument, es ergänzt das melodische Prinzip durch das harmonische, es ist eben dazu da, den melo- diösen Erguß nicht blos monodisch, sondern zugleich mit der vollen und wo es nöthig ist kräftigen harmonischen Begleitung sich vollziehen zu lassen, die Monodie mit der ganzen Fülle, Mannigfaltigkeit und Stärke von Neben- klängen, die sie um sich ganz, reich und intensiv auszusprechen bedarf, in ein Instrument niederlegen zu können; das Clavier ist wie die Arie, es bietet sich zunächst dar zum Aussprechen der Empfindung in klarem aber dabei mannigfaltigst gestaltetem melodischem Umriß, und es reicht hiezu zu- gleich die Instrumentalbegleitung dar, welche zur bewegtern Arie auch hin- zutreten muß, ihr aber doch stets untergeordnet bleibt. Die Unterordnung des harmonischen Prinzips unter das monodisch melodische ist allerdings eine andere als bei der orchesterbegleiteten Arie (oder dem von andern In- strumenten begleiteten homophonen Instrument), sie ist nämlich geringer als dort, sofern die Tonstärke und die Instrumentalklangfarbe der stimmführenden und der stimmbegleitenden Claviertöne die gleiche ist; daraus ergibt sich auf dem Clavier die Eigenthümlichkeit, daß Melodie und Harmonie weit weniger auseinandertreten, daß sie Einen Guß bilden, in welchem Alles gleichmäßig und fest an einander gedrängt zusammentönt; dieses Compacte, verbunden mit der Schlagkraft und der Helligkeit der Clavierlaute, trägt vor Allem dazu bei, diesem Instrument eine besondere, durch nichts Anderes zu ersetzende Stellung unter den Musikorganen anzuweisen. Aber gerade hieraus folgt wiederum das Obige, daß das Clavier die verschiedenen Stim- men zusammen, nicht aus einander halten, nicht zertrennen und zerstreuen darf, wenn es seinem Charakter getreu bleiben will; das Clavierspiel soll frei polyphon sein, es soll unermüdlich im Kleinen figuriren, nachahmen u. s. w., aber es muß doch die Homophonie obenanstellen, es muß nach dieser Seite hin Lied mit mannigfaltiger Begleitung sein, das von dem Prinzip frei monodischer Melodieentwicklung nicht abgeht. Zusammenspiel Mehrerer bewirkt wohl, daß die Polyphonie auch auf dem Clavier natür- licher wird, weil dadurch ein distincteres Auseinandertreten der Stimmen zu erreichen ist; aber auch da ist die Polyphonie immer etwas künstlich Hervorgebrachtes, das uns fremdartig anweht, weil sie das Compactgleich- förmige des Instruments vergeblich zu durchbrechen, das Eine und einfache Instrument vergeblich zum Orchester oder Chor zu erweitern sucht, und auch der Triumph des Zusammenspiels auf Einem oder mehrern Clavieren besteht somit doch darin, daß die Polyphonie nur als Durchgangsmoment gebraucht, im Uebrigen aber die wühlende Beweglichkeit der Finger und Hände dazu verwendet wird, dem Instrument eben jene Einheit reicher Melodie mit reicher Harmonie zu entlocken, in der sein eigenthümliches Wesen besteht. Durch diese compacte Einheit, welche Melodie und Harmonie auf’s Engste an einander kettet, sowie neben ihr durch die Distinctheit seiner Töne in ihrem Nacheinander, welche das allzu Weiche und Schmelzende von ihm abhält, hat das Clavier etwas Classisches , d. h. einestheils ein Befaßt- sein des Einzelnen im Ganzen des Zusammenklangs, das die besondern Stimmen nicht einseitig heraustreten läßt, anderntheils etwas gesund, hart Kräftiges, das wohl auch in’s Hölzerne ausarten kann und jedenfalls die höhere musikalische Feinheit vermissen läßt, das aber deßungeachtet einen wohlthuenden Contrast bildet zu dem Fließenden, Süßen, Nervenaufregenden der übrigen Instrumente, daher in dieser Hinsicht die Aufnahme von Clavier- stücken in Concerte psychologisch sehr gut begründet ist; wie frische erquick- liche Morgenluft weht es uns an, wenn auf Flötengetändel, Oboenliebelei, Hornromantik, Violingewimmer die präcisen, klaren, festen Klänge des Claviers an unser Ohr schlagen und uns eine Erholung gewähren von der subjectivern Musik, die wir dort zu hören bekamen. Das Clavier ist wohl, wie oben bemerkt wurde, subjectiv in dem Sinne, daß es das Instru- ment für freien Melodieerguß ist; aber es ist auch wiederum objectiv , es widersteht mit seiner kernigen Natur den zu feinen Nüancen der Em- pfindung, es ist antik; wie es Ein compactes Tonganzes gibt, so gibt es einfach in dieser oder jener Stärke anzuschlagende, nicht an- und abzu- schwellende oder gar tremulirende Töne, es sondert zwar die Töne nicht (wie die Violine durch ihre Gegenstriche) mit reflectirter Schärfe von einan- der, aber es setzt sie mit einfacher Klarheit und Ruhe von einander ab, ohne einem überzarten Ineinanderschleifen derselben Raum zu verstatten. Allein es ist klar, daß auch diese Classicität und Objectivität des Claviers verloren geht, wenn seine Stimmen zersplittert und in aufregende Gegen- überstellungen und Abwechslungen gebracht werden, und es kann daher als ein gutes Zeichen gelten, daß die Orchestration des Claviers doch wieder im Zurückweichen begriffen ist und eine classische Behandlung dieses ganz irrthümlich modernisirten Instruments wiederum Raum gewinnt. 2. Einem andern polyphonen Instrument gegenüber tritt das Clavier freilich wiederum auf die Seite der subjectiven Musikorgane theils durch seine leichtere und freiere Handhabung überhaupt, theils besonders durch den ausdrucksvollen Wechsel des Forte und Piano, den es seinem Spieler verstattet, sowie auch durch seine dabei doch wie bei allen bisher betrachteten Musikorganen durch das Maaß menschlich individueller Kraft beschränkte Tonstärke. Dieses Instrument ist die Orgel , welche mit weit größerer Fähigkeit für mannigfaltig polyphones Spiel eine ganz eigenthümliche Ge- walt des Tones und eine alle Einmischung des rein Subjectiven schlechthin von sich weisende Objectivität verbindet. Die Orgel ist wieder ein Pfeifen- instrument und damit ein Instrument der frei ein- und ausströmenden Luft, durch welche auch hier ein runder, wenigstens in den höhern Lagen heller, aber unscharfer, nicht eigentlich klarer und ein weniger als bei der Flöte dünner Ton entsteht, letzteres, weil die Pfeifen hier weiter, namentlich kegelförmig gebohrt sind, und weil wohl auch das weiche Metall dem Klange alles Distincte und Spitze benimmt. Der Klangfarbe nach steht somit die Orgel, wie alle Rohrinstrumente, der Menschenstimme sehr nahe; aber eigenthümlich ist ihr einmal dieß, daß die Luft in sie nicht gehaucht, sondern stark eingeblasen wird, sodann daß dieses durch einen Mechanismus bewirkte Einblasen ein schlechthin gleichförmiges ist, so daß der Ton beliebig ausgehalten werden kann, und so lang er dauert unabänderlich sich selbst gleich feststeht, sowie endlich dieß, daß hier dem Aushalten nicht wie bei andern Musikorganen das fließende Schleifen zur Seite steht, sondern die Töne durchaus discret einander ablösen, und zwar noch mehr als beim Clavier, bei welchem doch immer ein leiser Nachhall des eben verlassenen Tones neben dem neu an- geschlagenen forttönt. Auf diesen drei Momenten beruhen zunächst die zwei Haupteigenschaften der Orgel, ihre ideale, hohe durchgreifende Kraft und ihre elementarische, substantielle Objectivität. Ohne gerade eine besonders effectiv einschneidende Tonstärke zu haben, welche vielmehr bei der Orgel im Verhältniß zu den Massen, welche sie aufbietet, klein ist, weil ihr die durch- dringende Klarheit und Schärfe abgeht (s. S. 913), hat doch die Orgel eine Kraft , die allen andern Instrumenten schlechthin versagt ist; zur An- sprache wird sie vom Menschen gebracht, aber in Bewegung wird sie gesetzt nicht von beschränkter menschlicher Lungen- und Muskelkraft, sondern von einer bereitgehaltenen elastischen Luftmasse, die einmal frei gelassen mit dem intensiven, unwiderstehlichen Zuge einer entfesselten Naturkraft wirkt, neben welchem alle menschliche Kraftanstrengung als Null erscheint; wie eine man weiß nicht woher kommende, dem dunkeln Schooß weltbewegender Kräfte entstiegene, geisterhafte höhere Gewalt braust die vollgenommene Orgel, besonders in den Baßtönen, und auch wo nur einzelne, zartere Register erklingen, hat ihr Ton ein bestimmtes, von allem Schwanken und Oscilliren freies Auftreten, das den reinen Contrast bildet zu den nie dieser absoluten Sicherheit und Unwandelbarkeit fähigen Tönen anderer Organe; es ist ein Ideales, hereintretend in die gewöhnliche Realität, unbeirrt durch sie hin- durchschreitend, unbedingt über sie übergreifend, was aus der Orgel uns entgegenzutönen scheint. Verstärkt wird dieser Eindruck der Idealität durch das schlechthin Mühelose ihrer Töne, das mit ihrer Construction gegeben ist, es ist kein Aufwand subjectiver Anstrengung, kein bloßes Streben nach Kraft, sondern die reine, volle, in majestätischer Hoheit oder lieblicher Ruhe sich äußernde, sich objectiv darstellende Kraft selbst, daher eben das eigent- lich Hohe sowie das von allem Drängenden, Pathetischen durchaus freie, ruhig an uns herankommende Liebliche der Orgel vorzugsweise eigen ist. Allein auch abgesehen von der Kraft hat die Orgel etwas Außergewöhn- liches, Transscendentobjectives . Es vollendet sich erst in ihr der Begriff des Instruments als objectiven Musikorgans in seinem reinen Ge- gensatze zur Menschenstimme; die Blasinstrumente sind eigentlich nur Er- weiterungen und Variationen der letztern selbst, die Saiteninstrumente haben mit ihr dieß ganz gemein, daß ihr Ton durch ein Ansetzen eines vom menschlichen Willen geleiteten Organes, wie dort des Mundes, so hier der Hand, entsteht; in der Orgel aber tönt endlich die, freilich durch menschliche Kunst dafür zubereitete, Materie selbst, ihre Töne sind nicht mehr subjectiv, in ihr erklingt Weltstoff durch Weltkraft in Bewegung gesetzt, in ihr ist die Musik ganz in’s Gebiet der außermenschlichen Objectivität hinausverlegt, das Uni- versum redet aus ihr musikalisch, und sie ist daher auch eines ganz andern Eindrucks fähig als die übrigen Organe, des Eindrucks nicht eines subjectiv menschlichen, sondern eines objectiven, der Subjectivität vorausgehenden, an sie herankommenden, sie durchdringenden, sie aus sich heraus versetzenden, sie zum Object hinan hebenden Inhalts; sie ist das rechte Organ für eine Musik, aus welcher dem Menschen ein Höheres als er selbst, ein Ansich- seiendes, Substantielles, Universales entgegentönen soll. Die Objectivität der Orgel ist nach dieser Seite gegenüber der nur relativen des Claviers eine so absolute, daß hier beide Instrumente den völligsten Contrast bilden; wie das Clavier das Organ ist für die Subjectivität der freien musikalischen Phantasie, so die Orgel für die gebundene Phantasie, d. h. für die von einem objectiven Inhalt erfüllte, diesen objectiven Inhalt (sei es nun etwas Ideales, Religiöses oder mehr formell die Macht der Harmonie, der Reich- thum der Polyphonie u. s. w.) zur Darstellung bringenwollende Phantasie; empirisch ist natürlich ein freies Phantasiren auch auf der Orgel möglich, aber wenn es blos dieses ist, so ist es eben keine Orgelphantasie, sondern widerspricht selbst bei der eminentesten Technik dem Charakter des Instru- ments; denn seine Töne sind nun einmal nicht subjectiv gesetzte, sondern selbständige, durch das Subject nur zur Ansprache gebrachte Klangrealitäten, seine ganze Construction ist von der Art, daß durch sie die subjective Kraft und Freiheit eben in ihrer Kleinheit, Beschränktheit und Gebundenheit erscheint, indem ja hier der Mensch nicht als autokratischer Herr des Werkzeugs, son- dern als der dienende Vermittler fungirt, den das Organ allerdings braucht, um die in ihm verborgenen Tonmassen an’s Licht treten zu lassen; jeden- falls bringt ein freies Phantasiespiel diesen eigenthümlichen Charakter der Orgel nicht zur Anschauung, es benützt gerade die Hauptsache nicht, es läßt die Orgel nicht auftreten mit der substantiellen Wucht eines durch sich selbst schwer wiegenden Gehalts, durch welche sie selber erst ihrem Wesen gemäß wirken, selber erst ihre eigene Großartigkeit entfalten kann. In Zeiten leerer und hohler Subjectivität ist es daher ein Glück zu nennen, daß die Orgel da ist; unerbittlich und unbezwinglich steht sie allem Mode- und Virtuosen- thum, das ihr wenigstens nur in sehr beschränkter Weise beizukommen ver- mag, aller Gleißnerei, Sentimentalität und Süßlichkeit gegenüber, sie ver- schmäht stolz den Bund mit aller Unmännlichkeit und Entnervtheit, sie über- dauert den Lärm und die vergänglichen Künsteleien des Tages, auf die sie wie ein Riese von ferner Höhe herabschaut, des Zeitpuncts ruhig harrend, wo das Kleinlichte und Gespreizte in den Staub gesunken sein und dem Männlichkräftigen Platz gemacht haben wird. Dieser substantiell objective Charakter der Orgel beruht jedoch nicht blos auf der Art und Weise, in welcher die Töne auf ihr hervorgebracht werden, sondern auch auf den beiden andern der zu Anfang erwähnten Momente, auf der Möglichkeit die Töne unabänderlich auszuhalten, und auf der Unmöglichkeit sie weichfließend in einander überzuführen. Ihre Töne stehen fest mit einer ebenso intensiven als ruhigen Beharrlichkeit und Ausdauer, welche allein eine im Wechsel der Stimmen bleibend beharrende, gleichmäßig fortklingende Harmonie, kurz eben die Harmonie in ihrem wesentlichen Unterschied von der Melodie und namentlich eine die obern Stimmen kraftvoll tragende Baßgrundlage ermög- licht; aber auch als Melodietöne sind sie von eigenthümlicher Wirkung, sie halten den Gang der Melodie gleichmäßig aufrecht und führen ihn ebenso gleichmäßig, ohne An- und Abschwellen, ohne Möglichkeit vielfacher Wechsel der Tonkraft fort, es reiht sich einfach Ton an Ton ohne subjectiv aus- drucksreiche Nüancirungen der Tonstärke, es erklingt nur der Ton selbst in seiner Objectivität ohne individuelle Modification durch den Spieler und doch andrerseits in Bezug auf Zeitdauer und gleichbleibende Kraft ihm willig zu Diensten stehend, so daß das Spiel durch diese intensive Con- tinuität des Klingens an innerer Stärke, Ruhe, Feierlichkeit reich wieder gewinnt, was es an Feinheit der Ausführung des Cinzelnen verliert. Auf der andern Seite scheiden sich die Töne mit derselben Bestimmtheit, mit der jeder für sich ausharrt, scharf von einander ab; so viel Fluß und Schmelz als für die Musik schlechthin unentbehrlich ist, läßt sich durch die liegen- bleibende Harmonie und möglichst gebundenes Spiel wohl erreichen und ist sogar bis auf einen gewissen Grad von selber vorgeschrieben durch den Widerstand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti- renden Vortrag entgegensetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch in ihrem Nacheinander eine Distinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe- renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen scheint und namentlich der Accentwechsel (§. 776) auf ein Minimum der Bemerkbarkeit beschränkt wird, so daß mithin auch nach dieser Seite der Subjectivität des schleifenden Hinüberziehens sowie des besonders Betonens einzelner Noten aller freie Spielraum benommen ist. Es ist dieß zwar ein Mangel der Orgel, daß sie die freie Verfügung wie über die Mittel der Dynamik so über die der Rhythmik nicht hat, aber dieser Mangel ist doch bei ihr selbst kein Widerspruch, sondern er steht in vollkommenem Einklang mit ihrem Charakter, er dient dazu, denselben noch bezeichnender herauszu- heben; die Orgel leistet eben auch hier auf die subjective Freiheit beliebig wechselnder Wahl der Tonstärke und beliebig betonender Accentuation, sowie auf die schöne Leichtigkeit des rhythmischen Accentwechsels Verzicht und begnügt sich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Gesammtwirkung, mit der Großartigkeit und Ruhe des gleichschwebenden, ohne rhythmische Ein- schnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch wiederum dazu beiträgt, dem Orgelspiel eine nur ihm eigene Idealität und Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet sich auch auf der Orgel der „periodische Wechsel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile“ nicht, aber er ist wegen der geringen Einwirkung auf die Tongestaltung, welche der complicirte Mechanismus zuläßt, so sehr zurückgedrängt, daß jene „ruhige, die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen“, welche S. 910 als Wir- kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von selbst eintritt. Fülle und Macht des Tonsturms und Ruhe des Tonfortgangs sind so bei der Orgel in einer gegenseitigen Ergänzung vereinigt, welche aller vielfachen Schranken des Instruments ungeachtet die Vereinigung der größten und der lieblichsten Effecte auf ihm gestattet und es so hauptsächlich zum Instrument für das Religiöse, sowohl nach seiner erhabenen als nach seiner milden, gemüthansprechenden und doch von allem Pathetischsüßlichen sich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es ist jedoch kein Grund da, die Orgel blos für das spezifisch Kirchliche anzuwenden; jede große Gesammt- empfindung ruhiger Art, wie sie vor Allem dem Chore auszusprechen zufällt, findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich ist sie nur mit dem bewegtern subjectivern Leben, da alles Erregte, Pulsirende, Spannend- schwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von selbst versteht es sich, daß die der Orgel so spezifisch zukommenden Eigenschaften der Objectivität, der Transscendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einseitigkeiten sind, sofern sie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der subjectiven Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreise von sich ausschließt, und daß daher die Orgel für sich allein in ihren Wirkungen sehr beschränkt ist; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende ist sie unentbehrlich; denn nur sie legt den leichten, frei beweglichen, dem individuellen Belieben untergebenen, schwachen Organen der Stimme und der Einzelinstrumente eine festruhende, gewichtig stützende, nervig aushaltende Basis der Klangstärke und Harmoniefülle unter, welche der Gesammtbe- wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch die mittönende Orgel erscheint die Musik als eine Tonbewegung, zu welcher das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht in einsamer und einseitiger Subjectivität auftritt, sondern vermählt mit den gewaltigen Tonkräften des Universums und rings von ihnen umschlossen und getragen sich nach oben schwingt; wie die Arie des Individuums zum Chor der Gesammtheit, gerade so verhält sich die Musik der Einzelstimmen und Einzelinstrumente zu orgelbegleiteter Musik, nur daß Dasjenige, was die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und substantieller ist wegen der transscendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die subjective Musik umbrausen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der sie den leichtern, wechselvolleren Bewegungen der subjectiven Musikorgane gegenüber das flüchtige Tonelement zu ruhigfester Consistenz fixiren. Die Frage, inwieweit die Orgel sich nicht blos zur Harmonie, sondern auch zur Polyphonie eigne, ist in verwandter Weise zu beantworten, wie beim Clavier. Manchen wird freilich schon das Aufwerfen dieser Frage wunderlich scheinen, da die größten Meister des polyphonen Satzes ihn gerade auch auf die Orgel mit besonderer Vorliebe angewandt haben. Aber die Orgel, wenigstens wie sie bisher war, hat die Helligkeit und Distinct- heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an- sprechenden Polyphonie zusammengesetzter Art erforderlich ist. Die Orgel ist „orchestrisch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche sie in ihren Registern vereinigen kann, aber zur kunstgerechten Polyphonie, zu welcher sie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung besitzt, paßt sie, die Sache vorurtheilsfrei angesehen, ganz vollkommen nur bei einfachern Sätzen und nur bei langsamem Tempo, bei schnellerem blos dann, wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern Musikorganen ausgeführten polyphonen Musik bilden; in diesem Falle wirkt sie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intensität und Fülle z. B. des Gesanges vortrefflich mit. Der Meister der Polyphonie wird sich freilich getrieben fühlen, das vielstimmige Organum, bei dessen Spiel er zudem nicht auf den Dienst der Hände beschränkt ist, zu künst- lichern Canon’s, Fugen u. s. w. zu benützen; aber hier ist einer der Fälle, wo die Intentionen subjectiver Virtuosität und die Forderungen der Kunst aus einander gehen, die tiefen Orgeltöne sind zu dumpf, als daß sie den hellern Klängen der höhern Regionen klar zur Seite gehen könnten, und wenn wir auch zugeben, daß selbst bei schnellerer Bewegung mittelst passen- der Wahl der Register auch die mittlern und die weniger tiefen Stimmen reicher polyphonisch behandelt und dabei die tiefsten zu wirksamer Beglei- tung gebraucht werden können, so ist damit doch der Satz, daß die Poly- phonie auf der Orgel blos bedingte Anwendung findet, nur von einer andern Seite her wiederum bestätigt. Man kann auch nicht sagen, das Dumpfe der untern Töne sei eben ein zufälliger Fehler, dessen Beseitigung die Aufgabe der Technik sei; im Gegentheil, mit dieser Dumpfheit würde eine Haupteigenthümlichkeit der Orgel, ihre geisterhaft dröhnende elementare Tiefe, ihre sturmähnliche Grundgewalt verschwinden. Ja die vollgenommene Orgel hat ganz wiederum das Compactgleichartige des Claviers und wider- strebt auch aus diesem Grunde der Polyphonie, und es hat daher dabei sein Bewenden, daß (wie auch Marx anerkennt) die Orgel zu immerhin mannig- faltigem, aber doch namhaft beschränktem polyphonem Spiel geeignet ist. Die Orgel ist überhaupt nicht vorzugsweise Solo-, sondern mehr beglei- tendes, füllendes, einleitendes Chorinstrument; so hoch sie nach einer Seite hin über allen subjectiven Musikorganen steht, so übt sie doch ihre Kraft zum Gewaltigen wie zum Lieblichen wahrhaft nur im Verein mit Stimme und Orchester aus. Für sich ist sie zu unbeweglich, zu elementarisch starr und ungelenkig; sie gibt der subjectiven Musik Wucht und Substantialität, aber sie entbehrt, auf sich beschränkt, die Wärme des subjectiven Lebens, den zarten Hauch der Innerlichkeit, den selbst ihre lieblichen Register nur an- näherungsweise erreichen. Das Schreiende, Kreischende der volltönenden Orgel kann die Technik vielleicht besiegen, aber die eminente Klarheit der Blasinstrumente wird ihr ohne zu complicirten Mechanismus schwerlich gegeben werden können, und es wird daher auch in dieser Beziehung eine nicht ganz zu idealer Reinheit geläuterte elementarische Klangbeschaffenheit wohl immer an ihr hängen bleiben. Im Verein mit Stimmen- und Orchester- chor wirkt auch dieser Mangel nicht störend, sondern findet von selbst seine Ausgleichung, aber auch nur hier; die Orgel ist eben, von welcher Seite her man sie betrachtet, selbst wo sie die Melodie mitführt, Harmonieinstru- ment, sie leitet allen andern Organen die reichen Ströme der Harmonie zu, und sie ist selbst groß und schön nur in diesem harmonischen Zusam- menwirken mit der Gesammtheit der übrigen Stimmen der Musik, sie steht mit riesiger Kraft über diesen „menschlichen“ Organen, aber sie muß sich mit ihnen verschmelzen, sie muß den Bund eingehen mit menschlicher Anmuth und Zartheit, um nicht für sich allein in unbehülflicher und ungeschlachter Massenhaftigkeit dazustehen. — Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 68 Eine besondere Bedeutung für die Musik haben Orgel und Clavier dadurch, daß sich an ihnen, weil sie das ganze Tonsystem von unten bis oben als ein coexistentes repräsentiren, dessen Einzelklänge harmonisch ge- stimmt sein müssen, ehe sie zum Spiel brauchbar sind, die Nothwendigkeit der gleichschwebenden Temperatur (S. 873 u. f.) vor Allem fühlbar macht. Die subjectivern Organe, die Menschenstimme und unter den Instrumenten besonders die Streichinstrumente, produciren die Töne stets von Neuem und nicht mit dieser bestimmten Rücksicht auf den Zusammenklang des Gesammt- tonsystems, da sie immer nur einzelne Regionen desselben durchwandern und mit einander combiniren; sie gehen vom einzelnen Intervall, vom subjectiven Wohlgefallen an seiner Reinheit und Schärfe aus und schreiten erst von da zu weitern Tonverbindungen fort. Umgekehrt ist es bei den objectiven polyphonen Instrumenten. In ihnen ist das Tonmaterial real objectivirt seinem ganzen (gebräuchlichen) Umfange nach; es steht hier nicht mehr in der Freiheit des Spielers, harmonische Unzuträglichkeiten, die sich aus der Bestimmung der Intervalle nach ihrem unmittelbar gefälligen Eindruck für das Tonganze ergeben, bei Seite liegen zu lassen oder hintennach zu heben, es muß vielmehr von vorn herein dafür gesorgt sein, daß eine solche Un- zuträglichkeit gar nicht entstehe, es muß vorerst ein harmonisches Ganzes hergestellt sein, ehe die Bewegung in einzelnen seiner Regionen beginnen kann. So ist auch nach dieser Seite die subjective Thätigkeit eine beschränkte und bedingte, der Spieler empfängt vom Instrument Töne, die bereits ge- stimmt und zwar nach dem Gesetz gestimmt sind, daß in allem Einzelspiel die Beziehung auf den Gesammtzusammenklang aller Töne mitberücksichtigt und ihr zu lieb die an sich subjectiv befriedigendere Schärfe der Einzelinter- valle abgestumpft werde. Bei den Rohrblasinstrumenten ist diese Nöthigung auch vorhanden, aber weniger dringend, wegen ihres kleinern Umfangs und weil hier das Einzelinstrument keine consonirenden Töne hervorbringen kann; erst die umfassenden polyphonen Organe beugen die Tonbewegung voll- kommen unter das objective Gesetz allseitiger Harmonie und weisen auch hiemit darauf hin, daß sie vor Allem als harmonische Instrumente zu gebrauchen sind. Weitere polyphone Organe, wie namentlich die verschiedenen Arten der „Harmonika“, sind hier nur kurz zu erwähnen, da ihr Material, theils metallene Zungen, theils Stäbe aus Holz, Glas, Eisen u. s. f., entweder die Klarheit oder die Kraft nicht hat, die zu einem Instrument von eigen- thümlicher Bedeutung innerhalb des Ganzen der Musikorgane erforderlich wäre. Wichtiger sind die Schlaginstrumente , welche die Schallkraft und Klangfülle des Orchesters vermehren und hie und da sogar allein, einleitend, vorbereitend, alternirend auftreten können, Pauke, Trommel, Triangel u. s. w.; in ihnen gesellt sich das Orchester wiederum mehr elementarische Tonkräfte bei, welche in ihrer Art ähnlich wie die Orgel der Tonmasse einen Zusatz des Durchschlagenden, Uebergreifenden, des höchst- möglichen Stärkegrades und Klangreichthums verleihen, mit dem eine Empfindung ausgesprochen werden soll. §. 807. In der Instrumentalmusik treten die Instrumente entweder monodisch oder mehrstimmig oder allstimmig auf, d. h. entweder als Einzelstimmen, theils unbegleitet, theils begleitet, oder verbunden zu kleinern oder größern Gruppen theils gleicher, theils gemischter Gattung, oder endlich vereinigt zu einem Ganzen der Instrumente, zum Orchester, das wenigstens die wichtigsten Gattungen der- selben umschließt, so daß mit ihm ein voller Chor von Instrumenten, in welchem alle Instrumentalkräfte zusammenwirken, gegeben ist, — Solo-, mehr- stimmiger, Orchestersatz . In §. 795 ist bemerkt, daß bei der Eintheilung der Instrumentalmusik die formellen Theilungsprinzipien vorwiegen, weil ihr eigenthümliches Ge- biet eben die freie Formenmannigfaltigkeit ist. Schon §. 805 und 806 enthalten mittelbar zugleich eine Seite dieser formellen Eintheilung, indem die Lehre von den Charakteren und Klangfarben der verschiedenen Instrumente bereits verschiedene Gattungen und Arten von Instrumentalmusik, Rohrbläser- und Blechmusik, Saiten- und Streichorganmusik, Flöten-, Horn-, Violinen-, Clavier- und Orgelmusik u. s. w. begründen. Hier nun wird die Gliederung weiter, nach dem Gesichtspunkt der Ein- und Mehrstimmigkeit, fortgesetzt, und zwar hat sich diese Theilung an die in §. 805 und 806 enthaltene deßwegen unmittelbar anzuschließen, weil die mit ihr sich ergebende Com- bination verschiedener Instrumente und verschiedener Instrumentengattungen selbst wieder neue Gestaltungen der Tonbewegung, der Klangkraft und der Klangfarbe erzeugt, ganz in derselben Weise, wie die Instrumente überhaupt zur Menschenstimme hinzutreten als Organe neuer, in dieser noch nicht gegebener Formen theils der Bewegung, theils der dynamischen Wirkung, theils eigenthümlicher Klangqualitäten (§. 805). Bei der Vocalmusik war die Sache einfacher; dort konnte sogleich zu den concreten Gattungen des monodischen oder mehrstimmigen Lieds, der Arie, der mehrstimmigen Solosätze, des Chors u. s. w. fortgegangen werden, weil diese Gattungen einfach daraus erwachsen, daß die Einzelstimme für sich oder mit andern zusammen auftritt. Hier aber verhält es sich anders; zwischen die Betrach- tung der concreten Gattungen, Instrumentallied, Tanz, Marsch, Concert, Symphonie u. s. w. und die Betrachtung der verschiedenen Instrumenten- arten müssen wir hier einschieben die Erörterung der verschiedenen Com- 68* binationen der Instrumente; jene concreten Gattungen können sich dieser Combinationen jede in ihrer Weise bis zu einem gewissen Umfang bedienen, es kann z. B. ebensogut Clavier- als Trompeten-, Harmonie (Bläserchor)-, Orchestermärsche geben, und sie setzen daher die Lehre von den verschiedenen Combinationen bereits voraus (wie das Lied, der Chor die Lehre von Melodie, Harmonie, Polyphonie voraussetzte). Zunächst ist also hierauf einzugehen, welche Bedeutung dem Solo-, dem mehrstimmigen und dem Orchesterinstrumentalsatz im Allgemeinen zukommt, und sodann hieran erst die Betrachtung der concreten Gattungen anzureihen. — Das „mehrstimmig“ ist hier, indem uns in diesem Zusammenhang Stimme eine für sich wirksame Instrumentalstimme bedeutet, in einem andern Sinn als früher (§. 781) genommen, nämlich so daß es keine Anwendung auf den mit blos beglei- tenden Instrumentalstimmen auftretenden Solosatz findet, sondern nur auf Sätze, die für eine Mehrheit zusammenwirkender Instrumente, jedoch nicht für das ganze Orchester, bestimmt sind, sei es nun daß in dieser Mehrheit die Einzelstimme blos einfach, durch Ein Instrument (wie im Streichquartett), oder vielfach (wie in der Harmoniemusik) besetzt ist. Auch den Ausdruck Polyphonie mußten wir im vorhergehenden §. noch in einem andern als dem gewöhnlichen Sinne gebrauchen, indem sich uns dort der Begriff „orchestrisch polyphon“ als passendste Bezeichnung der Mannigfaltigkeit zugleich ertönender instrumentaler Klangfarben ergab; es verhält sich mit Beidem ähnlich wie mit dem Begriff des „Satzes“, der in der Theorie der Musik nicht weniger als viererlei, 1) die Hälfte einer Periode (S. 927), 2) den einen Haupt- oder Nebengedanken enthaltenden Theil eines Ton- stücks (S. 956), 3) das Tonstück, das Theil eines größern ist (z. B. Satz einer Symphonie) und 4) außerdem noch wie hier die Composition ihrer technischen Seite nach (so auch homophoner, polyphoner Satz u. dergl.) bezeichnen muß. §. 808. Der Instrumentalsolosatz ist eine Monodie des Einzelinstruments, welche entweder mehr eine dem Charakter desselben entsprechende Einzelstimmung wiederzugeben, oder mehr diesen Charakter selbst und die mit ihm gegebene eigenthümliche Kunstform zu veranschaulichen, oder auch die Leistungsfähigkeit des Instruments in’s Licht zu setzen hat. Wird an die Stelle dieser Zwecke die Darlegung der Leistungsfähigkeit des Spielers gesetzt, so ist damit an die Stelle eines künstlerischen Actes entweder die unkünstlerische Production bloßer Fertigkeit oder die wenigstens noch nicht künstlerische Manifestation subjectiver Genialität oder Geistreichheit getreten. Die erstere Art des Virtuosenthums hat jedoch eine äußere Berechtigung, sofern sie indirect zur Vervollkommnung der Technik mitwirkt; die zweite hat einen Anspruch auf Anerkennung theils an sich, theils sofern im Gebiet der Instrumentalmusik bei einer die Eigen- thümlichkeit und Grenze des Organs überschreitenden Behandlung doch weniger Unnatur, Willkür und Widerspruch ist, als im Gebiet der von strenger zu- gemessenen Naturbedingungen abhängigen Vocalmusik. Die Sätze, welche der §. aufstellt, haben den Zweck, dem Instrumental- solospiel, das durch das moderne Virtuosenthum vielfach in Verruf gekommen und neuerdings auch hievon ganz abgesehen von Wagner als höchste Spitze des „Egoismus“ sich selbst isolirender Musik gebrandmarkt worden ist, theils sein begründetes Recht zuzusprechen, theils die Schranken zu bezeichnen, innerhalb welcher es sich zu bewegen hat. Vor Allem kann darüber kein Zweifel sein, daß das Solospiel den eigenthümlichen Vorzug hat, der un- mittelbarste Ausdruck der Stimmung des Subjects zu sein, der inner- halb der Instrumentalmusik möglich ist; das einzelne Instrument steht ganz unter der Gewalt seines Spielers und gibt den von ihm beabsichtigten Empfindungsgehalt vollkommen wieder mit einer Leichtigkeit und wechsel- vollen Beweglichkeit, mit einer Feinheit der Nüancirung, die für das Zu- sammenspiel Mehrerer nicht in gleichem Grad erreichbar ist, weil verschiedene Subjecte nie so zur Einheit weder eines kunstvoller bewegten Spieles noch des feinern Stimmungsausdrucks zusammenzugehen vermögen; das In- strumentalsolospiel steht dem unmittelbaren Gefühlsausdruck, dem Lied- und Ariengesange am nächsten und überbietet ihn noch weit durch die Freiheit der Technik; es kann daher so wenig als dieser verworfen werden. Sodann ist es gewiß in Ordnung, wenn der Umstand, daß jedes Instrument gewissen Stimmungskreisen vorzugsweise entspricht, praktisch gemacht, d. h. eine Stimmung auf einem ihr bestentsprechenden Instrument „gesungen“ oder kunstreicher „gespielt“ wird (S. 980). Die unendliche Mannigfaltigkeit der Stimmungen, Empfindungen, Erregungen verlangt in der Kunst nach adäquaten Ausdrucksmitteln; sind solche nicht da, so sind sie zu suchen; sind sie da, wie eben in den Instrumenten, so wäre es Thorheit, sie nicht in Thätigkeit zu setzen. Nicht jede Stimmung ist für Harmonie oder Orchester da; es gibt auch subjectivere , persönlichere, sowie in sich zurückgezogenere, einfachere , beschränktere, stillere Stimmungen, denen durch Vielstimmigkeit und Polyphonie ein falscher, entweder zu universeller oder zu kräftig voller Ausdruck gegeben würde. Welche Stimmungs-, Erregungskreise den einzelnen Instrumenten vorzugsweise zufallen, geht aus §. 805 u. f. von selbst hervor, und nur darauf ist hier noch hinzuweisen, daß eine strenge Ausschließlichkeit nicht stattfindet, daß vielmehr Lust und Unlust, idealischruhige und pathetischerregte Empfindung im Allgemeinen auf jedem für das Solospiel geeigneten Instrument dargestellt werden können, daß aber andrerseits auf jedem der Stimmungsausdruck wiederum sich eigenthümlich modificirt, und doch jedes wegen seiner eigenthümlichen Beschaffenheit in Bezug auf Kraft, Helligkeit, Beweglichkeit u. s. w. für Eine oder für mehrere bestimmte Stimmungsarten am empfänglichsten und eben in ihnen am wirksamsten ist. — Das Solospiel kann aber auch mehr rein instru- mentaler Natur, d. h. (§. 796) auf objective Veranschaulichung einer besondern Instrumentalkunstform gerichtet sein, es kann darauf abzwecken, der künst- lerischen Phantasie ein charakteristisches Instrumentaltonbild vorzuführen; die Empfindung, der Inhalt soll auch hier nicht fehlen, aber die Form, die Ausführung, die Darlegung der dem Instrument naturgemäß abzugewinnen- den Toncharaktere, Tonkräfte, Toncombinationen, Figuren u. s. w., kurz die volle Belebung des Organs und der in ihm schlummernden Möglichkeiten schöner musikalischer Wirkung ist die Hauptsache. Auch hiegegen ist mit Fug nichts einzuwenden; es würde im Gegentheil etwas Wesentliches ver- loren gehen, wenn z. B. die große Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, welche ein Variationencyclus eröffnet, niemals dazu benützt würde, in der einen oder andern Violinvariation den Charakter dieses Instruments nach der einen oder andern Seite, seine Feinheit, Wärme, Beweglichkeit, die Kraft großartiger Bogenführung u. s. w., zur Darstellung zu bringen; was an sich schön und bedeutend ist, muß auch an’s Licht des Bewußtseins herausgehoben, zur gemeinsamen Anschauung Aller gebracht werden. Und zwar ist hievon auch ein solches Solospiel nicht auszuschließen, welches mehr das Quantitativtechnische der „Leistungsfähigkeit“ eines Instruments, der künstlichen Schwierigkeiten, die es auf die Bahn zu bringen und sieg- reich zu überwinden erlaubt, hervorzukehren sich zum Zwecke setzt; es entsteht auch hiedurch ein concretes Bewußtsein der Eigenthümlichkeit und Wirksamkeit des Instruments und eine Anschauung einer besondern Kunstart, welche ein- fachern Productionen als berechtigter, das Prinzip bewegter Mannigfaltigkeit der Stimmführung in höchster Potenz darstellender Contrast gegenübertritt. — Die weitern Sätze, welche der §. über das Solospiel aufstellt, sofern es in eine Darlegung subjectiver Virtuosität übergeht, bedürfen (besonders bei Vergleichung von §. 525, 409 f.) einer näheren Begründung nicht; was über das geringere Maaß der Unnatur abstracter Instrumentalvirtuosität der Gesangsvirtuosität gegenüber gesagt ist, leuchtet von selbst ein, da das Instrument von vorn herein ein unselbständiges Werkzeug und ein rein technisches, freiste Behandlung zulassendes, ja herausforderndes, zudem ein todtes, in seinem Bestande nicht zu alterirendes oder stets neu herzustellendes Organ in der Hand des Spielers ist, wogegen die Menschenstimme einer- seits zu hoch steht, um zu einem bloßen Mittel virtuoser Ostentation des Individuums herabgewürdigt werden zu dürfen, und andrerseits zu zart, zu kunstvoll organisirt, zu ausdrucksreich, wie als Naturgabe zu kostbar ist, als daß ihre Verderbung, Verschwendung und Hineinleitung in eine falsche Gesangmethode nicht als eine ästhetische Sünde gefühlt werden müßte, die zum Voraus allen Kunstgenuß bei dergleichen Productionen unmöglich macht. Blos bei denjenigen Instrumenten, welche zum Solospiel sich gar nicht oder nur unter ganz ungewöhnlichen, selten vorhandenen Bedingungen technischer Meisterschaft eignen, wie Posaune, Fagott, ist die Unnatur eine ähnliche, obwohl sie auch hier weniger verletzend wirkt. Die Begleitung des Solospiels kann je nach dem innern Charakter des Tonstücks monodisch, vielstimmig, orchestrisch sein und sowohl verschiedene Tonstärken als mannigfaltigste Klangfarben in Anwendung bringen, oder auch auf ganz einfache, blos füllende Harmonie sich beschränken. Am ent- schiedensten verschmäht die Orgel, wenn sie als Soloinstrument auftritt, jede weitere Begleitung wegen ihres ganz eigenthümlichen Charakters, der, wenn sie Principalinstrument ist, eine Combination mit andern nicht leicht zuläßt und ihrer auch nicht bedarf; ähnlich selbständig ist auch die Harfe, weniger schon das Clavier, durch dessen Verbindung besonders mit den kräftig und doch zart ausfüllenden, tonaushaltenden Streichorganen die Einseitigkeit des Claviers ergänzt und ein ebenso voller und gediegener als doch feingedämpfter Harmonieklang hervorgebracht wird. §. 809. Der mehrstimmige Instrumentalsatz combinirt mehrere Instrumente, um ein durch die Natur derselben und durch ihre qualitative und quantitative Gesammtwirkung bedingtes Instrumentaltonbild hervorzubringen. Die Com- binationen können einfacher oder zusammengesetzter , von gleich- artiger oder von gemischter Gattung sein, und entweder einen mehr- stimmigen Solosatz oder einen Harmoniesatz mit mehrfach besetzten Stimmen darstellen; im Concertsatz sind die Prinzipien des Solo- und des Harmoniesatzes vereinigt. Der in §. 808 zuletzt erwähnte Solosatz der Harmonieinstrumente, Clavier, Orgel u. s. w., geht bereits über die Monodie zur Mehrstimmigkeit, über die Homophonie zur Polyphonie hinaus und bildet so den Uebergang zu dem mehrere Instrumente vereinigenden Satz. Der unbegleiteten Monodie des Einzelinstruments entspricht innerhalb des letztern der „mehrstimmige Solosatz“, der begleiteten der „Concertsatz“, der einfacher begleiteten die „gleichartige, einfachere“, der voller begleiteten die „gemischte, zusammen- gesetztere Art“ des mehrstimmigen Satzes, sowie insbesondere der „Harmonie- satz“, der jedoch zugleich den directen Gegensatz zum monodischen Satze bildet. Der mehrstimmige Solosatz ist hier, wie in der Vocalmusik, die erste Form, durch welche der „Egoismus“ des Einzelspiels überwunden, die Instrumentalkräfte zum Zusammenwirken vereinigt werden, sei es nun in einfachern und freiern oder künstlichern und strengern polyphonen Formen, die man am besten insgesammt unter dem gemeinsamen Namen des Sym- phonischen befaßt, von „harmonisch“ dadurch verschieden, daß es auf eine größere Selbständigkeit der zusammenwirkenden Instrumente hinweist, von „polyphonisch“ (im Sinn von §. 781) nur dadurch, daß es dem Gebrauch gemäß blos Instrumentalpolyphonie bedeutet (ein Sprachgebrauch, der seiner scheinbaren Zufälligkeit ungeachtet doch ganz zutreffend ist, sofern, wie §. 803 zeigte, die Instrumentalpolyphonie weniger als die Vocalmusik eine kunst- gerechte polyphone Sonderung aller Stimmregionen gestattet und daher trotz aller Klangfarbenmannigfaltigkeit doch mehr symphonisch, als, wie man erstere bezeichnen könnte, antiphonisch oder heterophonisch ist). Die Instru- mentenzahl des mehrstimmigen Solosatzes unterliegt keiner festen Begrenzung; einfachere Formen (Duo’s, Trio’s, Quartette) verstehen sich von selbst, zu- sammengesetztere schon weniger leicht, weil mit der Vermehrung der Stimmen die Schwierigkeit ihrer selbständigern Führung zunimmt; nur so viel läßt sich hierüber im Allgemeinen sagen, daß die einfachere Form sich besser eignet für Sätze gleichartiger oder doch weniger gemischter Gattung (z. B. Streich- quartett, Clavier und Streichinstrumente), die zusammengesetztere aber mehr für die gemischten, weil die Unterschiede der Charaktere und Klangfarben der vereinigten Instrumente eine vollzähligere und dabei doch mannigfaltige, überall klar bleibende, wirkungsreiche Stimmencombination begünstigen (Sextett u. s. w.). 1. Unter den zahlreichen schönen und charakteristischen Formen, welche sich hier ergeben, ist zunächst besonders der mehrstimmige Solosatz für Streichinstrumente hervorzuheben. Die distincte Tonschärfe und die ungemein figurenreiche Volubilität dieser Instrumente machen sie, und zwar namentlich die höherliegenden (den Contrabaß weniger), für mannig- faltige, in den einzelnen Regionen verschieden rhythmisirende Stimmen- combinationen ganz vorzüglich geeignet, und zugleich steht dieser reichen Belebtheit der Tonbewegung hier jene feine Gedämpftheit, jene ätherische Idealität des Klanges zur Seite, selbst wiederum abwechselnd mit nachdrück- licher Entwicklung der elastischen Tonkraft, welche diesen Instrumenten in- wohnt. Nicht die volle, compacte, reiche Lebensentfaltung, welche im Harmonie- und umfassendern Symphoniesatz zu Tage tritt, auch nicht die reizende Fülle und Abwechslung von Klangwirkungen, zu denen der gemischte Satz Gelegenheit bietet, ist von dem Zusammenwirken der Streichinstrumente zu erwarten, sondern ihr Gebiet ist nach der einen, formalen Seite hin das Kunstreiche des Ineinandergreifens der Stimmen, in materialer Beziehung die Innerlichkeit eines nicht zu effectivem Schall und Klang heraustretenden, sondern stillgedämpften, fast schattenhaften, in einzelnen Partien wohl auch zu energischer, pathetischer Spannkraft sich erhebenden, aber auch da das Gedämpftschattenhafte festhaltenden Tongewebes, das wie aus feinen Fäden sich zusammenflicht, alle concretere, derbere Realität dagegen, alle metall- reiche Klangdynamik ferne von sich hält. Beide Seiten, die formale und die materiale, vereinigen sich schließlich in einem und demselben Resultate, darin nämlich, daß diese Musik die geistigste ist — geistig nicht im ethischen Sinn, sondern in dem des Gedankenmäßigen, des Gegensatzes zu sinnlich naturalistischer Lebensfülle; sie führt uns aus dem lauten Lärm des Lebens hinein in das stille Schattenreich des Idealen, in die unsinnliche Welt des in sich, in sein verborgenstes Gefühlsleben zurückgezogenen, dieses Gefühls- leben sich selbst innerlich gegenüberstellenden Geistes, sie realisirt eben diese ideelle Seite der Instrumentalmusik (S. 987), sie ist eine Gedankenmusik der reinen Kunst, aus der wir uns freilich bald wieder nach der vollen Realität naturalistisch klangreicherer Tonweisen zurücksehnen, die uns aber doch innerlich erhebt durch den hohen, von Sinnenreiz freien, einzig der erfindungsreichen Feinheit kunstvoller Composition gewidmeten Genuß, zu welchem wir durch sie gelangen. Sie erfordert aber eben darum auch weit mehr innern Gehalt als andere Tonwerke, sie muß durch ihn ersetzen, was ihr abgeht an äußerer Fülle und Kraft; ein Zwiegespräch des Geistes, ein Spielen des schöpferischen Gedankens mit sich selbst muß sie abbilden, wenn sie nicht bedeutungslos werden, nicht auf den Standpunkt virtuoser Be- handlung der Einzelinstrumente zurücksinken will. Am ehesten ist dieß noch gestattet bei einfachern Tonstücken dieser Gattung, die eben um ihrer Ein- fachheit willen weniger Ansprüche erheben und weniger Erwartungen erregen; aber bei zusammengesetztern, wie namentlich bei Quartetten, ist der Fall ein anderer, sie können allerdings (wie gewöhnlich bei Haydn und Mozart) wegen der ungemeinen Dehnbarkeit aller musikalischen Formen auch das ein- fach Gemüthliche oder das schmelzend Weiche sich zum Gegenstande nehmen oder auf künstlichere Durchführung der Gedanken verzichten, aber dann bringen sie das Eigenthümliche der Quartettform auch nicht zu vollständiger und befriedigender Erscheinung; dieß geschieht erst, wenn sie zu tieferem Ge- fühlsinhalt und höherer Kunst der Composition sich erheben und so wirklich ein lebendiges Bild des Webens des Geistes in sich selbst, der in sich ver- senkten, mit sich selbst beschäftigten Innerlichkeit des Gedankens darstellen. — Der mehrstimmige Solosatz für Blasinstrumente hat wiederum einen andern Charakter und Zweck; er ist weicher, offener, heller, klang- reicher; er ist auch stiller und gedämpfter Art, aber blos insofern, als er Solosatz ist, der die Einzelstimmen nicht mehrfach besetzt, er stellt schon ein ungehemmteres Wachwerden und Sichergießen der Gefühle dar, er hält sie nicht mehr zurück im Innern der künstlerischen Phantasie, sondern läßt sie heraustreten, sich aussingen in dem hellen Klang und — wenn er Blas- instrumente verschiedener Art vereinigt — in dem reichen Farbenspiel der einander ablösenden und antwortenden Instrumente; er ist diejenige Species der Composition, in welcher eben dieses Moment der Klangfarben zum Behuf eines ebenso innigen als mannigfaltigen Gefühlsausdrucks zu voller Geltend- machung gelangt; das Ideellgeistige und das intensiv Energische der Streich- instrumente fehlt ihm, er neigt sich entschieden theils zum Weichaufgelösten, Süßen, Lieblichen, Idyllischen, andrerseits zum naturalistisch Reizenden, Lustigen, Komischen hin, er gewährt weniger innerliche Befriedigung als unmittelbares momentanes Wohlgefallen, und er hat daher die hohe Be- deutung innerhalb des Kreises der verschiedenen Musikformen nicht, welche z. B. dem Streichquartett zukommt; hieraus ist es zu erklären, daß er von den Meistern der Composition verhältnißmäßig seltener für sich allein an- gebaut und statt dessen mehr nur als Theil größerer Tonstücke, Symphonieen, Oratorien, Opern verwendet ist, wiewohl jetzt die so viel weiter als früher vorgeschrittene Technik der Behandlung der Blasinstrumente eine ausge- dehntere Pflege dieses Musikzweiges gerade sehr begünstigen würde. — Von dem gemischten mehrstimmigen Solosatz versteht es sich durch sich selbst, daß er den umfassendsten Spielraum sowohl für Gefühls- ausdruck als reiche Gedankenerfindung eröffnet; den Combinationen der Instrumente sind durch die Natur der Sache wohl an gewissen Puncten Grenzen gesteckt, indem z. B. Horn und Clavier entschieden nicht zusammen- passen (weil Voll und Dünn unmöglich zusammengehen), aber sie sind deß- ungeachtet zahlreich und mannigfaltig genug, um diesen Zweig der Com- position zu einem ganz besonders lohnenden zu machen. Nur der Mangel, der aber kein Fehler, sondern nur eine im Wesen der ganzen Species selbst liegende Einseitigkeit ist, haftet ihm an, daß die Combination gemischter Organe immer etwas von Willkür an sich hat; das Streichquartett hat etwas fest Umgrenztes, es ist ein Ganzes in sich, es zeichnet durch sich selbst die Aufgabe, die der Künstler sich zu setzen, und die Methoden, die er zu befolgen hat, klar vor, während z. B. das gemischte Septett einestheils zu so mannigfaltigen Instrumentaleffecten Raum gewährt, daß die Wahl unter ihnen schwanken muß, und anderntheils doch eine in sich charakteristisch ab- geschlossene Totalwirkung, wie Quartett im Kleinen und Orchester im Großen, nicht erzielen kann. Der gemischte Satz ist eine weniger scharf bestimmte Form, deren Erfüllung mit einem vollkommen zutreffenden Inhalt schwerer zu finden, Sache des Glücks und Takts des Componisten ist; er ist nach dieser Seite eine Art musikalischer Phantasie, wenn er sich auch rücksichtlich der Anordnung ganz in den gewöhnlichen Formen des „Tonstücks mit mehrern Sätzen“ bewegt; er ist eine Uebergangsform, in der Mitte stehend zwischen Solo- und Orchestersatz und hat ebendaher das Schwebende und Unbestimmte, das allen Mittelgattungen eigen ist. 2. Der Harmoniesatz ist der erste Anlauf dazu, durch Vereinigung eines Chors von Instrumenten das dynamische Element der Instrumental- musik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die einzelnen Instrumente zur Erzielung einer compacten Gesammtwirkung zu- sammentönen zu lassen. Die verschiedenen Stimmen sind hier nicht mehr Solostimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer so weit bei einzelnen Organen, wie Posaune u. s. w., ihre Klangkraft mehrfache Besetzung entbehrlich macht), sondern mehrfach; denn der Zweck ist, eine Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Instrumente nicht blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, sondern und zwar vorzugsweise durch gemeinsame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie, sondern auf eine allerdings reich und stark gefärbte, aber dabei in sich ver- dichtete, voll und hell zusammenklingende Tonkraft und Tonmasse ist es abgesehen, innerhalb welcher die Einzelinstrumente nur insofern selbständiger wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als compacter Masse das Bedürfniß sich geltend macht, zum Behuf theils der Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten zu lassen entweder durch einfachere, weniger stimmenreiche Abschnitte und Sätze (Trio’s und dgl.), in denen das Hauptinstrument soloartig wirkt, oder andrerseits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher eine oder mehrere Einzelstimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechselspiele gegenüber- treten. Der Name „Harmoniemusik“ für diese Satzart hat eben darin seinen Ursprung, daß sie nicht mehr, wie der Solosatz, auf Melodie oder Melo- dieenverschlingung, sondern auf kräftige Gesammtwirkung ausgeht, in welcher Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umrisses einnimmt, innerhalb dessen die klangreiche Tonmasse sich bewegen muß, um Klarheit und Bestimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemusik ist durch diese ihre Compactheit in ihrer Art Dasselbe, was der (einfache) Chor in der Vocalmusik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin- strumenten sind; sie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil- ten Musikeindruck zu haben, der Gehör und Phantasie objectiv ergreift und erfaßt, nicht aber wie der Solosatz sie blos anregt und zu beobachtender Verfolgung seines Ganges und seiner Verzweigungen einlädt; in der Har- moniemusik stellt das Gefühl eine Klangfülle sich gegenüber, in der es unter- geht und untertaucht, um sich von ihr und von der in ihr zu Tage treten- den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch- beben zu lassen; sie ist die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe des geistigen Insich- sowie der Egoität des persönlichen Fürsichseins, sie ist die Erfüllung des Raums mit hell aufsteigendem, von allen Seiten her wiederklingendem Vollton eines Instrumentenchors, welcher eine Stimmung nicht blos charakteristisch malt und zeichnet, sondern dem Hörer warm und voll entgegenbringt als eine weithindringende, allbewegende, universelle Empfindung, die auch sein Bewußtsein lebendig erfüllen, ihn mit allen Andern in Einem Gesammtgefühl vereinen soll. Die einfachern, weniger stimmreichen Zwischensätze und Zwischenperioden, von welchen oben die Rede war, treten herein als Episoden, in welchen die Tonbewegung entweder dünner, leichter, schwebender oder, bei energischem Erklingen klangvoller Einzelinstrumente, markirter, kräftiger eindringend wird; im erstern Fall, z. B. bei einem liedartigen Trio, wird der Eindruck ruhiger, weicher, es wird Raum geschafft für zartere, feinere, freier gehobenere Erregungen, es treten Tonbewegungen auf, in denen wir behaglich ausruhen, weil sie stiller und gedämpfter uns in’s Ohr klingen, Tonbilder, denen wir mit Luft oder Interesse folgen, weil die Massenwirkung zurückweicht und kunstreichern melodiösen und rhythmischen Gestaltungen Platz macht, so daß also hier das Prinzip des Harmoniesatzes das des Solosatzes ergänzend in sich auf- nimmt; im zweiten Falle aber werden wir herausgerissen aus dem gleich- förmig hinwallenden Strome des bewegten Tonmeeres, es treten Einzel- stimmen uns entgegen, die uns gemahnen wie Einzelkräfte, die etwas für sich bedeuten, für sich wirken wollen, oder wie laute Signale, die auf etwas Besonderes, Außerordentliches hinweisen und so ein Bild des nie in reinem Gleichmaaß dahinschwebenden, sondern immer wieder durch Wechsel, Contraste, widerstandhervorrufende Hemmungen u. s. w. lebendig bewegten menschlichen Daseins geben. Indeß Zwischenspiel bleibt im Harmoniesatze dieß Alles; er bedarf dieser Ausweichungen in das Prinzip des Solosatzes keineswegs nothwendig und überall, er kann ebenso gut von Anfang bis zu Ende seine unverminderte Klangfülle und compacte Massenhaftigkeit bei- behalten, um durchaus mit gleich intensiver Kraft oder wenigstens mit gleich- mäßig vollem Eindruck zu wirken. — Durch diesen seinen Charakter gleich- mäßiger, einfachgewichtiger Totalwirkung, welche die künstlichern und ver- wickeltern Musikformen von ihm ausschließt, ist der Harmoniesatz dem Chore auch noch in einer andern als der oben hervorgehobenen Rücksicht verwandt; er ist nämlich die volksmäßigste Gattung der Instrumentalmusik; er stellt große, massenbewegende Empfindungen dar in einfacher und in ein- drucksvoller Form zugleich, und er ist daher nicht nur für Musikstücke, die eben solche Empfindungen zu ihrem Inhalte haben, Tanz, Marsch u. s. w., sondern auch für den Vortrag von Compositionen geeignet, welche, obwohl ursprünglich nicht für Harmoniemusik oder nicht blos für sie bestimmt, doch von so einfacher und kräftiger und zugleich von so unmittelbar allgemein ansprechender Natur sind, daß ihre Production durch volle, klare, wohlklin- gende, weithin hallende Harmoniemusik ihrem Eindruck blos vortheilhaft ist, indem durch dieselbe eben ihre dem Wesen des Harmoniesatzes entsprechende Seite, d. h. eben ihre Einfachheit, Kraft und Gefälligkeit nur um so spre- chender hervorgekehrt und in der geeignetsten Form in weitere Kreise getragen, größeren Massen von Hörern dargeboten wird. Das Classische, das Gehalt- reiche in einfachschöner Form, ist und wird als solches immer auch Gemein- gut, Gegenstand des allgemeinen Interesses, es wird „massenbewegend“, selbst wenn es seiner ursprünglichen Conception und Abzweckung nach sich dieses Ziel nicht gesteckt hatte, und dazu, daß es auch dieses wirklich werde und bleibe, ist die Harmoniemusik vorhanden, sie verbreitet und popularisirt das Schöne, sie führt, was die höhere Kunst in volksthümlichem Sinne gedichtet hat, dem Volke zu mit der ganzen unmittelbar in’s Ohr fallenden Stärke, Klarheit und Schönheit des Klanges, welche hiezu erforderlich ist. — Seinem allgemeinen Begriffe nach ist der Harmoniesatz auf keine der beiden Hauptgattungen der Instrumente, Blas- und Streichorgane, beschränkt; er hat die eine oder die andere zu wählen, um ein gleichartiges und dadurch compactes Tonganzes hervorzubringen, er kann sich auch des vollen Strei- cherchors bedienen, um mittelst seiner ungemeinen Spannkraft und leichten Beweglichkeit großartige oder reizende Wirkungen hervorzubringen, er wird hiedurch namentlich zu mannigfaltigern und schlagendern rhythmischen Effecten in den Stand gesetzt, und es ist daher als Mangel zu bezeichnen, daß diese Compositionsform verhältnißmäßig so gar selten ist, obwohl z. B. so viele Symphonieen, in welchen sie vorübergehend vorkommt, ihre eigenthümliche Kraft und Schönheit klar genug in’s Licht setzen. Aber Regel wird aller- dings die Wahl der Blasinstrumente sein; denn die Seite der „Har- monie“, daß Alles klingt und in Einen Klang zusammengeht, daß es voll und laut an’s Ohr schallt und tönt, wird nur durch die Blasorgane wahr- haft realisirt, und auch die unmittelbar ansprechende Gefälligkeit sowie die ergreifende Macht des Hallens in die Weite und Ferne, durch welche die Harmoniemusik vorzugsweise sociale und volksthümliche Musik wird, kommt nur den Blasorganen zu, und es ist somit dagegen nichts einzuwenden, daß der Harmoniesatz der letztern sich vorzugsweise bedient (obwohl ein spezieller Mißstand damit verbunden ist, die zum Behuf der Erleichterung des Spiels nothwendige Umwandlung der Hauptblechorgane in „Ventilin- strumente“, welche zwar gleiche Volubilität wie Clarinette u. s. w. besitzen, aber nicht mehr die „schütternde“, den ganzen Instrumentkörper gleich durch- bebende Resonanz und damit auch nicht mehr jenes tiefgehende Ergreifen, jenes romantische in die Seele Dringen der ursprünglichen Blechorgane). 3. Die dritte Gattung des mehrstimmigen Instrumentalsatzes ist der Concertsatz . Mit Concert wird zwar auch das Solospiel (z. B. einer Violine) bezeichnet, das von andern ganz untergeordneten Stimmen begleitet ist; das Wort begünstigt aber seiner ursprünglichen Bedeutung nach eher den engern hier gewählten Gebrauch für eine Satzweise, welche die Prinzi- pien des Solo- und des Harmoniesatzes vereinigt, indem neben dem Ein- zelinstrument, dem die Hauptrolle zugetheilt ist, die Gesammttonmasse oder innerhalb ihrer wiederum einzelne Instrumente selbständiger wirken, als es bei bloßer Begleitung der Fall ist. Das Hauptinstrument tritt für sich auf und entfaltet vollkommen frei seine ganze Kraft und Formenmannig- faltigkeit; aber der Chor der übrigen Instrumente tritt hinzu nicht nur einleitend, begleitend und verstärkend, sondern auch selbst frei mitwirkend, so daß das Hauptinstrument doch nur als einzelnes Glied der Gesammtheit der Tonkräfte, als einzelne Stimme des ganzen Chors der vollen Musik erscheint, das nicht blos für sich sein, nicht allein herrschen und glänzen will, sondern an das Ganze sich anlehnt, aus ihm Kraft schöpft, ihm die Tonführung überläßt, wo der Ausdruck der Stimmung großartiger werden soll, sich aber immer auch wieder aus ihm mit glanzvoller Virtuosität erhebt, weil das Musikstück doch auf das Hervortreten des Einzelinstruments in seiner Eigenthümlichkeit angelegt ist. Auch andere Instrumente treten zum Hauptinstrument hinzu, „concertiren“ gleichsam um die Hauptrolle streitend mit ihm, lösen es ab, und ziehen sich dann wiederum zurück; das Prinzip der Individualisirung ist hiemit folgerichtig noch um etwas weiter, auch in die Instrumentation hinein, ausgebildet; ja es ist auch mög- lich, daß nur solche concertirende Nebeninstrumente in der Art des mehr- stimmigen Solosatzes als kleinere Instrumentengruppe neben dem Hauptin- strument hergehen, während sie bei vollerer Besetzung zwischen dieses und den Gesammtchor der Instrumentenharmonie lebendig vermittelnd hineintreten. Die Berechtigung und Bedeutung der Concertform besteht darin, daß sie vermöge ihrer Anlage frei individualisirende, alle technischen Mittel reich entfaltende Beweglichkeit und großartige Massenwirkung, Anmuth und Kraft, Reiz des Einzelspiels und tieferen Gehalt des harmonischen Vollklangs in sich vereinigt; die Egoität des Spielers, des Einzelinstruments und der auf demselben zur Darstellung gebrachten, seinem Charakter entsprechenden beson- dern Stimmung tritt hier allerdings wieder auf, aber nicht losgerissen vom Ganzen, sondern innerhalb seiner und auf ihm ruhend, ganz ähnlich, wie es bei einem Lied oder einer Arie mit Quartett, Chor und dgl. der Fall ist; das Einzelne und das Ganze treten aus einander, contrastiren, gehen für sich ihren Weg, suchen sich wieder und finden sich, verschmelzen sich jubelnd zu vollster Einheit in ebenso schönem und anmuthsvollem als stark und tief ergreifendem Wechselspiel der Trennung und der Einigung. Es versteht sich, daß diese Wirkungen nur möglich sind, wenn die Concertform nicht mit bedeutungslosen Figuren und hohlen Bravourstücken, sondern mit einem ihr wirklich entsprechenden, d. h. mit einem gemüth- oder schwung- reichen Inhalt erfüllt wird; denn eben das Eine oder Andere dieser beiden eignet sich zu der im Concertsatz stattfindenden Verbindung des virtuosen Einzelspiels, dieses feinsten, gefühlvollsten, belebtesten, siegesgewiß immer höher und höher sich schwingenden Ausdrucks der subjectiven Stimmung, und des Chors der Instrumente, deren voller Zusammenklang die Einzel- stimmung hebt und trägt und ihr gestattet, sich zu der Bedeutsamkeit einer universellen, alldurchdringenden und ebendarum im Chorus vorgetragenen Gesammtheitsstimmung zu erweitern. Gerade die ernstesten und größten Meister haben es daher nicht verschmäht, die Concertform zwar nicht vor- zugsweise, aber doch mit Liebe anzubauen als ein Nebengebiet, das auch sie anzog durch die ihm eigene Verschmelzung des leichten, zarten, freibe- wegten subjectiven Elements mit dem kräftigen Wiederhall voll und gediegen ansprechender Harmoniemusik. Der äußere Umstand, daß das Concert nicht blos Instrumentengruppen, sondern auch das ganze Orchester dem Haupt- instrument beigesellen kann, beweist natürlich dagegen nichts, daß es eine besondere, vom Orchestersatz wesentlich zu unterscheidende Musikart ist; zum Orchestersatz gehört nicht blos dieß Quantitative, daß alle Instrument- gattungen beisammen sind, sondern vor Allem das Qualitative, daß das ganze Tonstück seinem Charakter nach Orchester- und nicht blos ein das Orchester sich beigesellendes Solostück ist; im Concert ist das Hauptinstru- ment die Eine, der Instrumentenchor die andere Hauptstimme, zu der sodann die concertirenden Nebeninstrumente noch als weitere untergeordnete Stim- men hinzutreten, es ist also im Prinzip immer noch ein mehr-, nicht ein allstimmiger Instrumentalsatz. §. 810. Der Orchestersatz vereinigt mehr oder weniger alle Hauptgattungen von Instrumenten zu einem Ganzen, in welchem dieselben theils zu Einer alle Schall- kräfte und Klangfarben verschmelzenden gediegenen Tonmasse zusammengenommen, theils vereinzelt und in verschiedenen Verbindungen und Stellungen gegen einan- der geführt werden, so daß sich in ihm der Kunst ein der größten Kraftwir- kungen wie der mannigfaltigsten Combinationen gleich sehr fähiges Organ für Tonwerke größeren Styls darbietet. 1. Das Orchester ist der Chor der Instrumente, der Orchestersatz wie der für Vocalchor der allstimmige Satz, der zwar nicht numerisch alle In- strumentenspecies zusammenstellt, wohl aber qualitativ, indem er ein Ganzes bildet aus den wesentlichen, einander ebenso contrastirend als ergänzend gegenüberstehenden Hauptgattungen. Von numerischer Vollständigkeit kann in mannigfacher Weise abgesehen, dieß und jenes Blasinstrument wegge- lassen und so ein einfacheres Orchester gebildet werden; nur der Chor der Streichinstrumente kann in einer Vereinigung von Musikorganen, die Orchester sein soll, niemals fehlen, schon darum nicht (außer dem S. 1035 Bemerk- ten), weil der Begriff des Orchesters im Gegensatz zu andern Instrumen- tencombinationen wesentlich das Merkmal der technischen Totalität, d. h. des Vereintseins aller Mittel für die Lösung aller der Instrumentalmusik eigenthümlichen Aufgaben enthält, diese Totalität aber ohne die Streich- organe, in welchen allein volle technische Freiheit vorhanden ist, nicht zu erreichen wäre. Um diesen Kern der Streichorgane her aber stets alle und jede Instrumentenspecies durch ein oder mehrere Exemplare vertreten zu lassen, des einfachern Orchesters sich zu schämen und überall nur aus dem Vollen blasen und tosen zu wollen, besonders in einer eröffnenden Musik (Ouvertüre), die ihrer Natur nach nicht schon mit der höchsten Culmination der Kräfte zu beginnen, sondern auf diese nur erst entfernt hinzuweisen, nur auf sie vorzubereiten hätte, ist immer Verfall der Musik, sei es nun daß die Schuld mehr auf Seiten eines unmusikalischen Publikums, dem der Componist entweder leichtfertig oder berechnend sich accommodirt, oder auf Seiten des Letztern selbst liegt, indem entweder in mehr naiver Weise der Lärm oder in feinerer, reflectirterer Art nebendem die Technik aller möglichen Klangfarben den schöpferischen Gedankenreichthum ersetzen soll. Die Klang- farbe ist allerdings von wesentlicher Bedeutung in der Behandlung des Orchestersatzes (und zwar namentlich gegenwärtig, da die Lärmeffecte nach- gerade nicht mehr wirken); aber nicht die selbst wieder in das Lärmprinzip umschlagende Production aller und jeder klangfarbenerzeugenden Instrumen- tencombinationen, nicht die Häufung der Klangeffecte ist die Aufgabe; da- mit gingen gerade manche Klangwirkungen, die für mannigfaltige Charak- teristik unentbehrlich sind, d. h. eben die durch einfachere Orchesterbesetzung entstehenden Färbungen des Tones verloren. Es macht einen sehr großen Unterschied aus, ob in einer Symphonie die schmetternde Trompete, die schmelzende Oboe, die kräftigere Clarinette, die liebliche Flöte fehlt; die so entstehenden einfachern Orchesterformen liegen in der Mitte zwischen dem „mehrstimmigen“ und dem ganz vollstimmigen Satz, sie geben der Compo- sition gleich von vorn herein ein eigenthümliches Gepräge größerer oder geringerer Gedämpftheit, Erregtheit, dieser oder einer andern Gefühlsweise, dieses oder jenes Grades der Einfachheit oder Gewichtigkeit, der Leichtigkeit oder der Tiefe u. s. f.; insbesondere die Eröffnungsmusik hat diesen Grad des leichtern oder schwerern Gewichts, auf welchem das von ihr eingelei- tete Drama durch Gehalt und Charakter steht, schon durch die Orchesterbe- setzung selbst anzudeuten, statt z. B. durch volltönende Blasinstrumentensätze Erwartungen einer Tiefe und Energie des Inhalts zu erregen, die hinten- nach sich durch nichts bestätigen. Diejenige Orchesterbesetzung, welche blos die Hauptgattungen, nicht aber auch die Unterarten der Instrumente vereinigt und dabei etwa auch die Schlaginstrumente wegläßt, ist als „ einfaches Orchester “ zu bezeichnen; „ volles Orchester “ ist eine solche, welche auch die Unterarten (sowie die nothwendigsten Schlaginstrumente) vollständig vereinigt nur mit Ausnahme derjenigen, welche zu besondern, gewöhnlich nicht erforderlichen Wirkungen bestimmt sind, d. h. namentlich der Pracht- und Kraftinstrumente, Posaune, Trommel u. s. w.; „voll“ ist ein solches Orchester bereits, weil ihm nichts fehlt zu kräftigem, schönem, mannigfaltig charakteristischem Ausdruck der Stimmungen, mit denen die Kunst in der Regel zu thun hat; die Besetzung dagegen, welche auch die Pracht- und Kraftinstrumente aufnimmt, geht bereits über das Volle, das keine Leere empfinden läßt, hinaus, sie ergibt das „ verstärkte Orchester ,“ das schon deßwegen immer Ausnahme ist, weil seine Blas- und Schlaginstrumente selbst den vollzähligst besetzten Chor der Streichinstrumente so überwiegen, daß es eigentlich zwei Orchester, zwei Instrumentalchöre sind, die neben und gegen einander agiren. Im „vollen Orchester“ ist es anders, der ebenso straffe als feine Violonen- und Violinenton behauptet hier das Uebergewicht, er umspannt und durchdringt die Tonmasse mit überlegener Kraft und hält sie so zu Einem Ganzen zusammen, daher eben nur dieses volle Orchester auch das normale Orchester ist. 2. Das Orchester wirkt theils als einheitliches Tonganzes, theils, das Prinzip des ein- und mehrstimmigen Satzes in sich aufnehmend, als Neben- und Miteinander der besondern in ihm enthaltenen Instrumente und In- strumentengruppen. Im ersten Falle verschmelzen sich die Schallkräfte und Klangfarben zu Einer „gediegenen“ Masse, obwohl auch hier wiederum mannigfache Unterschiede möglich sind, indem die Gediegenheit absolut ist, wenn die Blasinstrumente den Streichorganen untergeordnet werden, aber desto mehr nur relativ wird, je mehr die erstern an der Melodieführung sowie an der Harmoniefüllung selbständig theilnehmen (indem z. B. Hörner und Trompeten nicht unison, z. B. in der Tonica, Dominante, sondern in vollgegliedertem Accorde mittönen). Der Klang dieser Masse, der „ Orchester- klang ,“ ist vermöge der Combination aus den beiden Hauptgattungen eine Mischung von Straffheit und Weichheit, von an sich haltender Inten- sität und breit ausströmender Fülle, von tonus und sonus, in welcher eben nach dem so oder anders genommenen Mischungsverhältniß das erste Element das zweite stärker oder nur geringer überwiegt; auch kann das zweite ge- radezu die erste Stelle einnehmen, indem die Streichorgane mit der Rolle der Begleitung des Chors der Blasinstrumente sich begnügen; der Orchester- klang hat so zwei Pole, zwischen denen er sich in mannigfachen Abstufungen hinundherbewegt, obwohl im Ganzen der erste, der intensivere Pol der Schwerpunct ist, der nicht zu lange verlassen werden darf, da auf seiner Einhaltung die Einheit sowie die wahre innerliche Kraft des Orchesters Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 69 beruht. Es wiederholt sich so in der Behandlung des Orchesters derselbe Unterschied wie in seiner Besetzung, der Unterschied zwischen dem Einfachern und Vollern, zwischen Concentration und breiter Freilassung der Einzelkräfte. Dieser Unterschied setzt sich nun aber noch weiter fort durch die Theilung des Orchesters in Instrumentengruppen und Einzelinstrumente, an welcher die Instrumentalmusik vor der Vocalmusik, die ihre gleichartiger zusammen- gesetzten Chöre nicht so leicht und nicht so mannigfaltig in Einzelstimmen auflösen kann, wiederum einen wesentlichen Vorzug rücksichtlich der Beweg- lichkeit und des Formenreichthums voraus hat. Je mannigfaltiger das Orchester an sich ist, z. B. in Vergleich mit der compactern Harmoniemusik, desto mehr liegt es in seinem Wesen, diese Mannigfaltigkeit nicht blos im Zusammenklang aller Simmen verschwimmen, sondern sie auch für sich heraus- treten, das Besondere (die Gruppen) und das Einzelne (die Instrumente) theils mit dem Ganzen, theils unter sich selbst contrastirend auftreten und sie überhaupt sich frei bewegen zu lassen, um so theils Abwechslung der Klangmasse und des mit ihr gegebenen Gewichtes der Tonbewegung, theils Abwechslung der Klangfarben und der instrumentalen Bewegungstypen hervor- zubringen. Das Orchester ist nicht nur Vollchor und damit Organ für das Große, Gewichtige, Massenbewegende, Alldurchdringende, sondern es ist auch „gemischter Chor,“ der seine Einzelstimmen für sich zu klarer Sonderung und individueller Selbständigkeit entläßt, sie aus sich hervortreibt und wieder in sich zurücknimmt, ja sich selbst erst allmälig aus diesen nach einander emporquellenden und allmälig in immer größere Massen zusammenfließenden Einzelstimmen zusammensetzt; das Orchester ist einem Meere zu vergleichen, das gewaltig hinundherfluthet, aufbraust, schäumt oder auch in mildem Sonnenschein ruhig aufundabwogt im reizenden Wechsel der Hebungen und Senkungen seiner von reichem Licht- und Farbenspiel belebten Massen, das aber jeweilig diese Massen auch zurückzieht und damit klare, dem Grund entspringende Quellen blos legt und sie munter sprudeln läßt, bis es zurückkehrt und sie überdeckt, um sie wieder in seinen allumfassenden Schooß aufzunehmen; das Orchester ist schwer und leicht, massenhaft und feinbeweglich, rauschend und still flüsternd, dramatisch drastisch und lyrisch weich zumal, es ist Harmonie und Monodie zugleich, es ist wie aller harmonischen Wirkungen so aller rhythmischen Bewegungsformen, aller Melodieweisen in gleichem Maaße und in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit und Contrastirung fähig; es ist und bleibt in erster Linie Ganzes, volltönende, Alles verschmelzende Masse, aber ein Ganzes, welches das Besondere und Individuelle zu seiner ganzen Ausbreitung gelangen läßt und damit sowohl dem Bedürfnisse der Phantasie nach Reichthum und Wechsel als insbesondere den Anforderungen des Ge- fühls die vollständigste Rechnung trägt, das (durch die verschiedenen Instru- mente) nach allen Seiten seiner Erregungsfähigkeit hin angesprochen und nicht blos durch Massengewalt erschüttert oder gar erdrückt zu werden, sondern auch bei schönem Einzelspiel frei aufzuathmen und auszuruhen be- gehrt. Aus dieser Doppelnatur des Orchesters ergibt sich auch hier wieder eine zweifache Behandlungsweise, ein Oscilliren des Orchestersatzes zwischen zwei Polen; der eine ist die harmoniemusikartige vorwiegende Behandlung des Orchesters als Masse, die Arbeit aus dem Vollen und in’s Volle, der andere die Auffassung des Orchesters mehr als „gemischten Chors,“ als eines Vereins verschiedener lebendig contrastirender Stimmen (wie bei Haydn); diese beiden entgegengesetzten Behandlungsweisen können selbst wieder combinirt, Massenwirkung und Auflösung in Einzelstimmen in gleich hoher Ausbildung verknüpft werden (wie bei Beethoven), oder wird der Mittelweg eingehalten, der die beiden Seiten sich nicht gegen einander in Spannung setzen, sondern Gesammtwirkung und Individualisirung das Gleichgewicht halten und stets in einander überfließen läßt (wie in der Mozart’schen Instrumentalmusik). — Auf Werke „ größern Styls “ muß der Orchestersatz stets beschränkt bleiben; eine zu sehr in’s Kleine figurirende, wenn auch polyphonisch kunstreiche Filigranarbeit, eine überzarte, hyper- romantische Zersplitterung, Verflüchtigung, Aetherisirung der Musik, die der ein- und mehrstimmige Solosatz (namentlich das Streichquartett) wohl zuläßt, gehört z. B. in eine Symphonie nicht, sondern kann innerhalb ihrer nur kleinlich und erschlaffend wirken, weil sie sich von der „Compactheit“ des Orchesters zu weit entfernt; aber dieser größere Styl läßt verschiedenartige Modificationen zu, nicht blos das Hohe und „Große,“ sondern auch das einfach Schöne, das von zerfließender Weichheit sowie von überfeinem Pinsel- strich sich ferne hält und immer noch in kräftigen Zügen malt, gehört ihm nicht minder an, und der Orchestersatz hat daher eine Mannigfaltigkeit, wie der Satz für Einzelinstrumente sie nie erreicht. Mit dem innern Merkmal des größern Styls hängt auch die äußere Forderung eines größern Umfangs zusammen; innerhalb zu enger Grenzen könnte das Orchester sich weit nicht genug entfalten, es entstände ein Mißverhältniß zwischen den großen in Bewegung gesetzten Mitteln und dem schnell und leicht verfliegenden Ton- inhalt, für den sie aufgeboten würden, und das Orchester kann daher nur innerhalb umfassenderer Tonwerke Stücke von geringem Umfang ausführen. — Die eminente Leistungsfähigkeit des Orchesters, wie sie besonders durch Beethoven enthüllt worden ist, macht die Ueberschätzung der Instrumental- musik dem Gesange gegenüber, die in §. 797 besprochen wurde, sehr leicht erklärlich, das Vermögen der Menschenstimme scheint in der That in nichts zusammenzusinken vor der Hoheit und Farbenpracht vollen Orchesterklanges; aber zu vergessen ist auch das Andere nicht, daß das Orchester nach zwei Rücksichten, nämlich sofern es Masse und sofern es Compositum ist, hinter dem Vocalchore auch wiederum zurücksteht, es hat als Masse nicht die Art 69* von Beweglichkeit, die der Gesang hat, d. h. nicht die dem Empfindungs- inhalt überall hin bis in’s Einzelnste folgende ausdrucksreiche Schmiegsamkeit, und es hat als Compositum nicht die ideale Einfachheit, die auch dem vollesten Chore beiwohnt und ihm eine so unendliche Würde verleiht (§. 804), es kann sich dessen, daß es ein Product reflectirter Technik aus mannig- fachen heterogenen Stoffen ist, niemals ganz entäußern, es besitzt die Un- mittelbarkeit und Frische des Naturorganes nicht, und es kann daher ihm wohl zur Seite, aber niemals über es gestellt werden; ächt modern wäre ein einseitiger Cultus der Orchestermusik, aber mit den Gesetzen der Natur und der Tonkunst, die als Kunst des Empfindungsausdrucks ein so bieg- sames und sprechendes Organ wie die Menschenstimme nicht hintansetzen darf, wird er in stetem Streite sein. In dynamischer Beziehung freilich kann der Chor mit dem Orchester nicht wetteifern, aber es ist dieß ein Vorzug des letztern, der auch seine Zweideutigkeit und bereits außerordentlich viel zur Veräußerlichung der Instrumentalmusik beigetragen hat. Ein Riesen- orchester, wie es H. Berlioz in Vorschlag brachte, wird für innerlich gediegene und kraftvolle Werke, wie die Beethoven’schen, ein würdiges Organ der Ausführung sein; aber mehr als dieß kann man sich von ihm nicht ver- sprechen; ein Orchester, das noch verständlich und schön sein soll, muß seine Tonkraft stets innerhalb gewisser Grenzen halten, und ein gewisses Maaß der Stärke seines Gesammtklanges ist ohnedieß dadurch geboten, daß dieser zu der Klangkraft der in der Orchestermusik mitauftretenden Soloinstrumente nothwendig in passendem Verhältnisse stehen muß. Die absolute Giganti- sirung des Orchesters ist derselbe unwirkliche Traum wie die Orchestrirung des Claviers es war. §. 811. Die concreten Gattungen der Instrumentalmusik (§. 807. Anm. 786 ff.) sind: 1) einfaches Tonstück , insbesondere Lied; 2) mehrtheiliges Ton- stück , Marsch, Tanz, Rondo, Variation, zweitheiliger Satz mit „freier Ge- dankenentwicklung,“ besonders Ouvertüre; 3) das größere Tonstück aus mehrern Sätzen bestehend, Sonate, Duett, Trio u. s. w., Concert, Symphonie, denen sich als untergeordnet die mehr willkürlichen Phantasieformen anreihen. Die Instrumentalmusik ist ursprünglich einfaches Spiel mit dem vor- gefundenen oder auch selbst gefertigten Naturinstrument, Muschel, Rohr u. s. w., ein Spiel, welches, sobald es über ein bloßes Hervorstoßen von Einzeltönen, an denen die Phantasie sich ergötzt oder die zu Rufen, Signalen dienen, hinausgekommen ist, zu Anfängen melodiöser oder wirklich melodischer Ton- bewegung fortschreiten wird, wie die Singstimme allmälig das Lied aus sich herausbildet. So ergibt sich das einfache Instrumentaltonproduct, das „Stück,“ noch kunstloser und ungeregelter als das Volkslied, aber auch selbst der Liedform fähig, aus welcher sich später das instrumentale Kunstlied und das weiter ausgeführte instrumentale Cantabile, das liedartige Andante, Allegretto u. s. w. entwickelt. Weniger Spiel als von Anfang an durch bestimmte praktische Zwecke bedingt ist die Musik des Tanzes, des Marsches, der Procession; mit ihr entwickelt sich die Instrumentalmusik nach ihrer der Vocalmusik entgegengesetzten dynamisch rhythmischen Seite, zuerst ohne alles melodische Element, allmälig aber dasselbe in sich aufnehmend und es mit der lebendigen, drastischen Beweglichkeit rhythmischer Musik verschmelzend. Von dieser Belebung der Melodie durch Rhythmus, des Rhythmus durch Melodie gehen alle weitern Formen der eigentlichen Instrumentalmusik aus; die Gebundenheit an den äußern Zweck der Marsch- oder Tanzbegleitung löst sich, es bilden sich Tonstücke freierer Art, Erweiterungen des „Stücks“ und des Lieds durch Rondo, Variation u. s. w., aus denen sodann wie von selbst die größern, mehrsätzigen Tonstücke sich zusammenfügen. Dieß die in der Natur der Sache liegende einfache Gliederung der Instrumental- musik. Jede der sich in ihr ergebenden Gattungen hat ein bestimmtes Ver- hältniß zu den verschiedenen Satzarten §. 807 ff., welches bei den einzelnen zur Sprache kommen muß. §. 812. Das einfache Instrumentaltonstück ist eine primitive Phantasieform, welche durch Anwendung auf die verschiedenen Instrumente sehr mannigfaltig wird. Der Vocalmusik nähert es sich an, wenn es sich zum Instrumentallied ausbildet, das als Kunstlied hauptsächlich durch die charakteristische Verschmelzung der Melodie mit Harmonie Bedeutung gewinnt und daher vorzugsweise den mehrstimmigen Instrumenten zufällt. Eine speziellere Aufzählung und Betrachtung der „Stücke“ für Horn, Trompete u. s. f. wäre nach dem über die Charaktere der verschiedenen In- strumente früher Bemerkten überflüssig; eine kurze Besprechung erfordert blos das instrumentale Kunstlied, und zwar besonders das „ Lied ohne Worte .“ Dieses Kunstlied unterliegt der Gefahr, das Vocallied direct nachbilden zu wollen und damit eine Weichheit und einfache Innigkeit der Melodie zu erkünsteln, die der Instrumentalmusik ein für allemal versagt ist durch ihr starreres Material. Deßungeachtet aber ist kein Grund da, es mit der neusten Schule unbedingt zu verwerfen. Weichheit und Innigkeit sind den Instrumenten nicht schlechthin versagt, sondern nur graduell; diesen ihnen verliehenen Grad von Weichheit ihnen wirklich zu entlocken und für sich hinzustellen, kann nicht unerlaubt sein. So viel aber ist der Bestreitung des Liedes ohne Worte zuzugestehen, daß es zu hohler Sentimentalität, d. h. zu einer Weichheit, der doch die innere Lebenswärme des Liedes fehlt, herabsinkt, wenn es das Wesen der Instrumentalmusik nicht auch in irgend einer Weise in sich aufnimmt. Dieß kann aber bei der Liedform nur die Harmonie sein, und zwar die instrumentale d. h. die kunstreicher rhythmisirte, figurirte Harmonie; sie ist dem Instrumentallied viel wesentlicher als dem Vocallied, sie gibt ihm die Formenmannigfaltigkeit und Belebtheit, ohne welche die eigentlich melodische Instrumentalcomposition entweder hölzern trocken oder ein gemachtes, falsches Gegenbild der weichen Gesangmusik ist. Die Bezeichnung „Lieder ohne Worte“ ist freilich irreführend, sie erweckt die Vorstellung, als ob es um ein bloßes Gesanglied in Instrumentalform zu thun wäre, dem gar nichts als der Text fehle, um Gesanglied zu sein. — Den mehrstimmigen Instrumenten fällt das Instrumentallied ebendarum zu, weil sein Werth auf der unzertrennlichen Einheit der Melodie und Harmonie beruht. Singinstrumente (Flöte u. s. w.) mit Begleitung eignen sich weniger, weil hier Melodie und Harmonie aus einander fallen und so das Liedartige der Hauptstimme doch zu einseitig hervortritt; auch stehen die Singinstrumente der menschlichen Stimme zu nahe, als daß ihr Gebrauch für diese Kunstform dem Eindruck der Nachahmung und somit des Zwitterhaften entgehen könnte, und es ist somit auch aus diesem Grunde das Instrumentallied den dem Gesang ferner liegenden Harmonieinstrumenten, wie dem Clavier, zuzu- weisen. — Der mit der Menschenstimme alternirende Vortrag von Lied- melodieen durch Instrumente überhaupt und Singinstrumente insbesondere, z. B. in größern Arien, wird von den so eben gemachten Bemerkungen nicht getroffen; dort ist das „Instrumentallied“ nur eine den Gesang selbst vorbereitende, einführende, wiederholende Zugabe, ein ihm vorangestelltes oder beigeselltes Gegenbild, das ihn nicht ersetzen, sondern blos abbildlich vervielfältigen will, um ihn dadurch in höherer Bedeutung erscheinen zu lassen. Die zum Menschengesang in dieser selbständigern Weise hinzutretende Instrumentalcantilene dichtet zur Menschenstimme eine zweite, ähnliche, aber subjectlose, unpersönliche, ideale Gesangstimme hinzu, die nirgendsher kommt als aus dem Reich der Töne, der Empfindungswelt überhaupt, die aber mit der im Gesange sich ausdrückenden Empfindung des Individuums (oder einer Mehrheit) sympathisirt, so daß diese letztere nicht als blos für sich seiend, sondern als eine von der übrigen Welt (vgl. S. 830) mitgefühlte und eben durch dieses Mitgefühl zu höherer Bedeutung erhobene sich darstellt. Das hier sich ergebende Verhältniß der Sympathie der Welt mit der empfin- denden Einzelsubjectivität läßt sich in gewisser Beziehung auch auf das Lied ohne Wort anwenden; auch in diesem verlegen wir unser musikalisch lyrisches Empfinden in die Objectivität hinaus, lassen es uns aus ihr als ein ver- doppeltes und verstärktes entgegentönen; aber damit ist die Forderung, daß das Instrumentallied das Wesen des instrumentalen Satzes in sich aufnehme, nicht beseitigt, indem das Lied hier ganz in die objective Instrumentalsphäre versetzt, nicht blos sympathisirendes Abbild eines neben ihm erklingenden Vocallieds ist. Zudem sind jene „sympathisirenden Instrumentalcantilenen,“ die z. B. eine Arienmelodie oder Theile derselben vortragen, auch nicht ohne Instrumentalcharakter theils durch beigegebene Begleitung, theils durch figu- rirtere Ausführung im Einzelnen (wie dieß z. B. in den Mozart’schen Opern, welche die Singmelodie so gern mit Instrumentenmelodieen concertiren lassen, in durchaus befriedigender Weise überall vorliegt). Weiter wird von dieser Bedeutung der Instrumentalmusik als sympathetischer Gesangbegleitung im dritten Abschnitt der Lehre von den Zweigen die Rede sein. §. 813. Das mehrtheilige Instrumentaltonstück hat zu seinen Haupt- formen Tanz und Marsch , populäre, durch gegebene Zwecke bestimmte Gattungen, die aber dem Wesen der Musik namentlich als rhythmischer Kunst so durchaus entsprechen, daß sie ästhetisch betrachtet beide keiner andern Musik- form nachstehen, wiewohl der Marsch nicht die Mannigfaltigkeit von Gestaltungen zuläßt, welche mit der freiern Bewegung des Tanzes gegeben sind. 1. Der Tanz geht ursprünglich aus von einer den Menschen erfassenden, in Schwung bringenden Freude, Begeisterung, Erhebung; die Subjectivität gibt sich naiver oder bewußter dieser ihr ganzes Wesen ergreifenden und aus dem Zustand der Ruhe heraushebenden Bewegung hin und läßt sich von ihr fortreißen, um ganz in ihr aufzugehen und sie ungehemmt gewähren zu lassen, bis der Drang eben in dieser Bewegung zu sein und in außer- gewöhnlicher Erregung überhaupt zu sein gerade durch jenes ganze Sich- hingeben seine volle Befriedigung gefunden hat. Wie das Lied, ja die Musik überhaupt entsteht durch das Ergriffenwerden von einem Gefühle, das dazu führt, der Aeußerung desselben durch Stimme und Ton freien Lauf zu lassen und ganz in dieser Aeußerung zu sein, den übrigen Be- wußtseinsinhalt aber bei Seite zu setzen, so ist auch der Tanz diese Selbst- entäußerung der Subjectivität an eine Stimmung, die sich ihrer bemächtigt, sie beflügelt und beschwingt, bis sie sich selbst genug gethan hat und eben- damit der normale Zustand des ruhigen Selbstbewußtseins wieder eintritt. Musik und Tanz stehen also schon ursprünglich in sehr naher Beziehung zu einander, und damit ist von selbst gegeben, daß sie auch zusammentreten, zusammenwirken, einander hervorrufen, heben und unterstützen können; frohe, erhebende Musik erregt die zum Tanze drängende Stimmung, bewirkt, daß sie länger anhält, steigert sie über den Grad hinaus, den sie für sich allein erreichen würde; der Tanz umgekehrt fordert Musik, wo er nicht etwa aus- nahmsweise in feierlichem Ernst sich selbst Schweigen auferlegt, er fordert eine Musik, aus welcher ihm seine eigene Stimmung entgegentönt; denn erst wenn dieß der Fall ist, wenn es den Tänzer von außen her ganz so umrauscht und umklingt, wie ihm innerlich zu Muthe ist, gewinnt die Stimmung für ihn die Objectivität, die alles Andere vergessen machende Präponderanz, welche sie haben muß, wenn er ganz und mit vollem Be- hagen in ihr soll aufgehen können; ein stiller Tanz hat, von der vorhin erwähnten Ausnahme abgesehen, etwas Unnatürliches, ja Unheimliches, weil das bewegende, anfeuernde Organon fehlt, das den hohen Grad der Erregung, welcher im Tanze sich darstellt, als einen trotz seiner Ungewöhn- lichkeit doch eben jetzt naturgemäß entstandenen erscheinen läßt; Tanz und Musik haben sich ohne Zweifel von Anfang an überall mit einander ge- bildet, wenn die Musik zunächst auch nur in Lärm, Schall und Geklingel bestand. Dasjenige Element, in welchem Tanz und Musik eins sind und durch welches sie zusammenwirken, ist das rhythmische und das dynamische. Die Tanzbewegung kommt ganz von selbst in einen irgendwie gleichförmigen Rhythmus, da ein regelmäßiger Wechsel namentlich stärkerer Bewegung den körperlichen Organen hier wie überall nothwendig, und da zudem durch die Stimmung selbst immer eine bestimmte Bewegungsart, bald eine ruhigere, mehr schrittmäßige, bald eine erregtere, mehr hüpfende, an die Hand gegeben ist; durchaus unentbehrlich wird sodann diese Gleichförmigkeit der Bewegung beim Zusammentanz Mehrerer, der die ursprüngliche und wesentliche Form des Tanzes ist, da nur eine mehrere Individuen zugleich erfassende und dadurch auch auf jeden Einzelnen stärker wirkende Erregung die Gewalt hat, den Menschen dergestalt aus sich herauszuversetzen und in Schwung zu bringen wie es im Tanze der Fall ist. Ebenso ist von Natur ein dynamisches Element im Tanze; er ist sanfter, zarter, schwebender, kräftiger, stoßender, stampfender, je nachdem der Affect gedämpfter oder stärker, derber, aggressiver ist, der im Tanze sich Luft macht. Zu dieser Rhythmik und Dynamik des Tanzes tritt nun die Rhythmik und Dynamik der Musik wie ein Commentar in Tönen hinzu; sie objectivirt das Maaß und Tempo des Tanz- rhythmus, sie läßt es fortwährend hören, prägt es ein und bildet es vor, sie belebt es durch die Tonfiguren, die sie so gestaltet, daß auch melodisch immer das Hauptgewicht auf die Taktaccente kommt; sie objectivirt ebenso die Kraft oder Zartheit oder die Abwechslung zwischen Beidem, welche der jedesmaligen Tanzbewegung eigenthümlich ist, sie bildet das Zu- und Ab- nehmen, das Steigen und Fallen der Energie der Bewegung ab, sie markirt die Puncte, auf welche die höchste Kraftäußerung kommen soll, durch Ton- massen, die sie auf sie wirft, sie schiebt zwischen sie wiederum Perioden ein von gleichförmigerem und beruhigterem Charakter, während welcher die Bewegung in gemessenem Gleichmaaß ihren Gang geht, läßt dann abermals stärkere Klangeffecte hören, welche ihre Energie auf’s Neue beleben, u. s. f. Ohne die Musik könnte die Rhythmik und Dynamik des Tanzes zu so bestimmter Entfaltung gar nicht gelangen, sie erst bringt diese feinern Unter- schiede in das Ganze hinein; die Tanzbewegung hat wohl einen innerlichen Bewegungsrhythmus, sie durchläuft wohl an sich diese Stadien des An- und Abschwellens, der Zu- und Abnahme, aber sie kann ihnen, wenn sie nicht zu förmlichem Kunsttanze sich erhebt, keinen concreten Ausdruck geben, diesen übernimmt die Musik und gibt so dem Tanze erst wahres Leben, bestimmte Form und ebendamit auch den geistigern Charakter einer mit Bewußtsein innerhalb einer solchen Form sich bewegenden Thätigkeit. Diese Belebung und Vergeistigung des Tanzes setzt sich sodann aber weiter fort bis in’s Einzelnste der Melodie, der Stimmenführung, des Harmoniegebrauchs, der feinern metrischen und rhythmischen Figurationen, der Anwendung und Vertheilung der Instrumente; der Stimmungscharakter und der Bewegungs- rhythmus des Ganzen wird durch dieß Alles in mannigfaltigster, sprechendster Weise veranschaulicht; die Musik spezificirt gleichsam die unendliche Menge bewußter und nicht bewußter Gefühlserregungen, welche die durch einander wogende Masse durchströmen, sie läßt die Empfindungen erklingen, welche an die Gesammtbewegung in den Individuen sich anknüpfen, und in welchen diese selbst erst wahrhaft concret und lebendig, ihrer selbst wirklich bewußt wird. Obwohl nun die Musik hiemit zum Tanze hinzutritt in dienender Stellung, so begibt sie sich damit doch nicht auf ein ihr fremdes, sondern im Gegentheil auf ein ihr ganz vorzugsweise wohlanstehendes, für sie außer- ordentlich fruchtbares Gebiet. Ihre Stellung ist eigentlich doch die bedeu- tendere, sofern sie die Tanzstimmung erst zu einer bewußten macht oder zur Tanzbewegung hinzutritt als ihr höheres, ideales Bewußtsein von sich selbst, und es erwächst ihr aus diesem Berufe ein unerschöpflicher Reichthum ächt musikalischer Aufgaben, sie erhält dadurch die Aufforderung zu Stimmungs- gemälden verschiedenster Art vom Feierlichen und Gravitätischen bis zum Lustigen und Muthwilligfröhlichen herab; mit der Tanzmusik ersteht das musikalische „Stimmungsbild“ (§. 699) kleinern Umfangs, das musikalische Genre, von welchem sie sich allerdings zu umfassendern Seelengemälden größeren Styls erhebt, in welchem sie aber doch mit Liebe verweilt, weil sie innerhalb dieses begrenztern Umfangs und durch die freie Anwendung drastischer rhythmischer und dynamischer Mittel hier eine Anschaulichkeit, graciöse Anmuth und sicher treffende Wirkung erzielt, die bei größern Werken nicht in diesem Maaße mehr erreichbar ist. Die Musik ist hier ganz in ihrem Elemente; das an sich so reiche Gebiet kann ihr zwar geschmälert werden durch die Mode, durch die einseitige Richtung des Tanzes auf stürmende Bewegtheit, welche die ausdrucksreichern, kräftigern, gemessenern Formen, religiösen und kriegerischen Tanz, Sarabande, Menuett, außer Curs setzt und von ihnen nur den eigentlichen Kunsttanz, das mimische Ballet, beibehält; aber auch innerhalb der weniger charakteristischen Gattungen abstracter Bewegung, Walzer, Galopp u. s. w., vermag sie immer noch eine Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, der Stimmung, des Pathos, der Figuren, der Rhythmik, der Dynamik, der Farbenmischung, des geistreichen Witzes in Contrasten und Ueberraschungen zu entwickeln, aus der es uns so ächt musikalisch anweht, daß wir dem schönen Spiel selbst, wenn es zu bunt und lärmend wird, nicht leicht zürnen, sondern ihm seine Schwächen und Uebergriffe, da es doch nur Spiel sein will, weit eher verzeihen, als wir es bei anmaaßlich auftretender, sich ernst anstellender Effectmusik höherer Gattung zu thun im Stande sind. Der ernstere, namentlich zu höheren Feierlichkeiten gehörende Tanz ist freilich Spiel nur in dem Sinne, daß er eine rein ideale Darstellung kunstvoll geregelter Körperbewegung ist, aber aller übrige Tanz ist Spiel, zweckloses Sichgehenlassen erhöhter Stimmung, das keinen Anspruch macht als den, sich selbst volle Genüge zu thun, er ist die absolute Harmlosigkeit des einfachen Heraustretens innerer Erregtheit, die aber allerdings in voller Ungehemmtheit und Kraft sich äußern will und daher auch der begleitenden Musik stets mehr oder weniger diesen Charakter bunter Beweglichkeit und kräftigen Dreinschlagens mit gutem Recht aufdrücken wird. Auch in der Tanzmusik gibt es ein Uebermaaß und eine Ausartung in’s Leichtfertige, Süße, Lüsterne, krankhaft Erregte, Plumpe; aber sie ist ebensosehr, und an sich durchaus, das Gebiet gesund- froher Heiterkeit, idealer Lebensfreude, freier Begeisterung, frischer Erfindungs- lust, das in ähnlicher Weise wie das Volkslied durch diese seine Eigen- schaften seinen eigenen, durch nichts in Schatten zu stellenden Werth innerhalb des reichen Kreises der Musikformen behauptet. — Im Besondern ist noch anzuführen, daß die Tanzmusik nur in den vorzugsweise rhythmischen, d. h. in den Violininstrumenten , und zwar, sofern sie zugleich sociale Musik ist, in dem Verein derselben, zu welchem immerhin Blasinstrumente füllend, colorirend und verstärkend hinzutreten mögen, also im mehrstimmigen Satz für Streichorgane oder „einfaches Orchester,“ ihren entsprechenden Ausdruck findet. Aeußere Verhältnisse und Zwecke veranlassen häufig Verwendung der Blasorgane, die aber verfehlt ist, da diesen das Elastische, Schnellende, leicht Schreitende und Schwebende abgeht. Auf dem Boden des Tanzes hat die Violinmusik sich entwickelt und ihr Vorrecht auf ihn sollte ihr nicht entzogen werden; sie ist auch am ehesten befähigt, jene Ausartungen in’s Ueppige, Sentimentale, Rohe von der Tanzmusik abzuwehren, welche durch Mißbrauch der Blasinstrumente in der Regel veranlaßt werden. — Eine Verbindung des Tanzes mit orchestischer Vocalmusik oder vielmehr streng rhythmischer Vocalmusik mit entsprechend rhythmischer Orchestik ist bei ruhiger, feierlicher Bewegung wohl ausführbar, aber künstlerisch gerechtfertigt nur bei höchst einfacher Gestaltung des Gesangs, welche der einfach gemessenen Bewegung des Tanzschritts harmonisch, in gleich einfachem Tonschritt sich anschließt; nur die Instrumentalmusik kann neben dem Tanze in allen seinen Formen sich frei nach jeder Richtung hin entwickeln. 2. Der Marsch , das gleichmäßige Vorangehen einer geschlossenen Masse zur Vornahme oder zur Mitbegehung einer gemeinsamen oder für die Gemeinsamkeit bedeutenden Handlung, zu Wettkampf, Streit, religiöser, patriotischer und sonstiger Feier, gesellt sich außer dem Marschliede (und besser als dieses, da dem Gesang der einzelnen Individuen eine das Ganze beherrschende und durchdringende rhythmische Kraft nicht beiwohnt) auch die instrumentale Marschmusik zu in ähnlicher Bedeutung wie der Tanz die orchestische. Die Marschmusik objectivirt wie diese sowohl das Zeitmaaß der Bewegung als die Stimmung, welche gemäß der Bedeutung der vor- zunehmenden oder anzuschauenden Handlung die Gemüther erfüllt; der Zug geht still einher, den Rhythmen und Tönen der Musik folgend und lauschend, indem er eben durch diese Hingebung an die Musik theils in gleichmäßigem Voranschritt, theils vor Allem in der Stimmung, die sie ausdrückt, erhalten wird. Die der Marschmusik offen liegenden Stimmungskreise sind beschränkter als die der Tanzmusik, aber immer noch mannigfaltig, charakteristisch und namentlich ideal genug, um auch ihr einen reichen und sehr dankbaren Stoff darzubieten, feierliche Andacht, entschlossener Sieges- und ernster Todesmuth, triumphirender Jubel, festliche Freude, frohe Lebenslust, tiefempfundene, schwer an’s Herz schlagende Trauer; dieß Alles einfach plastisch, damit die Unmittel- barkeit des Eindrucks, das Schlagende der Wirkung nicht verfehlt, und doch ausdrucksvoll, damit der höchste Grad der Eindringlichkeit erreicht werde, darzustellen ist hier die Aufgabe, die vor Allem durch belebten, gehobenen, der Stimmung adäquaten und doch gleichmäßigen Rhythmus, sowie durch volle, helle, markige Harmonie, durch gemessene, klar hinschreitende, an geeigneter Stelle schwungreich, freud- oder leidvoll sich emporhebende Melodie zu lösen ist. Der Marsch, selbst der jubilirende, hat weit mehr gehaltenes Maaß als die Tanzmusik, weil er nicht die Bewegung beflügeln, sondern sie regeln und zusammenhalten muß, er ist mehr Takt, wie diese mehr Rhythmus (vgl. S. 906), er einigt die Vielheit der Individuen zu Einer Gesammtempfindung und Gesammtbewegung, während die Tanzmusik neben ihrer gleichfalls einigenden Wirkung die Gefühlserregtheit im Gang zu erhalten, zu beleben und zu steigern hat; die Tanzmusik ladet ein zu be- geistertem oder fröhlichem Gebahren, der Marsch ordnet und beherrscht ge- bieterisch die Bewegung, er gibt ihr ideales Maaß, Bestimmtheit, Styl, die Marschmusik ist musikalisches Stylbild (§. 699), wie die Tanzmusik Stimmungsbild. — Die Ausführung des Marsches fällt der Harmoniemusik und den Schlaginstrumenten oder dem „verstärkten Orchester“ zu; die Streich- instrumente sind zwar so universeller Natur, daß sie sich auch für den Marsch weit eher als die Blasorgane für den Tanz eignen und jedenfalls an der Marschmusik mit Erfolg theilnehmen können, aber die volle Wirkung er- reichen sie nicht; die Klangfülle, das Schwere und Tiefdröhnende, wie das Helle, Runde, frisch Dreinblasende, das kräftige Dehnen und Aushalten, wie das so wirksame Absetzen und Abstoßen vollklingender Töne, das hier erforderlich ist, bieten nur die Blasinstrumente dar, und die in gedämpfterer Musik gesetzten Priestermärsche in Idomeneo und Zauberflöte machen daher, wenn sie außerhalb ihres Zusammenhangs, durch den ihre Instrumentation bedingt ist, gehört werden, lange nicht den Eindruck, den sie rein in Har- moniemusik umgesetzt hervorbringen. — Die normale Kunstform ist für Tanz und Marsch die gleiche, Dreitheiligkeit mit Trio, wie sich dieß aus der Zu- sammenhaltung von §. 787 mit dem in §. 809, 2. über Gliederung der Harmoniemusik Bemerkten und mit dem im gegenwärtigen §. Erörterten von selbst ergibt; an die Stelle der Dreitheiligkeit kann eher, namentlich in lang- samer bewegten Tänzen und Märschen, die Zweitheiligkeit treten (welche auch wirklich die ursprüngliche Form war), als die Vier- und Mehrtheiligkeit, damit das Geschlossene, Sprechende des Tonbildes nicht verloren gehe. — Ein Miniaturbild des eigentlichen Marsches ist der Claviermarsch, eine wegen der kräftigen Vollstimmigkeit und Compactheit dieses Instruments im Kleinen sehr wirksame Form, die ebendarum eine Hauptspecies der Claviermusik bildet. §. 814. Dem Tanz und Marsch reiht sich als nächstverwandt an die Eröffnungs- musik , wie jene nicht für sich Selbstzweck, aber deßungeachtet eine Haupt- gattung der Justrumentalmusik, weil sie den Zweck hat, das Stimmungsgebiet, welches die zu eröffnende Handlung umschreibt, in der Form eines charakteri- stischen Tonbildes von lebendiger Wirkung unmittelbar zu veranschaulichen. Allgemeinerer Art ist die Einleitungsmusik , sofern sie nur die Stimmung überhaupt in Tönen zu malen hat, welcher die folgende Handlung angehört. 1. Der Marsch führt in längerem Zuge zu einer Handlung hin; die Ouvertüre stellt uns unmittelbar vor den Vorhang, der sie den Blicken noch verhüllt, und läßt die Töne einer Musik hören, welche der Handlung eine ihrer Bedeutung entsprechende und ihren ganzen Charakter veran- schaulichende Eröffnung voranschicken will. Die Handlung ist entweder eine wirkliche, z. B. eine Festfeier, oder eine blos angeschaute, ein poetisches Schauspiel oder ein selbst musikalisches Drama oder Epos; beide Arten von Handlungen eignen sich zu musikalischer Eröffnung, sie schlägt die Brücke von der Prosa des gewöhnlichen Lebens zu der Feierlichkeit oder künstlerischen Darstellung, die vor sich gehen soll, sie thut dieß, indem sie ein ihrem Zwecke gemäß eng begrenztes, aber qualitativ um so sprechenderes Bild der Stimmung gibt, welche aus der zu erwartenden Handlung uns entgegen- treten und in welche ebendamit sie selbst uns versetzen wird; auf das Letztere, auf das Hervorrufen der der Handlung entsprechenden subjectiven Stimmung, ist es bei der Festouvertüre, die mehr praktisches Mittel für das Fest selbst ist, auf das Erstere, auf objective Veranschaulichung der der Handlung selbst ihren Charakter gebenden Stimmung, ist es bei der Ouvertüre zum Drama abgesehen (indem wir die zum „Epos“ noch bei Seite lassen); jene ist rein lyrisch, diese zugleich oder vorzugsweise dramatisch schildernd, jene steht noch in Einer Kategorie mit Tanz und Marsch, diese aber stellt das Moment des Charakteristischen, des Inhalts so entschieden in den Vordergrund, daß sie über jene Formen bereits weit hinausgreift in das Gebiet des concreten Tongemäldes, das zunächst nicht unmittelbar auf die Stimmung des Hörers einwirken, sondern seiner Phantasie ein Bild einer bestimmten Handlung, d. h. der Stimmung oder der Mannigfaltigkeit von Stimmungen, welche in einer Handlung enthalten sind, entgegenbringen will. Es ließe sich auch eine Ouvertüre zu einem Drama denken, welche die Stimmung wiedergeben wollte, in welche der Zuschauer durch die Handlung und ihren Verlauf versetzt werden wird; aber man bekäme damit nur einen sehr beschränkten Kreis von Ouvertüren, traurige und heitere, tragische und komische, erhebende und rührende; die Ouvertüre würde zu wenig Bestimmtes bieten, sie würde von dem unrichtigen Prinzip ausgehen, als ob es beim Drama nur um eine subjective Stimmung, um Rührung, Ergötzung u. s. w. zu thun wäre; die Ouvertüre muß also objectiv, Charakterbild einer Handlung sein. Dieß vermag sie nun aber allerdings nur dadurch, daß sie die Em- pfindungen, Affecte, Erregungen, Leidenschaften, kurz die Stimmungen malt, von denen die Handlung ausgeht, deren unmittelbares Abbild sie ist, die Stimmungen, in deren Umkreis sie sich bewegt, die in ihr rege werden, in ihr zusammen und auf einander treffen, ebenso für’s Zweite solche Stimmungen, die sich innerhalb des Verlaufs der Handlung an einzelnen Orten durch dieses Aufeinandertreffen der Personen mit ihren Affecten, Leidenschaften u. s. w. erzeugen, und für’s Dritte die allgemeine Stimmungs- species, unter welche die ganze Handlung durch den in ihr vorherrschenden Stimmungsgehalt sich einreiht. Diese Arten von Stimmungen sind wesentlich zu unterscheiden; die erstern sind die activen Stimmungen , die in einer Handlung agiren und wenn sie auch erst durch sie angeregt sind doch thätig in sie eingreifen, die zweiter Art sind passive Stimmungen , die durch den Gang der Handlung in den Handelnden und Leidenden erzeugt werden, sie sind wiederum lyrisch, das lyrische Resultat des Ganzen, so z. B. die Stimmung heiteren Behagens, in welche die Verwicklungen eines komischen Schauspiels am Ende sich auflösen, die dritte Art endlich ist eine Stimmung, welche durch alle in der Handlung spielenden Einzelstimmungen hindurch- greift und auch in der Phantasie des Zuschauers als die Gesammt- stimmung , der Grundton des Ganzen sich reflectirt, wie z. B. das Gepräge des Ernstes, der Trauer, das von Anfang bis zu Ende über dem Ganzen einer tragischen Handlung und der handelnden Personen ausgebreitet liegt. Offenbar ist es nun, daß die Ouvertüre sich hauptsächlich an die activen Stimmungen, d. h. an den Kreis menschlicher Erregungen und Leiden- schaften, welcher nun eben in diesem Drama auf den Schauplatz tritt, Lebenslust, Kraftgefühl, Heroismus, Kampflust, Trotz, Liebe, Sehnsucht u. s. w. zu halten hat; die passiven Stimmungen kann sie im Einzelnen nicht malen, da diese so spezifisch durch den Gang der Handlung und die einzelnen Wendungen desselben bedingt sind, daß sie nicht schon jetzt, wo die Handlung selbst noch nicht vorliegt, mit Anschaulichkeit wiedergegeben werden könnten, wogegen jene activen Stimmungen allgemein menschliche, in der Menschenbrust überhaupt schlummernde und daher, sobald ihre Töne musikalisch angeschlagen werden, durch sich selbst klare und verständliche Erregungen sind, welche die Musik recht gut malen kann; so wenig die Eröffnungsmusik den Gang der Handlung selbst in seinen Einzelheiten vorausgeben kann, da die Musik nicht die Mittel zu so bestimmter Schilde- rung hat, ebensowenig darf sie die einzelnen Stimmungen, welche durch einzelne Ereignisse hervorgerufen werden, in Tönen speziell darstellen wollen. Von den passiven Stimmungen bleibt ihr daher fast nur dieß übrig, etwa am Schluß des Ganzen oder der Haupttheile die Endstimmung , in welche das Ganze sich auflöst, ihrem wesentlichen Charakter nach noch auf- treten, und ebenso schon von Anfang an durch das Ganze hindurch die Gesammtstimmung, die über ihm schwebt, mehr oder weniger bestimmt hervorleuchten zu lassen. Die activen Stimmungen bilden das dramatische, die passiven das lyrische Element der Ouvertüre; beide zu Einem Ganzen zu verschmelzen ist ihre Aufgabe, da durch diese Vereinigung der höchste der Musik mögliche Grad der Veranschaulichung einer Handlung erreicht wird. — Aus dieser Zweiheit von Momenten geht zugleich eine zweifache Art von Ouvertüren hervor, die mehr dramatische und die mehr lyrische . Die erstere ist mehr Charakter-, die letztere mehr Stimmungsbild (mit der Ouvertüre zu feierlichen Acten verwandt, aber dadurch immer von ihr ver- schieden, daß sie nicht den Hörer in eine Stimmung versetzen, sondern die Gesammtstimmung der Handlung oder die durch sie erzeugten passiven Einzel- stimmungen vorzugsweise veranschaulichen will). Die dramatische Ouvertüre weist den lyrischen Partien eine untergeordnete Stellung an, wie z. B. die Figaroouvertüre zuerst das bewegte Treiben der Handlung und der handeln- den Personen zu malen, dann im letzten weich melodischen Satz des ersten Theils die behaglich vergnügte Stimmung, die das Endresultat sein wird, kurz anzudeuten, endlich aber, nachdem dieß Alles wiederholt ist, in der pianissimo beginnenden, immer stärker und belebter werdenden Schlußpartie, wo Alles sich jagt und überholt, den unendlichen Jubel, in den schließlich Alles ausgeht und der auch jene sanftern melodischen Klänge übertäubt, darstellen zu wollen scheint. Etwas anders ist es in der Ouvertüre zu Don Juan; sie stellt das Wichtigste, den niederschmetternden, schmerzlich bange- machenden Ernst höherer Schicksalsgewalt, der in’s Leben hereintritt und es entzweischneidet, zwar dramatisch, aber doch zugleich mit der Wirkung voran, daß dadurch überhaupt die ernste, drohende Gesammtstimmung, die im Hintergrunde über der ganzen Handlung schwebt, veranschaulicht wird, worauf dann erst im Allegro der eigentliche, rein dramatische Theil der Ouvertüre folgt; ein ziemlich regelmäßiger Wechsel des Dramatischen und Lyrischen dagegen ist wieder in Gluck’s Ouvertüre zur Iphigenie in Aulis zu bemerken. Die mehr lyrische Ouvertüre ist vorzugsweise an die Gesammt- stimmung des Ganzen oder, wenn auch sie concreter verfahren will, an die Hauptunterschiede der Stimmung, durch die es sich hindurchbewegt, gewiesen; so ist die Ouvertüre zu Idomeneo eigentlich blos eine Einleitungsmusik, die durch ihre düstere, nur von wenigen Lichtblicken erhellte, unruhig und schmerzlich erregte, endlich ganz in Klage sich auflösende Haltung allerdings passend auf die Handlung vorbereitet; lyrisch ist deßgleichen Beethoven’s Egmontouvertüre, die ja nur verschiedene Zustände, gedämpfte Trauer, schmerzerfüllte Aufraffung und Erhebung, innige Zärtlichkeit und dann nach plötzlichem Stillstande jubelnde Freiheitsfreude an uns vorüberführt. Dem Begriff der Ouvertüre entspricht die dramatische Art mehr als die lyrische, sie ist concreter, anschaulicher, kräftiger, sie ist ein Bild, während die lyrische ein zu farbenloses Tongewebe ist, außer wenn sie, wie die zur Zauberflöte, auf eine ihr doch nicht vollkommen erreichbare Schilderung des Wechsels der Einzelstimmungen verzichtet und statt dessen sich darauf beschränkt, ein zur Totalstimmung des Ganzen überhaupt passendes, durch Ausdruck, Form- schönheit und Formenmannigfaltigkeit bestimmtere Charakteristik ersetzendes Tongemälde zu geben (und somit wiederum mehr der Festouvertüre sich anzunähern). — Die lyrische Ouvertüre könnte des vollen Orchesters eher entbehren als die dramatische; diese aber bedarf es zu ihrer Charakteristik der neben und gegen einander spielenden Affecte, Empfindungen, Leiden- schaften, sie braucht die Orchesterpolyphonie nothwendig, um ein Bild einer Handlung zu sein, in welcher eine Mehrheit von Charakteren auftritt, sie braucht nicht minder die Gesammtmasse und Gesammtkraft des Orchesters, je größer, massenhafter der Kreis der Personen, je gewichtiger der Inhalt und das Endresultat der Handlung ist. Der Versuch, in einer Ouvertüre den speziellen Gang der Handlung vorauszugeben, ist schon in §. 792 als ein widersprechender bezeichnet. Aber auch die dramatische Charakteristik darf nicht überconcret sein, sie muß wohl das ganze Stimmungsgebiet, das die Handlung umschreibt, umfassen, wie z. B. die Titusouvertüre der Oper selbst entsprechend, hauptsächlich Kampfes- muth, Zärtlichkeit, Wirrnisse gegen einander streitender Massen zeichnen zu wollen scheint, aber sie kann qualitativ diese Hauptstimmungen des Drama’s nicht beschreiben, sondern nur Anklänge daran geben. Die Ouvertüre ist nicht eine Inhaltsanzeige oder gar ein Extract, sondern ein Analogon des musikalischen Drama’s, wie z. B. ein lyrisches Gedicht, das Liebe und Treue singt, ein Analogon eines Epos oder eines Drama’s ist, in welchem dasselbe Thema zur Breite eines concreten geschichtlichen Verlaufs sich aus- dehnt. Auch die dramatische Ouvertüre ist ihrer Kunstform nach noch Lyrik, wie die Ballade es gleichfalls ist; beide können eine Anschaulichkeit nicht bezwecken, die über ihre Grenzen hinausgeht. Nichts versteht sich so von selbst wie dieser Satz, und gegen nichts wird deßungeachtet mehr verstoßen, obwohl Mozart und Mendelssohn so klar zeigen, daß die Beschränkung auf die „Analogie“ keine Schranke für den Künstler ist, sondern ihm Raum genug zu reicher Ideenentwicklung verstattet, ja gerade die wahre Freiheit ihm erst eröffnet, d. h. die Freiheit, nicht zu viel in die Ouvertüre hinein- drängen, nicht zu bestimmt sein zu müssen , sondern die musikalischen Gedanken in aller Weite und Fülle sich ausgestalten lassen zu können. Es ist ein vom Wesen der Musik abkommender Empirismus, in der Ouvertüre die Oper selbst zu suchen; die Musik hat Mittel genug, eine Stimmung und so auch die der Oper in mehrfacher Art, in directer, aber auch in indirecter, mehr andeutender Weise zu schildern; das Letztere bezweckt die Ouvertüre, sie wäre höchst überflüssig, wenn sie schon die Oper selbst wäre, sie hat psychologische Begründung nur, wenn sie als zur Sache selbst erst überleitende Vorandeutung gefaßt wird, sie kann Interesse und Wohlgefallen erregen eben nur durch dieses Schweben in der Mitte zwischen ganz allgemein gehaltener Einleitungsmusik und der in der Oper selbst erst auftretenden concreten Individualisirung; sobald sie diese Mitte verläßt, wird sie entweder zu unbestimmt oder zu bestimmt und damit gerade unklar, weil ihre con- creten Beziehungen unverstanden bleiben. Einzelne Stellen aus der Oper selbst finden ihren Ort in der Ouvertüre nicht in der Meinung, diese müsse die Hauptgedanken der Oper in sich vereinigen, sondern, wenn es geschieht, blos deßwegen, weil der Componist die Ueberzeugung hegt, in solchen Stellen so sehr den treffendsten Ausdruck der Hauptstimmung des Ganzen zu haben, daß auch für die Ouvertüre ein besserer und kräftigerer als sie nicht zu finden wäre. Sonst aber, abgesehen von verfehlter Detailmalerei, soll die Ouvertüre allerdings der unmittelbarste Wiederschein der Oper sein, sie soll den Ernst, die Bedeutsamkeit, die Lebendigkeit der Handlung mit allen Tonmitteln ab- bilden, und namentlich Eines soll ihr nicht fehlen, die Verwicklung, Steigerung der Bewegung; wie die Handlung von einfachen Anfängen aus sich erweitert, größere Dimensionen annimmt, verwickelter, schwieriger wird, so ist auch die Ouvertüre nur dann vollkommen dramatisch, wenn sie dieß abbildet durch allmälige Erweiterung, Verstärkung, Spannung, Verdichtung der Ton- bewegung, die sich aber ebenso auch wieder auseinander wickelt und auflöst, wie die Handlung; dieser steigende und fallende Rhythmus ist eine Haupt- zierde der Ouvertüre, durch ihn ist sie ächt musikalisch, obwohl natürlich nicht für alle Ouvertüren, z. B. zu leichtern Opern, gefordert werden kann, daß diese Verwicklung gleich stark hervortrete. Dieser Steigerung der Be- wegung dient in der Ouvertüre vor Allem der kunstreichere, vollstimmigere, die Stimmen kräftiger und rascher gegen einander führende, sie auch geradezu polyphonisch verflechtende „Mittelsatz“ (S. 950); hier, wo Alles enger zu- sammenrückt, sich in einander wirrt, sich jagt und verfolgt, hier stehen wir mitten in der bewegtesten Handlung, hier ragt das Drama selbst am an- schaulichsten in die Ouvertüre herein, hier werden wir es am bestimmtesten inne, daß wir im Begriff sind einer Handlung zuzuschauen und ihr in alle ihre Verschlingungen zu folgen. Aufbau des Ganzen aus einem oder wenigen Motiven (fugirte oder streng thematische Arbeit S. 961) ist für die drama- tische Ouvertüre in der Regel nicht Gesetz; selbst die fugirte Ouvertüre muß sich freier bewegen und zu eigenen Nebensätzen fortschreiten, wenn sie ein Bild der aus den Actionen mehrerer und mannigfach verschiedener Indivi- dualitäten sich zusammensetzenden Handlung sein will; die normale Form ist die Gliederung in Hauptabschnitte, deren jeder einem Hauptstimmungsmotiv des Drama’s entspricht, damit die verschiedenen treibenden Elemente desselben nach und neben einander in der Ouvertüre sich abspiegeln. Diese Abschnitte im Einzelnen selbst wieder reich zu gliedern, sie an einander in der Art anzureihen, daß sowohl das allmälige Wachsen der Handlung in die Breite, die Erweiterung ihres Umfangs durch Hinzutreten neuer Momente, als ihre innerliche Zunahme an Intensität und Verwickeltheit lebendig veranschaulicht, nach Umständen auch ihr endlicher Verlauf angedeutet werde und so die ganze Ouvertüre der Mannigfaltigkeit ihrer Sätze ungeachtet ein organisch fort- schreitendes Ganzes sei, ist die Aufgabe der Composition, über deren Lösung die Theorie etwas Spezielleres nicht bestimmen kann, außer etwa dieß, daß die Ent- und Verwicklung, nicht aber der Schlußverlauf die Hauptsache ist, nicht nur weil die erstere am besten den Stoff zu einem lebendig bewegten Tonbild liefert, sondern auch deßwegen, weil eine zu bestimmte Schilderung des Schlusses, wie z. B. im letzten Satz der Egmontouvertüre (der doch richtiger erst am Ende des ganzen Drama’s gehört wird), in zu großem Abstande sich befindet zu der mit dem Aufgehen des Vorhangs beginnenden, Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 70 vom Schluß selbst noch fern abliegenden allmäligen Entwicklung des Ganges der Handlung; die Ouvertüre soll eben zu dieser Entwicklung hinüberführen, und daher ist es das Richtigere, diese selbst ihr zum Hauptinhalt zu geben und die Ouvertüre lieber, wie Gluck und Mozart hie und da, introductions- artig in die Oper selbst direct übergehen zu lassen, als sie zu selbständig hinzustellen; die Ouvertüre ist zugleich Ouvertüre zum ersten Act, der unmittelbar auf sie folgt, und ist mithin so zu gestalten, daß dieser sich ungezwungen an sie anreiht. 2. Die Ouvertüre zum musikalischen „Epos“ (Oratorium) ist mehr lyrischer Natur, da dieses Epos eine weniger bewegte und mannigfaltige, ja oft, wie namentlich das religiöse, blos eine ideale Handlung, eine heilige Geschichte oder selbst eine nur in Form der Geschichte auftretende Vergegen- ständlichung von Hauptmomenten einer idealreligiösen Anschauung zu seinem Inhalte hat. Einzelne Fälle, in welchen das Oratorium die Bewegtheit des Drama’s, seinen Reichthum an gegeneinanderstrebenden Kräften und an Conflicten nahezu erreicht, bilden natürlich eine Ausnahme (wie z. B. Händel’s Samson). Doch sind hier die Formen überhaupt weniger streng; das Oratorium kann sich noch mehr als die Oper auch mit bloßer „ Ein- leitungsmusik “ begnügen, die im Allgemeinen auf den in ihm waltenden Stimmungsgehalt hinweist. Ueber die speziellen Formen dieser Art von Musik, z. B. das Präludium, ist blos zu bemerken, daß sie zu den freiern Musikgattungen gehören und daher je nach Umständen einfacher oder mit mehr Aufwand von Kunst, namentlich freier Polyphonie, die spannend, auf etwas Gewichtiges aufmerksam machend und damit spezifisch „einleitend“ wirkt, behandelt werden können. §. 815. Ihren Höhepunct erreicht die Instrumentalmusik in den umfangreichern Formen zunächst der größern Stücke für ein- oder mehrstimmigen Solosatz, der Sonate und des Concerts . Der §. erwähnt Variation, Rondo, Instrumentalfuge nicht. Die erstere ist schon in §. 789 behandelt; auch über das Rondo ist nach dem in §. 788 Gesagten nichts hinzuzufügen; die Instrumentalfuge fällt, so weit sie überhaupt zuläßig ist (§. 803), theils der „gebundenen Phantasie“ (S. 1043), theils der freiern Polyphonie (§. 785), innerhalb der Instru- mentalformen aber hauptsächlich der Ouvertüre (obwohl mit Einschränkungen S. 1079) anheim. Zudem treten diese Formen, selbst die Variation nicht immer ausgenommen, in der Regel als Theile des größern Tonstücks (§. 791) auf, zu welchem die Instrumentalmusik mit innerer Nothwendigkeit fortschreitet, sobald sie die durch äußere Zwecke bestimmten kleinern Stim- mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. s. f.) verläßt und sich selbständig auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigst contrastirenden, die verschie- densten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonstücks; es ist z. B. ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng fand und dadurch zu Ausschreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung getrieben wurde; die reine Instrumentalmusik muß sich expandiren, so weit die Gedankeneinheit der Composition es nur irgend gestattet, sie muß hinaus über das geschlossene plastische Bild zum breit sich hinlagernden, gestalten- vollen, lyrischen, epischen, dramatischen Gemälde (§. 697), damit erst ge- winnt sie Leben, Freiheit, Unendlichkeit. 1. Der ein- und mehrstimmige Solosatz kann rücksichtlich des Umfangs auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton- stücks sich beschränken; das Violinsolo, das Duett, Trio u. s. w. kann möglicherweise nur aus Einem Satze bestehen. Indeß kommt hiemit schon der Wechsel und Contrast mannigfaltigerer rhythmischer Bewegung, welcher namentlich das ganz frei sich bewegende Einzelinstrument fähig ist, nicht zu seinem Rechte, und der monodische Solosatz drängt daher von selbst zu zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; dasselbe ist der Fall beim mehr- stimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die Combinirung mehrerer Instrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes nicht zu erschöpfen ist. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der Solosatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechsel und Contrast von „Erregungs- und Stimmungsmusik“, der in dem größern und doch für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei, vier, selten mehr Sätzen zur Erscheinung kommt, oder (s. ebd.) er erreicht ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, sondern den Wechsel und Gegensatz von Empfindungen sich zum Gegenstande nimmt, der die Grund- form des Gefühlslebens ist, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-, sondern Lebensbild wird, wie schon die Ouvertüre nichts mehr mit der Einzelempfindung zu thun hatte, sondern bereits ein Stück Leben, ein histo- risches Gemälde war. Eine ruhige, aber spannende, besonders durch reichere Harmonie, künstliche Stimmführung den Hörer voll fassende und fesselnde Einleitung kann, wenn das Tonstück an sich oder durch größeren Umfang gewichtigerer Art ist, vorhergehen; dann folgt als erster Hauptabschnitt ein erregter Satz , der das Gemüth und die Phantasie mit Entschiedenheit mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe- renz gebrachten, gehobenen, sich kräftig regenden oder auch in Kampf ver- 70* wickelten Seelenlebens hineinversetzt; wie das Leben nicht träge, kraftlose Ruhe, sondern nur da wirkliches, volles Leben ist, wo es eine bestimmte Richtung, Strebung, einen Schwung zur Thätigkeit erhält durch lebendige Anregungen, Affectionen, die es aus seiner Indifferenz herausheben und erst hintennach der Ruhe und Sammlung wieder Raum lassen, so eröffnet sich hier die Musik mit dem Moment der Sollicitation, des Anhebens, Ansteigens, lebendigen Sichaussprechens innerer Erregung, mit einem Satz, der durchaus entschieden Bewegtheit athmet und, sofern an diese alles Weitere sich anreihen muß, von wesentlichster Wichtigkeit für den Totaleindruck des ganzen Werks ist. Tonstücke, die mit längerem Adagio beginnen, machen von vorn herein einen erschwertern, trübern Eindruck; die Musik tritt hier nicht entschieden genug an’s Leben heraus, löst sich gleichsam nicht voll- kommen los von der in ihr Gefühl versenkten, ihm nachsinnenden Seele; diese Form, so ausdrucksreich sie hiedurch auch ist, kann ebendarum nur Nebenform sein, da sie nur auf vertieftere, innigere, sanftere Seelenzustände paßt, in denen Affect und Wille in ungewöhnlicherer Weise zurücktreten. Auf die Unruhe, Erregtheit, strebende Bewegtheit des ersten Satzes folgt im zweiten, das Gemüth und die Phantasie gleich ansprechend, die Ruhe, die Zuständlichkeit , das an sich selbst hingegebene, sich behaglich sam- melnde oder grüblerisch sich in sich vertiefende Fühlen, auf die überschäu- mende Fröhlichkeit, Lebens- und Thatenlust die stille Zufriedenheit des Glücks, das ernstere Ansichhalten sinniger Zurückziehung in sich selbst oder auch eine plötzlich einbrechende, die Seele beschäftigende, niederdrückende Schmerzens- stimmung, auf Kampf und Streit Frieden und Stillstand oder traurig in sich zurücksinkende Wehmuth. In dieser Zuständlichkeit aber kann die Musik, sobald sie einmal ein größeres Ganzes geben will, nicht verharren, das Leben fordert sein Recht; nicht mit erschlaffendem Behagen und Genießen, nicht mit zehrendem Kummer und ermattender Sehnsucht kann ein Tonge- mäloe schließen, das nicht etwas Einzelnes aus dem Leben herausgreifen, sondern Totalität, Lebensbild sein will, sondern es muß diese Zuständlich- keit, dieses Stehenbleiben des Rades der Bewegung, das immer etwas Unlebendiges, Contemplativtheoretisches, Kraftloses hat, wieder negiren , das Leben muß sich aus der Rast, aus der Resignation, aus der Schmerz- befangenheit wiederherstellen zu sich selbst, zur Beweglichkeit, Thätigkeit, Freiheit oder doch zum Ringen um dieselbe, es muß sich selbst affirmiren, es muß sich abermals darstellen als sich selbst, als Lebendiges, als vorwärts- gehend, und zwar entweder als leicht dahineilendes Leben, das die wiederum gewonnene Erregtheit mit Lust und froher Kraft zum Schlusse führt, oder als Leben, das die an es gekommenen Gegensätze, Entzweiungen, Kummer- gefühle bekämpft und wo möglich versöhnend überwindet. Damit ist ganz naturgemäß der bewegtere Schlußsatz und zugleich die zwei Haupt- gattungen desselben gegeben; er ist entweder einfacher, leicht und kräftig belebter Endsatz, der die Bewegung des ersten Satzes wieder aufnimmt, ihm selbst aber an innerem Gewicht und verschlungenem Bau nachsteht, weil er im Gegensatz zur Ruhe und Gehemmtheit des zweiten eben das Leichte, das Abwerfen aller Hemmung und Fessel, die ohne Störung und Verwicklung geradlinigt dahinströmende, fröhlich und kräftig sich gehen lassende, zu heiterem Schluß eilende Bewegung darstellt, oder ist der Schluß- satz concreterer Natur, ein Bild des Kampfes, der das eine Mal bis zum Ende anhält, so daß das Ganze nicht mit wirklicher Befriedigung (daher z. B. in Moll, nicht in Dur) schließt, das andere Mal aber auch zum Siege hindurchdringt, dessen fröhliche Feier in kräftigen, heitern, humoristisch neckischen Sätzen das Ganze versöhnend zu Ende führt. — Dieser Wechsel, Contrast, Kampf, durch dessen Vergegenständlichung die Musik hier zum Lebensbilde wird, kann sich in drei Sätzen vollständig verwirklichen, aber auch noch ein vierter Satz eignet sich treffend dazu beizutragen, nämlich ein Satz in Tanzform , sofern diese der unmittelbarste Ausdruck schwung- reich sich hebender, von Freude beflügelter, in Lebenslust vergnügt sich wiegender Empfindung ist; im Tanze wird am directesten die „Zuständlich- keit“, die Ruhe, der träge Unmuth negirt, der Tanz ist ja eben dieses Sich- losreißen von der Indifferenz des Gleichgewichts, dieses Sichaufraffen, Hineineilen in lebendige Bewegtheit. Ein dieser Form sich bedienender, sie jedoch dem Charakter des Ganzen gemäß modificirender, mäßigender, veredelnder Satz bietet sich am besten dazu dar, dem Adagio oder Andante als seine Negation zu folgen und von ihm den Uebergang zu bilden zum bewegten Schlußsatz, der, um das Ganze doch seinem gewichtigern Charakter gemäß nicht gar zu leicht zu beschließen, nicht selbst Tanzform haben, sondern sie nur als vorbereitende Einleitung sich voranstellen darf. Oft findet sich der Satz in Tanzform sehr passend auch in Tonstücken, die mit Adagio beginnen und mit Allegro schließen, als vermittelnder Zwischensatz zwischen diesen beiden; sehr häufig nimmt er aber auch die Stelle nach dem ersten Allegro ein und geht dem Andante vorher, sei es nun um die Bewegtheit des ersten Satzes, der in diesen Fällen einen geringern Grad von Erregung hat, höher zu steigern und so nach vollständiger Erschöpfung des Momentes der Bewegung um so ruhiger und ungestörter den stillern Klängen des Andante sich zu widmen, oder auch umgekehrt, um z. B. zwischen ein kraft- voll bewegtes, schwerwiegendes Allegro und ein zartes, sanftes Andante einen leichtern, das Herabsteigen zur Ruhe des Andante vermittelnden Ueber- gang einzuschieben; doch normal ist diese Stellung nicht, sie hält das Be- wegungsmoment zu lange in einseitiger Weise fest, was im einzelnen Falle nur durch die hierauf angelegte Tendenz des ganzen Stücks modivirt sein kann. Von selbst ergibt es sich, daß der Satz in Tanzform vorkommen kann nur in Instrumentalwerken größern Umfangs, sowie daß er in Werken, deren einzelne Sätze bereits sehr in’s Breite sich dehnen, passender wegge- lassen und etwa erst am Schluß durch einen heitern Endsatz ersetzt wird; auch muß er selbst immer eine untergeordnete Stelle einnehmen und somit seinen Umfang beschränken, wenn er den Schlußsatz nicht überflüssig machen, anticipiren, sein Interesse schmälern soll; man sieht z. B. aus Beethoven’s Adur -Symphonie, welche fast extremen Mittel der Componist anwenden muß, um nach einem großartiger angelegten Satz in Tanzform auch noch dem Schlußsatz die ihm gebührende Bedeutsamkeit und Wirkungskraft zu verleihen. Ebenso ist klar, daß je nach Charakter des einzelnen Tonstücks die Formen auch noch anders modificirt, dem Andante ein Allegretto oder ein in gehaltenem Tempo vorwärtsschreitender Marsch von ernster Empfin- dung substituirt, daß ebenso der Satz in Tanzform durch ein Allegretto oder Aehnliches ersetzt oder in einen Satz mit gehobenem dreitheiligem Rhyth- mus, der gar nicht mehr tanzartig, sondern nur noch spezifisch gehobener Bewegungssatz ist, umgewandelt, oder der Schlußsatz ganz oder theilweise in lebendig erregter Marschform componirt werden, oder endlich ein Thema mit Variationen die Stelle eines oder mehrerer Hauptsätze des Ganzen, besonders des Andantesatzes, einnehmen kann. Aber die normale Form bleibt jene Dreiheit oder Vierheit von Sätzen, weil sie das unmittelbare Bild des Pulsschlags der Wirklichkeit des Lebens darstellt, dessen Veranschaulichung das Motiv und der Sinn und Zweck dieser ganzen Musikgattung von Anfang an ist und bleibt. 2. Die Unterschiede, zu welchen sich diese Musikgattung wiederum im Einzelnen besondert, ergeben sich aus den Bemerkungen früherer §§. über Solo-, Concert-, Orchestersatz. Das begleitete monodische Solo , beson- ders der Violine, ist bereits hinlänglichen Ausdrucks und hinreichender For- menmannigfaltigkeit fähig, um durch die Trias (oder Vierheit) von Sätzen sich hindurchzubewegen; es ist ein Monolog des Individuums, in welchem dieses sich darstellt als der Reihe nach zu den Stimmungen sich erhebend, niedersenkend und wieder erhebend, die zusammen in jener Trias sich aus- sprechen. Die Hauptaufgabe ist daher hier individuelle, subjectiv charak- teristische Gestaltung der Composition, ohne sich in’s einseitig Subjective, Bizarre zu verlieren, und reicher, schöner Ausdruck, damit eben jener Ein- druck der sich selbst mittheilenden, ihr Empfinden darlegenden Individualität (§. 808) entstehe; sowohl um des Ausdrucks willen als zum Behuf der Vermeidung der Eintönigkeit, der das Einzelinstrument leicht verfällt, ist zugleich lebendiger Wechsel und Contrast der Gedanken und Formen der einzelnen Sätze gefordert, womit die Gelegenheit zu umfassender Darlegung der Eigenthümlichkeit des Instruments und der Virtuosität des Spiels von selbst gegeben ist (Bedingungen, die namentlich in Molique’s Violincon- certen sehr schön realisirt sind). — Eine ganz eigenthümliche Form des Solosatzes entsteht durch die polyphonen Instrumente, insbesondere das Clavier. Dieses ebenso bewegliche als volle Organ ist bereits mehrstimmig, es ist eine Harmonie-, eine Concertmusik, ein Orchester im Kleinen, es ist zwar so compact, daß es wie andere Soloinstrumente nur eine individuelle, nicht eine Gesammtheitsstimmung aussprechen kann, wenn es seinem Charakter gemäß wirken will, aber es erlaubt, den Ausdruck dieser Stimmung mit einer Klang-, Farben- und Formenfülle auszustatten, welche dem Indivi- duum die Möglichkeit eröffnet, die ganze Macht, Tiefe und Unendlichkeit der Subjectivität, die ganze Mannigfaltigkeit und Intensität voller mensch- licher Gemüthsbewegtheit in die Töne des Instruments niederzulegen, und zwar so, daß es dabei den musikalischen Ausdruck dieser Wärme und Fülle von Inhalt schlechthin in seiner Gewalt behält, statt ihn von außen her, von einer fremden Begleitung und Verstärkung zum Theil erst borgen zu müssen. Das Clavier, weil es mit der Melodie die Harmonie verbindet und diese letztere doch in die Hand des Subjects gibt, ist das Hauptorgan für das freie und volle Sichergehen des letztern; das Subject ist in diesem Instrument rein für sich und deßungeachtet, ja gerade auch hiedurch in den Stand gesetzt, sich rein und ganz in ihm auszusprechen , intensiv und extensiv, je nachdem das Eine oder das Andere Hauptzweck ist, und das Clavier ist daher vor allen andern Instrumenten auf das größere, das Empfindungsleben darstellende Tonstück als auf die Gattung hinge- wiesen, in welcher es seine Haupttriumphe feiern kann. Das Clavierstück von dieser Gattung ist die Sonate (ein Name, der auch von andern mehrsätzigen Instrumentalstücken, z. B. ein- oder zweistimmigen Violincom- positionen gebraucht, passender aber auf die polyphonen Instrumente beschränkt wird, um für diese so ganz eigenthümliche Compositionsgattung auch einen besondern Ausdruck zu haben). Die Sonate dehnt sich zwar als Solostück nicht immer bis zu dem Umfang von vier Sätzen aus, aber sie ist doch ebendazu bestimmt, einen reichen und ausdrucksvoll sich gebenden subjectiven Gefühlsinhalt zu entfalten, sei es nun daß derselbe sich mehr in die Breite ausdehnt als eine schöne, charakteristische, mannigfaltige Folge von zu- sammengehörenden Stimmungsbildern , oder daß er mehr Eine die verschiedenen Stadien des Gefühlslebens durchlaufende einheitliche Stimmung in Form eines großen Tongemäldes entrollt. Im ersten Fall ist Reichthum der Phantasie und Vielseitigkeit des Empfindens, im zweiten neben jener warme, tiefe, starkfühlende, in Contraste und Gegen- sätze eingehende, sich in sie vertiefende, sich aus ihnen emporarbeitende Er- regtheit des Ichs dasjenige, was in der Sonate hervortritt, und zwar ist es immer dieses Zweite, worin die Claviersonate ihren Gipfelpunct erreicht, weil nur bei dieser zweiten Form das ganz freie und alle Ausdrucksmittel erschöpfende Aussichheraustreten des Subjects, zu welchem das Instrument auffordert, zu Stande kommt. Die gemüthliche Sonate, wie wir die erste Form benennen können, (die Haydn-, Mozart’sche) leistet noch nicht Alles, was sich hier leisten läßt, dieß vollzieht sich erst in der zweiten (Beethoven’schen) Art, in der Sonate der freien Gedankenentwicklung (obwohl dieser Name nicht vollständig zutrifft, weil das ideell, schattenhaft „Gedankenmäßige“, das wir als charakteristische Eigenschaft des Streichquartetts fanden, der in reicher Klang- und Farbenfülle tönenden Sonate nicht zukommt, sondern vielmehr in scharfem Gegensatze zu ihr steht). In der Hauptsache aber sind beide Formen einander gleich; das musikalische Subject ist in ihnen ganz frei und ganz unmittelbar zu rein und voll musikalischer Production veranlaßt, es ist ganz in sich und ebenso ganz befähigt und getrieben sich voll auszusprechen; die Sonate ist nur möglich, wo schöpferischer Reichthum der Phantasie und ein reiches charakteristisch ausgeprägtes Empfindungs- leben, dem es Selbstzweck ist, sich zu äußern, vorhanden sind und zu engstem Bande sich vermählen; wo die Erfindungsgabe, noch mehr wo das poetische Gemüthsleben, die Individualität eigenartigen Fühlens, am meisten aber wo der naive Drang zur Gefühlsäußerung verschwunden, wo künstliche Com- bination, verflachende Reflexion, weiche Verschwommenheit der Sentimen- talität und vollends eine die Musik nur als technisches Fach und mit ein- seitiger Tendenz auf dramatische Wirkung betreibende Verständigkeit an die Stelle getreten sind, da hört die Sonate auf, ihre Blüthezeit ist auch die der Musik, ihr Welken das Zeichen, daß die „empfindende Phantasie“ phan- tasie- oder empfindungslos zu werden beginnt und sich daher zu andern Musikgattungen flüchten muß, in welchen mit Empfindung ohne Phantasie (und ohne ausgeprägtern Charakter) oder mit Phantasie ohne Empfindung eher etwas zu leisten ist. Das Clavier kann auch mit andern Instrumenten zu einer reicher besetzten Sonate zusammentreten, es kann die süße, lustige Flöte sich beigesellen, in Läufen mit ihr wechseln und wetteifern, ihre lieb- liche Melodie mit vollen Accorden und reichen Figuren begleiten, es kann seine hellklingende Vollstimmigkeit, seine starken, scharf markirten, silberklaren Laute mit den ernstgedämpften, kräftig durchdringenden und doch wiederum weichen, zarten, schwellenden Tönen der Violininstrumente verbinden und durch diese Vereinigung den höchsten Zauber gediegenen Wohlklanges, lebendigster Energie der Bewegung, reizendsten Tonschmelzes hervorbringen; aber der Charakter der Sonate als freien und vollen Ausdrucks des sub- jectiven Gefühlslebens wird dadurch nicht beeinträchtigt, sondern nur ver- stärkt, indem das kraft- und klangreiche Clavier die Nebeninstrumente im Grunde doch beherrscht und sie in seinen eigenen Kreis ausdrucksreichen Ergusses musikalischer Empfindung mit hereinzieht. 3. Das einfache oder gemischte mehrstimmige Solostück, das Duo, Trio, Quartett, Quintett u. s. w. geht einen bedeutenden Schritt weiter, es läßt mehrere Stimmen selbständig (symphonisch) zusammenwirken und stellt so schon eine wenn auch nicht nothwendig tiefere, so doch mannigfaltiger erregte, nicht an Einem Faden fortlaufende, sondern ver- schiedene Kräfte gegen einander in Bewegung setzende, verschiedene Stim- mungsfarben mischende Gefühlsentwicklung dar. Auch diese Form eignet sich daher ganz besonders zu größern, sonatenartigen Tonstücken, in deren drei oder vier Hauptsätzen die verschiedenen Fäden, aus denen das Ganze sich zusammenspinnt, in die mannigfaltigsten Formen der Gegenüberstellung und des Zusammenwirkens gebracht werden. Lebendig contrastirende, hiedurch zum Schwung des Ganzen nach Vermögen beitragende Stimmenbewegung und Stimmenverflechtung im ersten Satze; im zweiten eine enger zusammen- rückende, zu klarem, weichem, tiefem Stimmungsausdruck zusammentönende Stimmführung, die jedoch im Verlauf auch dazu fortschreitet, das Thema kunstreich auszubilden, es in verschiedene Formen zu kleiden, deren jede ihm eine neue bedeutende Seite abgewinnt; im dritten abermaliges Zusammen- rücken in geschlossenen Gliedern zu belebtem Chor- oder Wechseltanz, der im Trio zartere, lieblichere, auch etwa mit einem leichten Anflug von Weh- muth oder Sehnsucht sich verbindende Formen annimmt; endlich im Schlußsatz entweder einfach abschließende oder „concrete“, zu künstlicherer Gegeneinan- derführung der Stimmen fortgehende Gesammtbewegung (s. Anm. 1); dieß sind die Grundzüge, in welchen diese Form im Allgemeinen sich halten wird, nur daß die gemischte mehrstimmige Composition durch mannigfaltige Verwendung der Klangfarben mehr eine gemüthliche, die Composition für Streichinstrumente dagegen durch kunstvolle Combination der Stimmen mehr eine geistig anregende Wirkung erstrebt (§. 809). Auch neigt sich die letztere mehr zu einer Vierzahl kürzerer, contrastirend gebauter Sätze, um Monotonie zu vermeiden, während die erstere mit ihrer Klangfarbenpoly- phonie leichter auch zu längern, weiter ausholenden, mannigfach variirenden Sätzen sich ausbreitet. 4. Auf lange, in’s Weite und Breite gehende Sätze ist vor Allem das Concert angewiesen. Denn hier handelt es sich ganz besonders um ungebundene, ungehemmt austönende Gedankenentfaltung, damit beide Ele- mente, das Einzelspiel und die Mitwirkung des Orchesters und der Neben- instrumente, zu ihrem vollen Rechte kommen. Individuum und Gesammtheit treten hier mit einander auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um sich zu zeigen und zu messen; stellt der mehrstimmige Solosatz meist noch Gefühle dar, die im Innern der Seele auftauchen, zusammentreffen, in Kampf gerathen, in versöhnter Harmonie sich wieder zusammenfinden, so tritt dagegen das Concert in die Realität eines concretern Lebens heraus, es legt eine erhöhte Seelenstimmung des Individuums dar, die sich ganz und voll gibt, die sich nicht blos, um sich selbst Genüge zu thun, in Tönen verkörpern, sondern gehört, vernommen werden, Anklang und Wiederhall finden will und ihn wirklich findet in dem mittönenden, bald schweigenden, bald voll einfallenden, bald scheinbar still zuhorchenden, bald wiederum mitsingenden und kräftig zustimmenden Chor der Instrumente. Zu diesem Wechselspiel eignet sich am besten ein vom normalen Orchester wesentlich verschiedenes, ihm selbständig und mit eigener individueller Kraft und Tonfülle gegenüberstehendes Instru- ment, am besten also das Clavier; das Clavierconcert ist eigentlich nur eine aus der Innerlichkeit sich nach außen wendende Claviersonate, die ihre Klang- fülle nicht mehr zu einsamem Spiel mit sich selbst zurückhält, sondern sie frei nach allen Seiten entsendet und dazu den Wiederklang der übrigen Instrumentenstimmen sich selbst zugesellt. Der Bau der Sätze ist daher der gleiche, mit Ausnahme der breitern, mannigfaltigern Anlage der Concert- sätze, die mit ihrem Zweck und mit der ihnen zu Gebote stehenden Instru- mentalpolyphonie gegeben ist; nur muß das Concert seiner Natur nach ein- facher in qualitativer Beziehung, in Gedankengehalt und künstlicher Anlage, es muß vollkommen klar und durchsichtig sein, weil nicht Vertiefung des Subjects in sich, sondern sein Herausgehen aus sich selbst zur Wechselwir- kung mit einer Welt außer ihm Gegenstand der Darstellung ist. Die Sonate gestattet, weil sie dazu da ist, daß das Ich sich, sein Fühlen und nichts weiter in sie niederlege, die mannigfachsten Verwicklungen der Stimmführung, sie erlaubt Härten der Harmonie, die in einem Concert wie unverständlich oder unschön sich ausnehmen; das Concert ist die Arie der Instrumental- musik; nicht Tiefe, sondern Klarheit und Kraft, der allerdings ein tieferer Hintergrund anzufühlen ist, lebendiger Ausdruck ist in ihm die Aufgabe. Zu- nächst verdankt das Concert seine Existenz freilich dem äußern Umstande, daß es das Bedürfniß befriedigt, die Virtuosität des Einzelinstruments mit einer reichern und glänzendern Orchesterbegleitung zu hören als beim gewöhn- lichen Solo; aber dieses Bedürfniß hat hiemit eine Kunstgattung hervor- getrieben, die ebenso aus dem innern Wesen der Instrumentalmusik folgt und zu ihrer vollständigen Verwirklichung mitgehört; die Instrumentalmusik setzt hier das einzelne Instrument in Rapport mit dem Ganzen, sie läßt die Stimmen sich selbständig entwickeln und ebenso einander unterstützen und beantworten, und damit ist es von selbst gegeben, daß charakteristische Be- lebtheit, Entfaltung der ganzen Beweglichkeit und Formenfülle der einzelnen Stimmen, namentlich ein glänzend sich emporhebendes, sozusagen provocirendes Auftreten des Hauptinstruments hier das Wesentliche ist; die Einzelstimme soll hier in ihrer ganzen Leistungsfähigkeit angeschaut werden, das Ganze soll die Wirkung der Einzelstimme ergänzen und heben, aber sie nicht in Schatten stellen, und die Einzelstimme muß daher ihre ganze Kraft und Schönheit aufbieten; nicht also die Rücksicht des Effects, des Ohrenkitzels, sondern die Idee der Kunstform selbst, die Idee des Wechselspiels des Ein- zelnen mit dem Ganzen bewirkt, daß das Concert populärer, glänzender, auf Ausdrucksmittel bedachter ist als die Sonate und das Quartett; es ist in ihm nach dieser Seite bereits etwas Dramatisches, obwohl es in anderer Rücksicht, sofern nämlich das Dramatische die Bedeutung einer die Subjec- tivität in Kämpfe und Gegensätze hineinziehenden Verwicklung hat, jenen Formen an dramatischem Charakter durchaus nachstehen und sich auf reiche, klar hinströmende, in jedem Moment schöne Gedanken- und Formenent- wicklung beschränken muß. Das Concert ist durchaus directer Idealismus, es verwirklicht diesen auf dem Boden der Instrumentalmusik am reinsten, es kehrt das Schöne des Instruments, des Orchesters und ihres Gegen- einanderspiels heraus, es ist damit freilich dem Nachtheil unterworfen, daß für Sonate und Quartett ein charakteristischer und tiefer Gehalt leichter zu gewinnen ist, weil sie das Seelenleben in seinen innersten Verschlingungen erfassen und malen dürfen, aber es ist ebendamit auch weniger subjectiv, es ist wie die Harmoniemusik eine sociale, volksthümliche Form, die weit mehr, als es gewöhnlich geschieht, neben dieser ihrer massiveren Schwester zu allgemeinerer Verbreitung auch feinerer musikalischer Kunstanschauungen dienen könnte. §. 816. Mit den in §. 815 aufgeführten umfangreichern Formen gehört die Symphonie zu Einer Hauptgattung zusammen, unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, daß sie einer vollern und breitern Gedankenentfaltung, einer größern Mannigfaltigkeit des Inhalts, einer charakteristischern und tiefer be- wegten Entwicklung fähig ist, so daß mit ihr die Instrumentalmusik formell und materiell zu ihrer letzten Vollendung gelangt. 1. Das Volltönende, Kräftige, Breite, Farbenreiche, das Zusammen- sein der Massenwirkung und des Einzelspiels, das §. 810, 2. als das Eigenthümliche des Orchestersatzes hervorhob, kommt auch dessen höchster Form, der Symphonie, zu (ein Ausdruck, welcher dem gewöhnlich gewor- denen Sprachgebrauch entsprechend ganz auf die große oder Orchester- symphonie beschränkt werden sollte, für die er auch etymologisch besser sich schickt, als namentlich für mehrstimmige Solosätze, indem z. B. wohl von einem symphonieartigen, d. h. beide Instrumente zu gleich selbständigem Zusammenwirken vereinigenden und zu weiterem Umfang sich ausdehnenden Duo der Violine und Viola, nicht aber von einer Symphonie beider passend gesprochen werden kann). In der Symphonie ist die freie Bewegung des monodischen Solo, die feine Stimmenverwebung des Streichquartetts, der Farbenreichthum des gemischten Satzes, die Fülle und Tonklarheit des Concertsatzes vereinigt und zugleich unter die höhere Potenz der Orchester- musik gestellt, in welcher das Einzelne dem Ganzen untergeordnet ist, inner- halb desselben aber die ihm in der Harmoniemusik verkümmerte Freiheit individueller Bewegung in reichem Maaße genießt. In Folge dieser Massen- haftigkeit und Universalität ist die Symphonie zu einer ganz andern Art von Tongemälden berufen als die bisherigen Formen, sie ist, da sie all- stimmig ist und da sie namentlich die hell austönenden Blasinstrumente mit den ideellern Streichorganen vereinigt, ein Bild des in seiner ganzen Fülle und Kraft, nach allen Seiten seiner Erregungsfähigkeit, in allen seinen Regionen sowohl innerlich bewegten als nach außen sich erschließenden Ge- fühlslebens, sie ist ganzes, vollständiges Lebensbild und zwar Bild sowohl des Lebens, wie es zunächst im stillern Bereich des Innern sich regt, als auch wie es von da mächtig und klar heraustritt an’s Licht des Tages, alle seine Schwingen kräftig entfaltend, nichts verbergend, bald in voller Selbstmittheilung fröhlich einhergehend, bald in ihr Entlastung und Erleichterung suchend von dem, was die Brust begeisternd schwellt oder das Herz drückend beengt. Die Universalität ist der Symphonie allein eigen; die Zeichnung innerlicher Seelenzustände hat sie, obwohl schon in concreterer, mehr malerischer Form, mit dem Streichquartett, das volle Heraustreten, jedoch mit mehr Tiefe und Intensität, mit dem Concert gemein, daher die Gliederung in die drei oder vier Sätze auch für sie ihre Geltung behält. Sie kann sich ebendeßwegen auch bald der einen, bald der andern Seite mehr zuneigen, sie kann das eine Mal (mit „einfachem Orchester“) mehr quartettartig, das andere Mal mehr concertmäßig verfahren, obwohl im ersten Falle die symphonische Kraft kleiner ist, im zweiten der Gehalt leicht nothleidet. Ja innerhalb jeder Symphonie selbst kehren diese Unterschiede wieder; diejenigen ihrer Sätze und Theile der Sätze, in welchen (§. 815, 1.) die Zurückziehung des Gefühlslebens in sich, zu innerer Beschaulichkeit, Ruhe u. s. w. zur Darstellung kommt, werden sich immer der Quartett-, die belebtern, schwungreichern der Concertmusik verwandter zeigen. Deß- gleichen werden an die letztere, sowie an den monodischen und den mehr- stimmigen Solosatz für Blas- und gemischte Instrumente, solche Partien erinnern, welche die Einzelinstrumente zum Reden kommen lassen, an das Quartett aber diejenigen, in welchen das ganze Orchester oder eine einzelne seiner Gruppen in engerer Stimmverwebung sich vernehmen läßt. Hier jedoch ist der Vergleichungspunct ein anderer; es tritt nämlich an ihm die universelle Formenmannigfaltigkeit der Symphonie hervor, ihre Formen- mannigfaltigkeit, durch die sie eines weit reichern Inhalts fähig ist als die übrigen Gattungen. Die Symphonie ist nicht nur ganz heraustretende Gefühlsmalerei, sondern auch Malerei des ganzen Gefühlsgebiets; die in ihr vereinigten Klangfarben und die ihr möglichen Toncombinationen klingen so klar und charakteristisch an die sämmtlichen Erregungsarten, Stimmungs- kreise und Empfindungsgebiete des Seelenlebens an, daß sie dieselben voll- ständig zu erschöpfen, sie für sich oder in größerer Vereinigung zu schildern vermag. Es ergibt sich hiemit für die Symphonie eine ähnliche, jedoch mehrgliedrige Eintheilung wie für die Ouvertüre. Sie ist einmal lyrische Symphonie , sie stellt einen Wechsel, Contrast und Fortgang verschiedener Stimmungen dar, die das Gefühl nach der Seite entweder der Lust und der Unlust, oder der Erhebung und der Ruhe, des freudigkräftigen Auf- schwungs und der Sammlung in sich selbst, der Begeisterung und der Rückkehr zu sinniger Betrachtung nach einander afficirt zeigen; sie hat in diesem Falle weniger charakteristische Färbung, weniger intensive Ergriffenheit, sie geht nur aus auf klares und ausdrucksvolles Wiedergeben der Stimmungen; sie zerfällt jedoch schon innerhalb dieses Gebietes gleich wieder in zwei Unterarten, je nachdem ihre Lyrik (wie bei Haydn) eine einfachere, dem Stimmungscharakter des Liedes und sonstiger gemüthlicher Musik sich an- nähernde Bewegtheit der Empfindung oder (wie bei Mozart) eine bereits wärmere, tiefergehende, großartigere, pathetischere Erregung des Gefühles ist. Eine zweite Form ist die epischlyrische, malerische Symphonie ; sie stellt nicht blos Stimmungswechsel, sondern eine Gefühlserregtheit von qualitativ bestimmter Art und Aeußerungsweise dar, sie malt Naturempfin- dungen, sie malt Gefühle, von denen das Menschenleben sich bewegt zeigt, sociale Gefühle, wie sie bei Einzelnen oder größern Massen nach verschie- denen Richtungen, der Freude oder des Leids, der behaglichen, stürmenden Lust oder des Ernstes und der Trauer lebendig werden, sie malt friedliche, ebenso aber auch kriegerische Stimmungen und deren Aeußerung, — idyllische, pastorale, romantische, Freuden- und Tanzsymphonie, elegische, Kriegs- und Siegessymphonie. Ansätze zu solchen malerischen Schilderungen können auch die kleinern Formen des Quartetts u. s. w. ausnahmsweise nicht ohne Glück versuchen, aber volle Mittel hat dazu erst die Symphonie. Natürlich ist es, daß die einfachlyrische und die epischlyrische Symphonie häufig in einander verschmelzen; namentlich gibt dazu der dritte Satz, der Satz in Tanzform, fast von selbst Anlaß, weil er selbst immer schon etwas Malerisches hat, sei es nun daß er die Vorstellung eines wirklichen Tanzes erweckt, oder daß er wenigstens durch charakteristischere Stimmungsfarbe, die ihm immer gegeben werden muß, um ihn nicht unbedeutend erscheinen zu lassen, über das einfach Lyrische hinausgeht, dem Idyllischen, Elegischen u. s. w. sich annähert (wie z. B. das Trio des Menuetts in Mozart’s lyrischer Gmoll - Symphonie, das dem dunkel gefärbten, kräftig schreitenden Mollsatz gegen- über wie eine momentan eröffnete Perspective in ein heiter vergnügtes, gemüthlich sich wiegendes Naturdasein sich ausnimmt). Die einzelne Symphonie kann auch mehrere jener Stimmungskreise vereinigen; so tritt in die Behagen und Lust sprühende A dur -Tanzsymphonie Beethoven’s mit wunderbarer Wirkung (im zweiten Satz) der Ernst des Lebens hinein, zuerst in stillem Schritt, aber immer mehr anwachsend, immer schmerzlicher anfassend, immer rührendere Klagen hervorrufend, bis er endlich noch einmal stark aufleuchtend wie eine sich zurückziehende unheimliche Riesenfaust verschwin- det, um dem bewegten Treiben einer Menge wieder Raum zu lassen, die bald fröhlich hüpfend und lärmend, bald wie in geschlossenen Reihen Arm in Arm umherziehend ihr Fest zu feiern scheint, bis Alles in dem großartig bacchantischen Eilen und Jagen des letzten Satzes sich auflöst. Die Ton- malerei kommt in dieser Gattung der Symphonie zu der ganzen Berechti- gung, die ihr gebührt; die Musik schafft hier Gebilde, die der Phantasie wie farbenreiche, aber der Klarheit des Umrisses und daher der eigentlichen Erkennbarkeit entbehrende Gestalten aus der Wirklichkeit entgegentreten; nirgends ist es deutlicher als hier, daß die Musik nie zeichnen, nur malen, nur andeutende Züge geben und ihnen Farbe verleihen kann, daß sie aber allerdings sich selbst eines ihrer dankbarsten Gebiete berauben würde, wenn sie auf die Pracht, Gluth und Fülle der Färbung, die sie hier aufzubieten vermag, Verzicht leisten müßte. Das tönende Orchester ist das unendlich wahre Bild des aus verschiedensten Kräften sich zusammensetzenden, von den verschiedensten Stimmungen bewegten Menschenlebens, ein lebendig die Stimmen gegen einander führender Orchestersatz macht den Componisten selbst ohne Absicht zum Maler einer bewegten Lebensscene (wofür auch der Instrumententanz im Anfang des zweiten Theils des ersten Satzes der großen Mozart’schen C dur -Symphonie als Beispiel dienen kann); kurz die Symphonie ist durch die reichern und mannigfaltigern Formen und Farben der Instrumentalmusik wesentlich auf das Charakteristische, somit auf Lebens- bilder (höheres Genre) hingewiesen. Die dritte Symphoniegattung ist die dramatischlyrische (vgl. S. 964). In ihr kehrt das Subject aus der Objectivität in sich zurück und nimmt, statt von der Außenwelt sich mit Bildern und Stimmungen erfüllen zu lassen, wie in der höhern Sonate sein eigenes Leben, aber nicht diese oder jene einzelnen mehr beiher spielen- den Stimmungen und Stimmungswechsel, wie sie die lyrische Symphonie schildert, sondern eine tiefere Stimmung zu seinem Gegenstande, wie sie theils im Subject überhaupt, theils eben in diesem Individuum durch das Verhältniß zur Wirklichkeit, zum Gang der Dinge erzeugt werden, in welche es sich hineingestellt findet. Dasjenige, um was sich schließlich das ganze Leben mit all seinen Strebungen, Hoffnungen, Gefühlen dreht, die Har- monie zwischen Subject und Object, zwischen dem Ich und dem Weltlauf, wird hier zum Inhalt der Symphonie, die nun ihre reichen Farben und Mittel dazu verwendet, den ganzen Verlauf der so mannigfaltigen, entgegen- gesetzten und widerspruchsvollen, tiefstgehenden Stimmungen zu malen, welche die Reflexion auf sein Verhältniß zur Welt, auf das Schicksal im Innersten des Menschen hervorruft. Es gibt hier nichts, wozu die Kraft der Symphonie nicht ausreichte; die innerliche Ergriffenheit des Ganzen, die einzelnen Wechsel und Gegensätze der Stimmungen, der Streit verschie- dener Empfindungen mit einander, das Aufstreben zu Kraft und Sieg, das Zurücksinken zur Wehmuth und Sehnsucht, die abermalige Ermannung und Aufraffung, die Erhebung zu seliger, freudenvoller Harmonie des Gemüths mit sich, mit der Welt und der Menschheit, das sind insgesammt Dinge, welche die höchste und für sie in vollkommenster Weise lösbare Aufgabe der Symphonie bilden, wie dieß nach Beethoven’s C- und D moll- Symphonieen nur einfach gesagt zu werden braucht. Als höchste Form erscheint diese dramatisch lyrische Symphonie auch dadurch, daß sie die objective Formen- mannigfaltigkeit der Instrumentalmusik einerseits zu reichster Entwicklung kommen läßt, andrerseits aber dieselbe auch wieder zurückbiegt zum eigentlich Musikalischen, zur unmittelbaren Schilderung des Herzensgefühls; diese Art von Symphonie ist mit aller ihrer dramatischen Lebendigkeit doch nur Ein großartiger Gefühlserguß mit derselben sich einfach wie sie ist gebenden Innigkeit, welche das Wesen der Vocalmusik ausmacht. Die Instrumental- musik realisirt sich hier nicht blos nach der Seite ihrer besondern Eigen- thümlichkeit, sondern läßt in ihr zugleich das allgemein Musikalische zur Erscheinung kommen; mit der dramatischlyrischen Symphonie schließt sich so der ganze weite Umkreis der Musikformen harmonisch ab, die Bewegung kehrt wieder in ihren Anfang, zur unmittelbaren Gefühlsmusik zurück; weitere Formen können nur noch dadurch entstehen, daß die an der Symphonie in eminentester Weise zu Tag tretende Befähigung der Instrumentalmusik zu wirksamer Mitaussprache des Gefühls nach allen seinen Richtungen Anlaß zu einer Combination der Instrumente mit der Vocalmusik gibt, um so endlich alle Ausdrucksmittel zumal in erschöpfender Wechselwirkung zur An- wendung zu bringen. — 2. Ueber die musikalische Construction der Symphoniesätze ist mit Rücksicht auf §. 790 hier beizufügen, daß sie den Aufbau eines größern Satzes aus Motiven eines kurzen Grundthema’s, die „ thematische Verarbeitung “ ganz besonders begünstigt. Die Mannigfaltigkeit der Combinationen und Klangfarben ist hier so groß, daß es sehr gut möglich ist, das Motiv zu den verschiedensten Formen zu entwickeln, in welchen es immer wieder neu, kräftiger, umfang-, farbenreicher oder ebenso auch zarter, leichter, feiner erscheint als in der ursprünglichen Gestalt. Am vollkommensten wird diese Construction durchgeführt, wenn ein einziges Motiv ganz kurzer Art den hervorstechenden „Hauptgedanken“ des ganzen Satzes oder zunächst des „ersten Theils“ bildet, indem es durch Wiederholung in mannigfaltigen melodischen Hebungen und Wendungen, in wechselnder har- monischer Begleitung, sowie durch Ausweitung und nachahmende Fortbildung zu verwandten Bewegungen sich zur Dimension einer längern Tonreihe aus- dehnt; der Symphoniesatz baut sich so ganz organisch auf aus einem Keime, der nur was in ihm schon enthalten ist aus sich hervortreibt in mannig- faltigen Unterschieden der Gestaltung, der Kraft, des Umfangs, und doch so, daß alle Sprossen nur Figurationen Einer Grundform sind, die sich in ihnen fortwährend verästelt und verzweigt, bis der ganze Baum, groß und umfangreich und deßungeachtet nur Vervielfältigung jenes Einen Urtypus, vollendet dasteht. Die Construction des Symphoniesatzes erhält hiedurch eine Einheit des Grundgedankens, einen Charakter schöpferischer Evolution, productiver Kraft, großartiger Expansion, der gerade für diese das Seelen- leben in großartigem Entfaltungs- und Erregungsprozeß darstellende Musik- gattung besonders sich eignet, obwohl er beeinträchtigt wird, wenn die Aus- führung des Grundmotivs zu hartnäckig systematisch wird und so in eine unschöne Kleinlichkeit geräth. Verwandt mit dieser Art thematischer Verar- beitung ist der in der Form der Nachahmung und der Fuge sich bewegende Symphoniesatz, nur daß in letzterem Falle das Motiv, weil es aus „Thema und Gegensatz“ besteht, bereits breiter und daher jene Einfachheit des Ge- dankens schon nicht mehr vorhanden ist. Wiederum eine andere Art ergibt sich damit, daß ein gleichfalls nicht zu kurzes Thema nicht blos in andere melodische und harmonische Formen ausgeweitet und übergeführt, sondern auch zerstückt, in Motive getheilt und diese dann zu selbständigen Figuren und Gedanken vergrößert und fortgebildet werden, eine Methode, die sich (wie z. B. im zweiten Theil des ersten Satzes von Beethoven’s Cmoll- Symphonie) mit der erstgenannten Art, der Evolution aus einfachem Motiv, passend verbindet, aber auch für sich bestehen kann (wie im ersten Satze von Mozart’s großer C dur- Symphonie); hier ist nicht bloße Er- pansion, sondern auch Auseinandergehen, Auflösung des Ganzen in Glieder, die sich schließlich selbst wieder zu Einem größern Ganzen zusammenordnen. Eine Schwierigkeit entsteht bei all diesen Formen thematischer Verarbeitung für den zweiten Theil. Der Anfang des zweiten Theils (der „Mittelsatz“) bildet den Höhepunct des ganzen Satzes, den Culminationspunct der Be- wegung, und stellt dieß naturgemäß dar durch polyphone, verwickeltere Satzbildung aus Elementen des ersten Theils, damit hiedurch eben die Be- wegung des ersten Theils in diesen belebtern Bewegungscharakter übergeleitet werde (S. 950, 961); ist nun aber der erste Theil bereits so construirt, daß seine Grundelemente complicirtere Satzbildungen aus sich hervorgetrieben haben, so sind diese eigentlich schon vorweggenommen, und es kann jeden- falls leicht eine Einförmigkeit entstehen, wenn so im zweiten Theil wieder dieselbe Constructionsform und damit derselbe Inhalt erscheint, wie im ersten. Nur mit großer, kaum überall genügender Kunst überwand Beethoven diese Schwierigkeit im ersten Satz seiner C moll- Symphonie; es bietet sich aber ein von Mozart im ersten Satz der schon erwähnten C dur- Symphonie mit Glück betretener Ausweg dar; es kann dem ersten Theil ein kurzer, das Ganze passend abschließender, seine Bewegtheit charakteristisch recapitulirender Schlußgedanke gegeben und dann dieser zum Thema des „Mittelsatzes“ gemacht, in diesem weiter ausgeführt werden; der Symphoniesatz erhält so zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit, der Einheit unbeschadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den übrigen eng zusammengehört. Aehnlich ist das Verfahren Mozart’s in dem Andante der kleinern C dur- Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuerst im Baß auftreten- der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit seinem Ernste schön contrastirt, allmälig aber selbst wieder in weichere Formen sich auflöst und so dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen Ganzen sich wieder unterordnet. Weiter können die speziellen Formen der Construction hier nicht verfolgt werden, und es ist ja von selbst klar, daß hier ein großer Spielraum gelassen ist, indem es in der Hauptsache nicht auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, sondern auf ihre innere Wahlverwandtschaft ankommt. Auch in Bezug auf die musikalische Ge- dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem strenger einheitlichen sein Recht, wie die episch in’s Breite malende Sym- phonie neben der einfach lyrischen und neben der in sich concentrirtern dramatischen. — Der „zweite Hauptgedanke“ des Symphoniesatzes (§. 790) wird auch durch die strengste thematische Verarbeitung nicht aus- geschlossen. Namentlich im ersten Satze kann er nicht fehlen; die diesem eigene Bewegtheit soll nicht nur in mannigfaltigerer Form sich aussprechen, als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung Eines Gedankens bildete, sondern sie muß schon deßwegen „zweitheilig“ auftreten, damit durch das Hinführen des ersten Hauptgedankens zu dem zweiten, melodisch, harmonisch, rhythmisch von ihm verschiedenen Haupt- gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort- gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und Farbe der Gefühlserregung in’s Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der Fall ist, steht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr oder weniger gleichgültig gegen einander sind, sondern als ein lebendig sich Bewegendes, in welchem ein Fortschritt ist von Ursache zu Wirkung, von Motiv zu Resultat , und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein Gefühl, Eine Erregung (erster Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor- ruft, Bild des Gefühlslebens ist, dieses unendlichen Ineinanders von Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 71 Empfindungen ist u. s. f. Die musikalische Composition ist nun allerdings genöthigt, aus dieser Unendlichkeit von Erregungen eine einzelne Haupt- stimmung und ihren Verlauf herauszugreifen, aber die Symphonie und der einzelne Symphoniesatz entwirft doch diese Stimmungsbilder schon in einem so großen Maaßstabe, daß jenes Moment des Fortgangs von Ursache zu Wirkung, von Motiv zu Resultat in ihm nicht fehlen darf. Dieß wird noch bestimmter erhellen, wenn wir mit Rücksicht auf die früher den einzelnen Sätzen der Symphonie zugewiesene Stellung und unter Zurückgehen auf die psychologische Begründung jenes „Fortgangs“ uns genauere Rechenschaft darüber geben, wie hier die Musik verfahren muß, und warum uns das Uebergehen von Einem Hauptgedanken zu einem zweiten, wie wir es ge- wöhnlich hören, so durchaus natürlich und befriedigend erscheint. Der erste Allegrosatz ist (§. 815, 1) ein erregter, kräftig belebter; je mehr dieß der Fall, je unruhiger und gespannter die Erregung ist, mit der er gleich oder nach vorbereitenden kleinern Sätzen beginnt, je mehr sie sich sodann gesteigert, erbreitert und verdichtet hat, desto mehr ist zu erwarten, daß das Gemüth aus ihr wieder zu sich selbst kommt, zurückblickt, der Stimmung sich bewußt wird, in welche es durch jene erste Erregung versetzt ist; der Affect, die Unruhe, die heftige Schmerzergriffenheit, der Aufschwung, die Begeisterung u. s. w., hinterläßt eine Stimmung, ein Gefühl, in welchem das Gemüth eben empfindet, wie ihm in Folge des Affects u. s. w. übel oder wohl zu Muthe ist, oder führt er zu einem neuen, in der Regel jedoch gefaßtern, weniger unruhigen Affect hinüber, der aus ihm selbst psychologisch sich er- gibt, z. B. die Schmerzergriffenheit zur Sehnsucht nach Freiheit u. s. f.; das menschliche Gefühlsleben strömt, weil es ein bewußtes ist, nicht mechanisch uno tenore fort, sondern es ist Prozeß, in welchem aus der Affection, welcher das Gemüth zunächst hingegeben ist, etwas Neues, ein ruhigeres, gesammelteres Gefühl des Zustands, in den die Affection das Ich versetzt, sich entwickelt; das Ich nimmt sich aus der einseitigen Erregt- heit, durch die es afficirt war, in sich zurück, wird seiner selbst wieder inne, es stellt dem das Bewußtsein aus sich herausreißenden Affect immer wieder das Gefühl gegenüber, in welchem es wieder rein bei sich ist, aus welchem aber ebenso neue Affecte sich wieder entwickeln können. Auch kann der erste Affect wieder in den Vordergrund des Gefühlslebens treten, wieder Meister werden, sich verstärken, gerade weil er zurückgedrängt war und noch nicht ganz durchgekämpft ist — diesen Höhepunct hat der den zweiten Theil er- öffnende „Mittelsatz“ darzustellen; — aber ganz allein kann er nicht dominiren, das wäre ungeistig, und darum läßt die Symphonie (wie auch Sonate, Quartett u. s. w., für welche dieß Alles gleichfalls gilt) den ersten bewegten Hauptgedanken fortführen zu einem zweiten, der innerhalb des einzelnen Symphoniesatzes eine ähnliche Stellung einnimmt, wie das Andante oder Adagio innerhalb der ganzen Symphonie; es ist mehr Ruhe, Sammlung, Zuständlichkeit, Klarheit und daher auch mehr melodiöse Helligkeit in ihm, aber allerdings eine Ruhe, die hier noch der Erregtheit untergeordnet bleibt und erst im Andante ganz für sich hervortritt. Auch das Andante, wenn es gedankenvoller ist und nicht etwa leichtes Rondo oder Variationsstück ist, führt die Tonbewegung von einer Empfindung zur andern fort, welche Resultat der erstern ist; ein Gefühl gebiert immer ein zweites, weil jedes Gefühl ein Zustand ist, dessen Verhältniß zum ganzen Leben und Sein der Ichheit abermals für sie Ursache und Gegenstand eigenen weitern Fühlens wird. Selbst der Tanzsatz zeigt keine blinde, taumelnde Erregtheit, er braust zuerst voll und unruhig einher, aber er erweicht und sammelt sich im Trio, obwohl er dessen nicht nothwendig bedarf, wenn er selbst schon ernstern Ton und Charakter angenommen hat. Der Schlußsatz, wenn er einfacherer Natur ist (§. 815, 1), kann die Gliederung in zwei gleich wichtige Hauptgedanken am ehesten entbehren, weil in ihm die Gefühlserregtheit bereits in dem Stadium der Vereinfachung, der leichter, gegensatzloser werdenden Bewegt- heit angekommen ist, er kann sich mit der Rondoform begnügen, wogegen der concretere Schlußsatz, in welchem noch einmal Erregung, Streben und Kampf auf den Schauplatz tritt, den zweiten Hauptgedanken wiederum wesentlicher bedarf, um an ihm ein Element beruhigterer Bewegung zu haben, das vom Ganzen den Charakter einseitiger Erregtheit ferne hält. Musikalisch kann freilich der zweite Hauptgedanke auch ganz oder theilweise aus Elementen des ersten, des Hauptmotivs, herausgebildet sein, aber es thut dieß dem entschiedenen Contrast, in welchem er zum ersten Gedanken steht, und der Bedeutung, die er hiemit im Ganzen hat, keinen Eintrag, wie dieß namentlich an dem Beispiel des zweiten Hauptgedankens im ersten Satz der Cmoll- Symphonie so klar ersichtlich ist. Warum er in der Regel melodischer, figurenärmer, durchsichtiger, liedartiger ist als der alle Orchester- kräfte in Bewegung setzende erste Gedanke mit seinen Nebensätzen, ergibt sich von selbst aus seinem Zweck und Charakter; er verhält sich zu jenem wie die Melodie zu undurchsichtigern Harmoniegeweben (S. 923), die Tonbe- wegung öffnet, erhellt, vereinfacht sich in ihm, und daher finden namentlich auch die Soloinstrumente, besonders die weichern Blasorgane, eben an diesem Orte hauptsächlich ihre charakteristische Verwendung. — Die speziellere Gliederung der Hauptsätze, z. B. das Gesetz, daß ein Hauptsatz die Theilung in zwei Hauptgedanken innerhalb seiner selbst abbildlich wiederholen kann, muß die Aesthetik der Musikwissenschaft überlassen; wie in der rhythmischen, so kann auch in der Gedankengliederung eine Vielfachheit symmetrischer Sub- sumtion kleinerer Theile unter größere stattfinden, die genauer apriorischer Bestimmung nicht unterliegt und nur an der Forderung ihre Grenze hat, daß das Ganze dadurch nicht in zu viele kleine Theile und Theile von Theilen 71* zerstückelt werde. Auch die Lehre von den (schon früher mehrfach berührten) fortleitenden Neben- und Zwischen-, sowie von den Schlußsätzen sowohl der großen Sätze als der Theile und ihrer Hauptabschnitte ist zu spezieller Natur; alles Einzelne in ihr beruht auf denselben Gesetzen der Gliederung der Reihen, des fließenden Fortgangs, des Bewegungsrhythmus, welche für die ganze musikalische Composition maaßgebend sind. Die durch gegebene Zwecke hervorgerufenen oder ganz freien Phan- tasieformen , Etüde, Notturno (Serenade), Capriccio, Divertissement, größere Phantasie (S. 962) können allesammt Schönes, Charakteristisches, Großartiges leisten, sie sind, die eigentliche Etüde abgerechnet, Zier- und Prachtblumen in dem reichen Garten der Musik, welche neben ihren kraft- und saftvollern Producten edlern und strengern Styls immerhin so viel Raum als ihnen beliebt einnehmen mögen, wenn sie nur das Feld nicht allein behaupten wollen; sie sind eine Poesie der Musik, zu welcher die musikalische Phantasie hinstrebt, um sich in ihrer reinen Freiheit zu haben, mit welcher sie aber ebendarum auch bereits an der Grenze ihres Kunstgebietes ange- kommen ist. γ . Vocal- und Instrumentalmusik in Einheit und Wechselwirkung. §. 817. Die beiden Hauptgattungen treten naturgemäß zu einer Verbindung ihrer beiderseitigen Wirkungen zusammen, da der einfache Gefühlserguß der Vocalmusik in der concreten Gefühlsmalerei der Instrumentalmusik ganz von selbst seine Verstärkung und belebende Vermannigfaltigung findet, wie hinwiederum der Formenreichthum der letztern zu vollständiger Verwendung und allseitiger Ent- wicklung, sowie zur Erfüllung mit ganz bestimmtem Inhalt nur gelangt, wenn sie sich auch zu gesangbegleitender Musik ausbildet und zur musikalischen Dar- stellung des concretern Empfindungsinhalts, wie er der Gesangsmusik durch das zu Grund gelegte Wort zusteht, ihrerseits mitwirkt. Daß der Gesang in dem Kraft- und Formenreichthum der Instrumental- musik eine Ergänzung, eine Verstärkung und Belebung des Ausdrucks, einen sympathetischen Wiederhall nicht nur findet, sondcrn auch sucht, sobald er aus der Sphäre rein in sich seiender Subjectivität (im unbegleiteten Liede) und in sich vertiefter Idealität (in der heiligen Musik) zu vollerer, kräftigerer, lebendigerer Aeußerung, zu ausgesprochener Selbstmittheilung des Gefühls heraustritt, bedarf nach früher Erörtertem keiner Ausführung mehr. Ebenso klar ist, daß die Instrumentalmusik, wie sie durch Begleitung des Tanzes und Marsches, durch Eröffnung des Drama’s ihr Gebiet erweitert und gerade hier zu ganz besonders charakteristischer Tonmalerei Stoff erhält, so auch durch Gesangsbegleitung ihre Formenmannigfaltigkeit weiter aus- bilden und concretern Gehalt gewinnen kann, als wenn sie blos innerhalb ihrer selbst verharren und aus ihrer nach der Seite des Inhalts doch immer gestaltlos unbestimmten Sphäre gar nicht heraustreten wollte. Wer blos reine Instrumentalmusik will, muß auch jene Formen, in welchen sie begleitend zu Handlungen sich hinzugesellt, (Marsch u. s. w.) verwerfen; wer aber diese Formen, aus denen die Instrumentalmusik sich herangebildet und in welchen sie jederzeit die reichsten und charakteristischsten Wirkungen hervor- gebracht hat, nicht als Mißbildungen, sondern als naturgemäße Gattungen betrachtet, in denen die Instrumentalmusik eine ihr nicht aufgedrängte, sondern in ihrem eigenen Wesen liegende Befähigung zur Begleitung ausübt und glänzend beurkundet, der kann auch in gesangbegleitender Instrumentalmusik keinen Widerspruch finden; gerade weil sie weit formenreicher ist als der Gesang, kann sie auch die Form der Begleitungsmusik an- nehmen , die ihr Gelegenheit zu neuer Verwendung ihrer Mittel, zu neuen Bewegungen und Stellungen und zugleich Aufforderung zum Streben nach einer charakteristischen Inhaltsbestimmtheit bietet, durch welches sie selbst nur gewinnen und sich bereichern kann. Die Unterordnung, in welche sie sich (§. 798) bei diesem Bunde mit der Gesangsmusik begeben muß, läßt ihr immer noch Raum genug zu schöner Entfaltung ihres eigenen Wesens und wird reichlich aufgewogen durch die erhöhte Pracht und Kraft, in welcher sie gerade in der Vereinigung prangt vermöge des mittelst dieser entstehenden Contrastes zwischen der Einfachheit des Gesangs und der Klang- und Farben- fülle des Instrumentenchors. Ja sie gewinnt darin selbst ein neues Leben, eine ihr erst in dieser Vereinigung erwachsende Function, die Function nicht nur verstärkender und vermannigfaltigender, sondern auch sympathetisch mit- gehender, den theilnehmenden Wiederklang, den das subjective Gefühl in der objectiven Welt außer ihm findet, darstellender Begleitung (§. 812). In Concert und Symphonie konnte dieß doch nur unvollkommen, uneigentlich (symbolisch) geschehen, weil hier den von andern Instrumenten umspielten und beantworteten Hauptstimmen das klare, scharfe Gepräge eines einer objectiven Welt gegenüberstehenden Subjectiven fehlte; dieses entsteht erst dann, wenn subjective und objective Musik einander wirklich gegenüber- treten, wie es da der Fall ist, wo ein der Menschenbrust selbst entsteigender Gesang von Instrumenten begleitet wird, welche nichts Anderes sind, als äußere, von außenher tönende und somit eben die Sympathie einer Außen- welt mit dem Subject darstellende Naturobjecte. §. 818. Die Vereinigung beider Gattungen ermöglicht Tonwerke größeren Um- fangs und Styls, belebterer und schärferer Charakterisirung, als die einzelne Gattung für sich sie hervorbringen könnte, Tonwerke, welche nicht einzelne Empfindungen und Stimmungen, sondern eine in sich abgeschlossene Reihe von Gefühlen schildern, die sich an ein dem Vewußtsein vorschwebendes Ganzes objectiver Anschauung, Geschichte, Handlung knüpfen, oder aus einer solchen als in ihr enthalten ihm entgegentreten. Mit Werken dieser Art realisirt die Composition eine Aufgabe, welche durch das eigenste Wesen der Musik selbst vorgezeichnet ist, und durch deren Lösung sie erst zu ihrer vollständigen Entfaltung gelangt. Größere Tonwerke sind der Instrumentalmusik unmöglich wegen ihres Mangels an anschaulicher Inhaltsbestimmtheit, ebenso aber auch der Vocal- musik wegen ihrer Einfachheit, die bei weiterer Ausdehnung zur Einförmigkeit würde; anschaulichen Inhalt hat der Gesangtext, mannigfaltigere Formbe- lebung und schärfere Ausdrucksmittel der Instrumentenchor zu liefern. Findet sich dieß Beides zusammen, so ist das „Tonwerk“ (§. 786, 2. ) möglich. Es wäre schlimm für die Musik, wenn sie sich auf „Tonstücke“ beschränken müßte; in ihrem Wesen liegt es, allerdings mit Hülfe eines bestimmtern Inhalt und größern Zusammenhang leihenden Textes, nicht nur einzelne Tonbilder und Tongemälde, sondern auch Reihen von solchen zu geben, die zusammen Ein umfassendes Ganzes bilden; sie strebt nach Totalität , Entwicklung weit mehr als die bildenden Künste, weil die Fixirung eines einzelnen Gebildes in schlechthin concreter sinnlicher Erscheinung ihr nicht in dem für sich befriedigenden Grade der Vollkommenheit wie jenen zusteht, und weil ihr Stoff einmal kein anderer ist als der unendlich bewegliche, unruhige, in unaufhaltsamem Fortschritt begriffene, sich selbst stets neu ge- bärende Proceß des Gefühlslebens; sie ist nicht blos Bild, sondern Reihe von Bildern und kommt erst damit zu voller Verwirklichung ihrer selbst, daß sie dieses ist, daß sie sich zu einer Folge von Stimmungsbildern ent- faltet, welche durch die Verhältnisse des Contrastes, der Motivirung, des fortschreitenden, aufundabwogenden Bewegungsrhythmus unter sich zusammen- gehalten Ein größeres Ganzes constituiren. Sodann zerfällt ja auch das Gefühlsleben selbst gar nicht blos in eine Unzahl einzelner lediglich subjectiver, einander zwar bedingender, aber dem Inhalte nach heterogener, nur durch die Individualität, an der sie haften, äußerlich zur Einheit einer Reihe zusammengehaltener Empfindungen; im Gegentheil über jenes unendliche Chaos wechselnder, singulärer, zufälliger idiopathischer Einzelempfindungen heben sich Gefühle tiefern, höhern, weitergreifenden Gehalts und Interesses, sympathetische Gefühle, Empfindungen religiöser, ethischer, allgemeinmensch- licher (gemüthlicher) Natur empor, welche an großen, allgemein bedeutsamen, für das menschliche Gemüth als solches wichtigen, die Sympathie der Menschenbrust überhaupt erregenden Gegenständen, Ereignissen, Anschauungen ihr Object haben, und diese Art von Gefühlen ist nun nicht blos beschränkt auf jene unmittelbarern, selbst wieder subjectivern Stimmungen der Andacht, der Demuth, der Begeisterung, welche wir bei der Betrachtung der kirchlichen Musik kennen lernten, sondern sie erstreckt sich weiter, sie geht fort zu einer fühlenden Betrachtung ganzer Reihen von Ereignissen oder von Anschauungen , welche religiöse, ethische, gemüthliche Bedeutung für die Subjectivität haben, zu der fühlenden Betrachtung bedeutungsvoller Ereignisse und Anschauungen, welche selbst so inhalt- und umfangreich sind, daß sie nicht innerhalb des engen Raumes des Psalms, der Motette, der Messe, des Lieds, der Ballade u. s. f. befaßt werden können, sondern sich ausdehnen zu einem großen zusammenhängenden Ganzen, zu einem „Cyclus“ von Begebenheiten und Vorstellungen, der in dieser seiner ganzen Ausdehnung Gegenstand des Gefühls ist, vom Gefühl des Anschauenden lebendig empfunden wird und so eine seinem objectiven Inhalt entsprechende große Reihenfolge von Gefühlen, einen Cyclus von subjectiven Gefühlen in ihm erregt. Auch Gefühle dieser Art fallen unter das Gebiet der Musik, sie werden, wie alles Gefühl, erst durch sie recht lebendig, und sie gewähren andrerseits ihr den edelsten und zugleich umfassendsten Stoff, der überhaupt denkbar ist, der aber eben wegen seines weitern Umfangs Fixirung der Gefühle in andeu- tendem Worte, also Vocal-, und wegen seiner concretern, objectiver entwickelten Natur lebendigere, farbenreichere Charakteristik, also Instrumentalmusik ver- langt. Ein zweiter Grund, der die Musik zu größern Tonwerken forttreibt (und der mit dem vorigen zusammen zugleich bereits die Grundlage der Gliederung dieses ganzen Musikzweiges abgibt) ist folgender. Zusammen- hängende „Gefühlscyclen“ (um diesen bezeichnendsten Ausdruck beizubehalten) bilden sich auch dadurch, daß jede größere Folge von Begebenheiten und Actionen , jede „Geschichte“ und „Handlung,“ die nicht ganz äußerlicher, zufälliger, mechanischer, bedeutungsloser Art ist, ihrer subjectiven Seite nach nichts Anderes ist, als eine Reihenfolge von „passiven und activen“ Gefühlen (§. 814), welche durch das Geschehende bedingt sind und das Geschehen selbst bedingen. Eine in der Sphäre bewußter, empfin- dender, wollender Wesen vor sich gehende, eben mit ihnen zu thun habende Geschichte löst sich psychologisch betrachtet auf in eine Reihe von Zuständen, Affectionen, Gefühlen, welche in den Betheiligten hervorgebracht werden oder sie, soweit sie mithandeln, zu diesem Handeln bestimmen; dasselbe ist bei einer Handlung der Fall, nur daß hier die zum Handeln bestimmenden activen Gefühle, Affecte, Leidenschaften, Strebungen stärker und mit mehr Bedeutung hervortreten als bei der bloßen Geschichte, indem eigentlich sie den Kern des Ganzen ausmachen. So entstehen mithin objective Ge- fühlscyclen, Reihen von Gefühlen nicht des anschauenden Subjects, sondern der bei der angeschauten Geschichte oder Handlung betheiligten Personen , und diese objectiven Gefühlsreihen kann natürlich die Musik ebensogut als jene noch subjectivern musikalisch darstellen, denn es macht für sie nichts aus, ob sie der subjectiven Stimmung des fühlenden und sein Gefühl in Tönen aussprechen wollenden Subjects selbst einen Ausdruck zu geben, oder ob sie Stimmungen leidender und handelnder Personen, denen das Subject blos zusieht, zu schildern hat, wenn nur diese Stimmungen musikalisch dar- stellbar und zugleich ihrem Gehalte nach von der Art sind, daß der Wunsch sie auch in Musik zu hören, einen musikalischen Eindruck von ihnen zu empfangen wirklich entstehen kann. Ja die Musik erhält hiemit ein ganz besonders fruchtbares Gebiet; in „Geschichte“ und „Handlung“ werden die Gefühle, weil hier verschiedene Individuen durch reale Ereignisse afficirt werden, weil sie das Erregendste, Schwerste, Schmerzlichste, Furchtbarste erleiden, zu den verschiedenartigsten, heftigsten, extremsten Affecten und Leiden- schaften hingetrieben werden können, kurz, weil hier Individuen in das Leben und seine Einwirkungen und Conflicte mitten hineinversetzt sind, dergestalt intensiv, innig, tief, durchgreifend, kurz dergestalt dramatisch bewegt und dergestalt mannigfaltig und individuell, oder sie nehmen hier so starke und so concrete Färbungen an, daß die Musik, sobald sie nur einigermaaßen ihrer dynamischen und qualitativen Ausdrucksmittel bewußt und Herr geworden ist, dieses Gebiet als ihre eigentlichste Sphäre ergreifen und anbauen muß, was sie aber wiederum nur thun kann durch Fixirung des darzustellenden Gefühlscyclus (der Geschichte oder Handlung) in be- stimmtem Wortinhalt und durch Verwendung der drastischen Kräfte und malerischen Formen der Instrumente, welche für den Ausdruck, sowie schon für die bei längeren Compositionen erforderliche Mannigfaltigkeit, unent- behrlich sind. Diese musikalische Vergegenständlichung des einer Geschichte oder Handlung immanenten Gefühlsgehalts wird aber noch weiter führen; die Theilnahme an demselben, welche dazu treibt, ihn auch musikalisch dar- gestellt haben zu wollen, wird bald auch den Wunsch hervorrufen, die Ge- schichte und insbesondere die Handlung, weil in letzterer die Activität der Personen den Schwerpunct bildet, nicht blos zu hören, sondern auch zu sehen; die Sänger, welche sich bereits dazu verstanden haben, die Helden, deren Thaten und Leiden sie singen, musikalisch vorzustellen, werden es auch dramatisch zu thun sich nicht lange weigern, sie werden singende Schauspieler werden und als solche, accompagnirt von den Choristen und Solisten des Orchesters, die Handlungen und Geschicke, die Empfindungen und Affecte der vorgestellten Persönlichkeiten so ganz unmittelbar und in solcher Ver- bindung des mimischen Ausdrucks mit dem musikalischen darstellen, daß dieser letztere, um den es hier in erster Linie zu thun ist, dadurch an Klar- heit und Leben unendlich gewinnen muß. Die Fähigkeit und der Beruf der Musik zu größern Tonwerken von einer Tiefe, Kraft und Schönheit der Wirkung, welche ihr gewiß wohl ansteht und dem, was sie auf andern Gebieten leistet, gewiß nicht nachgesetzt werden kann, ist hiemit erwiesen; es ist gezeigt, daß es nicht eine Verirrung, wie der Purismus behauptet, sondern der folgerechte Fortschritt zu einer ihr Wesen erst vollständig reali- sirenden Kunstform ist, wenn sie zur Geschichte und zum Drama fortgeht, und es kann sich daher weiter nur um Betrachtung der speziellern Gestal- tungen dieser Kunstform handeln. — Ein untergeordneter, aber nicht unwich- tiger Punct, den die obige Erörterung noch bei Seite lassen mußte, ist der, daß die Musik auch Mittel hat, Ereignisse (z. B. Sturm, Erdbeben, sanftes Wogen, Säuseln u. s. f.) und einzelne Actionen (z. B. Angriff, Marsch, Kampf, Verwirrung, Flucht, Getümmel, Tanz u. s. f.) mit einem charakte- ristischen, ihren Eindruck auf Phantasie und Empfindung (ihren Stimmungs- gehalt) malenden Ausdruck begleitend hervorzuheben; auch diese Seite der Musik, die Tonmalerei , kann erst dann zu voller und zu künstlerisch berechtigter Entwicklung gelangen, wenn sie zu einer durch den Wortausdruck oder die scenische Darstellung klar veranschaulichten Begebenheit oder Hand- lung hinzutritt und so selbst klar und deutlich wird (s. S. 968); die Musik müßte auf eine große Zahl der ihr eigenthümlichsten Tonwirkungen ver- zichten, wenn sie nicht zu Werken fortginge, in welchen sie Gelegenheit erhält objectiven Ereignissen, Zuständen, Begebenheiten, Actionen, Bewe- gungen musikalischen Ausdruck zu verleihen und dadurch zugleich die Ver- anschaulichung der Stimmungen und Gefühle zu verstärken, die an jene Ereignisse u. s. w. sich anknüpfen und deren Darstellung für sie allerdings die Hauptsache bleibt. §. 819. Das Tonwerk, welches (§. 818) den einer objectiven Anschauung, Ge- schichte oder Handlung immanenten Gefühlsgehalt musikalisch wiedergibt, ist zunächst, wie alle Musik ursprünglich, lyrisch (d. h. noch ohne dramatische Dar- stellung), aber es ist bereits episch-lyrisch , weil es die musikalische Darstellung der an ein bestimmtes objectives Sein oder Geschehen sich knüpfenden oder in ihm zu Tage tretenden Reihen von Stimmungen und Gefühlen bezweckt. Dieses epischlyrische Tonwerk kann in dreierlei Hauptformen erscheinen. Es ist 1) vorherrschend lyrisch, indem die Aussprache der für das anschauende Subject an die Vorstellung eines objectiven Seins oder Geschehens sich knüpfenden Gefühle überwiegt, lyrisches Oratorium . Es ist 2) vorherrschend oder rein episch, indem die Segebenheit oder Handlung ähnlich wie im historischen Liede gesungen, in der Form belebter musikalischer Erzählung eines das Gefühl ansprechenden und selbst eine Reihenfolge von Gefühlen und Stimmungen darstellenden Ge- schehens vorgetragen wird, epische Cantate . Es ist 3) in seiner epischly- rischen Haltung zugleich dramatisch, indem es die Einzel- und Gesammtpersön- lichkeiten, auf die das Ganze Bezug hat und deren Zustände und Thätigkeiten, Stimmungen und Empfindungen den Inhalt und Verlauf des Ganzen selbst bilden, in der Form selbständiger, durch eigene Stimmen und Stimmenganze repräsentirter Individuen neben und nach einander auftreten und ihre Gefühle selbst aussprechen läßt, so daß der Gefühlsgehalt des Ganzen in allmäliger Entfaltung dem Subject in völlig objectiver Form gegenübergestellt wird, epischdramatisches Oratorium . Streng zu sondern sind diese drei Haupt- formen nicht, da eine ausführlichere Hereinnahme epischer Elemente in das lyrische, lyrischer in das epische und epischdramatische Tonwerk unter Umständen Jenes zur Belebung der Darstellung, Dieses zur Innigkeit des Stimmungsaus- drucks wesentlich beitragen kann. Weitere Unterschiede ergeben sich aus dem Inhalt, der religiös oder allgemeinerer Art ist, sowie daraus, daß er entweder dem Gebiet idealer Anschauung oder realer Objectivität angehört, welche letztere dann wiederum entweder religiös oder historisch oder Lebensbild, Sittenbild (§. 702 ff.) ist. Der §. sucht die schwierige, vielbesprochene Frage über Begriff und Eintheilung des Oratoriums und der verwandten Zweige der Musik zu erledigen. Die Sache ist im Grund einfach. Das Oratorium beginnt da, wo epische Musik in größerem Maaßstabe (als z. B. in Ballade) in die lyrische herein-, zu ihr herantritt. Innerhalb religiöser Musik bezeichnet namentlich das Stabat mater den Fortgang von lyrischer zu epischlyrischer Musik; in der ersten Strophe bis pertransivit gladius ist oratorienmäßige Epik, aber sie wird nicht fortgesetzt, sondern geht zur Lyrik theilnehmender Klage und herzinniger Bitte zurück. Wirkliches, aber lyrisches Orato- rium sind Haydn’s „Worte des Erlösers am Kreuze“ ; die Worte treten in objectiver Weise, theils von Einzelstimmen, theils vom Chor vor- getragen, dem anschauenden Subject, der Gemeinde gegenüber, deren an die „Worte“ sich knüpfende Empfindungen aber dann allerdings den Haupt- inhalt der musikalischen Composition ausmachen. Ebendeßwegen weil die- ses Lyrische hier das Hauptmoment bildet, ist auf rein epische oder gar dramatische Form bei der Composition der Worte selbst nicht Bedacht ge- nommen, die Mehrzahl derselben wird einfach, ohne alles erzählende Beiwerk recitirt, und zwar in Choralform, nicht in Recitativ- oder Liedform (wie das Gesetz der Dramatik es fordern würde), weil es sich eben nur darum handelt, sie der Gemeinde gegenüberzustellen in einer der Gewichtigkeit, die sie als Mittelpunkt des Ganzen haben, vollkommen entsprechenden (darum chorischen) Form. Das „Ach mich dürstet“ wird von einer Solostimme vorgetragen, die aber nicht dramatisch den Sprechenden selbst, sondern nur einen epischen, die Worte dieses Letztern berichtenden Erzähler vorstellt; hier macht sich das epische Moment mehr geltend, wie auch nachher in der instrumentalen Schilderung des Erdbebens, aber nur ganz im Vorübergehen. In umfassenderem Maaßstabe tritt das Epische, an einzelnen Puncten („Ja nicht auf das Fest“ u. s. w., „Laß ihn kreuzigen“ u. s. w.) zum wirklich Dramatischen fortgehend, in das lyrische Oratorium herein in Bach’s Passionsmusik . Sie ist der Grundtendenz nach lyrisch, Betrachtung der Leiden Christi, an die sich überall sogleich das Aussprechen der Gefühle des Subjects, der Gemeinde anschließt, die für sie sich an jenes Leiden knüpfen; aber sie läßt auch der epischen und dramatischen Schilderung in epischen Recitativen und dramatischen Chören so weiten Raum, daß sie eigentlich alle drei Formen des Oratoriums in sich vereinigt. Nicht so großen aber gleichfalls sehr bedeutenden Umfang hat das Epische in Hän- del’s Messias . Die Anlage ist hier die: einzelne der Geschichte und Handlung gleichsam während ihres Verlaufes zuschauende Stimmen erzählen dieselbe nach ihren einzelnen Momenten einem zuhörenden, idealen, die Ge- meinde repräsentirenden Chor, jedoch so, daß die Erzählung nicht in die epische Breite des Thatsächlichen eingeht, sondern die innere Bedeutung desselben überall als Hauptsache behandelt; dieser erzählenden Schilderung, die im dritten Theil („Merkt auf, ich sag’ ein geheimes Wort“) auch zu lehrhafter Ansprache übergeht, antwortet der Chor, bald vollstimmig (d. h. auch musikalisch als Chor), bald nur durch Quartett, bald auch blos durch Einzelstimmen sich aussprechend (z. B. in der Arie. „Ist Gott für uns“), indem er seine Gefühle darlegt, wie sie an die einzelnen Momente der Handlung sich knüpfen. Einmal tritt auch ein dramatischer Chor ein („Er trauete Gott“), der eigentlich zu vereinzelt neben den sonst fast durchaus lyri- schen Chören dasteht und daher in’s Ganze nicht recht paßt. Aus dem über diese beiden Oratorien Gesagten geht zugleich hervor, daß die Vereinigung der drei Gattungen, namentlich des Epischen und Lyrischen (obwohl Ver- fehltes dabei mitunterlaufen kann), nicht unerlaubt, sondern je nach Anlage des Ganzen sehr wirksam ist. Je reicher das Objective sich entwickelt, je ausdrucksvoller es dargestellt wird, desto mehr gewinnt auch das subjectiv Lyrische an Entwicklung, Farbe und Ausdruck; dem blos lyrischen Orato- rium fehlt es an concreter Schilderung und daher auch an eigentlich con- creter Gefühlsfärbung. — Rein episch, höchstens mit lyrischen Beigaben (z. B. Schlußsätzen) ist die (epische) Cantate , wie z. B. Händel’s Alexan- derfest. Eine Begebenheit oder Handlung, das Einzelne, was die in ihr auftretenden Personen reden und thun, wird von zuschauenden Persönlich- keiten der Reihe nach erzählt; weder ein der Handlung gegenübertretender Chor ist da, noch treten die Personen der Handlung selbstredend auf. Aber — und hierauf beruht der Unterschied der „Cantate“ von Lied, Ballade u. s. w. — die Handlung soll doch in größerem Styl, in der Form des Tonwerks, nicht des bloßen Stücks, objectiv veranschaulicht, sie soll dem Hörer geschildert werden mit allen musikalischen Mitteln, welche aufgeboten werden können, um ihr inneres Leben, die in ihr immanenten, in ihr spie- lenden und wirksamen Gefühle, Affecte u. s. w. in voller Objectivität, in kräftigem Heraustreten zu veranschaulichen, und daher erzählt nicht blos Eine Stimme (nicht blos ein Balladensänger), sondern die Erzählung vertheilt sich (wie bei der größern lyrischen Cantate §. 804 die Aussprache der Gefühle) an verschiedene musikalische Persönlichkeiten, an Recitativ- und Arienstimmen, an Terzette, Chöre u. s. w., je nachdem das einzelne Mo- ment der Handlung durch seinen Inhalt mehr für den einfachern Solo- oder für den gewichtigern, nachdrücklichern Ensemblevortrag sich eignet; bedeutsam verwickelte Momente, z. B. solche, in welchen Reden oder Hand- lungen einer Mehrheit, einer Kriegertruppe oder dgl., erzählt werden, theilt der Componist einem Chore, weniger bedeutende den Einzelstimmen zu. Die Cantate nimmt also in ihrer Stimmenvertheilung bereits Rücksicht auf die Persönlichkeiten der Handlung selbst; die singenden Stimmen und Stimm- ganzen bilden bereits die handelnden oder leidenden Einzel- und Gesammt- persönlichkeiten entsprechend ab, und es ist somit nur noch ein kleiner Schritt zum dramatischepischen Oratorium , das ein Drama, nur ohne scenische Darstellung ist, aber auch lyrische Elemente, z. B. Gesänge eines zuschauen- den idealen Chors (wie in Mendelssohn’s Paulus und am Schlusse des Elias), und ausführlichere epische Recitationen sei es nun durch Einzel- stimmen (wie die Oper es thut) oder an geeigneten, bedeutsamen Stellen durch Chorstimmen (wie mehrmals im zweiten Theil des Elias) in sich aufnehmen kann, so daß in letzterem Falle das Oratorium gerade wie die Cantate verfährt. Im Ganzen jedoch ist zu rathen, daß das dramatisch- epische Oratorium nicht zu viel lyrische Zugaben erhalte, da die Lebendigkeit der Handlung durch zu öftere Unterbrechungen nothleidet und so ein erschlaffendes Element in die Composition hereinkommt. Anders ist es beim lyrischen Oratorium; dieses kann in einzelnen Momenten sich zu dramatischer Objectivirung dessen, was das Subject anschaut und mit Em- pfindung betrachtet, steigern (wie eben bei Bach), damit gewinnt das Werk an Leben und Kraft; aber ein Herabgehen aus dem bewegtern dramatischen in das weichere lyrische Gebiet ist immer mißlich, es wirkt leicht sentimental, abschwächend (im Paulus z. B. ist doch etwas zu viel Lyrisches, zu viel Choral, am Schluß des im ersten Theil so dramatischen Elias auch; Händel hat mit Recht dergleichen nicht in seinen epischen Oratorien, die eben auch darum so ganz aus Einem Guß und von so ungetheilt kräftiger Wirkung sind). Die weitere Gliederung, religiöses und weltliches, ideales oder real- episches Oratorium, ergibt sich von selbst. Das ideale Oratorium , wie Spohr’s letzte Dinge, das nicht eine Geschichte, sondern eine in episch- dramatischer Form sich darlegende ideale Anschauung zu seinem Inhalte hat, wird am ehesten auf dem Boden der Religion sich bilden, jedoch stets beschränkte Bedeutung haben, weil es der concreten Bestimmtheit, wie dieser Musikzweig sie fordert, zu sehr entbehrt und daher auch der religiösen Cantate noch zu nahe bleibt. Das realepische Oratorium kann neben den religiösen auch ethische, heroische, patriotische, weltgeschichtliche, sowie Stoffe aus der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens wählen, Alles mit gleich guter Wirkung, obwohl die Aufgabe immer sein wird, auch in nicht direct religiösen Oratorien ein religiöses und ethisches Grundgefühl durchklingen zu lassen, um dem Ganzen die höhere Weihe tiefern Empfin- dungsgehalts und innigerer Ergriffenheit zu geben, die es nicht so entbehren kann, wie die mehr auf Einzelcharakteristik und drastische Wirkung ange- wiesene Oper. Das Oratorium läßt seine Anschauungen, Begebenheiten, Handlungen und Personen noch nicht scenisch zu voller empirischer Wirk- lichkeit heraustreten, es kann ebendarum auch weder zu speziellerer Charak- terentwicklung, die erst bei concretem Verlauf einer in’s Breite sich exponi- renden Handlung anschaulich wird, noch zu einer solchen reichern Entfaltung der Handlung selbst fortgehen, es erzählt die Handlung blos und erzählt sie nur in ihren Hauptmomenten, es läßt die activen Personen nicht wirk- lich handeln, sondern es läßt theils nur Andere ihre Handlungen und den Eindruck derselben auf sich berichten, theils sie selbst blos die Hauptstim- mungen vortragen, in denen sie handeln oder in die sie durch den Gang der Ereignisse versetzt werden, es ist also überall auf das Moment des Ge- fühles als auf die Hauptsache hingewiesen, ein Oratorium, in welchem dieses nicht zu voller Entwicklung käme und nicht den Schwerpunkt des Ganzen ausmachte, wäre etwas so Trockenes und Unlebendiges, daß es nicht ange- hört werden könnte, und darum muß es auch einen tiefern, innigern d. h. religiösethischen Gefühlsinhalt haben, in welchem zugleich die in der Hand- lung auftretenden Einzelgefühle ihre Zusammenfassung zu höherer Einheit erhalten. Die schöne Vereinigung des Religiösen mit Stoffen, die dem Gebiet der unmittelbaren Wirklichkeit entnommen sind, in Haydn’s Schöpfung und Jahreszeiten ist bekannt; diese Werke sind aber zugleich, auch hievon abgesehen, Hauptbeispiele für die Oratorien, welche der §. als Lebens- oder Sittenbilder bezeichnet. Sie sind nicht mehr eigentliche Geschichte oder Handlung, aber sie sind, wie das Sittenbild überhaupt (§. 702), doch epischer Natur, Schilderungen von Begebenheiten und Zuständen, an welche sowohl in dem betrachtenden Subject als in den an ihnen betheiligten Personen die von dem Tonwerk musikalisch objectivirten Empfindungen sich knüpfen. Beachtenswerth ist, wie in der „Schöpfung“ ein Fortgang vom Epischlyrischen zum Dramatischen stattfindet. In den beiden ersten Theilen wird das Schöpfungswerk von einzelnen Engeln und von Chören gesungen, welche zugleich Engelchöre repräsentiren; hier also herrscht, indem die Hand- lung von zuschauenden Personen, die außerhalb derselben stehen, vorgetragen wird, die Weise der epischen Cantate, allerdings mit dem Unterschiede, daß diese Personen nicht abstracte Personen (Erzähler), sondern zugleich selbst wenigstens innerlich an der Handlung sich betheiligende, sie mitfühlende und sie daher auch (in den Chören) mit Lobgesängen verherrlichende Indi- viduen sind; vollständig aber beginnt die dramatische Form erst im dritten Theile mit dem ersten Menschenpaare, das hier auf den Schauplatz tritt und die Empfindungen ausspricht, in die es sich durch seinen Eintritt in die göttliche Welt versetzt findet. Der Unterschied der Behandlung war nothwendig durch die Natur der Sache; die Schöpfung selbst konnte nicht dramatisch dargestellt werden; ebensowenig aber wäre es passend gewesen, im dritten Theil die epischrecitirende Form beizubehalten, es mußte vielmehr hier zu der lebendigern dramatischen fortgegangen werden, wieder ein Beweis, wie auf dem Gebiete des Oratoriums keine strenge Sonderung der Behand- lungsarten vorgeschrieben werden kann. Gesetz ist für das Oratorium, daß die Musik, auch wo der Inhalt religiös erhaben ist, musikalisch schön , d. h. directer Gefühlsausdruck, ebendarum aber in den spezifisch dramatischen, affectvollen Partien auch vollständig dramatisch bewegt sei. Die Musik wirkt hier nur durch sich selbst, sie allein muß den Text veranschaulichen und beleben, sie muß also ein volles und schlechthin klares und charakteristisches Heraustreten der Gefühle und Erregungen zu ihrem Einen Zwecke machen. Nirgends ist daher vor Allem Melodie und bei gewichtigern, bewegtern Partien wirksame Harmonik und Rhythmik so unerläßlich wie hier; die rein lyrische Musik kann einfacher verfahren, weil sie weniger in der Charakteristik zu leisten hat, auf die im Oratorium Alles ankommt, weil es bestimmte, an eine concrete Anschauung sich anschließende, aus bestimmten Ereignissen, Hand- lungen, Zuständen sich entwickelnde Gefühle ganz allein in voller Anschau- lichkeit zu malen hat. Eine Hauptstelle nehmen ebendeßwegen auch die Chöre ein, sowohl die lyrischen als die dramatischen; sie sind im Oratorium überall der Gipfel- und Schlußpunct, weil in ihnen sowohl die Bewegtheit der Handlung als besonders der Reflex der Ereignisse und Actionen im Gefühle der betheiligten Personen sowie im subjectiven Bewußtsein seinen umfassendsten, kräftigsten, unumwundensten, vollsten, erhabensten Ausdruck erhält. Richtige Vertheilung der Stimmen , passende Folge der Solo- und Ensemblepartien in Gemäßheit des Inhalts der einzelnen Par- tien und entsprechend den Gesetzen des Wechsels und Contrasts, der Ab- stufung und der Steigerung (des höhern Rhythmus) ist natürlich eine Hauptsache. Dankbar ist besonders die Stellung des Orchesters ; es verstärkt den Gefühlsausdruck, es begleitet den individuellen und den Chor- gesang mit unsichtbaren, sympathetisch mitklingenden Stimmen, welche die Bedeutung des Vorgetragenen in ihr volles Licht setzen (daher im Orato- rium namentlich auch die Orgel mit ihren urkräftigen, weltdurchschütternden Tönen auftritt, wenn es gilt, den objectiven, substantiellen, transscendenten, übermenschlichen Gehalt des Gegenstandes in seiner vollen Wucht fühlen zu lassen); das Orchester malt die Gefühlseindrücke, die an Ereignisse, Be- gebenheiten, im sittenbildartigen Oratorium auch an Veranschaulichung von Naturgegenständen, mit denen das menschliche Leben in Berührung kommt, sich anknüpfen, es belebt die dramatisch bewegten Partien, kurz es wirkt auch hier lyrisch, epischmalerisch, dramatischpathetisch wie in den entsprechen- den Symphonieen, Quartetten, Sonaten u. s. f. Sind alle Gesetze dieser Kunstform in einem Oratorium erfüllt, alle Mittel, die es gebrauchen darf und soll, richtig verwendet, so ruht ein Zauber der Schönheit auf ihm, der mit nichts besser zu vergleichen ist als mit dem Wohlgefühl, in das ein in Ausdruck und Farbe vollendetes, reich belebtes und doch in ruhigster Haltung vor uns stehendes Gemälde uns versetzt. Wir sind im Oratorium aus der engen subjectiven Sphäre rein lyrischer Musik heraus, wir haben eine Anschauung, ein Bild vor uns, das sich ohne alle einseitige Erregtheit allmälig entfaltet, klar und ruhig wie Sonnenschein und doch eines schönen Wechsels von Licht und Schatten, hellerer und dunklerer, einfacherer und bunterer Färbung, ansprechender Lieblichkeit und ergreifender Erhabenheit, sanfterer und spannenderer Bewegung nicht entbehrend. Die Musik bietet im Oratorium ihre Mittel bereits in mannigfaltigerer und drastischerer Weise auf, aber sie geht über das Maaß ausdrucksvoller Schönheit noch nicht hinaus, weil sie die verwickeltern, drängendern Momente der Hand- lung vor unsern Blicken verbirgt und auch die handelnden Personen nur vorübergehend oder gar nicht in derjenigen Aufgeregtheit zeigt, die erst mit der scenischen Darstellung verträglich ist. Das Gefühl ergießt sich voll, aber nicht in ausschreitendem Uebermaaß, es bleibt Alles innerhalb der Linie der reinen Schönheit, das Ganze athmet eine ideale Zartheit, eine zurückhaltende Jungfräulichkeit, welche der Oper allerdings fehlt, weil sie die Conflicte und Affecte des realen Lebens in ihrer ganzen Schärfe und Macht zur Anschauung bringen muß. Aber — und diese Seite der Sache ist ebenso- wenig zu übersehen — die Oper kann doch dieses Element der Idealität, des feinern Gefühlsausdrucks sowie des tiefen Gefühlsgehalts auch in sich aufnehmen, das Zarte mit dem Scharfeinschneidenden, das Jungfräuliche mit dem Männlichderben vereinigen, sie kann die Kunstform des Oratoriums auf höherer Stufe reproduciren und mit dem vollständig entwickelten drama- tischen Prinzip verschmelzen, während das Oratorium in dieses Gebiet nie ganz einzutreten, sondern es nur unvollständig abzubilden und nur im Vorübergehen es zu berühren vermag; die Oper ist eine universellere Form, zu der das Oratorium geradezu selbst hindrängt, je mehr es sich der rein lyrischen Musik gegenüber in seiner Eigenthümlichkeit, d. h. nach der drama- tischen Seite hin entwickelt. So hat gerade Händel’s letztes Oratorium Jephtha einen so entschiedenen Charakter dramatischer Verwicklung und dramatischer Erregtheit der Empfindungen und Affecte, daß die Oratorien- form zu weich, zu zart, zu farblos erscheint; gerade der Meister des Ora- toriums mußte, nachdem er eine so große Reihe lyrischer und epischer Werke dieser Gattung durchgearbeitet hatte, naturgemäß endlich wieder bei drama- tischern Stoffen ankommen, die bereits nach vollständiger scenischer Darstellung verlangen. §. 820. Das größere Tonwerk wird rein dramatischlyrisch , wenn es nicht mehr den für das Subject an ein objectives Geschehen sich knüpfenden, sondern lediglich den in einer Handlung selbst zu Tage tretenden Gefühlsinhalt d. h. die Gefühle und Stimmungen der Personen der Handlung, wie dieselben den Gang der Handlung theils bestimmen, theils durch ihn bestimmt werden, musi- kalisch darstellt, und wenn es hiemit sowohl eine scenische Darstellung der ganzen Handlung, als auch eine Tonmalerei verbindet, welche allen besonders hervor- zuhebenden und musikalischer Veranschaulichung fähigen Momenten und Partien der Handlung diese Veranschaulichung zur Seite stellt. Der §. hebt die musikalische Begleitung der Handlung erst hier ausdrücklich hervor, weil sie im Oratorium um seines subjectiv innerlichen Charakters willen weniger bedeutend und durchgreifend ist. Geht die Veranschaulichung einer Handlung bis zur vollständigen scenischen Dar- stellung fort, mit welcher eine reiche Zahl mannigfachster im Oratorium verschwiegen bleibender oder blos kurz erzählter Einzelactionen, Situationen, Zufälle, Ueberraschungen, Schrecknisse, Wirrnisse, Tumulte, oder auch con- crete Handlungen, wie Tanz, Marsch, Prozession, Opfer, offen auf den Schauplatz treten, so wird das Verhältniß anders, die Musik muß hier wirklich über die bloße Gefühls- und Affectsschilderung zur Malerei von Situationen, Begebenheiten und Handlungen oder doch zu einer ihre Be- deutung andeutenden Begleitung fortgehen, sie kann da nicht schweigen, wo die Vorgänge auf der Bühne so laut reden, sie muß auch dem Ohre einen kräftigen und bestimmten Eindruck von Dem geben, was das Auge in lebendiger Wirklichkeit vor sich sieht; sie muß den „Gefühlsgehalt“ der Ereignisse und Handlungen gerade so objectiviren, wie die Gefühle selbst, einmal deßwegen, weil auch von letztern (z. B. dem Schrecken, der Unruhe, der innern Vernichtung) ein vollständig klares musikalisches Bild erst entsteht, wenn sie nicht gemalt werden, ohne zugleich die sie bedingenden und bestim- menden Anlässe (schreckendes, niederschmetterndes Auftreten einer höhern Natur- oder Schicksalsgewalt u. dgl.) zu malen, und für’s Zweite auch hievon abgesehen schon darum, weil jeder nicht indifferenten oder zu unbe- deutenden Begebenheit, Lage und Action auch an sich irgend ein Gefühls- gehalt, ein Verhältniß zum Gefühl, eine Art auf das Gemüth so oder anders zu wirken (zu schrecken, zu beunruhigen, lebhaft zu beschäftigen, Be- hagen zu erregen, komisch zu ergötzen, frei aufathmen zu lassen u. s. f.) eigen ist, ein Gefühlsgehalt, dessen Nichtmalung der musikalischen Darstellung der Gesammthandlung alles höhere Leben und alle bestimmtere Färbung entziehen würde. Das Mittel, das die Musik dazu hat, sind die Kräfte, Klangfarben und charakteristischen Tonbewegungen des Orchesters und der einzelnen Instrumente. Das Oratorium steht noch immer wie der rein lyrischen, so der bloßen Vocalmusik näher, weil es diese instrumentale Malerei der Situationen und Handlungen nur in beschränkterem Maaße anwendet; erst mit dem musikalischen Drama tritt die Wechselwirkung von Vocal- und Instrumentalmusik vollständig in Wirklichkeit, obwohl auch hier das durch die Natur der Sache gebotene Verhältniß der Unterordnung des Orchesters unter den Gesang nicht aufgehoben werden darf, wenn nicht die Klarheit und Schönheit des Ganzen zu Grunde gehen soll. Der Schwerpunct liegt auch im musikalischen Drama auf Seiten der Malerei des Innern, der Empfindungen und Affecte, die ihr allein vollkommen gelingen kann; wird dieser Schwerpunkt verschoben, so tritt der schon erwähnte Purismus in sein relatives Recht ein, der die Wahrheit und Innigkeit des melodischen Gefühlsausdrucks für das Ein und Alles der Musik erklärt. — Bloße In- strumentalbegleitung der Handlung eines (gesprochenen) Drama’s, das sog. Melodrama , ist zulässig bei Werken, in welchen das Element der lyrischen Empfindung (wie z. B. theilweise in Göthe’s Egmont) sich so entschieden geltend macht, daß musikalische Begleitung einzelner Momente der Handlung, in welchen dieses lyrische Element ganz für sich heraustritt, naturgemäß ist und nichts Störendes in’s Ganze hereinbringt. In der Regel aber muß der Gang des nichtmusikalischen Drama’s einen Verlauf nehmen, der inner- halb der Sphäre des realen nach außen gewendeten Handelns bleibt und mithin solche Uebergänge in’s lyrische Gebiet ausschließt, daher das Melo- drama und ebenso die nur unter denselben Bedingungen wie dieses zulässige Musik der Zwischenacte blos eine exceptionelle Nebenform der drama- tischen Musik bilden kann. Dasselbe gilt, nur in anderer Weise, vom Ballet , Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 72 dem pantomimischen Drama mit Instrumentalbegleitung, einer Form, die durch sich selbst auf einen engen Kreis poetischer Darstellungen beschränkt ist, der Musik aber allerdings Stoff zu charakteristischen Compositionen gewähren kann. §. 821. 1. Wenn das dramatische Tonwerk über die Schilderung einfacherer und beschränkterer Vorgänge zur eigentlichen „Handlung“ von größerem Umfang und von concreter Entwicklung sich ausdehnt, welche das Product der Charaktere einer Mehrheit in ihr zusammentreffender Personen und bestimmter Verhältnisse und Situationen, in denen sie sich finden, ist und ihrem ganzen Verlaufe nach 2. bis zu ihrem nothwendigen Abschlusse zur Darstellung kommt, so ist hiemit die Oper gegeben. Die Musik ist in der Oper Selbstzweck, nicht bloßes Mittel zu einer Verschärfung oder Verdeutlichung des dramatischen Ausdrucks, und die Anlage des Drama’s muß daher der Musik zu freier Entfaltung ihrer selbst, d. h. zu ungehemmter Gefühlsmalerei, die ihr Wesen ist, Raum gewähren. Andrerseits ist der Zweck der Oper eine rein dramatische, Handlung und zwar eben diese bestimmte Handlung zu musikalischem Ausdruck erhebende Musik, der dramatische Ausdruck also Grundgesetz der Opernmusik. Beide Forderungen finden ihre Vereinigung und Vermittlung darin, daß die Oper so angelegt ist, daß in der Handlung, im Drama selbst der Gefühlsgehalt das Ueberwiegende und überall Heraustretende ist, das Drama somit selbst einen musikalischen Aus- druck, der überall Gefühl in reichen Formen und Farben oder in freier Ent- faltung der Mittel der Musik malt, nicht nur zuläßt, sondern geradezu fordert. 1. Kleinere Formen, wie die Scene , die nur eine einzelne dramatische Situation oder (wie die Ode-symphonie Columbus von F. David) eine Reihe solcher musikalisch, wiewohl ohne theatralische Darstellung (somit noch in der Art des Oratoriums) veranschaulicht, das Sing- und Liederspiel , das Vaudeville (Singspiel, das vorzugsweise Volkslieder in sich auf- nimmt), können als Uebergangsstufen zwischen Oratorium sowie zwischen reiner Vocalmusik und Oper wohl für sich bestehen, aber sie bilden keine Hauptgattung, weil es ihnen an einer sich in sich verwickelnden und ver- tiefenden Handlung fehlt; sie heben nur den Gefühlsgehalt einzelner Mo- mente heraus, sie sind Situationsbilder (§. 711) oder Reihen von solchen und lassen daher auch mit der Musik den Dialog abwechseln, sobald die lyrischen Momente vorüber sind und die Handlung, d. h. das was sie an Handlung haben und dem es an musikalisch zu schildernder innerer drama- tischer Erregtheit und Bedeutsamkeit fehlt, wieder ihren Verlauf nimmt. Um musikalisch darstellbar zu sein, muß, wie schon §. 820 bemerkt ist, die Handlung stärkern Gefühlsgehalt, höhere Eindringlichkeit und Nachdrück- lichkeit, intensivere Wirkung auf Gefühl und Gemüth haben; wo kein bestimmter, scharfer Eindruck auf die Empfindung ist, da ist kein Stoff zur Musik; eine solche Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit aber gewinnt die Handlung erst bei concreterer Verwicklung, wie das eigentliche Drama sie darstellt, und daher entsteht auch erst mit diesem die wahrhaft dramatische Musik, das vollkommen dramatische Tonwerk. 2. Die Sätze, welche die zweite Hälfte des §. aufstellt, sind schon in §. 802 (der Wagner’schen Schule gegenüber) sowie in §. 818 vorbereitet, und es ist daher hier blos genauer anzugeben, worin die Anlage der Oper bestehe, vermöge welcher in der Handlung selbst der Gefühlsgehalt so über- wiegt und so überall heraustritt, daß sie selbst nicht einen dürftig trockenen, sondern voll musikalischen, alle Mittel melodischer, harmonischer, rhythmisch- dynamischer Entfaltung verwendenden Ausdruck postulirt. Der Gefühlsge- halt muß 1) überwiegen ; denn Lyrik bleibt die Musik immer, da die Tonmalerei, welche objective Ereignisse und Actionen begleitet, immer von untergeordneter Stellung und Bedeutung bleiben muß, auch die Oper ist dramatischlyrisches Gedicht. Damit ist gegeben, daß die Handlung der Oper einfach sein muß, einfach in dem Sinne, daß nicht zu viel Hand- lung, zu viel „Action,“ d. h. nicht zu viele und zu große Partieen in ihr sind, in welchen gehandelt oder verhandelt wird, in welchen die Personen aus der Sphäre des Gefühls in die breite Sphäre des Verständigpraktischen hinaustreten. Eine Oper, welche zu viel Action und in ihr ihren Schwer- punct hat, müßte manches Unmusikalische musikalisch componiren und würde selbst, wenn dieser Uebelstand vermieden werden könnte, zu einer Breite und Dehnung der musikalischen Composition, die all den umfangreichen Ver- schlingungen und Wendungen der in’s Detail sich ausspinnenden Actionen zu folgen hätte, genöthigt werden, bei welcher nichts Anderes als Stoff- überfüllung, Undurchsichtigkeit, Ermüdung herauskäme. Zu viel und zu spezialisirte Handlung absorbirt zudem das Interesse an der Musik; durch Ueberladung mit Handlung wird die Oper allerdings ein Zwitter, ein Compositum aus unverträglichen, nicht zur Einheit zusammenzuschauenden Elementen (S. 829 f.), bei dem man bald die Musik wegwünscht, um die Handlung rein zu haben und sie nicht durch die Musik stets retardirt zu sehen, oft aber auch die Handlung, um der Musik ungestörter folgen zu können. So kann es, um von andern Beispielen zu schweigen, nicht ge- leugnet werden, daß die Oper Figaro in Vergleich mit Don Juan zu viel Handlung und zu viele der musikalischen Composition widerstrebende Partieen von zu undurchsichtiger Verwickeltheit und von zu wenig Gefühlsgehalt hat, namentlich im ersten und letzten Finale, wo die musikalische Recitation oft noch bloße Form ist und hinter der Bewegtheit der Action ganz zurücktritt, während die beiden Finale’s in Don Juan nicht nur dramatische, sondern 72* ebensosehr die höchste musikalische Erregtheit und dabei eine Einfachheit haben, die das musikalische Interesse zu seinem Rechte kommen läßt, ohne dem dramatischen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber- flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyrisch, dem Oratorium zu nahe ist; nur ein „Ueberwiegen,“ nicht ein das Dramatische abschwächendes Vor- herrschen des weichen lyrischen Elements ist in der Oper das Richtige. Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall heraustreten , qualitativ oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet des Verständigen angehörige Staatsaction, sie muß vielmehr überall durch- drungen sein von der Poesie des Gefühles, des ernsten oder heitern, des tragischen oder komischen, sie muß eine Handlung sein, in der nicht Be- rechnungen, sondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten, thätig werden, in welcher ebenso die Ereignisse, die Verwicklungen, die Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. s. w. sind (§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenschaft, die Gemüthsbewe- gung, die Herzensstimmung müssen die Handlung bedingen und bestimmen, nicht der verständige Plan, das prosaische Vorgehen des berechnenden Willens und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt, so daß sein Handeln selbst nur ein in Praxis umgesetztes Fühlen, ein innerlich bewegtes oder pathetisch erregtes Handeln ist. Aber auch quan- titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müssen nicht nur die Handlung durchgängig bestimmen und fortgehend erwärmen und beleben, sondern sie müssen auch für sich zur Aussprache und zur Dar- stellung kommen, zur Aussprache , indem die Handlung so angelegt ist, daß sie ganz von selbst, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein zu ihr gehöriges, durch sie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes Gefühl Zeit hat sich auszusprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls, ähnlichen Particen des Wortdrama’s vergleichbar, nur daß in letztern auch nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. Zu beson- derer Darstellung aber müssen die Gefühle kommen dadurch, daß inner- halb der Gesammthandlung immer auch Situationen und Actionen sich ergeben, in welchen jene Belebung und Beseelung des Handelns durch das Gefühl in ganz spezifisch ausgeprägter Weise heraustritt, affectvoll erregte, gefühlvoll durchwärmte Scenen, sowie neben diesen auch solche, in welchen durch Ereignisse, durch diese oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle, welche wir schon §. 814 „die passiven Stimmungen“ genannt haben, rege und laut werden, also Scenen mit ergreifenden, erschütternden, Jubel und Lust erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten ist hier die Unter- scheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch- wärmten, Beseelten; Beides ist nicht Dasselbe, und Beides muß bis auf einen gewissen Grad stets neben einander in der Oper vorkommen; ohne eine verhältnißmäßige Zahl affectvoller, lebendig erregter Scenen wird die Oper selbst bei sonstigem tiefstem Gefühlsinhalt zu still, zu farb- und leblos, wie z. B. Fidelio diesen Mangel zeigt; ohne gefühlsvoll bewegte Scenen aber verliert sie an Innigkeit, an musikalischer Wärme und Tiefe, wie man z. B. aus Don Juan empfindungsvollere Scenen, wie im Sextett, ohne den höhern Gehalt des Ganzen zu beeinträchtigen nicht herausnehmen dürfte und aus demselben Grunde der Schluß des zweiten Finale’s bei keiner Aufführung weggelassen werden sollte (eine Abkürzung, die blos von einseitigem Interesse für das drastisch Erregte und damit von derselben Ein- seitigkeit ausgeht, welcher ein Adagio unerträglich ist, weil sie nur für Allegro’s und Presto’s Sinn hat). Für die Anlage und Disposition des Operngedichts folgt aus dem Bisherigen, sowie aus den allgemeinmusikalischen Gesetzen des Wechsels, Contrasts, Rhythmus, der Gliederung und Gruppirung, 1) das Gesetz der Beschränkung und der Einfachheit der Handlung; z. B. wo- möglich nur Zweizahl der Acte, da auf dem Boden der Musik, die eine so reiche Fülle von Gedanken und Formen in schneller Folge an dem Hörer vorüberführt, nur das An- und Absteigen der Handlung innerhalb dieses engern, zweitheiligen Rahmens oder in zwei einander correspondirenden Hälften ein wirklich überschauliches, sich von selbst zu Einem Ganzen zu- sammenfassendes Gesammtbild und damit einen Totaleindruck gibt, während zu viele Acte, selbst wenn sie nicht ermüden, jenen Rhythmus des An- und Absteigens nicht so klar hervortreten lassen und zu sehr in selbständige, einander nicht mehr direct correspondirende, als Einheit zusammenzuschauende Ganze aus einander fallen (auch in der Oper ist somit wie überall in der Musik die Zweitheiligkeit die Grundform); ebenso schlechthin spannende, aber nicht in’s Breite und Prosaische sich verlierende, einfach und durchaus anschaulich sich wieder lösende, das Musikalische frei gewähren lassende Verwicklung. 2) Das Gesetz zunächst der formalen Belebung und Ver- mannigfaltigung des sonst eintönig werdenden Ganzen durch wech- selndes Auftreten der verschiedenen musikalischen Formen, von Monodie und Lied oder liedartiger Arie bis hinauf zum Chor (Duette u. s. f.), vom einfachern Instrumentaltonstück und einfacher Instrumentalbegleitung bis hinauf zu symphonischer und voller Orchesterverwendung. 3) Das mit dem zweiten sachlich zu demselben Resultat führende Gesetz des wechselnden Hin- undhergehens zwischen Scenen vorwärtsschreitender Handlung und stillhal- tender Aussprache der Empfindung, zwischen Scenen affectvollen, drastisch bewegten Zusammen- und Gegeneinanderwirkens der Personen und Massen und ruhigern Heraustretens der Gefühle einzelner besonders betheiligter Individuen, endlich zwischen Scenen activen, vorherrschend thätigen, die Handlung weiterführenden Charakters und hinwiederum solchen, welche mehr abschließender Natur sind, indem in ihnen Resultate, durch die Actionen motivirte Erfolge, Begebenheiten nebst lebendigem Ausdruck der durch sie erregten passiven Stimmungen zu Tage treten. Daß somit an der bis- herigen Form der Oper mit ihrem Wechsel von Ensemblestücken (besonders stark bewegten, alle Kräfte zusammenführenden, große Abschnitte oder Ab- schlüsse der Handlung darstellenden Finale’s) und ein- oder mehrstimmigen Solostücken nichts Wesentliches geändert werden, daß man aus der Oper weder ein in einseitiger Erregtheit vorüberrauschendes Finale oder Massen- drama, noch ein ohne reichern Scenenwechsel sich fortziehendes, mehr episches als dramatisches Gewebe von unmelodisch recitativischen Dialogen kommender und gehender Stimmen, wie man neuerdings will, machen kann, liegt am Tage; selbst das blos musikbegleitete, der antiken Tragödie verwandte Drama (§. 802), in welchem die musikalische Gedankenentwicklung der poetischen untergeordnet und ihr nur zur Erhöhung des lyrischen Eindrucks beigegeben wäre, könnte ohne Wechsel ein- und vielstimmiger Musikformen und ohne geordnete scenische Disposition nicht bestehen. In Betreff der Wahl der Stoffe für die Oper ergibt sich aus der Forderung, daß der Gefühlsgehalt überwiege und überall heraustrete, vor Allem das Negative, daß aus ihr Handlungen, die zum Gesungenwerden untauglich sind, und Personen, denen ihrer ganzen Natur nach das Singen, das gemüthbewegte Aufgehen in musikalischen Gefühlserguß nicht beigelegt werden kann, steife Charaktere, prosaische Rechner, reisende Engländer mit Regenschirm und Shawl, betrogene Betrüger, falsche Propheten, bei denen singender Herzenserguß nur noch eine Lüge weiter ist, überallhin, nur nicht in die Oper, gehören. Gefühlerwärmte Handlung und gefühlwarme Personen können hier allein auftreten; wie alle Musik Bild des Lebens ist, so muß vor Allem in der Oper der frische Pulsschlag wirklichen Lebens herrschen, wenn sie nicht eine widersprechende und widerliche Fiction, eine bemalte Statue, eine geschminkte Kokette sein soll. Es ist in ihr wahrlich schon Fiction genug, da sie den natürlichen Wortausdruck in einen erhöhten Stimmungsausdruck umsetzt; diese Fiction ist nur dann nicht unwahr, wenn in den Personen ein so erregtes und bewegtes Leben ist, daß der erhöhte Stimmungsausdruck für sie als der natürliche, d. h. als ein Ausdruck erscheint, der deßwegen an die Stelle des gewöhnlichen trete, weil das leb- hafter wogende Gefühl zu einer stärkeren, die Schranken der Gewohnheit und Convention, die Nüchternheit der Reflexion durchbrechenden Aeußerungs- weise dränge. In dieser Beziehung ist schon die komische Oper weit beschränkter als das komische Drama; die reflectirtere Komik des Verstandes, des Witzes, der Intrigue ist von ihr ausgeschlossen, ihre Sphäre ist die unmittelbare Gefühlskomik, die frisch in’s Leben heraustritt; komisch heitere, lustige Stimmungen, komisches Pathos und Poltern, komische Affecte der Furcht, der Ueberraschung; des Aergers, der getäuschten Erwartung und dergleichen bilden ihr Gebiet, da sonst die Composition an ihr keinen Stoff fände, den sie musikalisch beleben könnte. Aehnlich verhält es sich mit der ernsten Oper . Am wahrsten ist sie, wenn volle und frei sich gebende Gefühlserregtheit, Gefühlspoesie oder tiefe, innerlich ergreifende, das Herz zur Aeußerung treibende Gemüthsbewegtheit oder Beides zumal ihr Grundton ist; die Gefühlspoesie der Lebenslust, der Liebe, die Bewegtheit der Leiden- schaft, der Begeisterung, der opferbereiten Hingebung, der verletzten, Sühnung eines Frevels suchenden Pietät, des heroischen Thatendranges, des Patrio- tismus, des Glaubensmuthes, der Kindes-, Eltern-, Gatten- und Menschen- liebe, diese und verwandte Motive sind die Sphäre, aus welcher die Oper wählen muß. In dieser Beziehung hat R. Wagner ganz Recht, wenn er gegenüber einer Entartung des Opernwesens, welche unmusikalischen Süjets musikalische Kleidung umhängt, wieder auf Gefühlsstoffe dringt und solche z. B. in der deutschen Mythe sucht; nur ist es einseitig, blos in einer abstracten, poetisch überspannten Hingebung und Aufopferung, wie seine weiblichen Hauptfiguren sie darstellen, eine des musikalischen Ausdrucks würdige Gefühlsbestimmtheit finden zu wollen und überhaupt das poetische Element der Oper in dem Maaße vorherrschen zu lassen, wie es hier geschieht. Die Gefühlspoesie, wie die Oper sie zu schildern hat, verlangt freilich auch eine entsprechende poetische, nichtprosaische Umgebung; aber damit ist es noch nicht gestattet, eine ganz abstracte, phantastisch mytho- logische, abenteuerliche Poesie auf die Bühne zu bringen, welche ja bekanntlich mit dem Wunder nur sehr sparsam umgehen, nicht aber schlechthin Un- wirkliches in Form eines Wirklichen in Scene setzen darf. Mozart’s Don Juan, den Wagner nicht müde wird zu preisen, zeigt am besten was für eine Poesie in der Oper am besten wirkt, nämlich eben die Poesie des Ge- fühls selbst, nicht die des Mährchens, die Poesie der Lebenslust und Leiden- schaft; dieser Poesie des Lebens tritt in der Person des „steinernen Gastes“ die mythische Poesie allerdings zur Seite und gegenüber, aber in einer von den realen Verhältnissen der menschlichen und sittlichen Welt nicht zu weit abliegenden Form, weil es doch nur der Geist des Gemordeten ist, der erscheint, und weil sich in ihm zugleich die Idee der ebenso ernst strafenden als mit Liebe zur Besserung mahnenden ewigen Gerechtigkeit treffend per- sonificirt. Die Oper kann an sich wohl poetischer sein als die eben genannte; sie darf uns in eine zauberhafte romantische Welt versetzen, denn der Ge- fühlsgehalt, der ihr die Hauptsache ist, kann auch innerhalb einer solchen sich reich entwickeln, ja das Gefühl scheint in ihr in seinem eigentlichsten Elemente zu sein, weil eine poetische Welt nur der äußere Wiederschein der innern Poesie des über die Schranken der Wirklichkeit sich emporhebenden Gefühles ist; diese rein poetische oder romantische Oper , wie sie namentlich Weber ausgebildet, ist wirklich eine vollberechtigte Gattung. Aber eine bis zum Phantastischen gehende Steigerung des Romantischen ist unzulässig, da wenn aller feste Boden der Wirklichkeit entschwindet, auch für wahres Gefühl, das doch allein musikalisch anspricht, kein Platz mehr ist, sondern in einer durch und durch unwirklichen Welt auch die Ge- fühle zu leerem Scheine werden ohne Leben und Wirklichkeit, ohne Kraft und Innigkeit, wie sie zu musikalischem Ausdruck als nothwendige Bedingung erforderlich ist. Auch ist die romantische Oper, selbst wenn sie sich von solchen Extremen ferne hält, nicht die höchste Gattung, eben weil in ihr doch immer zu wenig Wirklichkeit, Substanz, Gediegenheit, zu wenig Mög- lichkeit wirklicher dramatischer Spannung und Entwicklung, zu wenig selbst- thätiges Wollen und Handeln, zu viele Phantasiegestalten (Geister u. s. w.), welche die Sphäre des menschlichen Handelns verengen, zu wenig Boden für sittliche und sociale Verhältnisse ist, aus denen in Folge von Collisionen und Conflicten eine vollgewichtigere Gefühlserregtheit und besonders eine tiefergehende Gemüthsbewegtheit erwachsen kann; mit der Romantik wird Alles Spiel der Phantasie, mit dem Spiel aber entschwindet die objective, feste Realität und damit auch der ernstere und gediegenere Gefühlsgehalt. In Don Juan wirkt das mythisch Poetische nicht als Poetisches, sondern lediglich als Bild einer sittlichen Idee, die nichts Gedichtetes, sondern absolute Wirklichkeit ist, und auch das andere poetische Element dieser Oper, die Gefühlspoesie der Lebenslust, ist nur ihre Eine Seite, sie ruft durch den Frevel, in den sie stürzt, die Gemüthsbewegtheit der verletzten Pietät und Freundschaft gegen sich auf, und erst dadurch, daß dieses ernstere, tiefere, den einfachen sittlichen Verhältnissen der Wirklichkeit entnommene Gemüths- element die andere Seite des Ganzen ausmacht, wird diese Oper das was sie ist, das ebenso schöne als erhabene Werk, dem kein anderes sich ver- gleichen kann, weil es durch die Vereinigung beider Elemente und durch die kräftige und entscheidende Entwicklung, die beide in ihm erhalten, einen sonst nirgends sich so zusammenfindenden Reichthum inhaltsvollster Beziehungen in sich vereinigt. Die Gattung, unter welche Don Juan fällt, kann man nicht wohl anders bezeichnen als durch den Namen ethischpoetische Oper im Gegensatz zur romantischpoetischen; ethischpoetisch ist die Oper dann, wenn einerseits dem subjectiven Element der Lebenslust, des Genusses, des Glückes ein objectives ethisches Element gegenüber- oder geradezu ent- gegentritt, und wenn andrerseits beide Elemente nicht nur lebendig indivi- dualisirt, in lebhaft und innig fühlenden Individualitäten verkörpert, sondern das Ganze zugleich mehr oder weniger idealisirt, über die gewöhnliche Sphäre hinausgehoben ist, damit durch diese Idealität diejenige prosaische Realität, welche mit der Oper als dem Kunstwerk des poetisch erhöhten Stimmungs- ausdrucks unverträglich ist, gänzlich aus ihr entfernt werde, die ganze Handlung und Umgebung das entsprechende Abbild der in dem Drama herrschenden erhöhten Stimmung sei, und damit nicht minder die Indivi- duen, welche die Vertreter der beiden Elemente, des subjectiven und des objectiv ethischen sind, in einer idealen Höhe und umfassenden Bedeutsam- keit erscheinen, vermöge welcher sie nichts als die Träger des Prinzips, das sie repräsentiren, sind und dieses Prinzip in ihnen vollständig und voll- kommen seinen Ausdruck findet (wie z. B. die Gestalt des Don Juan in dem Prinzip der freien Subjectivität, der einseitigen Poesie des Lebens ganz aufgeht, der Comthur aber, oder in der Zauberflöte Sarastro mit seinen Priestern das ethische Prinzip in concreter Ausprägung darstellt). Zu dieser ethischpoetischen Gattung gehört auch die heroische Oper ; sie ist ein etwas weniger idealistischer Zweig derselben, sie stellt der gewöhnlichen Realität nicht eine schlechthin poetische, sondern nur eine in großartigern Formen sich bewegende, großartigere Charaktere und großartige Motive und Actionen zeigende Wirklichkeit entgegen, das ideal, mythisch Poetische kann auch in sie hereingreifen, wie in Gluck’s Iphigenien, Alceste, Armide, so daß sie sich, wie z. B. die letztgenannte Oper, der romantischen Gattung hierin annähert, aber sie bleibt dadurch von ihr getrennt, daß die Ver- wicklung auf ethischen Momenten mit beruht und daher im Kreise wirklicher, nicht phantastischer Verhältnisse sich bewegt; die heroische Oper kann, wie z. B. bei Spontini, das romantische Element auch ganz entbehren und sich mit derjenigen Idealität begnügen, die in der Größe der Charaktere und in der ethischen Bedeutsamkeit der Motive und Verwicklungen liegt. Ein- fach ethische Oper ist diejenige, in welcher ethische Momente die Hand- lung bestimmen, aber die Gestaltung des Ganzen aus den gegebenen Ver- hältnissen der empirischen Realität nicht heraustritt; dieser Opergattung fehlt die der erhöhten musikalischen Stimmung entsprechende idealisirte Form und Umgebung, sie läßt sich schon etwas prosaisch an, so daß das Musikalische den Eindruck willkürlicher, äußerlich bleibender Zuthat macht, so tief und ge- haltvoll auch an sich die Composition namentlich im Ausdruck der ethischen Ge- fühle und Stimmungen sein mag, wie z. B. in Fidelio und Wasserträger. Epische, historische Oper wäre die Gattung zu nennen, in welcher die normalen Lebensverhältnisse auch beibehalten, die Verwicklung dagegen zwar umfassender und ernster Natur, aber allgemeinerer Art und in ihrem concreten Verlauf und Abschluß nicht durch das Ethische bedingt und bestimmt, sondern mehr Schicksal, Glück, Unglück überhaupt ist; diese Gattung (wie z. B. Huge- notten, Clemenza di Tito ) ist in Gefahr, für die musikalische Composition zu schwer und breit, zu sehr mit realem Stoff überladen zu sein oder auch kein höheres geistiges Interesse zu bieten; Stoffe solcher Art, obwohl den heroischen verwandt, gehören mehr dem Schauspiel als der Oper an. Da- gegen eignen sich Stoffe aus der empirisch reellen Welt für die Oper, sobald sie eine einfachere Verwicklung haben und das Moment der Empfin- dung (des Reinmenschlichen) stärker hervortreten, voller sich aussprechen lassen; wenn die Handlung, obwohl an sich nicht poetisch, doch ganz in Gefühl, Liebe u. s. w. aufgeht, so ist das Ganze wenigstens lyrisch, ge- müthreich genug, um für musikalische Composition zu passen; so z. B. die Entführung aus dem Serail und ähnliche Stoffe von Opern und Operetten namentlich älterer Zeit. Jedoch nicht blos die Lyrik, sondern auch die Komik belebt die unpoetische Realität zu einem Gebiet, das die Opernmusik mit besonderem Glück anbauen kann; die komische Oper entspricht der heitern Tanzmusik, wie die heroische der Marsch-, die lyrische oder ge- müthliche der Lied-, die ethischpoetische der dramatischen Symphoniemusik entspricht, sie stellt das bewegte Treiben und Gegeneinanderspielen der sich frei ergehenden Subjectivitäten und subjectiven Affecte und Leidenschaften dar, sie hat mit der romantisch- und ethischpoetischen Oper die Poesie, mit der gemüthlichen die Gefühlsbelebtheit gemein und kann sich daher auch geradezu mit ihnen verbinden (wie in Don Juan, Zauberflöte, Entführung u. s. f.) — eine Verbindung, die in der Musik leichter durchzuführen ist als im Wortdrama, weil die in der Oper nun einmal herrschende poetisch erhöhte Stimmung beide Gattungen eng unter sich zusammenhält; — die komische Oper tritt aber ebenso auch für sich auf in einer nicht unbedeutenden Mannigfaltigkeit von Unterarten, von denen die verwickeltere Conversations- oper und die einfachere gemüthlich heitere, burleske Oper am weitesten von einander abstehen. Während die erstere der verständigern Komödie ohne Musik sich annähert, bildet sich die letztere weiter aus zum idyllischen Lieder- spiel (Schäferspiel), zum Quodlibet, zur Posse, Nebenformen, in welchen das Dramatische wieder verloren geht und davon nur das Allgemeine einer Darstellung heiter komischer Situationen und Handlungen übrig bleibt. Der Name „Operette“ gibt keinen bestimmten Begriff, da er sich nur auf den Umfang bezieht; die Operette kann noch ganz dramatisch, wie das einactige Lustspiel, sie kann aber auch mehr lyrisches Singspiel sein und dann zu den am Anfang des §. erwähnten Uebergangsformen gehören; ebenso gehören zu ihr diejenigen kleinern komischen Stücke, die sich noch nicht zu weit von einheitlicher Entwicklung der Handlung und vollständigerer musikalischer Begleitung derselben entfernen. Daß wir der komischen Oper nicht speziell eine tragische, sondern nur eine ernste, ethische Oper überhaupt gegenübergestellt haben, ist darin begründet, daß die Tragik in der Oper nicht dieselbe Bedeutung und denselben Umfang beanspruchen kann, wie im Woridrama. Die nothwendige Einfachheit der Handlung der Oper läßt eine ausgeführtere tragische Verwicklung nicht zu, und die ernste, ethisch- poetische Oper kann daher wohl auch eine tragische, aber nicht eine Tragödie sein und kann das Tragische nicht zum Hauptstoffe haben, weil nicht jeder Stoff dieser Art die einfachere Opernbehandlung zuläßt. Ein weiterer Zweifel könnte darüber entstehen, ob innerhalb der Kategorie der ernsten Oper nicht ein Unterschied gemacht werden sollte zwischen Opern, in welchen das Einzelindividuum , und solchen, in denen eine größere Gesammt- heit die Hauptperson ist und den Mittelpunct des Ganzen bildet. Das Oratorium leistet Großes in dieser letztern Gattung (Judas Maccabäus, Israel in Aegypten); soll die Oper es ihm nicht gleichthun? soll sie nicht auch Völkergeschicke auf die Bühne bringen und mit den Chören, die sie dazu aufzubieten hätte, großartigere Wirkungen erstreben, als sie es ge- wöhnlich thut? Die Frage ist zu bejahen, sofern in dieser Beziehung aller- dings mehr geschehen kann, als namentlich in der classischen Blüthezeit der deutschen Oper geschehen ist, aber zu verneinen, sofern damit gemeint wäre, es sollte geradezu die Gesammtheit statt des Einzelsubjects zum Mittelpunct der Handlung gemacht werden. Dieß konnte bis jetzt selbst von R. Wagner nicht versucht werden, weil nur das individuelle Leben so begrenzt und so bedingt, so beweglich ist, um in dem Wechsel der Activität sowohl als der Geschicke dargestellt zu werden, ohne welchen es kein Drama und vollends keine Oper gibt. Es wäre allerdings eine würdige Aufgabe der zukünftigen Musik, etwa in heroischen Opern, von welcher Gattung ohnedieß für die Musik mehr zu hoffen ist als von der mythischromantischen, Individuum und Gesammtheit in eine engere Verbindung zu bringen, in eine Verbindung wie sie von Händel in seinen Oratorien ausgeführt, von Gluck in kleinerem Maaßstabe versucht wurde, und wie sie Beethoven bei seiner sinfonia eroica vorgeschwebt haben mag. Einfach ist die Sache freilich nicht; große Massen sind für die Oper bald zu schwer, und der tiefpraktische Ernst, der solche Tonwerke zu durchdringen hätte, könnte sich mit dem Singen, das auf der Bühne gerade durch seinen Contrast zur gewöhnlichen Stimmungsäußerung (zur Rede) sich stets als etwas rein Poetisches ausnimmt, leicht als un- verträglich zeigen; die Frage muß daher eine offene bleiben und ihre Beant- wortung von künftigen Entwicklungen erwartet werden. Ueber die Stellung des Orchesters in der Oper ist nach früher (besonders §. 820) Bemerktem nur beizufügen, daß es nicht blos die Einzel- gesänge, Arien, Chöre u. s. f. und nicht blos die einzelnen Handlungen malend, ausführend, verstärkend, sympathisirend begleitet, sondern auch die beharrliche harmonische Grundlage der großen Opermelodie bildet (vgl. S. 897). Das Orchester schlingt ein Band der Einheit um das in Scenen, Hand- lungen und Personen stets wechselnde Ganze; wegen des Ueberwiegens und Heraustretens des Gefühlsgehalts muß die Oper die Handlung in eine Reihe von Scenen zerfällen, in welchen das Gefühl sich ausspricht, die hiedurch momentan beeinträchtigte Continuität des Fortgangs stellt das Orchester her, indem es Alles stets mit gleich unermüdeter Beweglichkeit begleitet, den Faden stets lebendig weiter führt, Pausen ausfüllt, Uebergänge (wie z. B. im Sextett des Don Juan) von einer Wendung der Handlung zur andern bildet u. s. f. Das Orchester beginnt die Handlung mit der Ouvertüre (deren Weglassung den Uebelstand mit sich führt, daß wir so nicht gleich diese zusammenhaltende, hiemit auch den Totaleindruck erhöhende Grundlage des Ganzen bekommen), es leitet sie in belebtem Gange fort durch alle Wechsel, hebt sich und senkt sich, vereinfacht und verstärkt sich mit ihr, bezeichnet ihre Höhe und Ruhepuncte, ihre Verwicklungen und ihre Abwicklung und schließt sie mit Kraft und Bestimmtheit ab, obwohl es hier auf eine der Ouvertüre entsprechende reichere Entfaltung seiner Mittel ver- zichten muß, indem ein hintennachkommender Nachhall der so reich bewegten Musik, mit welcher es die Handlung begleitete, nur matt und schwach er- scheinen würde; die dramatische Musik kann nicht enden mit einem lyrischen Nachklang, und an diesem Puncte bleibt daher der symmetrische Bau der Oper unvollendet, auch dieß einer der Fälle, in welchen die Musik die Strenge der Form dem Ausdruck unterordnen muß. c. Die Geschichte der Musik . §. 822. 1. Die Geschichte der Musik zeigt eine weit langsamere Entwicklung als die der übrigen Künste; die äußeren Momente, daß die Musik als begleitende Kunst sich schwerer zur Selbständigkeit entfaltet, und daß das Tonmaterial ohne be- stimmtes Naturvorbild größtentheils erst zu entdecken und zu gestalten ist, ehe es Mittel eines künstlerischen musikalischen Ausdrucks werden kann, wirken mit der Idealität und Innerlichkeit des Wesens der Musik selbst zu diesem Resultate 2. zusammen. Das treibende Motiv der Entwicklung ist auch hier der Gegensatz und Streit der beiden Stylprinzipien, des directen und indirecten Idealismus, zu welchem aber noch ein weiteres Moment, der Kampf des abstract formali- stischen Prinzips mit dem des freien Gefühlsausdrucks hinzukommt. 1. Die formal technischen Schwierigkeiten sind bei der Musik größer als bei andern Künsten. Sie tritt zuerst unselbständig als Verstärkung der Rede, des Rufens, als Mittel zu Signalen, zur Erhöhung feierlicher oder vergnügter Stimmung, als vorübergehendes Spiel mit Instrumentalklängen auf; man kann lange gar nicht daran denken, diese nicht gestaltenbildende Kunst doch als solche zu behandeln, sie zu eigener Entwicklung zu erheben, Tonbilder, Tongemälde aus dem Tone zu erschaffen; wie die poetische Lyrik nur schwer und spät zum Drama sich herausringt, so und noch mehr die Musik zu besonderem Fürsichsein. Die Schwierigkeit der Entdeckung und künstlerischen Gestaltung des Tonmaterials (§. 767, 1. ) kommt hinzu; die Herausfindung der mathematisch acustischen Verhältnisse fordert Beobachtung, Reflexion und somit höhere Cultur (daher die langsamen Fortschritte im Mittelalter). Die Idealität der Musik macht sie unfaßbar, hält sie lange auf der Stufe des tastenden Herumsuchens zurück, und auch von all diesen formellen Hemmnissen abgesehen, kann der Trieb zu concreterem musikalischem Gefühlsausdruck, mit welchem die Musik erst zu ihrer ganzen Innerlichkeit vordringt, so lange nicht erwachen, als das subjective Gefühlsleben selbst gebunden und gehemmt oder noch zu wenig entwickelt ist in Folge einer die freie Berechtigung der Subjectivität noch nicht zur Anerkennung zulassenden einseitig objectiven oder dualistisch unfreien Weltanschauung. Die Musik ist ein Sichselbstvernehmen des Subjects in seinem Gefühl, in welchem es sich nach Dem was es selbst bewegt, nach seinen Empfindungen, Freuden, Leiden, Hoffnungen gegenständlich wird; dieses Sichselbstvernehmenwollen hat überall und immer Keime und Blüthen des Volkslieds hervorgetrieben, indem in der volksthümlichen Sphäre das individuelle Einzelleben von lebendiger musikalischer Aeußerung seines Gefühls nie zurückgehalten werden konnte, aber auf dem Gebiet des öffentlichen, des religiösen und politischen Lebens fand dieses Prinzip erst mit dem Aufgang der modernen Zeit seine Geltung, und es begegnet uns daher im Alterthum und Mittelalter die merkwürdige Erscheinung, daß der Musik politisch und religiös gerade die entgegengesetzte Bestimmung zugewiesen wird, die Gefühlsäußerung in ob- jective, der Willkür des Einzelsubjects entnommene plastische Formen zu bringen, obwohl eine Reaction hiegegen, eine Regsamkeit des freien Prin- zips, schon frühe sich zeigt und endlich im Ausgang der mittlern Zeit gewaltsam sich Bahn bricht. 2. Auf dem Boden der Musik bekämpfen einander dem zuletzt Bemerkten zufolge nicht nur directer und indirecter Idealismus, reine Formschönheit und charakteristisch individueller und naturalistischer Gefühlsausdruck, sondern auch Form und Ausdruck überhaupt (vergl. §. 792), objective Gebundenheit und subjective Freiheit. Die religiöspolitische Praxis, die Theorie und der Zeit- geschmack vereinigen sich von scheinbar ganz entlegenen Gesichtspuncten aus in dem Streben, der Musik feste Formen zu geben; die erstere suchte Typen zu fixiren, in denen die Musik unverändert sich bewegen sollte, um objective, gleichmäßige Haltung, bestimmten Styl, wie ihn z. B. kirchliche Zwecke fordern, zu erhalten und zu bewahren; die Theorie fand sich, sobald man in der künstlerischen Gestaltung des Tonmaterials zu bestimmten Resultaten, zur Unterscheidung von Tonarten und Tongeschlechtern, der consonirenden und dissonirenden Accorde, der verschiedenen Arten der Modulation, der verschiedenen Formen der Stimmverflechtung (Contrapunct u. s. f.), der Gesetze der Gliederung der Tonstücke (der Arien, der Marsch- und Tanzmusik, der Ouvertüre und Symphonie) vorgedrungen war, mit Naturnothwendigkeit getrieben, diese Resultate festzuhalten, in’s Einzelne auszubilden, sie in Systeme zu bringen, welche der Composition die Gesetzmäßigkeit und Methode verleihen sollten, die gerade der Musik so nöthig ist wegen der Flüssigkeit und Freiheit ihres ganzen Wesens; die verschiedenen Zeitalter übten einen ähnlichen Zwang aus durch den Geschmack, der zwar stets wechselnd, aber doch unter entschiedenem Einfluß auf die Kunst für gewisse Compositions- gattungen (z. B. Contrapunct, Madrigal), für die eine oder andere Manier der musikalischen Figuren (z. B. der Arie), der Instrumentation u. s. f. sich entschied, indem jede Zeit vermöge ihrer ganzen Bildungs- und Anschauungs- weise unwillkürlich eine Vorliebe für Formen hat, welche derselben irgendwie entsprechen. Gerade der freisten aller Künste hat sich so ein Formalismus typischer Observanz, grübelnder Theorie, einengender Despotie des Geschmacks angehängt, der sie wiederholt mit Erstarrung und Veräußerlichung bedrohte, ebenso aber auch durch seine Einseitigkeit in gewissen Epochen ein nur um so kräftigeres Erwachen des freien Prinzips hervorrief; die Geschichte der Musik geht nicht in gerader Linie vorwärts, sondern in dem fortwährenden Wechsel und Kampf der beiden entgegengesetzten Prinzipien, deren jedes sein Recht, aber auch jedes, wo es für sich sein will, seine Einseitigkeit hat. Auch der Gegensatz des directen und indirecten Idealismus nimmt nach einer Seite hin an dem Kampfe des formalen und des freien Prinzips Theil; der directe Idealismus mit seiner Tendenz auf Schönheit der musi- kalischen Gebilde schafft sich auch sogleich feste Formen, die er allerdings mit schönem Inhalt (Ausdruck) erfüllt, die aber nur um so mehr sich zu fixiren, sich als unabänderlich geltend zu machen suchen, je mehr in ihnen und mittelst ihrer geleistet worden ist, er wählt seinem ganzen Prinzip gemäß einfachere Harmonieen, Rhythmen, einfachere Gliederungen der Theile, Sätze und Tonstücke und stellt hiemit unabsichtlich feste Typen hin, die sodann der indirecte Idealismus, um sich frei und voll zu bewegen, sprengen muß, so daß dieser letztere zu seinen übrigen Eigenschaften, mit denen er dem directen gegenübersteht, auch noch die Tendenz auf reine Freiheit, die Neigung zu transscendentem Ueberfliegen fester Maaße und Grenzen hinzu erhält; der indirecte Idealismus der Malerei hat stets sein Maaß an den gegebenen Formen der Wirklichkeit, aber die Musik hat ein solches nicht, sie scheint sich in’s Unendliche expandiren zu können, und sie neigt sich diesem Extreme von Zeit zu Zeit wirklich zu, weil der Gefühlsausdruck einmal in absolute Form sich nicht bannen läßt. Mit dem Bisherigen ist jedoch nicht gesagt, daß der directe Idealismus blos auf Seiten des Form-, der indirecte blos auf Seiten des Freiheitsprinzips stehe; beide Gegensätze sind nicht identisch, sie berühren sich zwar mit einander, aber sie haben auch noch eine zweite Seite, von welcher aus ihr Verhältniß eine andere Gestalt annimmt. Der directe Idealismus hält die Form entschieden fest, aber er ist nicht forma- listisch, er geht auf schönen Ausdruck des Einzelnen, er sucht die typischen Formen, wo er sich ihrer bedient, freier und belebter, einfacher und durch- sichtiger zu machen (wie z. B. die römische Schule Canon und Contrapunct, Mozart die Fuge); der indirecte Idealismus dagegen kann (wie bei S. Bach) sehr gut auch in typische Formen seinen tiefern Ausdruck, seine schärfere Charakteristik, seine dunklern Harmonieen, seine kräftigern Farben legen, obwohl er allerdings nur dann ganz in seiner Sphäre ist und vollkommen sich verwirklicht, wenn er die Form zerbricht und frei dem Fluge des indi- viduellen Genius folgt; die beiden Gegensätze decken also einander nicht ganz, wie dieß schon in §. 792 u. f. sich geltend machte, sie durchkreuzen sich viel- mehr blos an einigen Puncten. Der Gegensatz des directen und indirecten Idealismus ist dem zwischen Form- und Freiheitsprinzip nicht subordinirt als bloße Spezification von ihm, sondern er steht neben, ja über ihm, denn er ist ein concreter Gegensatz, dessen beide Seiten wirklich etwas musikalisch Ganzes für sich sind, während der zwischen Form- und Freiheitsprinzip ein abstracter Gegensatz ist, der in seiner Reinheit gar nicht erscheinen kann, weil weder die abstracte Form noch die abstracte Bewegungsfreiheit noch Musik wäre; aber auch der abstractere Gegensatz ist in der Musik von sehr großer historischer Bedeutung, welche darauf beruht, daß die Musik einer- seits nach festen Formen ringen muß, um ein Gesetz zu haben, und andrer- seits durch sich selbst doch stets wieder über sie hinausgetrieben wird; es wird sich zeigen, daß das Freiheitsprinzip zuletzt nicht blos gegen die Form, sondern gegen den Inhalt und Ausdruck selbst negativ wird und so die extremste Subjectivität in der Musik Raum gewinnt. §. 823. Das Alterthum bringt es vermöge seines plastischen Charakters bis zur Herstellung eines künstlerisch brauchbaren, ausdrucksfähigen Tonmaterials, aber es sucht den Ausdruck in diesem künstlerisch gegliederten Material selbst, in der auf scharffühlende Unterscheidung gegründeten Verwendung der in den Charakteren (Stimmungsunterschieden) der verschiedenen Tonlagen, Tonge- schlechter, Tonarten, Rhythmen, Instrumentengattungen gegebenen allgemeinen Ausdrucksmittel; es gelangt nicht zu einer Belebung des scharfgegliederten Materials durch individualisirende Melodie, durch eine das Tonsystem modula- torisch in Fluß setzende, concrete Accordklänge erzeugende Harmonie; die Musik bleibt daher unentwickelt, sie hat Ausdruck, aber nur typischabstracten, sie hat Schönheit, aber nur durch Begrenzung, durch absolute Durchsichtigkeit, durch Fernhaltung alles Concreten, das die Einfachheit des Stimmungsausdrucks beeinträchtigt, sie trennt sich ebendarum auch nicht wesentlich los von dem Bunde mit Poesie und Orchestik, in welchem sie sich zu dieser ebenso scharfgegliederten als einfachen Form entwickelt hat, sie bleibt melodiöse, rhythmisirte Declamation und Begleitungsmusik, welche der poetisch erregten Rede und mimischen Bewe- gung Maaß, Takt und Stimmungston gibt; es ist directer Idealismus, der das Ungeregelte der Gefühlsäußerungen in schöne und bestimmte Form bringt, aber in diesem Formalen stehen bleibt und so zum Formalismus wird. Die Musik des Orients könnte hier nicht in Betracht kommen, selbst wenn wir besser von ihr unterrichtet wären als wir es sind. Kultur- geschichtlich ist es allerdings von großem Interesse zu sehen, wie z. B. der zartfühlende Inder die feinern Klänge der Saiten-, der trockene Chinese den handgreiflichen Lärm und das ohrenfälligere Geklingel der Schlag- und Klinginstrumente vorzieht; es ist ferner namentlich dieß nicht zu bezweifeln, daß im israelitischen Volke der erhabenen und gefühlreichen Entwicklung, die seine religiöse Lyrik nahm, auch eine Gestaltung der Gesang- und In- strumentenmusik zur Seite ging, die sich vor der der übrigen Semiten gewiß durch Einfachheit und Würde auszeichnete; aber von freier musikalischer Pro- ductivität ist keine Spur, der Gesang bewegte sich in wenigen traditionellen Tonweisen, und die Instrumentenmusik, wenn sie auch für die damalige Zeit prächtig und festlich war, kam über eine ganz einfache Begleitung der Stimmen oder religiöser Acte niemals hinaus, daher denn auch seit der Berührung des jüdischen Geistes mit dem Hellenismus die griechische Musik die herrschende und namentlich von den alexandrinischen Juden nachgebildet ward. Die Griechen brechen auch in der Musik für alle Folgezeit Bahn durch die künstlerische Gestaltung des Tonmaterials, deren klare und scharfe Herausstellung vor Allem ihr Werk ist. Herstellung von Saiteninstrumenten mit vollständiger Octave, Auffindung und Scheidung der diatonischen, chromatischen und enharmonischen Leiter (welche letztere jedoch wegen der Schwierigkeit des Fortgangs in Vierteltönen wieder aufgegeben ward, indem derselbe auf die Dauer der Klarheit des griechischen Geistes nicht zusagen konnte), Aufbau von (transponibeln) vier Moll- und drei Durtongeschlechtern auf den sieben Tönen der diatonischen Leiter, welche nebst ihren Nebenton- arten später Grundlage der Kirchentonarten (obwohl zum Theil mit ver- änderten Benennungen) wurden, Feststellung von dreizehn Tonarten ( toni ) auf bestimmten Stufen des Tonsystems, feine Belauschung des Stimmungs- charakters aller dieser Scalengattungen, sowie des Klangcharakters der ver- schiedenen Tonlagen, eine auf diese Beobachtung gegründete Verwendung der Tonarten (und der Ausweichungen von der einen in die andere) für die verschiedenen Zweige der lyrischen, dramatischen und orchestischen Musik, sowie der verschiedenen Tonlagen für Chor- und monodische Musik, ins- besondere Herstellung eines in kräftigernstem Basse singenden Männerchoros für die Tragödie, sodann besondere Pflege und höhere Ausbildung der feiner geistigen Musik der Saiteninstrumente, taktmäßige Bewegung des Chor- und Einzelgesangs, gleichfalls mit Rücksicht auf die Stimmungsunterschiede der rhythmischen Bewegungsweisen verschieden geartet, dieß Alles gehört ganz oder vorzugsweise den Griechen an. Sie selbst schufen mit diesen Mitteln eine Musik, die uns deßwegen fremdartig erscheint, weil unsere Ausdrucks- mittel weit concreter sind als die ihrigen; den Griechen wirkten die ver- schiedenen Stimmlagen, Baß, Bariton, Tenor als solche direct , jede in Gemäßheit ihrer natürlichen Klangfarbe, die auch auf uns ihren Ein- druck nicht verfehlt, sie überließen sich und lauschten dem Eindruck ihrer Moll- und Durleitern direct, dieß Alles gewann Charakter und Ausdruck für sie nicht erst vermittelt durch reiche Melodieentwicklung, und nicht erst vermittelt durch Harmonik und damit verbundene feinere Rhythmisirung der Stimmführung, sondern in rein unmittelbarer Weise, wie z. B. der Farbenton eines Gemäldes schon durch sich selbst Ausdruck einer gewissen Stimmung ist. An bestimmte Tonarten, Tonlagen, Taktbewegungen, Instrumente knüpfte sich im griechischen Bewußtsein der Eindruck einer bestimmten Stimmung, Gemüthsverfassung, Gemüthserregung, diese Stimmung hörte man heraus in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrem Contrast zu den andern, sie fand man einfach immer wieder, so oft die entsprechenden Töne erklangen; daher auch die großen Wirkungen der Musik auf das Gemüth, weil sie sogleich einen bestimmten Stimmungstypus mit allen in ihm enthaltenen ethischen Be- ziehungen direct veranschaulichte. Männlich, erhaben kräftig klang ihnen das Dorische (das spätere Phrygische), ecstatisch, hochfeierlich das Phrygische (das spätere Dorische), üppig, gehoben und muthvoll das Aeolische (unser Moll mit kleiner Septime), zur Klage geeignet, mild, kindlich das Lydische (unser Dur), etwas kräftiger wieder das Jonische (Dur mit kleiner Septime), indem, wie es scheint, das bedeutsame, erschwerte, gleichsam Hemmungen überwindende, ernstere Dahinschreiten der Molltonarten einen erhabenen und erhebenden, das leichte, klare Dahingehen der Durtonarten aber einen mattern, erschlaffendern Eindruck auf den Sinn der Alten machte, so daß ihnen also „Dur“ Moll und „Moll“ Dur war, ein charakteristischer Unterschied der antiken, ethischpraktischen, männlichen und der modernen, gemüthlichen, in Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 73 freiem Aufschwung, in ungetrübtem Wohlgefühl individuellen Daseins allein befriedigten Empfindungsweise, der aber auch deßwegen nicht auffallen darf, weil die Alten in Ermanglung der harmonischen Ausdrucksmittel solche in der Tonbewegung selbst suchen und daher diejenigen Tongeschlechter bevor- zugen mußten, welche bereits an sich concrete Farbe haben und dieselbe auch der unisonen Melodie mittheilen. Eine solche Musik des unmittelbarsten Idealismus war natürlich blos dadurch auf die Länge möglich, daß sie keine weitern Ansprüche machte als die, einerseits den Stimmungsausdruck der dramatischen und lyrischen Poesie zu verstärken, zu schärfen, zu heben, rhythmisch zu beleben, jeder Art von Feier gleichsam als letzten, den Stim- mungscharakter symbolisch klar bezeichnenden Umriß noch die Töne der einen oder andern Scala in melodischer Bewegung beizugeben, andrerseits aber eben durch diese feste und klare Tonsymbolik, sowie durch das feste Takt- maaß, durch die Einfachheit des unisonen Klanges, durch die gehaltene und gemessene, wenig Intervallwechsel zulassende Melodiebewegung den Stim- mungsausdruck zu idealisiren, ihm im Gegensatz zu allem Naturalismus leidenschaftlicher Erregtheit die Geschlossenheit in sich selbst, die höhere geistige Ruhe zu verleihen, welche der plastische Sinn des Hellenenthums von der Kunst als eine Pflicht forderte, weil sie auch das stärker erregte Leben in festem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Gesetzmäßigkeit darstellen sollte (wovon selbst nicht die bewegtere dithyrambische Weise, sondern nur die orgiastische Musik dionysischer Culte eine Ausnahme machte); die Musik wirkte nur zum Ganzen mit, als belebendes und als maaßgebendes Element zugleich, und sie blieb daher melodischrhythmische Declamation und Beglei- tungsmusik, sie trat nur wenig aus dieser Stellung heraus, die sie fest- halten mußte, wenn nicht die mit ihr untrennbar verflochtene Dramatik und Lyrik selbst zu Grund gehen sollte. Das naturgemäße Bedürfniß nach concreterer Belebung der Musik durch Harmonie machte sich auch geltend; die Monodie wurde bereits mit höhern und tiefern Octaven-, Quint-, Quartklängen der Lyra begleitet; aber weiter zu gehen, auch die andern, die sogen. diaphonischen Intervalle, wie die Terz, anzuwenden oder gar den Zwei- zum Dreiklang zu erweitern, dieß gelang nicht oder fand es, wenn es versucht ward, Mißbilligung; was die klare Durchsichtigkeit der Musik alterirte, galt dem griechischen Ohre als verletzend, und auch die Versuche diaphonische Intervalle anzuwenden hatten wohl mehr das Streben nach größerer Mannigfaltigkeit, namentlich der Instrumentenmusik, als ein Be- dürfniß nach gefühlreicherer Erwärmung der unisonen Musik zu ihrer Grund- lage; die Musik sollte ja überhaupt die Gefühle nicht aufregen, nicht schmelzend auf das Gemüth wirken, sondern dem das Gemüth erfassenden musikalischen Stimmungsausdruck stets zugleich Bestimmtheit, klare Form, festes Maaß, geregelte Bewegung geben und so in derselben Art vor Allem beruhigen, wie das Gesammtkunstwerk mit seinen geschlossenen Formen überhaupt; nicht die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchsichtiges hat und gerade auch hiedurch auflösend und erweichend wirkt, sondern eine ideale Harmonie, die Harmonie der Reinheit distincter Klänge, die Harmonie der klar durch- sichtigen, direct symbolischen Stimmungsveranschaulichung, der Haltung und der Gemessenheit war es, was man wollte; man verschmähte, weil man die Musik wie die andern Künste plastisch auffaßte, ihr subjectives malerisches Element, das nun einmal verschlungenere Tonbewegungen und Tonver- knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunst, wo sie öffentlich auftrat, es zuließ. Die Musik mußte aber mit diesem directen Idealismus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerst klar und scharf unterschied (vergl. §. 769, 1, ) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach schönen Stimmungsausdruck suchte; erst im Gegensatz zu der hiemit gegebenen typischen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders scharf geschiedener Ton- geschlechter und zu der Kälte und Leblosigkeit des monotonen Ein- und Octavenklangs konnte sich der Schmelz, der modulatorische Fluß, die Weich- heit und Lebendigkeit harmonischer Musik entwickeln. §. 824. Die Impulse, welche das Christenthum mit seinem das Gemüth im 1. Innersten erfassenden und aufschließenden Bewußtsein des ebenso tiefen als ewig zur Versöhnung aufgehobenen Gegensatzes zwischen dem Endlichen und Unend- lichen der empfindenden Phantasie gegeben hatte, schaffen nicht sogleich eine wesentlich neue musikalische Kunstform. Die Kirche erhält die höhere Musik und rettet sie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, sie stellt den Aus- druck als allein bestimmendes Prinzip auf, gibt dem Gesang mehr Innigkeit und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typischen Formen fest. Die Melodie bleibt Sprechgesang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort- schreitend (Cantus planus), einstimmig, die Anfänge zu harmonischer Begleitung gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen diese 2. Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie , welche gegen den Ausgang des Mittelalters zur Polyphonie fortschreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit einer vollern und tiefern musikalischen Darstellung realisirt sich nur allmälig, da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächst gegen die Melodie sich ver- selbständigt, gegen die Rücksicht auf den Stimmungsausdruck sich abschließt und in eine leere Systematik, in eine abstracte Form ausartet, welche der Geist zunächst noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche er aber beharrlich festhält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter Individualisirung der Stimmführung und gesetzmäßigen Fortschritts der Ton- folge vertreten ist. 73* 1. Die Ansätze zu belebterem Stimmungsausdruck, welche die wenigen Notizen über den ältesten christlichen Cultus durchblicken lassen, bleiben ver- einzelt und ohne Erfolg, indem die ecstatischen Gefühlserregungen des sog. Zungenredens, in welchem der seiner Versöhnung mit dem Göttlichen in unendlicher Selbstgewißheit sich bewußt gewordene Geist offenbar eine neue, seinem überwallenden Gefühl entsprechende Aeußerungsform suchte, zu gestaltlos waren, als daß ein neuer musikalischer Stimmungsausdruck sich aus ihnen hätte entwickeln können; das ecstatische Element, dieser reine Gegensatz zum Antiken, tritt wieder zurück, der Kultus nimmt fest geregelte Formen an; der kirchliche Priester- und Chorgesang erhält wieder eine ähnliche Bestim- mung wie im Alterthum, die Bestimmung feierlich declamatorischer Beglei- tung religiöser Handlungen und feierlichen Vortrags religiöser Gesänge, Gebete, Hymnen, Psalmen, evangelischer Abschnitte u. s. f. Der Ausdruck kommt aber mehr zu seinem Rechte, die Texte sind einfacher, die Musik kann mehr für sich heraustreten, als es in der ehemaligen Verbindung mit einem concreten, streng rhythmisch gegliederten poetischen Inhalt möglich war, die Stimmungsunterschiede der Tonarten werden immer noch wirksam verwendet, aber der Stimmungsausdruck des einzelnen Gesangstücks ist jetzt das We- sentliche; so einfach Alles noch ist, so weht doch in den Monodien des kirchlichen, „gregorianischen“ Gesangs eine an den Inhalt sich anschmiegende Weichheit, die auf höhere Formen der Ausbildung bereits hinausweist. Die Musik folgt in gleichlangen Noten, in gleichförmigem, nur zum Behuf besondern Ausdrucks größere Intervalle ergreifendem Vor- und Herum- schreiten auf der Scala, ohne Takteintheilung, meist syllabisch geformt dem Texte und läßt dessen Wort- und Sylbenrhythmus klar durchscheinen, es ist nur Sprechgesang, aber durch Wahl der Tonart, durch treffende Hebungen, Senkungen, Wendungen musikalisch ausdrucksvoller, melodiöser Sprechge- sang, obwohl von melodischer Gliederung, Periodisirung noch nicht die Rede ist, es ist alle äußere Form aufgelöst in die einfach der Stimmung nach- gehende, sie in Einem Zuge, ohne Ein- und Abschnitte wiedergebende Aus- sprache des religiösen Gefühlsinhalts; auch Schönheit der Musik als solcher ist nicht Zweck, sie ist nur schön in ihrer treffend ausdrucksvollen Einheit mit dem Inhalt, jedoch hier mit dem Unterschied vom Antiken, daß die größere Innigkeit des Ausdrucks, indem sie zugleich eine durchaus klare und einfache bleibt, auch eine musikalische Schönheit einzelner Wendungen mit sich führt, welche die antike Musik wohl nicht gekannt hatte. Kurz es ist ein indirecter Idealismus, aber noch nicht in Opposition gegen das Prinzip einfacher Schönheit, sondern dieses selbst innerhalb seiner reprodu- cirend und neu gestaltend in Folge der Unmittelbarkeit, mit welcher der Gesang, obwohl er nicht mehr blos die „allgemeinen“ Ausdrucksmittel gebraucht, doch überall die nächstliegenden ergreift und so die Durchsichtig- keit, die reine Idealität sich bewahrt. 2. Vollkommen wird die Musik über das antike Prinzip erst hinaus- geführt durch die Einführung der Harmonie . Die Monotonie des uni- sonen, blos melodischen Gesangs ruft zwar auch in Italien, wo sie sich vorzugsweise ausgebildet hat, schon seit dem siebenten Jahrhundert einzelne Versuche mehrstimmiger Belebung des Gesangs (wie schon im Alterthum) hervor, aber erst vom deutschen Geiste wird sie in ihrer ganzen Leerheit empfunden, seitdem man hier zuerst nur schüchtern tastend auf die Harmo- nieverhältnisse der Intervalle aufmerksam geworden war und angefangen hatte die Hauptstimme mit consonirenden Nebentönen zu begleiten; mit dieser, wie es scheint, seit dem zehnten Jahrhundert in Flandern, wo auch die Malerei einst am bestimmtesten den concreten ächt malerischen Styl der flachern italienischen Anmuth entgegenstellen sollte, systematischer behandelten und practisch gemachten Erfindung beginnt erst die Musik der Neuzeit, die ganze und volle Musik überhaupt. Es war nichts Anderes als das Wohl- gefallen am Mitklingen der einen Stimme zur andern und an den in dem- selben zu Tage kommenden gesetzmäßigen Klangverhältnissen, was einem Hucbald u. A. für die Harmonie ein so belebtes Interesse einflößte; die altitalienische Musik setzte zwar mit Recht der antiken die Melodie, die Zu- spitzung des abstracten bloßen Tonganges zu individuellerer, dem subjectiven Gefühl genügender Gestaltung entgegen, aber sie war in dieser selbst wiederum plastischen Herausführung des Innern zur Selbstdarstellung in einfach ebenmäßigem, planem Linienumriß stehen oder vielmehr schweben geblieben, sie hatte wie alle italienische Kunst etwas einseitig Superficielles, ein Heraustreten des Innern an die Oberfläche in klarer, großartiger Zeichnung, aber ohne Tiefe und Lebenswärme; hier aber ist es anders, man will erstens nicht blos dieses einfache Linienziehen, das von einem Momente zum andern vorwärts schreitet und damit zwar einen klaren, aber auch einen leeren Eindruck macht, man will nicht mehr den Einzelton, son- dern ein Tonganzes, man will um jeden Preis der Längendimension die in die Breite und Tiefe, dem dünnen Laute den volleren, wärmeren Klang, dem Tonumriß die Tonfärbung, und man will zweitens dem tonus vagus, der auf den Stufen der Leiter aufundabirrt, den bestimmten Ton, bestimmte Klangverhältnisse beigefügt haben, die in die Musik ein Element der Gesetz- mäßigkeit und somit neben der Wärme auch etwas Strafferes, Strengeres, Tieferes bringen, man will nicht blos Kunst, Melodiecomposition, Subjec- tivität, sondern Natur, eine natürliche Gesetzmäßigkeit, eine Objectivität, einen realen Hintergrund, auf welchem das Subjective sich bewege, wie dieß Alles auch die deutsche und besonders die flandrische Malerei (§. 728) in entschiedenster Weise erstrebte. Damit entsteht nun aber freilich auch eine einseitige Richtung in der Entwicklung, die alle sonstigen Cruditäten der mittelalterlichen Kunst noch weit hinter sich läßt. Die Harmonie wird zunächst in abstracter Selbständigkeit genommen; man begleitet die Haupt- stimme mit fortgehenden Quarten und Quinten, als ob diese Klangverhält- nisse, weil sie gesetzmäßig und natürlich sind, nun überall angewandt werden müßten, man zerstört mit diesen gleich fortlaufenden Zweiklängen nicht nur alle Abwechslung, sondern auch alle wirklich harmonische Fortschreitung, weil dabei alle natürliche Accordverbindung durch den Mechanismus des Fortrückens in gleichen Intervallen unmöglich gemacht ist. Allmälig, gegen den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts sind zwar endlich die richtigen Grundsätze über den nothwendigen Intervallwechsel bei der Fortschreitung und über die Auflösung der Accorde durchgedrungen, der Italiener Marchetto von Padua und der Franzose Jean de Meurs stellen sie auf, sie bringen in die Harmonie das wieder hinein, was sie mit der Melodie gemein haben muß, die Biegung, die Hebung und Senkung, durch die Accordwechsel und Accordübergang ermöglicht wird, und es ist somit die wahre Harmonik gewonnen; zugleich hatte die Vertiefung des Geistes in die Harmonie vom zwölften Jahrhundert an Anstoß gegeben zur Ausbildung der Metrik und Rhythmik, soweit sie für das Nebeneinanderhergehen mehrerer Stimmen erforderlich ist, und es war also auch hiemit ein weiteres Element objectiver Gesetzmäßigkeit, das in der altitalienischen Musik verloren gegangen war, wieder hergestellt. Allein dieses Prinzip harmonischer Vielstimmigkeit tritt dem Prinzip des Ausdrucks, das bei jener noch rohen Harmonie gleichfort- schreitender Intervalle ganz zerstört war, abermals in den Weg und hebt wiederum wie jene die Harmonie selbst, die sie zu cultiviren meint, auf. Die Vielstimmigkeit wird Polyphonie, einfacher, doppelter, mehrfacher Contra- punct, Canon; der Geist arbeitet sich, froh darüber, daß er in der Musik concrete Mannigfaltigkeit und ein Gesetz entdeckt hat, mit welchem sich kunstvolle Tongebilde hervorbringen lassen, in diese Polyphonie, in die Häu- fung und Gegeneinanderstellung der Stimmen so hinein, daß die Musik selbst, der Ausdruck, die Melodie ihm verloren geht; die contrapunctische Kunst isolirt sich, wird zur mathematischen Technik, welche lange Zeit sich spröde verhält gegen das neben ihr, besonders durch die Troubadours auf- blühende melodische Lied; wie ein zu sehr auf’s Einzelne gehendes Natur- studium der deutschen und der niederländischen Malerei das Durchdringen zu reiner Schönheit der Gestalt vielfach verdirbt, so, nur in weit größerem Maaße, ist es auch hier, das Schöne geht im Gelehrten unter, die Form im Formalismus. Es kann daher auch nicht anders kommen, als daß dieser Formalismus, weil es ihm am Interesse für den Inhalt fehlt, am Ende, so ernster Natur er zu sein scheint, auch in leere Spielerei umschlägt, die zwar von den Meistern der Kunst, wie von Josquin des Pr é s im fünfzehnten Jahrhundert, nur nebenbei mit Humor betrieben wird, aber deßungeachtet auf dem Wege ist, die Musik ganz von ihrem eigentlichen Ziel, der Darstellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des Gehalts und Ernstes sie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der monodischen Musik, das schwebende Aufundabirren der Töne ohne feste Baßbasis unbeseitigt, die Melodie ist nur multiplicirt, nicht aber eine Ge- schlossenheit des Kunstwerks in sich selbst erreicht, die es nur erhält, wenn die Harmonie sich auch nach ihrer der Melodie entgegengesetzten Seite, als stützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an diesem Mangel tritt am klarsten hervor, welches an sich doch berechtigte Motiv dieser einseitig polyphonen Kunst zu Grund liegt, es ist die Stimmenfülle und Stimmenselbständigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtsein individueller Selbstberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es ist das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit seiner lebendigmalerischen Mannigfaltigkeit, was der an sich trockenen Kunstform Reiz verleiht und sie sogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz ihrer so abstract scheinenden Systematik. Nirgends tritt das indirect ideali- stische Prinzip, das auf Gestaltenschönheit verzichtet und auf weitem Umweg mit vielen Härten und Schroffheiten eine Gesammtwirkung sucht, so spre- chend heraus und dem direct idealistischen entgegen, es tritt ihm entgegen selber in der Weise der Form, die sonst Hauptmoment des andern Prinzips ist, weil eben diese Form doch das Moment der Individualität, sowie das eines naturalistischern Klang- und Figurenreichthums, zu seiner Berechtigung bringt. Discantus, Auseinandersingen, bei belebtern Stücken auch Fuga, Stimmenjagen (welche erst später zu dem symmetrischer gebauten Stimmgefüge, das die jetzige Fuge darstellt, sich fortbildete), nannte man diese contrapunc- tischen Gesänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verselbständigung und das freie Gegeneinanderspielen der Stimmen der Zeit selbst als das Charakteristische, als das was sie eigentlich wollte, vorschwebte; kommt es doch vor Palestrina so weit, daß man in extremster Opposition gegen die altkirch- liche Monotonie in der Liturgie verschiedene Stücke derselben, ja nebenbei weltliche Melodieen, zusammen und durcheinander singt, weil eben die In- dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr sich fügen will. §. 825. Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine Umbildung hauptsächlich der kirchlichen Vocalmusik; sie bringt in sie eine Viel- stimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche sie erst wirk- licher Chorgesang, Musik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem religiösen Inhalte bewegten Gesammtheit wird. Die niederländischen Meister bilden sie in dieser Richtung immer weiter aus, das Moment des rein Musikalischen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erst Orlandus Lassus im sechszehnten Jahrhundert diese Kunstform zu der Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der sie fähig ist. Zu derselben Zeit wird die harmonisch polyphone Musik in Italien von Palestrina auf eine Stufe der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird. Der religiöse Ausdruck und die Klarheit werden Hauptgesetz; die Polyphonie wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen und mit ebenso durchsichtiger Auseinanderhaltung derselben behandelt; das melodische Prinzip der altkirchlichen Musik wird wieder aufgenommen und durch die Harmonie erwärmt und beseelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit dieser Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch beschränkte Anwendung der Figurirung dem Element des Ausdrucks eine strenge Formschönheit und eine Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende indirect idealistische Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividualisirung in erhabenster Plastik wieder zur reinen Idealität verklärt ist. Die bedeutendsten niederländischen Meister, Dufay, Ockenheim, Josquin de Pr é s führen in ernster, jedoch noch trockener Weise, zum Theil in An- lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche sie mit contrapunctisch geführten, theils unter, theils über der Hauptstimme herlaufenden Neben- stimmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmusik, insbesondere in die kirchliche, ein; am freiesten verfährt hierin Josquin, dessen Charakterisirung durch Luther, daß ihm es die Noten machen müssen, wie er es wolle, die Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es bis zum sechszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen ist die spröden Kunst- formen zu beherrschen, ihnen Leben und Geist einzuhauchen. Mit dem höhern geistigen Aufschwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die niederländische Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. Lassus, welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig- keit vereinigen, aber mit dem formalistischen Prinzip nicht in so ausge- sprochener Weise zu brechen die Absicht haben, wie dieß in Italien geschieht. Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwischen dem abstracten Formalismus und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die kirchliche Musik. Palestrina gibt der polyphonen Figuralmusik zurück, was ihr in dieser Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die einfache melodische Musik des gregorianischen Sprechgesangs die Harmonie in wirksamster, großartigster Weise. Die Melodie erhält an der Harmonie eine tragende Basis und damit festere Haltung und größere Kraft; die Melodie wird in ihrer alten Einfachheit belassen, aber eben auf Grundlage dieser Einfachheit wird sie mit der Harmonie, d. h. sowohl mit bloßen Accorden als mit selbständiger sich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden, einzelne Wendungen ausführenden Nebenstimmen dergestalt verschmolzen, daß das Ganze nur eine sich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird, eine Musik, welche nicht blos melodisch, sondern harmonisch anspricht, die Seele nicht blos melodischklar, sondern auch harmonischweich ergreift, sie auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entstehenden Stimmungs- töne (Ausdrucksschattirungen), wie die Stimmen selbst nichts für sich bedeuten wollen, sondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in dasselbe zurückzugehen und zu seinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es ist (S. 897) bestimmte Musik, umhaucht und umschwebt von der Musik überhaupt. Zugleich aber ist diese Harmonie eine so lichte, unweichliche, gediegene, von allem Süßen und Pathetischen reine, einfache, durch die antiken Tonarten allerdings sehr bestimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß Alles ebenso sehr klar aus einander tritt, als es zusammenklingt, und Alles ebenso ruhig sich gegen einander bewegt, als es schön in einander fließt; desgleichen ist der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim- men z. B. kleine schnellere Tongänge ausgeführt werden), so ebenmäßig, daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen scheint in der Bewegung, nirgends gestört oder erschüttert wird. Von dramatischer Erregtheit ist keine Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es ist eine plastische Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen wärmeren und bestimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausschließt, aber doch in der Art, daß der gleichbemessene Rhythmus des Ganzen auch hier nur vorübergehend in einfacher Weise belebt wird, das Gleichgewicht, in dem Alles sich bewegt, somit keine Störung erleidet. Die Idealität wird noch besonders verstärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus- drucksmittel; die Menschenstimmen, zu mehrstimmigen Solo’s oder Chören vereinigt, sprechen das Ganze aus für sich allein und ohne selbst ein subjec- tives Ausdrucksvollseinwollen in dasselbe zu legen, die Sache allein soll wirken und der Ausdruck vor Allem darin bestehen, daß nichts sich vor- drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen störe und abschwäche. §. 826. Während die römische Schule den Styl Palestrina’s fortsetzt sowohl nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher letztere besonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt sich in Italien seit dem Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen Madrigalmusik die Oper , welcher das Oratorium und eine höhere Aus- bildung der Instrumentalmusik für den Zweck der Gesangsbegleitung auf dem Fuße folgt. Die weltliche Musik wirkt auf die kirchliche zurück und befördert das in dieser selbst erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach freierer Ausbildung des melodischrhythmischen Elements, nach reicherer Figura- tion, ohne zunächst den Gehalt und die Strenge des Styls aufzuheben; die religiöse Musik Italiens wird so dasjenige Gebiet, auf welchem die moderne Musik, so weit sie nicht dramatisch ist, die Ausbildung zu einer die Form bemeisternden, sie zum einfach schönen Ausdruck des Gefühlsinhalts erhebenden Classicität erlangt, wiewohl dieselbe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits in eine der Tiefe ermangelnde Anmuth und Weichheit überzugehen beginnt. Die Oper bildet das Recitativ, mit dem sie begonnen, zur Arie fort und bringt hiemit ein Hauptelement der dramatischen Musik zu classischer Entwicklung, aber sie bewegt sich in Italien von vorn herein in einseitig melodiöser Tendenz, welche sie hindert, sich zum wirklich dramatischen Kunstwerk auszubilden, und auch sie wieder einem Formalismus anheimfallen läßt, dem Formalismus einer die Oper zum bloßen Rahmen für die verschiedenen Formen der Gesangsmusik zurichtenden und diese selbst in Singkunst verwandelnden Vorliebe für das Aeußere der Gesangsvirtuosität. Die italienische Musik bleibt großartig und gediegen, so lange und so weit sie das ursprünglich deutsche Element der Harmonie als Grundlage der Composition fortbestehen läßt. Die Polyphonie und die Verbindung der Harmonie mit der Melodie war jedoch auch innerhalb des Prinzips directer Idealisirung, welchem die italienische Musik diese ihr von außen zugekommene Kunstform wieder unterworfen hatte, noch weiterer Ausbildung fähig, und es zeigt sich daher schon in der römischen Schule eine über Palestrina hinausgehende Entwicklung; die Weichheit der Harmonie, das Gefühlvolle findet in Nanini und im siebenzehnten Jahrhundert in Allegri ihre Hauptvertreter, dessen berühmtes Miserere die Melodie d. h. das in dieser selbst, in ihren Wendungen und Hebungen liegende Ausdruckselement schon selbständiger hervortreten läßt, ohne jedoch die Mitwirkung der Harmonie in Palestrina’s Weise irgend an ausdrucksreicher Bedeutsamkeit verlieren zu lassen. Auf der andern Seite findet auch das Prinzip der sonst mehr in Deutschland ausgebildeten, möglichst gesteigerten Vollstimmig- keit in seinem Zeitgenossen Benevoli seine Vertretung innerhalb der römischen Schule, wiewohl immer noch mit verhältnißmäßig einfacher Figurirung der Stimmen. Es lag in der Natur der Sache, wie des italienischen Geistes, daß das melodische Element sich mehr und mehr hervordrängen mußte, das schon Palestrina selbst dem einseitig harmonischen entgegengestellt, dann aber allerdings mit diesem wieder untrennbar verschmolzen hatte; eine ge- wisse Gleichförmigkeit obligat wiederkehrender melodiöser Wendungen, welche stehendgewordenen harmonischen Combinationen (besonders am Schlusse der Sätze und Perioden) dient, sowie eine entschiedene Mäßigung der selb- ständigen Bewegung der polyphon zusammenwirkenden Stimmen, ist der ältern römischen Schule noch eigen, weil sie die Einzelstimmen noch nicht individualisiren, sondern sie nur zum Ganzen mitwirken lassen will; hiebei aber konnte nicht beharrt werden, der italienische Charakter verlangte un- mittelbar in’s Ohr fallende Klarheit des Ganges der Melodie, und diesem Trieb kann auch die römische Schule nicht widerstehen. Vollkommen aber wird dieses Prinzip der Stimmenindividualisirung in’s Leben eingeführt erst in Folge der Erfindung der Oper , die eben aus dem Drange der italienischen Natur nach freier, nicht durch die Harmonie gebundener musika- lischer Bewegung, nach freiem Ausdruck des Charakters und Verlaufs subjectiver Stimmungen, wie solche im Drama auftreten, hervorgegangen ist. Die durch das Madrigal über die kirchliche Sphäre hinaus in weitere Kreise gedrungene Vocalkunstmusik folgt endlich seit dem Schlusse des sechs- zehenten Jahrhunderts dem auf andern Kunstgebieten schon früher durchge- brochenen Streben, die überlieferten stereotypen Formen zu verlassen und mit vollkommen freier Handhabung der Mittel, mit freier Erfindung einer schön charakteristischen, lediglich dem Wesen des eben vorliegenden Gegenstandes selbst entnommenen Darstellung der Kunststoffe sich zu widmen; angeregt durch die Erinnerung an das antike Drama, beginnt man dramatische und zwar zunächst mythologische Stoffe, welche charakteristische, sangbare Situationen und Handlungen darbieten, mit Musik in Scene zu setzen. Hiemit ist der Musik ein neues Gebiet eröffnet, das Gebiet des bestimmtern Ausdrucks des Individuellen, des Pathetischen und des Rührenden, sowie der dra- matischen, die Entwicklung einer Stimmung verfolgenden, in ihr Einzelnes eingehenden Schilderung. Die Opernmusik ist ebendeßwegen zunächst blos Recitation, hie und da wechselnd mit kleinen, zusammenfassenden, ab- schließenden Chören, sowie verbunden mit einer zur Belebung dienenden, wenn gleich noch sehr einfachen Instrumentenmusik; aber das neue Prinzip der Individualisirung der Musik ist damit seiner noch sehr unentwickelten Gestalt ungeachtet ein für allemal aufgestellt und verfehlt nicht vorherrschenden Anklang in Italien zu gewinnen. Das geistliche Drama, das Oratorium und Cantate erhält im Verlauf des siebenzehenten Jahrhunderts, besonders durch Carissimi eine schöne, bewegte Recitation mit melodischen Arien und vollern, kunstreichern Chören vereinigende Ausbildung, durch welche diese Kunstgattung zwischen die im Ganzen noch sehr musiklose Oper und die Harmoniefülle der Kirchenmusik in die Mitte tritt. Seit dieser Zeit ist nun ein entschie- dener Einfluß des von Oper und Oratorium vertretenen rhythmischmelodi- schen Prinzips auf die kirchliche Musik vorhanden. In Neapel und Venedig, wo die Oper ihre Hauptstätte findet, wird, nicht ohne Einflüsse von Deutschland her, auch die Kirchenmusik freier in Melodie, Rhythmus, Har- monie und Charakteristik; die Stimmen werden individualisirt, sie treten in den polyphonischen Werken schärfer und gesonderter aus einander, sie erhalten belebtere rhythmische Gliederung, mannigfaltige instrumentale Be- gleitung, die Figurirung verdrängt immer mehr den ebenmäßigen Cantus planus , der gregorianische Gesang ist bald nicht mehr als Grundlage der italienischen Kirchenmusik zu erkennen; die freien Formen der recitativischen und ariosen Monodie, des Vocalterzetts u. s. w. werden mit Vorliebe er- griffen, die Harmonie und Modulation durch reichere Anwendung der zu- sammengesetztern Accorde und durch Beseitigung des ausschließlichen Ge- brauchs der Kirchentonarten mannigfaltiger und vielseitiger; die charakteristische Gestaltung der einzelnen Tonstücke je nach ihrem Inhalt und der subjectiveren Auffassung des Componisten verdrängt, namentlich in den sog. Kirchen- concerten mehr und mehr die typische Behandlung, so daß die Kirchenmusik allmälig einen reihen Kreis mannigfaltiger Productionen aus sich empor- treibt, der im sechszehenten Jahrhundert noch unmöglich geschienen hatte. Der einst durch die flandrischen Meister und durch Palestrina gegebene Impuls zu gehaltvoller und polyphonisch tiefer Composition wirkt deßun- geachtet auch außerhalb der römischen Schule fort; religiöse Compositionen der Gabrieli, Lotti, Caldara aus der formenreichen venetianischen und der Scarlatti, Astorga, Durante, Leo aus der gelehrten neapolitanischen Schule athmen immer noch religiöse Kraft, Innigkeit und Würde, und erst allmälig machen im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts diese Eigenschaften bei einem Marcello und Pergolesi entschiedener einer formellern Schönheit, Anmuth und Weichheit Platz, welche mehr dem Oratorium und der Oper als der kirchlichen Musik angehört. Damit hat die Musik in Italien ihren Kreislauf vollendet; spätere Entwicklungen der italienischen Musik stehen wesentlich unter französischem und deutschem Einfluß; die Mission Italiens ist hier wie auf dem Gebiet der Malerei die Ergänzung des antiken plasti- schen Prinzips durch das concretere, realistischere moderngermanische Prinzip und die Zurückführung dieses letztern zur Schönheit der unmittelbar wohl- gefälligen Erscheinung. In Folge dieser Tendenz war Italien auch die Wiege der Oper geworden, die ja nur da entstehen konnte, wo der Drang zu freimelodischer, einfach schöner Musik lebendig war. Aber hier reicht nun das italienische Prinzip nicht vollkommen zu; Italien schuf die Oper, ohne sie ihrem wahren Begriff nach realisiren zu können. Das trockene, steife Recitativ treibt zur Arie fort, deren über das Lied weit hinaus- gehende Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nur in Italien zugleich mit dem schönen Fluß und dem leichten Schwung der Melodie, ohne den sie eckig und unbeholfen bleibt, ausgebildet werden konnte; die Vereinigung dieser beiden Elemente hat italienische Lebhaftigkeit und ita- lienischer Formsinn geleistet. Aber je mehr die Gesangsmusik zu dieser freien Schönheit sich entwickelt, desto mehr wird die schöne Form Selbst- zweck, desto mehr geht die Vocalmusik über in Gesangsvirtuosität . Nicht als ob blos das Mechanische der Technik Gegenstand des Interesses wäre; sondern die Gesangkunst wird in Italien, losgetrennt von höherem dramatischem und tieferem Gemüthsausdruck, deßwegen für sich Object, weil das in ihr stattfindende vollkommene Heraustreten des Innern in äußere sinnliche Form, d. h. weil das drastisch Pathetische einer-, das anmuthig Weiche andrerseits, das im Gesange als unmittelbarer und vollster Aeußerung innerer Bewegtheit liegt, dem ebenso südlich lebhaften und leicht erregbaren als formbegierigen, klare Anschaulichkeit, treffende Wirkung, packenden Eindruck verlangenden italienischen Geiste als ein Höchstes und Letztes erscheint; der Gesang ist ihm für sich ein lebendiges plastisches Kunstwerk der bewegten Subjectivität, das als solches ihn be- friedigt, so daß der Inhalt Nebensache wird. Manches Schöne in Melodie und Ausdruck mag mit den zahllosen in den Schutt der Vergessenheit be- grabenen Opern der zwei ersten Jahrhunderte dieses Kunstzweiges bis jetzt verloren gegangen sein; aber die musikalische Dramatik konnte auf diesem Boden nicht gelingen. §. 827. In Deutschland geht aus der Musik der niederländischen Schule eine ähnliche Blüthe harmonisch melodischer Kunstmusik hervor, wie in Italien durch Palestrina. Aber zu ihr tritt mit dem Protestantismus die volksthümlichere, neben gleicher religiöser Tiefe kräftigere und lebensvollere Form des Chorals hinzu, welche auch auf jene Kunstmusik einen kräftig belebenden Einfluß aus- übt, wie die Musik in Deutschland überhaupt von Anfang an eine mehr auf innigen Gefühlsausdruck als auf Formschönheit gehende Richtung einschlägt. Ebendeßwegen aber entwickelt sich die deutsche Musik langsamer zu einer eigen- thümlichen Kunstform; erst im achtzehenten Jahrhundert erreicht sie in Sebastian Bach und Händel ihren erstmaligen Höhepunct. In dem ersten dieser beiden Heroen ist die ganze Strenge und Verwickeltheit harmonischer und polyphoner Kunst mit einer in die Formen derselben in vollster Wärme sich ergießenden Ge- müthsinnigkeit und Gefühlslebendigkeit, sowie mit treffender, bis zum Dramatischen fortgehender Charakteristik in einer Art und Weise verbunden, welche das Prinzip des indirecten Idealismus in erhabenster Verwirklichung darstellt, aber das plastische Element der Abrundung, der Durchsichtigkeit, der kunstvollern Disposition des Tonwerks, der einfach großartigen Stylisirung, der klaren entscheidenden musikalischen Wirkung noch nicht ausbildet. Dieses Element tritt, durch italienischen Einfluß bedingt, in Händel auf, aber durch und durch gesättigt mit Ernst des Gefühls, mit Größe des Gedankens und Charakters, mit umfassender, auch das Zarte und Liebliche in anmuthigen, jedoch immer kraftdurchwehten Formen darstellender, die Polyphonie zwar beschränkender, aber die einfachere Harmonie nur um so erhabener verwendender Universalität des Ausdrucks. Während S. Bach seiner Eigenthümlichkeit gemäß die formen- strenge Kirchenmusik und die formenreiche Instrumentalmusik zu seinen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das Oratorium in mustergültiger Vollendung aus. Die Musik ist wie eine moderne so insbesondere eine wesentlich ger- manische Kunst, da sie erst mit dem germanischen Element der Harmonie selbständige Kunst und Kunst vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird. Es ist daher natürlich, daß auch in Deutschland die flandrische Polyphonie Vertreter erhält, die sie, wie Palestrina’s Zeitgenosse Handl, nach der Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber ist die deutsche Entwick- lung von der italienischen schon darin, daß die Behandlung der polyphonen Musik schon im sechszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmisch be- wegten Charakter zeigt; die Kunstmusik, sofern unter ihr vorzugsweise Polyphonie verstanden wird, ist zwar ein deutsches Geistesproduct, aber ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmusik, wie sie in Italien sich vollzieht, kann in Deutschland sich nicht auf die Dauer be- haupten, die deutsche Musik sprengt immer wieder die Fesseln der abstracten Form, sie ist naturalistisch lebendig, volksthümlich frisch und kräftig; nicht Sprechgesang, sondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich musikalische Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen läßt, sondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em- pfindung, einer sich selbst nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen stets mehrenden und steigernden poetischerregten Phantasie ist auch in der Musik das spezifisch Deutsche, zu dem der Naturalismus italienischer Componisten, wie er sich in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar- stellt, sich doch immer nur verhält, wie der Gestalten- und Farbenreichthum venetianischer Malerei zu der realistischen Fülle und Mannigfaltigkeit der deutschniederländischen, und ebendarum ist in Deutschland auch die Ent- wicklung der Instrumentalmusik, sobald sie begonnen hat, gleich von weit größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber ist das volksthümliche religiöse Lied, der Choral , eine ächt deutsche Kunstform, wiewohl er zu- erst bei den Hussiten mit charakteristischer Bedeutung auftritt; in ihm, der ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu schöpfen nicht verschmäht, ist das Ernste und Tiefe des Religiösen vereinigt mit der subjectiven Innigkeit und Gefühlslebendigkeit, die sich nicht in idealer Feierlichkeit selbst wieder die Schranke hoher Gemessenheit anlegt, sondern in freiem und vollem Herzenserguß sich äußern will; der Choral erst ist vollkommen Gemeinde- gesang, Gesang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwischen die reale und den Gegenstand ihrer Anbetung hineintritt und diese Anbetung an ihrer Stelle in objectiv typischer, kunstvoll geregelter Weise vollzieht, sondern Gesang der realen Gemeinde selbst, Gesang der Individuen, der Herzen, nicht eines beauftragten, stellvertretenden Chors, welcher der Gemeinde das, was sie fühlt und fühlen soll, darzustellen hat und darum nicht selbst eine Gesammtheit rein unmittelbar von dem gesungenen Inhalte zur Aeußerung getriebener Persönlichkeiten ist. Von selbst ergibt es sich bei dieser Eigen- thümlichkeit der deutschen Musik gegenüber der italienischen, daß sie zu einer ihr Wesen vollkommen ausdrückenden classischen Form, die hier viel schwerer zu gewinnen war, nicht so bald gelangte; der Choral ist wohl bereits classisch, aber er repräsentirt nur die Eine Seite, den subjectivern Charakter, den hier das Empfindungsleben und der Empfindungsausdruck annimmt; die andere dagegen, die individuelle Lebendigkeit der empfindenden Phantasie, die in solchen einfachern Formen sich nicht genug thun kann, diese konnte erst allmälig eine ihr ganz entsprechende Aeußerungsweise finden, sie erhielt ihren adäquaten Ausdruck erst in einer Polyphonie, die weit figurirter und rhythmisch belebter war als die italienische, in einer Polyphonie, die nament- lich nicht mehr die gleichförmigere Bewegung des Canons, sondern die Fuge, die Nachahmung, die Stimmenfigurirung zur Hauptsache machte. Daher ist erst S. Bach derjenige Musiker, der den eigenthümlich deutschen Styl des indirecten Idealismus vollendet darstellt in der Weise, die der §. aus- spricht, freilich aber auch in der dort gleichfalls hervorgehobenen Einseitigkeit dieser ganzen Stylrichtung, die sich namentlich in der bei Bach noch nicht zu künstlerischer Rundung erhobenen, zu sehr figurirten, sich zu viel winden- den und schlängelnden, nicht klar zu einfach großem Ausdruck heraustretenden Solo melodie bemerklich macht. Der Raum gestattet nicht auf das Große wie auf das noch Einseitige dieses Heros näher einzugehen, in welchem das Systematischtechnische der Composition seine höchste Vollendung und die erhabenste und reichste Durchdringung einerseits mit tiefster Andacht, innigster Herzensergriffenheit, süßester Lieblichkeit, andrerseits (besonders in Instru- mentalwerken) mit unerschöpflicher Gefühlsbelebtheit und Phantasiefülle, mit gesundester Freudigkeit, mit charakteristischer Formenmannigfaltigkeit, selbst mit dramatischer Anschaulichkeit (in den Passionsmusiken) erhalten hat, aber doch zur Classicität plastischer Kunst und einfach concentrirter musikalischer Wirkung nicht gekommen ist, weil die Vertiefung in das Spezielle der For- men und in den subjectiven Gefühlsgehalt ihn nicht dazu gelangen läßt. Auch auf Händel kann nur kurz als auf Denjenigen hingewiesen werden, der die deutsche Musik zu dem Grade von Classicität und Wirkung, dessen sie damals fähig war, hingeführt hat; das Große an ihm hebt der §. bereits hervor; beizufügen ist nur, daß auch Händel die Solomelodie noch nicht überall in vollen Fluß und Schwung gebracht hat, obwohl sie bereits viel weiter als bei Bach entwickelt ist und ihr bei Händel mehr die Leichtigkeit als die Einfachheit fehlt (von Arien rein italienischer Manier hier abge- sehen); das zarte Gewebe der Einzelmelodie ist zu fein und schwebend für diesen massiven Styl, der hauptsächlich den Chor großartig ausbildet, so schön sie auch oft durch kräftige Charakteristik und tiefen Ausdruck in ein- zelnen Gesängen und Stellen sich darstellt. §. 828. In Frankreich entwickelt sich seit der Mitte des siebenzehnten Jahrhun- derts an der Oper das dramatische, sowie überhaupt das drastische, in Melodie und besonders im Rhythmus scharf zeichnende Element der Musik; doch muß auch hier dem Eindringen italienischer Gesangseinseitigkeit, das nicht abzu- wehren ist, weil die zu nüchterne, zu antike französische Art ein melodisches Gegengewicht fordert, durch den deutschen Gluck eine Schranke entgegengesetzt werden. Wie Händel den indirecten Idealismus überfüllt werdender Polyphonie zum directen Idealismus einfacherer Harmonie und energischen Gefühlsausdrucks zurückführt, so macht Gluck den dramatischen Ausdruck zum Prinzip, schneidet die Auswüchse des Formelwesens in der Gesangmusik ab, verwendet die Instru- mentalmusik zu vollerer und schärferer Charakteristik, wahrt trotz der Verein- fachung des Gesangs das dramatische Pathos, breitet über die Oper durch seine Chöre ein ächtdeutsches Element tiefer Gemüthsbewegtheit aus und schafft so zum ersten Mal eine Oper von bleibender classischer Vollendung, der jedoch die freiere Bewegtheit sowohl der Charaktere als der Einzelmelodie, die Wärme und der Schmelz des Ausdrucks, der volle, unumwundene Erguß musikalischen Gefühls und Phantasiereichthums noch fehlt. Die spätere französische Oper ermäßigt diese Nüchternheit, sie greift zu belebtern, der Melodieentwicklung günstigern Stoffen, bildet dabei das Drastische und das Pathetische immer voll- kommener aus, aber sie entbehrt fortwährend den tiefen und vollen Farbenton deutscher Musik, sie behält dieser gegenüber etwas Kühles und Aeußerliches; Frankreich gestaltet, stylisirt die Oper, welche erst Deutschland mit musika- lischem Gehalt wahrhaft zu erfüllen bestimmt ist; auch bleibt es außerhalb des Drama’s in der höhern Musik unfruchtbar. Im Wesen des französischen Geistes liegt es, daß er dem rhythmi- schen Element der Musik und Allem, was hiemit zusammenhängt, dem Drastischen u. s. w. vorzugsweise sich zuwendet; auch die Volksmelodie entwickelt sich zwar reich, denn die Fassung des Lieds in kurzen musikali- schen Ausdruck sagt der Neigung zum scharf Charakteristischen zu, aber sie entwickelt sich ebendeßwegen auch nur in dieser letztern Richtung. Die Oper erhält (wie die Malerei §. 733) in Frankreich seit Lulli Styl, dramatische Architectonik, bewegte Finale’s, Märsche, Tänze, scharfe musikalischrhythmische Zeichnung der Handlung, der Situationen, der Affecte, freilich aber auch zu viel Dramatisches, Ueberladung mit Stoff (große Oper, fünf Acte) und mit Effect. Das Speziellere gestattet keine nähere Ausführung; daß Gluck dem Inhalt das Uebergewicht gibt über den Formalismus, daß ihm aber das eigentlich Schöpferische, der Fluß fehlt trotz seiner heroischen Classicität und trotz seiner nicht blos dramatisch erregten, sondern auch gefühlstiefen Chöre, daß ebenso die spätere französische, ernste wie komische Oper bis zu Boieldieu u. A. herab in der im §. angegebenen Weise große stylistische Vor- züge mit Mangel an Wärme vereinigt, ist anerkannt. §. 829. Auf die Periode Gluck’s folgt in Deutschland die Epoche der Entwick- lung des freien und des schönen Styls durch Haydn und Mozart , mit welcher die Musik überhaupt zur classischen Vollendung, zur vollständigen Ent- faltung ihrer Hauptformen endlich gelangt. 1. Der durch Bach und Händel vollendeten polyphonen und harmo- nischen Composition tritt der freie Styl in reicher melodischer Entfaltung gegenüber und setzt das streng formale Element zu einem untergeordneten Moment des Ausdrucks herab. Der indirecte Idealismus des deutschen Geistes erscheint jetzt in ungebundener Gestalt, er sprengt die Fesseln, die einst sein Tiefsinn sich selbst geschaffen, und tritt in jugendlicher Frische, durch einfache Formen der musikalischen Gliederung Freiheit und Klarheit zumal gewinnend, zu der ganzen ächt malerischen Mannigfaltigkeit der Production heraus, deren er fähig ist; das goldene Zeitalter, der Frühling der Ton- kunst beginnt, die Instrumentalmusik Haydn’s eröffnet ihrem Flusse freie Bahn, auch die Vocalmusik lernt durch ihn die Sprache der einfachen Ge- fühle des Herzens, die Musik kommt in ihm endlich zum klaren Bewußtsein, daß sie nicht System, Wissenschaft, sondern freie Bewegung, Lyrik ist, sie wird wieder Gefühl und bleibt es, da in Deutschland der neuitalienische Gesangsformalismus keinen nationalen Boden findet. Aber die deutsche Musik ist doch bereits zu tief und zu vielseitig entwickelt und in zu starke Wechselbeziehung mit Italien und Frankreich getreten, als daß diese Epoche der frei werdenden Empfindung und Phantasie nicht noch eine zweite höhere Blüthe deutscher Kunst treiben sollte; in Mozart faßt sich der Genius der zum freien Selbstbewußtsein gelangten Musik zur Erscheinung in voller Schönheit zusammen; deutscher Ernst, der die Form zu achten und die Formen in ihrer eigenthümlichen Bedeutung für den musikalischen Ausdruck anzuerkennen weiß, deutsche Wärme des Fühlens, welche in die Form ganz und voll sich hineinlegt, nichts Kühles und Frostiges duldet, Melodie und Harmonie innerlichst beseelt und sie in vollem, reichem Fluß und Schmelz Vischer’s Aesthetik. 4. Band. 74 ausströmen läßt, schöpferische Phantasie, welche alle Arten des Stimmungs- ausdrucks in vielseitigster Objectivität reproducirt, in jugendlicher Kraft und Fülle Alles frisch anfaßt und das Tonmaterial in lebendig pulsirende und schwingende Bewegung versetzt im reinsten Gegensatz zu der besonders in die Oper eingedrungenen formalistischen Steifigkeit, italienisch plastischer Sinn, welcher die Kraft mäßigt und sie dadurch am rechten Orte um so erhabener herantreten läßt, welcher die sprudelnde Raschheit genialer Bewegt- heit in schönstem Maaß und Gleichgewichte hält und allmälig den Meister von dem Styl der ersten Periode, in welchem diese Bewegtheit culminirt, zum maaßvoll, charakteristisch schönen Styl der zweiten, von diesem zum ideal- schönen Styl der dritten Periode verklärend hinanführt, italienische Anmuth und Weichheit, französische Schärfe, Dramatik, Kunst zu treffen vereinigen sich, um nun auch die freie deutsche Musik zu einer ihrer Eigenthümlichkeit und Universalität vollkommen entsprechenden classischen Form zu erheben; die freie Schönheit ist für die Musik überhaupt gewonnen, die beiden Styl- principien zu lebendigster und wirkungsvollster Einheit verschmolzen, unter den einzelnen Zweigen besonders die Oper zu mustergültiger Gestalt und zugleich zu einer schönen Mannigfaltigkeit verschiedener Gattungen aus- gebildet. 2. Der §. hebt die Wendung scharf hervor, welche die Musik wie der deutsche Geist überhaupt im vorigen Jahrhundert, in der Epoche der frei werdenden, ebendamit auch zur Genialität sich erhebenden Subjectivität nimmt; namentlich Mozart ist nur zu begreifen aus dieser Erhebung des Geistes zur Freiheit und zur vollen Bewegung in ihr, auf deren Höhe er im Figaro angelangt ist, wie andrerseits später wieder eine komische Oper ( Cosi fan tutte ) mit ihrer schon an die Zauberflöte mahnenden harmonisch- melodischen Weichheit und zartern Gefühlsbewegtheit den Uebergang zu dieser und damit den Uebergang von der mittlern Periode (Don Juan) zur dritten, zum idealschönen Styl bezeichnet. In der Instrumentalmusik ist Mozart am größten in der Symphonie, die von der Haydn’schen gerade so weit absteht, wie das Dramatische vom Gemüthlichen; sie ist zwar nicht dramatisch im Sinn von §. 816, 1. sie gehört zur höhern lyrischen Gattung (ebd.), aber ihre Lyrik hat eine wesentlich dramatisch bewegte und dramatisch contrastirende Tendenz; bei Haydn ist die Musik, die Form, bei Mozart auch der Genius, die Subjectivität frei geworden und legt die ganze Erregt- heit und Kraft ihres Selbstgefühls, ihres reich und stark bewegten Lebens und Empfindens in ihre Instrumentalwerke nieder. Das Quartett glückt weniger; es wird Haydn gegenüber auch mehr erwärmt und innerlich belebt, aber diese Erwärmung gelingt nur ausnahmsweise in einer dem Charakter dieses Zweiges wirklich entsprechenden Form; auch in der Claviermusik geht Mozart über die in ihrer Einfachheit Treffendes leistende Art Haydn’s hinaus und sucht eine vollere Entfaltung, ohne sie schon recht zu finden; sein Genius entwickelt sich vollkommen doch nur an schon vorliegenden festen Formen, wie die Oper und die dem Componisten klarer als Quartett und Clavier eine bestimmte Aufgabe vorzeichnende Orchestermusik. Haydn hat daher vor Mozart vielfach eine einfache und doch farbenreichere, charak- teristischere Instrumentalcomposition voraus, er ist ächt malerisch, Mozart dramatisch plastisch, ohne diesen Typus schon überall befriedigend durchführen zu können, wozu ihm auch die Zeit nicht gegeben war. So viel, um beiden Männern gerecht zu sein; weiteres ließe sich nur unter Berücksichtigung der einzelnen Hauptwerke und Hauptperioden der beiden Meister näher erörtern; auch Männer, welche vor und neben Haydn die Epoche des freien Styls eröffnen und neben ihm und Mozart wirken, E. Bach, später der Komiker Dittersdorf u. s. w., können nicht speziell besprochen werden. §. 830. Die Epoche des freien Styls ist mit Haydn und Mozart nicht abgeschlossen, sondern erst angefangen, es bleibt ihm neben jenen noch ein weites Gebiet übrig in der Gefühls- wie in der dramatischen Musik, dieses Gebiet wird jetzt ergriffen von den verschiedensten Seiten her, und zwar einerseits unter dem vorbildlichen Einfluß Mozart’scher Fülle und Idealität, andrerseits mit der in der Natur des Entwicklungsganges selbst liegenden Tendenz auf concretere Stoffe, mannigfaltigere und individuellere Stylgestaltung, charakteristischere Tonmalerei, vielseitigern und stärkern Ausdruck und Effect, als der schöne Styl gestattete; kurz der indirecte Idealismus tritt aus demjenigen Bunde mit dem directen wieder heraus, den er in Mozart geschlossen, er wird wieder das überwiegende Element. Ein zweiter Genius des freien Geistes tritt zunächst in Beethoven auf, der die Form nun ganz dem Inhalte und zwar einem subjectiven Inhalte dienstbar macht; die Musik wird Darstellung der Subjectivität, des in sich vertieften, auf sich und seine Beziehung zur objectiven Welt reflectirenden, die Anziehung wie die Abstoßung des Subjects durch die Objectivität gleich stark bis in’s Innerste hinein und nach allen Seiten hin fühlenden, in Allem seiner selbst kräftig bewußten und mit gleicher Kraft und phantasievollster Reflexion über die Tonmittel gebietenden, sie zur Herausstellung des mächtigen Gefühlsinhalts, von dem es erfüllt ist, ächt deutsch in stets neuer, sich selbst nie genügender Weise verwendenden Ichs. Gleich starkes und nach allen Seiten, um die es sich in diesem Gebiete handeln kann, sich erstreckendes innerlichstes Fühlen sowohl der Anziehung als der Abstoßung zwischen Subject und Object ist das Charakteristische des Beethoven’ schen Genius. Es ist das volle Herz in ihm, das der Wirk- 74* lichkeit freudig, kräftig, mit feuriger Liebe, mit Begeisterung für alles Große und Schöne in ihr entgegenschlägt und bald diese Stimmungen, bald auch die Wirklichkeit selbst, welche sie hervorgerufen, in Tönen ausspricht, schildert, malt und feiert (z. B. Pastoral-, A dur-, heroische Symphonie); dasselbe Herz hat aber auch die Collision zwischen Subject und Object schmerzlich empfunden und spricht daher auch die Entzweiung des Ichs mit Welt und Schicksal, jedoch immer mit subjectiver Entschiedenheit und Kraft, aus, ob- wohl es schließlich zur Versöhnung, zum Triumph über die Wehmuth, zum reichsten Humor, zur herzensfreudigen Feier des Bruderbundes mit der Menschheit, zur dankbaren, alle Mittel aufbietenden, solennsten Verherrlichung der höhern, die große Weltharmonie aufrecht erhaltenden, durch sie auch den Einzelnen beglückenden Ordnung der Dinge sich immer wieder empor- hebt. Dieser an sich großartig mächtige und vielseitige, ebenso subjectiv in tiefstem Ernst und lebendigster Ergriffenheit empfundene Gefühlsinhalt setzt die musikalische Phantasie in eine gleich großartige und schwungvolle Be- wegung, vollere und tiefere Harmonieen treten hervor, Tonkräfte und Klang- farben ungekannter Art werden lebendig, die Formen wachsen in die Weite und Breite, Orchester und Clavier werden zu Organen für den vollen Wiederhall des erregten, in seine Stimmungen sich immer tiefer hinein- arbeitenden, überall unendlich groß fühlenden Gemüthes erhoben, die ganze Fülle von Tonbewegungen und Toncombinationen, deren die Musik fähig ist, scheint offenbar werden zu wollen. Auch des Klaren, Plastischen, ein- fach Charakteristischen, Anmuthigen ist der an Haydn und Mozart heran- gebildete Genius Herr und weiß es anzuwenden, es bewahrt ihn davor, die Grenzen der musikalischen Darstellung und die Gesetze der Deutlichkeit sowie der Anschaulichkeit des Fortgangs öfter zu überschreiten, die Classicität geht nicht verloren. Aber als beherrschendes Gesetz wird sie allerdings nicht festgehalten, der Inhalt ist für die Formen oft zu reich oder zu tief oder zu verwickelt, die Formen werden nicht blos gestreckt, sondern auch gesprengt (wie in der letzten Symphonie), die Musik ist an der äußersten Grenze angekommen, der subjectiven Genialität Eingang in sie verstattet, obwohl diese hier eine durchaus gehaltvolle und daher insbesondere zur Darstellung ethischer Empfindungen in ihrer ganzen heiligen Tiefe und Innigkeit beru- fene, den Menschen und den Künstler in sonst nie gesehener Gleichheit der Achtungs- und Sympathiewürdigkeit darstellende Subjectivität bleibt. §. 831. Die übrige nachmozartische Entwicklung tritt nicht in so ausgesprochener Weise auf die Seite des indirecten Idealismus, wie die beethoven’sche Musik. Die italienische Oper, nachdem sie in Cimarosa Mozart einen in der Komik nahezu ebenbürtigen Zeitgenossen zur Seite gestellt, erhebt sich in Cherubini und Spontini , an Gluck anknüpfend, zu tieferem Ausdruck, zu heroischer Kraft, zu energischer und glänzender Totalwirkung; Rossini bereichert das italienisch melodische Element mit den Tonmitteln der deutschen Musik, zieht aber die Oper zur Einseitigkeit des Melodiereizes, der Gesangsanmuth und Gesangsvirtuosität, des äußern Effects wieder herab. Eine höhere Richtung nimmt die Musik bei den deutschen Romantikern ; am kräftigsten und geistreichsten gestaltet sich diese Romantik bei Schubert , weicher, aber aus- drucksvoll, gefühl-, formen- und farbenreich, poetisch, obwohl auch zu viel schimmernd und glänzend, bei Weber . Eine überaus regsame Production in allen Zweigen des freien Styls bereichert auch neben jenen Hauptrichtungen die Musik mit Werken, die mehr oder weniger Einen Zug mit diesen und unter einander gemein haben, die Modernität , d. h. die mit Stoff und Form absolut frei waltende Subjectivität; eine Ausnahme hievon tritt da ein, wo das ältere lyrisch melodische Element theils, wie bei Spohr , zum Subjectiv- elegischen sich fortbildet, theils die Liedcomposition aus sich hervortreibt, indem in dieser freien Gattung das neunzehente Jahrhundert eine hohe Stufe der Vollendung erreicht. Die Gefahr der modernen Musik ist dieß, daß sie eine absolut freie ist; sie ist durch keine Typen mehr gebunden; die Naivität Haydn’scher Ge- müthlichkeit, die Mozart’sche Objectivität künstlerischen Schaffens, die in natürlichem Drange und mit der wonnigen Freude steten Gelingens die gegebenen Formen mit einem Inhalte füllt, welcher erwärmen, Wirkung thun, zeigen soll, was die Musik vermag, die Objectivität, in der selbst Beethoven ist, weil in ihm der Mensch den Musiker zur Aeußerung treibt, dieß Alles ist mit dem freien Standpunct des modernen Bewußtseins über- wunden, die Musik ist mehr Phantasie- als Empfindungsthätigkeit, daher in ihr das Ursprüngliche und Urkräftige des unmittelbaren Hervorquellens aus Gefühl, Gemüth und Charakter zurückweicht, am wenigsten bei Schubert , dessen Romantik z. B. in der Symphonie durch poetische Gedanken- und Farbenfülle anspricht und ihrer blumenreichen Mannigfaltigkeit ungeachtet das entschiedene Gepräge eines kräftig in die Tonwelt hineingreifenden, ächt musikalischen Charakters an sich trägt; überhaupt ist gerade die Romantik diejenige Form der Modernität, die trotz ihrer über dem Inhalte stehenden Subjectivität doch eine Ausfüllung des Lebens mit Poesie und poetischem Klange wirklich sucht und so aus der Unmittelbarkeit nicht ganz heraus ist, — daher die hohe Bedeutung, welche außer Werken von Marschner, Schumann namentlich die Weber’ sche Oper durch ihre Poesie des Tones und ihre Verwendung der musikalischen Mittel zu weich und hell wieder- klingendem Gefühlsausdruck stets behaupten wird trotz der im §. hervorge- hobenen, auch der romantischen Poesie nur mit wenigen großen Ausnahmen anhängenden Mängel. Die Modernität ist an sich nicht zu verwerfen, sie ist eine Form der Musik, welche deren Entwicklungsgang mit sich bringt, sie findet sich auch bei Beethoven in Werken, in welchen der Gefühlsinhalt sich weniger hervordrängt, sie hat ihre Berechtigung in der stoffbeherrschenden, selbstbewußt auftretenden Freiheit des musikalischen Gedankens, Ausdrucks, und Effects; aber daß hier die Gefahr des Effectmachens, des Brillanten, des Inhaltslosen u. s. w. nahe liegt, und daß diese Modernität nur ein Durchgangspunct ist, daß sie eine Sättigung mit concreterem Gefühlsinhalt fordert, ist klar, da die Musik Kunst der empfindenden Phantasie ist. Eben- darum kann sie auch nicht das ganze Gebiet der Musik beherrschen; es bleibt neben dem absolut Modernen die Sphäre einfach melodischer Lyrik namentlich durch die schön erblühende Liedcomposition vertreten, in welcher nicht blos durch Opern-, sondern durch eine zahlreiche Reihe von Gesangs- componisten auch in dieser Epoche noch eine reiche Fülle ächter und ächt- deutscher Musik zu Tage gefördert wird; die Blüthe der classischen deutschen Poesie wirkt auch auf die Musik anregend und ruft die schönen Ton- dichtungen eines Reichardt, Zelter, Schubert u. s. w. hervor, das Volkslied wird besonders durch Silcher wieder erweckt und die Gattung des volksthümlichen Kunstliedes von ihm mit schönen Productionen leicht- anmuthiger wie ernsterer und tieferer Art bereichert, und auch der seit Nägeli aufblühende Männergesang zeigt, daß die moderne Kunstmusik, obwohl sie auch in diesen eindringt, für sich allein dem Bewußtsein der Zeit nicht genügt. §. 832. Während die Musik bei Meyerbeer in der Oper den Gipfel der Mo- dernität erreicht, erlebt sie in Mendelssohn eine Nachblüthe, in welcher sie sich der einseitigen Modernität zu begeben, sich mit reinem Gefühlsausdruck und tiefem Gehalt wieder zu erfüllen, durch strengere Formen festere Haltung und objectivere Gedankenentwicklung neu zu gewinnen strebt. Ein Gefühl, daß die Musik der Gegenwart in die gefährliche Bahn eines mit den Tonmitteln willkürlich waltenden hohlen Subjectivismus gerathen sei, macht sich deßunge- achtet in immer bestimmterer Weise geltend und drängt Wagner zu dem Versuche, eine dramatische Musik zu begründen, welche sich der Poesie als bloßes Mittel zum Ausdruck ihres Inhaltes unterordnen, somit auf selbständige Ent- wicklung der musikalischen Kunstformen verzichten soll. Daß die Musik eine derartige Rückkehr zum antiken Standpunct vollziehen und damit den Kreislauf ihrer Entwicklung beendigen werde, ist nicht anzunehmen, ein Fortschritt der Oper aber allerdings nur von neuen, der empfindenden Phantasie sich darbie- tenden objectiven gehaltvollen Stoffen zu erwarten. So reich und erhebend der Entwicklungsgang der Musik bis zur ersten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts ist, so unbefriedigend, ja beun- ruhigend ist der Blick auf ihre letzte, jetzige Periode, die Kunst der Sub- jectivität scheint eben durch diesen ihren subjectiven Charakter ihrer Selbst- auflösung entgegengetrieben zu werden. Meyerbeer bezeichnet zwar in der Oper einen Fortschritt, indem er durch umfassenden und energischen Gebrauch der dramatischen Mittel an die Stelle romantischer Weichheit und italienischer Anmuth einen kräftigern Ausdruck, eine schärfere Charakteristik des Einzelnen setzt, aber die plastische Klarheit und Schönheit der Musik kann neben der theatralischen Breite und Ueberfülle der großen Oper nicht bestehen, und an den Stoffen zeigt es sich, daß die musikalische Dichtung des Charakters, die Musik des tiefern Gehalts verlustig gegangen, daß sie eine subjective Technik geworden ist, welche nicht mehr durch empfindende Phantasie zu einem für die Musik spezifisch geeigneten Inhalte hingetrieben, sondern durch einseitige Rücksicht auf die dramatische Wirkung zur Wahl ihrer Süjet’s bestimmt wird. Daß es so nicht fortgehen kann, oder auch, daß so in’s Unendliche fortgemacht werden könnte, ohne daß damit für die Musik etwas Höheres wiedergewonnen wäre, dieses Gefühl haben vor Allem die Meyerbecr’schen Opern hervorgerufen, da sie trotz der eminenten Be- fähigung des Componisten zum Musikdrama der musikalischen Empfindung theils zu viel, theils zu wenig bieten, zu viel durch die Stoffmasse und den äußern Glanz und Effect piquanter Situationen, zu wenig durch den Mangel des poetischen Hauchs der Idealität und der Gefühlswärme, der das Kunstwerk durchwehen soll, sowie durch das Gemachte, Geschraubte, das aus der Textdichtung so vielfach heraustritt. Anders hat für die Musik Mendelssohn gewirkt; bei ihm ist vor Allem edler Geschmack, in ihm tritt die Phantasie auf als gebildet empfindende Phantasie , es ist wieder Form und Gehalt, es ist das Streben des wahrhaft gebildeten Geistes da nach Beidem, die Musik bekommt ideale Klarheit, Gedanken, Gefühl, gediegene Composition, die freie Subjectivität versenkt sich in die objectiven Formen, damit die Musik wieder Kunst werde, die scharfe Spitze der Modernität biegt sich um und erweicht sich, die Tonkunst wird wieder Selbstzweck, der Geist lebt und webt in ihr, taucht in ihre Fülle unter, um Schätze zu heben, welche ältere verwandte Meister noch zurückgelassen; eine neue Blüthe reiner, warmer und dabei fein poetischer Musik scheint mitten in einem durch Reflexion zerklüfteten, großartiger Production unfähigen Zeitalter zu entstehen, und auch an kräftiger Charakteristik, an gesundfroher Frische fehlt es den hervorstechenden unter den Compositionen des Meisters nicht. Allein die Erscheinung bleibt vereinzelt, und auch die andere Seite der gebildet empfindenden Phantasie macht sich bemerklich, der Mangel an durchgreifender Kraft, an einfacher Männlichkeit und ebendamit auch an der vollen Lebenswärme, an Natur, die sich gibt, es ist zu viel Kunstmusik, es sind schöne Bilder, welche die Persönlichkeit ihres Urhebers wohl überall abspiegeln, in welchen aber doch nicht ein ausgeprägter Charakter mit der Wucht oder mit der Lebendigkeit unmittelbarer Empfindung activ, durch- schlagend auftritt, es ist mehr gebildete Reproduction als geniale Production; das Modernitätsprinzip bleibt eben damit, daß der Componist diese zurück- haltende Stellung des gebildeten Künstlers einnimmt, doch wieder stehen, und die Vorliebe für das Weiche und Romantische, das allerdings mit schöner neuer Erfindung behandelt wird, zeigt, daß ein substantiellerer Ge- halt auch hier jenem Modernitätsprinzip nicht gegenübergetreten ist. Wirklich befreit wird also auch hier die Musik nicht von dem Extrem der Subjectivität, auf das sie durch die ganze Entwicklung hinausgedrängt ist, und die Frage, was werden soll, wird nur immer schwieriger, da die verständige Reflexion mehr und mehr allgemeiner Zeitcharakter wird und auf die Naivität des musikalischen, namentlich melodischen Schaffens immer zersetzender einwirkt. Hieraus geht endlich in einfacher Consequenz die schon in Früherem mehr- fach besprochene Richtung Wagner ’s hervor. Die Musik soll Mittel des Ausdrucks werden, statt sich selbständig hinstellen zu wollen und durch diese Selbständigkeit Halt und Gehalt zu verlieren; in diesem Postulat ist das Wahre enthalten, daß die Musik wieder objectiven Inhalt bekommen soll, und es ist mit ihm doch zugleich die Reflexion an die Stelle der nun einmal selbst bei Mendelssohn nicht mehr schöpferisch wirkenden Phantasie gesetzt; die Modernität bekennt, daß sie inhaltslos war und Inhalt suchen muß, und sie schwingt sich zugleich nun erst zur ganzen Absolutheit empor, sie beseitigt die Formen, durch welche die Musik selbständige Kunst wird, sie nimmt der Musik ihre durch diese Formen bedingte Ausbreitung zu eigener Gestaltung und damit ihr Phantasieelement, der künstlerische Verstand wird von seiner Gebundenheit an die Phantasie frei gemacht, der musikalische Satz in eine Erfindung gefühlvoll vorgetragener Rede, in eine Melodisirung und Rhythmisirung des Sprechens umgewandelt, bei welcher der Componist volle Freiheit hat; denn diese Art von Composition, weil sie nicht mehr auf die Ausgestaltung einer bestimmten Form, z. B. einer ein Ganzes von Worten und Sätzen umspannenden Melodie ausgeht, hat so sehr nur mit dem Einzelnsten, bei welchem alle Möglichkeit einer objectiven Bestimmung für die rechte und beste Art des Ausdrucks ausgeht, so sehr nur mit einer Masse vereinzelter, zu keinem Ganzen zusammenrückender melodiöser Wendungen, Hebungen, Accente u. s. f. zu thun, daß nun über die Composition nicht mehr die Musik, sondern der Musiker entscheidet und auch wenn die Ent- scheidung erfolgt ist, das Ganze ein rein subjectives Werk bleibt, da mit dem Wegfallen der bestimmten musikalischen Formen Alles zufällig geworden ist. Es ist zu wünschen, daß aus dieser Richtung, welche es mit der Musik doch ernst nimmt und durch die Verlegung einer ausdrucksreichern Färbung in die begleitende Instrumentalmusik Dasjenige, was sie der Melodie nimmt, auf anderer Seite selbst wieder ersetzen zu müssen zugibt, ein musikbegleitetes lyrisches Drama, eine Mittelgattung zwischen Oper und Schauspiel (§. 802), die aber doch mehr Melodieentfaltung haben müßte, dem Oratorium ver- wandt, sich entwickle; für die Oper aber, wie für die nicht blos begleitende Musik überhaupt, ist zu hoffen, daß ihr mit neuen Stoffen, welche neue Entwicklungen bringen werden, auch wieder eine Aera der Productivität bevorstehe, in welcher ein großartiger Inhalt, wie ihn bisher vorzugsweise die französische Oper in ihrer Weise hatte, auch auf deutschem Boden in wahrhaft musikalischer, die beiden Stylprinzipien mit Kraft, Fülle und Klarheit unter sich neu verschmelzender Gestaltung erscheinen wird. Anhang . Die Tanzkunst. §. 833. 1. Mit der Gymnastik als einer lebendigen Sculptur (vergl. §. 647, 2. ) verbindet sich die Musik, indem sie den Rhythmus des Tons und das in ihm sich entfaltende Gefühl in der Bewegung der menschlichen Gestalt verkörpert; die also in das Sichtbare übergetragene Musik oder musikalisch belebte, rhyth- mische Plastik ist die Tanzkunst oder Orchestik . Sie steht der selbständigen Schönheit näher, als die Gymnastik, denn sie ist mehr zur reinen Darstellung, mehr zur Entwicklung der Schönheit bestimmt und ungleich reicher im Ausdruck. Dieser erweitert sich wesentlich, indem aus der orchestischen Gesammtbewegung nicht blos der künstlichere und ausdrucksvollere Tanz Einzelner, sondern bestimmter die musikalisch geregelte Mimik, die Pantomime , heraustritt, und eine Hand- 2. lung darstellt. In der Geschichte der Orchestik macht sich der Gegensatz der Style durch eine mehr darstellende, objective und eine mehr auf geselligen Genuß und engeren, subjectiven Ausdruck beschränkte Form des Tanzes geltend. 1. Die Tanzkunst drückt das ästhetische Bewegungsleben des Tons zu- nächst in der horizontalen Richtung des Raumes aus, die Musik wird zu einer projicirten Figuration der Linie. Hierin hängt sie mit den gymnasti- schen Massenbewegungen, den Evolutionen zusammen, die bereits musikalische Begleitung fordern und so in die Orchestik herübergehen (vergl. Anm. 2. zu §. 647). Die neuere Gymnastik verbindet gern mit ihren Uebungen Attitüden des Einzelnen, die zwar auf Ausbildung der Kraft und Gewandtheit berech- net sind, aber doch zugleich ein ästhetisches dramatisches Bild ergeben; dieß weist bestimmter auf die Tanzkunst hinüber; einen wirklichen Ueber- gang in diese nahm die griechische Gymnastik durch eine Verbindung mit rhythmisch gemessenem Scheinkampfe, durch den Schwerttanz, der bei so vielen Völkern vorkommt und wohl eine der ursprünglichsten Formen des Tanzes ist. Der andere Hauptpunct des Uebergangs ist das Spiel (Ball- spiel u. dgl.), das gemessene Ordnungen mit Begleitung von Gesang und Musik ganz naturgemäß annimmt. — Die Figuration der horizontalen Linie ist nur die eine, abstracte Seite des Tanzes, die positive, concrete die Be- wegung, wie sie sich während der Ortsveränderung und eben in deren verschiedener Qualität über die ganze Gestalt nach allen Richtungen ver- breitet. Die physiologische Wirkung, vermöge welcher die Musik in die Nerven, die Glieder und so in unwillkührliche Bewegung übergeht, wird zum Gegenstande der Kunstthätigkeit und die Bewegung so zu einer gemessenen und geordneten Ausstrahlung des idealen Gefühlspuncts der Seelen- Erregung in das Sichtbare, in den Raum. Hier ist nun eine doppelte Seite zu unterscheiden: die Schönheit der Bewegungen ohne bestimmtere Beziehung auf einen Inhalt, der zum Ausdruck kommen soll; wie ja in der Musik selbst, auch abgesehen davon, daß das Innerliche, was sie aus- drückt, in gewissem Sinn immer unbestimmt bleibt, ein formellerer Genuß des Schwebens und Wiegens in den Wellen der Töne von der gleichzei- tigen tieferen Bewegung der Seele zu unterscheiden ist. Neben dem Spiele der Füße, des Rumpfes ist das der Arme und Hände (die im modernen Ballet-Tanz so elend unthätig sind), das Neigen und Beugen des Kopfes wesentlich: „sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen, sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen, sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß“. Die plastische Schönheit der menschlichen Gestalt wird zu lebendiger Musik, die Musik wird plastische Schönheit. Die Anmuth, die Welle des Runden und Weichen als Ausdruck der fließenden, rinnenden Natur des Tons ist so sehr Grundbestimmung, daß sie auch die Gegensätze des Schönen, wie sie in jeder leidenschaftlich starken, in der männlichen Bewegung gegenüber der weiblichen, und im Grotesk-Tanz hervortreten, beherrschen und mildern muß. Zu der Bewegung des übrigen Körpers kommt nun als bestimmterer Seelen-Ausdruck noch wesentlich die Mitwir- kung der Gesichtszüge. Dieß Moment führt uns dann unmittelbar zu der nähern Aufgabe der Tanzkunst: nämlich den spezifischen Inhalt, die quali- tative Stimmung der Musik in der Aufeinanderfolge der Bewegungen aus- zudrücken. Wie beschaffen solcher Inhalt sei, läßt sich nicht näher bestimmen, ehe man auf den großen Unterschied des antiken und des modernen Tanzes eingeht; was aber das Verhältniß zu der Musik betrifft, so ist klar, daß der Tanz weniger und daß er mehr sagt, als sie. Weniger: denn in der Dar- stellung für das Auge durch die Bewegung geht verloren jene Unendlichkeit in der Musik, die in irgend ein Gefühl die ganze Gefühlswelt legt und ebendaher durch kein anderes Ausdrucksmittel zu erschöpfen ist; mehr, denn das Unbestimmte wird bestimmt, wie denn z. B. trauriger, ängstlicher, banger, heftiger, beschleunigter, heiterer Ton als traurende, fürchtende, zürnende, versöhnte und glückliche Liebe zur Erscheinung kommt. Es treten nun aber hier verschiedene Stufen der Bestimmtheit des Ausdrucks ein, welche sich an ein wesentliches Unterscheidungsmoment im Tanze knüpfen, nämlich an das Auseinandertreten des Allgemeinen und Besondern. Aus der Bewegung größerer Massen treten Mehrere, tritt ein Paar, tritt endlich eine einzelne Person hervor und stellt das Gefühl, das die Musik andeutet, bestimmter dar, zunächst durch reinen Tanz, der nur subjectiv bewegter, mannigfaltiger, kunstreicher ist, als der Massentanz, welcher stets mehr bloße Evolution bleibt, wobei aber ja nicht an die Kunststücke des modernen Ballets zu denken ist. Von da nun geschieht ein weiterer Schritt: die Tänzer und Tänzerinnen, die aus der orchestischen Gesammtbewegung heraus- treten, gehen in die Pantomime über und stellen durch sie nun deutlicher und ausgeprägter, als der reine Tanz es kann, eine Handlung dar. Hier ist zunächst wohl zu unterscheiden: es ist nicht die Rede von der freieren Pantomime ohne Musik, wie sie in den Harlekinaden der Italiener auftritt, auch nicht von der musikalisch begleiteten des modernen Ballets; die erstere führt hinüber zur eigentlichen Mimik, ist eine Lostrennung der Action von der Declamation, und auch die zweite steht dem eigentlichen Tanze, obwohl mit ihm äußerlich verbunden, bereits zu fern. Es gibt eine Darstellung von Handlung durch bloße Gebärden, in welcher das Spiel derselben einer gemessenen Reglung durch die Musik unterliegt, so daß zwar einige Freiheit, vor Allem die Intensität des Ausdrucks dem Tänzer über- lassen ist, aber doch die Hauptstellungen, Bewegungen, Ortsveränderungen vorgeschrieben, fest formulirt sind. Ein Bild kann man sich machen an den Formen der katholischen Messe, welche der Rest eines ursprünglichen liturgisch dramatischen Tanzes ist; hier wurde das Begräbniß, die Auf- suchung des Leichnams durch die Frauen, die Auferstehung durch vorgeschrie- bene Gänge nach bestimmten Theilen der Kirche, Stellungen, Bewegungen dargestellt, wovon jetzt nur noch ein abgekürztes Hin- und Wiedergehen, Verneigen u. s. w. am Altar übrig geblieben ist. — Die Alten gingen, allerdings erst in der späteren römischen Zeit, in der Ausbildung der Pan- tomime bis dahin, daß Ein Tänzer die andern Personen und weiteren Objecte, die sich der Zuschauer vorzustellen hatte, mimisch anzeigte, ja mit rapidem Wechsel der Maske, Kleidung und des Standortes alle Personen einer Handlung tanzte, und sie bewunderten darin noch mehr die psychische Fülle, Kraft und Einsicht, als die somatische Geschicklichkeit (Lucian vom Tanz c. 66). Ein Zusammenwirken mehrerer pantomimischer Tänzer wird natürlich dadurch nicht ausgeschlossen und bleibt vom Standpuncte des darzustellenden Inhalts das Natürlichere. Die höchste Fähigkeit, jeden reichsten Inhalt darzustellen, wird nun erreicht, wenn die Pantomime nicht blos von der Musik, sondern auch vom Gesange, dessen Text den Inhalt der Handlung wie im Drama ausspricht, sich begleiten läßt. Bei den Alten that dieß ursprünglich der Tänzer selbst, nachher trennten sich die Rollen und der Textgesang wurde von Andern übernommen. Der Tanz mit der Musik tritt hier in die Stellung, welche diese für sich in ihrer Anlehnung an die Poesie als Gesang gewinnt: der Umfang dessen, was ausgedrückt werden kann, dehnt sich weit über das ursprüngliche Maaß, die Welt der Leidenschaften kann unendlich mannigfaltiger und tiefer erschöpft werden und zugleich mit ihr die Sphären, wie sie sich nach den Grund- gegensätzen des Schönen theilen, namentlich das Komische, was bei den Alten zu einer höchst ausgebildeten Gebärden-Satyre sich steigerte. Mit dieser zur vollen, deutlichen Handlung zusammengefaßten mimischen Orchestik wirkt nun wieder das Gesammtspiel des Chors zusammen, der auf der Stufe der einfacheren Tanzbewegung bleibt und mit ihren weniger spezialisirten Mitteln den pantomimischen Acteur wie ein Echo begleitet. Blickt man auf die Gymnastik zurück, so erhellt, daß die Orchestik dem rein Aesthetischen näher liegt. Jene ist wesentlich praktisches, pädagogisches, politisches Mittel und wird, wo sie nicht käuflich ihre Künste zeigt, nur aus bestimmten, festlichen Anlässen der bloßen Darstellung wegen ausgeübt, sie sieht auf Schönheit und befördert sie, aber mehr auf Ausbildung der Kraft, und Ausdruck von Seelen-Leben ist gar nicht ihre Absicht, sondern ergibt sich, und zwar in sehr beschränkter Weise, nur von selbst bei der Kraftübung. Bei der Orchestik verhält sich dieß Alles umgekeht. Sie ist wohl auch pädagogisches Mittel und gehört nach dieser Seite zur Gymnastik als ihr feinerer Theil, aber sie eilt doch viel directer dem zwecklosen Zwecke der schönen Darstellung zu, in welcher das erhabene Bild der Kraft nur ein Moment ist; sie sieht es neben der reinen Darstellung auch auf geselligen Genuß ab, in diesem bildet aber neben der heilsamen Emotion der Säfte und Nerven und der Erheiterung, die in den Anziehungen der Geschlechter liegt, eben das Zeigen und Schauen, also wieder das objective Bild ein Hauptmoment. Uebrigens werden wir finden, wie hierin das Alterthum und die neuere Zeit sich unterscheidet. Die Schattenseite der Tanzkunst liegt darin, daß sie eben um so viel, als sie ästhetischer ist, auch Gefahr läuft, durch ihre Verwendung lebendigen Naturstoffes zu einem System anmuthvoller Bewegungen sich zu pathologischen Reizen verführen zu lassen; was denn auch von jeher geschehen ist. Mit gutem Recht ist ein Haupt- thema einer Kunst der schönen Bewegung die Liebe der Geschlechter, aber der Uebergang von dem Bilde der Lust, das in allem Feuer rein bleibt, zum gemeinen und stoffartigen Kitzel liegt nahe und schon die Griechen hatten ihren Cancan, das pantomimische Theater der Römer so üppige und üppigere Darstellungen, als die orientalische Tanzbühne noch heute sie aufweist. Dem Tanze selbst um dieser Verirrung willen zu zürnen muß man aber denen überlassen, die nur eine häßliche Sinnlichkeit kennen. 2. Der geschichtliche Gegensatz der Style wendet sich in diesem Gebiet anders, als in den bildenden Künsten und in der Poesie. Dort ist der classische Styl einfacher, uncolorirter, hier dagegen unendlich mannigfaltiger, reicher, bunter, als der moderne. Von der Höhe, dem Umfang der Tanz- kunst bei den Alten können wir uns nur schwer ein annäherendes Bild machen. Damit scheint es in Widerspruch zu stehen, wenn der antike Tanz als wesentlich objectiv im Gegensatze gegen den modernen bezeichnet werden muß, denn die reichere Farbe und Fülle jener andern Künste im Style der neueren Zeit hat ja gerade in der vertieften und erweiterten Subjectivität ihren inneren Grund. Die Sache verhält sich aber hier so, daß gerade die weniger entwickelte und in sich gegangene Subjectivität in ungleich weiterer Ausdehnung es wagen wird, das Leben durch stumme Bewegung darzustellen, weil sie eben ein Leben vor sich hat, wo alles Innere in die Gestalt heraustritt. So ist denn also gerade die ursprüngliche Hauptform des Tanzes streng objectiv: es ist der Tanz in seiner religiösen monumen- talen Bedeutung als wesentlicher Theil des Cultus. Hier werden Thaten und Leiden der Gottheit durch jene musikalisch geregelte Pantomime darge- stellt, die aus der rhythmischen Massenbewegung des Chors heraustritt. Vom Gottesdienste begibt sich die Orchestik auf die Bühne, aus dem Panto- mimen wird der Schauspieler, der Chor und seine orchestische Bewegung bleibt. Und so herrscht in allem Tanz, auch dem Festtanze, der nicht zur Bühne gehört, zunächst das Gemeinschaftliche, die Gesammtbewegung von Massen, was an sich schon objectiven Charakter trägt. Hiezu kommt nun aber der reiche Inhalt dessen, was hier zur Darstellung kam: Weinlese, ländliche Geschäfte verschiedener Art, kriegerischer Kampf, streng Objectives, wie das Labyrinth von Kreta, menschliches Thun und Leiden aus dem reichen Gebiete der Sage. In seiner höchsten Ausbildung schafft sich der Tanz seine besondere Bühne, die ganze Mythologie, ein Stoff, der an orchestischen Motiven unendlich reich war und um den unsere Balletmeister die Alten beneiden müssen, wird durchgespielt, ja man tanzt Begriffe, wie die Freiheit u. dergl. Neben dem höheren Kunsttanze schlingt sich der ge- sellige in reicher Fülle, unendlichen Formen durch das Leben und schmückt namentlich das Mahl. Aber auch dieser ist objectiv, nämlich in dem allge- meineren Sinne, daß er mehr die Darstellung für die Zuschauer, als den unmittelbaren Genuß für die Ausübenden zum Zweck hat. Die Geschlechter, die bei Homer noch in den Reigen vereinigt sind, tanzen später durchaus nur getrennt und gerade dieß begründet den mehr darstellenden Charakter, denn wo sie vereinigt tanzen, nehmen sie die Freude für sich weg und fragen wenig danach, wie es aussieht. So wurde allerdings auch der gesellige Tanz zum größern Theile Kunsttanz, Tänzer und Tänzerinnen von Profession tanzten bei Mahlen und andern Belustigungen; das Volk aber behielt daneben seine chorischen Tänze, die jedoch ebenfalls mehr auf Schau angelegt waren, als auf bloße Unterhaltung der Tanzenden. Der moderne Tanz ist vorherrschend geselliger Genuß, hat auf diesem Gebiete fast kein chorisches Element, keine rhythmischen Massenbewegungen mehr, vereinigt durchaus die Geschlechter, legt somit den Accent auf das Vergnügen der Tanzenden, nicht der Zuschauenden und hat kaum ein Be- wußtsein, daß er auch in dieser Behandlung eigentlich etwas darstellt, und zwar durchaus Beziehungen der Liebe. Dieß Thema kann an sich subjectiv genannt werden, und wo es so sehr vorherrscht, wie im modernen Tanze, begründet es allein schon den Charakter, den dieses Wort bezeichnet; sub- jectiv ist aber ebensosehr das Absehen vom Darstellungszwecke, die Beschrän- kung der Tanzenden auf ihre Freude in der Ausübung. Die Italiener haben darin immer noch antiken Sinn bewahrt, daß mehr für die Zuschauer getanzt wird, alle romanischen Völker darin, daß sie mehr auf Grazie als unmittelbaren Genuß sehen. Unser geselliger Tanz ist ferner an Formen unendlich arm. Allerdings fehlt es ihm nicht an reichen Modificationen seines herrschenden erotischen Inhalts in den Nationaltänzen, und hier ist zunächst eine Unterscheidung nachzuholen, die der Tanz mit der Musik und Poesie gemein hat. Temperament und Charakter der Stämme, Völker, Zonen legt sich vor allem ausgebildeten Bewußtsein über Sinn, Ausdruck und Kunstregel in der gleichzeitig erfundenen Tanzmusik und Tanzweise nieder. Es gibt also im Tanz eine naive Kunst, wie in Poesie und Musik. Auch die Alten theilten ihre geselligen Tänze neben andern, auf Gegenstand, Anlaß, Tempo gegründeten Unterscheidungen nach ihrem localen Ursprung ein, bezeichneten sie mit Stämme- und Völker-Namen und drückten damit besondere Charaktere aus. Die bewußte Kunst entwickelt ihre Formen zunächst aus diesem naiven Stoffe und schreitet dann zur eigentlichen Com- position, endlich bis zur geregelten, dramatischen Handlung fort. Unsre gebildete Gesellschaft hat, noch nicht für höhere Kunstdarstellung, aber für correcteren geselligen Genuß verschiedene Nationaltänze aufgenommen, ja sie recrutirt ihr Tanzbedürfniß eigentlich nur aus dieser Quelle, stößt aber dem entlehnten Stoffe seinen Naturton ab, statt ihn zu veredeln, ja sie verstümmelt ihn gern gerade in seinen edelsten Theilen, wie denn z. B. unser Walzer das Stück eines Tanzes ist, der zuerst im Finden, Fliehen, scherzenden Schmollen und Meiden, Versöhnung den Roman und erst zuletzt im längeren Drehen den Jubel der Hochzeit darstellte; wir tanzen phan- tasielos diese ohne den Roman. Nun fragt es sich aber, ob wir auch die höhere Kunstform, die umfassende Composition zum reinen Zwecke der Dar- stellung noch haben, und allerdings besteht sie in gewisser Gestalt, nämlich im Ballet . Es theilt sich in drei Momente: Massentanz des Chors, vereinzelter Tanz der aus ihm heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen, pantomimische Handlung. Die letztere ist nicht mehr zugleich wirklicher Tanz, wie bei den Alten; zwar wird sie von der Musik begleitet, aber nicht zu eigentlich orchestischer Bestimmtheit mit jenem geringeren Spielraum des freien Theils der Bewegungen geregelt, wie bei den Alten. Der Kunst- tanz der heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen ist, wo nicht National- tänze, wie die spanischen, slavischen, von ihnen ausgeführt werden, fast ausdrucklos und zum widerlichen Kunststück herabgesunken, welches das Schwere mit dem Schönen verwechselt; dieß führt nothwendig zum Schweren auf Kosten des Schönen, zur häßlichen Verrenkung, und für die Beleidigung der Anmuth entschädigt der Kitzel der Entblößungen, den der Reiz des Ver- botenen in einer Welt strenger Dezenzbegriffe verdoppelt: ein Zustand, den die Aesthetik der Sittenpolizei anheimzugeben hat. Am meisten Schönheit ist noch in den Chortänzen unseres Ballets. Es wäre Zeit, daß aus diesen Resten ein neuer, edlerer, theatralischer Kunsttanz entwickelt würde. Berichtigung. Seite 786 Zeile 3 von unten lies: „lebendige Mitte“ statt lebendige Mutter.