1. Kapitel . Olly Kerzengerade stieg der schwarze Qualm aus den rußigen Fabrikschornsteinen in die sonnengoldene Herbstluft hinein . Rasseln und Rattern , Surren und Schnurren , Hämmern und Pochen , unausgesetzt sich erneuernd , dröhnte aus dem großen , roten Ziegelsteinbau der Hildebrandtschen Maschinenfabrik . Bis zu der zierlichen Rokokovilla , die ein ausgedehnter Garten von den Fabrikgebäuden trennte , klang dies ewige Lied der Arbeit . Zwischen den von blutrotem wilden Wein umkletterten Säulen der Veranda stand der Kaffeetisch . Blütenweißer Damast deckte ihn , silbernes Gerät blitzte im Herbstsonnenstrahl . Die Familie war noch nicht versammelt . Kommerzienrat Hildebrandt , ein noch immer schöner Mann trotz seiner siebenundvierzig Jahre , zwirbelte ungeduldig den blonden Schnurrbart . Potztausend - wo blieben sie denn - er mußte wieder in sein Bureau . . . " Fräulein Arnold - Fräulein Arnold . . . " die Stimme des Kommerzienrats durchschallte aufgeregt Haus und Garten . Aber als die Gerufene jetzt , umringt von den Kindern , in dem Rahmen des roten Weinlaubes erschien , glättete sich die unheilvolle Falte zwischen seinen hellen Augenbrauen . " Kinder , reißt Fräulein Arnold nur nicht vor lauter Liebe in Stücke , daß wir endlich Mal Kaffee kriegen ! " Ein Lächeln umhuschte die Mundwinkel des Vaters . Unglaublich , wie seine Krabben an der neuen Hausdame hingen ! Inzwischen versuchte Fräulein Arnold vergeblich , sich von den sie umstrickenden Armen der Hildebrandtschen Sprößlinge freizumachen . Senta , das blondzopfige Backfischchen , hatte sie rechts beim Wickel , der lang aufgeschossene Primaner Rudi zerrte an ihrem linken Arm , und Herbert , der Sextaner , hatte sich ihr sogar in den Rücken gehängt . So schleppte man sie im Triumph zum Kaffeetisch . Lachend hatte Fräulein Arnold endlich die Hände freibekommen und waltete jetzt anmutig ihres Amtes , die Tassen mit dem duftenden bräunlichen Trank zu füllen . Sie war eine elegante Erscheinung , Mitte der Dreißiger , aber die heißen Wangen nach überstandenem lustigen Kampfe ließen sie bedeutend jünger erscheinen . " Wo bleibt denn Olly ? " Der Vater sah fragend auf den einen noch leeren Platz und dann zu seinem Töchterchen hin . Sentas rosiges Gesichtchen vertiefte sich noch um eine Nuance . Sie und Rudi waren beide das Ebenbild ihres Vaters . " Olly wird wohl wieder in den Fabrikhöfen stecken " , meinte sie dann achselzuckend und bis mit ihren gesunden , weißen Zähnen ein großes Stück Kuchen ab . " Fräulein Arnold , ich wünsche nicht , daß das Mädel sich zwischen den Arbeitsräumen und Maschinengebäuden herumtreibt : die Kinder sollen den Fabrikboden überhaupt so wenig wie möglich betreten . Vielleicht versuchen Sie es , gerade Olly ein wenig mehr zu sich heranzuziehen . " " Ich versuche es täglich von neuem , Herr Kommerzienrat , trotzdem Olly es mir auf jede Weise erschwert . Sie ist ganz anders wie die übrigen Kinder . " Fräulein Arnold seufzte unhörbar . " Ja , das ist sie ! " Auch der Vater seufzte , aber ungleich lauter . Wie kam dieses störrische Mädchen unter seine anderen , so leicht erziehbaren drei ? Ewig hatte man seinen Ärger mit ihm : bei keinem der Kinder machte sich das Fehlen der Mutterhand so bemerkbar wie bei Olly . Keine Hausdame hielt bei ihm aus , mit Ollys verstocktem , unfreundlichem Wesen war noch keine fertig geworden . Von Fräulein Arnolds liebenswürdiger , gewandter Art hatte er gerade für das Mädel einen günstigen Einfluß erhofft . " Herbertchen , spring doch Mal nach oben , ob du Olly nicht findest . Es ist mir ungemütlich , wenn eins zu den Mahlzeiten fehlt . " Der Vater ließ sich das zweitenmal seine Tasse füllen . Herbertchen unterbrach Gehorsam seine angenehme Tätigkeit , das Stück Kuchen auf dem Teller seiner abwesenden Schwester von sämtlichen Rosinen zu säubern , und stürmte davon . Die blonden Locken , die man ihm trotz der Sextanerwürde als Nesthäkchen noch immer nicht kurz geschoren hatte , umwehten ihn wie eine Löwenmähne . Zwei Minuten später sah man ihn gleich einem Pfeil aus der Villa schnellen und quer durch den Garten schießen . " Der kennt alle Schliche und Verstecke von seinen Indianerspielen her " , lachte Rudi . Senta hatte inzwischen den Blondkopf zärtlich an des Vaters Schulter geschmiegt . " Na , Schmeichelkatze , was willst du , diese Einleitung deiner Wünsche ist mir bekannt , also ? " " Ach , Papachen , dürfen wir heute das auto benutzen , ja ? " " Wollt ihr spazierenfahren ? Meinetwegen , aber mit dieser Bitte pflegst du doch sonst nicht so viel Umstände zu machen . " " Es kommt ja auch erst , " gestand Senta , versetzte dem Vater in plötzlicher Zärtlichkeit einen Kuß und bettelte : " Weißt du , Papachen , hellblau steht mir so gut , sagt Fräulein Arnold , und da mein weißes Kleid gar nicht mehr schön ist , wollten wir sehen , ob mir die Schneiderin noch in acht Tagen ein neues Kleid machen kann . Sonnabend ist doch Backfischgesellschaft bei Irmgard von Buschen . " Eine erneute Auflage von Zärtlichkeit erfolgte . Der Vater ließ sich die Liebkosungen seines hübschen Töchterchens gern gefallen . " Wenn Fräulein Arnold es für richtig hält , bin ich natürlich einverstanden . " Er wandte sich zu der Hausdame . Aber ehe noch Fräulein Arnold ihre Meinung betreffs des hellblauen Kleides äußeren konnte , übertönte das gewohnte Fabrikgetöse , auf das keiner mehr achtete , ein heller Schrei , halb Jauchzer , halb Kriegsfanfare . Fräulein Arnold machte ein erschrecktes Gesicht . " Das ist nur Herbertchens Indianerruf " , beruhigte sie Rudi . " Er hat sie sicher erschlichen " , fiel Senta lachend ein . Da kam der kundige Pfadfinder auch bereits in gestrecktem Galopp zurück . " Sie sitzt ganz hinten unter dem Apfelbaum und heult " , berichtete er mit verächtlicher Miene . Heulen galt in der Sexta als überwundener Standpunkt . " Warum hast du sie nicht mitgebracht ? " Der Vater zog die Uhr , er mußte wieder an die Arbeit . Herberts dunkle Augen , die einen seltsamen Gegensatz zu seinem lichten Haar bildeten und ihn zur Schönheit der Familie stempelten , hingen begehrlich an dem Kuchen auf dem Tisch . " Sie will ja nicht , sie bockt , nicht Mal Kuchen will sie ! " Damit ließ der Süßschnabel das Stück , das Fräulein Arnold vorsorglich für Olly aufgelegt , in den eigenen , ewig hungrigen Mund spazieren . " Warte , Papa , ich bringe sie sofort . " Rudi setzte seine langen Beine in Bewegung . " Wir bringen sie , tot oder lebendig . " Senta , die zuerst ein bestürztes Gesicht gemacht , jagte lachend hinter dem Bruder drein , daß ihre Blondzöpfe mit den halblangen Röcken um die Wette flogen . " Auf , zum Kampf ! " Herbertchen durfte natürlich nicht fehlen . Den Rest des gemausten Kuchens in den Mund stopfend , galoppierte er den beiden Großen nach . " Eine Bande ! " Mit strahlendem Gesicht sah Kommerzienrat Hildebrandt seinen drei Blondköpfen nach . Unter dem alten , knorrigen Reinettenbaum , dicht an dem Stachelzaun , den man wegen der beutelustigen Hände der Arbeiterkinder am Obstgarten entlanggezogen hatte , hockte ein sechzehnjähriges Mädchen . Ein langes , dürres Ding war es , unter dem weißen Leinenrock schauten ein paar Füße von erstaunlicher Größe hervor . Die dünnen Arme hatte es um den Stamm des Apfelbaumes geschlungen , den dunklen Kopf fest gegen die Rinde gepreßt . Waidgerecht umstellten die drei das aufzuscheuchende Wild . Mit lachenden Augen , den Finger auf den Mund gelegt , so lugten sie durch das Buschwerk . Jetzt bückte sich Rudi , griff einen vom Wind abgeschlagenen Apfel und warf ihn mit zielender Hand der nichts ahnenden Schwester in den Schoß . " Der Schönsten ! " rief er übermütig , " der Schönsten den Apfel der Eris ! " Wie von der Tarantel gestochen , sprang Olly auf die Füße . Das gelblich blasse , magere Gesicht überflog Zornesröte , aus den verweinten , schwarzen Augen sprühten Wutteufelchen . Der Bruder hatte sie mit seinen Worten an ihrer empfindlichsten Stelle verwundet . Mit geballten Fäusten wollte sie an ihm vorüber . Aber schon hatten sich die drei die Hände zur festen Kette gereicht . Unter Herbertchens Indianergeheul umtanzten sie in wilden Sprüngen ihr Opfer . Vergeblich suchte Olly sich einen Durchschlupf zu verschaffen , immer enger wurde der Kreis , den man um sie schloß . In ohnmächtiger Wut verbarg sie aufs neue das Gesicht in den Händen . " Mädchen , warum weinest du , Weinest du , weinest du , Mädchen , warum weinest du , Weinest du so sehr ? " Ausgelassen erklang es von Sentas roten Lippen , und jubelnd fielen die Brüder ein . Sie meinten es nicht böse , die drei , es war durchaus keine Schlechtigkeit der Geschwister , nur jugendlicher Übermut . Sie hatten sich daran gewöhnt , Olly , die jeden Scherz krumm nahm und stets abweisend und unliebenswürdig gegen sie tat , allenthalben aufzuziehen und zu foppen . Hätte sie nur ein wenig von Sentas harmlos lustiger Art gehabt , mit der diese jeder Neckerei zu begegnen pflegte , so hätte sie sich selbst manch böse Stunde ersparen können . Aber gerade , daß sie stets außer sich geriet , reizte die anderen . Als Rudi die Schwester als Begleitung zu ihrem Sang laut schluchzen hörte , empfand er Mitleid mit ihr . " Blök ' nicht , Olly , du sollst zu Papa kommen - los , los , er wartet auf dich . " Damit versuchte er , sie vorwärts zu schieben . Olly widerstrebte nicht länger . Wenn Papa etwas befahl , gehorchten die Kinder aufs Wort . Erstens , weil sie ihren schönen Vater über alles liebten , und dann - Papa konnte auch manchmal recht ungemütlich werden . Aus den Fabrikgebäuden schallte seine Stimme ab und zu unheilvoll herüber . Dann pflegten die Hausdamen noch schnell ein Extragericht einzulegen , um die Laune des Kommerzienrats zu verbessern , und die Kinder waren dann stets bemüht , jeden Verdruß aus dem Wege zu räumen . " Na , Olly , muß man dich erst zum Kaffee einladen lassen ; ich bitte mir aus , daß du die Mahlzeiten künftig pünktlich innehältst " , empfing der Vater sein verweintes Töchterchen ernst . Während er den anderen Kindern gegenüber fast immer liebevoll zärtlich war , erschien ihm bei der störrischen Olly Strenge als einziges Erziehungsmittel . Er ahnte nicht , daß sich dadurch das junge Herz nur noch mehr in sich selbst zurückzog . " Was hat denn die Überschwemmung zu bedeuten , hm ? " Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Papa die roten Tränenflecke in dem unschönen , blutleeren Mädchenantlitz . Olly stand mit verschlossenem Gesicht da . Fräulein Arnold schenkte ihr Kaffee ein und schob ihr ein neues Stück Kuchen zu . Die Falte auf des Kommerzienrats Stirn vertiefte sich . " Unerhört , daß du dich derartig von Fräulein Arnold bedienen läßt , und nicht Mal ein Dankeschön für ihr liebevolles Sorgen hast . Umgekehrt wäre es richtig , solch große Tochter müßte mir hier am Kaffeetisch schon die Hausfrau ersetzen " , fuhr der Vater sie an . Um Ollys blasse Lippen zuckte es , aber sie erwiderte keinen Ton . Brummend erhob sich der Kommerzienrat . " Daß einem doch jede gemütliche Stunde in seinem Heim von dem Mädel verstört wird - na , was gibt es noch ? " Er blieb neben ihr stehen . Es war sichtlich , daß sie mit sich kämpfte , ihre Lippen bewegten sich , und ihre tränenverquollenen Augen hingen flehentlich an dem Vater . Sie tat ihm leid . " Ich habe eine Bitte , Papa " , stieß sie plötzlich hervor . " Darf ich heute das auto benutzen ? " " Nummer zwei , nun kommt gleich das hellblaue Kleid , oder willst du ein rosa ? " Papa war froh , daß Olly wenigstens wieder sprach und nicht mehr wie ein störrischer Maulesel dastand . " Die eine versucht mit Küssen , die andere mit Tränen . Mädel , was seid ihr verschieden ! " Olly fühlte einen Stich durchs Herz . Sie wußte es ja ganz allein , daß sie verschieden waren ! Die eine war eben hübsch und die andere häßlich ! Aber daß Papa dies so unumwunden , so schonungslos aussprach . . . das törichte Mädel faßte die Worte des Vaters , die sich lediglich auf das Wesen seiner Töchter bezogen , gänzlich falsch auf . " Hellblau wird Olly nicht stehen , es würde sie zu gelb machen " , mischte sich Fräulein Arnold hinein . " Ich denke , ihr Weißes wird noch gehen , sie hat es später bekommen als Senta . " Was lag Olly an dem hellblauen Kleide , aber - sie wurde schon wieder zurückgesetzt ! " Ich will überhaupt kein Kleid ! " rief sie in unliebenswürdigem Ton . " Ich möchte das auto benutzen , um . . . " - sie schluckte krampfhaft - " es ist Mamas Geburtstag heute ! " Vorwurfsvoll blickte sie auf den Vater , der zum erstenmal seit fünf Jahren diesen Gedenktag außer acht gelassen . Papa machte denn auch ein erschrecktes Gesicht . " Richtig , der achtzehnte September ! Ja , die Arbeit , da vergißt man alles . Na , Kinder , wenn ihr zum Kirchhof fahren wollt , ich bin leider heute nicht abkömmlich , sagt es Müller . " Das war der Chauffeur . Der Kommerzienrat sprang leichtfüßig die Stufen , die von der Veranda in den Garten führten , hinab . Ehe er aber noch die unterste erreicht hatte , war Senta ihm nachgeeilt und hatte von hinterrücks die Arme um seinen Hals geschlungen . " Papachen , du hast es mir zuerst versprochen , die Schneiderin macht mir das Kleid sonst nicht mehr ! " Auch Sentas Stimme konnte weinerlich klingen , aber es war trotzdem ein schmeichelnd , liebenswürdiger Ton darin . " Kinder . . . " der Vater fuhr sich aufgeregt durch das sich kaum lichtende blonde Haar . " Also gut , dann fahren wir alle am Sonntag zum Kirchhof - erledigt ! " Er eilte den Fabrikgebäuden zu . Fräulein Arnold klingelte dem Hausmädchen , um den Kaffeetisch abräumen zu lassen . Olly hatte ihre Tasse noch nicht berührt . Mit verächtlichem Gesicht blickte sie auf die knapp ein Jahr jüngere Schwester , welche triumphierend zu ihr hinblinzelte . " Olly , willst du nicht trinken ? " Fräulein Arnold gedachte der Mahnung des Kommerzienrats , sich des Mädchens mehr anzunehmen . Aber keine Antwort wurde ihr . " Herbertchen , wir werden dich mitnehmen und an deiner Turnhalle abliefern , mein Junge . Rudi , Sie haben wohl zu arbeiten . Zieht euch an , Mädel , damit wir noch helles Tageslicht zum Auswählen der Farbe haben . " Senta wirbelte Fräulein Arnold glückselig über das in Aussicht stehende neue Kleid noch einigemal auf der Veranda herum , ehe sie sich in das ihr gemeinsam mit Olly gehörende Zimmer begab . " Fix , Olly " , drängte die Hausdame , da das junge Mädchen durchaus keine Anstalten machte , sich zu erheben . " Ich komme nicht mit " , knurrte Olly schließlich , nachdem die Aufforderung zum drittenmal an ihr Ohr gedrungen . " Und warum nicht ? " Fräulein Arnolds Stimme klang nun auch gereizt . " Was soll ich denn dabei , wenn für Senta ein Kleid gekauft wird , Sie werden meinen Geschmack wohl entbehren können " , stieß sie ungezogen heraus . " Pfui , Olly , schäme dich ! " Fräulein Arnold legte ihr die Hand auf die Schulter . " Für so schlecht hätte ich dich doch nicht gehalten , daß du deiner Schwester das Kleid nicht gönnst ! " Der lange Backfisch machte sich unsanft los . Sie schwieg . Was sollte sie auch sagen ? Fräulein Arnold würde ihren Schmerz ja gar nicht verstehen , daß der Schwester ein neues Kleid wichtiger war als der Geburtstag der toten Mutter ! Schon vor dem Kaffee hatte sie sich in ihrem Stübchen deswegen mit Senta gezankt . Deswegen hatte sie unter dem Apfelbaum gesessen und geweint . Nun hatte es die Schwester doch bei Papa durchgesetzt , wie sie ja alles durchsetzte , nur weil sie hübsch war ! " Und ich bin eben häßlich , folglich kann mich kein Mensch leiden , und alle geben mir Unrecht , selbst Papa ! " Da war Olly mit ihren Gedanken wieder an dem dunkelsten Schatten ihres sechzehnjährigen Lebens angelangt . Daß sie selbst durch das ständig Sichzurückgesetztfühlen , durch ihr abstoßendes , verschlossenes Wesen zu der Entfremdung mit Vater und Geschwistern beitrug , daran dachte das unreife Backfischchen nicht . Das silbergraue Automobil mit den roten Lederpolstern war vorgefahren . Fräulein Arnold in einem eleganten Herbstkostüm nahm darin Platz . Ihr zur Seite Senta . Das niedliche , rosige Puppengesicht unter dem großen Stickereihut nickte strahlend zu Rudi zurück . Herbertchen in gelbgrauem Turnanzug , den Damen gegenüber , und - tu - u - ut - mit schrillem Aufheulen setzte sich das auto in Bewegung . An den Fenstern des Fabrikgebäudes , die nach der Straße zu lagen , erschienen bleichgraue Gesichter . " Die haben es Jute , die fahren jetzt spazieren . " - " Die Häßliche , det arme Ding , haben sie natürlich wieder zu Hause jelassen . . . " - Den Rest verschlang das Rädergerassel der arbeitenden Maschinen . In der Rokokovilla , die noch vor kurzem so belebt gewesen von jugendlichen Stimmen , war es still geworden . Rudi schwitzte über seinen griechischen Aufgaben , Olly hatte sich in das Rauchzimmer des Vaters geschlichen . Dort hing über dem Schreibtisch das lebensgroße Ölgemälde ihrer Mutter . Die Hände auf die Lehne von Papas Schreibtisch gestützt , so stand Olly lange . Lange sah sie zu der schlanken Frauengestalt in dem schwarzen Samtkleid empor . Es war ein ebenso schönes als sympathisches Gesicht , das da auf ihr Kind niederschaute . Tiefdunkles Haar umrahmte mit weichem Scheitel das zarte Profil . Die Augen glichen dem Samt des Kleides , in sinnendem Ernst blickten sie . Und doch , Olly wußte , daß der rote Mund einst lachen , scherzen , singen und küssen gekonnt hatte . Das junge Mädchen wischte sich mit dem Handrücken schnell die schon wieder hervorquellenden Tränen aus den Augen . Seit Mamas Tode hatte sie keiner wieder geküßt . Wenn die anderen Kinder zärtlich dem Papa entgegensprangen , dann stand sie abwartend , mit sehnsüchtigem Herzen daneben . Es fiel ihr nicht ein , dem Vater wie Senta an den Hals zu fliegen . Nein , wenn Papa ihr nicht von selbst einen Kuß geben mochte - am Ende war sie ihm zu häßlich dazu ! Papa aber sah kopfschüttelnd auf sein kaltherziges , gefühlsarmes Töchterchen , das ihm nicht einmal zum Gutenachtkuß die Lippen reichte . Solange Mama gelebt , hatte Olly sich nicht von der Natur und von den Menschen zurückgesetzt gefühlt . Sie war Mamas " Schwarzköpfchen " , so wie Senta ihr " Blondköpfchen " war . Und wenn sie auch niemals ein leicht zu erziehendes Kind gewesen , die Mutter hatte die Gefühlstiefe in dem jungen Kinderherzen erkannt . Mutterliebe fand stets den richtigen Weg zu demselben . Dann aber hatten Fremde an die sich im ersten Weh in sich selbst zurückziehende Kindesseele mit rauhem Wort gerührt . Ihr stilles , gedrücktes Wesen hielt man für Trotz , ihre scheue Art für den Ausdruck eines schlechten Gewissens . Bald wußte es Olly , daß die anderen Kinder gut , freundlich und schön waren , sie dagegen bösartig , unliebenswürdig und häßlich . Spott und Ungerechtigkeit gesellten sich dazu , unwillkürlich zogen die Hausdamen , die Dienstboten , ja auch Papa , die hübschen , stets lachenden Kinder dem schwarzen , mißmutigen Mädel vor . So war Olly zum störrischen , verbitterten Backfisch geworden . Was war das früher am achtzehnten September für ein Lachen und Gläserklingen , für ein Gratulantenschwarm und Blumenmeer in der Rokokovilla gewesen ! Und heute sollte Mama auch ohne das allerkleinste Blümchen bleiben ? Keiner hatte Zeit für sie ? " Doch , Mamachen , ich komme , und wenn ich den weiten Weg auch zu Fuß gehen müßte ! " flüsterte Olly leidenschaftlich zu dem Bilde empor . Hastig eilte sie die mit roten Teppichen belegten Treppen , die in das obere Stockwerk führten , hinauf . Es war ein duftig zierliches Mädchenzimmer , das sie gemeinsam mit Senta bewohnte . Weißgetupfte Mullgardinen flossen , von breiten , mattblauen Atlasschleifen gehalten , an den Fenstern hernieder . Die Möbel leuchteten in lichtem Weiß , ein zierliches Rohrsofa , mit blauen Libertykissen belegt und rundem Tischchen davor , bildete eine gemütliche Ecke . Die Wände waren blau tapeziert . Allerlei nette Genrebilder , Konsolchen und Brettchen mit Vasen hatte Senta auf der Seite , an der ihr von hellblauer Seidensteppdecke bedecktes Bett stand , geschmackvoll angebracht . Die Wand , die zu Ollys Reich gehörte , war leer . Nur eine Photographie der Mutter , um die sich ein grüner Blätterkranz schlang , hing über ihrem Bett . An das Stübchen schloß sich ein zierlich gefügter Goldgitterbalkon . Bunte Petunien und brennend rote Pelargonien blühten trotz des Herbstes dort in üppiger Pracht . Olly pflegte ihre Blumen mit der ganzen Zärtlichkeit ihres liebebedürftigen , vereinsamten Herzens , während Senta , der Sausewind , wenig Sinn dafür hatte . Auf dem niedrigen Hocker konnte Olly stundenlang in unfruchtbarem Träumen sitzen und an all den schwarzen Fabrikschloten , die hier im Norden Berlins wie gewaltige Vorposten vor den Toren der Stadt aufgepflanzt waren , vorüberstarren . Bis zu den grünen Wiesen , auf denen bunte Flaggen von grün angestrichenen Lattenhäuslein wehten , den Laubenkolonien der Arbeiter , im Berliner Volksmund " Kamerun " geheißen , bis zu dem Wasserband des Kanals , das die bläulich schimmernden Wälder der Jungfernheide umgürtete . Heute aber hatte Olly keine Zeit zum Sinnen und Starren . Einen unbehaglichen Blick warf sie dem halbfertig auf ihrem Schreibpult liegenden französischen Exerzitium zu ; durch den Streit mit Senta war es in Vergessenheit geraten . Dann sperrte sie es kurz entschlossen in die Mappe . Ach was - Mamas Geburtstag war Wichtiger ! Schnell den Matrosenhut aufgestülpt ! Sie pflegte , im Gegensatz zu Senta , nur selten , kaum beim Frisieren , in den Spiegel zu sehen . Olly haßte den Spiegel . Unbarmherzig sagte er ihr ja stets aufs neue , wie häßlich sie war . Doch heute mußte sie ihrem Feinde einen Besuch abstatten . Mit verweintem Gesicht , wie ein Kind , mochte sie nicht auf die Straße hinaus . Brrr - gräßlich ! Die tränenverschwollenen Augen , die roten Fleck auf dem ohnehin schon unreinen Teint , die vom Weinen gerötete Nase , die viel zu groß für das schmale Gesicht erschien , und die schwarzen Augenbrauen , die sie so böse zusammenzog , daß sie wie ein kleiner Wald anzusehen waren . Und doch - sie hatte Ähnlichkeit mit Mama ! Olly lachte plötzlich laut und bitter auf . Sie und ihre schöne Mama - haha - aber je länger sie auf ihr Spiegelbild starrte , um so deutlicher trat ihr die Gleichheit in der Kopfform , in der Farbe der Haare , der Augen entgegen . Nur daß bei Mama alles weich und abgerundet war und bei ihr alles hart , eckig und unfertig . Schnell wandte Olly dem Glas den Rücken . Sie schämte sich ihres an Größenwahnsinn grenzenden Gedankens . Scheu blickte sie um sich . Es war ihr , als ob die Geschwister spöttisch hinter ihr in ein Gelächter ausbrechen müßten . Aber alles blieb still , nur das Stöhnen der Maschinen ächzte durch die offene Balkontür herein . Nun noch Geld eingesteckt , und dann leise , ganz behutsam an Rudis Tür vorüber . Daß sie nur unangehalten aus dem Hause kam ! Einen Augenblick stand Olly vor dem Zimmer des mit lauter Stimme griechische Verse aufsagenden Bruders still . Ob sie Rudi bat , mit ihr zu kommen ? Er würde es am Ende tun , er war noch am wenigsten schlecht zu ihr . Aber nee - er hatte heute nachmittag mit dem Parisapfel doch auch so gemein gegen sie gehandelt ! Und dann gab es erst noch eine große Auseinandersetzung mit Papa und Fräulein Arnold abends - nee , nee , das beste war schon , es erfuhr überhaupt keiner , daß sie fort gewesen . Das Treppenhaus lag leer , lachende Stimmen der Dienerschaft erschallten aus dem Souterrain . Unten an dem Hausportal in der Nachmittagssonne lag fliegenschnappend Murks . Bei Ollys Erscheinen hob er den weißen , mit blauer Seidenschleife geschmückten Kopf und wedelte wohlerzogen mit dem buschigen Schwänzchen . Olly mochte den Seidenpinscher nicht . Alles im Hause verwöhnte und verzärtelte ihn . Da hatte sie den struppigen , ruppigen Fabrikköter , den Karlemann , tausendmal lieber . Der war ebenso häßlich und zurückgesetzt wie sie selbst . Murks war ein Geselligkeit liebender Hund . Ziemlich oberflächlich veranlagt , langweilte er sich , wenn er auf sich allein angewiesen war . Da er seine Nachmittagspromenade noch nicht gemacht hatte , schloß er sich Olly mit dreister Selbstverständlichkeit an . Diese mochte ihn nicht zurückjagen , aus Angst , daß sein Bellen jemand aufmerksam machen könnte . So ließ sie sich die Begleitung des Seidenpinschers , wenig erfreut , gefallen . Herzklopfend stand sie auf der Straße , die von verschiedenen Fabriken gebildet wurde . Wohngebäude gab es hier draußen , abgesehen von den Vielen der Fabrikbesitzer , nicht . Nur hin und wieder ganz gleich ausschauende , einstöckige Gebäude , welche besonders menschenfreundliche Herren für ihre Arbeiter als Wohnungen hatten herrichten lassen . Sie wußte sehr wohl , daß sie im Begriff war , etwas Unerlaubtes zu unternehmen . Es war den Kindern , abgesehen vom Schulweg , streng verboten , ohne Begleitung nach Berlin hineinzufahren . Selbst Rudi machte dem Vater vorher Mitteilung , wenn er mit einem Freund gemeinsam arbeiten wollte . Meistens stand ja auch das auto zur Verfügung . Zur Schule benutzten die Hildebrandtschen Kinder die elektrische Bahn . Der Vater war ein verständiger Mann ; es erschien ihm großspurig und ungehörig , wenn seine Sprößlinge im Automobil an der Schule vorfuhren . Heute aber mußte Olly bis zur nächsten Stadtbahnstation . Der Kirchhof lag am anderen Ende der Stadt , so kam sie am schnellsten hin . Denn die Septembersonne warf schon recht schräge Strahlen über das staubig verrußte , kärglich mit Gras bestandene Baugelände , das sie durchschritt . Aber zweieinhalb Stunden blieben ihr immerhin noch bis zum gemeinsamen Abendessen . Da konnte sie reichlich wieder zurück sein . Es war voll auf der Bahnstation . Fast alles Arbeiter mit ihren Blechkannen . Die große Gewehrfabrik , die in der Nähe lag , schloß um eine Stunde früher als die anderen . Das Kommerzienratstöchterlein löste eine Fahrkarte zweiter Klasse . Aber als sie an dem Kontrollbeamten vorbei wollte , hielt man sie am Ärmel zurück . " Sie da , Fräuleinchen , jehört die Hundetöle zu Ihnen ? Die muß 'n Billett haben , und zweiter Klasse is nicht , ins Hundecoupe müssen Sie mit der ! " Bitterböse sah Olly auf Murks . Aber es half nichts , sie mußte noch einmal die Perrontreppe heruntersteigen und für den unerwünschten Begleiter ein Billett nachlösen . Als sie wieder oben anlangte , sauste ihr der " Nordring " gerade vor der Nase fort . Das verstärkte ihre Sympathien für Murks nicht . Endlich saß sie , ihre " Hundetöle " auf dem Schoß , eingepfercht zwischen blauen Arbeiterblusen , in dem Hundecoupe der dritten Klasse . Schlechter Pfeifentabak und Zigarrenqualm verdickte die Luft . Man nahm keine Notiz von ihr . Lärmend unterhielten sich einige Jüngere über Lohnzulage und Kürzung der Arbeitszeit . Murks , dem verwöhnten Seidenpinscher , war der Aufenthalt nicht standesgemäß genug . Seinen Unwillen über die ihm aufgenötigte Gesellschaft ließ er in herausforderndem Geknurre gegen einen dicken , schläfrigen Mops auf der anderen Bank aus . Mit dem Gleichmut des Phlegmatikers nahm der plebejische Mops überhaupt keine Notiz von dem eleganten Schoßhündchen . Das ärgerte Murks , der gewöhnt war , im Hause des Kommerzienrats eine Hauptrolle zu spielen . Ehe Olly von seinen ruhestörenden Absichten etwas merkte , fuhr er mit einem Satz , laut blaffend , auf den müde blinzelnden Mops los . Ein Mops hat für gewöhnlich ein dickes Fell und friedliche Gesinnung . Aber was zuviel ist , ist zuviel . Wütendes Gekläff und Beißen entspann sich zwischen den beiden . Mit lautem Lachen schürten die jüngeren Arbeiter den Kampf der verschiedenen Hundeklassen . Aber der Besitzer des Mopses wandte sich in grobem Ton an den entsetzt dreinschauenden langen Backfisch . " Ihr Köter hat anjefangen , ziehen Se doch det Biest eins ieber , det er Order pariert , der saubere Musje ! " Olly rief in angstvollem Ton : " Murks - Murks , hierher ! " Aber Murks hatte alle Bande der Wohlerzogenheit von sich gestreift , er blaffte und heulte wie von Sinnen . Da nahm der Besitzer des Mopses die Lederleine , an der er seinen Hund zu führen pflegte , und zog dem " sauberen Musje " selbst eins über . Laut aufheulend kroch Murks , dem eine solche Behandlung in seinem vierjährigen Hundeleben noch nie zuteil geworden , zu der wie auf Kohlen sitzenden Olly zurück . Inzwischen durchraste der Zug das Herz der in unzähligen , menschenbevölkerten Verkehrsadern pulsierenden Millionenstadt . Olly atmete auf , als ihr Ziel erreicht war . Nun war es nicht mehr weit bis zum Friedhof . Die schönsten Rosen , die sie finden konnte , erstand sie in einer Gärtnerei . Eins wenigstens von ihren Kindern kam heute zur Mutter , wenn auch nur das häßlichste . Ein prächtiges Erbbegräbnis mit Granitsäulen wölbte sich über den stillen Grabhügel . Hier hatte Olly stets Trost für ihre quälenden Gedanken und unverständigen Tränen gefunden . Wenn der Wind ihr leise übers Haar strich , war es wie ein Gruß von weicher Mutterhand . Aber heute kam sie nicht zu Sammlung und Andacht . Murks , der abscheuliche Hund , ließ ihr keinen Moment Ruhe . Bald setzte er über einen fremden Efeuhügel , bald zerwühlte er Blumen und Gräser . Jetzt jagte er die friedlich schirpenden Spatzen aus ihren Büschen auf , und nun mischte er sich , lustig bellend , gar unter die Leidtragenden eines feierlich vorüberziehenden Trauerzuges . Olly mochte ihn nicht zurückrufen , es war ihr peinlich , daß der Hund zu ihr gehörte . Wenigstens fand sie jetzt noch einige Augenblicke zur stummen Zwiesprache mit ihrer so früh dahingegangenen Mutter . Es wurde kühl . Die Sonne war herunter , frühe Herbstnebel zogen . Sie mußte an den Heimweg denken . Aber vergeblich sah sie sich nach ihrem vierbeinigen Gefährten um . Der Seidenpinscher hatte sich , seitdem sie sich nicht mehr um ihn gekümmert , nicht wieder blicken lassen . Sie eilte zum Ausgang , sie lief wieder zurück , sie rief , sie lockte und erschrak vor ihrer lauten Stimme , die den Kirchhofsfrieden störte . Kein Murks ließ sich blicken . Den Totengräber , die Gärtner , verschiedene Besucher befragte Olly aufgeregt , niemand wußte , wo Murks hingekommen . Schließlich erinnerte sich einer , einen kleinen weißen Hund in der Nähe des Bahnhofes gesehen zu haben . Olly atmete auf , sicher war das Murks . Dem mochte das Warten zu langweilig geworden sein , und er war auf eigene Faust vorausgelaufen . Sie raste die Straße , die zum Bahnhof führte , hinunter , ein Mann mit einer langen Stange entzündete bereits die spärlichen Gaslaternen hier draußen . Auf dem verkehrsreichen Bahnhof gab es mehrere Hunde , weiße , gelbe , braune und schwarze , Pudel , Möpse , Spitze und Dackel - aber keinen Murks . Olly weinte vor Ärger und Aufregung . Wenn sie ohne den verhätschelten Seidenpinscher nach Hause kam - eher konnte sie fortbleiben , als der von allen geliebte und vergötterte Schoßhund , sagte sie sich mit bitterer Ungerechtigkeit . Sämtliche Beamte fragte sie nach Murks , keiner hatte ihn gesehen . Wieder im Galopp zurück zum Friedhofstor . Das war bereits geschlossen . Kopfschüttelnd sahen die Leute auf das große , weinende Mädel , das an ihnen vorbeiraste . Inzwischen war es dunkel geworden . Sie mußte jetzt unbedingt nach Hause fahren , dem väterlichen Strafgericht entging sie sowieso nicht mehr . " Haben Sie nicht einen Seidenpinscher gesehen ? " wandte sie sich noch einmal an einen halbwüchsigen Burschen der selbst einen Hund hatte . " Wenn Se vielleicht 'nen Affenpinscher meinen , den sehe ich " , antwortete der Junge lachend . " Wo denn - wo ? " Am Ende war es Murks . " Drehen Se sich man um , da - kieken Se rein ! " Der unverschämte Bengel wies grinsend auf eine Spiegelscheibe , aus der Olly ihr eigenes Gesicht entgegenschaute . Der ihr angetane Schimpf verjagte auf Minuten die Sorge um den entlaufenen Köter . Selbst die Leute auf der Straße verspotteten sie schon wegen ihrer Häßlichkeit ! In ihrem Schmerz darüber hatte Olly nicht acht auf das Schild des einfahrenden Zuges . Sie sprang schnell hinein , um dem höhnischen Lachen des Jungen zu entgehen . Vielleicht hatte Murks allein heimgefunden , aber nein , von einem Ende der Riesenstadt zum anderen , dieser Trost war aussichtslos . Ein Gedanke durchblitzte Olly . Sie brauchte ja gar nicht zu sagen , daß Murks mit ihr fort gewesen . Dann war er eben allein davongelaufen , er hatte schon einmal Freiheitsgelüste verspürt und war von einem Arbeiter , der ihn kannte , wieder eingeliefert worden . Aber nein - gleich darauf schämte sie sich dieses Gedankens . Sie war häßlich , aber schlecht war sie deshalb noch lange nicht ! Olly Hildebrandt brachte keine Unwahrheit über ihre Lippen . Ganz anders sahen die Stationen jetzt im Lichte der elektrischen Flammen aus . War sie denn noch nicht bald da ? Sie fuhr doch schon ewig . Nach der letzten schlechten Erfahrung traute sie sich nicht mehr einen Fremden zu befragen , aus Furcht , wieder verlacht zu werden . Schließlich aber faßte sie sich doch ein Herz und bat mit leiser Stimme einen alten Herrn um Auskunft . " Kind , da sind Sie ja im falschen Zug , Sie sind Südring statt Nordring eingestiegen . Auf der nächsten Station müssen Sie heraus und die ganze Strecke wieder zurückfahren . " Olly war geradezu entsetzt . Sie dachte nicht mehr an Murks , sie dachte nur noch an die Sorge und Aufregung , die sie durch ihr heimliches Fortlaufen daheim verursachen würde . Sicher saßen sie schon beim Abendbrot . . . In der Rokokovilla , in dem geräumigen Speisezimmer , herrschte Schwüle . Soviel auch Senta von ihrem neuen Kleide vorschwärmte , so liebenswürdig Fräulein Arnold auch die saftigsten Scheiben Roastbeef anbot , die gefurchte Stirn des Hausherrn glättete sich nicht . Unglaublich war es ! Dieses Mädchen , diese Olly , wagte es , seinem strikten Befehl , die Mahlzeiten pünktlich innezuhalten , Trotz zu bieten ! Hatte sich sicherlich in einen Schmollwinkel zurückgezogen und wollte erst wieder gebeten sein . Aber da konnte sie lange warten . Mit tiefer Stimme meldete die große Standuhr die neunte Stunde . Das Abendessen wurde abgetragen , Herbertchen sagte gute Nacht . Das ging denn doch zu weit ! Geräuschvoll schob der Kommerzienrat seinen Stuhl zurück und trat mit schweren Schritten in das Treppenhaus . " Olly - ! " Papas Stimme durchschallte gebieterisch die ganze Villa . Der verstockte Trotzkopf erschien nicht . " Olly - ! " durch den Garten , bis zu den Fabrikräumen hin erklang sein Ruf - vergebens . Es wurde dem Kommerzienrat in der Stille plötzlich Angst zumute , sie würde doch nicht etwa davongelaufen sein - zuzutrauen war dem Mädel alles . Die Dienstboten wurden befragt , da kam es heraus , daß auch Murks sich nicht zu seiner Abendmahlzeit eingestellt hatte . " Olly kann Murks nicht leiden , die hat ihn ganz sicher nicht mitgenommen , meinen geliebten Murks ; wenn ihn nur nicht der Schinder gefangen hat ! " Senta brach in Tränen aus . " Sei nicht so kindisch , Senta ! " Papa fuhr in seiner Erregung jetzt selbst seinen Liebling an . " Die Hauptsache ist , daß Olly erst wieder da ist ! " Papa griff nach seinem Hut . Rudi begleitete ihn . Als sie die dunkle Straße ein Stückchen gegangen waren , kam plötzlich etwas Weißes an ihnen vorbeigejagt . " Olly - ! " rief der Kommerzienrat mit fragender , angsterfüllter Stimme . - Herrgott , sie war doch sein Kind ! Ein bekanntes Schluchzen antwortete ihm . Und im Nun hatten sich seine väterlich zärtlichen Gefühle in die zürnenden der gestrengen Gerechtigkeit verwandelt . " Wo kommst du jetzt her ? " herrschte er Olly an . Lange dauerte es , bis Olly ein Wort herausbekam . " Von Mama . " Es klang so jammervoll und dabei doch so schlicht und rührend selbstverständlich , daß es Papa eigentümlich zumute wurde . Er fand kein Wort des Vorwurfs mehr für sie . Um so mehr Vorwürfe aber hatte Senta für die Schwester . Sie war ganz außer sich , daß ihr geliebter Murks fort war . Denn trotzdem in allen Zeitungen sein holdes Konterfei mit der Unterschrift : " Weißer Seidenpinscher entlaufen , abzugeben gegen hohe Belohnung bei Kommerzienrat Hildebrandt " erschien - Murks war und blieb verschwunden . 2. Kapitel . Backfischgesellschaft Bei Irmgard von Buschen war Backfischgesellschaft . Zu Ehren ihres sechzehnten Geburtstages hatte sie ihre sämtlichen Freundinnen auf goldumränderten Karten eingeladen . Keine Nachmittagsschokolade mit Baisertorte - o nein , ein regelrechtes Lämmerhüpfen mit richtigen Herren ! Trotzdem Irmgard noch in die Schule ging , tat sie schon ganz so wie eine junge Dame . Sie war ein großes , schlankes Mädel mit kastanienbraunem Haar , braunen Rehaugen und pfirsichblütenem Teint . Das sah alles sehr hübsch aus , weniger hübsch aber war es , daß keiner mehr von Irmgards Schönheit überzeugt war als sie selbst . Der Zug unter dem feinen Näschen zu den Mundwinkeln hin verriet es deutlich : " Ich bin bildhübsch , ich gefalle jedem , selbst die Leute auf der Straße sehen sich nach mir um . " Gegen ihre Freundinnen war Irmgard ziemlich hochfahrend und herrschsüchtig . Aber da sie schon fast ganz lange Kleider trug und die Haare bereits zum Nest am Hinterkopf gesteckt hatte , ordneten sich die anderen ihr willig unter . Irmgard von Buschen war tonangebend in der Oberklasse . Während der Unterrichtsstunden freilich nicht . Herrgott , da hatte sie wirklich an anderes zu denken als an schlesische Dichterschulen und unregelmäßige Verben ! Es hatte große Aufregung in der Oberklasse geherrscht , wen Irmgard wohl alles einladen würde . Manches Mädchenherz hatte heimlich bang geschlagen , denn wer mit Irmgard von Buschen verkehrte , gehörte zu den Vornehmen in der Klasse . Manche Empörung und manches Sichzurückgesetztfühlen hatten die goldumränderten Kärtchen ausgelöst , aber auch freudigen Stolz , ungeduldige Erwartung und wichtige Kleiderfragen . Selbst Olly , die häßliche Olly Hildebrandt , die fast alle in der Klasse über die Achsel ansahen , und über die man sich heimlich allgemein lustig machte , war gebeten . Allerdings nur nach heftigem Kampfe mit Irmgards Mutter . Das Töchterchen wollte durchaus nur Senta und Rudi , wenn der auch eigentlich noch ein grüner Junge war , zu ihrem Geburtstag einladen . Aber das gab Frau Hauptmann von Buschen nicht zu . So konnte man Kommerzienrats nicht vor den Kopf stoßen . " Ach die " - machte Irmgard und warf die Lippen auf , " die setzen Olly ja selbst am meisten zurück . " Aber sie drang diesmal nicht mit ihrem Willen durch . So mußte auch Olly sich an dem bewußten Sonnabend in Gala werfen . Irmgard hatte ihr mit der Einladung gar keinen Gefallen getan . Nirgends fühlte sie sich unglücklicher , täppischer und von der Natur mehr vernachlässigt als unter lachenden , hübschen jungen Mädchen . Und nun noch gar mit richtigen Herren ? Das , was Sentas Backfischherz mit hellem Jubel erfüllte , war ihr eine Quelle Vorausempfundener Demütigungen . Keiner würde mit ihr tanzen - sicher nicht - ach Gott , sie konnte es ja auch niemandem verdenken ! Unter diesen Gedanken machte Olly Toilette . Inzwischen saß Senta vor dem Spiegel und ließ sich von Fräulein Arnold frisieren . " Süß " war Fräulein Arnold , so hatte sich noch keine Hausdame ihrer angenommen . Fräulein Arnold setzte ihren Stolz darein , ihr Pflegekind als eine der Schönsten herauszuputzen . Dreimal hatte sie ihr das Blondhaar wieder gelöst , immer noch war es nicht ganz zur Zufriedenheit . Senta wollte heute durchaus keine Hängezöpfe haben , was sollten die " richtigen Herren " wohl davon denken ! Die Defreggerfrisur , wie Olly sie zu tragen pflegte , machte ihr rundes , frisches Gesichtchen zu breit . Aber jetzt , das lose Nest , das Fräulein Arnold ihr am Hinterkopf graziös aufgesteckt , stand ihr famos - genau wie Irmgard von Buschen war sie frisiert - das war das Schönste dabei ! Sie mußte Fräulein Arnold noch ganz schnell , trotzdem es schon recht spät war , einen Kuß dafür geben . " So , Olly , nun komme du her " , die Hausdame wandte sich zur älteren Schwester . " Ich bin schon fertig " , antwortete Olly abweisend und steckte sich die letzte Nadel in die dunklen Zöpfe . " Was - ohne Spiegel - ist mir denn so was vorgekommen - und die Haare glatt aus der Stirn gestriegelt , da mußt du ja so - - - " beinahe hätte Fräulein Arnold gesagt " so häßlich aussehen " , aber sie hatte es noch schnell heruntergeschluckt . Olly wußte , daß ihr keine Schmeichelei zugedacht gewesen war , das machte ihre dunklen Augenbrauen noch finsterer . Senta schlüpfte in das neue hellblaue Kleid und drehte sich den Kopf fast vor dem Spiegel aus , um sich von allen Seiten zu begucken . Diesmal war selbst Fräulein Arnold zufrieden . Allerliebst sah das Mädchen aus , und als sie ihm noch den Vergißmeinnichtkranz in das Blondhaar gesteckt , warf sogar Olly einen heimlich bewundernden Blick zu der Schwester hin . Sie selbst hatte ihr schon etwas ausgewachsenes weißes Kleid angelegt . Dasselbe ließ ihre langen Gliedmaßen noch scharfkantiger erscheinen , außerdem sah sie heute besonders blaß aus , die Unlust schaute ihr aus den Augen , während Senta vor Aufregung glühte . " Flink noch den Apfelblütenkranz , Olly " , drängte Fräulein Arnold , da diese bereits in den Abendmantel schlüpfen wollte . " Ich will keine Blumen " , wehrte sich das junge Mädchen , denn es fühlte , daß jeder Aufputz seine Häßlichkeit nur noch mehr hervortreten lassen würde . Aber diesmal gab Fräulein Arnold nicht nach . Das sollten sie bei Hauptmanns nicht sagen , daß sie die eine der anderen vorzog . Hatte Senta einen Kranz im Haar , mußte Olly auch einen tragen . Es kam zu einem regelrechten Krach zwischen der Hausdame und dem Backfischchen . Olly weinte , was ihr Aussehen nicht verschönte . Längst war das Automobil vorgefahren . Rudi trommelte ungeduldig gegen die Tür des Mädchenstübchens . Da ließ sich Olly schließlich mit den ungezogenen Worten : " Der Klügere gibt nach " , widerwillig den rosigen Blütenkranz um die festgeflochtenen schwarzen Zöpfe legen . Einen Augenblick schwankte Fräulein Arnold . Sollte sie ihr den Kranz nicht doch lieber wieder abnehmen ? Ihr Schönheitsgefühl riet es entschieden , aber nein - der Trotzkopf durfte nicht recht behalten ! Das auto brachte die drei in kurzer Zeit nach Charlottenburg , wo Hauptmann von Buschen wohnte . Die meisten waren schon versammelt , man sah es an den dichtbehangenen Garderobenhaken . Ein Riesenpfeilerspiegel warf die Gestalten der Hildebrandtschen Schwestern zurück . Auch Olly sah sich plötzlich ihrem Spiegelbild gegenüber . Und was sie da neben der zierlichen , blauen Senta erblickte , war so niederschmetternd , daß sie am liebsten dem beim Ablegen helfenden Burschen ihren Mantel wieder aus den Händen gerissen hätte und davongelaufen wäre . Aber es war schon zu spät . Die Türen wurden bereits geöffnet , strahlende Helle flutete von der Kristallkrone ihnen entgegen . Eine tiefe Falte in der Stirn , so schritt Olly hinter Senta auf die sie freundlich bewillkommende Irmgard zu . " Sentachen , so spät , aber entzückend siehst du aus - Tag , Olly , der Kranz steht dir famos ! " Irmgard mußte sich schnell einer anderen zuwenden , sonst hätte sie der ihr einen finsteren Blick zuwerfenden Olly geradezu ins Gesicht gelacht . Wie konnte die sich bloß noch obendrein so entstellen ! Senta begrüßte in ihrer ungezwungenen Liebenswürdigkeit und in dem die Stimmung hebenden Bewußtsein , eine der Hübschesten zu sein , ihre Schulkameradinnen . Sie war allgemein beliebt und hatte viele Freundinnen . Auch Olly reichte einem jeden der ihr bekannten Mädel mit mißtrauischem Gesicht die Hand . Kicherten die da nicht hinter ihr her ? Der lange Backfisch fühlte die Blicke der Herren , unter denen die Leutnantsuniform vorherrschte , wie scharfe Messerstiche . Die Vorstellung begann . Senta kannte einen Teil der jungen Herren von der Eisbahn und vom Tennis her , Olly hatte sich stets von allem Sport zurückgehalten . Mit gerunzelten Augenbrauen nickte sie , an Stelle des lieblichen Lächelns von Senta , wie ein Droschkengaul bei den Verbeugungen der Herren kurz und böse mit dem Kopf . " Ääh - merkwürdiger Balg - wer ist denn diese exotische Schönheit ? " lachte ein blutjunger Leutnant zu dem gerade neben ihm stehenden Jüngling . " Das - das " - der Jüngling errötete wie ein Mädchen - " das ist meine Schwester ! " Deibel auch , brachte einen diese abscheuliche Olly selbst hier in Verlegenheit ! Rudi warf ihr gerade keinen sehr freundlichen Blick zu . Der Leutnant machte ein nichts weniger als schlaues Gesicht . " Oh - ääh - nettes Ding - eh " , er wandte sich unbehaglich ab . Überall hatten sich Gruppen gebildet . Alles lachte und scherzte . Nur eine hohe Säule , ein langer , dünner Backfisch ragte stets allein aus diesem fröhlichen Beieinander heraus . Olly hatte keine Freundin . Sie mochte sich nicht den untereinander flüsternden oder mit den Herren scherzenden Mädchen aufdrängen . Wenn doch Senta sich ein bißchen mehr um sie gekümmert hätte ! Die war stets , wo das hellste Lachen erschallte . Aber sie , Olly , war doch schließlich die ältere ! Eine Schande , daß sie von der kleineren Schwester unter die Flügel genommen werden wollte . Was sollte sie denn bloß hier ? Immer finsterer wurde Ollys Blick . " Wie findet ihr bloß die Ungerechtigkeit von der Langer ? " - " Katchen , wieviel Fehler hast du denn im Extemporal ? " - " Literatur bei Müller war doch wieder himmlisch " - so schwirrten die Mädchenstimmen durcheinander . " Ach , laßt doch wenigstens heute die dummen Schulgeschichten ! " Irmgard genierte sich vor ihren richtigen Herren . " Irmchen , " Mama winkte dem als Mittelpunkt glänzenden Geburtstagskind , " du mußt dich mehr um Olly Hildebrandt kümmern , sie steht immer abseits . " " Ich wollte sie nicht einladen , nun mag sie sich meinetwegen mopsen ! " flüsterte die junge Wirtin recht wenig gastfreundlich . Der gute Papa sprang ein . Er gesellte sich zu dem verlassen dastehenden jungen Ding und richtete freundliche Fragen an sie . Aber Olly war scheu und unzugänglich . Sie hatte solchen Respekt vor dem Herrn Hauptmann , daß sie kaum zu antworten wagte . Das rote Gesicht des Herrn Hauptmanns schwitzte wie bei der anstrengendsten Rekrutenübung . Hole es dieser und jener - ein Jüngerer würde schon eher den richtigen Ton mit der schwierigen jungen Dame finden ! " St - von Treuenfels , sind Sie schon Fräulein Olly Hildebrandt vorgestellt ? Gute Unterhaltung , meine Herrschaften ! " Ein auffordernder Blick des Vorgesetzten belehrte den jungen Leutnant darüber , was man von ihm erwartete . Es war derselbe , der sich Rudi gegenüber so schmeichelhaft über Olly geäußert hatte . Jetzt drehte er wütend an seinen winzigen Schnurrbartspitzchen . Wetter auch - so viele allerliebste Mädchen gab es hier , und er mußte gerade zu diesem greulich schwarzen Riesenbackfisch abkommandiert werden ! " eh - gnä Fräulein , gehen wohl gern in Gesellschaft ? " eröffnete er als gehorsamer Soldat das Gespräch . Das gnädige Fräulein stieß ein ungnädiges " Nee ! " heraus . Verblüfft sah der kleine Leutnant drein . " Pyramidales Mädel , Fräulein Irmgard von Buschen , finden gnä Fräulein nicht ? " " Ich weiß nicht , was pyramidal ist " , brummte Olly nach einigen Sekunden angestrengten Nachdenkens . " Hü-ü-it- " der Leutnant stieß einen merkwürdig pfeifenden Ton durch die Zähne - also nicht nur bildhäßlich , sondern auch grützdämlich ! " eh - eh - pyramidal - eh - das ist eben pyramidal , dafür hat die deutsche Sprache kein anderes Wort " , ließ er sich dann zu einer Erklärung herbei . Wieder eine Pause . " Spielen gnä Fräulein viel Tennis ? " " Nee " , Olly war der Mensch mit seiner ewigen Fragerei lästig . " Aber tanzen tun Sie doch gern ? " Erwin von Treuenfels trällerte einen bekannten Walzer . " Ich weiß nicht " , es war ja die erste Backfischgesellschaft , die sie mitmachte . Auch dem kleinen Leutnant schien es heiß und schwül zu werden . Er , der solch ein gewandter Gesellschafter war , sollte mit seiner Unterhaltungskunst hier von diesem unausstehlichen Backfisch kampfunfähig gemacht werden ? Ob er einfach fahnenflüchtig wurde und zu einer kleinen Schönen desertierte , die ihn besser zu würdigen verstand ? Aber da drüben stand Hauptmann von Buschen , der gestrenge Vorgesetzte , der paßte ihm scharf auf die Hacken . Na , zu seinem Vergnügen war er ja schließlich auch nicht hier , also neuer Sturm auf die Festung . " Welches ist denn Ihre beste Freundin ? " Darauf würde sie doch wohl anbeißen . " Herrgott , seien Sie doch nicht so neugierig ! " entfuhr es Olly , die nicht gewöhnt war , sich zu beherrschen , unliebenswürdig . Was ging denn das den an , daß sie keine einzige Freundin besaß , sie drehte dem zudringlichen Menschen den Rücken . Ganz perplex sah Leutnant von Treuenfels ihr nach . Abgeblitzt - er - und noch dazu von einem Schulmädel , von einem so reizlosen , dummen Ding , zu dem er sich herabgelassen hatte - das war ihm denn doch noch nicht passiert . Aber wenigstens war er jetzt aller Pflichten ledig und konnte seine geknickten Lebensgeister bei dem allerliebsten Vergißmeinnicht drüben wieder auffrischen . Lachend erzählte er ihr von der geistreichen Unterhaltung mit jener dürren Zitrone - na , die da , die da drüben mit den angeklebten schwarzen Haaren , kannte das gnädige Fräulein die nicht ? Sentas rote Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer , dann wurde sie blaß . Ob sie die heikle Frage nicht am besten überhörte ? Es war solch ein lustiger Mensch , der Leutnant von Treuenfels , er behandelte sie schon ganz wie eine Dame , aber wenn er wußte , wer die " dürre Zitrone " war ? Ach was , sie verleugnete Olly einfach . Das wäre auch ganz gut gegangen , wenn man nicht manchmal sogenannte Freundinnen besäße , die einem nur zu gern eins auswischen . Lotte Ecket , die gerade verkündete : " Kinder , mein Aufsatz wird diesmal famos ! " unterbrach plötzlich ihre Schulunterhaltung mit den Mädeln . Glücklich , daß sie Senta , die mehr Triumphe feierte als sie selbst , demütigen konnte , mischte sie sich mit scheinheiligem Gesicht ins Gespräch . " Du , Senta , ich glaube , der Herr Leutnant meint deine Schwester Olly " , sagte sie mit erhobener Stimme . " Wie - was ? " der kleine Leutnant stand entgeistert da . War er heute etwa schon das zweitenmal hereingeplumpst ? Senta bis sich wütend auf die Lippen . Na warte , Ekartchen , das vergessen wir dir nicht , das streichen wir dir ein anderes Mal wieder an ! Das Blondchen nahm all seine Geistesgegenwart zusammen . " Ach , ich glaubte , Sie meinten das junge Mädchen daneben - die Große , die ist allerdings meine Schwester . " Sie lachte , wenn es auch etwas gekünstelt klang . " eh - selbstverständlich sprach ich von der anderen jungen Dame . " Der arme kleine Leutnant ergriff mit beiden Händen den rettenden Strohhalm , den Senta dem unter der kalten Wasserdusche Ertrinkenden mitleidig reichte . Aber er konnte sich doch nicht enthalten , sich noch einmal zu vergewissern : " Irren sich gnä Fräulein auch bestimmt nicht - eh - keine Spur von Ähnlichkeit , kaum denkbar ! " Er verglich das rosige Gesichtchen vor ihm mit dem gelblichen der anderen - und wieder schüttelte er hilflos den Kopf . Es sah so komisch aus , daß Senta hell auflachen mußte . Mein Gott , sie war doch auch schließlich nicht für ihre Schwester verantwortlich , was konnte sie denn dafür , wenn Olly so mordsmäßig häßlich war ! Olly stand wieder allein irgendwo herum und zählte mechanisch die Sterne in dem Teppichmuster . Da trat jemand hinter sie . " Ein Fichtenbaum steht einsam " - erklang es lächelnd . Sie wandte jäh den Kopf . Ihr blasses Gesicht wurde rot . " Wolfgang Steinhardt " - sie hatte ja keine Ahnung davon , daß er bei Buschens verkehrte . Er lachte über ihr backfischmäßiges Erröten . " Selbst hier abseits von dem lustigen Kreis , Olly , das ist nicht recht ! Warum hältst du dich so zurück ? " " Weil ich häßlich und unliebenswürdig bin , weil ich anders bin wie die lachenden Mädel da ringsum " , ihre Lippen sprachen es nicht aus , nur ihre trübseligen Augen verrieten es . Er blickte sie gutmütig an . " Kopf hoch , Olly , sei doch fröhlich unter den Fröhlichen , und wenn du noch ein übriges tun willst , gehe in die Garderobe und nimm dir das Kuhfutter aus dem Haar , es steht dir nicht " , sagte er ehrlich . Jedem anderen hätte Olly sicherlich eine schroff abweisende Antwort gegeben . Aber Wolfgang Steinhardt gegenüber wollten ihr unfreundliche Worte nicht über die Lippen . War er doch der einzige , der sich ab und zu ihrer ein wenig annahm . Sie kam sich jetzt nicht mehr ganz so verlassen unter der lachenden Jugend vor . Aber gerade , als er ihr einen Sessel gebracht und sich einen Stuhl dazu schob , um ein wenig mit ihr zu plaudern und das arme Ding ein bißchen aufzuheitern , wurden seine beiden Hände lebhaft von hinten ergriffen . Und eine lustige Mädchenstimme rief : " Wölfchen Steinhardt , hast du bis jetzt Maschinen schmieren müssen , da du als letzter auf der Bildfläche erscheinst ? " Lachend wandte sich Wolfgang um . " Potztausend , Sentchen ! " Mehr sagte er nicht . Ungeniert packte ihn Senta beim Arm . " Komme , Wolfgang , ich muß dich meinen Freundinnen vorstellen , sie sind schon furchtbar neugierig auf dich ! " Sie zog ihn mit sich fort . Und er , er dachte auch mit keinem Gedanken mehr daran , daß da hinter ihm ein blasses Mädel mit Augen , in denen ungeweinte Tränen brannten , zurückblieb . Der junge Herr Diplomingenieur Wolfgang Steinhardt war seit einem Jahre in der Hildebrandtschen Maschinenfabrik tätig . Durch seine Tüchtigkeit und Intelligenz hatte er sich bald unentbehrlich gemacht . Da er außerdem der Sohn von einem Jugendfreunde des Kommerzienrats war und von früh auf mit den Hildebrandtschen Kindern befreundet , kam er als häufiger Gast in die Rokokovilla . " Herr Diplomingenieur Steinhardt , unser Freund - meine Freundinnen " - und nun folgte die Herzählung sämtlicher Loten , Ediths , Gretchen und Katchen , daß es dem Herrn Ingenieur davon wie ein Maschinenrad im Kopf brummte . Die Senta hatte doch wirklich ein unverschämtes Glück . Nicht nur , daß sie als Kommerzienratstöchterlein auf die Welt gekommen , jetzt konnte sie sich sogar mit einem Freund , der schon fünfundzwanzig Jahre alt war , vor den Schulkameradinnen brüsten . Und hübsch und stattlich war er überdies noch , das " Wölfchen " . Er gefiel allen mit seiner schlanken , großen Figur , den hellbraunen Haaren , dem kühn geschnittenen Profil und den guten , blauen Augen . Nur Lotte Ecket flüsterte ihrer Intima Edith zu : " Pff - das ist der berühmte Herr Ingenieur , der hat ja einen Buckel auf der Nase , und seinen Schnurrbart trägt er nicht Mal amerikanisch - pff - - - - " Sie hatte es nicht allzu leise geflüstert , damit Senta es auch hören sollte . Aber als sich der Herr Ingenieur jetzt mit lachendem Gesicht dem jungen Dämchen zuwandte : " Lieben das gnädige Fräulein mehr Vollbart oder englischen Backenbart ? " da saß sie blutübergossen wie ein kleines ertapptes Schulmädel da . Inzwischen hatte sich Olly still und unauffällig aus dem Zimmer geschlichen . Es war jetzt leer in der Garderobe . Wäre es nicht das Gescheiteste , sie nahm ihren Mantel und fuhr mit einer Elektrischen nach Hause ? Wem tat sie einen Gefallen , wenn sie blieb ? Weder sich selbst noch den anderen . Aber nein - was würden Irmgards Eltern davon denken ! Olly löste den Apfelblütenkranz aus ihrem Haar und schleuderte ihn in eine Ecke . So - nun sah sie doch wenigstens nicht häßlicher aus als sonst . Dann mischte sie sich wieder unter die Gesellschaft . Die Wirtin bat gerade zur Tafel . Man hatte es sich leicht gemacht und keine Tischordnung vorgeschrieben . " Freie Wahl " hieß es . Im Nun waren die hübschesten und lustigsten Backfische geangelt . Noch ehe der kleine Leutnant von Treuenfels seine Verbeugung vor Senta machen konnte , hatte Wolfgang schon ganz selbstverständlich ihren Arm durch den seinen gezogen . Senta war eigentlich nicht sehr erbaut davon , Wolfgangs Gesellschaft konnte sie doch öfters genießen , und im Grunde genommen , behandelte er sie doch noch meistens wie ein richtiges Jör . Aber schließlich das stolze Gefühl , mit dem man antworten konnte : " Ich bedaure , ich bin schon versagt " , das war doch auch was wert . Ein Paar nach dem anderen spazierte an Olly vorüber , die den Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzog . Daß es nur keiner merkte , wie zurückgesetzt sie sich wieder vorkam , wie das da drinnen im Herzen weh tat . Ja , hatte sie denn wirklich im Ernst gedacht , daß Wolfgang - Wolfgang Steinhardt sie zu Tisch auffordern würde ? Ganz recht war ihr diese Enttäuschung , weshalb hegte sie auch solche anmaßenden Gedanken ! Und Olly lächelte weiter , krampfhaft und weinerlich . Ein Paar nach dem anderen - es leerte sich im Zimmer . Wolfgang und Senta schritten an ihr vorüber , ersterer nickte ihr zu , aber kein Gegengruß wurde ihm . Einen Augenblick schwankte der junge Ingenieur . Sollte er das arme Mädel nicht mit zu seiner Linken nehmen ? Aber noch waren ja Herren da , er störte dadurch vielleicht nur die Paare . Ein einziger Herr noch , der kam sicher zu ihr - es war zwar der etwas einfältige Vetter Irmgards , aber was tat das , nur nicht sitzenbleiben ! Nur nicht aller Augen mitleidig-spöttisch auf sich gerichtet sehen ! Jetzt war er schon ganz dicht vor ihr , Olly versuchte ein möglichst freundliches Gesicht zu machen , aber nein - er verbeugte sich vor dem kurzen , rundlichen Annchen , das wie ein Pfannkuchen aussah , aber stets von einem Ohr zum anderen lachte . Sie war allein . Übriggeblieben ! Wie durch einen Tränenschleier sah sie die lachenden und schwatzenden jungen Menschen drinnen an blumengeschmückter Tafel . Da trat Heini , Irmgards kleiner Bruder , der eigentlich noch gar nicht hatte aufbleiben sollen , auf sie zu . Der hoffnungsvolle Tertianer verbeugte sich ritterlich . " Darf ich bitten ? " Olly tat , als ob sie den gebotenen Arm ihres niedlichen kleinen Kavaliers nicht sähe . Mit niedergeschlagenen Augen schritt sie neben ihm in das Speisezimmer . Wie sie lachten , wie sie tuschelten - sicherlich über das merkwürdige Paar ! Der Knirps in kurzen Hosen reichte seiner langen Dame ja kaum bis zur Schulter . Mit drohendem Blick hob Olly die Augen und ließ sie über die Tafelrunde schweifen . Aber da schien gar keiner auf sie acht zu geben . Jeder lachte und amüsierte sich mit seiner Tischdame . Heini war ein liebes , aufgewecktes Jungchen . Wäre Olly nicht so mit Bitterkeit angefüllt gewesen , hätte sie sich sehr gut mit ihm unterhalten und amüsieren können . So aber gab sie dem armen kleinen Kerl , der eifrig bemüht war , ein Gespräch mit seiner großen Dame , auf die er sehr stolz war , in Gang zu bringen , so schroffe und kurze Antworten , daß Heini ganz erschrocken verstummte . Er zog es vor , sich mit den Leckerbissen auf seinem Teller zu beschäftigen , anstatt mit seiner unliebenswürdigen Tischdame . Olly saß wieder mitten in den fröhlichen Wogen jugendlichen Übermuts , wie auf einem einsamen Eiland , unbeachtet , ausgestoßen . Der Herr zu ihrer Rechten war Leutnant von Treuenfels , der hatte noch genug von der Unterhaltung mit ihr . Gerade gegenüber aber hatte ein tückischer Zufall Wolfgang und Senta die Plätze angewiesen . Jedes Wort , das die beiden miteinander sprachen , es waren fast nur ausgelassene Neckereien , mußte Ollys Ohr auffangen . Das helle Lachen des blonden Vergißmeinnichts wurde zum Tränenknäuel , das dem dunkelhaarigen Mädchen die Kehle fast zusammenschnürte . Es rührte die Speisen kaum an , unausgesetzt starrte es auf den Fuß seines Bowlenglases . " Prosit , Olly ! " Wolfgang hob das Glas gegen sie . Sie sah nicht auf , sie tat , als ob sie taub wäre . Nanu - was hatte er ihr denn getan , daß sie mit ihm maulte ? In seiner ausgelassenen Stimmung raffte er einige Blüten zusammen , mit denen die Tafel geschmückt war , und zielte nach ihrer Nase . " Schläfst du , Olly - prosit ! " Senta amüsierte sich köstlich , Olly aber rief mit funkelnden Augen : " Das verbitte ich mir ! " " Herrjeh , friß mich nur nicht gleich - " , ganz erstaunt sah er ihre empörte Heftigkeit . Was hatte das Mädel denn nur heute ? Sie kamen doch sonst ganz gut miteinander aus ! Junges Volk will nicht lange tafeln , sondern tanzen . Kaum , daß die Eisspeisen und der Toast auf das Geburtstagskind , den ein junger Student in Versen hielt , genügend gewürdigt wurden . Die Mädchenfüße in den ausgeschnittenen Schuhchen zuckten bereits im Walzertakt . Eins , zwei , drei , waren die Tische an die Seite geräumt . Irmgards schon etwas ältere Kusine , die eigentlich gar nicht mehr zu der " Babygesellschaft " hatte kommen wollen , saß am Klavier und spielte die Walzer aus den neuesten Operetten . Junge , tanzfreudige Gesichter erglühten im wiegenden Reigen . Jeder tanzte , wie es die Sitte vorschrieb , zuerst mit seiner Dame . Heini wußte , was sich gehörte . Er schwenkte seine lange Bohnenstange , die sich nur widerwillig drehte , mit Anspannung all seiner kräftigen Jungenmuskeln im Zimmer herum , krebsrot sah der kleine Kerl von der Anstrengung aus . Jetzt lachte man wirklich über das ungleiche Paar . Weder versteckt noch spöttisch , sondern ganz harmlos und öffentlich . Aber Olly hatte nicht die Gabe , in das lustige Gelächter , das weniger ihr als dem Kleinen galt , mit einzustimmen . Sie war bitterböse und riß sich von ihrem Dreikäsehoch unwirsch los . Walzer , Polka , Rheinländer - je lustiger die Weisen erklangen , um so finsterer wurden Ollys Züge . Sie saß an ihrem Stuhl wie angeleimt , keiner holte sie zum Tanz . " Na , Ollychen , wir wollen uns wieder vertragen " , Wolfgang Steinhardt streckte die Hand aus , um sie zum Walzer fortzuziehen . Olly blieb steif wie eine Holzpuppe sitzen . " Ich danke " , sagte sie mit zuckenden Lippen . Und wenn sie den ganzen Abend keinen Schritt tanzte , nein , aus Gnade nahm sie nichts ! " Wie - was - was soll denn das heißen , laß doch die Kindereien , Olly . " Er schien wirklich ärgerlich . " Das soll heißen - daß - daß - daß ich mit Ihnen nicht tanzen will ! " Ihre Stimme klang heiser vor Erregung . Sie sagte plötzlich zu ihm , den sie doch seit ihren ersten Lebensjahren kannte und duzte , " Sie " . Da lachte der Herr Diplomingenieur wieder . " Kindskopf ! " sagte er und drehte sich um . Den ganzen Abend sah er sie nicht mehr an . Das hatte sie nun davon . Hauptmann von Buschen sorgte dafür , daß sie nicht völlig an ihrem Stuhl festwuchs . Er schickte all seine Leutnants nacheinander " an das schwere Geschütz " , wie die boshaften Jünger des Mars sein Kommando nannten . In der Tat , Olly tanzte nichts weniger als graziös . Sie hatte im vorigen Winter mit Senta Tanzstunde gehabt , aber während sich letztere leichtfüßig wie ein Elflein drehte , wußte die Schwester mit ihren langen Beinen und großen Füßen nicht recht was anzufangen . " Olly watschelt wie eine Ente , sieh nur , Wölfchen " , machte die spottlustige Senta ihren Herrn auf die Vorübertanzende heimlich aufmerksam . " Das häßliche junge Entlein ! " entfuhr es Wolfgang Steinhardt . " Hahaha - das muß ich ihr heute noch erzählen , das häßliche junge Entlein - haha - au weh , die wird mir die Augen auskratzen " , lachte Senta ausgelassen . Wolfgang packte Senta beim Handgelenk . " Das wirst du nicht tun " , sagte er sehr ernst , wie er sonst nie mit ihr zu reden pflegte . " Versprich mir , daß du schweigen wirst ! Das wäre brutal gegen das arme Ding , es war nicht hübsch von uns , aber - es trifft den Nagel auf den Kopf ! " Es wurde Senta schwer , Wolfgangs Worte zu befolgen . Sie ärgerte Olly zu gern . Aber ihren Freundinnen mußte sie den ulkigen Beinamen , den Wölfchen für die Schwester gefunden , unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich noch an demselben Abend anvertrauen . Lachend und unbedacht fliegt uns oft ein Spottname von den Lippen . Aber das kleine , leichte Wort wächst , es wächst von Tag zu Tag , und der andere hat oft sein Leben lang an der schweren Last dieses Namens zu schleppen . Bald hieß Olly in der ganzen Klasse nur noch " das häßliche junge Entlein " . 3. Kapitel . Der deutsche Aufsatz Olly ahnte nichts von diesem Spitznamen . Sie hatte sich daran gewöhnt , daß die Schulkameradinnen ihre Glossen über sie machten . Verstockt und verschlossen war sie auch in der Schule . Sogar in den Stunden , den Lehrern gegenüber . Es lohnte ihr nicht , wenn sie selbst eine Antwort wußte , sich dazu zu melden . Stumpf und teilnahmlos saß sie auf ihrem Platz . Und da ihre Gedanken meistens abliegende , trübselige Wege wanderten , hörte sie oft gar nicht die Worte des Lehrers . Dann wurde sie natürlich wegen Unaufmerksamkeit und mangelnden Fleißes getadelt . Das aber empfand die gekränkte Olly wieder als eine Ungerechtigkeit - selbst hier in der Schule setzte man sie zurück ! Trotzdem Senta fast ein ganzes Jahr jünger war als Olly , saß sie über der Schwester . Zuerst war das recht demütigend gewesen , aber auch daran hatte sie sich schließlich gewöhnt . Sie wurde nicht mehr rot , wenn die Lehrer sagten : " Olly Hildebrandt , nehmen Sie sich an der Schwester ein Beispiel ! " Ob Senta " sehr gut " unter einer Arbeit hatte und sie " noch nicht genügend " , das war ihr alles ganz gleichgültig . Aber heute hatte sie zum erstenmal wieder eine sogenannte Ungerechtigkeit in Empörung gebracht . Die deutschen Aufsätze waren zurückgegeben worden . Senta war kein besonders begabtes , nur ein fleißiges und ziemlich ehrgeiziges Mädel . Der häusliche Aufsatz war immer eine wahre Tortur für sie . Da saß sie in ihrem netten Zimmer , den hübschen Blondkopf in die Hand gestützt , mit gefurchter Stirn vor dem unbeschriebenen Bogen , sah den rußgeschwärzten Spatzen nach , die vorüberflatterten , und zerbiß ihren Federhalter . Da bei dieser Tätigkeit aber wenig Gedanken zutage gefördert wurden , so bat sie mit ihrer liebenswürdig schmeichelnden Art einen jeden , der ihr in den Weg lief , ihr zu helfen . Wenn Papa mittags aus der Fabrik herüberkam , mußte er ganz schnell nur Mal den Anfang sagen , weil der doch immer das schwerste ist . Fräulein Arnold beim Einkochen der Gläser mit Obstmarmeladen , Rudi bei seinen Horazschen Oden , sie alle mußten unbedingt ihrer armen , verzweifelten Senta das schwere Dasein erleichtern und ihr ein paar Brocken zu ihrem Aufsatz stiften . Selbst Wolfgang lauerte das kleine , blondhaarige Hexlein auf , der wußte immer solchen feinen Schluß . Aus diesen milden Brosamen und wenigen eigenen hinzugefügten Ingredienzien fabrizierte Senta dann geschickt ein ganz schmackhaftes Aufsatzragout . Auch der heutige Aufsatz war unter gütiger Mitwirkung zustande gekommen . Strahlend blickte Senta auf ihr in roten Lettern darunter prangendes " Gut " . Olly hatte ihr Heft noch nicht zurückerhalten . Sie war niemals neugierig auf das Resultat einer Arbeit . Trotzdem sie entschieden geistig mehr veranlagt war als Senta , gab sie sich keine Mühe , nachzudenken . Meistens schmierte sie den Aufsatz am letzten Abend nur so herunter , gar nicht erst in Unreine , sondern gleich ins Heft . Die Arbeit sah dann schon äußerlich so unsauber und flüchtig aus , daß sie selten , trotzdem vielleicht hin und wieder ein netter Gedanke zutage trat , als genügend bezeichnet werden konnte . Heute aber war Olly begierig auf die Kritik ihres Aufsatzes . Zum erstenmal hatte sie sich damit Mühe gegeben . Das Thema hatte sie merkwürdig angezogen . Es lautete : " Was du nicht willst , das man dir tu , das füg auch keinem anderen zu . " Es war ihr , als ob dieses Wort ihr geradezu aus der Seele gesprochen wäre . All das Weh , das ihr Spott und Demütigungen je bereitet , stieg in ihr auf . Gedanken kamen und scharten sich um sie , sie brauchte nur aus der Fülle die besten herauszugreifen und aneinanderzufügen . Der Aufsatz war ihr keine Arbeit , sondern ein endliches Aussprechen zurückgedrängter Empfindungen . Denn Olly war über ihre Jahre ernst geworden . Und nun hielt Doktor Müller ihr durch den roten , marmorierten Deckel schon äußerlich kenntliches Heft in der Hand . " Olly Hildebrandt - ungenügend ! " Das junge Mädchen starrte den Lehrer geradezu fassungslos an . Das hatte sie nicht erwartet ! " Sie wundern sich darüber , wie mir scheint , ebenso wie ich mich über Ihren Aufsatz gewundert habe . Und wie sich vielleicht auch Ihre Angehörigen , die Ihnen bei der Arbeit geholfen haben , über das Resultat wundern werden . Der Aufsatz an und für sich hätte zweifellos " sehr gut " verdient , es ist eine reife Arbeit . Aber da ich nicht die Gedanken Ihres Vaters , oder wer den Aufsatz sonst für Sie gemacht hat , über das gegebene Thema wissen will , sondern Ihr eigenes Können , ist die Arbeit für mich ungenügend ! " Olly warf den Kopf mit den schweren , dunklen Zöpfen empört zurück . Ein verächtliches Lächeln kräuselte ihre Lippen . Senta , die sich den Aufsatz hatte machen lassen , bekam " gut " , und sie , der kein Mensch daran dachte zu helfen , " ungenügend " , weil man es ihr nicht zutraute . Sie hätte dem Lehrer am liebsten ins Gesicht gelacht . " Ja , Mädchen , sind Sie denn ganz und gar nicht gescheit ! Noch obendrein solch ein impertinentes Gesicht zu machen ! Setzen Sie sich auf den letzten Platz ! " fuhr Doktor Müller Olly aufgebracht an . Olly war das Lachen vergangen . Auch die anderen machten entsetzte Mienen . Eine derartige Strafe pflegte in der Ja nicht mehr vorzukommen . Schweigend nahm sie den schmachvollen Platz ein . Nein - sie brachte es nicht über sich , sie vermochte es nicht , dem Lehrer frei und offen zu sagen , daß sie selbst sich das " sehr gut " erarbeitet hatte . Pah - wozu ? Man würde ihr ja doch nicht glauben . So ging es ihr ja nicht nur in der Schule , auch daheim , überhaupt ihr ganzes Leben hindurch . Das waren häßliche Gedanken , die da hinter der Stirn des sechzehnjährigen Mädchens kreuzten , während Olly mit tränenlosem Blick auf ihr rotes Heft starrte . Senta schwankte . Zum erstenmal tat Olly ihr leid . Sie wußte ja ganz genau , daß ihr keiner zu Hause geholfen hatte . Aber warum sagte das dämliche Ding das denn nicht selbst ? Sie war doch nicht der Vormund von Olly , daß sie es dem Lehrer mitteilen mußte . . . Nee - lieber nicht , nachher kam es noch heraus , daß sie selbst den Aufsatz nicht allein gemacht hatte ! Und dann , es war auch immerhin ein beschämendes Gefühl , wenn das häßliche junge Entlein " sehr gut " hatte , und sie selbst bloß " gut " . Der nächste Tag war ein Sonntag . Das war ein merkwürdiger Tag für Kommerzienrats . Da ruhte das Rasseln , Hämmern und Lärmen , das sonst aus der Welt der Arbeit in das beschauliche Leben der Rokokovilla herüberdrang . Da war es so still , so feiertäglich : selbst die hohen Schornstein hielten den Atem an . Papa saß des Morgens gemütlich mit der Zeitung am Kaffeetisch , ohne wie sonst in sein Büro zu hetzen . Die Kinder , die an Schultagen jeder einzeln , wie sie gerade kamen , in Eile die Tasse Kakao heruntergossen , genossen heute ausgiebig das Behagen der gemeinsamen Frühstücksstunde . Nur Olly begrüßte den Sonntag nicht freudig . An keinem anderen Tage kam sie sich so verlassen vor . Da war sonst die Schule , die sie beschäftigte , und dann vor allem die Fabrik . Von klein auf war Olly mit den großen Rädern , den arbeitenden Riesenmaschinen gut Freund gewesen . Stundenlang konnte sie irgendwo in einem Winkel der Fabrikräume kauern und den ratternden Ungetümen zuschauen . Je größer das Mädel wurde , um so lebhafter interessierte es sich für das Entstehen und Zusammensetzen der gewaltigen Maschinenkörper , die aus der Hildebrandtschen Fabrik hervorgingen . Aber auch für die blassen Menschen , die da den ganzen Tag in den dunstigen Räumen zusammengepfercht bei der Arbeit hockten . Es fühlte etwas Verwandtes mit ihnen , waren sie nicht auch zurückgesetzt hinter vielen anderen , hatte das Leben ihnen nicht auch seine Gaben kärglicher zugemessen ? Freundlicher , als es sonst seine Art war , grüßte es die Arbeiter in den blauen Blusen , die bleichen Frauen , die in langen Reihen den Fabriksälen zueilten . Da waren Mädchen darunter , nicht älter als Olly selbst . Sie alle regten die Finger zur einförmigen Arbeit . Olly begann sich zu schämen . Was hatte sie denn vor ihnen voraus , daß sie hier im faulen Nichtstun dem Schaffen so vieler emsiger Hände zuschauen durfte und es trotzdem viel besser hatte als sie alle , die Fleißigen ? Besser - nein , sie hatte es nicht besser ! Weiter , als bis zu diesem Satze kam Olly nie mit ihrem Denken und Grübeln . Wie hatte neulich der Arbeiter Schulz seiner jungen Tochter , die ihm mittags das Essen in dem buntgewürfelten Zipfeltuch gebracht , liebevoll die Wangen mit den schwieligen Händen geklopft . Und das Mädel war doch auch nicht hübsch , nee , ganz im Gegenteil , mit ihrem sommersprossigen Gesicht ! Aber war ihr Papa nicht auch lieb und zärtlich zu den Geschwistern ? Ja , bei den Reichen war das wohl anders als bei den Armen . Reiche Leute sahen mehr auf das Äußere - mit solchen unverständigen Überlegungen quälte sich Olly fast täglich . Es war ein seltsames Gemisch von frühzeitig reifen und wiederum kindisch törichten Gedanken in dem schwarzhaarigen Mädchenkopf . Am Sonntag , wenn Papa sich seiner Familie mehr widmen konnte , empfand sie die innerliche Kluft , die sie von den anderen trennte , doppelt . Papa war Sonntags stets guter Laune . Er neckte Senta , interessierte sich lebhaft für Rudis Arbeiten zum Abiturientenexamen und ließ sich sogar herbei , mit Herbertchen an den Turngeräten auf dem Gartenplatz die Muskelstärke zu prüfen . Für Olly hatte er am Sonntag ganz besonders häufiges Kopfschütteln und Ermahnungen . Denn gerade in seiner heiteren Feiertagsstimmung empfand er ihr ablehnendes , unzugängliches Wesen um so störender . Nur der allwöchentliche Mittagsgast söhnte das junge Mädchen mit den Sonntagen , an denen ihm die Stunden zu schleichen schienen , aus . Dieser Sonntagsgast war Wolfgang Steinhardt . Wenn der Freund da war , stand Olly nicht mehr abseits von den anderen . Er richtete das Wort an sie , er bildete die Brücke , die sie wieder mit Papa und den Geschwistern verband . Ja , es war sogar vorgekommen , daß Olly einmal über ein lustiges Wort des jungen Ingenieurs ganz richtig gelacht hatte . Hell und jung , wie das ihren sechzehn Jahren zukam . Ganz betroffen hatten sich die anderen bei diesem ungewohnten Ton angesehen . Keiner hatte Olly seit Mamas Tod lachen gehört . Sie aber war errötend in den Garten hinausgelaufen . Heute freute sich Olly ganz und gar nicht auf den Sonntag . Nicht nur , daß sie böse auf Wolfgang war , sie war auch mit sich uneinig , wie sie ihn anreden sollte . Da sie nun einmal in ihrem Ärger " Sie " zu ihm gesagt , mochte sie nicht wieder zum " Du " zurückkehren . Nein , " du " sagte sie bestimmt nicht mehr ! Ihre Freundschaft miteinander war aus ! Und " Sie " ? Wenn er sie nur nicht neulich deswegen ausgelacht hätte ! Sie würde ihn einfach gar nicht anreden , ja gewiß , er war jetzt Luft für sie ! Als Olly herzklopfend das Wohnzimmer betrat , saß Wolfgang mit Papa im eifrigen Gespräch über eine neue Maschinenzeichnung . " 'n Tag " , brummte Olly , ohne ihm die Hand zu geben . Er merkte es in seinem Eifer gar nicht . Er redete von Rädern , Spulen und Hebeln , zeichnete und rechnete . Rudi las die Zeitung , Senta gähnte , und Herbertchen fing Fliegen . Olly hatte sich hinter Wolfgang gestellt . Sobald sie etwas von Maschinen hörte , war ihr Interesse geweckt . Sie verstand zwar durchaus nicht alles , was er da vor Papa entwickelte und zeichnete , aber sie vermochte doch immerhin einigen seiner Ausführungen zu folgen . Jetzt war er fertig . Papa nickte beifällig mit dem Kopf . Olly stand ganz vertieft da . " Wieso meinst du " - nein , sie wollte ja nicht mehr " du " zu ihm sagen - " wieso meinen Sie " - wie die anderen jetzt alle grinsten - " wieso meint man , daß diese neue Maschine die vierfache Arbeit der bisherigen leisten wird ? Das habe ich nicht verstanden " , half sie sich stotternd aus der Enge . Sie hatte es in ihrem Eifer ganz vergessen , daß sie ja nicht mehr mit Wolfgang reden wollte . " Das brauchst du auch wirklich nicht zu verstehen , Kind ; sieh lieber nach , ob wir noch nicht essen können " , sagte Papa , seine Pläne zusammenlegend . Olly entwischte aus dem Zimmer . Es war ihr ganz angenehm , daß erst einige Minuten über ihre merkwürdige Anrede verstreichen konnten , vielleicht hatte man sie inzwischen vergessen . " Tag , Olly , haben wir uns eigentlich schon begrüßt ? " empfing Wolfgang sie , als sie am Mittagstisch wieder auftauchte . " Keine Ahnung . " Olly zuckte gleichgültig die Achsel . " Es gehört sich , daß die Tochter des Hauses einen Gast freundlich bewillkommt , Olly " , mischte sich Fräulein Arnold mit leisem Vorwurf ins Gespräch . " Ich weiß allein , was sich gehört ! " begehrte das junge Mädchen , das sich schämte , getadelt zu werden , auf . " Du weißt es ganz und gar nicht , wenn du in diesem ungehörigen Ton zu Fräulein Arnold sprichst . " Auf Papas Stirn erschien die unheilvolle Falte . " Alt genug bist du allerdings , um so was zu wissen ; ich verlange , daß du dich nachher bei Fräulein Arnold entschuldigst . " Olly warf der Hausdame einen feindseligen Blick zu . Eher bis sie sich die Zunge ab , als daß sie irgend jemand um Entschuldigung bat . Olly mußte sich alle Mühe geben , daß ihr die Tränen nicht ihre Suppe versalzten . Der Augenblick der allgemeinen Beklommenheit , der einer öffentlichen Rüge stets zu folgen pflegt , war von den Wogen lustiger Unterhaltung längst davongeschwemmt worden . Olly saß mit niedergeschlagenen Augen , erregt an dem Zipfel ihrer Serviette zupfend , einsilbig da . Das häßliche junge Entlein tat Wolfgang Steinhardts gutem Herzen leid . Auch er hatte sich inzwischen daran gewöhnt , Olly in Gedanken so zu nennen , der Name paßte zu treffend auf sie . " Wölfchen , ich habe » gut « unter meinem Aufsatz , du hast auch an dem Ruhm Anteil " , berichtete Senta freudig . " Und du , Olly ? " Er benutzte die Gelegenheit , um das junge Mädel mit ins Gespräch zu ziehen . Es war ihm entgangen , daß ihre Miene sich bei Erwähnung des Aufsatzes noch verfinstert hatte . " Das geht dich - das geht Sie - das geht keinen was an ! " Die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit in der Schule machte ihren Ton noch schärfer . " Olly . . . " Der Kommerzienrat sah sie mit warnendem Blick an . " Ei , Olly , noch immer nicht von neulich ausgebogt - na , schlechter als ungenügend wird der Aufsatz ja wohl nicht ausgefallen sein " , neckte Wolfgang harmlos . Da brach das junge Mädchen plötzlich in Tränen aus , verbarg das Gesicht hinter ihrer Serviette und eilte hinaus . Verdutzt sahen sich alle an . Keiner verstand diesen plötzlichen Schmerzensausbruch . Nur Senta kannte die Ursache . Aber die mochte nicht reden . " Es ist mit dem Mädchen wirklich nicht mehr auszuhalten , ich denke allen Ernstes daran , sie in eine Pension zu tun " , meinte der Kommerzienrat sorgenvoll . " Hat sie denn » ungenügend « gehabt ? " Wolfgang wandte sich an Senta . Er versuchte sich vergeblich , den Vorgang zu erklären . Diese nickte errötend . Dann aber bekam das Gute in ihr doch die Oberhand . " Eigentlich hätte sie » sehr gut « verdient , aber Doktor Müller hat gedacht , sie hätte sich den Aufsatz machen lassen , darum hat er ihr » ungenügend « runtergeschrieben " , bequemte sie sich zu berichten . " Na , hat denn der Schafsbock Doktor Müller dabei gelassen ? " Rudi nahm es mit seinen Ausdrücken nicht genau . " Ja , natürlich - die ist doch viel zu faul und zu verstockt , um den Mund zu einer Entgegnung aufzumachen . " Senta lachte schon wieder . " Weißt du , Sentchen , ich finde , dann wäre es deine Pflicht als Schwester gewesen , dem Lehrer von dem wahren Sachverhalt Mitteilung zu machen . " Wolfgang Steinhardt sah das blonde Mädchen ernsthaft an . " Ja , Senta , das ist auch meine Meinung ! " Kommerzienrat Hildebrandt war ein durch und durch rechtlich denkender Mann . Senta war wütend . Hätte sie doch bloß geschwiegen . Das kam von ihrer Gutmütigkeit ! " Na , das fehlte mir auch noch , mir um des häßlichen jungen Entleins Willen Ungelegenheiten in der Schule zu machen ! " sagte sie und schwippte mit den Fingern . " Was - um wessen Willen - wie hast du Olly eben genannt ? " Alle , mit Ausnahme von Wolfgang , bestürmten sie mit Fragen . Der aber blickte sie mahnend , den Finger auf den Lippen , an . Wenn Wölfchen wüßte , daß die ganze Klasse Olly nicht anders mehr nannte ! " Ach - nichts - wirklich gar nichts " , versuchte sie sich herauszureden . Fräulein Arnold kam ihr zu Hilfe . " Wie wäre es denn , wenn wir nach dem Kaffee einen weiten Spaziergang in die Jungfernheide unternehmen würden ? " schlug sie vor , um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben . " Au ja " - " famos " - " jetzt im Herbst sind die Laubfarben dort besonders schön " - " wir können ja bis zum Walde das auto benutzen . " Papa lächelte über die allgemein lebhafte Zustimmung . Weiß der Himmel , Fräulein Arnold traf doch immer das Rechte . " Wenn sich Olly nicht bis zum Kaffee bei Ihnen entschuldigt hat , bleibt sie zu Haus . " Damit ging Papa in sein Zimmer , um das gewohnte Sonntagnachmittagsschläfchen zu halten . Der Gedanke an Olly verdarb ihm jedesmal seine besten Stimmungen . Wolfgang schob seinen Arm in den von Senta und Rudi und zog sie mit sich in den Garten . " Weißt du , Sentchen , gehe rauf zu Olly und rede ihr zu , sich zu entschuldigen . Damit sie nicht den ganzen schönen Nachmittag zu Hause hocken muß ! " Senta , die noch eben lächelnd neben dem Freund einherstolziert war , machte sich ungestüm los . " Nee , so stehen wir beide nicht miteinander , Olly und ich . Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten . " " Das hast du ja gestern in der Schule auch bewiesen . " Wolfgang war unzufrieden mit dem jungen Ding . " Alter Sittenprediger , du bist mir heute zu tranig ! " Damit machte das Backfischchen ihm einen schnippischen Knicks , ließ ihn stehen und jagte lachend hinter Herbertchen , der nach der Scheibe schießen wollte , her . " Wolfgang , kommst du mit ? " fragte Rudi , auf die Flinte weisend . " Nee , ich möchte mich lieber ein wenig ruhen . " Er wollte Senta bestrafen . " Rücke doch dem alten Großpapa den Lehnstuhl zurecht ! " schrie die unverbesserliche Senta übermütig herüber durch die klare , jedes Wort tragende Herbstluft . " Du kannst dir es in meinem Zimmer bequem machen , Wolfgang . " Damit ging auch Rudi zu dem Schießstand . Wolfgang Steinhardt war bei Kommerzienrats wie Kind im Hause . Man machte absolut keine Umstände mit ihm . Dadurch gerade fühlte er sich auch so wohl dort . Er stieg zu Rudis Zimmer , das neben dem der Schwestern lag , empor . Ehe er sich aber auf das Ledersofa niederließ , trat er ans Fenster . Die Aussicht von hier über die Herbstwiesen bis zur Heide , die Olly so liebte , nahm auch ihn stets gefangen . Er stand und schaute . Da hörte er plötzlich ein unterdrücktes Weinen dicht neben sich , jetzt ein lautes Schluchzen - aha - vorsichtig lugte er um den Fensterpfeiler zu dem angrenzenden Goldgitterbalkon . Eine bunte Wand von Bohnen , Winden und Kressen verbarg ihm die Weinende . Aber er wußte Bescheid , auch ohne das Loch in der Blumenwand , durch das er gerade Ollys schwarzes Haar durchschimmern sah . Sie hatte den Kopf fest gegen ihre Blütenlieblinge gepreßt , als ob die sie in ihrem Jammer trösten könnten . Jetzt schluchzte sie wieder ganz besonders herzbrechend auf . Mitleidig streckte Wolfgang die Hand durch das Blütentor und strich sanft und beruhigend über das dunkle Mädchenhaar . Zuerst beachtete Olly es nicht , sie glaubte , es seien die im Nachmittagshauch wehenden Blumen . Dann aber hob sie jäh den Kopf . Wolfgang hatte keine Zeit mehr , seine Hand zurückzuziehen . Olly hatte sie ungestüm ergriffen . " Rudi , hältst du wenigstens zu mir ? " - Nein , das war nicht des Bruders knochige Knabenhand , das war . . . Ebenso ungestüm , wie Olly die tröstende Hand ergriffen , ließ sie dieselbe jetzt wieder sinken . " Kindchen , was quälst du dich denn hier so allein ? " Keine Antwort . Nur das krampfhafte Aufzucken der schlanken Gestalt wurde ab und zu durch den Blumenvorhang sichtbar . Sie schien sich aufs neue ihrem Jammer hinzugeben . " Sei verständig und gehe zu Fräulein Arnold , Olly . Papa hat gesagt , er ließe dich heute nachmittag zu Hause , wenn du dich nicht entschuldigst " , klang es überredend aus dem Fenster . " Nein ! " - Hart tönte es vom Balkon zurück . " Auch nicht , wenn ich dich darum bitte , Olly ? " " Nein . " Das zweite Nein klang lange nicht so schroff wie das erste . " Glaubst du denn nicht , daß ich es gut mit dir meine ? " " Ich - ich habe es geglaubt - bis neulich - aber jetzt nicht mehr . . . " Die Stimme ging in erneutes Schluchzen über . " Warum in aller Welt denn aber jetzt nicht mehr ? " Wolfgang spähte ratlos durch die Blütenzweige . " Weil - weil Sie mich - weil man mich mit Senta bei Buschens neulich verspottet hat ! " Ein Erschrecken ging über das scharf geschnittene Männergesicht . Hatte Senta nicht reinen Mund gehalten , wußte das arme Ding von jenem Spottnamen , den er ihr angehängt ? " Sie - ich - man hat mir Blumen an die Nase geworfen und mich noch obendrein ausgelacht . " Es tat Olly wohl , ihrem Herzen Luft zu machen . Wolfgang atmete erleichtert auf . Sie schien nichts zu wissen . " Wer wird so empfindlich sein , Olly , ich meine es doch nicht böse , wenn ich dich auch ein wenig necke . Das weißt du doch ! " Olly hob den Kopf und lächelte unter Tränen . " Ich danke dir , Wolfgang , daß du so gut gegen mich bist , " - sie fand nun wieder das natürliche " du " " und ich bleibe jetzt heute nachmittag sehr gern zu Hause . " " So willst du mir nicht den Gefallen tun und dich entschuldigen ? " " Jeden anderen , aber - das kann ich nicht ! " Olly schüttelte energisch den Kopf . " Dann gib mir wenigstens deinen Aufsatz zu lesen , für den du ein » sehr gut « verdient hast . " " Woher weißt du ? " Olly stammelte es in errötender Freude . " Von Senta . " Er zog die Hand mit dem Heft durch die Blumenlücke zurück . Dann lag er auf dem Sofa und las die frühreifen , aus schweren Stimmungen geborenen Gedanken , die in dem unschönen Mädchenkopf erstanden . Durch den grauen märkischen Sand jagte das Hildebrandtsche auto dem Waldesduft entgegen . Eine Wolke von Staub und Benzindunst folgte ihm . Drinnen merkte man nichts davon . Lachen und Kreischen erschallte . " Gut , daß Olly nicht mit ist , dann wäre es noch enger " , sagte Herbertchen , den man zwischen den Damen auf dem Vordersitz eingeklemmt hatte , während auf dem Rücksitz die drei Herren vergeblich bemüht waren , sich so dünn wie nur irgend möglich zu machen . Noch einer gedachte der einsam Daheimgebliebenen , das war Wolfgang Steinhardt . Während die blonde Senta ihn übermütig wegen seines Weltschmerzes aufzog , mußte er immer wieder an jenes häßliche , schwarzhaarige Mädchen denken , das so tief die Zurücksetzung empfand . Man tat Unrecht an dem jungen Kinde - ob er Mal mit dem Kommerzienrat sprach oder mit Senta ? Die , der diese ernsten Gedanken galten , saß inzwischen in stillem Sinnen zwischen ihren Blumen auf dem Balkon . Zum erstenmal fühlte sie wieder etwas wie Freude und Glücksempfinden in sich erwachen . Senta hatte doch der Wahrheit die Ehre gegeben , die Schwester war nicht so treulos zu ihr , wie es bisher geschienen ! Und Wolfgang - ach , der war so gut zu ihr gewesen - so gut . . . Olly lächelte still vor sich hin . Nur die wehenden Blüten sahen , wie merkwürdig dies Lächeln ihr Gesicht verschönte . 4. Kapitel . Das häßliche junge Entlein ommerfäden , lichtes , zart weißes Gespinst flog von der Heide her über die sich bräunlich färbenden Wiesen . Aber an dem großen Fabrikgebäude , vor dem unbarmherzig schwarzen Ruß zerflatterten die letzten Grüße des Sommers . Olly blickte in den tiefblauen Himmel . Hier und da ein silbernflaumiger Streifen , als ob der himmlische Maler nur gerade seinen Wolkenpinsel daran ausgewischt . Der Garten stand im goldenen Herbstkleide , Astern und Georginen blühten . Lustig bunte Papierwimpel wehten von den Laubenkolonien , in weitem Bogen schossen die Schwalben darüber hin . Sie sammelten sich schon zur Winterreise . Alles so schön - so wunderschön war die Welt , und nur sie allein darin häßlich und garstig ! Olly hatte einen ausgeprägten Schönheitssinn , nie empfand sie die eigene Häßlichkeit mehr , als wenn sie die harmonische Schönheit der Natur in sich aufnahm . Darum kam sie selbst unter Gottes freiem Himmel nicht zu einem reinen Genießen , sogar die Freude an der Natur verbitterte sie sich selbst . " Wer doch so schön wäre wie ihr ! " Mit weichen Fingern strich sie über ihre Balkonblumen , hier ein gelbes Blättchen lösend , dort ein Hälmchen Unkraut auszupfend . " Olly - Olly . . . " Sentas helle Stimme erklang aus ihrem gemeinsamen Zimmer . " Was ist denn los ? " Ziemlich brummig und verdrossen kam es vom Balkon zurück . " Du , Olly , du hast ja deine Geometrieaufgaben noch nicht gemacht . " Senta kümmerte sich sonst wenig um Ollys Schularbeiten . Aber mit der verzwickten Geometrie wurde sie allein nicht fertig . Da war es ihr ganz wertvoll , von Olly , die für Rechnen begabt war , ein wenig abzuschreiben . Die ältere Schwester antwortete nicht . Aber das war Senta nichts Neues . Olly war meistens wortfaul . " Morgen setzt es wieder einen Tanz mit Doktor Elbing wie voriges Mal , wo du nicht gearbeitet hattest ! " rief sie . " Das geht dich nichts an ! " Die Ältere hatte es abweisend hervorgestoßen . Gleich darauf aber bis sie sich erschreckt auf die Lippen . Was hatte sie sich neulich an jenem Sonntag , als Senta es bei Tisch erzählt , daß die Schwester eigentlich ein " sehr gut " unter ihrem ungenügenden Aufsatz verdient hatte , gelobt ? Sie wollte nicht mehr unfreundlich gegen Senta sein , und auch zu den übrigen nicht , sie wollte versuchen , sich die Herzen der Ihrigen durch Liebe zu gewinnen . Seit wieder jemand so gut und herzlich mit ihr gesprochen wie Wolfgang Steinhardt neulich , empfand das liebebedürftige Herz Ollys mehr als je den Wunsch nach der Zuneigung des Vaters und der Geschwister . Aber die Kluft , die sich seit Jahren zwischen ihr und den übrigen Familiengliedern aufgetan , wurde nicht so leicht überbrückt . Vor einem spöttischen Wort , ja , nur vor einem verwunderten Blick erlahmte Ollys guter Wille sofort . Jetzt nahm sie wieder einen Anlauf zu einem besseren Einvernehmen mit der Schwester , ihre schroffe Abweisung tat ihr heimlich leid . " Was verstehst du denn nicht ? " fragte sie , in das Zimmer tretend , denn sie wußte sehr wohl , daß Sentas Sorge um ihre Arbeit lediglich eigenem Interesse entsprungen . Senta war nicht stolz , wenn es galt , sich helfen zu lassen . Sie stützte den hübschen Blondkopf auf , sah Olly verzweifelt an und stöhnte herzbrechend . " Gott , tue bloß nicht so ! " wollte es Olly schon wieder entfahren , denn Sentas schauspielerischen Talente waren ihr vertraut . Aber sie schluckte es , ihrer Vornahme eingedenk , noch schnell herunter und rückte sich einen Stuhl an den zierlichen weißen Schreibtisch . Bald neigten sich der schwarze und der blonde Mädchenkopf eifrig über das mit Zahlen bedeckte Heft . Die lustig durcheinander piepsenden Spatzen da draußen in ihren rußgeschwärzten Grauröckchen , die sich keck wie Berliner Straßenjungen bis auf den Balkon wagten , ahnten es nicht , daß dieses schwesterliche Einvernehmen nur eine Ausnahme bildete . Es sollte denn auch nicht von langer Dauer sein . Diesmal war Olly unschuldig daran . Als Senta an der geometrischen Klippe , an der sie fast gescheitert , glücklich vorbei war , war es auch mit ihrer Dankbarkeit gegen die Schwester vorbei . Ja , sie ärgerte sich sogar , daß " das häßliche junge Entlein " , das allgemein verlacht und hintenangesetzt wurde , irgend etwas besser verstand als sie . " Spar ' dir nur deine Kenntnisse für die morgige Geometriestunde , daß du nicht wieder dasitzt wie aus Dummsdorf , als ob du nicht bis drei zählen kannst ! " unterbrach sie plötzlich Ollys Auseinandersetzungen höhnisch . Olly sah sie groß an , mit Augen , die den jähen Stimmungswechsel gar nicht verstanden . Dieser Blick war Senta unangenehm . Sie empfand ihr Unrecht und ließ es , wie man es ja leider oft tut , an dem anderen aus . " Naja , Doktor Elbing hat doch erst neulich zur Klasse gesagt : » Pst - seien Sie still - Olly Hildebrandt schläft wieder Mal , wir wollen sie nicht wecken « - , denkst du , es ist angenehm für mich , wenn unser Name immerfort lächerlich gemacht wird ?! " rief sie ärgerlich . Über Ollys blasses Gesicht jagte eine Blutwelle . Das war der kritische Augenblick , den die übermütigen Geschwister stets zu benutzen pflegten , um sie mit einem hänselnden " Kß - kß - kß - kß " völlig in Wut zu setzen . Auch jetzt konnte Senta der Lust nicht widerstehen , Olly zu reizen . " Kß - kß - kß " , zischte sie , daß all ihre weißen Zähnchen zum Vorschein kamen . Da kam Leben in Ollys Starre . Ohne zu wissen , was sie tat , hob sie die Hand und ließ sie klatschend auf Sentas rosige Wange niedersausen . Das war seit ihrer Kinderzeit nicht mehr vorgekommen . So schlecht sie sich auch vertrugen , und so wenig schwesterlich das Verhältnis auch war , geschlagen hatten sie sich , seitdem sie die Kinderschuhe ausgezogen und in das Backfischalter getreten , niemals . Meist ließ sich Olly stillschweigend und verstockt alle Sticheleien gefallen , höchstens weinte sie Tränen ohnmächtiger Wut . Um so entsetzter war Senta über diesen unerwarteten Angriff . Laut aufweinend , die Hände gegen die flammendrote Wange gepreßt , lief sie aus dem Zimmer . In der Tür wandte sie sich noch einmal zurück . " Häßliches junges Entlein ! " Olly zuckte unter dem Ton der Schwester schmerzhafter zusammen als Senta soeben unter ihrem Schlage . Dann flog die Tür zu . Olly war allein . Allein mit einer ganz merkwürdigen Empfindung . Das befreiende Gefühl , die Schmähreden Sentas endlich einmal gerächt zu haben , das die Ohrfeige zuerst in ihr ausgelöst , war brennender Scham gewichen . Das junge Mädchen schämte sich unsagbar , daß sie sich so hatte hinreißen lassen können . Dazu kam das Weh über die Worte , die ihr Senta noch zuletzt entgegengeschleudert . Wie war es doch gewesen ? " Häßliches . . . " nur auf dies eine Wort konnte Olly sich besinnen , das andere hatte das Sausen und Brausen ihres zornig erregten Blutes übertönt . Aber es genügte auch . Es genügte , daß Olly in tränenlosem Schmerz auf Sentas Geometrieheft starrte , der unschuldigen Ursache zu ihrem Streit . Ihre eigenen Aufgaben zu machen , daran dachte sie nicht mehr . Sie grübelte , wie es nur möglich war , daß sie dieses eine kleine Wort " häßlich " , von dessen Wahrheit keiner mehr überzeugt war als sie selbst , so ins Innerste treffen konnte . Dann überlegte sie , wie schwer es doch war , gut zu sein . Sie hatte sich heute alle Mühe gegeben , nett gegen Senta zu bleiben , und dadurch gerade waren sie so böse aneinandergeraten . War es da denn nicht besser , sie sprach überhaupt nicht , war unfreundlich und abstoßend wie gewöhnlich ? Wenigstens wurden so scharfe Auftritte wie der heutige vermieden . Olly wußte nicht aus noch ein vor den gegen sie anstürmenden Gedanken . Sie empfand , daß nicht alles richtig war , was sie dachte . Wenn doch einer , den sie lieb hatte , zu dem sie Vertrauen haben konnte , ihr den richtigen Weg aus diesem Gedankenlabyrinth gewiesen ! Wenn sie sich doch jetzt in ihrer Not an ein verständnisvolles Mutterherz hätte flüchten können ! Schritte auf der Treppe . Der dicke Teppich dämpfte sie , aber Olly hörte doch , daß sie sich ihrem Zimmer näherten . Sicher Papa ! Gewiß hatte Senta sie bei Papa verklagt , und er kam jetzt , sie zur Rechenschaft zu ziehen . Aber Olly empfand keine Angst davor . Feigheit lag ihr fern . Im Gegenteil , sie wollte Papa alles erzählen , wie es gekommen , auch daß es ihr jetzt leid tue . Vielleicht verstand er sie , vielleicht war er heute gut gegen sie , ihr schöner , stattlicher Papa , nach dessen Zuneigung sie sich so sehnte . Die Tür wurde geöffnet - Fräulein Arnold trat ins Zimmer . Mit strafendem Gesicht ging sie auf Olly zu . Diese fühlte alle weichen Gefühle , die sie noch soeben durchdrungen , beim Anblick der ihr unsympathischen Hausdame schwinden . Trotz und Verstocktheit lagerten sich auf der Mädchenstirn . " Schämst du dich denn gar nicht , du großes Mädel , dich gegen deine Schwester so unerhört zu benehmen ?! " begann sie . Olly , die sich soeben noch ganz entsetzlich ihrer Handlungsweise geschämt hatte , fühlte bei den Vorwürfen Fräulein Arnolds keine Spur von Reue mehr . Nur stumme Auflehnung drückte ihr Wesen aus . " Ich werde Papa von deinem unglaublichen Benehmen in Kenntnis setzen . . . " " Ich lasse mich nicht von einer Fremden abkanzeln , daß Sie_es nur wissen - ich bin ein fast erwachsenes Mädchen - bald siebzehn ! " Das war wieder ganz die in ihren Ausbrüchen ungezügelte Olly , mit der noch keine Hausdame fertig geworden . " Ja , so benimmst du dich auch - ganz wie ein erwachsenes Mädchen ! " Fräulein Arnold verließ das Zimmer . Ollys geballte Hände sanken schlaff herab . Ihrer Heftigkeit folgte tiefe Niedergeschlagenheit . Wenn doch Fräulein Arnold das Haus wieder verlassen würde ! Ein Gedanke kam Olly plötzlich . Ein heller , verlockender Gedanke . Ostern hatte sie ihre Schulzeit beendigt , dann wollte sie Papa bitten , Fräulein Arnold zu entlassen und überhaupt keine Hausdame mehr zu engagieren . Dann wollte sie selbst versuchen , dem Hause die verstorbene Mutter zu ersetzen . Mit etwas gutem Willen würde es schon gehen . Daß sie alles andere eher als guten Willen besaß , daran dachte Olly nicht . Ihr Zukunftsplan brachte sie ein wenig über die unerquickliche letzte Stunde hinweg . Sie saß und träumte , wie dann alles werden würde . Ach , am Ende würde Papa sie dann auch ein wenig lieb haben , so häßlich sie auch war , wenn er sah , daß sie sich für ihn mühte und sorgte . Und die Geschwister würden sich dann mit allem an sie wenden müssen , sie wollte ja so gern auf die Wünsche eines jeden eingehen . Dann würde man nicht mehr auf sie herabblicken und sie verspotten , wenn sie etwas leistete . Sie war dann die Seele des Hauses , die treibende Kraft der komplizierten Wirtschaftsmaschine . " Olle , du sollst zu Papa ins Büro kommen , aber dalli ! " Herbertchen steckte den lockigen Blondkopf zur Tür herein . Er nannte die große Schwester oft " Olle " , um sie zu ärgern , und heute , wo Fräulein Arnold und Senta so böse auf sie waren , machte er natürlich gleich gemeinsame Sache mit der Gegenpartei . " Dalli , Olle ! " drängte er noch einmal , da sie sich nicht rührte , und gab dann plötzlich Fersengeld . Olly hatte sich erhoben , und der Kleine fürchtete wohl , von ihrer heutigen Schlagfertigkeit auch noch eine Probe zu erhalten . Aber die Schwester dachte nicht daran . " Die treibende Kraft der Wirtschaftsmaschine " , als die sich Olly noch soeben geträumt , ging langsam , ganz langsam , als ob sie nicht einmal die Kraft hätte , sich selbst zu treiben , die Treppe in das Untergeschoß hinab . Wenn Papa sie in sein Büro rufen ließ , dann stand es schlimm . Olly wußte , wie böse Papa werden konnte . Als sie durch den sonnenbeflimmerten Garten schritt , erblickte sie unter dem großen Birnbaum Fräulein Arnold und Senta . Auf einer Leiter aber stand , mit dem Obsteber bewaffnet , der lange Rudi und pflückte den Damen die herrlichen Früchte . Es war zu spät , einen Bogen um ihre Gegnerinnen zu machen . So schritt Olly erhobenen Hauptes , gravitätisch wie der Hahn drüben im Hühnerhof , an der Gruppe vorbei . Da sauste es unweit ihrer hochgetragenen Nase vorüber . Rudi , der übermütige , hatte gut gezielt . Der Birnenstiel streifte gerade noch ihr nicht eben kleines Näschen . Die möglichst Gleichmut zur Schau tragende Miene Ollys wurde bitterböse . " Du , Olly , ziehe dir doch meinen Winterüberzieher an , der ist dick , da fühlst du Papas Wichse nicht so durch " , schallte es noch neckend von dem Birnbaum herab hinter ihr her . Tränen schossen in die schwarzen Mädchenaugen . Alle hackten auf ihr herum , selbst Rudi war jetzt immer so eklig zu ihr ! Auch der gutmütig ehrerbietige Gruß der ihr in den Fabrikhöfen begegnenden Arbeiter vermochte sie nicht zu trösten . Man hatte das junge , häßliche Fräulein , das nie stolz tat , sondern diesen und jenen , den sie noch aus ihrer Kinderzeit her kannte , oft freundlich nach seiner Familie befragte , in der Fabrik allgemein gern . Lange Reihen von Kohlenwagen zogen an ihr vorüber . Aus den Maschinenräumen schallte ohrenbetäubender Lärm . Rußgeschwärzte Gesichter tauchten auf , feuriger Funkenregen prasselte hernieder . Aber all das , was Olly sonst mit lebhaftem Interesse erfüllte , das Zischen , Schnaufen und Zucken der gewaltigen Maschinenkörper , heute ließ es sie gänzlich teilnahmlos . Sie trat in den einstöckigen , den Fabriksälen angegliederten Bau , in dem die Bureauräume lagen . Um in das Privatkontor des Vaters zu gelangen , mußte sie die Ingenieurzimmer durchschreiten . Das war das schlimmste an der ganzen Sache . Wolfgang Steinhardt würde es merken , daß sie etwas ausgefressen hatte und nun wie ein Gör von Papa abgekanzelt wurde . Ach , wie sie sich schämte ! Sie hielt die Augen gesenkt , als sie die Zimmer , in denen fünf oder sechs Ingenieure eifrig über ihre Zeichnungen und Berechnungen saßen , durcheilte . Ihr " guten Tag " klang so leise , daß selbst Wolfgang nicht von seiner Arbeit aufblickte . Ungesehen kam sie hindurch . Papas Privatbureau hatte stets etwas Beklemmendes für die Hildebrandtschen Kinder . Die schweren Möbel , die dunklen , wuchtigen Ledersessel , die vielen großen Bücher und Folianten , all das wirkte ernst und streng . Auch Papa pflegte in dieser Umgebung niemals so freundlich und heiter auszusehen wie drüben in der Villa . Er hatte hier seine Arbeitsmiene aufgesetzt , ernst und streng wie das Zimmer . Selbst Senta , sein Liebling , wagte hier kaum ihre Zärtlichkeiten und kleinen Schmeicheleien . Dazu kam , daß die Kinder fast nur das Büro betraten , wenn ihnen irgend etwas Unangenehmes bevorstand . Wenn ein Lehrer sich beklagt hatte oder die Hausdame ; Papas Privatbureau war mit einer Strafpredigt aufs innigste verwachsen . Heute wirkte es ganz besonders düster und streng auf die herzklopfend eintretende Olly , und der rasche Seitenblick , den sie zu Papas Gesicht hinwarf , offenbarte wenig Gutes . Vorläufig kümmerte sich Papa nicht um sie . Er saß da , schrieb und schrieb . Mit jedem Federzug auf dem knisternden Bogen wurde es Olly schwüler zumute . " Du hast mich rufen lassen , Papa " , wagte sie nach einer ganzen Weile leise zu sagen . Papa wandte sich um und zog die Augenbrauen zusammen . Ein schlechtes Zeichen , dann war er sehr böse . " Mir sind ganz unerhörte Dinge zu Ohren gekommen " , begann er vorläufig ruhig . " Senta kam schluchzend zu mir mit brennendroter Backe , so hast du sie geschlagen - eine Schwester schlägt die andere , ein fast erwachsenes Mädchen , das eine gute Erziehung bekommen hat - ja , bist du denn ganz von Sinnen , Olly ? " Des Kommerzienrats Stimme war drohend angeschwollen . Angstvoll sah Olly nach der Tür - Herrgott , das mußten ja die Ingenieure nebenan hören , jeden Ton mußte Wolfgang Steinhardt vernehmen . Sie hatte die Worte des Vaters gar nicht erfaßt , nur seine heftige Stimme . " Da stehst du nun wieder stumm und steif und verstockt , ich weiß es nicht , wie ich zu solch einer Tochter komme ! " Papa stieß es mit einem tiefen Seufzer hervor . Es zuckte Olly in den Gliedern , zum Vater hinzueilen , die Arme um seinen Hals zu schlingen , wie Senta es zu tun pflegte , alles Weh an seiner Brust auszuweinen und Besserung zu geloben . Aber die Beine waren ihr so schwer , als ob Zentnergewichte daran hingen , sie vermochte sie nicht von der Stelle zu heben . Und der zuckende Mädchenmund , der die Worte " es tut mir leid " aussprechen wollte , brachte keinen Ton hervor . Papa merkte nicht , wie sie kämpfte . Er hatte sich jetzt erhoben . Trotzdem Olly hoch aufgeschossen war , überragte der Vater sie noch um Kopfeslänge . Wie stattlich und schön ihr Papa war , es kam ihr selbst in diesem Augenblick wieder zum Bewußtsein . Sie hätte ihn bitten mögen : " Schilt mich , aber habe mich wenigstens lieb ! " wenn ihr Stolz es zugelassen hätte , um Liebe zu betteln . " Nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hast du für dein unglaubliches Benehmen , und das Schlimmste von allem " - Papas Stimme wurde vor Erregung wieder lauter - , " daß du sogar gegen Fräulein Arnold respektlos und ungezogen gewesen bist ! Gegen diese liebenswürdige Dame , die dir in gütiger Weise Vorstellungen gemacht hat . . . " " In gütiger Weise - hahahaha . " Olly hatte Papa unterbrochen und bitter aufgelacht . Aber ihr Lachen klang in ein seltsames Schluchzen aus . " Du lachst , wenn ich böse bin ? Ich will dich nicht mehr sehen , in den nächsten Wochen kannst du in deinem Zimmer essen - marsch ! " Das war jene Stimme , vor der die Arbeiter zitterten , die ab und zu unheilvoll bis zur Villa herüberschallte . Der Kommerzienrat zeigte gebieterisch nach der Tür . Den Kopf in die Schultern gezogen , so schlich sich Olly hinaus . Nur Wolfgang Steinhardt war im ersten Ingenieurzimmer . Die anderen hatten es bei des Kommerzienrats aufgebrachter Stimme vorgezogen , lieber ein Zimmer weiter zu gehen . " Olly , armes Kind , was hat es denn gegeben ? " Wolfgang legte die Hand auf die Schulter des vorübereilenden jungen Mädchens und sah sie voll Mitleid an . Aber Olly konnte jetzt keinem Rede und Antwort stehen . Der Schmerz über Papas letzte Worte war zu groß . Unsanft machte sie sich frei , und mit einem kurzen : " Ach , laß mich ! " war sie davon . Sie lief und lief , unbekümmert um die erstaunt neugierigen Mienen der Angestellten . Ganz hinten im Garten machte sie erst halte . Unter dem Reinettenbaum , ihrem Lieblingsplatz , dem " Schmollwinkel " , wie die Geschwister ihn getauft . Dicht am Stachelzaun , verdeckt von den Johannisbeerbüschen , hatte sie sich aus welkem Laub einen Sitz geschichtet . Dort saß sie und blickte mit brennenden Augen in den goldenen Herbsttag . Papa wollte sie nicht mehr sehen ! Sie , ein bald siebzehnjähriges Mädchen , wurde wie ein ungezogenes Kind gestraft ! Sie verbarg das Gesicht in den Händen , sie schämte sich vor der sie mit flimmernden Strahlenfingern streichelnden Sonne . Schrilles Tuten ließ Olly aus ihrem schmerzhaften Grübeln emporfahren . Feierabend . Hunderte von Arbeitern zogen , nach dem Aufenthalt in den dunstigen Fabriksälen die herb frische Spätsommerluft in langen Zügen einatmend , heimwärts . Lachen und Scherze erschallten , Stimmen von Kindern , die den Vater aus der Fabrik abholten . So manchen sehnsüchtigen Blick aus Kinderaugen hatte Olly öfters aufgefangen , zu der schönen Rokokovilla hin , zu dem herrlichen Blumen- und Obstgarten und den feingekleideten Kommerzienratstöchtern . " Die haben es Mal gut ! " stand deutlich in den bewundernden Kinderaugen zu lesen . Ach , Olly hätte ja gern mit dem ärmsten getauscht , das der Vater zärtlich in seine Arme nahm ! Immer mehr , immer neue Scharen strömten heraus , Olly empfand die Größe des gewaltigen Betriebes , dem ihr Vater vorstand . So viele Hände einten sich zu einem Werke , so vielen gab die Fabrik den Lebensunterhalt . Der Wunsch regte sich in dem Mädchenherzen , den Leuten , die da all ihre Kräfte für die Arbeit des Vaters einsetzten , es Mal später durch Vergünstigungen im Alter , durch tatkräftiges Sorgen für ihre Kinder danken zu können . Drüben , in der großen Gewehrfabrik , gab es Arbeiterhäuser mit freundlichen Gärten davor , ein großes Haus , in dem die Alten , Arbeitsunfähigen in Frieden den Feierabend ihres Lebens genießen durften . Das war es , wovon Olly oft träumte : Ihre liebe Fabrik sollte auch ein Segen für viele werden ! Die langen Reihen hatten sich allmählich gelichtet , nur vereinzelt kamen noch einige Nachzügler . Die Maschinenmeister , die Werkführer , das Bureaupersonal , die Ingenieure . Nun würde auch Wolfgang Steinhardt bald heimgehen . Sie kannte seinen Schritt . Gleichmäßig und hart klang er auf dem gepflasterten Steige . Er kam näher , aber dazwischen tönte noch eine andere Gangart , leichtfüßig , schnell , fast hüpfend . Er war nicht allein . Unweit des Reinettenbaumes blieb Wolfgang Steinhardt stehen . " Nun sage bloß Mal , Sentchen , was war denn heute Nachmittag bei euch los ? Erst kommst du heulend zum Papa gelaufen , hinterher Fräulein Arnold mit empörtem Gesicht , und den Schluß macht unser häßliches junges Entlein , ganz geknickt und flügellahm . Papa hat entsetzlich mit ihr geschimpft , was hat das arme Mädel denn nur wieder begangen ? " so hörte die dicht am Stachelzaun hockende Olly die Stimme Wolfgangs . Es war ihr , als ob eine eisige Hand plötzlich nach ihrem warmen Herzen griff und es zusammenpreßte , als ob all die spitzen Stacheln des Zaunes , der sie verbarg , sich in ihr Herz hineingruben . Sie hätte vor Weh aufschreien mögen . Da war es , das Wort , das ihr Senta heute wuterfüllt entgegengeschleudert , auf das sie sich nicht besinnen gekonnt ! Aus dem Munde des einzigen Menschen , von dem sie geglaubt hatte , daß er ihr wohlwollend gesinnt sei , tönte es ihr jetzt aufs neue entgegen ! Olly preßte das Taschentuch gegen den Mund , damit kein Laut die heimliche Lauscherin verrate . " Ja , nimm sie nur noch in Schutz , das häßliche junge Entlein , " das war Sentas aufgebrachte Stimme , " geschlagen hat sie mich , das rohe Ding , und gegen Fräulein Arnold ist sie mehr als unverschämt gewesen ! Hoffentlich hat Papa sie tüchtig abgekanzelt ! " " Ihr behandelt das Mädel falsch , durch Strenge und Härte macht ihr sie nur noch rebellischer . Olly ist einzig und allein durch Liebe zu gewinnen , glaube es mir , Senta ! Versuche es doch Mal , schwesterlich und liebevoll zu ihr zu sein , wie es in den Wald hineinschallt , schallt es auch wieder heraus . Du sollst Mal sehen , sie ist nicht unempfänglich gegen Güte und Liebe ! " " Na , das sollte mir einfallen , auch noch liebevoll zu der zu sein , wo sie immer so gemein gegen mich ist , nee , Wölfchen , das kann dein Ernst nicht sein ! " Olly hörte nicht , daß die Stimmen sich entfernten , sie hatte überhaupt nichts weiter vernommen , was die beiden gesprochen . Ihr Bewußtsein war an Wolfgang Steinhardts Wort " unser häßliches junges Entlein " hängen geblieben . Das schrillte ihr noch immer ins Ohr , als es schon längst im Luftraum verhallt war . " Häßliches junges Entlein " - der Wind , der in den Blättern des Apfelbaumes flüsterte , rief es ihr hohnlachend zu , die Spatzen ringsum schirpten es kreischend in die Luft , die Abendsonne brannte es mit glühender Purpurschrift ihr wie ein Kainszeichen auf die Stirn . " Das häßliche junge Entlein " nannte man sie , man spottete und lachte heimlich über ihre Häßlichkeit ! Olly brach in ein wildes , trockenes Schluchzen aus , sie fand keine Träne . Die Sonne ging hinter dem düsteren , großen Fabrikschlot zur Ruhe , in der Rokokovilla glänzten Lichter auf . Dort saß man jetzt in angeregter Unterhaltung beim Abendbrot . Olly war das Essen auf Papas Anordnung in ihr Zimmer geschickt worden . Das junge Mädchen wußte nicht , wie lange es unbeweglich unter dem Reinettenbaum gesessen . Empfindliche Abendkühle ließ es zusammenschauern . Olly sah auf . Dunkel , alles dunkel ringsumher , wie es auch in ihr war . Da war nirgends ein freundliches Licht , das dem einsamen Mädchenherzen Wärme und Helle spendete . Nirgends ? Doch , aus dem väterlichen Hause schimmerte es hell und traulich . Als ob es dem verzagten jungen Menschenkinde den Weg weisen wollte , den es gehen mußte , um nicht mehr allein und verdüstert zu sein . Aber Olly schlug den Weg nicht ein . Papas Strenge stellte sich als ein unüberwindliches Hindernis ihr entgegen . Mit steifen Gliedern schlich sie sich um das Haus herum zum Hintereingang und zu ihrem Stübchen hinauf . Die bereitstehende Abendmahlzeit blieb unberührt , Olly war der Hals wie zugeschnürt . In dem Eckspindchen , das ihre Kinder- und Mädchenbücher enthielt , begann sie mit rascher Hand zu kramen . Da - da war es , was sie suchte . Ein einbandloses , zerlesenes Buch - Andersens Märchen . Mama hatte den Kindern oft daraus vorgelesen . Dann hatte es Herbertchen in die zerstörenden Finger bekommen . Erst vor kurzem hatte Olly es wieder ihrer Bibliothek eingereiht . Was Mama mit ihren schlanken , weißen Händen berührt hatte , sollte wert gehalten werden . Ollys schönste Kindererinnerungen waren mit diesem Buche verknüpft . Sie sah sich wieder , ihr Stühlchen ganz dicht neben den Sitz der Mutter gerückt , den dunklen Kopf gegen das lichte Frauengewand geschmiegt . So lauschte sie mit großen Augen den wunderbaren Geschichten , welche auch ihr Mütterchen mehr als alle anderen Märchen liebte . So oft sie nach Mamas Tode ihr altes Märchenbuch aufgeschlagen , glaubte sie wieder die weiche , melodische Stimme der geliebten Mutter zu vernehmen . Aber heute sprach die Erinnerung nicht zu ihr , die Vergangenheit schwieg , um so lauter aber redete die Gegenwart . " Das häßliche junge Entlein " - - mit brennenden Augen starrte Olly auf den Titel des vor ihr liegenden Märchens . Dann begann sie zu lesen . Ja , so war es - ganz so ! Kein Name hätte besser auf sie gepaßt . Groß und häßlich , von ganz anderer Art als die zierlichen , schönen Entlein des Hofes , verlacht und verhöhnt , zurückgesetzt und herumgestoßen , von keinem verstanden , gebissen und fortgejagt , selbst von den Geschwistern - war es nicht ganz dasselbe mit ihr ? Man brauchte nicht auf einem Entenhof geboren zu sein , um all diese Schmerzen zu durchleben , man konnte sie geradeso in einer Kommerzienratsvilla empfinden ! Ein dichter Schleier begann sich Olly vor die Augen zu legen , langsam löste sich Tropfen um Tropfen von ihren dunklen Wimpern . Die ersten befreienden Tränen . Den Druck , der auf der jungen Brust lag , das Knäuel , das ihr die Kehle zusammenpreßte , wuschen sie nach und nach fort . Wieder knisterten die Seiten . Blatt um Blatt schlug Olly voll Erregung um , als ob es ihr Schicksalsbuch sei , das sie durchblätterte . Ein Schwan - ein edler Schwan war aus dem armen , mißhandelten Entlein geworden ! Schöner und herrlicher als alle die , welche es verspottet hatten , wurde das kleine , zurückgesetzte Entlein ! Mutlos ließ Olly das Buch sinken . So ging es im Märchen - nur im Märchen ! In der Wirklichkeit , da blieb man , was man war , da wurde aus einem grauen , häßlichen Entlein niemals ein blendend weißer , stolzer Schwan ! Olly fröstelte zusammen und schloß die Balkontür . Wieder und wieder las sie die Geschichte ihrer kleinen Leidensgenossin , und als sie schließlich mit zerschlagenen Gliedern ihr Lager aufsuchte , um Senta nicht mehr sehen zu müssen , legte sie das alte Märchenbuch gleich einem Heiligtum unter ihr Kopfkissen . Ihr war zumute wie dem Bettelmann , dem man das letzte Stücklein Brot , das er in den Händen gehalten , mitleidlos entrissen und ihm dafür einen harten Kieselstein gereicht hatte . Leer war es in ihrem Herzen - statt der guten Worte Wolfgangs , die sie darin aufbewahrt , nur der grausam harte Spottname : " Das häßliche junge Entlein ! " 5. Kapitel . Klasse Ja Herbst war es über Nacht geworden . Kalter , nebelgrauer Herbst . Das lichte Sommergespinst war zerflattert und zerstoben . Die Sonne , die sich noch gestern in den blanken Fensterscheiben der weißen Rokokovilla lachend gespiegelt hatte , war hinter dicken regenschweren Wolkensäcken verschwunden . Über die Wiesen kam der Oktoberwind einhergestürmt , heulend , mit flatternden Haaren und rüttelnden Fäusten . Scheiben klirrten , Türen schlugen , Kohlenstaub wehte , in tollem Wirbel jagte totes Laub durch den Garten . Ollys arme Blumen froren . Ihre junge Pflegerin hatte heute noch keine Zeit für sie gefunden . Die saß auf der Schulbank und fror innerlich in ihrer Vereinsamung mehr als die Blumen auf dem Balkon . Sie lauschte dem Brausen des Sturmes , dem Ächzen der Schulhofkastanien und dem , was in der eigenen Brust stürmte und tobte - wilder als da draußen . Die Worte des Lehrers verhallten ungehört an ihrem Ohr , und doch gingen dieselben sie ganz besonders an . " Olly Hildebrandt - wie oft soll ich noch fragen , ich vermisse Ihre Geometriearbeit ! " Doktor Elbing blickte aus kurzsichtig blinzelnden Augen von dem auf dem Katheder liegenden Stoß Hefte zu der regungslos Dasitzenden hinüber . Er hatte die Gewohnheit , die Arbeiten gleich in der Stunde zu korrigieren . Katchen Lehmann , die hinter Olly saß , puffte sie mit einem " Menschenskind , schläfst ? " wohlwollend in den Rücken . Jetzt endlich erhob sich Olly . Sie hatte seit dem Zurückgeben der Aufsätze immer noch den letzten Strafplatz inne . Die lange Gestalt nach vorn übergebeugt , wie ein zusammengeklapptes Taschenmesser , stand sie stumm da . " Ich wünsche eine Antwort , oder ist Ihnen Sie Sprache eingefroren ? " Doktor Elbing war wegen seiner Ironie allgemein gefürchtet . Olly zuckte die Achsel . Das war ja alles so gleichgültig , wie hatte sie gestern wohl daran denken sollen , ihre Aufgaben zu machen ! " Sagen Sie Mal , Senta , " der Lehrer wandte sich zu der den Blondkopf möglichst tief in ihre Bücher Vergrabenden , " können Sie denn nicht Ihren Einfluß auf die Schwester mehr geltend machen ? Sie sind mir stets eine liebe , fleißige Schülerin , auch Ihre heutige Arbeit ist fehlerlos , wenn Ihre Schwester selbst keinen Trieb hat , so müssen Sie das Mädchen anspornen und dafür sorgen , daß sie ihren Pflichten nachkommt . " Senta war emporgeschnellt . Blutübergossen stand sie da . Sie wagte nicht , zu Olly hinüberzusehen , aber sie fühlte trotzdem deren verächtlichen Blick . Schmückte sie sich doch schon wieder mit fremden Federn ! Die Arbeit , um derentwillen sie belobt wurde , war zum größten Teil Ollys Werk . Die Arbeit , die den Anstoß zu der häßlichen gestrigen Streitszene zwischen ihnen gegeben . " Setzen Sie sich , " Doktor Elbing winkte der in peinlicher Verlegenheit dastehenden Senta wohlwollend zu , " und Sie , Olly Hildebrandt , " jetzt machte er ein paar Schritte gegen den letzten Platz hin , " merken Sie sich , ich weiß sehr wohl , Sie können , wenn Sie nur wollen . Sie sind für Geometrie begabt , lediglich Ihr mangelnder Fleiß und Ihre Teilnahmlosigkeit sind schuld daran , daß Sie nicht vorwärtskommen . Die Oktoberzensuren sind zwar schon geschrieben , aber ich ändere sie noch , falls Sie mir bis Ende der Stunde keine Aufklärung über die fehlende Arbeit gegeben haben ! " Der Lehrer nahm wieder seinen Platz auf dem Katheder ein und Olly den ihrigen . Sie wußte es , mit Doktor Elbing war nicht gut Kirschen essen , wenn er einen erst auf dem Strich hatte . Aber was sollte sie ihm denn bloß als Entschuldigungsgrund angeben ? Blätter raschelten , Federn kritzelten wieder , eifrig beugten sich die hellen und dunklen Mädchenköpfe über die Aufgaben . " Wetten , daß das häßliche junge Entlein den Schnabel hält und sich nicht entschuldigt ! " Eine hohe Stimme flüsterte es so deutlich durch die Stille , daß die Worte unbedingt das Ohr Ollys erreichen mußten . " Halten Sie gefälligst selbst den Schnabel , die Geometriestunde ist nicht zum Schnattern da ! " Doktor Elbing hatte nur das letzte verstanden , er sah mißbilligend zu der Sprecherin hin . Auch die übrigen Schülerinnen , die fast alle den Spottnamen kannten , vor allem Senta , blickten erschreckt und vorwurfsvoll zu Irmgard von Buschen . Die warf den kastanienbraunen Kopf herausfordernd in den Nacken und gab die Blicke hochmütig zurück . Sie fragte nicht danach , daß Olly Hildebrandt so weiß geworden war wie das Blatt Papier , das unbeschrieben vor ihr lag . Daß sie die Fingernägel in die Handflächen grub , um nur nicht die Herrschaft über sich selbst zu verlieren . So weit war es also schon gekommen ! Die ganze Klasse kannte bereits ihren Spottnamen . Oh , die Schmach , die Schmach ! Die Stunde verrann , Olly Hildebrandt dachte nicht mehr daran , einen Entschuldigungsgrund für die fehlende Arbeit zu finden ! " Ich gehe nicht mehr in die Schule , nicht zehn Pferde bringen mich wieder hierher ! " Das stand bombenfest in ihr . Erst aber wollte sie Irmgard zur Rechenschaft ziehen . Als das junge Mädchen , das Filzhütchen mit Schleier auf dem weichen Haar - Irmgard von Buschen war die einzige , die es wagte , mit einem Schleier in die Schule zu kommen - als Irmgard nach Schulschluß gerade zur Tür hinaus wollte , vertrat Olly ihr den Weg . " Wen hast du vorhin mit dem » häßlichen , jungen Entlein « gemeint ? " Ollys Stimme klang heiser vor Aufregung . " Anwesende sind stets ausgeschlossen , das solltest du doch wissen , mein schönes Fräulein . " Irmgard lachte leichtsinnig auf . " Ich will wissen , von wem du den Ausdruck hast ? " Olly stieß es so drohend hervor , daß es selbst der nicht leicht zu verblüffenden Irmgard unbehaglich zumute wurde . " Pah - frage doch deine Schwester , die wird dir darüber Auskunft geben können , was geht es mich an ! " Irmgard zuckte die schlanken Schultern , und fort war sie . Der Heimweg von der Schule bis zur Haltestelle der Elektrischen hatte immer etwas Bitteres für Olly . Auf diesem Endchen empfand sie es ganz besonders , daß sie keine einzige Freundin hatte . Lachend und kichernd zog Senta , zu drei und vieren untergeärmelt , mit den Kameradinnen voran , während Olly wie ein störrischer , bissiger Köter allein hinterhertrabte . " Herrgott , wo bleibst du denn wieder ? " Das war das einzige , womit Senta an der Haltestelle von der Schwester Notiz zu nehmen pflegte ; denn nach Hause mußten sie zusammen kommen . Heute war der Zwischenraum zwischen den beiden Schwestern größer als je . Senta schlug das Gewissen und trieb sie vorwärts . Außerdem traf sie , wenn sie rasch ging , die netten Studenten vom Tennis und von der Eisbahn . Es war ein beseligendes Gefühl für das blonde Backfischchen , wenn die bunten Mützen ehrerbietig wie auf Kommando in die Luft flogen . Olly grüßte keiner . Von allen Sportvergnügungen zog sie sich zurück , man kannte sie nicht . Auch bohrte sie stets mit ihren Blicken ein Loch in das Steinpflaster , sie würde einen Gruß noch nicht einmal beachtet haben . Als Senta die Haltestelle erreichte , war die Elektrische gerade im Begriff , abzugehen . Einen Augenblick schwankte das junge Mädchen , sollte es hinaufspringen ? Dann ging es dem ungemütlichen Beisammensein mit Olly am besten aus dem Wege . Aber Papa hatte anbefohlen , daß sie beide gemeinsam fuhren - ach was , warum trödelte die denn auch so lange ! Den Tod konnte man sich ja bei diesem Sturm an der zugigen Ecke holen . Dazu hatte Senta ihr junges Leben zu lieb . Schon schwang sie sich graziös auf das Trittbrett und winkte den Freundinnen ein lachendes Lebewohl zu . In diesem Augenblick bog auch Olly um die Ecke , und mit ihr zugleich der Oktoberwind . Der packte sie bei ihren schwarzen Defreggerzöpfen und riß ihr - hast du nicht gesehen - die graue Lodenmütze vom Kopf . Hinter der elektrischen Bahn wirbelte er sie her , Olly mußte ihre langen Beine in Trab setzen und dem Ausreißer nachfolgen . Die Mitschülerinnen hielten sich die Seiten vor Lachen über des häßlichen jungen Entleins plumpe Sprünge , und hinter dem Glasfenster der Bahn hervor lugte ein spitzbübisch lachendes Mädchengesicht . Senta gönnte Olly diese Blamage . Finster stülpte Olly die endlich ergatterte Mütze auf den Kopf : Verbündete sich nicht selbst Wind und Wetter gegen sie ? Finster blickte sie hinter der Schwester her . Sentas augenscheinliche Flucht erschien ihr feige und verächtlich - " aber wart ' du nur , du sollst mir schon Rede stehen ! " Es war am Nachmittag desselben Tages . Olly hatte keinen ihrer Angehörigen , nicht einmal Fräulein Arnold , zu sehen bekommen . Das Essen wurde ihr auf ihrem Zimmer serviert . Sie schämte sich grenzenlos vor den Dienstboten , daß sie wie ein Kind bestraft wurde . Am liebsten hätte sie , wie am Abend zuvor , alles unberührt gelassen und sich dem langsamen Hungertode preisgegeben . Aber ihr gesunder Organismus verlangte sein Recht . Und das Schmählichste daran war , daß es ihr trotz ihres Herzeleids vorzüglich schmeckte . Senta hatte ihre Schularbeiten so lange als möglich aufgeschoben und sich in den unteren Räumen herumgedrückt . Sie hoffte , daß Olly das gemeinsame Zimmer verlassen würde . Aber Olly tat ihr diesen Gefallen nicht , Olly wartete . Sie konnte es unmöglich hingehen lassen , daß Senta sie dem Spotte der ganzen Klasse preisgab . Als die jüngere Schwester schließlich trällernd , als ob nichts geschehen sei , das Stübchen betrat , war Olly gerade dabei , ihre Blumen auf dem Blumentischchen unterzubringen . Liebevoll suchte sie für jedes Pflänzchen den besten , geschütztesten Platz . Jetzt aber ließ sie ihre hübsche Arbeit im Stich und wandte sich jäh um . " Willst du vielleicht die Güte haben und mir Irmgard von Buschens heutige Worte erklären ? " fragte sie kurz . " Welche ? " Senta stellte sich dumm . " Du weißt sehr gut , was ich meine , die , welche bereits die ganze Klasse kennt ! " " Ich rede überhaupt nicht mit dir nach deinem gestrigen Benehmen ! " Senta fand es für geraten , selbst die Beleidigte zu spielen . " Laß deine Mätzchen ! " herrschte die Große sie an . " Schämst du dich gar nicht , solch einen Schimpfnamen für deine eigene Schwester zu erfinden und ihn dann noch in herzlosester Weise in der Klasse herumzuposaunen ? " Das blonde Backfischchen duckte sich förmlich unter dem verächtlichen Ton der älteren Schwester . " Ich habe ihn gar nicht erfunden , er stammt . . . " Sie machte jetzt doch eine Pause , denn Wolfgang Steinhardt , der sie gestern erst gebeten , liebevoll gegen Olly zu sein , tauchte mahnend vor ihr auf . " Woher - woher stammt der Name ? " Olly schüttelte die Schwester , ohne es zu wissen , in ihrer Aufregung an der Schulter . " Laß los - du - willst du mich vielleicht wieder schlagen ? " Senta machte sich ungestüm frei . Olly ließ schlaff die Arme sinken . " Bitte , sage , von wem der Name kommt ! " Olly sah die Schwester an wie das Reh , das die Brust der todbringenden Kugel darbietet . Senta fühlte , daß sie Olly weh tun würde , und zum erstenmal erwachte ein schwesterliches Gefühl in ihr . " Ich möchte es lieber nicht " , meinte sie kleinlaut , nicht nur aus Furcht vor Wolfgangs Vorhaltungen . Ollys noch eben bittende schwarze Augen bohrten sich drohend in die sanften Blauaugen . Das reizte Senta . " Also meinetwegen - Wolfgang Steinhardt hat den Beinamen für dich herausgefunden , nun weißt du es . " " Du lügst ! " Gellendes klang Ollys Stimme . " Frag ' ihn doch selbst ! " Senta lachte hell auf . Sie wußte es ja ganz genau , daß Olly sich lieber die Zunge abbeißen würde , ehe sie den Freund befragte . Jede weiche Regung war bei ihr wieder geschwunden . Wortlos verließ Olly das Zimmer . Sie mochte den Kampf , der in ihr wütete , nicht vor Sentas Augen auskämpfen . Draußen im Garten der Herbststurm , der vom Kanal daherfuhr , hier Zweige knackte , dort Äpfel und Nüsse abschlug , der in einer toten Blätterwolke die Gartenpfade entlangbrauste , der war ihr gerade recht in ihrer augenblicklichen Stimmung . Sie ließ sich vom Winde treiben , und je mehr er an ihr riß und zerrte , um so lieber war es ihr . " Reißt - zerrt an mir - alle - alle . . . " Immer wieder bildeten ihre Lippen diesen Text zu dem wilden Sang des Oktoberwindes . Aber allmählich kühlte sich ihr heißes Blut , sie wurde ruhiger . Hatte sie denn wirklich so fest geglaubt , daß der Schmähnamen Sentas Kopf entsprungen sei , und Wolfgang Steinhardt ihn nur aufgegriffen und wiederholt habe ? Ja , denn sonst hätte die unumstößliche Tatsache sie nicht so schmerzhaft getroffen . " Olly , du holst dir den Tod bei dem Wetter ohne Mantel hier draußen ! " Rudi kam ihr entgegen . " Was liegt an mir ? " Olly stieß es bitter hervor . Der Bruder blieb vor ihr stehen und packte sie bei den dünnen Armen . " Brrr - Mädel , wie siehst du aus . . . " " Ich weiß allein , wie garstig ich bin , du brauchst es mir nicht noch mitzuteilen . " Ollys Stimme klang wie eine zersprungene Saite . " Aber Olly , das wollte ich doch nicht damit sagen , " Rudi machte ein ganz bestürztes Gesicht , " ich meinte doch bloß , du siehst so schrecklich elend aus ! Ganz bleich , und die Augen so tief umschattet - sage , hast du dir Papas Philippika wirklich so sehr zu Herzen genommen , du Dummchen ? " Trotz der letzten Schmeichelei taten die herzlich warmen Worte des Bruders Ollys frierendem Herzen wohl . Rudi war der beste von den Geschwistern , Olly hielt besonders viel von ihm , um so mehr kränkten sie seine häufigen Hänseleien . Sie gab keine Antwort , sie wollte sich nicht weich machen lassen . Der Bruder würde sie gerade so enttäuschen , wie der Freund sie enttäuscht hatte ! Rudi war unschlüssig stehengeblieben . Olly war wieder störrisch und unzugänglich wie immer . Das gescheiteste war , er ließ das unliebenswürdige Ding einfach laufen . Aber da war etwas in ihrem Blick und auch vorhin in ihrer Stimme gewesen , das ihn gegen seine Überzeugung voll Mitleid bei ihr bleiben ließ . " Du , Olly , komme ins Haus , du erkältest dich . " Er zog ihren Arm durch den seinen . Wie in einem Traum ließ die Schwester es geschehen . Gab es denn wirklich noch jemand auf der Welt , der sie nicht verabscheute , der mit ihr Arm in Arm gehen mochte ? Das vollständig zu Boden getretene Selbstbewußtsein des jungen Mädchens begann leise und zaghaft wieder den Kopf emporzuheben . Als sie die zum Portal emporführende Freitreppe erreicht , wandte sie errötend den Kopf Rudi zu . " Bitte , laß uns noch einmal durch den Garten gehen " , bat sie leise , denn sie schämte sich , daß sie den Arm des Bruders noch nicht freigeben mochte . Rudi verstand ihr zartes Empfinden nicht , aber er war froh , daß sie überhaupt wieder sprach . " Meinetwegen , " sagte er , " aber dann komme wenigstens mit in mein Cape . " Und er schlang den Arm mit dem Lodencape zugleich um die vor Kälte und Aufregung zitternde Mädchengestalt . So schritten die Geschwister stumm durch den entblätternden Herbstgarten . Ja - war es denn noch Herbst , kaltes , unfreundliches Herbstgrau ? Olly erschien der wolkendüstere Oktoberhimmel jetzt nicht mehr drohend und finster , das stumpftote Braun von Baum und Busch erglimmte zu farbenfreudigem Leben , und der Sturm , der sie noch soeben gezaust , konnte ihr in Rudis Mantel nichts mehr anhaben . Da drinnen war es warm und wohlig . Die Eiskruste , welche die letzten Tage um Ollys Herz hatten erstarren lassen , begann in dem warmen Arm des Bruders langsam aufzutauen . Auch Rudi war es eigentümlich zumute . Hundertmal war er mit der blonden Senta Arm in Arm lachend durch den Garten geschlendert . Aber das war etwas anderes gewesen als dieses schweigsame Beieinander heute mit Olly . Es fiel ihm ein , daß er seit Jahren sich zum erstenmal wieder brüderlich gegen die Schwester zeigte . Heute wies Olly ihn nicht zurück , wie so oft , wenn er sie mit seinen jungenhaften Neckereien aufzog . War es Täuschung , oder hatte sich das sonst so abstoßende Mädel soeben wirklich fester in seinen Arm geschmiegt ? Ihm kam der Gedanke , daß er Olly gegenüber viel gutzumachen habe . " Du , Olly , soll ich Papa bitten , daß er dich wieder bei Tische essen läßt ? " fragte er aus seiner versöhnlichen Stimmung heraus . Olly schüttelte nur den Kopf . Das Herz war ihr zu voll zum Sprechen . " Ich habe der Senta gestern den Standpunkt klargemacht , was brauchte sie dich denn gleich bei Papa zu verklatschen - Petzen ist gemein - lieber hätte sie dir wieder eine Maulschelle geben sollen , dann wäret ihr quitt gewesen ! " philosophierte Rudi . Olly war bei seinen Worten die Schamröte über ihr gestriges Tun ins Gesicht gestiegen . " Wir wollen nicht von Senta sprechen " , meinte sie leise , denn sie fror wieder in Gedanken an die Schwester . " Ich wollte Papa bitten , mich aus der Schule zu nehmen " , fuhr sie fort - wie merkwürdig , daß sie plötzlich jemand hatte , gegen den sie sich aussprechen konnte . " Nanu - wieso denn ? Du bist doch erst Ostern fertig , haste was ausgefressen ? " Rudi zog die Augenbrauen hoch . " Nein - aber . . . " Unschlüssig blickte Olly den Bruder von der Seite an . Es war doch nicht so leicht , das , was sie im Innersten verwundet , hier in Worte zu fassen . Aber als sie Rudis treuherzig ermunterndem Blick begegnete , überwand sie sich . " Sie verspotten mich in der Schule - sie machen sich über mich lustig - alle - geradeso wie zu Hause , und Senta ist schuld daran ! " klagte sie leise . Nichts hätte Rudi sein eigenes Verhalten schärfer verurteilen lassen können als Ollys schlichte Klage . " Geradeso wie zu Hause . " Hundsgemein hatte er sich ja ebenfalls zu dem armen Ding benommen , aber - es sollte anders werden ! " Das mußt du dir nicht so zu Herzen nehmen , Olly , sie meinen es sicher nicht böse , auch Senta nicht , die ist nur übermütig und leichtsinnig " , tröstete er . Olly schluckte . Sollte sie es Rudi anvertrauen , welchen Schimpf man ihr in der Schule angetan , wie man sie dort allgemein nannte ? Nein , sie mochte in ihr schönes Beisammensein nicht diesen Mißklang bringen . " Wenn ich dir raten soll , Mädel , so kommst du Papa nicht mit deinem Schulabgang . Er ist heute mittag sowieso nichts weniger als rosiger Laune gewesen , sogar Fräulein Arnold traute sich kaum , ihn anzusprechen . Die neue Maschine funktioniert nicht so recht , da ist_es die ungeeignetste Zeit für deine Bitte . Überhaupt , was willst du zu Hause ? Auf deinem Zimmer hocken ? Mit Fräulein Arnold stehst du doch auch nicht gut " , ließ der Primaner seinem Herzen freien Lauf . Ja , was sollte sie denn zu Hause ? Überflüssig war sie dort wie überall ! Aber Rudi ließ kein bitteres Grübeln bei ihr aufkommen , er fuhr fort : " Ich sehe auch nicht den geringsten Grund ein , Olly , daß du fahnenflüchtig werden willst . Im Gegenteil , ich würde mich zusammennehmen und meinen Stolz dreinsetzen , in den Schulstunden alle zu übertrumpfen und ihnen zu imponieren ! Dann werden sie schon Respekt vor dir bekommen und dich nicht mehr verlachen . Und tun sie es trotzdem , weißt du , es macht ihnen ja nur Spaß , solange sie sehen , du ärgerst dich darüber . Wenn du dich gar nicht darum kümmerst , hören sie schon von selbst auf . Glaub es mir , ich spreche aus Erfahrung - leid genug tut mir es jetzt ! " Das waren ehrliche , gerade Worte , eine gute Medizin für ein wehes Gemüt . Olly griff denn auch unter dem Cape nach Rudis Hand und drückte sie herzhaft . " Rudi , was du mir heute gegeben hast , ist mehr , als daß ich dir dafür danken kann . Daran will ich denken , wenn du Mal wieder eklig zu mir bist ! " Aus tiefstem Herzensgrunde kam es Olly . Sie wußte es selbst nicht klar , nur dunkel empfand sie es , daß der Bruder ihr den Glauben an sich selbst zurückgegeben hatte . " Ich will nicht wieder eklig zu dir sein - Ehrenwort , rechte Hand ! " Der Junge schüttelte Olly fast den Arm aus dem Gelenk . Unweit der Villa machte sich Olly aus dem Lodencape frei . Denn auf dem Erkersitz im Wohnzimmer , früher Mamas Lieblingsplatz , saß Fräulein Arnold und blickte durch die Scheiben mit erstaunten Augen auf die seltsame Gruppe . In der Diele ließ Herbertchen seine Bleiregimenter gegeneinander aufmarschieren , er hatte hier den besten Platz für seine Kriegsübungen . Als der junge Feldmarschall Ollys ansichtig wurde , schwang er streitbar seine Fahne gegen sie und begann nach den Klängen " Deutschland , Deutschland über alles " mit Trompetenstimme " Olle , Olle , Olle , Olle " in Musik zu setzen . Die Schwester war heute sanftmütig wie ein Lamm , stillschweigend schritt sie unter den Klängen der Hymne die Treppe empor . Rudi aber packte den Sextaner bei seinen Locken . " Warte , mein Bürschchen , wenn du noch Mal frechdachsig gegen deine große Schwester sein wirst ! " Er zog den Kleinen an den Haaren , daß dieser in ein lautes Wehgeheul ausbrach . Was war denn bloß in Rudi gefahren ? Sonst hatte er ihn doch immer noch angestiftet , wenn es galt , Olly zu ärgern , und er war doch oft schon viel frecher zu ihr gewesen ! Fräulein Arnold , die auf Herbertchens Lamento erschien , meinte lächelnd : " Das ist recht , Rudi , daß Sie sich als Ritter der verfolgten Unschuld annehmen ! " Dieses Lob traf Rudis Jungenstolz empfindlich . " Ach wo " , wehrte er verlegen ab und begann sich seiner Guttat gegen Olly heimlich zu schämen . Diese aber hatte sich , ohne auf die den französischen Konjunktiv lernende Senta zu achten , an ihr Arbeitstischchen gesetzt . Mit großen Augen sah Senta , wie Olly voll Eifer schrieb und schrieb . Nanu , was war denn mit der los ? Wollte die etwa in der letzten Woche vor den Zensuren noch nachholen , was sie das Halbjahr über versäumt ? In Olly hatten Rudis Worte eine unglaubliche Schaffenskraft entzündet . Energie besaß sie immer , aber für die Schule lohnte es ihr nicht , dieselbe anzuwenden . Jetzt aber wollte sie . Jetzt wollte sie den dummen Dingern in der Klasse , die sie über die Achsel ansahen , vor allem Senta , zeigen , daß sie konnte , wenn sie nur wollte . Sie schrieb und lernte , daß ihr der Kopf brummte . Denn Lücken von vielen Monaten lassen sich nicht in ein paar Stunden ausfüllen . Je mehr Olly in das Loch , das ihr Wissen aufwies , hineinstopfte , um so erschreckender wurde sie inne , wie tief dieses Loch war . Da gehörte emsige Arbeit dazu , um ihre lange Teilnahmlosigkeit am Unterricht wieder wettzumachen . Aber Rudis Worte hatten ihr das Rückgrat gestählt . Wie schön , daß sie oben in ihrem Zimmer essen konnte ! Da brauchte sie das Lernen nicht dabei zu unterbrechen . Das , was ihr noch heute mittag als entehrende Strafe erschienen , hatte durch die Arbeit seinen bitteren Stachel verloren . Und noch eins half die Arbeit zurückdrängen . Das fruchtlose Grübeln und Nachdenken über den Spottnamen , den man ihr angehängt . Olly vergaß für einige Stunden ihren Gram . Auch als sie im Bette lag , machte ihr der französische Konjunktiv , den sie sich noch zuletzt einzutrichtern versucht hatte , so viel in Gedanken zu schaffen , daß gar kein Denken für anderes , Unerfreuliches , blieb . Nur an Rudi und seine Kameradschaftlichkeit dachte sie noch im Einschlafen . Das löste alles Herbe in dem jungen Gesicht und wischte die häßliche Falte von der Stirn . Aus dem grünen Efeukranz an der Wand blickten heute die Mutteraugen zufrieden auf ihr sanft schlummerndes Kind . Doktor Elbing war versöhnt . Olly hatte ihm zu Beginn der Physikstunde die nachträglich gefertigte Geometriearbeit auf das Katheder gelegt . Allerdings zu einer Entschuldigung hatte sie sich nicht aufschwingen können . Die wollte nun einmal nicht über die trotzigen Mädchenlippen . Jedoch Doktor Elbing war ein verständiger Mann . Er verlangte nicht alles auf einmal , er nahm die Tat für die Entschuldigung . Im Laufe der Physikstunde , die für Olly stets besonderes Interesse hatte , wenn sie auch tat , als ob die ganze Sache sie nichts anginge , zuckte ihr Arm plötzlich empor , da keine eine zufriedenstellende Erklärung für Adhäsion und Kohäsion zu geben vermochte . Aber erschreckt zog sie ihre Hand schnell wieder zurück . Scheu blickte sie um sich , hatte es auch keiner gesehen , daß sie sich von selbst gemeldet ? Doktor Elbing hatte trotz seiner Kurzsichtigkeit die plötzliche Bewegung wahrgenommen . " Nun , Olly Hildebrandt , können Sie es uns am Ende sagen , eine blinde Henne findet auch manchmal ein Korn ! " scherzte der Lehrer . Die Klasse kicherte über den Witz . Olly aber bis sich auf die Lippen . Nein , sie brachte keinen Ton heraus , wenn Doktor Elbing sich so voreingenommen zeigte . Daß sie selbst durch monatelange Gleichgültigkeit den Grund dazu gelegt hatte , bedachte sie natürlich nicht . Was für ein schadenfrohes Gesicht Irmgard von Buschen machte ! Rudis Worte : " Du mußt ihnen imponieren , dann werden sie schon nicht mehr lachen ! " wurden in ihr laut . Und ehe sie wußte , was sie tat , war sie aufgestanden und hatte , ohne zu stocken , geantwortet : " Adhäsion ist die Kraft , mittels der die Oberflächen zweier verschiedener Körper aneinander haften - Kohäsion ist die Kraft , durch welche die Teilchen ein und desselben Körpers sich aneinanderschließen . " Es war , als ob eine ganz andere aus ihr sprach . Doktor Elbing war so erstaunt über ihre richtige Antwort , daß er sich die Brillengläser putzen mußte . Dann blinzelte er sie durch die funkelnden Gläser an und sagte schmunzelnd : " Brav ! Olly Hildebrandt wird noch das Lumen der Klasse Ja . " Diesen Witz hätte er nicht machen sollen . Die Klasse , die noch eben geradezu erstarrt auf die fast immer stumme Letzte gesehen , brach in ein wieherndes Gelächter aus . Ollys mimosenhaftes Empfinden aber kroch wieder ganz in sich selbst zurück . Nicht um alles in der Welt hätte sie sich in dieser Stunde wieder gemeldet . Aber Doktor Elbing wartete das auch gar nicht ab . Zweimal , da Senta , die Physik für das geisttötendste Zeug der Welt hielt , nichts zu antworten wußte , wandte er sich an Olly . Diese schwankte , ob sie sprechen sollte . Aber die Verlockung , Senta , die stets auf sie herabblickte , auch einmal auszustechen , war zu groß . Olly gab die richtige Antwort . Merkwürdigerweise aber hatte sie kein erhebendes Gefühl danach , sondern solch eine lästige Empfindung , als ob sie sich unschwesterlich gegen Senta benommen hätte . Und das hatte doch diese wahrhaftig nicht um sie verdient ! Auch in den anderen Stunden hatten sowohl die Lehrer als auch die Schülerinnen Grund , sich über die plötzlich erwachte Regsamkeit der schläfrigen Letzten zu verwundern . " Sie will sich lieb Kind machen ! " sagte Senta laut in der Zwischenpause zu ihrer Intima Irmgard und streifte die nur in Gesellschaft ihres Frühstücksbrotes einsam im Schulhof herumspazierende Schwester mit einem feindseligen Blick . Olly ließ sich dadurch nicht irre machen . Sie blieb dabei , ihre Arbeiten pünktlich anzufertigen und Versäumtes nachzuholen . Melden tat sie sich nicht mehr in den Stunden , es war ihr peinlich , sich herauszustellen . Aber wenn sie gefragt wurde , wußte sie zu antworten . Zuerst freilich immer noch leise und scheu , aber durch das ermunternde Wort der Lehrer begann ihre Unfreiheit sich zu verlieren . Rudi schien recht zu behalten . Olly Hildebrandt hörte auf , der Zielpunkt des Spottes der Klasse zu sein . Das plötzliche Wissen der allgemein für dumm und einfältig Gehaltenen imponierte den Mädeln in der Tat . Ja , es war sogar schon vorgekommen , daß sich eine , die eine Geometrieaufgabe nicht verstanden , an Olly mit der Bitte um eine Erklärung gewandt hatte . Im ersten Augenblick hatte Olly es als eine Verhöhnung aufgefaßt , so sehr war sie in den Gedanken verrannt , daß man sich allgemein über sie lustig machte . Aber als sie sah , daß es der Betreffenden Ernst mit ihrer Frage war , setzte sie allen Stolz darein , dem Glauben an ihr geometrisches Verständnis gerecht zu werden . Da geschah etwas in der Zehnuhrpause , was Olly fast ebenso perplex machte wie die Klasse . Katchen Lehmann , der sie vorher die Aufgabe erklärt hatte , forderte sie auf , mit ihr zu gehen . Olly mochte das freundliche Anerbieten nicht zurückweisen , trotzdem es ihr tausendmal peinlicher war , untergeärmelt mit dem flachshaarigen Katchen durch den Hof zu pendeln , als ihre sonstige Solopromenade . Daran war sie und die anderen seit Jahren gewöhnt . Heute aber tuschelten sie , stießen sich an , wenn sie an den beiden vorübergingen , und drehten die Köpfe . Es war geradezu schrecklich . Olly war wie erlöst , als es wieder zur Stunde läutete . Trotzdem die einsilbige Begleiterin durchaus nicht amüsant für das muntere Katchen war , stellte es sich zur Zwölfuhrpause getreulich wieder ein . Olly Hildebrandt tat ihr leid . Sie fühlte , daß man ihr Unrecht tat . Und besonders von Senta fand sie es nicht schön , daß sie sich so wenig um die Schwester kümmerte . Der wollte sie mit gutem Beispiel vorangehen . Jetzt wandten sich die Mädchenköpfe schon seltener nach den beiden um , wie an alles im Leben , gewöhnte man sich auch an den Anblick der zwei . Olly hatte eine Schulfreundin . Freilich nur eine , mit der sie allenfalls die Vorkommnisse in der Klasse besprach , jedes persönliche Gespräch vermied das so wenig zugängliche Mädchen ängstlich . Katchen war klug genug , nicht in sie mit Fragen zu dringen , sie mußten erst warm miteinander werden . Die Lehrer waren jetzt mit ihr zufrieden - woran lag es nur , daß Olly trotz alledem nicht froh werden konnte , sondern immer noch gedrückt und mißmutig einherging ? Nicht nur die Erinnerung an Wolfgang Steinhardts ihr angetanes Weh war es , was kein frisch-fröhliches , jugendliches Empfinden in ihr aufkommen lassen mochte . Auch Rudis Verhalten schmerzte sie . Auf den Bruder hatte sie nach ihrer gemeinsamen Gartenpromenade in Sturm und Nebel fest gebaut . Und wenn er sie auch nicht geradezu enttäuscht hatte , gefoppt oder gehänselt hatte er sie seitdem nie wieder , er tat auch nichts , um ihr seine brüderliche Kameradschaft zu beweisen . Im Gegenteil , er ging ihr geradezu aus dem Wege . Ja , das tat er ! Als ob er Furcht vor ihr hatte , daß sie sich vertraut zu ihm stellen könnte . Olly ahnte nicht , daß Fräulein Arnolds harmlose Worte das Aufblühen der Gemeinschaft zwischen den Geschwisterherzen im Keime erstickt hatten . So kamen die Oktoberzensuren heran . Sonst hatte Olly das Verteilen der Zeugnisse stets mit stumpfer Gleichgültigkeit hingenommen . Ob da genügend , mangelhaft oder gar noch nicht genügend prangte , ließ sie völlig kalt . Heute aber war sie doch ein wenig begierig , ob sich der Fleiß der letzten Tage nicht günstig bemerkbar machen würde . Die Zensuren waren freilich schon seit geraumer Zeit geschrieben , aber wenn man sie noch zum Schlechten abändern konnte , vermochte man das doch auch zum Guten . Um so niederschmetternder war das Resultat . Olly war wie vor den Kopf geschlagen . So schlecht war ihr Zeugnis noch nie ausgefallen . Nur in Geometrie und Physik genügend , sonst lauter mangelhaft und ungenügend . Freilich war noch eine Bemerkung hinzugefügt : " Olly Hildebrandt bat sich in der letzten Woche erfreulicherweise zusammengenommen und gezeigt , daß nicht mangelnde Fähigkeiten , sondern nur Trägheit der Grund ihres Zurückbleibens ist . Hoffen wir , daß ihr Streben von Dauer sein wird . " Diese Klausel , die ein Lob enthalten sollte , kam einem Tadel gleich . Wie ein Hohn auf das fleißige Arbeiten der letzten Woche erschien Olly das Zeugnis . " Ekelhafter Wisch ! " stieß sie in ihrer Erbitterung hervor , und trotz des hinter ihr sitzenden Katchens mahnenden " Aber Olly ! " zerknüllte sie die Zensur vor den Augen des Lehrers zu einem Knäuel . Doktor Müller , der Ordinarius , schüttelte den Kopf und sagte trocken : " Die ist wohl nicht recht bei Troste ! " Die Klasse jubelte , Olly war wieder der Mittelpunkt des Gespöttes . Der Ordinarius aber ließ sich das mißhandelte Zeugnis reichen , glättete es und schrieb mit roter Tinte darunter : " Olly Hildebrandt hat sich ungebührlich benommen . " Die blonde Senta war mit ihrer Oktoberzensur recht zufrieden . Betragen " lobenswert " , trotzdem das Plappermäulchen ein paarmal beim Sprechen ertappt worden war , und sonst alles durchweg " gut " . Senta strahlte über das ganze rosige Gesicht , als sie die Stufen zur Rokokovilla heraufsprang . Den dunkelhaarigen Kopf tief gesenkt , folgte Olly . Fräulein Arnold stand am Fenster . Als sie die Schwestern in augenscheinlich entgegengesetzter Gemütsverfassung mit ihren Zensurmappen nach Hause kommen sah , wußte sie , was die Glocke geschlagen hatte . Gerade als das junge Mädchen die Treppe hinauf in ihr Zimmer entwischen wollte , trat sie ihr entgegen . Senta hing der Hausdame bereits am Hals . " Hurra , feine Zensur , Fräulein Arnold ! " Damit wirbelte der Unband sie im Kreise herum . Fräulein Arnold wandte sich an die Ältere . " Na , und du , Olly ? " Das junge Mädchen zuckte die Achsel und wollte stillschweigend seinen Weg fortsetzen . Aber Fräulein Arnold legte ihm die Hand auf den Arm . " Willst du mir deine Zensur nicht zeigen ? " " Nein ! " sagte Olly kurz und versuchte die Hand abzuschütteln . " Ich wünsche dein Zeugnis zu sehen . " Fräulein Arnolds Lächeln schwand . " Und ich gebe es nicht ! " Feindselig Maß Olly die Hausdame . Aber ehe Olly noch wußte , wie ihr geschah , hatte Fräulein Arnold mit geschicktem Griff ihr das Zensurenheft entwunden . " Dazu haben Sie kein Recht ! " Olly ballte in ohnmächtiger Wut die Hände . " Kein Recht , wo ich Mutterstelle an euch vertrete ? " Die Dame warf einen anklagenden Blick gen Himmel . " Mutterstelle ! " - Olly rief es in schneidendem Ton . " Was geht denn hier vor - Olly , vergiß dich nicht ! " Auf der Schwelle erschien der Kommerzienrat . Er kam heute etwas früher zu Tisch . " Herr Kommerzienrat , " sagte Fräulein Arnold leise , " ich bin dieser ständigen Aufregungen mit Olly nicht gewachsen . Es tut mir leid um Ihre anderen Kinder , die ich in das Herz geschlossen habe , als wären es meine eigenen , aber es ist besser , ich verlasse dieses Haus ! " Zweistimmiges Wehgeheul erfüllte die Diele . Senta und das schon seit geraumer Zeit neugierig herbeigekommene Herbertchen , der frischgebackene Obersextaner , packten von jeder Seite den Arm ihres geliebten Fräuleins , als ob sie ihnen sogleich entrissen werden sollte . Oben auf dem Treppenpodest erschien Rudi mit erschrecktem Gesicht . " Meine Kinder geben Ihnen selbst die beste Antwort , Fräulein Arnold , wir lassen Sie nicht fort ! Versuchen Sie es , bitte , noch einmal mit dem Mädchen , und geht es trotzdem nicht , " - die liebenswürdig verbindliche Art des Kommerzienrats wurde drohend , er wandte sich der mit verschlossenem Gesicht dastehenden Olly zu - " merke es dir , eher gehst du mir aus dem Hause , als daß Fräulein Arnold durch dich von uns geht ! " " Papa - - - " schrie Olly auf und schlug die Hände vor das Gesicht . Davongejagt sollte sie werden , sie , die Tochter des Hauses , um einer Fremden Willen ! Noch einmal wurde Ollys Zeugnis heute zusammengeballt , und zwar von Papas eigener Hand . " Natürlich , dieselbe Leier in der Schule wie zu Hause , ungebührliches Benehmen und Faulheit dazu - man könnte wirklich verzweifeln , wenn ich euch nicht hätte ! " Papas Blick umfaßte liebevoll seine drei Blondköpfe , die ihm alle drei zufriedenstellende Zensuren heimgebracht . Droben in dem duftigen Mädchenzimmer saß Olly wieder Mal in tiefem Jammer . Und wieder Mal flüchtete sie sich mit ihren Schmerzen zu Andersens Märchenbuch . An den Verfolgungen des häßlichen jungen Entleins Maß sie die ihrigen , und es war ihr ein wonniges Gefühl , daß es ihr selbst noch tausendmal schlechter erging . 6. Kapitel . Ungleiche Schwestern Von diesem Tage an ließ das häßliche junge Entlein seine Flügel , die es so energisch zu höherem Fluge ausgebreitet , wieder ganz entmutigt sinken . Olly rührte in den Ferien , die sie zu ernsthafter Arbeit hatte benutzen wollen , kein Schulbuch an . Wozu ? Es nützte ihr ja doch nichts ! Ihr Ruf als faule Schülerin stand so fest , daß selbst das eifrigste Streben nichts daran zu ändern vermochte . Sie beschuldigte ihre Lehrer innerlich der Ungerechtigkeit und bedachte nicht , daß sie selbst damit viel ungerechter gegen dieselben war , als umgekehrt . Denn auf einen Hieb fällt kein Baum . Olly mußte den Lehrern erst beweisen , daß es ihr Ernst war mit ihrem plötzlichen Anlauf zum Lernen . Um so enttäuschter war man in der Schule nach Ablauf der Ferien von ihrer völligen Teilnahmlosigkeit : das war ja schlimmer als zuvor . Sie machte den Mund überhaupt nicht mehr auf , verdrossen und gelangweilt saß sie wieder auf ihrem Platz . Der Physiklehrer , Doktor Elbing , versuchte es zuerst noch öfters , das junge Mädchen dem stumpfsinnigen Vorsiechhinbrüten zu entreißen . Er stellte Fragen an Olly , die ihr Interesse an dem Gegenstande wecken sollten , appellierte an ihre kürzlich gezeigte Befähigung für Physik und Geometrie . Aber ebensogut hätte er das Wort an den Wandkartenständer richten können , Olly blieb geradeso leblos und stumm . Da machte Doktor Elbing es wie die übrigen Lehrer , er ließ das teilnahmlose Mädel links liegen und bedachte es allenfalls hin und wieder mit einer seiner ironischen Bemerkungen . Olly Hildebrandt , die bereits im Begriff gewesen war , sich die Anerkennung und Sympathien ihrer Mitschülerinnen zu erringen , wurde wieder zum Gespött der Oberklasse . Auch das vermochte sie nicht ihrer Stumpfheit zu entreißen . Selbst Katchen schüttelte trübselig ihren Flachskopf , wenn sie jetzt auf Olly blickte . Sie hatte sich redlich Mühe gegeben , weiter zu ihr zu halten . Aber Olly hatte in ihrer Verbitterung allem , was Schule hieß , den Krieg erklärt . Sie hatte das freundliche Katchen so wenig freundlich abgewiesen , daß dieses sich gekränkt nun ebenfalls von ihr zurückzog . Auch zu Hause ging es nicht anders . Olly war nach jenem Zensurentag störrischer und verstockter als je . Rudi , den einzigen , der jetzt vielleicht den Schlüssel zu ihrem Herzen gehabt hätte , hielt Dummerjungenstolz fern von ihr . Die Schwester litt mehr darunter , als sie es sich selbst zugestand , so grenzenlos verlassen wie augenblicklich war sie sich kaum jemals vorgekommen . Wolfgang Steinhardt ging sie mit bewunderungswürdiger Gewandtheit aus dem Wege . Seitdem sie seine sie unbarmherzig treffenden Worte unter dem Reinettenbaum belauscht , hatte sie jede Begegnung mit ihm zu vermeiden gewußt . Die erste Zeit , solange sie sich noch im Exil befand und nicht am Essen teilnehmen durfte , wurde ihr das leicht gemacht . Schwieriger wurde die Sache erst , als sie Sonntags wieder bei Tisch erscheinen mußte . Ein- oder zweimal ließ sie sich wegen Kopfschmerzen entschuldigen . Und das war keine Unwahrheit , denn die Aufregung und die Überlegungen , wie sie sich verhalten sollte , hatten tatsächlich ein schmerzhaftes Hämmern in ihren Schläfen erzeugt . Es war jetzt merkwürdig bei Kommerzienrats . Für den unbeteiligten Zuschauer höchst amüsant . Einer lief immer vor dem anderen davon . Olly vor Wolfgang , und Rudi wiederum vor Olly . Aber als Papa an einem Sonntagmorgen in besonders guter Laune die einsilbig vor ihrer Tasse sitzende Tochter aufzog : " Na , Olly , wie geht es heute deinen Sonntagkopfschmerzen , oder pflegen die sich erst zum Essen einzustellen ? " da hielt sie es doch für geraten , diesmal dem Mittagstisch nicht fernzubleiben . Überhaupt , was hatte sie notwendig , vor einem Zusammentreffen mit Wolfgang Steinhardt Furcht zu empfinden ! Höchstens mußte er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber haben . Dies schien aber ganz und gar nicht der Fall . Der junge Ingenieur hatte keine Ahnung davon , daß Olly von dem Ehrentitel , den er ihr angehängt , Wind bekommen hatte . Denn Senta hütete sich wohl , etwas darüber verlauten zu lassen . So nahm er an , lediglich die schlechte Oktoberzensur und eine damit zusammenhängende Strafe sei schuld an Ollys Unsichtbarkeit . Als sie heute mit der Suppe zugleich an den geschmackvoll mit buntem Herbstlaub geschmückten Sonntagstisch trat , fühlte sie , wie das Blut ihr in die blassen Wangen schoß . Ihr ohnedies finsterer Gesichtsausdruck wurde dadurch nicht liebenswürdiger . Sie neigte den Kopf zu kurzem Gruß , ihm die Hand zu reichen , das brachte sie nicht über sich . Dazu war sie zu wahr in allen ihren Empfindungen . Der nichtsahnende Wolfgang nahm die kühle Begrüßung humoristisch . Er stand auf , machte der jungen Dame eine tadellose Verbeugung und sagte : " Mein Name ist Steinhardt . " Alles lachte . Olly runzelte die schwarzen Augenbrauen und setzte sich stillschweigend auf ihren Platz . Vergeblich richtete Wolfgang während der Mahlzeit einige Male das Wort an sie . Olly tat , als ob sie schwerhörig wäre . Sie hatte es in der Schule allmählich darin zu einer gewissen Virtuosität gebracht . Nur mußte sie hier jeden Augenblick befürchten , daß Papa oder Fräulein Arnold eingriffen und es wieder zu einem unerfreulichen Intermezzo käme . Auch Wolfgang hegte dieselben Befürchtungen , und da er Olly keine Unannehmlichkeiten machen wollte und auch das Zwecklose seiner Bemühungen einsah , ließ er sie in Ruhe . Er hielt ihr verändertes Wesen ihm gegenüber nur für backfischartige Launenhaftigkeit und freute sich an Sentas gleichmäßiger Heiterkeit . Aber als Olly unmittelbar nach dem Gesegnete-Mahlzeit-Sagen in ihr Zimmer entwischen wollte , eilte ihr Wolfgang mit raschen Schritten nach . Auf der Treppe stellte er sie . " Nun sage Mal , Olly , was soll das kindische Schmollen und Beleidigtun eigentlich ! Habe ich mir unwissentlich irgendwie deine Ungnade zugezogen , dann bitte ich unterwürfigst um Verzeihung - aber verdirb mir die Stimmung nicht , Mädel , mit deinem ewigen Gekränktsein ! " Wolfgang hielt ihr kameradschaftlich die Hand entgegen . Olly übersah es . Sie kräuselte schmerzlich die Lippe . Er hatte ihr mehr als die Stimmung verdorben , als er jenen Spottnamen für sie erfunden ! Sie gab keine Antwort . " Ich denke , wir sind Freunde , Olly , du warst doch sonst nicht so abstoßend zu mir ! Du hast mir doch öfters bewiesen , daß du anders sein kannst - warum verstellst du dich heute ? " " Ich verstelle mich nicht , ich bin ehrlich , aber du - Sie vorstellen sich ! " rief Olly mit flammenden Augen . Wolfgang Steinhardt tippte lachend auf seine Stirn . " Du hast ja 'n Piepmatz , Olly ! " scherzte er mit der brüderlichen Offenheit , die er den Hildebrandtschen Kindern gegenüber stets an den Tag zu legen pflegte . " Das verbitte ich mir ! " Das junge Mädchen war außer sich , " überhaupt ich verbitte mir auch Ihr Du , ich bin bald siebzehn Jahre und will mich nicht mehr mit Ihnen duzen . " " Ich mich aber mit dir . " Wolfgang lachte ganz gemütlich . " Dann - dann - sind Sie von heute an Luft für mich ! " Ihre schwarzen Augen sprühten ihn zornig an , und - fort war sie . " Du bist ein ganz unreifes Mädel ! " Das hörte sie gerade noch , ehe sie die Tür zuschlug . Trotzdem Wolfgang Steinhardt die Angelegenheit als Kinderei betrachtete , war ihm der Sonntag gründlich verstört . Was hatte denn dieser Trotzkopf bloß wieder ? Sollten Vater und Geschwister am Ende doch recht haben , daß mit Olly kein Auskommen war ? Sollte die Schuld wirklich nur an ihr liegen ? Und doch . . . es schmerzte ihn , daß er ihr Vertrauen wieder eingebüßt hatte . Er hatte gehofft , Einfluß auf sie zu gewinnen und sie dadurch auch ihrer Familie näherzubringen . Da stürmten Rudi , Senta und Herbertchen auf ihn los . Alle drei kamen sie , um den Fahnenflüchtigen zu einem gemeinsamen Gesellschaftsspiel zurückzuholen . Wolfgang mußte heute ein Pfand nach dem anderen geben . Er war unaufmerksam . Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen . Sollte Senta nicht das Plappermäulchen gehalten und Olly etwa ihren Beinamen verraten haben ? Das würde vieles erklären . Aber der Blondkopf hatte ihm doch Verschwiegenheit gelobt . Jedenfalls mußte er sie Mal fragen . Beim Pfänderauslösen , als Herbertchen ein kleines Goldmedaillon in der Luft herumschwenkte und rief : " Was soll der tun , dessen Pfand ich halte in meiner Hand ? " fiel Wolfgang , der das Medaillon als Sentas Eigentum erkannte , schnell ein : " Eine Frage der Wahrheit gemäß beantworten ! " " Welche Frage ? " hieß es allgemein . Das Backfischchen brannte lichterloh vor Neugierde . " Das wirst du schon erfahren . " Wolfgang hüllte sich vorläufig in Stillschweigen . Senta konnte kaum noch ruhig auf ihrem Stuhl sitzen . Sie zappelte vor Ungeduld , was es wohl sein könnte . Immer wieder versuchte sie es herauszubekommen . Endlich war das Spiel beendigt . Senta zog den Freund ins Bibliothekzimmer . " Schieße los ! " drängte sie . " Sieh mich Mal an , Senta " , sagte Wolfgang ernst . " Bäh ! " machte das Blondchen und ließ dabei sogar ihre niedliche Zunge sehen . " Willst du mir meine Frage ehrlich beantworten , Kind ? " Kind - na , da hörte sich doch alles auf ! Wolfgang aber fuhr bereits fort : " Sage Mal , Sentchen , hast du vielleicht Olly etwas vom » häßlichen jungen Entlein « verraten , ich bin nicht böse , aber sage mir die Wahrheit , es würde mir vieles erklären . " Das Backfischchen stand wie angedonnert . " Was geht mich denn die dämliche Olly an , das lohnt sich , deshalb soviel Wesens zu machen ! " Sie wollte zur Tür hinaus . Denn diese Frage war ihr nicht gerade angenehm . Wolfgang hielt sie an ihren blonden Hängezöpfen fest . " Ich will die Antwort wissen , Senta " , bat er eindringlich . " Au , du ziepst mich ja ! " Sie versuchte sich loszumachen . " Hast du etwas verraten , Sentchen ? " " Ach , Unsinn . " Mit einem schnippischen Knicks enteilte ihm das blonde Hexchen . Senta wäre höchst erstaunt gewesen , wenn man ihr gesagt hätte , daß sie gelogen habe . Noch nicht einmal geschwindelt , kaum geflunkert , nur in geschickter Weise hatte sie die gerade Antwort vermieden - das konnte ihr doch keiner verdenken . Senta hatte ein selbstzufriedenes Gemüt , sie fand immer eine Entschuldigung für sich , wenn sie ein Unrecht begangen , während Olly sich mit Selbstvorwürfen oft zerquälte . Wolfgang Steinhardt war beruhigt . Er hielt Senta einer Unwahrheit nicht für fähig . Der junge Ingenieur hätte auch kaum Zeit gefunden , noch weiter über die Launen eines unreifen Mädels nachzudenken , denn der nächste Tag brachte große Aufregung in die Fabrik . Die neue Maschine , die schon bei der ersten Aufstellung Schwierigkeiten verursacht hatte , sollte noch einmal in Betrieb gesetzt werden . Papa hatte beim Essen davon gesprochen , und Olly , deren Interesse geweckt war , schlich sich heimlich zum Obstgarten . Von hier aus konnte sie einen Teil der Fabrikhöfe übersehen . Denn auf das Fabrikterrain selbst wagte sie sich nicht . Man war geschäftig beim Werk . Eine große Zahl blaublusiger Arbeiter und Monteure war mit der Aufstellung des eisernen Ungetüms bemüht . Auch die Ingenieure waren anwesend . Zwischen den Edelobstbäumchen bemerkte Olly jenseits des Stachelzaunes zwei Arbeiterkinder . Sie blickten sehnsüchtig zu dem großen Apfelbaum herüber , den man noch nicht seiner Früchte beraubt hatte . Er trug Winteräpfel , die bis Ostern lagern konnten , und wurde stets als letzter geplündert . " Kiek Mal , Maxe , die Menge Äppel ! " sagte das kleine Mädchen und steckte in andächtiger Bewunderung den Finger in den Mund . " Drüben hat der Wind ein paar runterjeschmissen . ob ich Mal rüberflitze ? " Der Bruder sah die Schwester pfiffig an . " Nee , Maxe , nee , deine Hosen ! " Die Kleine warf einen ängstlichen Blick auf den Stachelzaun . " Und wenn_es Vater merkt , jibt's Dresche ! " setzte sie noch hinzu , sah aber dabei nur um so begehrlicher zu den rotbäckigen Früchten hinauf . Olly hatte zuerst nicht besonders auf die Kinder geachtet . Ihre Gedanken waren bei der neuen Maschine . Aber die sehnsüchtigen Kinderstimmen ließen sie aufhorchen . Ein Lächeln zuckte um die Lippen des jungen Mädchens , ein seltener Gast in dem blassen Gesicht . Dann reckte es sich ein wenig , griff einen durch seine schweren Früchte tief herabhängenden Ast und hielt ihn über den Stachelzaun . Die beiden Kinder wagten sich nicht zu bewegen . War es nicht wie im Märchen , in dem sich der Obstbaum selbst zu den armen , hungrigen Kindern herabneigt ? " Na , wollt ihr nicht pflücken ? " fragte Olly freundlicher , als sie jemals zu Hause sprach , über den Zaun herüber . Da kam Leben in die beiden . Eins , zwei , drei war der kleine Bengel an dem Zaun emporgeturnt , und packte nun , soviel er nur greifen konnte , während das Schwesterchen in der geflickten Schürze den unvermuteten Apfelregen auffing . Noch ein glückliches " Dank ooch schön " , dann machten sie sich mit ihrer Beute aus dem Staube . Sie hatten die Straße noch nicht erreicht , da begegnete ihnen Senta . Das blonde Fräulein trug einen Tennisschläger und ein Netz mit Bällen . Wohlerzogen machte das kleine Mädchen seinen Knicks . Dabei rollten ihr ein paar Äpfel aus der Schürze und gerade zu Füßen des Kommerzienratstöchterleins . Dieses stand starr . Die Frechheit ging doch zu weit ! Am hellen lichten Tage stahl man ihnen jetzt schon ihre Äpfel ! Mit drohend geschwungenem Tennisschläger vertrat sie den beiden den Weg . Anfassen mochte sie mit ihren weißen Händchen keine Arbeiterkinder . " Bande ihr - ihr habt uns ja Äpfel gemaust - sofort kommt ihr mit zum Herrn Kommerzienrat , der läßt die Polizei holen ! " rief sie . Zweistimmiges Geheul antwortete . " War haben nicht jecklaut - nee , wahrhaftig nicht ! " beteuerte der Junge , während das kleine Mädchen unter Schluchzen hervorstieß : " Was det Fräulein is , hat se uns ja selbst jejeben ! " " Welches Fräulein ? " Senta glaubte den Kindern nicht . " Na , die Häßliche ! " Die Kleine dachte sich nichts weiter bei ihren Worten . So wurde ja Kommerzienrats Älteste allgemein in der Fabrik genannt . Olly , die auf das Geschrei herbeigeeilt war , hatte die letzten Worte des Kindes gerade noch gehört . Sie brannten ihr wie Feuer auf der Seele . Das war der Dank für ihre Guttat ! Senta hatte die Kinder vorbeigelassen und wandte sich nun der jenseits des Zaunes auftauchenden Olly zu . " Ich werde es Papa sagen , wenn du dem Arbeiterpack unsere besten Äpfel schenkst ! " rief sie , Streit anfangend . Ehe Olly noch antworten konnte , klang aus den Fabrikhöfen ein wüster Tumult herüber . Rufe - entsetzte Stimmen - aufgeregtes Durcheinander . Um Gottes Willen - war da etwas passiert ? Olly fühlte , wie ihr Herz vor Schreck im Schlagen aussetzte . Mit langen Schritten eilte sie den Höfen zu . Senta folgte langsamer . Die durcheinandersprechende und hastende Arbeitermenge wich beim Anblick des jungen Fräuleins scheu auseinander . Olly drang herzklopfend vor . Ein Unglück - die neue Maschine hatte ihr erstes Opfer erheischt , ein Arbeiter lag in bewußtlosem Zustand , schwer am Bein verletzt , auf der Erde . Wolfgang Steinhardt und einige andere Ingenieure neigten sich schreckensbleich über ihn . Papa war noch nicht zur Stelle . Ein Monteur brachte Wasser . Olly riß ihr Taschentuch heraus und legte es dem Bewußtlosen als Kompresse auf die Stirn . Senta , die inzwischen auch näher gekommen , lief weinend wieder zurück . Sie konnte kein Blut sehen . " Bringt ihn in die Villa hinüber und holt den Arzt ! " sagte Olly zu den Umstehenden mit fester Stimme . Ein beifälliges Gemurmel antwortete . Man wußte es ja , das häßliche Fräulein hatte ein Herz für die Arbeiter . Auch Wolfgang Steinhardt sah mit Staunen , wie tatkräftig das im Kreise der Ihrigen stets gedrückte Mädchen hier auftrat . Da erschien der Kommerzienrat . Er war bleich wie seine Angestellten . " Wer ist es - Schulz - o weh , einer meiner Besten , - das auto - rasch , das auto , ich fahre den Mann selbst ins Krankenhaus , hier tut schnelle Hilfe Not ! " befahl er . Jetzt erst bemerkte er Olly . " Was hast du denn hier herumzulungern , Mädel , überall bist du im Wege ! " Sein Schreck und seine Erregung kam gegen die Tochter zum Ausbruch . Olly schlich sich scheu von dannen . Einige Minuten später raste das auto der Stadt zu . Die Gemüter der Arbeiterschaft beruhigten sich nicht so schnell . Neben dem Mitleid für den zu Schaden Gekommenen griff Groll und Unzufriedenheit darin Platz . Die Leute murrten . " Ins Krankenhaus - den Schwerverwundeten erst noch transportieren - warum nicht in die Villa rüber , wie das Fräulein wollte - die Villa ist wohl zu vornehm für unsereins ! " so brummte man durcheinander . Die Arbeiter verkannten die gute Absicht ihres Brotherrn , der mit seiner Umsichtigkeit sofort den Ernst der Lage und die Notwendigkeit eines schnellen chirurgischen Eingriffs übersehen . Wo die Saat der Unzufriedenheit und des Mißtrauens aber erst einmal Wurzel geschlagen , da schießt sie auch in unheilvoller Üppigkeit empor . Ob früher oder später ! 7. Kapitel . Märchenbilder In der Rokokovilla war die Aufregung natürlich groß . Der Kommerzienrat brachte schlechte Nachricht mit heim . Das Bein des Ärmsten war verloren , es mußte abgenommen werden . Stumm und beklommen lauschte man seinem Bericht . Nur Olly , die sonst stets teilnahmslos zu allem schwieg , machte heute den Mund auf und fragte : " Wird denn für den Mann und seine Familie gesorgt , wenn er durch uns arbeitsunfähig geworden ist ? " Der Kommerzienrat runzelte die Stirn . " Das verstehst du nicht ! " sagte er . Olly gab sich nicht zufrieden . " Aber warum verstehe ich das nicht ? " fragte sie trotz der beschwichtigenden Blicke von Fräulein Arnold noch einmal . " Herrgott , Mädchen , mußt du denn immer ein Aber haben - immer widerhaarig ! " brauste Papa auf . Dann wandte er sich zu Fräulein Arnold und Rudi : " Die Berufsgenossenschaft ist natürlich dafür haftbar , falls nicht eigene Unvorsichtigkeit nachgewiesen wird . " " Vielleicht können auch wir unser Scherflein für den Unglücklichen beisteuern " , begann da Fräulein Arnold ein wenig zaghaft , denn sie wußte nicht , wie der Kommerzienrat ihre Worte auffassen würde . " Ich meine durch irgendein Wohltätigkeitsfest zugunsten des Armen . Am 3. Dezember hat Sentchen Geburtstag , da wollte sie sowieso ihre Freundinnen einladen - wie wäre_es , wenn wir lebende Bilder stellten und an alle Freunde und Bekannte Einladungen dazu verschicken würden ? Zuletzt sammeln wir für den Verunglückten , und wenn der Wohltätigkeit keine Schranke gesetzt wird , kriegen wir sicherlich eine hübsche Summe zusammen . " Fräulein Arnold hatte zum Schluß zu wieder mit ihrer sonstigen Sicherheit gesprochen , denn sie sah , wie sich des Kommerzienrats Mienen bei ihren Worten aufklärten . " Famos " - jubelte Senta los - " famos , lebende Bilder und nachher Abendbrot und Tanz ! " Sie war Feuer und Flamme für die Idee . Papa strich sich seinen Schnurrbart , er lächelte schon wieder über die Begeisterung seines Töchterchens und nickte der Hausdame beistimmend zu . " Bravo , ich habe nichts dagegen , wenn auch ihr euer Scherflein dazu beitragen und euch in den Dienst der Wohltätigkeit stellen wollt . Nun seht nur zu , daß ihr auch hübsche Bilder herausfindet . " Fräulein Arnold lächelte erfreut , Senta aber rief : " Und Tanzherren lade ich mir auch ein , au , fein wird_es ! " " Wir könnten Bilder aus den griechischen Sagen stellen , " meinte Rudi - " nee , Indianerbilder ! " überschrie ihn Herbertchen . " Und eine Sektbowle muß es geben , ja , Papachen , bei Buschens gab es Erdbeerbowle ! " schmeichelte Senta zärtlich . Olly griff sich an die Stirn . Sie fühlte sich wieder fremd im Kreise der Ihren , sie verstand sie gar nicht . Ein Fest - Sektbowle , lebende Bilder - wie konnte man bloß an so etwas denken , wo solch schreckliches Unglück passiert war ! Und all das wollte man um des Arbeiters Schulz Willen arrangieren ? Tanzen , wo er sein Bein eingebüßt hatte ? Unsinn - Olly sagte es sich voll Bitterkeit , amüsieren wollte Senta sich vor allen Dingen ! Wäre es nicht gescheiter . Senta verzichtete auf die Geburtstagsfeier , die viel Geld kosten würde , und man gab diese Summe dem Armen ? Inzwischen erörterten die anderen lebhaft die Frage , wen man zu den lebenden Bildern alles auffordern wollte . Senta setzte sofort eine lange Liste ihrer Freundinnen auf . " Und du , Olly , wen möchtest du dazu haben ? " wandte sich Fräulein Arnold , die Olly nicht zurücksetzen mochte , an die Schweigsame . Olly machte ein Gesicht , als ob sie die ganze Sache nichts anginge . Sie schwieg . Senta lächelte vielsagend . . . Olly und Freundinnen ! Das ärgerte die Große . Trotzdem sie eben noch gegen das Fest gewesen , sagte sie , um zu beweisen , daß sie nicht ganz einsam dastände : " Ich möchte Katchen Lehmann auffordern . " Aber als sie es ausgesprochen , ärgerte sie sich noch viel mehr . Nun war sie sich selbst ungetreu geworden , nun hatte sie gemeinsame Sache mit Fräulein Arnold und Senta gemacht ! In der Schule verursachte der Unglücksfall und das bevorstehende Wohltätigkeitsfest bei Kommerzienrats begreifliche Aufregung . Man brüstete sich damit , mit Senta befreundet und zugezogen worden zu sein . Selbst auf Olly fiel ein matter Abglanz des Ruhmes . Als Katchen Lehmann , die mit Senta nicht verkehrte , sich bei Olly für die Einladung bedanken wollte , wies die sie schroff zurück . Sie wollte nichts sehen und nichts hören von all dem Rummel . In der Rokokovilla dachte und sprach man jetzt eigentlich von nichts anderem . Nach langem Hin und Her , Für und Wider , nach den abenteuerlichsten und unmöglichsten Vorschlägen hatte man sich endlich auf Märchenbilder geeinigt . Senta sollte als " Märchen " zuerst die Gäste mit einigen Versen begrüßen und die Bilder einleiten . Beim Sonntagnachmittagskaffee war_es , als man endlich zum Resultat gekommen . Auch die Reihenfolge der Bilder war festgesetzt , nun handelte es sich nur noch um die Rollenverteilung . Senta hätte am liebsten jede Rolle übernommen . Sie wollte Dornröschen sein , Schneewittchen und Aschenbrödel , aber bei dem Schneeflockentanz im letzten Bild " Frau Holle " wollte sie natürlich auch mitwirken . Denn ihr Geburtstag war es doch ! " Mädel , du kannst dich doch nicht vervielfältigen " , lachte der Kommerzienrat , dem die Sache viel Spaß machte . " Du mußt deinen Freundinnen , wenn du sie zum Mitspielen ausgefordert hast , doch auch etwas überlassen , Sentchen " , stellte Fräulein Arnold lächelnd vor . " Und welche Rolle wird Olly geben ? " fragte da Wolfgang Steinhardt , dem es weh tat , daß man die Älteste einfach überging . Olly warf ihm einen feindseligen Blick zu . Wollte der sich über sie lustig machen ? Fräulein Arnold und Senta sahen sich ratlos an . Was - Olly sollte auch mitspielen , daran hatte man noch nicht gedacht . Man konnte sich doch die Bilder unmöglich durch ihren Anblick verderben ! " Olly könnte vielleicht » Frau Holle « im letzten Bilde geben " , meinte Fräulein Arnold endlich , froh , einen Ausweg gefunden zu haben . Frau Holle konnte so garstig sein , wie sie wollte . " Oder die Hexe in » Hänsel und Gretel « ! " fiel Senta übermütig ein . Papa drohte ihr . Um Ollys Lippen zuckte es . Aber sie beherrschte sich . " Ich halte das Aschenbrödel , das zu Hause von den bösen Schwestern zurückgesetzt wird , für passender " , meinte Wolfgang Steinhardt . Trotzdem Olly sich neulich so unliebenswürdig gegen ihn gezeigt , nahm er sich ihrer an . Unzufrieden sah er zu dem Blondkopf hinüber . Senta ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen . " Haha , das Aschenbrödel , " lachte sie , " die Olly das Aschenbrödel , welcher der kleinste Schuh paßt , die mit ihrer Elefantenpfote - - - " " Senta ! " unterbrach Papa sie jetzt mahnend . Olly hatte klirrend ihre Tasse fortgeschoben und sich erhoben . Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen . Sie empfand nicht die gute Absicht , die Wolfgangs Worten zugrunde gelegen , nein - vor allem hatte er sie mit ihrem Zurückgesetztwerden demütigen wollen . Es sauste und brauste in ihrem Kopf , sie wußte kaum noch was sie tat . " Wenn ich überhaupt bei den Märchenbildern mitspiele , gebe ich nur das häßliche junge Entlein ! " rief sie mit tränenheiserer Stimme , und da knallte auch schon die Tür hinter ihr ins Schloß . Eine atembeklemmende Stille trat nach diesen Worten ein . Wolfgang Steinhardt war im ersten Augenblick aufgesprungen , als wolle er hinter dem jungen Mädchen her . Dann besann er sich und setzte sich wieder auf seinen Platz . Streng und vorwurfsvoll suchte sein blaues Auge das Sentas . Die aber tat ihm nicht den Gefallen , ihn anzusehen . Verwirrt und erschrocken hatte sie zuerst die elektrische Bronzekrone so eingehend betrachtet , als sähe sie dieselbe heute zum erstenmal . Dann aber begann sie auf Mord den vor ihr liegenden Zettel zu beschreiben , dabei war alles dummes Zeug , was sie da notierte . Diese Olly - einen so gemein und jählings zu verklatschen ! Keiner wagte zu sprechen . Fräulein Arnold und die Brüder , die Ollys Spottnamen von Senta auch schon erfahren , sahen sich unsicher an . Der Kommerzienrat war der einzige , der die schwüle Situation nicht begriff . " Ihr müßt Olly nicht so arg aufziehen , " sagte er , " das Mädel ist jetzt wieder schrecklich gereizt . Also wann findet die erste Probe statt ? " " Sobald als möglich , Papachen . " Senta war glückselig , daß der Bann gebrochen . " Ein Vetter von Leutnant von Treuenfels ist Maler , ich habe ihn beim Tennis kennen gelernt , der will uns beim Stellen der Bilder behilflich sein . " Ihre Worte überstürzten sich wie Wellen , die alles Vorangegangene davonspülen wollten . Aber das gelang ihr nicht . Denn Wolfgang Steinhardt war zäh und eisern wie seine Maschinen , die er konstruierte . " Senta , ich möchte dich sprechen " , sagte er aufstehend . " Bitte . " Sie blieb sitzen . Er schwankte . Sollte er den kleinen Blondkopf hier vor den anderen blamieren ? Wenn_es der Kommerzienrat erfuhr , daß sie die Unwahrheit gesprochen , setzte es sicherlich selbst für seinen Liebling ein Donnerwetter ab . " Willst du mir nicht einen Augenblick ins Nebenzimmer folgen ? " " Nee . " Senta wagte noch immer nicht , den Freund anzusehen , aber sie gewann allmählich ihre Unverfrorenheit zurück . " Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun . Also Herbertchen ist der kleinste Zwerg im Schneewittchenbild , Rudi der Koch aus Dornröschen , und du , Wölfchen ? Willst du den Königssohn geben , dann bin ich das Dornröschen . " Mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit sah sie ihn halb bittend , halb siegesgewiß zum erstenmal wieder an . Aber sie erschrak vor seinen strafenden Augen . " Ich werde mich überhaupt nicht beteiligen , ich habe zuviel Arbeit in diesen Wochen ! " Senta bis sich auf die Lippen . Diese niederträchtige Olly , das hatte die ihr eingebrockt ! " Aber Herr Diplomingenieur , " sagte da Fräulein Arnold mit sanftem Vorwurf , " das werden Sie uns doch nicht antun ? Wir haben fest auf Ihre Hilfe gerechnet , Sentchen wollte Sie sogar bitten , ihr die Eingangsverse zu dichten , Sie sollen das ja so wunderschön verstehen . " " Ich bedaure , diesmal nicht dienen zu können , Senta wird sich an einen anderen wenden müssen . Auch für heute bitte ich , mich zu entschuldigen , ich habe noch dringende Arbeit zu erledigen . " " Lieber Wolfgang , Sie stürmen zu sehr auf sich ein . Sonntags dürfen Sie sich schon Ruhe gönnen " , meinte auch der Kommerzienrat . Aber Wolfgang Steinhardt war heute nicht zu halten . Senta überlegte , ob sie ihn nicht durch Bitten anderen Sinnes machen sollte ? Mit Schmeicheleien hatte sie noch immer alles durchgesetzt . Sie geleitete ihn aus die Diele hinaus . " Puh , was machst du für ein Gesicht , als ob du mich fressen wolltest ! Sei doch wieder gut , Wölfchen , und verdirb mir nicht die Freude an meinem Geburtstag ! " " Tut es dir gar nicht leid , mich belogen zu haben ? " fragte er dagegen streng . " Belogen - pfui - wie das klingt , ich habe einfach vermieden , dir die Wahrheit zu sagen " , lachte das Backfischchen leichtsinnig . " Lüge bleibt Lüge - und an Olly hast du auch nicht gedacht , wie weh du ihr mit dem Spottnamen tun würdest ! " Wolfgang griff nach seinem Hut . " Habe ich denn den für sie erfunden oder du ? " fragte Senta schlagfertig . " Also du spielst mit , Wölfchen ? " Bittend sahen die Vergißmeinnichtaugen zu ihm auf . " Nein " , sagte er schroff . " Na , denn nicht , du olle Tranfunzel ! " lachte das Backfischchen hinter ihm her . Fast täglich fanden in der Rokokovilla Proben statt , und besonders der Sonntag , wo es keine Schularbeiten gab , und auch die Herren frei waren , wurde dazu benutzt . Der regelmäßige Sonntagsgast blieb daher aus , um sich überraschen zu lassen , wie er sagte . In Wahrheit aber , um Senta zu bestrafen . Das blonde Backfischchen empfand die Strafe nicht allzu tief . Es war augenblicklich in seinem Fahrwasser . Von einer geradezu strahlenden Ausgelassenheit erschien es jedesmal . Denn die Proben waren " einfach himmlisch " ! Darüber gab es nur eine Stimme . Die Freundinnen zeigten Senta allenthalben ihre innige Liebe , die Herren machten ihr Komplimente , sie war der Mittelpunkt , wie sie es so sehr liebte . Ein Student hatte die Eingangsverse für das Märchen , mit denen Wolfgang sie zurückgewiesen , recht nett zusammengedrechselt . Nach jeder Probe , wenn die Arbeit getan war , ging das Vergnügen los . Dann wurden Tische und Stühle zur Seite gerückt , Fräulein Arnold setzte sich an das Klavier , und man probte das Tanzvergnügen im voraus . Das war das Schönste ! Olly hatte ihre Absicht , sich gänzlich fern von diesen Vorbereitungen zu halten , nicht durchführen können . Papa hatte kurz und bündig erklärt : " Olly gibt das Schneewittchen , dazu paßt sie mit ihren schwarzen Haaren ! " Trotz Ollys Bitten , sie doch überhaupt nicht mitspielen zu lassen , trotz der leisen Einwendungen von Fräulein Arnold und der lauten Senta blieb es dabei . Man hatte die Szene , in der das Schneewittchen aus dem Fenster schaut und die als Bäuerin verkleidete Stiefmutter ihr den vergifteten Apfel reicht , während in der Ferne die heimkehrenden Zwerge sichtbar werden , herausgegriffen . Olly , die in den Proben statt des noch nicht vorhandenen Fensters über die Stuhllehne schauen mußte , sah aus , als hätte sie den vergifteten Apfel bereits im Munde . Solch ein gallbitteres Gesicht machte sie stets . Da war es kein Wunder , daß die Mädel und die Herren über das so wenig liebreizende Schneewittchen heimlich ihre Glossen machten . Olly empfand es , dadurch wurde ihre Laune nicht besser . Sobald das Tanzen losging , verschwand sie in ihr Zimmer . Es war durchaus ungehörig für die Tochter des Hauses , aber sie brachte es nicht über sich , mit im Walzer und Polka herumzuhopsen . Sie mußte dabei immer an den auf seinem Schmerzenslager liegenden Verunglückten denken . Verschiedene Male hatte sie Papa schon gebeten , ob sie den Arbeiter Schulz nicht im Krankenhaus besuchen und ihm einige Erfrischungen mitbringen dürfe . " Wenn Fräulein Arnold dich begleiten kann , habe ich nichts dagegen " , lautete die Antwort . Aber so oft Olly damit anfing , ob sie nicht heute den armen Kranken besuchen wollten , hatte Fräulein Arnold gerade immer etwas anderes vor . Immer wurde sie auf morgen vertröstet . So machte sich Olly eines Nachmittags , als Fräulein Arnold und Senta aus waren , kurz entschlossen allein auf den Weg . Heimlich , denn Papa hätte es nie gestattet , daß sie ohne Begleitung in diese hauptsächlich von der Arbeiterbevölkerung bewohnte Gegend ging . Gern hätte sie dem armen Kranken ein Gläschen von den herrlichen Früchten , die Fräulein Arnold eingekocht , mitgenommen . Aber sie wagte es nicht ohne Erlaubnis . So kaufte sie von ihrem Taschengeld eine Büchse Erdbeeren und einen Maiblumentopf . Sie hatte Glück . Das Virchowkrankenhaus war gerade an diesem Nachmittag für Besucher geöffnet . Der Lysolgeruch legte sich beklemmend auf die Brust des in Luxus und Reichtum aufgewachsenen jungen Mädchens , als es die Krankensäle der chirurgischen Station durchschritt . Lauter Nummern über den Betten ; endlich hatte Olly die ihr angegebene erreicht . Bleich und angegriffen lag der Arbeiter Schulz in seinen Kissen . Beide Hände streckte er Olly entgegen , als er sie erkannte . " Das jnädige Fräulein selbst - nee , die Ehre - ich habe es ja immer gesagt , Kinder , habe ich jesagt , Fräulein Olly , det is die Beste von Kommerzienrats ! " Man sah dem Mann seine Freude über den Besuch an . " Wie geht es denn , Schulz , müssen Sie viel Schmerzen aushalten ? " fragte Olly eigentümlich berührt . Das hatte ihr noch keiner gesagt , daß sie die Beste wäre . Sie selbst war vollständig davon überzeugt , daß sie überall die Schlechteste sei . " Na , Wohljeton hat es ja jrade nicht , wie sie mir unters Messer hatten , und mit die Fabrik , wo man alt und jrau jeworden , is det nun ooch vorbei , 'n oller Stelzfuß bin ich nun jeworden , jrade noch Jute jenug , mit_dem Leierkasten auf die Höfe rumzuziehen . " Der Mann seufzte tief auf . Olly traten die Tränen in die Augen . Sie griff wieder nach der schwieligen Arbeiterhand . " Das sollen Sie gewiß nicht , Schulz , dafür lassen Sie meinen Vater sorgen , es gibt sicher in der Fabrik auch noch Beschäftigung , die Sie trotz Ihres Fußes ausüben können " , tröstete sie . " Das Fräulein hat recht , Schulz , grämen Sie sich nicht über Ihre Arbeitsunfähigkeit " , sagte da eine Stimme hinter Olly . Die fuhr erschreckt herum - ein neuer Besuch - Wolfgang Steinhardt . " Ich habe bereits mit dem Kommerzienrat darüber gesprochen , wir werden Sie als Mechaniker beschäftigen . Dazu brauchen Sie nur Ihre Finger und verdienen überdies ein schönes Geld " , fuhr der Ingenieur fort . " Tag , Olly " , er wandte sich jetzt zu dem jungen Mädchen . " Ich muß wieder nach Hause , gute Besserung , lieber Schulz . " Wie freundlich der herbe Mädchenmund mit dem einfachen Mann sprechen konnte . " Vielen , vielen Dank , und ooch für die Erdbeeren und die scheinen Blümeckens . Aber daß Sie selbst jekommen sind , war das Scheste ! " sagte der Kranke voll Dankbarkeit . " Du bist doch nicht allein , Olly ? " fragte Wolfgang Steinhardt , als das junge Mädchen mit kaum wahrnehmbarem Neigen des Hauptes an ihm vorüber wollte . Sie schritt schnell weiter , ohne Antwort zu geben . Der Ingenieur verabschiedete sich ebenfalls . " Ein andermal bleibe ich länger , ich sehe mich bald wieder nach Ihnen um , Schulz - heute muß ich dafür sorgen , daß das Fräulein gut nach Hause kommt . " Auf der Straße holte er Olly ein . Ein nebelfeuchter Herbsttag war es , es dunkelte bereits . Stumm gingen die zwei nebeneinander her , man hörte nur das Aufschlagen ihrer Schritte . Wolfgang überlegte , wie er mit dem jungen Mädchen am schonendsten über das Vorgefallene sprechen könnte , Olly dagegen , wie sie ihn am schnellsten los würde . " Ich wünsche keine Begleitung " , sagte sie , plötzlich stehenbleibend , und sah dabei den Laternenpfahl an , als ob der ihr sein unerwünschtes Geleit aufgedrungen . " Du kannst hier am Abend unmöglich allein gehen , weiß Papa und Fräulein Arnold von deinem Besuch ? " Olly schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung . Sie ging so schnell , daß es Wolfgang nicht leicht wurde , Schritt zu halten . " Es ist hübsch von dir , Olly , daß du trotz eures Festes noch Zeit für den armen Mann gefunden hast , aber wenn man etwas Gutes tut , braucht man es nicht zu verheimlichen ! " Und da sie noch immer schwieg , fügte er mit erregter Stimme hinzu : " Olly , sei doch nicht nachtragend , glaube mir , Kind , es hat mir selten etwas so leid getan ! " Wolfgang Steinhardt sprach die letzten Worte zu sich selbst . Denn die , an welche sie gerichtet , hatte sich in Trab gesetzt , sie ging nicht mehr , nein , sie lief . Doch plötzlich machte sie erschreckt halte . Ein Trupp johlender Burschen war um die Ecke gebogen . Olly war nicht gewöhnt , allein auszugehen , sie wagte sich nicht weiter . Wolfgang hatte sie bereits erreicht , ruhig führte er sie an den singenden Burschen vorüber . " Willst du mich nicht anhören , Olly ? Der schlimmste Verbrecher darf sich doch verteidigen . " Er versuchte wieder zu scherzen . Aber als er ihr unbewegliches Gesicht sah , das junge Gesicht , das weit über ihre Jahre ernst erschien , sagte er leise : " Olly , ich bitte dich - vergiß und vergib ! " " Vergessen - das - niemals ! " Wie ein Wehlaut hatte es sich ihr von den Lippen gerungen . Er sprach nicht mehr . Was sollte er denn auch noch sagen ? Das harte Wort ließ sich nicht ungeschehen machen . Kalt und unwirtlich wehte es über die Gelände vor den Toren Berlins . Die beiden fröstelten in ihrem stummen Beieinander . Fabrikschlote ragten gespenstisch aus dem Nebel heraus . Am Gartentor machte Wolfgang Steinhardt halte . Schweigend zog er den Hut . Und schweigend ließ Olly den getreuen Begleiter zurück - sie fand kein Dankeswort . 8. Kapitel . Ein Wohltätigkeitsfest Der große Tag war herangekommen . " Sechzehn Jahre " , sagte Senta zu sich selbst , als sie aufwachte , und griff nach dem kleinen Handspiegel , um festzustellen , ob sie heute nicht viel erwachsener aussähe . Aber da blickte dasselbe runde , rosige Gesichtchen mit zerzausten Blondhaaren ihr entgegen wie sonst . Nur um einige Grade erwartungsvoller waren die Blauaugen . Und sie hatten allen Grund dazu . Denn der Geburtstagstisch , den Papa mit Unterstützung von Fräulein Arnold seinem Liebling aufgebaut , erfüllte jeden Wunsch der kleinen Eitelkeit . Sogar der heißersehnte Abendmantel aus hellblauem Tuch fehlte nicht . Die größte Geburtstagsfreude aber wurde Senta heute von einer Seite , von der sie es am wenigsten erwartet . Olly hatte lange geschwankt , ob sie der Schwester , die sich in der letzten Zeit ganz besonders unschwesterlich gegen sie gezeigt hatte , etwas zum Wiegenfest schenken sollte . Aber ihr gutes Herz siegte . " Ich gratuliere dir " , sagte sie steif und errötend und legte ein weißes , weiches , krabbelndes Etwas mit einem himmelblauen Seidenschleifchen in den Arm des Geburtstagskindes . " Murks " - schrie Senta beseligt auf , " mein süßer Murks ! " und sie küßte den kleinen Nachfolger auf die Nase mit dem schwarzen Fleck und auf die seidenweichen Ohren . Dann aber , aus einem plötzlichen Impuls der Dankbarkeit heraus und aus dem Glücksempfinden , das solch ein sechzehnter Geburtstag mit all seinen Freuden erstehen läßt , reckte sie sich auf die Zehn und gab der fassungslosen Olly ebenfalls einen Kuß . " Ich danke dir vielmals , Olly , ich freue mich am allermeisten mit meinem neuen Murks ! " Olly vermochte kein Wort zu erwidern . Sie zitterte vor Erregung . Die plötzliche Liebesbezeugung der Schwester , bei der diese sich ebensowenig dachte wie bei ihren sonstigen Streitigkeiten , erschütterte das fein empfindende Mädchen in allen Fasern . Es fühlte sich reich belohnt für die Mühe , mit der es Murks ' Doppelgänger ausfindig gemacht . Vielleicht wurde nun alles gut ! Seit dem Verschwinden des kleinen Seidenpinschers hatte sich ja ihr Verhältnis zu Senta besonders zugespitzt . " Das ist ein netter Gedanke von dir , Olly " , lobte auch Fräulein Arnold , und der Kommerzienrat packte sie sogar am Ohr : " Sieh Mal an , Mädel , tut immer so duckmäuserig und schießt heute den Vogel ab mit ihrem Geschenk ! " Es tat weh , wie Papas Hände , die gewöhnt waren , Eisen zu prüfen , sie am Ohrläppchen rissen . Aber Olly hielt still , ganz still . Die erste Liebkosung Papas seit vielen Jahren ! Es schien ein Glückstag heute zu sein ! Ja , es war ein Glückstag ! Denn auch Rudi , der letzthin nur das Notwendigste mit ihr gesprochen , schüttelte Olly energisch die Hand . " Du bist ein anständiger Kerl , Olly , daß du der Senta solche Freude gemacht hast ! " sagte er hastig , als ob er sich seiner Worte schämte . Aber Olly erfüllten sie doch mit ungewohnter Befriedigung . Die Klingel an dem mit pausbackigen Engelsköpfchen verzierten Portal der Rokokovilla stand heute nicht still . Von früh an läuteten die Lieferanten für Küche und Keller Sturm . Dazwischen sah man herrliche Blumenarrangements tragen , die Tanzherren , die Senta eingeladen , sandten dem Geburtstagskinde ihren Gruß . Von einer regelrechten Gratulationscour am Vormittag mußte man der Schulstunden wegen Abstand nehmen . Denn trotz aller zärtlichen Vaterschwäche für Senta , das erlaubte der Kommerzienrat nicht , daß um des bevorstehenden Vergnügens Willen auch nur eine Stunde der Arbeit versäumt wurde . Fräulein Arnold vervielfältigte sich heute . Sie setzte ihre ganze Tüchtigkeit und Tatkraft ein . Jetzt war sie unten im Souterrain , um mit dem angemieteten Koch zu besprechen , wieviel Schüsseln von jedem anzurichten seien . Nun stand sie schon wieder in dem großen , eichenen Speisesaal und Maß mit dem Zollstock ab , wie weit die Bühne gehen dürfte , die für die Märchenbilder aufgeschlagen wurde . Mit einem Auge überwachte sie das Tischdecken der Kellner , mit dem anderen , daß die Kostüme für die Mitspielenden an dem richtigen Platz lagen . Und dazwischen hatte sie noch Zeit , mit Senta über jede Blumenspende zu jubeln und Herbertchen von dem Riesenbaumkuchen , dessen überzuckerten Nasen von seinen Tintenfingern Gefahr drohte , lachend zu scheuchen . Trotz des glückverheißenden Morgens kam sich Olly heute so überflüssig vor wie sonst . Sie hätte gern mit zugegriffen , aber sie mochte es nicht von selbst anbieten . So saß sie , die älteste Tochter des Hauses , während man drunten nicht Hände genug zur Hilfe hatte , untätig in ihrem Stübchen . Es graute ihr vor dem Abend und der Aufführung . Alle würden über sie lachen , wie in den Proben . Warum hatte Papa auch darauf bestanden , daß sie das Schneewittchen gab ! So weiß wie Schnee , so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz ! - haha , der reine Hohn ! Das Schwarz war das einzige , was zutraf . Für anmaßend würde man sie halten , ganz sicher ! Es pochte leise an die Tür , und gleich darauf wurde dieselbe geöffnet . Katchen Lehmann steckte ihren Flachskopf herein . " Olly , Menschenskind , wo vergräbst du dich denn selbst heute am Geburtstag : es ist Zeit zum Anziehen . Komme , ich will Ehre mit meinem Schneewittchen einlegen ! " Sie schlang den Arm um die Unbewegliche und schob sie lachend vor sich her . Olly hatten die Proben , von denen sie zuerst so wenig wissen mochte , mehr gebracht als Senta , trotz deren Jugendlust . Olly hatte eine Freundin gefunden . Katchen war früher niemals zu Hildebrandts gekommen . Sie stammte aus bescheidenen Beamtenkreisen , und Senta pflegte nur die Mädchen einzuladen , die ebenso schöne Kindergesellschaften gaben wie sie selbst . Auch später suchte sie sich ihre Freundinnen von diesem Gesichtspunkt aus . Gleich das erstemal , als Katchen das vornehme Heim der Schwestern betrat , empfand sie es mit ihrem warmen Herzen , daß Olly zu Hause ebenso allein stand wie in der Schule . Das arme Mädchen - ohne Mutterliebe wuchs es auf ! Katchen selbst hatte ein liebes Mütterchen daheim , das ihr Kind zum Mitleid erzogen hatte . Als Olly sich bei der ersten Probe zu Beginn des Tanzes davongeschlichen , wurde nach einem Weilchen auch Katchens Flachskopf unsichtbar . " Was willst du denn von mir , gehe doch zu den anderen tanzen ! " hatte Olly recht wenig liebenswürdig die Schulkameradin , die sie in ihrem Zimmer aufgesucht , empfangen . Aber Katchen hatte nur den Kopf geschüttelt . " Tanzt du denn auch nicht gern ? " Ganz erstaunt hatte es Olly gefragt . " O doch ! " In Katchens Augen hatte es fröhlich aufgeblitzt . " Ja , was willst du denn aber hier oben bei mir ? " " Dir Gesellschaft leisten , daß du nicht ganz allein bist . " Das warmherzige Katchen sagte es , als ob dies ganz selbstverständlich sei . Schweigend hatte Olly sie angesehen . Es gab jemand , der sein Vergnügen opferte , um ihr Gesellschaft zu leisten , ihr , die immer schroff und unfreundlich war ! Und dann hatte sie plötzlich beide Hände Katchens ergriffen und sie gepreßt . " Von heute an bist du meine Freundin , Katchen , das heißt , wenn - wenn - " stockend hatte Olly geschwiegen . " Was für ein Wenn gibt es denn noch dabei ? " lachte Katchen . " Wenn ich dir nicht zu häßlich bin ! " Olly hatte es mit Überwindung hervorgestoßen . Da aber hatte das Katchen noch viel mehr gelacht . " Aber Mädel , das ist doch ganz Wurscht , Mutter sagt , darauf kommt es gar nicht an , wie man aussieht , sondern nur , wie man inwendig ist ! " Olly hatte Katchen ungläubig angesehen und den Kopf geschüttelt . Das wußte sie nun entschieden besser als Katchens Mutter , es kam sehr viel darauf an . Seit diesem Tage verband eine warme Freundschaft die zwei so verschiedenen Mädchen . Wenn drunten in der Villa die Walzer- und Rheinländerklänge erschallten , saßen die beiden droben in dem traulichen Mädchenstübchen in eifrigem Geplauder . Olly war nicht gewöhnt , jemand ihr Herz zu öffnen . Aber mit der Zeit warf Katchen doch manchen Blick in die verschlossene Seele der neuen Freundin , und sie erstaunte über die Tiefe derselben ebenso wie über die Bitterkeit , die sich darin aufgespeichert . Sie nahm sich vor , Olly sehr lieb zu haben . Zu der Rolle der als Bauernweib verkleideten Stiefmutter im Schneewittchenbild , die keine übernehmen mochte , meldete sich Katchen von selbst , nur , um mit Olly zusammenzuspielen . Diese empfand es voll Dankbarkeit . Aber sie zeigte , daß sie auch ein Opfer bringen konnte . Sie hatte es wohl gemerkt , wie gern Katchen tanzte . So zwang sie sich dazu , während der letzten Proben beim Tanzen unten zu bleiben , um die Freundin nicht des Vergnügens zu berauben . Und siehe da - sie bemerkte plötzlich , daß ihr das " Rumgehopse " , auf das sie immer verächtlich herabgesehen , ebenfalls Freude machte . Ihre Backfischjahre machten ihr Recht geltend . Natürlich fühlte sich jeder der Herren verpflichtet , die Tochter des Hauses aufzufordern . Daher war ein Sitzenbleiben von vornherein ausgeschlossen . Und wenn sie sich auch immer noch drehte , als ob sie einen Stock verschluckt hätte , und wenn sie auch ein Gesicht dazu machte , als ginge es zu einer Beerdigung und nicht zum Galopp , sie lernte es doch , sich freier zu bewegen . Körperlich beim Tanze und auch geistig in der Unterhaltung . - In den dunklen Dezembernachmittag blickte die Rokokovilla wie ein Lichtschloß aus " Tausendundeine Nacht " . Unzählige Kerzen flammten auf und warfen ihren Strahlenschein bis in die schwarzen Fabrikhöfe hinein . Droschken , Equipagen und Autos rollten vor das Portal . Spitzen rieselten , seidene Gewänder rauschten , schön frisierte Frauenköpfe tauchten einen Augenblick in dem Lichtkreis der großen Bogenlampe auf . An die kalten Eisenstäbe des Gartengitters preßten Arbeiterkinder neugierig ihre Näschen und begleiteten jeden vorfahrenden Wagen mit lauten " Oh ! " und " Au , fein ! " Aus den Fabriksälen aber glitt manch mürrischer Blick der Väter zu der im Feiertagsgewande erstrahlenden Villa herüber . Da dachte man nicht daran , daß es ein Wohltätigkeitsfest war , das dort drüben begangen wurde , sondern da hieß es : " Ein schöner Batzen Geld geht heute wieder drauf , unsereins muß bald das ganze Jahr davon leben " - " wir müssen uns schinden , und die da drüben verprassen es ! " und wie der auflehnende Groll gegen die , welche es besser hatten , sich sonst noch Luft machte . Die Saat der Unzufriedenheit und der Mißgunst , die an jenem Unglückstage in die Herzen gefallen , ging auf . In den Garderobenräumen hinter der Bühne erklangen aufgeregte Mädchenstimmen , Lachen und Kreischen . Am lebhaftesten aber war es in der Frisierstube . Dort war des Jubelns kein Ende . Der Theaterfriseur , den man engagiert , hatte selbst seine helle Freude an den allerliebsten Gestalten , denen er mit seinen Perücken und Schminken den charakteristischen Ausdruck verlieh . Senta war ein süßes Märchen . In dem flimmernden Silbergewand mit gelöstem Blondhaar und glitzerndem Diadem sah sie wirklich aus , als sei sie aus dem Reich der Feen entstiegen . Aber sie hatte keine Zeit , sich heute an ihrem Spiegelbild zu freuen . Das Geburtstagskind hatte Lampenfieber . In einer Ecke hinter der Bühne stand es und memorierte mit murmelnden Lippen immer wieder die Eingangsverse , die es zu sprechen hatte . " Ich bleibe bestimmt stecken - soufflieren Sie bloß laut , Herr von Treuenfels ! " Der junge Maler , ein Vetter des Leutnants , der zugleich Regisseur und Souffleur war , versprach lachend , sein möglichstes zu tun . " Senta , komme bloß und sieh , wie Rudi als Hexe in Hänsel und Gretel aussieht , ich sage dir , zum Piepen ! " Eine graziöse Schneeflocke , Irmgard von Buschen , zog die Freundin mit fort . Sie sahen alle zum Piepen aus , nicht nur Rudi ! " Zum Piepen " war das neueste Backfischschlagwort . Der Leutnant mit der langen Lockenperücke glich mehr dem Großen Kurfürst als dem Dornröschenprinzen , fand Irmgards Spottmäulchen . Rudi als Hexe wirkte allerdings sehr drastisch . Er trug bereits seinen Kochanzug unter dem Hexengewand , und die weißen Kochhosen lugten neugierig darunter vor . Frau Holle , dargestellt von einem Studenten , zeigte einen höchst schneidigen Schmiß , als ob sie droben im Wolkenreich mit Petrus ein kleines Renkontre gehabt hätte . Bei jedem Neuhinzukommenden ging das Witzeln , Lachen und Quieken von vorn los . Die Zwerge mit ihren langen Bärten und gemalten Furchengesichtern waren kaum zu erkennen . Hänsel und Gretel , beide von Backfischchen dargestellt , wirkten wie Nippesfiguren , und die Schar der Schneeflocken so duftig und zart , als könnten sie wirklich in Nichts zerfließen . " Alles fertig , meine Herrschaften ? Das Publikum ist versammelt , sechs Uhr vorbei , wir müssen anfangen " , erklang die Stimme des Regisseurs . " Ach , einen Augenblick - bloß noch einen kleinen Augenblick ! " bibberte das aufgeregte Märchen . " Olly und Katchen Lehmann fehlen ja noch " , wurde eine Stimme laut . " Herrgott - ja , wo stecken denn die Unzertrennlichen bloß wieder ? " Hinter der Tür steckten sie , die vom Frisierzimmer in den Bühnenvorraum führte . Olly war nicht zum Weitergehen zu bewegen . " Ich traue mich nicht rein , ach , Katchen , geht es denn nicht ohne mich - du sollst Mal sehen , wie sie wieder flüstern und kichern werden , wenn ich so aufgeputzt daherkomme - es ist ja auch lächerlich von mir ! " Das Schneewittchen zeigte nicht übel Lust , zu entwischen . Aber die kräftigen kleinen Hände des niedlichen Bauernweibes hielten fest . " Du hast ja 'n Piepvögelchen , Olly , ich sage dir , kein Mensch wird lachen ! Augen werden sie machen , bildhübsch siehst du heute aus ! " " Bildhübsch - haha - pfui , Katchen , das ist schlecht von dir , daß auch du dich über mich lustig machst ! " " Du wirst es ja selbst sehen " , damit schob Katchen energisch ihr widerstrebendes Schneewittchen über die Schwelle . " Katchen , zum Brüllen - zum Piepen siehst du aus - - " , aber die andere - - war das wirklich Olly , das häßliche junge Entlein ? Ja , hatte denn eine gütige Fee aus den Märchenbildern den unschönen Backfisch in ein holdseliges Schneewittchen verzaubert ? Keine gütige Fee , nur der Theaterfriseur hatte schuld an der Verwandlung . " Pottsschock - sind das Haare ! " sagte er schmunzelnd , als er Ollys festgeflochtene Zöpfe löste , " schöneres Schneewittchenhaar kann man sich ja gar nicht denken . " Und er packte die Perücke , die er für sie mitgebracht , wieder ein . Olly machte ein nicht sehr erbautes Gesicht . Sie war so durchdrungen von ihrer Häßlichkeit , daß sie selbst den fremden Mann im Verdacht hatte , ihrer zu spotten . Der aber ließ sich nicht stören . Er scheitelte ihr reiches Haar , das Olly sonst Strafe aus der Stirn zu bürsten pflegte , daß es in weichen Wellen das schmale Gesicht einrahmte und ihr wie ein Mantel den Rücken herabfloß . Dann hantierte er kunstvoll mit Puderquaste und Schminke an ihrem Gesicht herum . Olly saß wie auf Nadeln . Mit niedergeschlagenen Augen , keinen Blick wagte sie in den Spiegel zu werfen . " Gnädiges Fräulein Schneewittchen sind fertig - ganz famos - bitte , sich zu bewundern ! " Aber das Schneewittchen dachte nur daran , den Händen des Friseurs so schnell als möglich zu entrinnen . Der Mann sah ihr kopfschüttelnd nach - ein junges Fräulein das keinen Blick für ihr Spiegelbild hatte , das war ihm in seiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen . " Donnerwetter " - sagten die Herren , als das Schneewittchen in den Kreis der Schauspieler trat . Die Damen aber sagten gar nichts , und das war die größte Bewunderung . Herrgott , wie hatte das häßliche junge Entlein es nur fertiggebracht , plötzlich so ganz anders auszusehen ? Die langen , eckigen Backfischglieder umschmiegte ein weißes , fließendes Gewand mit weichen Falten . Die roten Backen , die dem stets bleichen Gesicht angeschminkt waren , ließen es rund und jugendlich erscheinen . Dadurch erschien die Nase , die das schmale Mädchenantlitz sonst beherrschte , durchaus nicht mehr zu groß , und der dunkle , wellige Scheitel gab ihr etwas Apartes . Und als sie jetzt hilflos und ängstlich die Augen hob , weil das erwartete Kichern und Flüstern ausblieb , da war man aufs neue überrascht . Wie dunkel und tief die Augensterne in dem heute rosigen Gesicht erstrahlten ! Das Klingelzeichen . Junge Herzen klopften schneller , der Atem ging gepreßter . " Ich habe den Anfang vergessen - ich weiß kein Wort mehr von allem " , jammerte das Märchen in höchster Aufregung . Der Regisseur flüsterte ihm die Anfangszeilen zu und schob es aus dem Vorhang heraus auf das Podium . Senta sah ein blendendes Lichtmeer vor sich , ein Wogen von blonden und braunen Locken , ein Funkeln und Blitzen von Brillanten . Gesichter unterschied sie vorläufig gar nicht . Aber nachdem sie den ersten Vers gesprochen , ebbte der zum Gehirn anbrausende Blutstrom zurück . Ihre alte Sicherheit und Unbefangenheit kam ihr wieder . Gott sei_es getrommelt und gepfiffen - sie war nicht steckengeblieben ! Der reiche Applaus , der das allerliebste Märchen , das sich zur Führerin in die Märchenlande anbot , lohnte , ließ das Herz des Geburtstagskindes höher schlagen . " Zum Piepen ist es auf der Bühne - ganz famos - ihr braucht gar keine Angst zu haben " , beruhigte sie die anderen , nicht viel weniger Aufgeregten . Die Märchenbilder stiegen aus der Vergessenheit der Kindertage empor . Der junge Maler hatte viel Geschick und Schönheitssinn bewiesen . Die Bilder waren meisterhaft gestellt . Der Primaner Rudi als Hexe entfesselte wahre Lachstürme . Aschenbrödel hatte das Unglück , den kleinen Schuh , den es gerade anprobieren wollte , fallen zu lassen , so daß das lebende Bild etwas zu lebendig wurde . Aber das schadete nichts , sondern hob im Gegenteil die Stimmung . " Wie werden sie erst lachen , wenn sie mich sehen werden . " Schneewittchen flüsterte es mit zuckenden Lippen , ehe der Vorhang sich auch vor ihrem Bilde hob . " Lache ' du lieber , " das zierliche , kleine Bauernweib nickte ihr ermunternd zu , " Grund genug hast du doch dazu , wenn ich dir einen so schönen Apfel schenke . " Da teilte sich der Vorhang - und das Unglaubliche geschah . Das Schneewittchen , das in den Proben stets ein wahres Menschenfressergesicht gemacht hatte , lächelte . Zwar über die Worte der Freundin , aber das wußte ja das Publikum nicht . Das reckte nur die Hälse und klatschte Beifall . Dreimal mußte das Schneewittchenbild aufgezogen werden , so begeistert war man davon . " Nein Herr Kommerzienrat , wie die Olly Ihrer verstorbenen Frau Gemahlin ähnlich wird , es ist fabelhaft ! " " Eine Schönheit , geradezu eine Schönheit wird das Mädel ! " " Sie können aber wirklich stolz auf Ihre Töchter sein ! " Von allen Seiten machte man dem Gastgeber Komplimente . Papa saß starr . Der gewandte Mann vermochte kaum auf die liebenswürdigen Worte zu antworten . Er faßte sich an die Stirn - träumte er , oder war es Wahrheit ? So - gerade so hatte seine frühverlorene Frau ausgesehen an jenem Abend , da er sie zuerst geschaut und von ihrem Liebreiz gefangengenommen wurde . Kamen die Toten wieder ? War es denn möglich , daß Olly , bei deren Anblick er sich oft innerlich befragt , wie er zu solch einer unschönen Tochter käme , der teuren Verstorbenen , die allgemein für eine Schönheit gegolten , glich ? Wo hatte er nur bisher seine Augen gehabt ? Im Schlußvers bat Senta mit liebenswürdiger Schelmerei , den Dank für das Gebotene in klingender Münze für einen armen , verunglückten Arbeiter abzustatten . Mit einer Sammelbüchse bewaffnet , stieg sie nun von der Bühne herab und machte die Runde . Man umringte das Geburtstagskind . Man beglückwünschte es zu seinem Erfolge und zu seinen sechzehn Jahren . Es regnete Blumen und Praline . Das eitle Backfischchen strahlte . Aber es regnete auch Silber und Gold in ihre Büchse , sogar blaue Scheine wurden hineingeschoben . So kam Senta auch zu Wolfgang . " Na , noch immer Schuß , Wölfchen ? " Sie lachte , daß die weißen Zähne blitzten . " Ich gratuliere dir schön , Senta , und hier mein Geburtstagsgeschenk ! " Er legte ein Büchlein in ihre Hand . " Grillparzers gesammelte Werke " prangte mit Goldlettern darauf . Neugierig schlug das Backfischchen es auf . " Weh dem , der lügt ! " Das war die erste Überschrift , auf die ihr Blick fiel . " Du Scheusal ! " Mit einem Knall machte Senta das Buch zu und dem Freund , unbekümmert um die Umstehenden , eine lange Nase . Der lachte herzlich hinter ihr her . Der Friede zwischen den beiden war wieder geschlossen . " In Kostümen bleiben - die Schauspieler müssen in ihren Kostümen bleiben ! " Von allen Seiten war der Wunsch laut geworden . Die jungen Darsteller kamen gern nach . Erstens war es viel kleidsamer , zweitens lustiger , drittens wagten selbst die Schüchternen dadurch , mehr aus sich herauszugehen . Schneewittchen wollte sich durchaus umziehen . Alles Betteln Katchens , doch den einheitlichen Charakter nicht zu stören , nützte nichts . Olly , der es schon peinlich genug gewesen , sich auf der Bühne in diesem Aufzug zeigen zu müssen , schämte sich tot . " Ich kann doch unmöglich mit der offenen Löwenmähne herumlaufen , wenn so viele Menschen da sind , und das Kleid sieht aus wie ein Nachthemd ! " Dabei blieb sie . Der Kommerzienrat kam hinter die Bühne , um den liebenswürdigen Schauspielern seinen Dank auszusprechen . Neben Olly , die sich gerade in die Garderobe zurückziehen wollte , blieb er stehen . " Als ob zwanzig Jahre wieder entschwunden wären ! " murmelte er . Warum sah Papa sie denn so merkwürdig an ? Hatte er nicht sogar eine Träne im Auge ? Papa , der immer lachend von sich zu behaupten pflegte , er wäre so hart wie sein Eisen ? Es wurde Olly ganz beklommen zumute . Da strich Papa ihr leise über die dunkle Haarpracht , die ebenso weich und üppig herabflutete wie bei ihrer Mutter . Und dann , als schäme er sich seiner ungewöhnlichen Zärtlichkeit , schlug er plötzlich einen polternden Ton an : " Kannst du nicht immer solch freundliches Gesicht machen , du dummes Mädel ? " Aber Olly klang die rauhe Stimme des Vaters wie himmlische Sphärenmusik in die Ohren . War es denn möglich - war es denkbar , daß sie heute nicht so abschreckend häßlich aussah wie sonst ? Was all die Versicherungen und Bitten der Freundin nicht vermocht , das bewirkten Papas polternde Worte . Olly blieb im Kostüm . Zärtlich fast strich sie an dem eben noch als " Nachthemd " geschmähten Schneewittchenkleid herab , war es doch sicher die Ursache , daß das häßliche junge Entlein heute etwas weniger häßlich erschien . Die Damen , die früher zu Mamas Lebzeiten viel in die Rokokovilla gekommen , richteten freundliche Worte an die älteste Tochter des Hauses . Die Herren scherzten mit ihr . Ach , hätte sie nur ein kleines bißchen von der Liebenswürdigkeit und Unbefangenheit Sentas gehabt ! Keinen Ton wagte sie , die stets Vergessene und Zurückgesetzte , auf all die gutgemeinten Anreden zu erwidern . Stumm und steif , hilflos und verlegen stand das große Mädel da . Nur als eine ältere Dame zu ihr meinte : " Es ist geradezu frappierend , Olly , wie ähnlich Sie der seligen Mama jetzt werden " , vergaß sie ihre Schüchternheit . " Ist das wahr - ist das wahrhaftig wahr ? " stieß sie hervor , ohne daran zu denken , daß in diesem Zweifel ihrerseits eigentlich eine Ungezogenheit liege . Aber da war etwas in den schwarzen Augen des jungen Mädchens , etwas so bang Fragendes und gleichzeitig dabei Glückverklärtes , daß die Dame ihr unmöglich böse sein konnte . " Geradeso hat Ihre Mama als junges Mädchen ausgesehen , nur etwas voller war sie wohl ! " wiederholte sie noch einmal , mit dem schön frisierten grauen Haupte nickend . Das , was Olly nicht einmal in ihren geheimsten Gedanken zu denken gewagt , das hatte eine andere jetzt ausgesprochen . So ruhig und selbstverständlich , als sei es das natürlichste Ding der Welt , daß sie , das häßliche junge Entlein , mit ihrer vergötterten schönen Mama Ähnlichkeit habe ! Olly hörte nicht mehr , was die übrigen zu ihr sagten . Sie war wie betäubt von dem einen sie beseligenden Empfinden . Inzwischen waren mit märchenhafter Geschwindigkeit in allen Räumen " Tischlein deck dich " erstanden . Heute blieb Olly nicht sitzen . Der lustige Student , der als Frau Holle umherlief , entführte das Schneewittchen sogleich in sein Wolkenreich , wie er sagte . Auch Katchen Lehmann nahm mit dem Regisseur , dem jungen Maler , an dem für vier Personen gedeckten Tischchen Platz . So hätte man eine höchst fidele Ecke bilden können , wenn Olly es nur verstanden hätte , mit den Fröhlichen fröhlich zu sein . Daß sie nicht schlagfertig auf alles eine ulkige Antwort zu geben wußte , wie zum Beispiel Senta und Irmgard von Buschen , hätte nichts geschadet . Katchen Lehmann verstand das ja auch nicht . Aber die Freundin verstand etwas anderes - Katchen konnte lachen , so jung und herzerquickend , daß ihr Tischherr , ob er wollte oder nicht , jedesmal mit einstimmen mußte . Katchens Lachen wirkte ansteckend . Auch auf Olly verfehlte es nicht ganz seine Ansteckungskraft , aber in dem ernsten Mädchenantlitz nahm sich das Lachen merkwürdig genug aus , als ob das Verziehen des Gesichts ihr selbst weh täte . " Fräulein Schneewittchen ist nicht nur so weiß wie Schnee , sondern auch so kühl wie Schnee - trotzdem das doch eigentlich mein Privileg ist " , scherzte Frau Holle , da sich das Schneewittchen still und in sich gekehrt zeigte . Ollys schwerfällige Natur konnte sich nicht so schnell von dem , was sie mit einem Übermaß von Glück erfüllt , freimachen . Während der Student zu ihr sprach , hörte sie immer noch die Worte jener alten Dame . Und neben dem unaussprechlich Frohen kauerte in ihrer Seele noch etwas - ganz hinten in einer Ecke . Es wagte sich nicht recht hervor neben dem seltenen Gast , dem übermäßigen Glücksempfinden , aber es war doch da . Das war der quälende Gedanke : " Alle sind heute zu dir gekommen und haben dir etwas Freundliches gesagt , nur Wolfgang Steinhardt nicht ! " Der hatte sie nur steif und höflich begrüßt , wie das seine Pflicht als Gast des Hauses war . Daß sie selbst ihm auf jenem gemeinsamen Heimweg die Möglichkeit zu dem früheren freundschaftlichen Einvernehmen abgeschnitten , war das Quälendste daran . Neben der Schneeflocke Irmgard von Buschen saß er drüben an demselben Tisch mit dem Dornröschen und ihrem Königssohn . Ab und zu fühlte Olly , daß sein Blick zu ihr herüberging - dann sah sie schnell in die entgegengesetzte Ecke . Fräulein Arnold zeigte heute ihr Talent . Ihr kaltes Büfett machte ebenso Furore wie ihre gewandt liebenswürdige Art als Empfangsdame des Hauses . So schnell wie die Tischlein aufgetaucht , waren sie auch wieder verschwunden . Denn nun ging das " Lämmerhüpfen " los . Auch die Alten tanzten mit , wenigstens die Tourentänze . Das Geburtstagskind glühte - ein so schönes Wiegenfest hatte es noch nicht gefeiert . Es war ein hübsches Bild , wie sich die bunten Märchengestalten da im Walzer wiegten . Trotzdem Schneewittchen schlecht tanzte , gehörte sie heute doch zu den begehrten Tänzerinnen . Ganz echauffiert lehnte sie in einer Palmenecke des Wintergartens neben Katchen , um ein wenig von dem ungewohnten Trubel auszuruhen . " Ist es eigentlich nicht Unrecht , " meinte sie sinnend , den lustigen Tanzweisen lauschend , " daß wir hier uns amüsieren , während der arme Schulz noch immer auf seinem Schmerzenslager liegt ? " " Na , erlaube Mal , es ist doch Sentas Geburtstag heute , das ist doch ein Freudentag " , erwiderte Katchen ganz erstaunt . " Ja , aber - " Olly gab sich nicht so schnell zufrieden - " sieh Mal , sie nennen es doch Wohltätigkeitsfest . Findest du das wohltätig , wenn man hauptsächlich für das eigene Vergnügen sorgt ? " Katchen legte die Stirn unter dem Flachshaar drollig in Falten und dachte angestrengt nach . " Du hast ja nicht ganz Unrecht , " gab sie dann zu , " aber weißt du , meine Mutter sagt immer , die Jugend hat auch ihr Recht . Und es ist doch sicherlich besser , man ist vergnügt , als - " " Als so unausstehlich , wie ich es bin , das wolltest du doch sagen , nicht ? " " Pfui , Schneewittchen , habe ich das um dich verdient ? " Ehe Olly noch antworten konnte , stöberte der junge Maler die Freundinnen auf und entführte seine Tischdame triumphierend zum Tanz . Olly blieb allein . Der Wintergarten war durch Palmen und Blattpflanzen in verschiedene Nischen geteilt . In jeder standen bequeme Korbmöbel . Darüber schaukelten malerisch bunte Lampions . Es war ein beliebter Ort zum Ausruhen , aus allen Nischen lachte und kicherte es . Da hörte Olly unweit ihres lauschigen Plätzchens Senta und Wolfgang , die beiden Stimmen , die ihr vor kurzem das größte Weh in ihrem Leben zugefügt . " Also wenn du von nun ab immer hübsch die Wahrheit sprechen wirst , will ich dir nicht mehr böse sein , Sentchen . " Helles Mädchenlachen . " Oller Pedant , ein bißchen Schwindeln und Flunkern , das rechnet man doch nicht gleich unter Lügen . Aber du bist in der letzten Zeit mächtig mopsig geworden , Wölfchen , wie so 'n oller Hagestolz . Leutnant von Treuenfels ist viel netter als du ! " Wolfgang Steinhardt schien sich köstlich zu amüsieren . " Mit fast sechsundzwanzig Jahren hat man doch auch das Recht , ein alter Hagestolz zu sein . Also der Leutnant gefällt dir besser als ich ? " " Ja , viel besser , der hat mir heute schon so und so oft gesagt , wie entzückend ich als Dornröschen aussehe , und du , Brummbär , noch kein einziges Mal ! " " Dornröschen , Ihr seid die Schönste hier , Doch Schneewittchen über den Bergen Bei den sieben Zwergen Ist noch tausendmal schöner als Ihr ! " Die eben noch lachende Männerstimme klang mit einem Male ganz ernst . " Quatsch mit Soße - aber unglaublich anständig sieht die Olly heute aus , nicht ? - So , nun wollen wir Boston tanzen . " Das Geburtstagskind hüpfte davon . Wolfgang folgte . Olly aber blieb herzklopfend zurück . Wieder hatte sie ein Gespräch der beiden belauscht . War es nicht , als ob Wolfgang durch seine heutigen Worte die grausamen von neulich wieder gutgemacht hatte ? Nein - nein , sie konnte es trotzdem nicht vergessen , was er ihr angetan , und dann - er hatte heute ganz sicher nur Spaß gemacht . Warum forderte er sie bloß zu keinem Tanze auf , wie es doch eigentlich seine Pflicht war ? Ob er es nicht wagte ? Sie hätte natürlich gedankt , aber daß er es überhaupt nicht dazu kommen ließ , verstimmte sie . " Da bringe ich dem Schneewittchen die Stiefmutter zurück . " Der Maler führte ihr das echauffierte Katchen wieder zu . " Das Schneewittchen wird am Ende bald eine andere Stiefmutter bekommen " , eine vorübergehende Dame hatte es ganz leise einer anderen zugeflüstert . Aber Ollys feines Ohr fing es auf . Sie saß wie erstarrt . Wie vor den Kopf geschlagen . Nein , lieber Gott - das war doch nicht möglich , in die Stelle , die Mama , ihre inniggeliebte Mutter , innegehabt , konnte doch keine Fremde rücken ! Aber Papa war noch ein schöner , stattlicher Mann , er durfte sich mit den Jüngsten messen ! Er ging viel in Gesellschaften , konnte man es denn wissen , ob er nicht am Ende daran dachte ? Nein - nein - das war ja alles dummes Zeug - bloßer Klatsch ! Olly wehrte sich gegen diesen entsetzlichen Gedanken . Aber die frohe Laune und die Freude an dem Feste war ihr gestört . Noch einem wurde die Freude an der Geburtstagsfeier recht gründlich gestört , das war der kleinste Zwerg . Ob Herbertchen seiner roten Nase , die ihm der Friseur angeschminkt , Ehre machen wollte , genug , er tat sich an der Sektbowle etwas zu gütlich . Rudi mußte ihn in bejammernswertem Zustande ins Bett befördern . Lange nach Mitternacht ging die animierte Gesellschaft mit begeistertem Dank auseinander . Es war gut , daß der nächste Tag ein Sonntag zum Ausschlafen war . Die Kommerzienratsvilla , die noch vor kurzem mit vielen strahlend hellen Fensteraugen in die Dunkelheit hinausgeschaut , lag still und verschlafen da . Alles schlummerte , selbst das Geburtstagskind war , ein seliges Lächeln um die Lippen , bald eingeschlafen . Nur zwei fanden keinen Schlummer . Der eine war der neue Murks , der sich in der fremden Umgebung wohl noch nicht recht behaglich fühlte , wenigstens heulte er herzbrechend . Die andere war Olly . All das , was der Abend gebracht , ging ihr im Kopfe herum . Aber woran sie auch dachte , es war keine reine Freude . " Ich habe mit Mama Ähnlichkeit " , wollte es in ihr jubeln , aber gleich wieder meldete sich eine andere Stimme : " Mit meiner Mama , die möglichenfalls durch eine Stiefmutter verdrängt werden soll ! " Da machte es Olly wie der neue Murks . Sie heulte ebenfalls herzbrechend . So endigte der so schön begonnene Tag. 9. Kapitel . Die neue Mutter Kurze , naßkalte Dezembertage folgten . Grau und unwirtlich . Nur einmal durchleuchtet von hellem Weihnachtsschein . Der Regen sprühte gegen die Scheiben , der Wind heulte im Ofen , an manchem Tag mußte man in den Fabriksälen , in den Büros und in der Rokokovilla von früh bis abends Licht brennen . Graue Tage bringen graue Laune . Die Märchenstimmung , die vor kurzem die Räume heiter durchstrahlt , war längst verflogen . Das Schneewittchen war wieder zum Aschenputtel geworden , grau und unansehnlich wie alles jetzt in diesem trüben Dezemberlicht . Kein Mensch dachte mehr daran , daß es sich für einen Abend als schöne Prinzessin im Reigen gedreht . Wirklich keiner ? O doch ! Von dem langen Zeichentisch , der über und über mit Blättern , Zirkeln und Reißschienen bedeckt war , flog ab und an ein Gedanke zu dem Märchenabend zurück . Dann ertappte sich Wolfgang Steinhardt wohl plötzlich bei der Frage : " Wäre es nicht möglich , daß aus dem häßlichen jungen Entlein doch noch einmal ein stolzer , weißer Schwan werden könnte ? " Wenn er dann aber am Sonntagmittag Olly wieder am Tische sitzen sah , einsilbig und mißmutig , blaß , schmalwangig und elend aussehend , das weiche , schwarze Haar stramm aus der Stirn gebürstet , dann schüttelte er unwillkürlich den Kopf . Nein - nie - nie würde aus dem häßlichen jungen Entlein etwas anderes werden ! Selbst wenn sie jemals besser aussehen sollte , ihre Unliebenswürdigkeit und ihr abstoßendes Wesen würden dem Gesicht immer den Stempel aufdrücken . Auch Papas Auge irrte bei den gemeinsamen Mahlzeiten jetzt öfter zu seiner ältesten Tochter hinüber . Dann griff er sich unwillkürlich an die Stirn . Wie hatte er nur jemals auf die absurde Idee kommen können , Olly gleiche seiner verstorbenen Frau ! Ein Märchenkobold mußte ihn an jenem Abend geäfft haben - konnte man Licht und Schatten miteinander vergleichen ? Ja , aber hatten andere es ihm denn nicht auch gesagt ? Und Papa schüttelte seinen Kopf geradeso wie Wolfgang Steinhardt . Fräulein Arnolds Schönheitssinn machte sein Recht geltend . Sie wußte jetzt , daß Olly anders aussehen konnte , nun verlangte sie das auch von ihr . Ja , sie hielt es geradezu für Widerspenstigkeit von dem Mädchen , wenn es so blaß und unlustig dreinschaute , wenn es durchaus nicht leiden mochte , daß weder das Hausmädchen noch sie , Fräulein Arnold , die doch Mutterstelle an den Kindern vertrat , ihm das Haar kleidsamer aufsteckte . Wenn es sich in ungezogenem Ton gegen jede Verschönerung wehrte . Da ließ Fräulein Arnold das undankbare Mädel laufen und schüttelte ebenfalls ihren Kopf . Die , der all dies Kopfschütteln galt , vermied selbst ängstlich jedes Rückerinnern an das schöne Märchenfest . Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter , die sie damals mit Entzücken erfüllt , hatte die graue Dezemberlaune zu etwas Alltäglichem , Gleichgültigem herabgedrückt . Warum sollten schöne und häßliche Menschen denn nicht Ähnlichkeit miteinander haben ? Wolfgangs Schneewittchenspruch , den sie gleich nicht für Ernst gehalten , nahm im Verhältnis zu dem Abnehmen der Tage auch an Wahrscheinlichkeit ab : Scharfe , beißende Ironie blieb nur davon übrig . Das aber , was ihre junge Seele damals in ihren Grundtiefen erschüttert , die Möglichkeit , daß Papa seinen Kindern eine neue Mutter geben könnte , diesen Gedanken schob sie mit aller Energie von sich . Sie wollte nicht mehr an das Wohltätigkeitsfest denken , nur um jener marternden Vorstellung nicht wieder zu begegnen . Es war ja heller Unsinn ! Trotzdem hatte Olly nicht die Gewalt über sich , daß ihr dunkles Auge nicht ab und zu bang fragend an Papas schönen Zügen hing . Begegnete der Vater einem dieser gequält forschenden Blicke , dann wandte Olly das Auge scheu zur Seite , wie der Dieb , der sich auf seinen Schleichwegen betroffen fühlt . Sie nahm jetzt dann und wann am Gespräch Teil . Sie fragte den Vater , wenn er abends in Gesellschaft gewesen , nach dieser und jener Dame , die vielleicht in Betracht kommen konnte . Aber die harmlose Art , mit der Papa Auskunft gab , sie höchstens wegen ihrer Neugier aufzog , zeigte ihr deutlich , daß sie auf falscher Fährte war . Und dann schämte sie sich wieder grenzenlos , daß sie ihrem heimlich verehrten Papa mißtraute , ja , ihn in Gedanken geradezu umlauerte . Das war unvornehm , unwahr , wie sie es sonst niemals zu sein pflegte . Oft dachte sie , das einfachste , natürlichste und ehrlichste wäre es , Papa die Äußerung jener Damen zu erzählen und ihn zu fragen , ob etwas daran wäre . Aber im nächsten Augenblick schien ihr solches Tun ungeheuerlich . Niemals würde sie den Mut zu dieser inhaltsschweren Frage besitzen ! Wie durfte sie es überhaupt wagen , Papa mit etwas Derartigem zu kommen ! Der tiefe Riß , der sie von dem Vater trennte , zeigte sich in solchen Momenten besonders klaffend . So quälte sich Olly mit dunklen Gedanken durch die dunklen Regentage . Sie machte keinem Menschen Mitteilung von dem , was sie bedrückte . Wieviel leichter wäre es gewesen , wenn sie gemeinsam mit Senta die Bürde der schweren Gedanken geschleppt hätte . Die Schwester war doch geradeso beteiligt wie sie selbst , vielleicht wußte auch Senta , die mehr in der Welt lebte , mehr herumkam und herumhörte , ihr Näheres darüber zu berichten . Trotzdem schwieg Olly . Der Geburtstagskuß , den die Schwester ihr damals impulsiv gegeben hatte , war längst von häßlichen , kleinlichen Streitereien wieder ausgelöscht worden . Olly , die von Herzen gehofft hatte , daß der neue Murks durch sein Erscheinen sie der Schwester näherbringen sollte , sah mit Schrecken , daß sich , ganz im Gegenteil , sein rosenrotes Schnäuzchen als Zankapfel zwischen sie schob . Senta war eifersüchtig . Grenzenlos . Denn Murks der Zweite , der doch ihr geschenkt worden war , der ihr ganz alleiniges Eigentum sein sollte , er erkannte durchaus nicht die Herrin in ihr an . Ja , er sträubte sich gegen ihre Liebkosungen , knurrte und zeigte seine spitzen , weißen Zähnchen . Eine alte Bauernregel pflegt zu sagen , daß ein Hund denjenigen als seinen neuen Herrn ansieht , der ihm zum erstenmal in der fremden Umgebung sein Futter reicht . Dieses Wort schien Murks ' Wahlspruch zu sein . Denn trotz aller zärtlichen Schmeicheleien Sentas hielt er sich getreulich an Olly , die ihn kaum beachtete . Er saß neben ihr bei den Mahlzeiten , sah sie schwanzwedelnd an , ob sie ihn nicht bedachte , und soviel auch Senta " Murks - hierher , Murks ! " rief und ihre Worte durch emporgehaltene Leckerbissen unterstützte , Murks strafte sie mit Nichtachtung . Er wich und wankte nicht von seinem Platz . Das verwöhnte junge Menschenkind , das überall die erste Rolle zu spielen pflegte , sah sich zum erstenmal verschmäht , zurückgedrängt von einer anderen . Und diese andere war noch dazu das häßliche junge Entlein ! Sentas Enttäuschung und Empörung über Murks ' widerspenstiges Betragen kam gegen Olly zum Ausbruch . Sicher hatte die Schwester den Seidenpinscher vorher abgerichtet , nur um sich an ihrem Ärger zu weiden . Unter solchen Verhältnissen konnte Olly allerdings nicht daran denken , Senta zur Vertrauten ihrer geheimen Gedanken zu machen . Einige Male hatte sie auch überlegt , Rudi einzuweihen und ihn um seine Meinung zu befragen , aber ein scheu mädchenhaftes Gefühl hielt sie davon zurück . Auch sah sie Rudi jetzt nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten , er arbeitete voll Fleiß auf das bevorstehende Abiturientenexamen hin und benutzte jede Minute zur Wiederholung . Ihre Freundin Katchen Lehmann aber an ihren Befürchtungen teilnehmen zu lassen , das brachte Olly in ihrer verschlossenen Art noch viel weniger fertig . Trotzdem die Gemeinschaft zwischen den beiden Mädchen sich von Tag zu Tag vertiefte , es gab eine Grenze , vor der Ollys Vertraulichkeit , aller Backfischart zum Trotz , haltmachte . Der Verkehr mit Katchen war der einzige Lichtblick in all diesem Regengrau . Nachdem Olly das gemütliche , vom liebevollen Walten der Mutter durchwärmte Beamtenheim kennen gelernt , kam ihr die Rokokovilla mit all ihrem Glanz nur noch kälter und unwirtlicher vor . Es fehlten für das abseits von den anderen stehende Mädchen dort die Sonnenstrahlen der Liebe . Scheu und abweisend , wie das nun Mal in ihrer Art lag , trat Olly auch der Mutter der Freundin zum erstenmal gegenüber . Sie wäre so gern nett gewesen , sie hätte was darum gegeben , wenn sie wie Senta verbindliche Worte des Dankes für die Aufforderung gefunden hätte . Doch kein Ton wollte ihr über die Lippen , stumm und dumm stand sie da . Frau Amtsgerichtsrat Lehmann hatte aber von ihrem Katchen schon genügend über die Eigenart der neuen Freundin erfahren . Sie zog die steif Dastehende mit herzlichen Worten sogleich zu sich heran und sagte ihr , wie sie sich freue , daß ihre Tochter endlich eine Herzensfreundin gefunden hätte . " Mein Katchen hat es nicht so gut wie Sie , die Sie Ihrer zwei sind , mein Mädel entbehrt gar oft eine Schwester . " Was - Olly blickte geradezu verblüfft auf Senta - sie hatte es gut , daß sie eine Schwester hatte ? Bis jetzt hatte sie das eigentlich nur als eine Unannehmlichkeit mehr in ihrem Leben betrachtet . Die Jüngere verzog die Lippen ein wenig spöttisch . Auch sie fand Katchen Lehmann nicht so sehr bemitleidenswert , sie hätte Olly ganz gern entbehrt . Aber die freundlichen Worte der Frau Amtsgerichtsrat verfehlten doch nicht ihre Wirkung auf Olly . " Sagen Sie doch » du « zu uns " , stotterte sie . Es klang zwar gar nicht liebenswürdig , sondern im Gegenteil eher abstoßend , aber Katchens Mutter wußte , wie es gemeint war . " Ihr seid mir eigentlich schon zu groß , aber wenn ihr es wollt , tue ich es gern , man kommt gleich in ein freundschaftlicheres Verhältnis zueinander . " Senta machte durchaus kein erbautes Gesicht . Sie spielte für ihr Leben gern das junge Fräulein und fand es geradezu empörend von Olly , daß sie ihr das eingebrockt . Wie kam denn eine wildfremde Dame dazu , sie , ein sechzehnjähriges Mädchen , wie ein Baby zu duzen ! Überhaupt , so oft Senta mit bei Amtsgerichtsrats war , erschien es Olly dort lange nicht so traulich , als wenn sie allein da war . Olly selbst war auch dann eine andere . Sie gab sich nie so frei und ungezwungen der Freundin und ihren Angehörigen gegenüber . Es war , als ob die Gegenwart der hübschen Schwester geradezu lähmend und niederdrückend auf sie wirkte . Selbst Katchens Mutter war dieser jähe Wechsel in Ollys Wesen aufgefallen . " Das Mädel müßte Mal fort von Haus , unter Fremde , wo es niemand kennt und keiner ein Vorurteil gegen es hat . Da würde es sich vielleicht ganz anders entwickeln . Denn es hat trotz aller Härten und Kanten famose Eigenschaften " , meinte die verständige Frau oft . Zum Glück fand Senta an dem Verkehr mit dem harmlosen , bescheidenen Katchen keinen besonderen Gefallen . Katchen erzählte nichts von schicken Kleidern und eleganten Backfischgesellschaften . Da war ihr Irmgard von Buschen doch tausendmal interessanter . Auch Katchen Lehmann fand es viel netter , wenn sie mit Olly allein war . Auffordern mußte sie die Schwester , die ihr viel zu oberflächlich und äußerlich war , ja jedesmal aus Höflichkeit . Aber wenn Senta einen Grund hatte , abzulehnen , atmeten sie alle drei erleichtert auf . Der Jahreszeiger rückte auf Weihnachten . Man wußte jetzt nichts mehr von grauen Regentagen , das Lichterfest warf seinen Schimmer voraus . Allenthalben regten sich fleißige Mädchenfinger . Die Weihnachtsarbeiten bildeten in der Schule ein unerschöpfliches Gesprächsthema . In den letzten Wochen durften sogar die Handarbeitsstunden zum Fertigstellen der Weihnachtsstickereien benutzt werden . Hei - da flogen die Finger anders als bei den langweiligen Kappnähten an dem stumpfsinnigen Männerhemd , das kein Sterblicher je tragen konnte . Alle hatten sie Weihnachtsarbeiten mit in die Schule gebracht , diese größere , jene kleinere . Je nach Geschicklichkeit und Höhe des Taschengeldes . Nur Olly Hildebrandt hatte nichts mitzubringen . Sie war wieder ausgeschlossen von der fröhlichen Gemeinschaft . Seit Mamas Tode hatte sie keine Arbeit mehr zum Heiligabend gemacht . Sie war zu ungeschickt und zu unlustig dazu . Sich wie Senta von den jeweiligen Hausdamen den größten Teil der Stickerei arbeiten zu lassen , es nachher für eigenes Kunstwerk auszugeben und Dank und Lob dafür mit Gemütsruhe einzustreichen , das brachte sie nicht fertig . Lieber ließ sie es ganz . Katchen Lehmann , die selbst voll Eifer an Vaters Rodelmütze und Schal arbeitete , konnte es gar nicht fassen , daß die Freundin überhaupt keine Anstalten dazu machte , den Ihrigen eine Weihnachtsfreude zu bereiten . Und wenn man auch noch so wenig gut miteinander stand , das Fest der Liebe überbrückte doch auch die schärfsten Gegensätze . " Olly , wollen wir nicht etwas für deinen Vater besorgen und für Fräulein Arnold ? Senta würde sich gewiß auch über eine kleine Arbeit freuen " , stellte Katchen zum soundsovielten Male vor . " Ich habe Papa nie was gearbeitet . Für Fräulein Arnold werde ich mich , Gott weiß , nicht abquälen , und Senta schenkt mir ja auch nichts " , lehnte Olly ab . " Man muß alles zum erstenmal tun , paß auf , dein Vater freut sich über eine Arbeit " , überredete Katchen weiter . Einen Augenblick wurde Olly schwankend . Dann zog sie die Augenbrauen finster zusammen und sagte kurz : " Nein ! " Aber als sie der Freundin enttäuschtes Gesicht sah , setzte sie in weicherem Tone hinzu : " Du kannst das nicht so verstehen , Katchen - bei uns ist eben alles anders ! " Das klang so wenig schroff mehr , so traurig und liebebedürftig , daß das zärtliche Katchen den Arm um Ollys lange Gestalt schlang und ihr einen leisen Kuß auf die Wange drückte . Trotz des abweisenden " Nein " kämpfte Olly noch manchen Tag mit sich , ob sie Papa nicht doch eine kleine Arbeit machen sollte . Vielleicht strich er ihr dann wieder zum Dank über das Haar wie an jenem Wohltätigkeitsabend . Aber nein - er würde es vielleicht als Aufdringlichkeit empfinden , er würde am Ende ein Wort des Staunens dafür haben , das verwundete Olly im voraus schon . So steckte man die große , silbergeschmückte Edeltanne , die vom Fußboden bis zur Decke reichte , in der Rokokovilla an , ohne daß Olly Gaben auf die lange Geschenktafel gebreitet hätte . Aber sie hatte doch auch ihre Weihnachtsfreude . Nach manchem mißlungenen Anlauf hatte sie es endlich über sich gebracht , Papa zu bitten , daß sie dem wieder in sein Heim übergesiedelten Arbeiter Schulz und dessen Familie eine Weihnachtsüberraschung machen dürfte . " Meinetwegen " , hatte der Kommerzienrat geantwortet . Dem zu Schaden gekommenen Mann war von der Berufsgenossenschaft eine Rente ausgezahlt worden , er hatte ein erkleckliches Sümmchen von dem Wohltätigkeitsabend erhalten und außerdem einen ganz gut besoldeten Posten in der Fabrik . So zog Olly denn , während Senta Fräulein Arnold beim Aufbau half , eines der Mädchen mit einem großen Korbe und einem niedlichen kleinen Bäumchen neben sich , in die enge , dunstige Straße , in der die Arbeiterwohnung lag . Es hatte aufgehört zu regnen . Droben am samtdunklen Abendhimmel steckten die Englein ein Weihnachtslichtlein nach dem anderen an . Jetzt hier ein Stern , jetzt dort - bis der ganze große Weltenweihnachtsbaum blitzte und funkelte . Auch Olly entzündete draußen auf der dunklen Treppe die Wachskerzen an ihrem kleinen Bäumchen und schob es behutsam zur geöffneten Tür hinein . Heller Kinderjubel schallte heraus : " Der Weihnachtsmann - der Weihnachtsmann ist da ! " Aber als der Weihnachtsmann , selbst ein wenig befangen , nun näher trat und sich als das junge Fräulein von Kommerzienrats entpuppte , da wichen die Kleinen , den Finger im Munde , scheu zurück . Erst die mitgebrachten Spielsachen und Süßigkeiten , die Olly auszupacken begann , machten sie wieder dreister . Eins nach dem anderen der Flachsköpfe kam heran , um sein Teil in Empfang zu nehmen . Doch als sie nun die Pferdchen , die Püppchen , die Zinnsoldaten und Märchenbilder in Händen hielten , da war der Bann gebrochen . Helles Kinderglück erfüllte das armselige Stübchen . Und in all dem Lachen und Jauchzen stand das häßliche junge Entlein , heute nicht abseits von den anderen , nein , mit jedem der Kleinen selbst ein fröhliches junges Menschenkind . Wer sie so gesehen hätte , der hätte es wohl kaum für möglich gehalten , daß dies dasselbe Backfischchen war , das eine Stunde später freudlos , mit gleichgültiger Miene , die reichen Gaben in der väterlichen Villa in Empfang nahm . Das Mädchen , das auch ihren Weihnachten haben wollte , mußte sie ans Heimgehen erinnern . Olly vergaß Ort und Stunde über den Kinderjubel . " Gott segne Sie , jnädiges Fräulein ! " Unter warmen Dankesworten der Eltern entschloß sie sich endlich zum Heimweg . Das Herz war ihr so voll , so froh und glücklich , wie schon lange nicht mehr . Aber je mehr sie sich von der bescheidenen Arbeiterbehausung entfernte , je näher sie der eleganten Rokokovilla kam , desto stiller wurde es in ihr . Als ob die Herzensfreude in ihrer Brust vor dem hellen Kerzenglanz scheu verstummte . Nur einmal wurde sie noch laut , als Olly das heute festlich stille Fabrikterrain umschritt . Als sie daran dachte , wie schön das wohl sein müßte , wenn ein großer Tannenbaum in einem der geräumigen Säle aufflammen würde , wenn sich all die vielen Arbeiterkinder , deren Eltern in der Fabrik tätig waren , darunter scharen würden , um ein Spielzeug und eine nützliche Gabe in Empfang zu nehmen . So träumte Olly mit offenen Augen , bis sie eine Stimme unsanft weckte . In der Diele stand Fräulein Arnold mit echauffiertem Gesicht und schaute nach der Saumseligen aus . " Selbst den heutigen Abend verdirbst du einem , jetzt haben wir über eine halbe Stunde mit der Bescherung auf dich warten müssen " , empfing sie Olly vorwurfsvoll . Da erlosch auch der letzte Funken Weihnachtsfreude in Ollys dunklen Augen , nur auflehnender Trotz glomm darin auf . Die Klingel mit ihrem helljauchzenden Ton , die schon zu Mamas Lebzeiten die Kleinen zur Kinderseligkeit gerufen , erhob ihre Stimme . Das junge Mädchen stand vor dem reichbesetzten Platz , nahm das kostbare Pelzwerk pflichtschuldigst in die Hand , sah stirnrunzelnd auf das neue rosa Gesellschaftskleid , in dem es kaum weniger Zurücksetzungen würde erdulden müssen als in seinem alten weißen , und streifte die Goldkäferschuhe mit geradezu feindseligen Blicken . Dann ging Olly zum Papa , bot ihm wie in jedem Jahre errötend die Hand und stieß ein rasches " Danke vielmals " heraus . Dasselbe Manöver wiederholte sich bei Fräulein Arnold , nur daß der Dank für das geschenkte Kopftuch ihr noch schwerer über die Lippen ging . Die Geschwister beschenkten sich nicht gegenseitig . Aber da stand noch einer , der alljährliche Weihnachtsgast , den Olly bisher geflissentlich übersehen : Wolfgang Steinhardt . Er nahm gerade von Senta die Weihnachtsarbeit , eine Zeitungsmappe , an der Fräulein Arnold fleißig hatte mithelfen müssen , in Empfang . " Ganz allein gemacht , Sentchen , wirklich ? " neckte er . Der Blondkopf nickte und warf einen schnellen Blick zu Fräulein Arnold hin . Der bat : Nichts verraten ! Aber Wolfgang verstand sich auf Physiognomien . " Wie hieß doch das Grillparzersche Stück , das ich dir zum Geburtstag geschenkt habe ? " fragte er , mit dem Finger drohend . " Herrgott , du alter Schulmeister , jetzt bekommst du die Zeitungsmappe gar nicht ! " lachte Senta , da sie sich ertappt sah . Dann nahm sie mit strahlendem Gesicht sein Geschenk , ein reizendes Aquarellbildchen , in Empfang . Auch Rudi und Herbert wurden bedacht . Ersterer probierte sogleich seinen Füllfederhalter auf jedem Fetzen Papier , und der Kleine zielte mit der soeben erhaltenen Riesenkanone heimlich nach Ollys Nase . Nun wandte sich der junge Ingenieur der ältesten Tochter des Hauses zu . Er tat , als ob er es gar nicht gemerkt hatte , daß sie bisher keinen Gruß für ihn gehabt . " Na , Olly , und wo ist deine Handarbeit für mich ? " begann er scherzhaft , als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen . Olly zog die Augenbrauen noch etwas dichter zusammen und beschäftigte sich eingehend mit dem rosa Gesellschaftskleid , trotzdem sie eigentlich recht wenig Interesse dafür hatte . " Siehst du , ich bin besser als du , ich habe dir eine Handarbeit gemacht " , fuhr Wolfgang immer noch scherzend fort , Olly schürzte die Lippen . Sie hatte sich fest vorgenommen , falls er es nach der ihr angetanen Schmach noch wagen sollte , ihr heute ein Geschenk zu bringen , dasselbe zurückzuweisen . " Ich habe mich jetzt in meinen Mußestunden auf das Buntphotographieren gelegt - ich wollte dir gern eine Freude machen , Olly . " Er wickelte einen kleinen Gegenstand aus Seidenpapier und stellte ihn vor die sich gleichgültig Abwendende . " Ich nehme von Ihnen nichts geschenkt ! " Keinen Blick warf sie auf die Gabe . " Olly , ich habe gehofft , der heutige Abend würde auch dich versöhnlich stimmen , denkst du kleiner , als ich es von dir geglaubt ? " Wie ernsthaft seine Stimme auf einmal klang . Olly antwortete nicht . Sie kämpfte einen schweren Kampf mit sich . Ein heimlicher Seitenblick streifte das mißachtete Geschenk , da - zuckte sie zusammen . Sie wurde rot , sie wurde blaß . Ein kleines Bild war es für den Schreibtisch - das Bild ihrer Mutter . Eine farbige Photographie des großen Ölgemäldes , das drin im Rauchzimmer hing . Wolfgang Steinhardt wußte es , womit er ihr die größte Freude bereiten konnte . Warm quoll es in Ollys Herzen empor . Aber die Hand , die sich ihm impulsiv entgegenstrecken wollte , sank schlaff herab , das Dankeswort , das sich ihr auf die Lippen drängte , blieb ungesprochen . Als hätte es jemand hinter ihr gerufen , so gellte es Olly plötzlich ins Ohr : " Häßliches junges Entlein ! " Und doch waren die Worte nicht gefallen , nur Ollys brausendes Blut schrillte sie durch den Raum . " Willst du mein Geschenk nicht annehmen , Olly ? " fragte der ehemalige Freund aufs neue . Olly schüttelte heftig den Kopf . Dann blickte sie mit verschleiertem Blick auf das kleine Bildchen , als müßte sie die Mutter um Verzeihung dafür bitten , daß die Tochter sie verschmähte . Wolfgang Steinhardt sagte nichts mehr . Still packte er seine zurückgewiesene Gabe in Papier und schob sie in die Tasche . Das Intermezzo war den anderen nicht weiter aufgefallen . Jeder war heute mit seinen eigenen Geschenken beschäftigt . Senta sang und sprang in ihrem neuen Staat umher , Herbertchen entlockte seiner Harmonika höchst musikalische Töne , und Murks der Zweite begleitete die allgemeine Weihnachtsfreude durch beinahe ebenso musikalisches Geblaffe . Allgemeine Weihnachtsfreude ? Wer das lange , schmalschultrige Mädchen mit dem bleichen Gesicht da an der mit Tannengrün und Rosen geschmückten Tafel sitzen sah , der dachte wohl an alles andere eher als an Weihnachtsfreude . Es zuckte und arbeitete um den blaßroten Mädchenmund , es brannte in den dunklen Augen . Olly mußte alle Kraft einsetzen , um die immer wieder aufsteigenden Tränen niederzuzwingen . Die Weihnachtslichter brannten nieder . Sie wurden am Silvesterabend durch neue ersetzt . Das alte , graue Jahr mit seinen Regentagen schlich sich davon , und im frostklirrenden Eispanzer sprang das junge Jahr in die Welt hinein . Wie ein rechter ausgelassener Schlingel , der seine neue Weihnachtsuniform in der Sonne funkeln und blitzen läßt . Das Räderwerk der großen Hildebrandtschen Maschinen rollte weiter , und auch das Räderwerk in der weißen Rokokovilla . Ein Tag nach dem anderen rollte dahin . Der Kanal , auf dessen Kristallspiegel sich die Jugend , mit Ausnahme von Olly , fröhlich auf ihren Schlittschuhen tummelte , wurde schartig und rissig . Der Schnee im Garten auf Rasenflächen und Buschwerk gelb und unansehnlich . An einem sonnenhellen Februartage war_es , da stürmte Kommerzienrats Ältester ganz besonders forsch die Stufen zum väterlichen Hause empor . Und " Vivat - durch ! " schrie er , daß Fräulein Arnold vom Leinenschrank herbeieilte , daß Senta ihre Mozartische Sonate im Stich ließ , und selbst Olly über das Treppengeländer herablugte . Im Frack , mit feierlich weißer Binde und glücklichen Augen stand der neugebackene " Mulus " da . Er hatte das Abiturientenexamen bestanden . Das gab ein Händeschütteln , ein Küssen , Gratulieren und Freuen ohne Ende . Der Kommerzienrat , dem Herbertchen Kunde gebracht , ließ all seine Zeichnungen und Schreibereien im Stich und eilte spornstreichs zur Villa . Als Papa , der sonst mit seinem Lob recht zurückhielt , seinem großen Jungen anerkennend auf die Schulter klopfte : " Brav , mein Sohn , nun weiter immer wacker , fleißig und rechtschaffen , dann bleibt auch ferner der Segen der Arbeit nicht aus ! " da wurde es dem durchaus nicht weich veranlagten Rudi merkwürdig zumute . " Schade , daß Mama das nicht erlebt hat ! " sagte er leise . In Olly , der einzigen , die wieder bisher abseits gestanden und dem Bruder , trotzdem es sie zu ihm drängte , noch nicht gratuliert hatte , lösten diese leisen Worte jede gewaltsam aufgetürmte Schanze der Zurückhaltung . Sie dachte nicht mehr daran , daß sie monatelang kaum das Alltägliche mit Rudi gesprochen , daß dieser sich von ihr zurückgezogen . Sie hatte dasselbe warme Gefühl wie damals im herbstelnden Garten . Mit langen Sätzen eilte sie die Treppe hinab , schlang die Arme um den verdutzt Dreinblickenden und lehnte ihren dunklen Kopf gegen seinen hellen . " Ich gratuliere dir viel- , vielmals , Rudi ! " In peinlicher Röte blickte der junge Mann auf die plötzlich so zärtliche Schwester . Einen raschen Blick zu Fräulein Arnold , zu Papas erstauntem Gesicht und Sentas übermütiger Grimasse , dann siegte das Gute in ihm . Er richtete sich stramm auf , zwang die Verlegenheit nieder und strich sanft über das dunkle Mädchenhaar . " Ich danke dir , Olly ! " Wieviel besser war die Schwester , die von allen mißachtet wurde , doch als er ! Olly hob den Kopf . Sie hatte die Umgebung ganz vergessen . Als sie aber den erstaunten , spöttischen und lachenden Augen aller begegnete , wurde sie verlegener als der Bruder vorhin . Ebenso schnell , wie sie die Treppe hinabgeeilt , jagte sie dieselbe wieder empor . In den äußersten Winkel ihres Zimmers zog sie sich zurück , aber das quälende Gefühl , sich lächerlich zudringlich benommen zu haben , folgte ihr . Nach einem Weilchen klopfte es an ihrer Tür . Es war Rudi , der Gott weiß wie lange nicht ihr Zimmer betreten . " Ich möchte etwas mit dir besprechen , Olly " , begann er . " Papa ist der festen Hoffnung , daß ich das Maschinenbaufach studieren werde , um dereinst die Fabrik zu übernehmen . Nun aber interessiere ich mich keine Spur für den ganzen Krempel . Ich bin weder ein guter Mathematiker noch Zeichner . Für mich gibt es nur Medizin - es tut mir ja leid , Papa diese Enttäuschung zu bereiten , aber ich kann doch unmöglich mein Leben seinen Wünschen zuliebe verpfuschen . " Der Bruder sah unschlüssig vor sich nieder . Olly konnte vorläufig nichts antworten . Ihre Gedanken streikten , die Gefühlstätigkeit in ihr war augenblicklich überstark . Der Bruder kam zuerst zu ihr mit dem , was für sein ganzes Leben ausschlaggebend war . Sie empfand es deutlich : Er wollte gutmachen ! " Du mußt mit Papa sprechen " , sagte sie nach einem Weilchen , ihre Gedanken sammelnd . " Wenn er nur nicht zu ärgerlich wird ! " Selbst Rudi bangte noch heute vor Papas Zorn . " Das kann alles nichts helfen , Rudi , etwas Ausgesprochenes ist niemals so schwer zu tragen wie etwas scheu Verheimlichtes ! " Olly kam sich plötzlich dem fast Neunzehnjährigen gegenüber als die bedeutend Reifere vor . " Du hast recht , Olly " , er griff nach ihrer Hand . " Und darum will ich auch dir gegenüber nicht mehr schweigen . Ich habe mich erbärmlich , hundserbärmlich feige dir gegenüber benommen ! " " Es ist ja noch nicht zu spät , es zu ändern ! " Olly sah den Bruder offen an . Dieser gab den Blick fest und feierlich zurück , er würde sich selbst nicht wieder ungetreu werden . " Ich werde heute mittag mit Papa sprechen . " Rudi erhob sich . Es war ihm doch zu bedrückend , die Unterredung in Papas Privatbureau stattfinden zu lassen . Mit einem kräftigen Händedruck trennten sich die Geschwister . Olly blieb mit frohem Lächeln zurück . Es war bei der Mittagstafel . Papa war in bester Laune , er hatte eine Flasche Sekt zum besten gegeben . Jetzt hob er den feingeschliffenen Kelch auf eine glückliche Zukunft . Aber sein Junge tat ihm keinen Bescheid . Der faßte das Sektglas und setzte es dann mit einem kurzen Ruck wieder hin . " Ich muß es dir sagen , Papa , " die Worte übersprudelten sich wie die Sektperlen im Glase , " ich kann nicht Ingenieur werden , ich habe keine Neigung dazu ! " Der feine Fuß des Kelches in des Kommerzienrats Hand zersprang schrill . So fest hatten seine Finger zugepackt . " Und was denn , wenn ich fragen darf ? " " Laß mich Medizin studieren , Papa , dafür habe ich von klein auf Interesse gehabt " , stieß Rudi bittend hervor . " Hahaha . " Der Kommerzienrat lachte hart auf . " Dafür hat man gearbeitet und sich gemüht , Stein auf Stein zu seinem Lebensbau getragen , daß der Herr Sohn , nun das Werk bald vollendet , es mit einem leichtsinnigen » Ich habe kein Interesse dafür ! « wieder einreißt ! Hahaha . " Des Kommerzienrats blaue Augen blitzten . " Papa , Herbert ist doch auch noch da , der kann doch Mal die Fabrik übernehmen " , wagte Rudi bescheiden einzuwerfen . " Schweige ! " polterte Papa . " Auf dich habe ich meine Hoffnungen gesetzt , mein Ältester sollte mich nun bald entlasten , und statt dessen - es ist um aus der Haut zu fahren ! " " Aber wenn Rudi sich doch nicht für das Fach eignet , Herr Kommerzienrat " , warf Fräulein Arnold mit bewunderungswürdigem Mute ein . Der Kommerzienrat sah sie an , und seine gefurchte Stirn glättete sich . " Erledigt ! " sagte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn . " Du gehst zu Ostern nach Heidelberg und studierst dort Medizin . Und ich , ich werde meine Hoffnungen noch ein Endchen weiter tragen , bis Herbertchen mir vielleicht eines schönen Tages ebenfalls den Stuhl vor die Tür setzt . " " Papa - laß mich Ostern aufs Gymnasium gehen und später das Maschinenbaufach studieren " , stieß da Olly , heiß errötend , hervor . Ein allgemeines Gelächter erhob sich an der Tafel . Papa mußte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischen , so herzlich lachte er . Fräulein Arnold und Senta hielten sich die Seiten , Herbertchen johlte geradezu . Auch Rudi nahm die Sache für einen Scherz . " Mädel , solch einen guten Witz hast du dein Lebtag nicht gemacht ! " Papa lachte noch immer . " Es ist mein Ernst ! " Ollys Lippen bebten . Seit langer Zeit hatte sie , die stets ein Traumleben für sich führte , an diesem Zukunftsplane gesponnen . Wenn die Mädchen in der Schule davon sprachen , was sie nach absolvierter Schulzeit beginnen wollten , daß die eine das Lehrerinnenexamen machen , die andere studieren und die dritte einen hauswirtschaftlichen Beruf ergreifen wollte , dann hatte sie stillschweigend auch für sich Luftschlösser gebaut . Die Maschinen , die sie als Kind schon mehr geliebt als das schönste Spielzeug , die ihr von klein auf vertraute Freunde gewesen , wollte sie in ihren geheimsten Rädchen , Hebeln und Spulen ergründen . Nun war der stillgehegte , sorglich gehütete Lieblingswunsch ihren Lippen entflohen . Und man lachte darüber , lachte noch immer ! " Es studieren viele Mädchen " , kam Rudi , um ihr die gelobte Kameradschaft zu halten , der Schwester zu Hilfe . " Ja , aber andere als Olly ! Kommt kaum durch die Klassen , bringt stets Schundzensuren nach Hause und will studieren ! Es ist wirklich eine edle Dreistigkeit ! " Der Kommerzienrat blickte jetzt mißbilligend auf die Tochter . " Ja , ich muß auch sagen - " begann Fräulein Arnold . " Eine Fremde hat dabei überhaupt nicht mitzusprechen ! " sprudelte Olly empört heraus . " Herr Kommerzienrat - " Fräulein Arnold sah auf Papa . Der stand plötzlich kurz entschlossen auf . " Folge mir , Olly " , er winkte ihr in das Nebenzimmer . Dort schritt er erst einige Male erregt auf und nieder . " Ich habe dir schon einmal befohlen , Olly , Fräulein Arnold gegenüber den schuldigen Respekt nicht außer acht zu lassen . Es ist das letztemal heute , daß ich dies dulde - hast du mich verstanden ? " Olly senkte tief den Kopf . Dann aber hob sie das Gesicht mit jähem Entschluß zum Vater empor . Sie wußte nicht , woher sie den Mut zu dem , was sie sagen wollte , nahm . " Papa , lieber Papa , " - zum erstenmal gebrauchte sie eine Zärtlichkeitsform - " bitte , schicke Fräulein Arnold zu Ostern fort . Da du mich nicht studieren lassen willst , so laß mich den Haushalt führen , wenn ich aus der Schule bin . Ich werde doch in der nächsten Woche schon siebzehn ! " Leise und leiser war Ollys Stimme geworden , Papas unbewegliches Gesicht ließ sie verstummen . Der Kommerzienrat hatte sie ruhig ausreden lassen . Jetzt sah er sie durchdringend an . " Fräulein Arnold zu Ostern fortschicken - jawohl , das will ich ! " In Ollys dunklen Augen leuchtete es auf . Papa fuhr fort : " Wahrscheinlich sogar schon eher . Aber zu Ostern kommt sie wieder , nicht mehr als Fräulein Arnold , sondern als meine Frau , als eure neue Mutter ! Ich habe mich gestern mit ihr verlobt . " " Papa - - - " ein Wehschrei durchgällte das Zimmer . Dann sank Olly plötzlich zu Boden , wie hingemäht von der furchtbaren Wahrheit . Ein gütiger Engel hatte ihr Denken in eine tiefe Ohnmacht gehüllt . 10. Kapitel . In Pension An die Tore Berlins pochte der Frühling . Schüchtern und zag , als sei er bang , daß man ihm nicht öffne . Da drin in der Millionenstadt hatte man auch anderes zu tun , als auf das bescheidene Klopfen des sonnenhaarigen Frühlingskindes zu lauschen . Da jagte und raste das Leben , da sausten die Autos , ratterten die Lastwagen , lärmte die Gegenwart . Und drüber her durch die weiche Märzluft zog langsam und feierlich die Zukunft - das Luftschiff . Danach schauten die Menschen aus dem ewigen Hasten und Vorwärtsdrängen , nicht aber nach den schon geborstenen Knospen am schwellenden Busch aus dem häuserumstandenen Platz . Nicht nach dem fürwitzig das grüne Näschen in die Luft steckenden Grashälmchen , nach den zartfingerigen jungen Kastanienblättlein , die sich wie verloren in der großen Steinwüste Berlin vorkamen . Darauf zu achten , fand keiner Zeit . Darum zog es der kleine Lenzesgott vor , seine Kunst lieber draußen vor den Toren zu zeigen . Auf das graue , sandige Baugelände zauberte er über Nacht lichtes Frühlingsgrün , Maßliebchen und Himmelsschlüsselchen . Längs des Stachelzaunes , der die Arbeiterwelt von der des Kommerzienrats trennte , streute er mit vollen Händen Schneeglöckchen , und unter dem Reinettenbaum lugten blauäugige Veilchen hervor . Olly stand vor diesen ersten Frühlingsgrüßen mit Augen , die so gar nicht zu all der jungen Pracht passen wollten . Ihr , welche die Blumen so liebte , tat das Werden und Keimen in der Natur heute weh . Olly nahm Abschied . Morgen sollte es fortgehen vom Vaterhaus , zum erstenmal in die große Welt hinein . Weit fort nach Lausanne , in ein Schweizer Pensionat . Papa mochte es Fräulein Arnold nicht zumuten , als junge Frau gleich zwei fast erwachsene Töchter neben sich im Hause zu haben . Er wollte sich das Glück einer zweiten Ehe nicht durch die ständigen Reibereien zwischen Olly und der neuen Mutter verstören lassen . Schliff fehlte Olly sowieso noch , und Senta war glücklich , vor ihren Freundinnen mit einer Schweizer Pension renommieren zu können . Das Verhältnis zwischen Olly und Fräulein Arnold hatte sich nach jener inhaltsschweren Mitteilung Papas nicht gebessert - im Gegenteil . Ollys bisher auflehnende Gefühle gegen die Hausdame bekamen jetzt ein geradezu feindseliges Gepräge . Sie sah nicht die künftige Mutter in ihr , wie Papa das verlangte , sondern die Fremde , welche ihre eigene heißgeliebte Mama aus dem Hause und dem Herzen des Vaters verdrängt hatte . Sie fand weder das traute Wort " Mutter " , wie die übrigen Kinder , welche die Nachricht mit Jubel aufgenommen hatten , noch das " Du " , das den anderen so leicht und selbstverständlich über die Lippen ging . Trotz Papas Stirnrunzeln blieb sie beim steifen " Sie " . Zum Glück reiste Fräulein Arnold noch auf einige Wochen in ihre Heimat , und das unerquickliche Beisammensein fand dadurch ein Ende . Katchen Lehmann hatte der Freundin so recht herzinnig Glück gewünscht : " Wie schön , Olly , daß du nun auch eine Mutter hast ! " Olly sah das flachshaarige Mädchen mit großen Augen an . Ihr Mund öffnete sich schon zur Gegenrede aber sie schloß die Lippen wieder . Nein , Katchen verstand sie doch nicht ganz , in die tiefsten Tiefen ihrer Seele konnte sie ihr nicht folgen . Sie beurteilte alles von dem sonnenbeschienenen warmen Plätzchen aus , auf das der himmlische Gärtner sie selbst gepflanzt . Seit gestern hatte nun auch die Schule ihre Pforten hinter den Hildebrandtschen Schwestern geschlossen . Mit heißen Tränen hatten sie alle , die Blonden und Braunen , von der altvertrauten Stätte ihrer Kindheit Abschied genommen , von den Lehrern und all den Mitschülerinnen . Und wieder stand eine allein in der bewegten Mädchenschar , tränenlos . Olly ging der Abschied von der Schule nicht nahe , war sie ihr doch oft genug eine Quelle bitteren Zurückgesetztseins gewesen . Sie hielt das Abgangszeugnis , das seinen Vorgängern an Güte nicht viel nachstand , gleichgültig in der Hand . Gleichgültig reichte sie den Damen und Herren die Hand , die versucht hatten , die Grundpfeiler des Guten und Schönen in die spröde Mädchenseele zu senken , wenn sie auch nicht immer nach dem richtigen Werkzeug dabei gegriffen . Gleichgültig sagte sie den Gefährtinnen Lebewohl . Nur einmal stieg es ihr heiß in die Augen , als es nun auch ans Abschiednehmen mit Katchen ging . Ein ganzes Jahr lang sollte die Trennung währen , wenn sie wiederkam , war Katchen längst auf dem Seminar , wo sie sich zur Lehrerinprüfung vorbereitete . Dort würde sie wohl neue Freundinnen finden , und . . . " vergiß mich nicht , behalte mich lieb , wenn ich auch solch ein Scheusal bin ! " flüsterte Olly mit unterdrücktem Schluchzen plötzlich in Katchens rosiges Ohr . Die drückte die Freundin zärtlich an sich . " Du bleibst stets die Aller- , Allerbeste für mich ! Schreibe mir , ganz ausführlich , hörst du ? Und wenn du wiederkommst , paß auf , dann ist alles gut ! " Hoffnungsvoll überzeugend klang das letzte , so weich und verheißend wie der Frühlingswind , der gleich darauf ihre heiße Schläfe strich . Heute galt es den schwersten Abschied . Von daheim , von ihrer Fabrik . Denn morgen in aller Frühe ging es fort , die Reise war weit , Rudi fuhr bis Heidelberg mit den Schwestern zusammen . Noch einmal schritt Olly durch die vielen Arbeitssäle , in denen glühender Funkenregen seltsame Lichter und Reflexe auf bleiche Gesichter warf . Das Surren und Schnurren , Schnaufen und Ächzen ihrer lieben Maschinen sang ihr das Abschiedslied . Oh , daß sie ihren Wunsch , in der Fabrik einmal ihre Lebensaufgabe zu finden , hatte zum Schweigen bringen müssen ! Hier und dort blieb Olly stehen . Schaute auf das Formen und Werden in den emsigen Händen , sprach ein freundliches Wort mit einem weißhaarigen Alten , nickte einem rotbäckigen jungen Dinge , deren blühende Jugend der Fabrikdunst noch nichts hatte anhaben können , einen Abschiedsgruß zu . Den Rückweg zum Hause nahm sie am Reinettenbaum vorüber , der damals die schweren Stunden mit ihr durchlebt . Aber unter dem noch kahlen Baum schimmerte es veilchenblau - die erste Frühlingsbotschaft ! Nach Fabrikschluß kam Wolfgang Steinhardt auf einen Augenblick in die Rokokovilla herüber , um den Hildebrandtschen Kindern Lebewohl zu sagen . Der Abschied von Rudi war kameradschaftlich herzlich , der von Senta lachend , neckend und scherzend , wie auch ihr Beisammensein stets . " Lebe wohl , Olly , möge es dir gut gehen ! " Jetzt trat er zu der ihre Tasche packenden Ältesten . Ollys Hand zuckte . Und ehe ihre Überlegung die vorschnelle Hand zurückgehalten , streckte sich dieselbe dem jungen Ingenieur entgegen . " Hier habe ich den jungen Damen etwas Reiselektüre mitgebracht " , wandte er sich noch einmal an Senta . Die nahm mit freudestrahlendem Dank die große Bonbonniere in Empfang . Olly vermochte sie nicht zurückzuweisen , wie sie es gern getan hätte . Wolfgang hatte ihr die Möglichkeit dazu durch den gemeinsamen Besitz mit der Schwester diplomatisch genommen . Dann stand sie zum letztenmal oben auf ihrem blumenleeren Balkon und schaute durch tränenverschleierte Augen auf die Heimat . Über dem schwarzhaarigen Mädchenhaupt schoß es in bogenartigem Fluge dahin . Die ersten Schwalben - die Künder des nahenden Lenzes ! Das silbergraue Automobil hielt vor der Rokokovilla . Auf der einen Seite schmiegte sich Senta neben Papa in die roten Lederpolster . Sie hatte , um ihre Würde als schulentlassene junge Dame zu dokumentieren , einen weißen Schleier um das neue Reisehütchen geschlungen . In der gegenüberliegenden Ecke saß stumm neben dem mit dem Vater plaudernden Bruder Olly . Ihr Auge irrte von der im Sonnenlicht grellweißen Villa zu den rauchgeschwärzten Schornsteinen der Fabrik . Zu den grauen Fenstern , hinter denen schon zu dieser frühen Morgenstunde das Leben , die harte , zwingende Arbeit pulsierte . Wie würde es sein , wenn sie wiederkehrte ? Tränen verdunkelten Ollys Blick . Sie sah nicht mehr den schwanzwedelnden Murks neben dem taschentuchwedelnden Herbertchen auf der Freitreppe , dem einzigen der Kinder , das im Hause blieb . Sie wußte nicht , daß das auto längst mit ihr durch die noch staubfreie Morgenluft jagte , daß sich ihr unterdrücktes Schluchzen mit seiner schrill gellenden Hupe vermischte . Erst als Rudis Hand ihr beruhigend die Schulter klopfte , als Papas Stimme halb wohlwollend , halb ungeduldig an ihr Ohr drang : " Mädel , du tust doch gerade , als ob es zur Hinrichtung ginge - es geschieht doch zu deinem Besten ! " wischte sie sich beschämt die Tränen von den blassen Wangen . Senta sah mit überlegenem Lächeln auf die Weinende . Der Kommerzienrat stand draußen vor dem Coupe zweiter Klasse des nach Heidelberg gehenden D-Zuges . Er schüttelte Rudi väterlich die Hand : " Mache ' mir weiter Freude , mein Junge ! " Senta hüpfte noch einmal die eisernen Stufen hinab und hing dem Vater am Hals . Der wurde weich , als er seinen Liebling zum letztenmal im Arm hielt . Dann beugte er sich zu der mit scheuen Augen abwartend danebenstehend Olly und hauchte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn . " Hoffentlich höre ich auch von dir nur Gutes ! " Das klang ernst mahnend . " Grüße unsere neue Mama von uns ! " rief Senta , bei der die Abschiedsrührung nicht lange vorhielt , schon wieder lachend vom geöffneten Fenster herab . " Ja , ach ja ! " Rudi schämte sich ein wenig , daß er das bisher versäumt . " Nun , Olly , hast du keinen Gruß für deine neue Mutter ? " fragte der Vater vorwurfsvoll , da seine Älteste mit finsterem Gesicht schwieg . " Ich habe keine neue Mutter - Mama ist tot ! " Hart fielen die Worte aus dem jungen Munde . Sah Papas jugendlich schönes Gesicht nicht mit einem Male alt und bekümmert aus ? Olly konnte es nicht mehr erkennen , denn schon rollte der Zug mit ohrenbetäubendem Lärm aus der Halle . Oder waren die wieder emporsteigenden Tränen daran schuld ? Warum , Oh , warum hatte sie Papa , den sie so lieb hatte , noch zu guter Letzt diesen Schmerz zugefügt ? Die rötlich grauen Stämme der märkischen Kieferwaldungen flogen vorüber . Schwarz standen die nadligen Wipfel gegen den jungen Morgenhimmel . Der stülpte sich wie eine durchsichtig blaue Glasglocke über die Landschaft . Nur hier und dort waren luftige Lämmerwolken gleich Watteflöckchen darüber hingepustet . Die wechselnden Bilder da draußen , die neue Umgebung im D-Züge und vor allem die Anwesenheit von Bruder Rudi , der ihr ermunternd zunickte , wirkte allmählich tröstend auf Olly . Schließlich ganz verleugneten sich ihre siebzehn Jahre doch nicht ! Solch eine erste , selbständige Reise hat einen besonderen Reiz für junge Menschen . Senta hatte sich längst mit Wolfgangs Bonbonniere , die sie einer eingehenden Kostprobe unterzog , getröstet . Allmählich , als sie schon fast bis zum Überdruß geschmaust , fiel es ihr ein , daß Olly ja Mitbesitzerin sei . Großmütig bot sie ihr die tüchtig zusammengeschrumpften Süßigkeiten . " Willst du nicht auch ? " " Nein , ich esse von dem Ding nichts ! " Es war schade , daß Wolfgang Steinhardt , auf den sie doch eigentlich gemünzt waren , nicht diese verächtlichen Worte hatte hören können . Denn auf Senta machten sie gar keinen Eindruck , höchstens einen magenfreudigen . Die Sonne stieg , und mit ihr die Laune der drei Reisenden . Rudi war von jauchzender , ungebundener Jugendlust , als ob das bevorstehende Studentenleben ihn schon ganz und gar gepackt hielt . Senta war stets vergnügt , und heute , wo sie einem neuen , abwechslungsreichen Pensionsjahr entgegenfuhr , besonders . Vor so viel Sonnenschein hielt auch Ollys Regenwetter nicht stand . Mit großen Augen sah sie , wie der Thüringer Wald , der kaleidoskopartig an ihnen vorüberzog , bereits ein funkelnagelneues , grünes Frühlingsgewand trug . Rudi und Senta schmetterten gerade - man befand sich allein im Coupe - das der augenblicklichen Situation entsprechende Studentenlied : " Im Tale die Saale . . . " da öffneten sich auch Ollys zusammengepreßte Lippen , und leise , kaum wahrnehmbar , summte sie die Weise mit . Der kleine , lockere Frühlingsgott , der da draußen schon fleißig am Werk geschafft , zog auch sie in seinen Zauberkreis . Ja , man fuhr in den Frühling hinein , in den lachenden jungen Lenz , je weiter man hinter Frankfurt nach Süden kam . Ein schneeiges und rosenrotes Blütenmeer schlug seine duftigen Wogen zu Seiten der schwarzen Bahnschienen . Kirsch- und Pfirsichblüte ! Ach , und da stand ja schon der Goldregen im gleißenden , blumigen Gewand ! Der Kastanienbaum dort neben dem rotmützigen Bahnwärterhäuslein hatte all seine Silberkerzen herausgestreckt . Die Syringenbüsche waren schon vom violetten Schimmer überhaucht , und der frischgrüne Anger prangte mit Tausenden von zartfarbigen Anemonen . " Ist das bezaubernd schön ! " Olly hatte das Fenster herabgelassen und sog in tiefen Zügen die würzige Luft ein , die der Taunuswind ihr zutrug . " Ja , es ist merkwürdig , in Berlin war doch fast noch alles kahl , und hier ist die Vegetation schon so weit vorgeschritten " , meinte Rudi erstaunt . " Na , wenn das so weiter geht mit unserer Fahrt gen Süd , wandeln wir heute abend noch unter Palmen ! " lachte Senta . Das taten sie nun nicht , wohl aber wanderten sie am Abend unter den vom Silberlichtregen des Mondes durchsickerten Bergtannen , die das alte Heidelberger Schloß umgürteten . Der herrliche , im Milchglanz des Vollmondes träumende Renaissancebau mit seinen sagenhaften Ruinen machte auf die empfängliche Olly einen überwältigenden Eindruck . " Wie freue ich mich für dich , Rudi , daß du auf diesem schönen Fleckchen Erde leben und studieren kannst " , sagte sie und drückte in ihrer Begeisterung sogar die Hand des Bruders . " Ja , und besonders mit all den schneidigen Couleurstudenten zusammen . " Für Senta hatte das Heidelberger Leben einen anderen Reiz . Am nächsten Morgen hieß es auch von Rudi scheiden . Als Olly seine kräftig jugendliche Gestalt , den noch jungenhaften Kopf mit dem kurzgeschnittenen Blondhaar vom dahinrollenden Zuge aus kleiner und kleiner auf dem Bahnhofe werden sah , als er schließlich ganz in einer Wolke schwarzgrauen Dampfes verschwand , da hatte sie das Gefühl , als ob sie nun ganz verlassen sei . Sie hätte der gegenübersitzenden Senta gern die Hand hingestreckt : " Laß uns jetzt in der Fremde wenigstens schwesterlich zusammenhalten ! " aber die hätte sie sicherlich ausgelacht . Durch das lustige Neckartal , vorüber an den düsteren Schwarzwaldtannen , jetzt wälzte der deutsche Strom , der Rhein , seine grünen Wasser dahin , und dann waren sie in der Schweiz . Als kurz vor Bern plötzlich die gewaltigsten Gletscherriesen des Berner Oberlandes am Horizont auftauchten , schrie die sonst stille Olly laut auf . " Senta - Senta ! " Sie wies aufgeregt mit der Hand hinaus . " Gott , blök doch nicht so , ich bin doch nicht taub , was gibt es denn da draußen ? Wieder eine Windmühle , ein Kuhhirt oder gar eine Gänseherde , die dich begeistert ? " spottete die . " Nun , mein junges Fräulein , wenn man die Alpen zum erstenmal erblickt , darf ein empfängliches Gemüt wohl in Begeisterung geraten " , mischte sich ein Herr , der mit ihnen fuhr , ein wenig tadelnd hinein . Senta bis sich wütend auf die Lippen . Zum erstenmal im Leben geschah es ihr , daß man Ollys Handlungsweise recht fand und die ihrige mit stummem Vorwurf kritisierte ! Wie kam überhaupt ein Fremder dazu , sie , ein erwachsenes Mädchen , zurechtzuweisen ? Sie machte ein hochmütiges Gesicht und hatte nun erst recht kein Auge für die immer klarer aufsteigende Gletscherherrlichkeit . Gegen Abend war_es , als die beiden Mädchen endlich , ziemlich gerädert von der langen Fahrt , ihr Endziel , den zwischen Lausanne und dem Hafen Ouchy gelegenen Gare Centrale , erreichten . Hier sollten sie von einer Lehrerin der Pension in Empfang genommen werden . Zur besseren Erkennung wollte die Dame ein Taschentuch in der Hand halten . Es war reger Verkehr auf dem Bahnhof . Ängstlich hielt sich die große Olly hinter der zierlichen Senta , die mit neugierigen Augen in das Gewühl blickte . Dort , jene Dame hatte ein Taschentuch in der Hand , das mußte die Abgesandte von Madame Pierre sein . Senta steuerte mutig auf sie los , Olly hinterdrein . " Verzeihung , ich habe wohl das Vergnügen , mit einer Dame der Pierreschen Pension zu sprechen , unser Name ist Hildebrandt " , wandte sich Senta mit all ihrer verbindlichen Liebenswürdigkeit an die Fremde . " Atsi " , nieste die Dame und gebrauchte ihr Taschentuch . Senta wiederholte noch einmal ihre schöne Rede . " Atsi " , antwortete es aufs neue . Ratlos blickte das junge Mädchen sich um , dann begann es zum drittenmal . Aber mit einem " Je ne comprend pas " schnitt die verschnupfte Dame , wie es schien , auch durch die Belästigung des jungen Mädchens ein wenig verschnupft , ihre Anrede ab . Herrgott , richtig , sie waren ja in fremdem Lande , auf der Bahnfahrt war ihnen das noch nicht zum Bewußtsein gekommen , jetzt galt es , Französisch zu sprechen ! " Attention " - ein mit Koffern beladener Gepäckträger rempelte Olly an , die machte erschreckt einen Sprung in irgendeine Richtung hin , trotzdem sie den Mann überhaupt nicht verstanden . " Nous sommes - nous sommes les vieles de Monsieur Hildebrandt " , versuchte Senta in ihrer Ratlosigkeit noch einmal eine Verständigung mit der immer noch ihr Taschentuch gebrauchenden Dame . Die schien von dieser Eröffnung weder angenehm noch unangenehm berührt . Sie machte ein so gleichgültiges Gesicht , daß das Backfischchen seine Worte mit demselben Erfolg an den danebenstehend Automaten hätte richten können . Selbst Sentas fröhliche Keckheit schwand , mutlos standen die beiden deutschen Mädchen in dem sie umschwirrenden Gewirr von fremden Lauten . Sie hatten niemals eine französische Erzieherin gehabt , Papa war nicht für derartigen Firlefanz . Und mit ihrem bißchen Schulfranzösisch wußte selbst Senta , die doch ganz und gar nicht auf den Mund gefallen war , hier recht wenig anzufangen . Als Olly die jüngere Schwester so ratlos dastehen sah , erwachte ihre eigene Energie . " Wenn Madame Pierre niemand geschickt hat , müssen wir uns eben hinfragen , wir wissen ja die Adresse . " Aber das war leichter gesagt als getan . Ollys Französisch lag noch zehnmal mehr im argen als das von Senta . Es klang ungefähr so , als ob einer Holz hackt , abgesehen von den lustig darin wimmelnden Fehlern . So oft sie jemand ansprach , über die ersten Worte : " Où est la maison - - - " kam sie nie . Der Betreffende hatte dann stets genug von ihrem Stotterfranzösisch und verzichtete auf die Fortsetzung . Schließlich riet ihr jemand , sich einen Wagen zu nehmen . Daß sie auch nicht selbst daran gedacht hatten ! Eine herrliche Fahrt am Genfer See entlang machte alle ausgestandene Angst vergessen . In tiefer Azurbläue träumte der See , lustige weiße Wellenköpfchen tanzten auf seinem Spiegel . Große Dampfer zogen langsam dahin , lichte Segelboote und winzige Nachen schaukelten sich übermütig auf dem flimmernden Blau . In üppigster Fruchtbarkeit , einem blühenden Garten gleich , umrahmten ihn die Uferhänge , an denen der Wagen dahinrollte . Hellfarbige Häuschen waren kokett in grüne Weinberge gebettet . Drüben aber , am südlichen Ufer , erschimmerte , vom Goldorange der ersterbenden Sonne umlodert , die gewaltige Kette der Walliser und Savoyer Eishäupter . Der Montblanc in seiner atembeklemmenden Majestät ! Olly schloß geblendet die Augen . Hier in diesem Lande der Schönheit sollte sie , das häßliche junge Entlein , künftig leben ? Dann aber quoll die Freude am Schönen wieder übermächtig in ihr empor . Oh , hier mußte man ja gut sein , wo alles so feenhaft schön war . Die heimliche Angst vor dem fremden Pensionat , vor den unbekannten Lehrerinnen und Zöglingen , die sie gewiß bald wieder verlachen würden , schwand . Nur das Glücksempfinden , täglich dieses wunderbare Bild genießen zu dürfen , blieb . Sie griff nach Sentas Hand . Sie mußte in diesem Augenblick irgend jemand etwas Liebes antun , ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Schwester haben . Die sah Olly von der Seite an , etwa wie man einen harmlos Verrückten anschaut . " Piepmätzchen ? " fragte sie und zog ihre Hand fort . Aber ehe eine Verstimmung in Olly aufkommen konnte , hielt der Wagen vor einem zierlichen Schweizerhäuschen . Blaue Klematis umkletterte es bis zu dem Holzdach hinauf , einer einzigen leuchtendblauen Blume gleich ragte es aus dem ausgedehnten Garten . Rosenrote Mandelbäume hatten dort die schweren Blütenhäupter im Abendtau gesenkt , weiße Magnolienbäume ihre lichten Tulpen geschlossen . Ein Blumenland , das in dieser Abendstimmung unsäglichen Frieden ausströmte . Wie in einem schönen Traum , aus dem sie Furcht hatte zu erwachen , schritt Olly langsam hinter Senta her , die jetzt wieder unternehmungslustig die Führung übernommen . " Mon repos " stand in geraden Lettern über dem Hauseingang an der holzgeschnitzten , rings um das Haus laufenden Galerie . Es war keins der großen Lausanner Pensionate , das von Madame Pierre . Als Papa nach seiner Verlobung zum erstenmal den Gedanken einer Schweizer Pension ins Auge gefaßt , hatte Olly sich mit Händen und Füßen gegen ein derartig elegantes Institut gesträubt . Viel lieber wäre sie in ein bescheidenes Pfarrhaus im Thüringer Wald gegangen . Aber Senta tat es nicht anders , die Töchter des Kommerzienrats Hildebrandt mußten in die französische Schweiz . Da war ihnen zum Glück der Name von Madame Pierre genannt worden , die nicht direkt in Lausanne wohnte , sondern in mehr ländlicher Umgebung im Hafen Ouchy . Sie hatte kein ausgedehntes Schweizer Töchterpensionat unter sich und nahm nie mehr als zwölf Zöglinge an . Der Unterricht wurde als vorzüglich empfohlen , und die Behandlung der jungen Mädchen sollte eine durchaus individuelle sein . Das war für Papa bei seiner schwierigen Olly ausschlaggebend gewesen . Ein nettes Hausmädchen öffnete , nahm den beiden jungen Damen das Handgepäck ab und führte sie in den Empfangsraum . Der war wohnlich , aber einfach ausgestattet . Senta zog das feine Näschen kraus und meinte , sich umblickend : " Etwas plebejisch ! " Während Olly gerade das Fehlen allen Prunkes mit erleichtertem Herzen begrüßte . Madame Pierre trat herein . Eine große , schlanke Erscheinung mit vollem , weißem Haar . Das Gesicht darunter erschien noch jung , es bildete einen seltsamen Gegensatz zu den schlohweißen Haaren . " Guten Abend " , sagte Senta und machte eine zierliche Verbeugung , halb tanzstundenartig , halb damenhaft . Olly stand wie immer steif wie ein Stock . " Ah , bon jour , Mesdemoiselles , mais ce n' est pas possible , que vous soyez venues seules " , sie reichte erst Olly , dann Senta die Hand in einer gewinnenden Freundlichkeit . " Oui " , sagte Senta - " non " , sagte Olly , aber verstanden hatten sie eigentlich alle beide nichts . Wieder sprach Madame Pierre zu ihnen , es schien eine Frage zu sein , denn sie hob zum Schluß die Stimme . Die schlaue Senta kombinierte daraus , daß sie nach der Lehrerin , die sie in Empfang nehmen sollte , gefragt seien . " La Dame avec les mouches n' était pas sur la gare " , stolz blickte das Blondchen auf die Vorsteherin - sprach sie nicht fein Französisch ? Die begann plötzlich zu lachen . " Ich habe Sie gefragt , wie Ihre Reise gewesen , und nicht nach der Dame » mit den Fliegen « , Sie meinen wohl » mouchoirs « , Kind. Ehe bien , Ihr Französisch scheint ja nicht allzu weit her zu sein , aber das werden Sie hier schon lernen " , setzte sie gleich wieder tröstend hinzu , als sie die kleine Unmutswolke auf Sentas Stirn entdeckte . Sie sprach jetzt ganz langsam und akzentuiert , daß selbst Olly einige Worte verstand . " Nun muß ich aber wirklich einen Boten nach dem Gare Centrale senden , sonst steht Miß Pinshes bis morgen früh dort " , wieder gingen die französischen Worte wie Wogen über die deutschen Mädchen dahin . " Ich hoffe , daß es Ihnen bei uns gefallen wird ! " Trotzdem Olly keine Ahnung hatte , wovon die Rede war , berührte sie die Art , in der es gesagt wurde , wohltuend . Diesmal sagte sie " oui " und Senta zur Abwechslung " non " . Dann klingelte Madame Pierre und gab dem eintretenden Mädchen Auftrag , die jungen Damen auf ihr Zimmer zu führen . Senta machte wieder ihre Verbeugung , Olly etwas , was dasselbe bedeuten sollte , aber mehr dem Scharren einer Henne glich . Dann standen sie draußen in dem erleuchteten Treppenflur . Hinter wenig geöffneten Türspalten tauchten für Sekunden neugierige Mädchenköpfe auf . " Numero 12 est la chambre de Mademoiselle Olly , et numero 15 de Mademoiselle Senta " , sagte das Mädchen , die Türen zu den bezeichneten Zimmern öffnend . " Gerechter Strohsack , bleiben wir denn nicht zusammen ? " Senta , die bisher die Gesellschaft der Schwester stets als störend empfunden , machte jetzt ein erschrockenes Gesicht . Hier in der Fremde , wo kein Mensch ihre Sprache sprach , kam ihr zum erstenmal ein schwesterliches Gefühl . Das angewiesene Zimmer , das sie betrat , war mit weißen Möbeln ausgestattet . Sehr sauber , aber auch sehr einfach . Dem verwöhnten Kommerzienratstöchterlein erschien es geradezu ärmlich . Kein Sofa , kein Schreibtisch - dazu hatte sie so vor Irmgard von Buschen mit dem vornehmen Schweizer Pensionat geprahlt ? Am Tisch , der in der Mitte des Zimmers unter einer elektrischen Glühbirne stand , saß ein Mädchen mit offenem , hellem Kraushaar bei einer schriftlichen Arbeit . Es war wohl ungefähr im gleichen Alter mit der Eintretenden . Aber die lose Matrosenbluse , der kurze Faltenrock ließen es jünger erscheinen . " Guten Abend " , sagte Senta freundlich und schaute ihre Zimmergenossin prüfend an . " Good evening " , sagte diese und tat dasselbe . " Nanu , das ist ja hier das reine Babel , einer versteht den anderen nicht " , lachte Senta jetzt los . Die junge Engländerin stimmte ein , und in diesem Lachen verstanden sich die beiden Backfische vorzüglich . Senta eröffnete die Unterhaltung in einem seltsamen Gemisch von Deutsch , Französisch und Englisch . " Are you schon longtemps ici ? " " I came yesterday . " Das deutsche Backfischchen verstand ihr Englisch bedeutend besser als das fließende , schnelle Französisch der Vorsteherin . " Also eine Neue - wie heißen Sie - comment est votre Name ? " " Harriot Fewson - but we musst speak French , it is Not allowed to speak in other language . " " Quatsch - ich rede , wie mir der Schnabel gewachsen ist ! " Es war ganz gut , daß die junge Engländerin sie ziemlich verständnislos ansah . Beim Einräumen der Sachen , bei dem Harriot der Neuen gefällig zur Hand ging , flog die Unterhaltung wieder in drei Sprachen lustig hin und her . Je weniger man sich miteinander verständigte , um so herzlicher lachte man . Und solch ein gemeinsames Backfischlachen verbindet mehr als tausend Worte . Als die Klingel zum Abendessen durch das Haus schallte , war Senta schon über manches in der neuen Heimat orientiert . Arm in Arm zog sie mit der jungen Manchesterin ins Speisezimmer . Auf Nummer 12 , Ollys neuem Quartier , ging es bei weitem stiller zu . Im ersten Augenblick hatte Olly es mit Erleichterung begrüßt , daß Senta nicht mit ihr zusammenwohnen sollte , dann würden die kindischen Plänkeleien ihr wenigstens hier nicht den paradiesischen Frieden stören . Aber als sie nun in das ihr angewiesene Zimmer trat und dort eine junge Dame vor einem Handspiegel sitzen sah , eifrig bemüht , sich die roten Haare zu Locken zu wickeln , hätte sie doch lieber die Schwester als Zimmergenossin gehabt . Sie brummte etwas , was ebenso " guten Tag " wie " bon jour " heißen konnte , es war absolut unverständlich . Das rothaarige Fräulein sah von seinem Toilettenspiegel auf , neigte höflich den Kopf , sagte mit hoher , dünner Stimme " bon soir " und warf einen Blick über Ollys Erscheinung , unter dem die Neue heiß errötete , denn sie fühlte die abfällige Kritik . Darauf wandte sich die junge Pariserin wieder ihrem Spiegel zu . Olly aber stand verlassen mitten im Zimmer und wußte absolut nichts mit sich anzufangen . Hut und Mantel abzulegen und ihre Sachen auszupacken , das Nächstliegende , daran dachte sie nicht . Nachdem sie ungefähr eine Viertelstunde dem interessanten Lockenstudium des hübschen Rotkopfes zugeschaut und den alabasterweißen Teint , zu dem die goldbraunen Augen eigenartig stimmten , genügsam bewundert hatte , trat sie ans Fenster und starrte hinaus . Trotzdem graue Dämmerung bereits ihre Schattennetze über den Genfer See spann , fühlte sie wieder die Macht der schönen Natur auf sich wirken . Das Gefühl des Unbehagens und Fremdseins schwand . " Wollen Sie nicht Ihre Sachen ablegen ? " wandte sich die Zimmergenossin jetzt in elegantem Französisch mit erstaunten Augen an die immer noch im Straßenanzug dastehende Olly . Die zuckte die Achsel . Sie verstand keinen Ton . Ach , hätte sie doch bloß den Konjunktiv besser gelernt und überhaupt in Französisch mehr aufgepaßt ! Das Pariser junge Mädchen mit dem Lockenaufbau , den hohen Absätzen und dem spitzenbesetzten Kleide schien recht wenig von seiner neuen Gefährtin erbaut . Trotzdem versuchte es mit der gewandten Höflichkeit , die den Franzosen eigen , noch einmal die stumme Reserve der langen jungen Deutschen zu brechen und ins Gespräch mit ihr zu kommen . Vergebene Mühe ! Olly antwortete nur durch Kopfschütteln , Brummen oder Achselzucken . Zum Glück klang in diese angeregte Unterhaltung die Essensglocke hinein . " Au Souper - au Souper ! " Soviel war Olly wenigstens klar , daß dies eine Essensaufforderung bedeutete . Die rothaarige junge Dame setzte sich in Bewegung , Olly folgte in Hut und Mantel . Das geräumige , holzgetäfelte Speisezimmer lag im Parterregeschoß . Die Tafel war für sechzehn Personen gedeckt , ein großer Frühlingsstrauß prangte in der Mitte . Die Damen waren fast vollständig versammelt . Obenan Madame Pierre , am anderen Ende des Tisches ihre Schwester , Mademoiselle Louison , meist " Made " von den übermütigen Zöglingen genannt . Wenigstens von den Deutschen . Sie hatte das Hauswesen unter sich . Daran reihten sich frische , junge Mädchengesichter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren . Neben dem duftigen Frühlingsstrauß tauchte noch das etwas vertrocknete Gesicht von Miß Pinshes , der englischen Lehrerin , auf , mit der sich die Hildebrandtschen Schwestern auf dem Gare Centrale verfehlt hatten . Senta saß mit roten Backen und glänzenden Augen bereits neben der neuen Freundin . Aber ihre Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer , als sie jetzt Olly , noch immer gestiefelt und gespornt , hereinkommen sah . Hatte die denn einen kleinen Triller im Kopf , daß sie so zum Essen erschien ? Auch die anderen sahen befremdet auf das überschlanke Mädchen im grauen Filzhut und dunkelblauen Mantel . Wollte sie etwa wieder davon ? Madame Pierre winkte sie zu sich heran . " Ehe bien , Olly , wollen Sie nicht ablegen , es wäre an Ihnen gewesen , Madeleine , dafür Sorge zu tragen " , wandte sie sich mit leisem Vorwurf an die bildhübsche Pariserin . Madeleine antwortete etwas zu ihrer Entschuldigung , was Olly ebensowenig verstand wie die Worte der Vorsteherin . Das aber verstand sie jetzt , als sich aus der Schar eine junge Dame mit schlichtem Blondscheitel und grauen Augen löste , auf sie zutrat und mit lächelndem " le chapeau " ihr den Hut vom Kopf nahm . " Maintenant le manteau " , auch den Mantel zog sie ihr aus , und zum Schluß " les ganz " . Ja , das verstand Olly , vor allem aber die von Herzen kommende Freundlichkeit der ihr kaum bis zur Schulter Reichenden . Warm empfand sie den teilnehmenden Blick der guten grauen Augen . Als die Helferin in der Not sie nun ganz selbstverständlich mit sich fortzog auf den leeren Platz neben dem ihrigen , ihr die Speisen reichte und sie vorläufig mit Fragen und Anrede taktvoll verschonte , da fühlte sich Olly geradezu geborgen neben ihrer Nachbarin . Als könnten die vielen neugierigen Augen ihr jetzt nichts mehr anhaben . Das Gespräch wurde ausschließlich französisch geführt , trotzdem die Hälfte der Pensionärinnen Deutsche waren . Für jedes nicht französische Wort mußte man zehn Centimes in die Weihnachtskasse zahlen , das hielt die losen Zungen im Zaume , wenigstens , solange die Vorsteherin oder eine Lehrerin in Hörweite war . Senta nahm dreist am Gespräch Teil und erregte durch ihre zum größten Teil falschen Antworten Lachstürme . Sie gefiel allgemein . Freilich den Zöglingen mehr als den Lehrerinnen . Madame Pierre meinte innerlich , daß die kleine Blonde doch für den ersten Abend entschieden ein wenig zu vorlaut wirkte . Die scheue Zurückhaltung der Älteren berührte sie angenehmer . Auch Miß Pinshes und Fräulein Richter , die deutsche Lehrerin , die sich Ollys so freundlich angenommen , dachten dasselbe . Olly war ganz erstaunt , als sie nach Tische bei der allgemeinen Vorstellung hörte , daß ihre unscheinbare kleine Nachbarin eine Lehrerin war . Sie hatte sie durch ihr junges Aussehen ebenfalls für eine Pensionärin gehalten . Fräulein Richter hieß bei den Zöglingen auch allgemein " la petite " . Nach dem Abendbrot wurde musiziert . Für Olly bedeutete das eine Erlösung , wenn sie es durch ihre Gleichgültigkeit auch im Klavierspiel nicht weit gebracht hatte . Die Musik , das war eine Sprache , die all die verschiedenen , fremdzungigen Elemente harmonisch einte . Um neun Uhr hieß es " bonne nuit " . Um halb zehn machten die Lehrerinnen abwechselnd die Runde , ob überall das elektrische Licht ausgedreht sei . Madame Pierre hatte , zur schnelleren Erlernung der fremden Sprache , das Prinzip , nie zwei Landsmänninnen zusammen das Zimmer teilen zu lassen . Die arme Olly war gerade an eine Stockfranzösin geraten . Aber als sie eben hinter ihrem Rotkopf das Zimmer aufsuchen wollte , fühlte Olly noch einmal ihre Hand ergriffen . " Gute Nacht , schlafen Sie wohl ! " klang es lieb in deutscher Sprache . Fräulein Richter flüsterte dem armen Ding , das sich hier so verlassen zu fühlen schien , noch einen Heimatsgruß zu . Der umschwebte Olly tröstlich bis in ihre Träume hinein . 11. Kapitel . Nun muß sich alles , alles wenden Vier Wochen waren seit dem Eintritt der jungen Berlinerinnen in das Pierresche Töchterpensionat verflossen . Das Osterfest , das in diesem Jahre besonders spät fiel , stand vor der Tür . Hatte Olly damals schon geglaubt , ein Frühlingsland zu betreten , so sah sie jetzt mit stillem Entzücken , daß es von Tag zu Tag noch schöner wurde . Das Blühen wollte nicht enden . Jeden Morgen , wenn sie auf die Holzgalerie hinaustrat , auf die alle Zimmer mündeten , fühlte sie , wie sich das Herz ihr weitete , wie ihr Auge heller blickte . Wenn es die von rosenroten Morgenwölkchen umflatterten Schneehalden grüßte , den See mit seinen lieblichen Ufern , dann war es ihr gar nicht möglich , so mißmutig an den Kaffeetisch zu treten , wie sie das zu Hause stets getan hatte . Dazu kam , daß die Lehrerinnen und Lehrer ihr allgemein wohlwollend entgegentraten . Da hatte keiner eine Ahnung davon , daß sie die faule , verstockte Olly Hildebrandt war . Jeder glaubte , ihr stilles Wesen entspränge dem Gefühl des Fremdseins und der mangelnden Sprachkenntnis . Und jeder bemühte sich daher , es der jungen Deutschen mit den ernsten , oft sogar traurig blickenden Augen heimisch zu machen . Olly , die so gar nicht an zarte Rücksichtnahme auf ihre Person gewöhnt war , die zu Hause sich halb krank gesehnt hatte nach einem Liebesbeweis des Vaters oder der Geschwister , fand es hier in der Fremde bei Fremden . Gütige Worte , freundliche Blicke , der einzige Schlüssel zu der scheuen , stumpf gewordenen Mädchenseele . Hier spottete keiner ihrer , keiner wollte sie verletzen oder setzte sie hinter die Schwester zurück . Im Gegenteil ! Madame Pierre , die kluge Frau mit den scharfen Augen und dem gütigen Lächeln , hatte es bald heraus , daß hinter dem wenig anziehenden Äußeren der Älteren sich wertvollere Charaktereigenschaften bargen als hinter dem hübschen Larvchen der anderen . Manche Kleinigkeit hatte es ihr offenbart . Gleich am ersten Morgen , als die Pensionsmutter die Pflichten der Woche , die alle acht Tage wechselten , unter den Pensionärinnen verteilte , da hatte sie wohl gesehen , wie der niedliche Blondkopf ein Mäulchen zog und den Kopf hintenüber warf , als er damit betraut wurde , beim Abdecken des Mittag- und Abendtisches Hand anzulegen . " Das ist Hausmädchenarbeit und schickt sich nicht für eine Kommerzienratstochter ! " Deutlich standen Senta diese Worte auf der weißen Stirn geschrieben . Aber Madame Pierre kümmerte sich nicht um derartige rebellische Gedanken . Die hatte im Laufe der Jahre schon so manches Hochmutsteufelchen ausgetrieben . Die dunklen Augen Ollys dagegen hatten aufgeleuchtet , als man ihr mit einer anderen zusammen unter Fräulein Richters Leitung die Sorge für den Garten auf eine Woche anvertraute . Als ob Madame Pierre in ihrem Herzen geforscht habe , hatte sie ihr das Arbeitsfeld übertragen , welches ihr das liebste war . Die Vorsteherin hatte die Beschäftigung in der frischen Luft für Olly ausgesucht , weil sie der Ansicht war , daß in der schönen Natur das Heimweh , von dem sie Olly befallen glaubte , sich am ersten geben würde . Außerdem hielt sie es für geraten , zu allererst das bleichsüchtige , überschlanke Mädchen durch gesunde Arbeit zu kräftigen . Aber noch andere Gelegenheiten ließen die Vorsteherinnen stillschweigend Vergleiche zwischen den Schwestern ziehen . Da war der alte , blinde Wilhelm , der schon jahrelang die Stiefel der jungen Fräulein putzte und kleine Dienste in Haus und Garten leistete . Eines Tages sah die Pensionsmutter von der blühenden Rhododendronlaube aus , wie der Blinde , der jeden Weg in der Umgebung des Hauses kannte , mit seinem schweren Wassereimer vergebens vom Brunnen zurücktastete . Stadt an der Küche stand er plötzlich vor dem versteckt gelegenen Komposthaufen und suchte dort umsonst den Eingang . Hinter den Blumenbüschen aber tauchten lachende Mädchengesichter auf . Senta hatte in Gemeinschaft mit Madeleine Tisch und Stühle , die der Tastsinn des Alten als Wegweiser zu benutzen pflegte , auf einen anderen Platz gestellt , um ihn irrezuleiten . Noch ehe Madame Pierre einschreiten konnte , hatte sich aus der übermütig kichernden jungen Schar , die gerade Frühstückspause im Garten hielt , ein großes , dunkelhaariges Mädchen gelöst . Mit wenigen Schritten stand sie neben dem armen , vergeblich die Finger in die Luft steckenden Blinden . Ohne Zögern griff ihre Hand nach der schwieligen des Alten , und mit freundlichem Wort führte sie den verlegen Lächelnden zum Kücheneingang . Dann aber wandte sie sich mit empörten Augen der Schwester , welche den herzlosen Streiche mitangestiftet , zu . " Pfui , schäme dich ! " rief Olly in deutscher Sprache . " Dreißig Centimes in die Weihnachtskasse für drei deutsche Worte " , war die lachend in französischer Sprache gegebene Antwort Sentas . Die Ältere wandte sich stumm ab . Ach , sie wußte ja am besten , wie weh der Spott und das heimliche Gekicher dem Blinden , dessen Ohr noch geschärft war , getan haben mußte . Und doch , hatte sie selbst jemals so ein mildes , verzeihendes Lächeln für ihr angetane Kränkung gehabt wie der arme Blinde ? Olly fühlte , daß sie viel von dem einfachen Alten lernen konnte . Auch in anderer Beziehung . Hatte sie nicht , wo immer sie bisher gewesen , sich die Schönheit der großen Natur durch kleinliche Gedanken an das eigene winzige Ich verdorben ? Ja , gerade dann hatte sie ihre Häßlichkeit am schmerzlichsten empfunden . Und dieser arme blinde Mann hier ? Der nicht sah , wie golden der Tag war , wie farbenprächtig die Blüten , wie überwältigend großartig Berg und See , der summte fröhlich bei seiner Arbeit ein Lied aus zufriedenem Herzen . Wieviel tausendmal besser hatte sie es doch als er ! Wie mußte sie dem lieben Gott danken , daß er ihr das Augenlicht geschenkt hatte , um all das Schöne ringsum in sich aufzunehmen ! Solche Gedanken machten Ollys früher meist finstere Miene hell und zufrieden . Ihre Augen blickten von Tag zu Tag jünger und lebensfroher . Auch körperlich fühlte sie sich frischer . Zum träumerischen Umhersitzen und fruchtlosen Gedankenspinnen fand sie hier keine Zeit . Da galt es , im Hause anzugreifen , beim Aufräumen der Zimmer zu helfen , eine Torte oder einen Kuchen zu backen , Salate zierlich zu garnieren und sich selbst eine weiße Bluse kunstgerecht zu plätten . Zu allem zog Mademoiselle Louison die jungen Mädchen heran . Sie wußte , wenn sie es ihr auch jetzt nicht im Augenblick dankten , später taten sie es sicher einmal . Nein , Senta , das verwöhnte Kommerzienratstöchterlein , sowohl als auch Madeleine , die elegante Pariserin , fanden diese häuslichen Beschäftigungen durchaus nicht standesgemäß . Wo es nur irgendwie anging , drückten sie sich davon , aber die " Made " , so gut sie auch sonst war , in Bezug auf das Hauswesen verstand sie keinen Spaß . Ob Senta auch noch solche Gesichter schnitt , sie mußte das glühende Eisen zur Hand nehmen und sich ihre Stickereibluse eigenhändig - versengen . Sie , die bisher immer achtlos mit weißen Blusen , die das Hausmädchen ihr tadellos lieferte , umgegangen , sah jetzt , wieviel Mühe solche Arbeit machte . Die feinen Fingerchen zeigten Blasen , und der weiße Arm - o Schrecken - sogar eine feuerrote Tätowierung . Bei dem unlustigen Drauflosplätten hatte sie ihn mit dem Blusenärmel verwechselt . Sentchen aber saß neben dem Plättbrett , weinte Tränen teils aus Schmerz , teils aus Ärger , teils aus Mitleid mit sich selbst , und legte geschabte Kartoffel auf das rote Ehrenzeichen der Arbeit . Olly machte es Freude , der Made zur Hand zu gehen . Sie hatte es ja zu Hause oft genug gewünscht , sich zu betätigen . Sie hatte manches Mal die jungen Fabrikmädel beneidet , die sich nicht den ganzen Tag zu langweilen brauchten . Geschickt zeigte sich Olly eigentlich nicht . Senta war von Natur aus viel anstelliger als sie . Aber Olly hatte Lust und Liebe zur Arbeit . Und weil die gute Made das sah , ließ sie sich keine Mühe verdrießen , dem jungen Mädchen immer wieder die kleinen Handgriffe zu zeigen . In den Unterrichtsfächern erging es ihr vorerst weniger gut . Ihre Teilnahmslosigkeit in der Schule rächte sich , sie vermochte dem Unterricht , der natürlich in französischer Sprache erteilt wurde , kaum zu folgen . Aber als sie sah , daß die Lehrer trotzdem freundlich zu ihr blieben , kein ironisches Wort für ihre Unwissenheit hatten , sondern immer wieder versuchten , eine Sache zu erklären , bis sie dieselbe begriffen hatte , erwachte die Dankbarkeit in ihr . In Ollys reichem Gefühlsleben stand die Dankbarkeit obenan . Hier konnte sie die Geduld , welche die Lehrenden ihr gegenüber übten , nicht besser vergelten , als daß sie alle Kräfte dareinsetzte , nachzuholen und mit den anderen Schritt zu halten . Willensstärke und gute Geistesgaben besaß sie , das hatte sie ja auch in der Schule für kurze Zeit bewiesen . Aber jetzt erlahmte ihre Schaffensfreude nicht durch ein schlechtes Zeugnis . Jede freie Minute , welche die Pensionsschwestern zu allerlei Allotria benutzten , verwandte sie auf die Arbeit . Mit zäher Energie konzentrierte sie ihr Denken auf die Bücher . Da konnte es nicht ausbleiben , daß Senta nach einiger Zeit halb erstaunt , halb neidisch in den Unterrichtsfächern zu Olly hinblickte , die auf dem besten Wege dazu war , sie zu überflügeln und in den Schatten zu stellen . Was die Schwestern bei ihrem Eintritt für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatten , nach wenigen Wochen bereits hatte sich ihr Ohr an die fremde Sprache gewöhnt . Wenn Madame Pierre jetzt noch so schnell parlierte , sie verstanden es , freilich mit dem eigenen Sprechen haperte es noch eine ganze Weile . Das Plappermäulchen der Jüngeren beherrschte die französische Sprache schneller als Ollys schwerfälligere Zunge . Sentas Freundschaft mit Madeleine , die selbst kein Deutsch verstand , beförderte ihre Sprachkenntnis . Das war aber auch das einzige Gute an der Freundschaft zwischen Senta und Madeleine . Trotzdem letztere mit Olly das Zimmer teilte , und sich fast überall die Stubengefährtinnen anzufreunden pflegten , blieb das auf Nummer 12 aus . Die beiden waren äußerlich und innerlich zu verschieden , als daß sich Fäden der Sympathie zwischen ihnen gesponnen hätten . Olly sah mit überlegenem Achselzucken auf die eitle Pariserin , die nur Sinn für ihre Schönheit und ihre Toilette hatte . Diese dagegen wieder mit stiller Verachtung auf die unschöne Deutsche , die es nicht einmal verstand , das , was einigermaßen hübsch an ihr war , zur Geltung zu bringen . Die mit demselben Mangel an Grazie die Hauskleider trug wie die eleganten . Nein , da war ihr die blonde Senta , die ihr hübsches Spiegelbild geradeso liebte wie sie selbst , entschieden plus agreable . Madame Pierre sah mit wenig Freude , daß Senta sich so innig an die rothaarige kleine Schönheit schloß , die dem deutschen Backfisch durch ihre überlegenen Toilettenkünste imponierte . Sie hatte Madeleine überhaupt nur ungern in ihr Haus genommen . Diese hatte Schauspielerblut in den Adern , ihr Vater sowohl als ihre Mutter gehörten zu den bekannten Schauspielern am Pariser Theater . Besonders die Mutter war eine gefeierte Aktrice , ebenso ihrer Kunst als auch ihrer Schönheit wegen . In solch einem Milieu , dem jedes feste Familienleben mangelte , war Madeleine aufgewachsen . Früh schon hatte das schöne Kind Ausrufe der Bewunderung gehört , wenn sie im weißen Spitzenkleidchen neben der berühmten Mama den Boulevard entlangstolzierte . Je größer sie wurde , umso empfänglicher zeigte sie sich dafür . In einem Alter , wo die deutschen Mädchen noch mit Puppen spielen , hatte das französische Schauspielerkind bereits eine Schar Bewunderer um sich , da blieb für das Lernen natürlich wenig Interesse übrig . Bevor sie als erwachsenes Mädchen sich ebenfalls ganz dem Schauspielerberuf , für den sie hervorragend befähigt war , widmete , hatte der Vater sie noch auf ein Jahr in eine Pension gegeben , um die vernachlässigte Bildung auszufüllen . Aber Madeleine trieb hier alles andere als Lernen . Pah - wozu sollte sie sich das hübsche Köpfchen wohl mit unnötigem Ballast vollpfropfen ? Sie studierte heimlich Rollen aus modernen Lustspielen , in denen sie zuerst aufzutreten gedachte , und führte sie vor den Pensionsschwestern auf . Senta Hildebrandt war ein besonders begeistertes Publikum für alle Künste der rothaarigen Madeleine . Sie dachte schon daran , wie sie später den Freundinnen in Berlin großsprecherisch würde erzählen können , daß sie in der Pension innig mit einer berühmten französischen Schauspielerin befreundet gewesen . Ja , die Freundschaft mit Madeleine wirkte nichts weniger als günstig auf das an und für sich schon etwas oberflächliche und gefallsüchtige Mädel . Aber , als Senta eines Tages statt mit ihren lose am Hinterkopf aufgesteckten Blondzöpfen mit Korkenzieherlocken , wie Madeleine sie trug , zum Garnieren des Heringssalates im Reich der Made erschien , schickte diese sie mit lebhaftem Protest wieder nach oben . Madame Pierre aber nahm sich das eitle junge Ding vor und warnte es ernst vor dem schädlichen Einfluß der jungen Pariserin . Verbotene Früchte schmecken am besten - Madame Pierres Warnung hatte nur zur Folge , daß sich Senta heimlich noch inniger an Madeleine schloß . Auch Olly sah es mit Bedauern . Sie hielt die Französin , mit der sie so eng zusammen hauste , ganz und gar nicht für einen geeigneten Umgang . Aber eine dahinzielend Bemerkung Ollys hatte die Schwester höhnisch zurückgewiesen . " Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten , oder bist du am Ende gar neidisch auf unsere Freundschaft ? " Nein , neidisch war Olly ganz gewiß nicht darauf . Auch nicht auf die Tatsache , daß Senta bei allen Pensionsschwestern weitaus beliebter war als sie selbst . Das war doch ganz natürlich , das verdachte sie keiner . Olly hielt sich auch hier zurück . Sie nahm nicht Teil an den heimlichen Streichen , an den verstohlenen Pralineeinkäufen und kleinen Arbeitsmogeleien . Aber von den gemeinsamen Sportspielen , Golf , Tennis , Krocket , von den Schwimmstunden und Ruderfahrten , durfte sie sich nicht ausschließen , die gehörten in das Pensionsprogramm . Und das war gut , denn diese Übungen im Freien machten ihre ungelenken Glieder und Bewegungen elastischer , hauchten rosigen Schimmer über die gelblich bleichen Wangen . Mit Senta selbst setzte es jetzt niemals mehr Streit . Es war keine Gelegenheit dazu . Sie sahen sich kaum allein , denn sie suchten sich nicht . Auf diese Weise vertrugen sie sich vorzüglich . Freilich wunderten sich die anderen , vor allen Fräulein Richter , daß man die beiden Schwestern so wenig zusammen sah . Der Grund dafür mochte wohl in der Verschiedenheit der Charaktere liegen , aber dennoch . . . ! Fräulein Richter , oder vielmehr " la petite " , spielte die Rolle , die sie am ersten Abend bei Olly Hildebrandt vertreten , auch fernerhin , die eines guten Engels . Sobald Olly in den neuen Verhältnissen sich nicht allein zurechtfand , stand sie ihr zur Seite . Sie ermunterte sie in den Schulstunden , zog sie bei den Mahlzeiten ins Gespräch und vermittelte in den Erholungspausen , auf den Spaziergängen Ollys Zusammensein mit der lachenden Jugend . Das ernste Mädchen mit dem frühzeitig reifen Blick und dem wehen Zug um den jungen Mund , das so ganz anders war als alle die Mädel , die Fräulein Richter schon hatte kommen und gehen sehen , hatte von Anbeginn ihre Teilnahme erweckt . Nie hatte Fräulein Richter sie jugendlich herzlich und hell lachen hören . Höchstens huschte Mal ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht , wie ein scheuer Sonnenstrahl an einem grauen Wintertage . Und doch , dieses Lächeln zauberte einen ganz anderen Ausdruck in das schmale Mädchengesicht . Heute lächelte Olly nicht . So golden die Sonnenfunken auch auf dem dunkelblauen Wasserspiegel tanzten , so berauschende Düfte auch die farbenfreudigen Blütenglocken zu ihr sandten . In den Lüften rings um sie zwitscherte und jubilierte es , als könnten die kleinen , gefiederten Musikanten gar nicht laut genug ihr Glücksgefühl über die Schönheit des Lenzes in die Welt schmettern . Ein Rotkehlchen hüpfte von Zweig zu Zweig und blickte neugierig auf das junge Menschenkind , das da ganz versteckt auf einer Lattenbank in den dichten Gängen des Rebenlandes hockte . Warum sang und jubilierte es denn nicht auch an solch einem wonnigen Ostermorgen ? Das zierliche Vögelchen reckte fürwitzig sein Hälschen mit dem schönen , roten Schlips . Nanu - hatte das Mädchen nicht sogar Tränen an den langen , dunklen Wimpern ? Erschreckt flatterte das Rotkehlchen davon . Olly aber fuhr sich über die schwimmenden Augen . Ihr war das Herz heute in all dem Lenzeswunder so schwer , so schwer ! Von den blumenumkränzten Hotelpalästen Territets , die in der Sonne blitzten , glitt ihr Auge weiter . Zu dem düsteren , mittelalterlichen Bau , der seine gewaltigen Felsmauern dräuend und unbarmherzig aus den blauen Wassern des Genfer Sees emportürmt . Schloß Chillon ! Ach , hier hatte so mancher , eingekerkert , mit finsterem oder hoffnungslosem Blick , auf die seinem Elend hohnlachende Lieblichkeit des Sees hinausgestarrt . Hier war Lord Byrons Klagesang " Der Gefangene von Chillon " der gepreßten Brust entströmt , hier hatten schon andere gesessen und ihr Leid für das schwerste und tiefste auf der Welt gehalten . Olly barg das Gesicht in den Händen . Das übermütige Sonnengeflimmer auf dem Wasser , der Glanz des Tages tat ihrem Auge weh . Der weiche Boden verschlang das Näherkommen von Schritten . Das in ihren Schmerz versunkene Mädchen hatte dessen nicht acht . Erst , als sich eine Hand ihr auf die Schulter legte , und eine Stimme weich und mitleidig in deutscher Sprache : " Olly , liebes Kind , was fehlt Ihnen denn ? " fragte , fuhr sie verstört hoch . Fräulein Richter stand vor ihr . Aus guten , teilnehmenden Augen blickte sie auf das weinende Mädchen . Beschämt , in ihrem heimlichen Leid überrascht zu sein , erhob sich Olly . Aber Fräulein Richter , die sich bereits neben sie gesetzt , zog sie wieder sanft zu sich nieder . " Wollen Sie es mich nicht wissen lassen , Kind , weshalb Sie sich hier an dem herrlichen Ostersonntag einsam grämen ? " fragte sie leise . Olly schüttelte den Kopf . Nein , wenn sie Fräulein Richter auch noch so gern hatte , von dem , was ihr heute das Herz beschwerte , vermochte sie nicht zu sprechen . " Vielleicht kann ich Ihnen helfen ? " Sanft und weich drangen die Laute der Heimat an Ollys Ohr . " Mir kann keiner helfen - keiner ! " Aufschluchzend schlug das junge Mädchen aufs neue die Hände vors Gesicht . " Auch nicht unser Herrgott da droben ? " Ernst klang Fräulein Richters melodische Stimme . " Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen , Olly , aber vielleicht hat der liebe Gott meinen Schritt heute gerade hierher gelenkt , weil ich Ihnen Trost bringen soll . Man darf die Hand , die sich uns bietet , nicht in egoistischem Schmerze von sich stoßen . " Olly hob ein wenig beschämt den Kopf . Da hielt ihr die junge Lehrerin mit einer rührend zarten Bewegung ihre schmale , feinädrige Hand hin . Scheu legte Olly die ihre hinein . So saßen die beiden Hand in Hand unter dem rankenden Weinlaub . Fräulein Richter sprach nicht mehr , sie wartete . Sie verstand in den Seelen zu lesen , sie wußte , daß Olly sprechen würde , sobald sie sich selbst überwunden . Da öffneten sich auch schon die zusammengepreßten Lippen , und wie gegen den Willen seiner Besitzerin sprach der Mund leise : " Mein Vater verheiratet sich heute wieder ! " Die letzten Worte klangen ganz erstickt . " Kind - Kind , ist denn das ein Grund zu einem solchen Schmerzensausbruch ? Wie ist es nur möglich , daß ihr Schwestern so verschieden denkt ? Da kam mir vor kurzem im Garten die Senta jubelnd mit einem großen Paket entgegengesprungen , das ihr zu Ehren der Hochzeit soeben erhalten habt . Die eine weint und die andere jauchzt aus der gleichen Ursache - es geht doch wunderbar in der Welt zu ! " " Ich hätte nicht sprechen sollen ! " Olly sagte es mehr zu sich . " Doch , Kind , jetzt wollen Sie sich gekränkt wieder in sich selbst zurückziehen , denken wohl gar , ich hätte kein Verständnis für Ihr Leid . Und doch habe ich das alles einst genau so durchlebt wie Sie . Auch mir gab mein Vater vor Jahren eine neue Mutter , und ich lehnte mich dagegen in unvernünftigem Trotz auf . Freilich , ich war jünger und unverständiger als Sie . Heute ist meine Stiefmutter meine beste Freundin . Vielleicht geht es Ihnen auch noch einmal so , Olly . " " Nie ! " Olly stieß es heftig heraus . " Glauben Sie nicht , Olly , daß die Dame , die Ihr Vater erwählt hat , um seinen Kindern die Mutter zu ersetzen , auch dessen würdig sein wird ? " begann Fräulein Richter nach einem Weilchen wieder . " Meine einzig geliebte Mama hat sie aus Papas Herzen verdrängt , heute drängt sie unsere Mutter ganz aus dem Hause und aus der Erinnerung ! " Nun , da das Eis des zurückdämmenden Schweigens einmal gebrochen war , fluteten Ollys geheimste Gedanken unaufhaltsam in Worte über die Lippen . Fräulein Richter schaute mit feuchtem Blick auf die Erregte . Jetzt begann sie das über seine Jahre ernste Mädchen zu verstehen . " Sie sind sicher ungerecht , Olly , wenn Ihr Vater ein noch jugendlicher Mann ist , hat er selbst noch ein Anrecht auf Glück und Freude im Hause . Die neue Mutter hat gewiß gute Eigenschaften - schütteln Sie nicht den Kopf , Kind - Sie sollen Mal sehen , wie lieb die Mutter Sie haben wird ! " " Mich lieb - hahaha . . . " Olly brach mitten in dem bitteren Lachen ab , und ihre Stimme schlug in Schluchzen um . " Mich hat kein Mensch lieb ! " " Um Gottes Willen , was reden Sie da , Kind ! " Fräulein Richters gute Augen blickten geradezu entsetzt drein , " denken Sie an Ihren Vater ! " Eine lange Pause . Nur süßes Vogelgezwitscher in den Büschen . " Mein Vater " - Olly sprach jetzt ganz leise , kaum hörbar - " mein Vater hat mich auch nicht lieb ! " Ihre Lippen zuckten . Da schlang die junge Lehrerin den Arm um die Weinende und zog sie dicht zu sich heran . Hier öffnete sich ein solcher Kindesjammer vor ihr , daß sie vorerst nicht mit Worten daran rühren durfte . Leise streichelte sie den dunkelhaarigen Kopf , der an ihrer Schulter ruhte . " Ja , wenn Fräulein Arnold wäre wie Sie ! " flüsterte Olly nach einer Weile , da sie ein wenig ruhiger geworden . " Wir können nicht alle gleich sein , - aber nun sagen Sie mir bloß , Olly , wie kommen Sie zu diesem entsetzlichen Irrtum , Ihr Vater könnte Sie nicht lieb haben . Jeder Vater liebt sein Kind ! " " Ich - ich bin ihm zu - häßlich ! " Als schämte sie sich , das , was ihre Jugend verdunkelt , hier im hellen Sonnenlicht laut werden zu lassen , verbarg sie aufs neue den Kopf an der Schulter der Lehrerin . Fräulein Richter lachte befreit auf . " Kindskopf , " schalt sie liebevoll , " als ob Elternliebe nach dem Äußeren ginge . Als ob ein Vater oder eine Mutter nicht gerade das häßliche Kind besonders an ihr Herz nähme ! Im übrigen - ich finde Sie durchaus nicht häßlich , Olly ! " Das junge Mädchen hob jäh den Kopf . " Jetzt sprechen Sie aus Mitleid gegen Ihre Überzeugung ! " Mutlos ließ sie den Kopf wieder sinken . " Ich lasse mich auch durch Mitleid nicht in der Wahrheit beeinflussen . Elend sehen Sie aus , und als Sie zu uns kamen , noch viel mehr . Aber Sie haben ein interessantes und sympathisches Gesicht - im übrigen , Olly , ist das doch furchtbar gleichgültig ! Der innere Wert bestimmt den Menschen , nicht der äußere , wenigstens vor den Leuten , an deren Urteil uns liegen sollte . Ich habe gar nicht gedacht , daß Sie solch eine oberflächliche , kleine Eitelkeit sind ! " Fräulein Richter zog , um sie zu trösten , das ernste Gespräch ins Scherzhafte . Aber so schnell kam Olly nicht von dem sie in den Tiefen ihrer Seele aufrührenden Thema los . Oberflächlich - eitel - nein , das sollte Fräulein Richter nicht von ihr denken . " Sie haben mich zu Hause » das häßliche junge Entlein « genannt . Wie dieses bin auch ich wegen meiner Häßlichkeit herumgestoßen , verhöhnt und zurückgesetzt worden ! " Selbst das Allerletzte löste die Güte der Lehrerin in dem jungen Herzen . Da lachte Fräulein Richter nicht mehr . Was für eine beklagenswerte Jugend hatte das reiche Mädchen gehabt ! " Nun denn , " - Fräulein Richter hob Ollys gesenktes Kinn empor - " soweit ich mich auf das Märchen besinne , ist das arme , verkannte Entlein doch mehr wert als all die anderen Enten im Hofe , und wird zuletzt ein herrlicher Schwan . Da müssen Sie ja den anderen für ihren Vergleich noch dankbar sein , Olly " , setzte sie lächelnd hinzu . " Ich werde niemals zum schönen Schwan werden ! " In tiefer Mutlosigkeit sprachen es die jungen Lippen . " Denken Sie doch nicht immer nur an das Äußere , Olly . Versuchen Sie es , innerlich aus dem grauen , unscheinbaren Entlein einen edlen Schwan zu machen . Das innere Wesen drückt auch unserem Äußeren seinen Stempel auf . Glauben Sie es mir , Kind ! Sie sprachen vorhin davon , daß Sie Ihrem Vater zu häßlich seien , waren Sie denn in Ihrem Wesen lieb und gut zu ihm , zärtlich und töchterlich ? Aha - Sie schweigen , Olly . Sehen Sie , daran liegt es , und nicht an Ihrer eingebildeten Unschönheit . Seien Sie ehrlich gegen sich , und Sie werden erkennen , daß Sie selbst zum großen Teil schuld sind an den mangelnden Liebesbeweisen Ihres Vaters . Wie es in den Wald hineinschallt , schallt es heraus ! Versuchen Sie selbst es erst , Ihrem Vater liebevoll entgegenzukommen , dann werden Sie sehen , daß auch er Liebe für Sie hat ! " so tröstete Fräulein Richter . " Es ist zu spät , heute ist es zu spät ! " Die Tränen schossen wieder heiß in Ollys Augen . " Es ist niemals zu spät , um etwas Gutes zu beginnen ! Schauen Sie um sich , Olly . Sehen Sie das Leben , das Blühen und Reifen ringsum ? So glanzvoll und Licht der Tag , und doch war es vor einigen Stunden hier dunkle Nacht , vor einigen Monden unfruchtbarer Winter . Es erneut sich alles in der Natur ! Haben Sie doch Hoffnungsfreude , wie das solchem jungen Menschenkinde zukommt . Der Lenz ist da - nun muß sich alles , alles wenden ! " Niemals hatte Olly derartig gütige Worte vernommen ; sie verfehlten nicht ihren Eindruck auf ihr empfängliches Gemüt . " Ich danke Ihnen , Fräulein Richter , Oh , ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Güte ! Und ich will versuchen , innerlich zum Schwan zu werden " , setzte sie leiser hinzu . " Bravo , Olly ! Guter Wille bedeutet schon den ersten Schritt ! " Die Lehrerin zog sie aus dem grünen Dämmerlicht der Weinspaliere hinaus in den strahlenden Sonnenschein . " Horch - Glockenschlag ! " Olly blieb lauschend stehen . " Das sind die Glocken der Kathedrale - die Osterglocken ! Sie rufen zur Auferstehung . Wir wollen das Gute in uns , das geschlafen , das tot gewesen , erwachen und auferstehen lassen . Die Osterglocken singen Ihnen ganz besonders ihr Lied , Kind ! " " Ich habe noch eine Bitte , Fräulein Richter , " - Olly zögerte , weiterzugehen - " bitte , sagen Sie nicht » Sie « zu mir , Sie stehen mir seit heute so nahe , wie kein anderer Mensch ! " " Gern , " - Fräulein Richter schlug einen heiteren Ton an - " aber nur in den Feiertags- , in den Ausnahmestunden ! Jetzt wird wieder französisch gesprochen , jetzt heißt es » vous « , sonst kriegen wir noch alle beide von Madame Pierre Schelte ! " Arm in Arm schritten die beiden unter dem ehernen Sange der Osterglocken durch das blühende Gelände . Die Wasser des Sees murmelten es , der Lenzwind säuselte es , die lichtgrünen Blätter rauschten und die Blumen flüsterten es leise , die trostbringende Frühlingskunde : " Nun muß sich alles , alles wenden ! " 12. Kapitel . Ein mutiges Mädchen Ja - es wurde anders ! Olly wurde eine andere , seitdem die junge deutsche Lehrerin ihr auf der Rebenbank den richtigen Weg gewiesen . Sie wollte mit allen Kräften versuchen , wenigstens innerlich das häßliche junge Entlein zu einem Schwan zu verwandeln . Bei einer Vornahme blieb Olly nie stehen . Sie ging gleich mit festem Willen heran . Noch an demselben Tage sandte sie ein Glückwunschtelegramm an den Vater ab , da sie es vorher trotzig zurückgewiesen hatte , an Sentas Gratulationsbrief einige Worte anzufügen . Papa sollte an dem heutigen Tage nicht zornig oder gar traurig an seine älteste Tochter denken . Der Abend dieses eine Veränderung herbeiführenden Ostertages brachte auch in das Haus " Mon repos " manche Veränderung . Am Nachmittag sah man die Pensionsschwestern geheimnisvoll flüstern und kichern . Bei den gemeinsamen Spielen hatte keine so rechte Aufmerksamkeit . Olly am wenigsten . Wenn sie sich auch nicht an dem Getuschel , das von Senta ausging , beteiligte . Ihr war das Herz heute so voll von dem , was Fräulein Richter gesagt . Das " Gute Nacht " war verklungen , die Zöglinge suchten ihr Lager auf . Olly und Madeleine stumm wie stets . Miß Pinshes , der Senta den despektierlichen Namen " Pinscher " zugelegt hatte , machte heute als Nachtwächter die allabendliche Runde , überall waren die elektrischen Flammen vorschriftsmäßig ausgeknipst , die Mädchen in ihren Betten . Nur der Mond ruhte nicht , durch die unverhangenen Fenster strickte er sein silbermaschiges Lichtnetz über die jungen Gesichter . Ein Bett knarrte leise , noch eins - jetzt hier - nun dort . Schlanke , weiße Gestalten erhoben sich lautlos allenthalben , glitten unhörbar auf bloßen Füßen über die Holzgalerie und verschwanden alle in demselben Zimmer . Der Mond machte ein bestürztes Gesicht . Nanu - was hatte denn das zu bedeuten , die Geisterstunde war doch noch nicht da ? In Sentas Zimmer gab es einen heimlichen Hochzeitsschmaus . Madeleines rothaariges Köpfchen hatte den abenteuerlichen Plan ausgeheckt , und Senta ihn jubelnd aufgenommen . Alle Pensionsschwestern waren zur Vertilgung der großen , von Papa gesandten Hochzeitskiste geladen , nur - die eigene Schwester nicht . " Olly hat keinen Sinn für Heimlichkeiten , die verpetzt uns am Ende " , hatte sie , ein wenig verlegen , geäußert , als die Gefährtinnen sich darüber gewundert hatten . Madeleine pflichtete ihr bei . " Ja , sie ist zu sehr enfant Gate bei den Lehrerinnen ! " Olly fuhr aus erstem Halbschlummer empor . Hatte da nicht die Verandatür geknarrt ? Madeleine mit malerisch gelöstem Rotaar stand mitten in der Mondscheinflut , wie eine schöne Nixe anzuschauen . Sie war gerade im Begriff , zu entwischen . " Ist Ihnen nicht wohl ? " Olly ermunterte sich mit Anstrengung . Trotzdem sie Madeleine nicht mochte , war ihr Mitleid erregt . " Nein , mir ist gar nicht gut , ich muß etwas frische Luft schöpfen - aber lassen Sie sich ja nicht stören , schlafen Sie nur ruhig weiter ! " Madeleine machte , daß sie davonkam . Sie wand sich - nicht vor Schmerzen - sondern vor Lachen . Die hatte sie fein düpiert ! Der Mond guckte neugierig in das Zimmer 16 hinein . Mit hochgezogenen Beinen hockten sie alle , die Zöglinge der Pierreschen Pension , in langen Nachtgewändern auf den Stühlen , den Betten , ja , selbst auf dem Tisch hatten vier Platz genommen . Mit vollen Backen verschmausten sie die große Hochzeitstorte , und dazwischen die feinen Praline und herrlichen Petits fours , welche die neue Mutter für das Naschmäulchen eingelegt . Madeleine stand in der Mitte und gab eine selbsterfundene , pantomimische Hochzeitsaufführung zum besten . Die anderen jauchzten Beifall . " Pst , Kinder - nicht so laut - der Pinscher hört uns ! " " Ach wo , wenn die Mal schnarcht , können die Mauern einstürzen . . . " " Mais la petite " , gab eine andere zu bedenken . Aber die warnenden Mahnungen drangen nicht durch , man war viel zu sehr in Stimmung . Die Hochzeitstafel war beendigt , jetzt kam der Hochzeitstanz heran . Lisi , die fesche Wienerin , bildete die Kapelle . Sie pfiff kunstgerecht die neuesten Wiener Operettenwalzer , nach denen sich die Schar weißer Hemdenmätze übermütig drehte . Alles barfuß . Der Mond machte ein ganz verdutztes Gesicht bei diesem merkwürdigen Anblick . Aber noch ein Gesicht spähte durch die Scheiben , nicht weniger verdutzt als der Mond droben . Das Ollys . Sie hatte nicht wieder einschlafen können , die Sorge um die erkrankte Madeleine hatte sie munter gehalten . Da die junge Pariserin nicht zurückkehrte , fürchtete Olly , daß sie sich in der Nachtluft erst recht erkälten könnte . Gutherzig , wie sie war , erhob sie sich trotz ihrer Müdigkeit vom Lager , um selbst nach der Kranken zu sehen . Aber die Holzgalerie , auf die Olly trat , war leer . Nur silberfüßige Mondstrahlen huschten darüber hin . Wo war Madeleine hingekommen ? Aus einem Zimmer klang Flüstern und Lachen . Olly folgte dem Klang . Und nun stand sie , wie ein Dieb in der Nacht , am Fenster der Schwester und schaute hinein . Da schwenkte Madeleine , die Patientin , gerade ein großes Stück Schokoladentorte in der Hand herum und rief in französischer Sprache : " Das Brautpaar soll leben ! " Kalt durchrieselte es Olly in der linden Frühlingsnacht . Man feierte dort drin Papas Hochzeitsfest mit den Gaben der Heimat ! Und sie , sie hatte Senta davon ausgeschlossen ! Wenn sie auch bestimmt nicht an der Heimlichkeit teilgenommen , wenn sie auch der Schwester sicher abgeredet hätte , es tat doch weh ! Alle Bitterkeit , die Fräulein Richters liebe Worte heute in ihr gelöst , quoll wieder jäh empor . Aber während die da drinnen übermütig im Mondenschein den Reigen schlangen , kämpfte Olly ernsthaft gegen dieses Gefühl . Sie wollte ja besser werden , Böses mit Gutem vergelten ! Das konnte sie nicht mehr betätigen , als wenn sie Senta und den Gefährtinnen den Rat gab , den heimlichen Unfug zu beendigen , ehe eine der Lehrerin etwa davon Wind bekam . Die Verandatür öffnete sich plötzlich . Ha - stob die tanzlustige Schar da auseinander . Im Mondschein stand , wie ein Geist , Olly Hildebrandt - Gott sei Dank , keine Lehrerin ! Senta , die sich als Urheberin am meisten erschreckt und gleichzeitig Olly gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte , fuhr sie aufgebracht an : " Na , spionierst du heimlich herum , willst uns wohl morgen bei deinem Fräulein Richter verklatschen und dich dadurch lieb Kind machen ? " Wieder mußte Olly alle Willenskraft aufbieten , um Sentas Schmähungen vor den Gefährtinnen nicht mit Gleichem zu vergelten . Aber sie brachte es fertig , in nicht unfreundlichem , wenn auch ernstem Ton zu antworten : " Ich möchte dir raten , Senta , mit eurem Beisammensein hier Schluß zu machen . Wenn es herauskommt . . . " " Habt ihr_es gehört , sie will uns verpetzen ! " unterbrach die Schwester sie höhnisch . Und wie um Olly ihre Gleichgültigkeit gegen den gegebenen Rat zu beweisen , faßte sie Madeleine rundum und begann mit ihr aufs neue , eine Melodie trällernd , im Zimmer herumzuwalzen . Die anderen folgten ihrem Beispiel . " Qu' est-ce que c'est que ça ? " Wie eine Bombe platzte plötzlich eine weiche Frauenstimme in diesen fröhlichen Tumult . In dem Rahmen der zum Treppenflur führenden Tür tauchte im losen Hausgewande " la petite " auf . Aber in diesem Augenblick erschien sie keiner der entsetzten Pensionärinnen klein , sondern groß und drohend . " Ja , schämt ihr euch denn gar nicht , uns derartig zu täuschen ? " begann Fräulein Richter ernst , und überflog die sich wie ängstliche Küchlein zusammenscharenden Mädchen . Da wurde ihr strafender Blick plötzlich traurig - sie hatte Olly unter den weißen Gestalten entdeckt . " Auch Sie , Olly Hildebrandt - das habe ich allerdings nicht von Ihnen vermutet , besonders nicht nach dem heutigen Tage ! Sie haben mich sehr enttäuscht ! " Olly zitterte wie Espenlaub . Das Schlimmste , was sie treffen konnte , war , nun auch von Fräulein Richter verkannt zu werden ! Und dennoch schwieg sie ! Nicht aus Scheu oder aus Trotz . Nein , sie , die stets ausgeschlossen gewesen , jetzt , wo es galt , die Strafe gemeinsam mit den Gefährtinnen zu tragen , jetzt dachte sie zu vornehm , um sich allein auszuschließen . Die Mädchen sahen auf Senta - sprach die denn nicht , klärte die denn nicht den wahren Sachverhalt auf ? Nein , Senta schwieg . Olly hatte ja allein einen Mund , was brauchte sie denn die Schwester weißzuwaschen ! Da wandte sich Fräulein Richter ihr selbst zu . " Ich irre mich wohl nicht in der Annahme , Senta , daß Sie in Gemeinschaft mit Ihrer Freundin Madeleine diese heimliche Zusammenkunft ins Werk gesetzt haben . Wir sprechen uns morgen . Jetzt schleunigst eine jede in ihr Zimmer , und daß ich keinen Laut mehr vernehme ! " Niemand hatte " la petite " jemals so streng sprechen hören . Ohne noch einen Blick auf die flehentlich an ihren Zügen hängende Olly zu werfen , wandte sie sich zum Gehen . Da aber eilte Lisi , die lustige Wienerin , hinter ihr her . " Fräulein Richter , a Schande wäre_es , wenn wir das mit anschauen täten , daß das arme Hascherl , die Olly Hildebrandt , die gar nicht mitgetan hat , die von all dem Leckeren kein Bisserl mitgefuttert , die uns lediglich gewarnt hat , jetzt mitbestraft wird ! " So rief sie in ihrem Heimatsdialekt , ohne es in ihrer Aufregung zu merken . " Das ist brav , Lisi , daß wenigstens Sie der Wahrheit die Ehre geben ! " Fräulein Richter blickte wieder so freundlich wie sonst . Sie trat zu der befreit aufatmenden Olly und drückte ihr die Hand . " Ich habe mich doch nicht in dir getäuscht ! " sagte sie leise in warmem Ton auf Deutsch . Zum erstenmal gab sie ihr das erbetene " du " . Das war die schönste Rechtfertigung für Olly . Bald lag das Schweizerhäuschen wieder so still und verschlafen da , als ob nicht vor kurzem noch lustiger Mädchenspuk darin sein Wesen getrieben . Und der Mond machte ein so dummes Gesicht , als hätte er das alles nur geträumt . Ach - auch die Mädchen wünschten am anderen Morgen , daß es nur ein böser Traum gewesen wäre . Wenn erst Madame Pierre von der Geschichte erfuhr , setzte es was ab . Aber die erwartete Strafpredigt beim gemeinsamen Frühstück blieb aus . Nun , so kam sie mittags - wenigstens eine Galgenfrist ! Die Mädel wagten heute in ihrem Schuldbewußtsein kaum aufzublicken , ihre Arbeiten vollführten sie mit grenzenlosem Eifer . So oft die Vorsteherin bei der Mittagstafel das Wort ergriff , duckten sich elf Mädchenköpfe . " Jetzt kommt es - jetzt geht es los ! " fürchtete eine jede . Doch Madame Pierre war freundlich wie stets , nichts erfolgte . Sollte " la petite " so anständig gewesen sein und Schweigen über die Angelegenheit bewahrt haben ? Nach Tisch ließ Fräulein Richter die Sünderinnen auf ihr Zimmer rufen . " Olly Hildebrandt hat heute morgen für euch gebeten , daß ich der Vorsteherin keine Mitteilung über die gestrige Ungehörigkeit mache . Bei ihr mögt ihr euch bedanken , wenn ihr diesmal so davonkommt . Ich habe lediglich Madame Pierre ersucht , einen Wechsel in der Zimmerverteilung vornehmen zu dürfen . " Lange Gesichter . " Madeleine wird künftig das Zimmer mit Miß Pinshes teilen , Senta zieht zu mir . Olly mag mit Lisi von nun an zusammenhausen " , fuhr Fräulein Richter fort . " Ich denke , daß auf diese Weise derartige heimliche Übergriffe vermieden werden , und daß sich jede bemühen wird , mich diesen wenig erfreulichen Vorfall vergessen zu machen . " Die Zöglinge bedankten sich erleichtert , auch Senta und Madeleine . Wenngleich diese fürchterliche Grimassen schnitten , daß sie jetzt unter Aufsicht einer Lehrerin gestellt wurden . Das war eine große Veränderung im Pensionsleben . Aber es folgte noch eine zweite . Die Mädchen , die bisher zu Senta gehalten und sich um Olly wenig gekümmert hatten , wußten seit gestern den wahren Wert der beiden Schwestern richtig einzuschätzen . Man verurteilte allgemein Sentas Benehmen und fand , daß Olly unglaublich anständig gehandelt . Voll Dankbarkeit wandte man sich allgemein ihr zu . Olly empfand das freundliche Entgegenkommen der Pensionsschwestern mit innerer Glückseligkeit . Wie ein verkümmertes Pflänzchen , das man aus kaltem Schatten plötzlich in den warmen Sonnenschein verpflanzt , blühte sie auf . Innerlich und äußerlich . Fräulein Richter brauchte nicht mehr darüber den Kopf zu schütteln , daß sie Olly niemals lachen gehört . Ihre Stimme und ihr Lachen klang jetzt so jugendfroh wie das der Altersgenossinnen . Das Zusammenwohnen mit der heiteren Wienerin zeigte sich besonders vorteilhaft für das frühernste Mädchen . Von Lisi lernte Olly es , jung zu sein . Jetzt ging es nicht mehr stumm auf Zimmer 12 zu . Da wurde geschwatzt und gelacht , Olly lernte nun erst den Reiz des Pensionslebens kennen . Und noch manches andere lernte Olly von der feschen Wienerin , die trotzdem nicht eitler war , als wie es ein niedliches , siebzehnjähriges Mädchen sein darf . Sie lernte eine Schleife zierlich binden , Wert auf einen geschmackvollen Anzug legen , unterscheiden , was kleidsam und was unvorteilhaft für sie war , und vor allem ihr schönes , schwarzes Haar netter frisieren . Jetzt trug Olly Hildebrandt nicht mehr ihr Haar Strafe aus der Stirn gestriegelt , jetzt konnte Senta nicht mehr vor ihr behaupten , sie sähe wie ein abgeknabberter Knochen aus . Schlicht gescheitelt umschmiegte das reiche , tiefschwarze Haar in weichen Wellen das schmalgeschnittene Gesicht , im Nacken zu vollen Zöpfen aufgenestelt . Freilich , dem Spiegel hatte sie nach wie vor Feindschaft geschworen . Sie war von Hause aus so daran gewöhnt , stets mit abgewandtem Gesicht an ihm vorüberzugehen , daß sie dies auch hier beibehielt . An einem heißen Sommertage aber , als die Mädel mit ihren Ruderbooten Mal wieder draußen auf dem Genfer See lagen , beugte sich Olly von ungefähr über den Rand des kleinen Nachens . Da stutzte sie . Ja , war denn sie das wirklich und wahrhaftig , das Bild des anmutigen , weißgekleideten jungen Mädchens , das da aus dem kristallklaren Wasserspiegel mit großen , erstaunten Augen sie anstarrte ? Gleich dem häßlichen jungen Entlein , das im Spiegel des Sees plötzlich sein Bild als schönen Schwan erblickt , wurde es da auch unserem häßlichen jungen Entlein zumute . Es starrte und starrte . " Ei , Olly , ist dir die Seejungfrau erschienen , oder schaust du da unten das blaue Kristallreich des Wasserkönigs ? " neckte Lisi . " Ja , ich habe eben in dem Wasser ein Märchen geschaut " , sagte Olly leise , wie traumbefangen . Zu Hause aber schlich sich das häßliche junge Entlein verstohlen zum Spiegel . Sie schämte sich ein wenig ihrer Eitelkeit , aber sie mußte sehen , ob der Wasserspiegel nicht gelogen habe . Nein - das war nicht mehr die Olly , die mit mißmutigem Gesicht in der Rokokovilla einhergegangen . Die schwarzen Augen , die mit banger Frage an dem Glas hingen , schauten nicht , wie einst , aus einem gelblich mageren Gesicht . Rosig gerundet hatten sich die Wangen hier in der schönen Luft und der glücklichen Atmosphäre . Der wenig gute Teint war durch das körperliche Besserbefinden klar und rein geworden , Mund und Nase schienen durchaus nicht mehr zu groß für das jetzt vollere Gesicht . Die Augen , die sonst meist trübe in die Welt geblickt , schauten zwar noch ernst , aber man sah es ihnen an , daß sie auch Frohsinn kennen gelernt . Auch die dürren Backfischarme , der magere Körper , waren voller geworden , kein Kleid paßte Olly mehr . Sie war noch immer keine Schönheit - bewahre - aber doch auch nicht mehr so abschreckend garstig , daß sie sich selbst nicht anschauen mochte . Und noch eins - die Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Mama kam jetzt geradezu erschreckend zum Ausdruck . Selbst dem innerlichst veranlagten Menschen gibt das Bewußtsein , äußerlich nicht abstoßend , sondern eher angenehm zu wirken , eine liebenswürdigere Art , ein freieres Auftreten . Bei Olly , deren ganze Verschlossenheit ihren Ursprung in dem niederdrückenden Gefühl ihrer Häßlichkeit hatte , war das mehr als bei jedem anderen der Fall . Selbst Fräulein Richter war oft erstaunt über die Wandlung , die mit Olly vor sich gegangen . Wenn sie an das scheue , bleichsüchtige Mädchen dachte , das da in Hut und Mantel damals am Abendbrottisch erschienen , und es jetzt mit dem frischen , fröhlichen jungen Menschenkind verglich , dem man die Freude an der Arbeit ansah , dann erschien ihr diese Umwandlung fast wie ein Wunder . Mit Recht konnte sie sich den größten Teil an dieser Veränderung zuschreiben . Sie war glücklich darüber , denn sie hatte Olly in ihr Herz geschlossen . Auch die Pensionsschwestern waren oft ganz erstaunt , wie liebenswürdig die sich in den ersten Wochen so zurückhaltende Gefährtin jetzt zeigte . Olly war nun beliebter , als es Senta je gewesen . Diese sah es mit heimlichem Neid . Die zweite Geige spielte das verwöhnte junge Fräulein nicht gern . Anstatt sich darüber zu freuen , daß die Schwester eine andere geworden , daß sie nicht mehr abseits vom fröhlichen Kreise stand , ärgerte sie sich heimlich darüber . Fräulein Richter hatte gute und scharfe Augen . Trotzdem Senta meistens schon schlief , wenn die Lehrerin das gemeinsame Zimmer betrat , tat sie doch manchen Blick in die Seele des ziemlich oberflächlich veranlagten Mädchens . An einem schwülen Augusttage war es . Die Zöglinge der Pierreschen Pension tummelten sich unter Aufsicht von " la petite " in der zum Pensionat gehörigen Badeanstalt , übermütig spritzte man sich mit dem erquickenden Naß . Jubel und Lachen erscholl aus dem grüngestrichenen Bretterhaus . Den guten Schwimmerinnen war es gestattet , ein Endchen aus dem engen Bassin in den blauen See hinauszuschwimmen . Eine gezogene Leine gab die Grenze , die einzuhalten war , an . Madame Pierre sah streng darauf wegen ihrer Verantwortung für die jungen Mädchen . Senta und Madeleine waren beide tüchtige Schwimmerinnen . Ihrer Unternehmungslust war die Absperrung stets im Wege . Heute hatten sie sich einen besonderen Ulk ausgedacht . Madeleine hatte den Vorschlag gemacht , zu versuchen , heimlich weiterzuschwimmen . Um diese Zeit mußte der von Genf nach Montreux gehende Dampfer vorüberkommen , das gab einen Hauptspaß , wenn sie dem zuwinken würden . Daß dies als unschicklich verboten , erhöhte das Vergnügen nur noch . Als Fräulein Richter gerade im Gespräch mit einigen Mädchen begriffen , schwammen die beiden unter Wasser geschwind über die Absperrungsleine hinaus . Weiter , immer weiter ! Herrlich war es , so frei und ungebunden in dem weiten , durchsichtig blauen See herumzuplätschern . Der Dampfer , den sie erwarteten , schien Verspätung zu haben . Sentas Arme begannen zu ermüden . Aber Madeleine wollte durchaus nichts von Umkehr hören . " Wirf dich auf den Rücken , da kannst du noch stundenlang schwimmen " , riet sie . Fräulein Richter trieb zur schnellen Heimkehr . Von den Bergen her zog es schwarz auf . Das Gewitter , das man seit einigen Tagen ersehnt , schien mit Schnelligkeit heranzukommen . Sie zählte , wie sie es stets tat , die in die Ankleidezellen Verschwindenden . Zwei fehlten . Natürlich Senta und Madeleine ! Keiner hatte sie gesehen . Die zwei mußten immer etwas Besonderes haben ! Fräulein Richter schritt ungehalten bis zur äußersten Planke des Badestegs . Aber soviel sie auch rief , so scharf sie auch ausspähte , weder Sentas roter , noch Madeleines blauer Badehut wollten sich zeigen . Bleigrau und düster lag der See jetzt unter den sich türmenden Wetterwolken . Um des Himmels Willen - die beiden würden doch nicht weitergeschwommen oder ihnen gar , ohne daß es jemand gemerkt , ein Unglück zugestoßen sein ? Fräulein Richter lief in qualvoller Erregung hin und her . " Senta - Madeleine . . . " Der einsetzende Gewittersturm , der den ruhigen See plötzlich zu weißem Wellengischt aufpeitschte , verschlang ihr angstvolles Rufen . Da stand Olly neben ihr . Sie hatte mit fliegender Hand die Kleider übergeworfen , jetzt schaute sie ebenso verängstigt wie Fräulein Richter nach der Schwester und der Gefährtin aus . Da - dort - ganz hinten zwischen zwei Wellen - war das nicht - - Der Sturm schob eine neue Wellenwand dazwischen . Olly sah nichts mehr . Aber jetzt - als der Wind einen Augenblick Atem schöpfte , jetzt - ja , ganz deutlich sah sie Madeleines blauen Hut , noch in ziemlicher Entfernung , aber er kam näher , Madeleine schwamm in langen Stößen zurück . Wo aber , wo war Senta ? Vor Aufregung sah Olly jetzt überhaupt nichts mehr . Es flimmerte ihr vor den Augen . Trotzdem verließ ihre Geistesgegenwart sie nicht . Mit fliegender Hand löste sie den Kahn , der stets bereitstand , warf den Rettungsgürtel und Sentas am Geländer hängenden Bademantel hinein , und sprang selbst hinterher . " Um Gottes Willen , Kind , was willst du tun ? " Fräulein Richter flog am ganzen Körper . Olly wies auf den größer und größer werdenden blauen Punkt , Madeleines Badehut . " Wo Madeleine ist , wird Senta sicher nicht weit sein , ich will ihr entgegenrudern , vielleicht vermag sie nicht mehr zurückzuschwimmen . " Da teilte ihr Boot auch schon die schäumenden Wellen . " Olly - Olly - du begibst dich selbst in Lebensgefahr - ich darf dich jetzt beim Gewittersturm nicht hinauslassen . . . " Olly hörte nicht mehr Fräulein Richters entsetzte Stimme . Der Sturm sang ihr sein schauriges Lied in die Ohren , die Wellen schlugen gierig , opferheischend an das dünne Fahrzeug und warfen es sich hohnlachend wie einen Spielball zu . Es war unmöglich , eine bestimmte Richtung innezuhalten . Trotzdem bewegte das junge Mädchen , alle Kraft einsetzend , unermüdlich die Ruder . Zwei Meter kam sie vorwärts , einen wurde sie wieder von den Wellen zurückgeschleudert . Sie begann das Zwecklose ihrer Mühe einzusehen . In diesen Wellenwirbel hinein , ohne bestimmte Richtung zu rudern , war Wahnsinn . Aber Senta - barmherziger Gott , Senta ? Die war vielleicht verloren ohne sie , ganz sicher , sonst wäre sie doch an Madeleines Seite gewesen ! Wenn sie auch niemals einander nahegestanden hatten , es war doch ihre Schwester , die in Lebensgefahr schwebte ! Was galt dagegen das ihr in all den Jahren angetane Weh ? " Papas Liebling . . . Nein , lieber Gott , hilf - nimm mich dafür ! Tu Papa nicht den Schmerz an , ihm Senta zu entreißen ! Mich wird er leichter entbehren . . . " Wie stummes Gebet durchflog es den jeden Nerv anspannenden Mädchenkörper . Da - ein bläulichgelber Zickzack über den Wassern - der erste Blitz . Er beleuchtet grell für die Dauer von einer Sekunde etwas Rotes , das unweit auf- und niederwogt . Olly hatte genug gesehen . Das war Senta ! Ihre des Ruderns erst seit kurzem kundigen Arme , die von der gewaltigen Anstrengung zu erlahmen begannen . fühlten sich plötzlich von neuer Kraft durchrieselt . Der Donner einte schaurig seine Stimme mit dem Heulen des Sturmes und dem Tosen der Wellen . Kreischende Möwen flogen , wild mit den Flügeln schlagend , landwärts . Wieder blendendes , schwefelgelbes Feuer ringsum - sie war der sichtbar in Todesangst mit den Wogen Ringenden ganz nahegekommen . Noch ein paar Ruderschläge - und sie konnte ihr den Rettungsgürtel zuwerfen . Dreimal entrissen ihn der verzweifelt danach Greifenden die tobenden Wasser . Sie wollten sich ihr Opfer nicht rauben lassen . Endlich vermochte Senta , die kaum noch ihrer Sinne mächtig war , ihn mit erstarrten Händen festzuhalten . Mit Aufbietung ihrer letzten Kraft versuchte Olly die mit dem Ertrinken kämpfende Schwester zu sich ins Boot zu ziehen . Vergebens . - Sie war am Rande ihrer Kraft . War alle Mühe umsonst , sollten sie jetzt , so nahe der Rettung , doch noch beide dem Untergange verfallen sein ? Schrilles Tuten ließ Olly in ihrem vergeblichen Tun innehalten . Der Dampfer - groß und majestätisch rauschte er in unmittelbarer Nähe heran , der verspätete Dampfer nach Montreux . " Hilfe - Hilfe . . . " das Rollen des Donners übertönte dumpf ihren schwachen Ruf . Da griff Olly zum letzten Mittel . Sie zog die Ruderstange ein , band Sentas mitgenommenen Bademantel mit bebenden Fingern daran und versuchte ein Notsignal zu geben . Ein Blitzstrahl hatte Mitleid mit den um ihr junges Leben Ringenden . Grell beleuchtete er die weiße Notflagge . Man wurde aufmerksam auf dem Dampfer . Der Kurs wurde verändert . Der Dampfer stoppte dicht neben dem schwankenden kleinen Nachen . Eine Strickleiter wurde herabgelassen . Eiligst kletterte ein Matrose daran herab . Er griff nach der zu dem Rettungsgürtel gehörenden Leine und zog mit markigen Armen die sich darin einkrallende Senta heran . Es war die höchste Zeit . Trotzdem der Gummigürtel sie über Wasser hielt , ihre Finger wollten dem Lebensdrange nicht mehr gehorchen . In den Bademantel gehüllt , so wurde die Gerettete auf den Dampfer getragen . Inzwischen hatte ein anderer die sich kaum noch aufrechthaltende Olly ebenfalls aus ihrem wie eine Schaukel auf- und niedergehenden Fahrzeug befreit und auf den Dampfer befördert . Man betete die jungen Mädchen auf die Plüschpolster der Salonkajüte , fremde Damen halfen mit Kleidungsstücken aus . Die Blonde , die zuerst ganz leblos geschienen , kam allmählich wieder zu sich . Aber die Schwarzhaarige schien total erschöpft . Man rieb ihr die Schläfen mit Eau de Cologne und gab ihr feurigen Wein zu trinken . Da schlug auch sie die Augen auf . " Bitte nach Ouchy - legen Sie bitte in Ouchy an ! " das war das erste , was Olly flehentlich hervorstieß , als sie wieder die Lider öffnete . Fräulein Richters sicher grenzenlose Angst und Sorge ließ bei ihr noch keine Freude über die Rettung aufkommen . In der Badeanstalt standen , mit Ferngläsern bewaffnet , die Pierreschen Pensionärinnen in heller Aufregung . Fräulein Richter , die sonst so Sanfte , stets Gleichmäßige , war nicht zu beruhigen . Sie weinte und klagte ihre eigene Unaufmerksamkeit als Schuld an diesem entsetzlichen Unglück an . Madeleine , welche die ermattete Senta im Stich gelassen und die Badeanstalt selbst glücklich erreicht hatte , stand weinend daneben . Das Bewußtsein , zwei Gefährtinnen dem Verderben preisgegeben zu haben , war selbst für das oberflächliche Mädchen furchtbar . Da schrien die durch das Fernglas Schauenden plötzlich auf . Sie hatten den neben Ollys Boot haltenden Dampfer erspäht . Aber ob alle beide gerettet waren , vermochten sie nicht zu unterscheiden . In strömendem Gewitterregen ging es jetzt im Trab , ohne Hut und Mantel , zu der nicht allzu fern gelegenen Dampferanlegestelle . Sie kamen gerade zurecht . Von hilfreichen Armen gestützt , schwankten die beiden Hildebrandtschen Schwestern , noch immer matt , über die Landungsbrücke . Wortlos zog Fräulein Richter Olly in ihre Arme , zu sprechen vermochte sie noch nicht . Immer wieder fuhr sie ihr streichelnd über die Wangen , als ob sie es gar nicht glauben könnte , daß sie wahr und wahrhaftig in ihren Armen ruhte . Dann kam Senta heran . " Böses Mädel ! " Aber selbst sie liebkoste Fräulein Richter in ihrer Glückseligkeit . Ein Wagen brachte die Erschöpften schnell nach " Mon repos " zurück , wo man sie sogleich in ihr Bett spedierte . Diesmal wurde der Vorfall Madame Pierre nicht verschwiegen . Abgesehen davon , daß sich die heldenhafte Tat Ollys herumsprach , hielt es Fräulein Richter für ihre Pflicht , der Vorsteherin sofort von dem Geschehenen Mitteilung zu machen . Ein zweites Mal durften die ihr anvertrauten jungen Mädchen nicht dem unverzeihlichen Leichtsinn Madeleines ausgesetzt sein . Am Abend dieses aufregenden Tages gingen zwei Briefe ab . Einer in französischer Sprache nach Paris , und ein deutscher nach Berlin . Der erstere war von Madame Pierre , und an Madeleines Vater gerichtet . Die Vorsteherin ersuchte darin Monsieur , seine Tochter , die sowieso zu Oktober das Institut verlassen sollte , sobald als möglich heimzuholen , da das junge Mädchen die Statuten der Pension nicht innehalte , und nicht nur die dortige Disziplin , sondern auch das Leben ihrer Pensionsschwestern gefährdet habe . Madeleine stand dieser entehrenden Ausweisung durchaus nicht beschämt gegenüber . Im Gegenteil ! Sie war froh , so bald die erwachsene junge Dame spielen zu können . Der andere , nach Deutschland gerichtete Brief ging an den Kommerzienrat Hildebrandt . Fräulein Richter hatte ihm geschrieben , ohne den Schwestern davon Mitteilung zu machen . Sie hatte es aus warmem Herzen heraus getan . Ollys Klage : " Mein Vater hat mich auch nicht lieb ! " tönte ihr noch immer im Ohr nach , sie konnte den Jammerlaut nicht vergessen . Der Vater kannte seine Tochter nicht , dessen war sie sicher . Er ahnte den Gefühlsreichtum , der sich hinter unfreundlichem Wesen verschanzte , überhaupt nicht . Das heutige mutige Handeln Ollys , die das eigene Leben ohne Besinnen zur Rettung der Schwester , die sich ihr gegenüber niemals schwesterlich gezeigt hatte , eingesetzt , hatte die junge Lehrerin aufs neue einen Blick in das selbstlose Herz des jungen Mädchens tun lassen . Der Vater mußte von Ollys Rettungstat erfahren , um seine Töchter richtig zu beurteilen . In ihrem Herzenstakt fand Fräulein Richter die treffenden Worte für das , was ihr an der Seele lag . Sie erzählte , wie beliebt Olly allgemein in der Pension sei , wie sie selbst das tief veranlagte Mädchen ins Herz geschlossen , und daß sie sich äußerlich und innerlich überraschend entwickelt habe . Zum Schluß berichtete sie , ohne Senta , die von einer Gefährtin angestiftet , die ganze Schuld beizumessen , von dem aufregenden Ereignis . Und wie Olly durch Mut und Selbstlosigkeit die Schwester mit eigener Lebensgefahr gerettet habe . Aber damit gab sich Fräulein Richter noch nicht zufrieden . Sentas Herz war heute durch die ausgestandene Angst weich wie gelockertes Erdreich . Jetzt war es an der Zeit , den Samen der Schwesterliebe hineinzusäen . Wer mit einem Fuß schon an der Schwelle des Jenseits gestanden , der ist empfänglich für ein ernstes Wort . Nach dem Abendessen leisteten die Zimmergenossinnen den beiden Schwestern Gesellschaft . Lisi kehrte ihre mutwilligste Laune hervor , um Olly , die immer noch etwas bleich und angegriffen in den Kissen ruhte , aufzuheitern . Fräulein Richter aber sprach ernste , eindringliche Worte zu der schon wieder ganz rosig und vergnügt dreinblickenden Senta . Sie stellte ihr vor , wie Olly unter ihrer Lieblosigkeit die vielen Jahre gelitten , wie sie sich oft nach einem guten Wort der Schwester gesehnt habe . Daß sie dadurch verschlossen und abstoßend geworden und erst in der Fremde davon gesundet sei . " Sie sind nicht schlecht , Senta , davon bin ich überzeugt , " Fräulein Richter legte die Hand auf den Blondkopf der in Tränen Zerfließenden , " nur äußerlich , leichtsinnig und unbedacht . Der heutige Tag hat Ihnen gezeigt , was Sie an Madeleine haben , die Sie treulos in den Fluten zurückließ , und was an Ihrer Schwester . Das eigene Leben wollte sie für Sie , die das recht wenig um sie verdient hat , opfern . Sie können ihr Ihre Rettung nicht anders danken , als daß Sie das wiedergeschenkte Leben mit dem Vorsatz beginnen , von nun an treu und schwesterlich zu Olly zu stehen ! " " Ich will , Fräulein Richter ! " Tief senkte sich der sonst so lustige Blondkopf . Die Worte der Lehrerin waren der leichtsinnigen Senta so nahe gegangen , wie noch nie etwas in ihrem sechzehnjährigen Leben . Am anderen Morgen , als Olly wieder erfrischt den Frühstückssaal betrat , machte sie erstaunt halte . Die Pensionsschwestern hatten ihr eine Überraschung bereitet . Ihr Platz war ganz und gar mit Rosen geschmückt , weiße , gelbe , rosa , rote , alle Farben . Die Vorsteherin aber sprach einige warme , anerkennende Worte zu ihr und belobte sie wegen ihres Mutes und ihrer Geistesgegenwart . Olly glaubte , in die Erde sinken zu müssen . Sie , das verachtete , häßliche junge Entlein jetzt von allen geehrt - sie wurde glutrot vor Verlegenheit . Zu Senta wagte sie gar nicht hinzusehen , gewiß neidete die ihr wieder den Triumph . Aber als sie nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging , um ihre Schulbücher zu holen , folgte ihr die Schwester . In dem stillen Stübchen schlang sie plötzlich die Arme um die Zusammenfahrende und preßte den blonden Kopf gegen Ollys dunklen . " Olly , ich weiß , daß ich dir für das , was du gestern für mich getan hast , nicht danken kann , ich will es dir durch die Tat beweisen , wie dankbar ich dir bin . Ich war schlecht zu dir , aber - ich will mich besseren ! " so flüsterte sie halb lachend , halb weinend und drückte einen Kuß auf Ollys Lippen . Das war ein anderer Kuß , als der gleichgültige Geburtstagskuß ! Olly wußte nicht , wie ihr geschah . Sie hielt die Schwester in den Armen , und alles Glück , das sich das Schicksal für sie aufgespart , schien sich in diesem Augenblick auf sie herabzusenken . " Ich bin auch schuld an unserem schlechten Verhältnis gewesen , Senta , " sagte sie weich , " aber wenn wir beide uns nur lieb haben wollen , dann wird es anders zwischen uns ! " Die Schwestern schüttelten sich die Hand . Es war noch nicht genug des Glücks . Wenige Tage später kam ein Brief von Papa , an Fräulein Olly Hildebrandt adressiert . Papa , der sonst immer nur an Senta schrieb und sie grüßen ließ , richtete jetzt ein eigenes Schreiben an sie ! " Ich habe von Deiner Heldentat erfahren , ich werde noch ganz stolz auf meine Tochter " , hieß es darin . Dann kamen Ermahnungen für Senta , künftighin weniger leichtsinnig zu sein . Und zum Schluß schrieb er noch einmal : " Du bist ein mutiges Mädchen , Olly ! " Nie erfuhr Olly , soviel sie auch fragte , mutmaßte und riet , wessen gütige Hand die Brücke geschlagen hatte zwischen dem Vaterherzen und dem seines Kindes. 13. Kapitel . Wieder daheim Die schweren , tief niederhängenden Trauben über der Rebenbank , auf der Olly im Frühling eine andere geworden , hatten sich violett gefärbt . Das Fest der Weinlese war , wie alljährlich , in der Pierreschen Pension mit Jubel begrüßt worden . Da zogen sie alle , die blühenden jungen Mädchen , in weißen Kleidern , mit Weinlaubkränzen im blonden und dunklen Haar , in die Rebhügel . Dort wurden die rötlichbeigen Trauben , welche der Gärtner und seine Angestellten schnitten , von emsigen Mädchenfingern sortiert und in Körbe verpackt . Und emsige Mädchenlippen halfen ebenso eifrig wie die Hände die großen Mengen zu verringern . Ei , da wurde geschmaust ! Helles Lachen erschallte hier , erschallte dort unter dichtem Rebengerank , junge Stimmen einten sich bei der fröhlichen Arbeit zu herzfreudigem Gesang . Ollys Wangen glühten . Sie war eine der eifrigsten . Sie fühlte ordentlich wie ihre früher so müden , schwerfälligen Glieder Jugendkraft und Lebensfreude durchströmte . Der alte , blinde Wilhelm , mit dem sie gemeinsam arbeitete , konnte ihr gar nicht schnell genug die herrlichen Trauben zureichen . Die beiden waren inzwischen gute Freunde geworden . Der Blinde hatte das junge Mädchen mit der dunkelgefärbten , samtweichen Stimme , die immer freundliche Worte zu sprechen wußte , in sein Herz geschlossen . Und Olly vergaß es nicht , wieviel sie von dem einfachen Alten einst an Daseinsfreude gelernt hatte . Fräulein Richter überwachte das Ganze . Sie saß auf derselben Lattenbank , auf der sie an jenem Ostermorgen mit Olly gesessen . Als das junge Mädchen , mit Körben beladen , an ihr vorüber wollte , hielt sie es an . " Komme , Olly , leiste mir ein wenig Gesellschaft . Du bist so erhitzt , Kind " , sie strich ihr liebevoll die Haare aus dem heißen Gesicht . " Oh , das schadet nichts - man muß das Schöne genießen , solange es noch Sommer ist ! " Das letzte klang ein wenig nachdenklich . " Was , Olly , Herbstgedanken ? Bei uns hier , am Genfer See , dauern die Sonnentage bis Weihnachten , und wenn wir uns Mühe geben , in unserer Pension sogar den ganzen Winter durch ! " Olly lachte . " Siehst du , Olly , wie fein du das Lachen bei uns gelernt hast ! Wenn ich daran denke , was für eine Tränenweide jetzt gerade vor einem halben Jahr hier neben mir gesessen hat , dann bin ich mit den verflossenen Monaten recht zufrieden . " " Ich auch , Fräulein Richter . " Olly drückte dankbar die Hand der gütigen Freundin . " Nur . . . " sie verstummte . " Na , was gibt es noch für ein » nur « dabei ? Ich glaube , Olly , die baldige Abreise unserer Oktoberzöglinge liegt dir am Herzen . Unsere lustige Wiener Lisi wird uns recht fehlen . " Ja , aber das macht es nicht allein . Der Hauptgedanke ist dabei für mich , daß nun auch meine herrliche Zeit hier ihren Höhepunkt erreicht hat und abwärts rollt . " " Sie rollt dem Vaterhause zu , Kind . Wohl dem , der noch eins hat ! Nicht undankbar sein ! " Das junge Mädchen sah still vor sich nieder . " Olly , wir suchen dich wie eine Stecknadel , wir wollen eine Winzerkönigin küren , komme schnell . " Lisi und Senta standen vor ihr und zogen sie übermütig mit sich fort , hinein in das Jauchzen und Mädchenlachen . Da mußten alle überflüssigen ernsten Gedanken schweigen . Am Abend gab es einen Winzertanz im Schweizerhaus " Mon repos " , ohne Herren ; Senta meinte erst naserümpfend , das würde sicher mopsig werden . Aber dann mußte sie selbst zugestehen , daß sie sich beinahe ebensogut amüsierte , wie an ihrem sechzehnten Geburtstage , für sie der Inbegriff alles Vergnügens . Die Mädel stellten das Haus auf den Kopf . Sie verkleideten sich und walzten unermüdlich . Sie brachten sogar die steifbeinige Miß Pinshes dazu , im Galopp mitzuhopsen . Nicht einmal Madame Pierres respektierte Persönlichkeit war heute vor der ausgelassenen Schar sicher . Fräulein Richter bildete die Hauskapelle . Sie war rührend in ihrer endlosen Geduld , aufzuspielen . Dabei sah sie mit frohen Augen auf die anmutigen Mädel , die von Jugendlust überschäumten , wie der Most des jungen Weines bald schäumen würde , dessen Ernte man heute feierte . Olly und Senta tanzten flott miteinander . Die Schwestern waren sich seit jenem Gewittertage nähergekommen . Senta , die Leichtsinnige , hatte diesmal Wort gehalten . Sie blieb ihrem Versprechen treu . Sie gab sich Mühe , Ollys ihrer eigenen Natur entgegengesetztes Wesen richtig zu würdigen . Dadurch wurde sie selbst wahrer und weniger oberflächlich . Sie gewöhnte sich , mit allen ihren Wünschen und Anliegen zuerst zur älteren Schwester zu kommen . Freilich , der verzogene Egoismus des blonden Mädels trat doch noch oftmals dabei zutage . Olly jedoch war froh , daß die Schwester Vertrauen zu ihr gefaßt hatte . Ja , selbst wenn Senta in der ersten Zeit hin und wieder einmal in ihren früheren schnippischen Ton verfiel , hatte Olly jetzt Humor genug , in harmloser Weise ihre Glossen darüber zu machen . Dann lachten sie alle beide , und der Frieden blieb unangetastet . " Olly , " - Senta machte mitten im Rheinländer einen erschreckten Sprung , - " wir haben ja Wolfgang Steinhardts Geburtstag ganz vergessen , übermorgen ist er ; wenn wir gleich eine Karte schreiben , kommt sie noch rechtzeitig an . " Sie ließ ihre Tänzerin stehen und jagte davon , Schreibutensilien zu holen . O nein , Olly hatte den 1. Oktober nicht vergessen ! Seit Tagen hatte sie schon an Wolfgangs Geburtstag gedacht , aber sie mochte Senta nicht daran erinnern , sie war froh , daß diese nicht davon sprach . Nicht aus feindseligem Gefühl heraus wollte sie den Tag übergehen . Ihre Empörung über die Kränkung des ehemaligen Freundes , die kein Verzeihen gekannt , hatte sich , wie ihr ganzes Wesen , auch hier in der sonnigen Atmosphäre gewandelt . Sie hatte es nicht vergessen , was er ihr angetan - das würde sie wohl auch niemals können ! Aber sie hatte unter Fräulein Richters sanfter Einwirkung milder denken , sie hatte verzeihen gelernt . Still schaute sie zu , wie Senta Zeile um Zeile übermütig auf das Papier kritzelte . Fast ganz voll geschrieben hatte die Schwester die Karte in ihrem naiven Egoismus . " Ach , Olly , du mußt ja auch noch eine Gratulation anquatschen , wirf die Karte dann gleich in den Kasten , der Briefträger kann jeden Augenblick abholen kommen . " Senta wirbelte schon wieder im Tanze davon . Olly aber starrte auf das Schreiben in ihrer Hand . " Nochmals Gruß und Glückwunsch von Deinem Sentchen " , schloß es . Da tauchte Olly die Feder ein und schrieb , auf die letzte Zeile reimend , mit ihren großen , energischen Schriftzügen unter die zierlichen Buchstaben der Schwester : " Und von dem häßlichen jungen Entchen . " " Olly , du siehst ja aus , als ob du einem Verbrecher sein Todesurteil ausschreibst , so finster blickst du ! " rief Fräulein Richter lachend vom Klavier herüber . Das junge Mädchen zuckte bei dem Ton der lieben Stimme zusammen . War sie ihrer Vornahme , sich innerlich zu veredeln , nicht soeben untreu geworden ? Hatte sie nicht , statt eines freundlichen Wortes zum Geburtstag , nur scharfe Ironie gefunden ? Wenn sie die Karte zerrisse . . . aber da hatte Senta ihr dieselbe mit den Worten : " Der Briefträger ! " schon aus der Hand gerissen und aus dem Parterrefenster hinausgereicht . Es war zu spät . Die Karte , die nach Deutschland reiste , zu einem großen , braunbärtigen Mann , trug wirklich ein Todesurteil in sich . Sie tötete Wolfgang Steinhardts Geburtstagsfreude . Die Mahnung an das einzige Mal in seinem Leben , da er unwissentlich brutal gewesen , die aus weiter Ferne zu ihm drang , schmerzte den feinfühlenden Mann doppelt . Er konnte sich nicht denken , daß Olly , wie der Kommerzienrat es erzählt hatte , sich vorteilhaft in der Pension verändert haben sollte . Dann hätte sie doch sicher statt des gehässigen Wortes ein freundschaftliches zum Wiegenfest für ihn gehabt . Seine Antwort fiel so kühl aus , daß Senta mit drollig erstauntem Gesicht rief : " Du , Olly , Wolfgang Steinhardt scheint einen Rappel zu haben - ist das der Dank für unser nettes Schreiben ? " Olly schwieg . Sie wußte , für welches nette Schreiben das der Dank war . " Mon repos " leerte sich . Die Pensionsschwestern , die zu Oktober dort Einkehr gehalten , flatterten davon , lachend ins Leben hinaus . Neue Gesichter füllten die alten Räume . Die Monde wechselten . Aber die Sonnentage blieben . Nun saß man des Abends schon eifrig über den Weihnachtsarbeiten , die Mittage jedoch waren noch so wonnig , daß man sich nach wie vor im Freien tummeln konnte . Dies Jahr war Olly nicht von der emsigen Weihnachtsvorfreude ausgeschlossen . Sie lernte hier in der Fremde , wie so vieles andere , auch die Poesie des Lichterfestes und das selbstbeglückende Gefühl des Schenkens kennen . Längst waren ihre Hände keine Neulinge mehr auf dem Gebiet der Fingerfertigkeit . Sie , welche die Blumen besonders liebte , hatte es in der Handarbeitsstunde bei Fräulein Richter gelernt , ihre Lieblinge in allen Schattierungen kunstgerecht auf Leinen und Seidenstoffe zu zaubern . Das machte ihr viel Freude . Langeweile war ein Begriff , den sie überhaupt nicht mehr kannte . Es gab ja so viele , die sie Weihnachten bedenken mußte . Vor allen Dingen Papa . Jetzt war Olly nicht mehr so unreif wie im vorigen Jahr , zu denken , daß Papa eine kleine Liebesarbeit seiner Tochter als Zudringlichkeit auffassen könnte . Sie versuchte , das Kissen für seinen Schreibsessel so geschmackvoll als möglich zu sticken . Die Geschwister durften dieses Jahr ebenfalls nicht leer ausgehen . Rudi , der dem Briefschreiben abhold war , und von dem nur ab und zu fidele Bierkarten eintrafen , erhielt eine Briefmappe . Für Senta , die kleine Eitelkeit , hatte Olly heimlich in ihren Mußestunden einen weißen Sonnenschirm in Madeirastickerei gearbeitet , sie war in den letzten Wochen jeden Tag eine Stunde früher aufgestanden , um fertig zu werden . Herbertchen bekam eine gehäkelte Sportmütze für die Eisbahn . Auch Katchen Lehmann wurde nicht vergessen . Trotz der Trennung hielten die Freundinnen getreulich zusammen . Am Ersten eines jeden Monats schrieb Olly , und am Fünfzehnten antwortete das flachshaarige Katchen . So blieb man im Zusammenhäng . Ollys Briefe machten die gutherzige Freundin von Mal zu Mal froher , sie erkannte daraus deutlich die günstige Wandlung , die mit Olly vorging . Sie selbst war eine eifrige Seminaristin geworden . Katchen mußte ganz besonders bedacht werden . Olly stickte ihr eine Sommerbluse in Schweizer Art , wie man sie so viel in Lausanne sah . Auch für Fräulein Richter wurde natürlich mit dem größten Eifer gestichelt . Olly , die bisher noch kein Mensch dazu bekommen hatte , sich einmal photographieren zu lassen , tat es für die geliebte Lehrerin von selbst . Fräulein Richter sollte sie nicht vergessen , wenn sie wieder daheim war . Als sie das Bild erhielt , wagte sie nicht , es aus dem Papier zu nehmen . Ihr Herz klopfte vor Erregung bis in den Hals hinein . Und als sie sich dann endlich entschloß , es anzuschauen , machte sie ein geradezu entsetztes Gesicht . Das war ja eine andere , bloß nicht sie , Olly Hildebrandt ! Ein wunderhübsches Mädchen blickte sie aus dem Bilde an , nein , so anmaßend konnte sie unmöglich sein und dies als ihre Photographie verschenken . Lieber mochte der Rahmen , den sie dazu gearbeitet , unbenutzt bleiben . Aber die anderen fanden das Bild so sprechend , so glänzend getroffen , daß Olly nicht mit ihrer Absicht durchdrang . " Weißt du , Olly , " sagte Senta , mehr ehrlich als taktvoll , " du bist schön dumm , daß du nur dies eine Bild hast machen lassen . Ich hätte überall mein holdes Konterfei hingeschickt , vor allem nach Hause , die hätten Mund und Nase aufsperren sollen , wie anständig du jetzt aussiehst . Und Wolfgang hättest du auch eins schicken können , dann hätte er gewiß nicht mehr gesagt . . . " " Schweige ! " unterbrach Olly sie brüsk . Senta sah bei dem jetzt ungewohnten Ton ganz erstaunt auf . Nanu , wollte Olly etwa wieder eklig werden ? Es war eines Abends , kurz vor dem Fest . Man saß am offenen , knisternden Kaminfeuer und legte die letzte Hand an die Weihnachtsarbeiten . Nur ein kleiner Kreis der Zöglinge war versammelt , die meisten waren über die Weihnachtsferien heimgefahren . Auch der Kommerzienrat hatte seinen Töchtern , trotz der weiten Reise , das Nachhausekommen freigestellt . Aber Olly hatte Senta himmelhoch gebeten , doch lieber in der Pension zu bleiben , es war , als ob sie geradezu Furcht davor hatte , heimzukommen . Die jüngere Schwester hatte ihr schließlich den Gefallen getan . " Sage ' , Olly " , wandte sich Fräulein Richter , die eben Sentas Teedecke für die neue Mutter , die leider erst zur Hälfte fertig war , begutachtete , " könntest du Senta nicht an ihrer Arbeit helfen ? Dann schenkt ihr sie beide zusammen , oder hast du schon etwas anderes vorbereitet ? " Fräulein Richter wußte sehr wohl , daß Olly es noch nicht hatte über sich gewinnen können , auch für die neue Mutter eine Arbeit zu machen . Das junge Mädchen errötete denn auch bis an den dunklen Scheitel . Sie schüttelte nur den Kopf , aber sie sah Fräulein Richter dabei nicht an . Nein - für Papas zweite Frau machte sie keinen Stich ! " Schade , daß man die schönen Schwäne jetzt gar nicht mehr draußen auf dem See sieht " , sagte Fräulein Richter harmlos , als ob sie ein neues Gesprächsthema anschnitte . Olly verstand ihren Hinweis . " Ich könnte ja Senta helfen - ohne - ohne daß wir die Arbeit zusammen schenken " , vermochte sie schließlich einzuräumen . " Nein , Kind , du bist selbst viel zu ehrlich dazu , um deine Schwester zu einer Täuschung zu verleiten . " Zum erstenmal war Fräulein Richter mit Olly nicht zufrieden . Olly litt darunter , aber so schnell konnte sie sich nicht bezwingen . Dazu war sie trotz ihrer Jugend ein zu gefestigter Charakter . Doch am nächsten Tage griff sie stillschweigend nach der unvollendeten Deckenecke . Fräulein Richter nickte ihr aufmunternd zu . " Es soll ein Fest der Liebe sein , Olly ! " sagte sie leise , nur für ihr Ohr bestimmt . Ein Fest der Liebe - die Worte wollten Olly nicht aus dem Sinn . Hatte sie nicht noch mehr gutzumachen ? Bei dem , der ihr voriges Jahr etwas Liebes hatte antun wollen , das sie schroff zurückgewiesen ? Für den sie auch zum Geburtstag kein gutes Wort gefunden ? Senta hatte , wie alljährlich , auch diesmal für Wolfgang Steinhardt eine Kleinigkeit gearbeitet : eine Zigarettentasche , trotzdem er so gut wie gar nicht rauchte . Herrgott , was konnte man solchem Herrn auch schenken ! Alle , selbst die neue Frau des Hauses , für die Olly doch nichts weniger als Sympathie hegte , würde sie zu Weihnachten bedenken , und nur er , der sicherlich den Heiligabend wie alljährlich in ihrem Familienkreise zubrachte , sollte leer ausgehen ? Zurückgesetzt werden , ausgeschlossen sein ? Sie wußte doch , wie weh das tat . Und ein Fest der Liebe sollte es sein . . . als Olly so weit mit ihrem Grübeln und ihrer Unentschlossenheit gekommen , war das Schwanken zu Ende . Sie ließ sich aus grauem Leinen eine Mappe anfertigen , darauf stickte sie mit roter Seide " Maschinenmodellzeichnungen " . Da arbeitete sie gleichzeitig für ihre lieben Maschinen . Diesmal wurde es kein kühler Dank . Wolfgang Steinhardt schrieb von Herzen erfreut über das Zeichen der früheren freundschaftlichen Gesinnung , welches den Ehrenplatz auf seinem Arbeitstisch bekommen , daß Olly sich recht schlecht vorkam . Wie lange hatte sie ihn , der so reuig um Verzeihung gebeten , darauf warten lassen ! Noch ein Dankesschreiben kam . Von der neuen Mutter . Olly hatte bisher niemals an sie geschrieben , immer nur " Lieber Papa ! " über ihre Briefe gesetzt , und zum Schluß " viele Grüße an alle " gesandt . Dadurch umging man so schön jede Anrede . Nun schrieb die neue Mutter , wie sehr sie sich über die Arbeit ihrer Töchter gefreut habe . Das gab Olly wieder einen Stich ins Herz , es kam ihr wie ein Verrat an ihrer verstorbenen Mama vor . Aber mit Fräulein Richter wagte Olly nicht darüber zu sprechen , sie wußte ganz genau , wie deren Antwort ausfallen würde . Trotzdem der Weihnachtsabend wunderhübsch und gemütlich verlaufen war und überreiche Gaben gebracht , hatte Olly sich heimgebangt . Wonach , das wußte sie selbst nicht zu sagen . Sie war doch dieses Jahr viel froher gewesen , als im vergangenen ! Und dennoch . . . Nun waren die Feiertage vorüber , die Wandervögel kehrten zur Pension zurück , der Ernst des Werkeltages löste wieder die Festtagsstimmung ab . Das heißt , wenn man siebzehn Jahre alt ist , bedeutet eigentlich jeder neue Tag ein Fest , und von Ernst war , abgesehen von den Schulstunden , wo auch noch gerade genug Allotria getrieben wurde , in der Pierreschen Pension nicht viel zu merken . Und als eines schönen Tages auch noch über Nacht ganz leise und unhörbar der Winter von den Schneebergen herabgeschritten kam , und das ganze Tal am Morgen , wie ein großer Kuchen überzuckert , dalag , gab es des Jubels in " Mon repos " kein Ende . Die Rodelschlitten , die auf dem Boden , von grauem Spinnweb überzogen , träumten , wurden aus ihrer Verborgenheit hervorgeholt . Lachende Mädchengestalten , die Sportmütze unternehmungslustig ins Haar gedrückt , zogen sie die beschneiten Hügel hinauf . Juchhei - gab das eine Lust , wenn eine nach der anderen zu Tal sauste , und wer auf der Nase lag , weich gebettet im Schnee , lachte am meisten . Olly bekam der Aufenthalt in der frischen Winterluft vorzüglich . Sie blühte wie eine Rose . Ihr schönheitsdurstiges Auge schwelgte jetzt in der weißglitzernden Herrlichkeit des Schneereiches . Aber ach - eines Morgens war die ganze schlohweiße Pracht wie weggepustet . Droben aber , am zartblauen Himmel , stand die Frühlingssonne und lachte die mit ihren Schlitten zu Berg ziehenden Mädel weidlich aus . Das Zeitenrad , das Olly so gern angehalten , rollte unaufhaltsam weiter , schon begannen die Hotels am Genfer See wieder zur Saison zu rüsten . Das Pensionsjahr der Hildebrandtschen Schwestern ging zu Ende . Kurz vor ihrer Heimkehr kam ein inhaltsvoller Brief , der Olly ganz ihrer Fassung beraubte . Sie hatten noch ein Brüderchen bekommen ! Niemals hatte Olly an die Möglichkeit gedacht , daß sich ihr Familienkreis vergrößern könnte - und jetzt gab es da plötzlich in der Rokokovilla ein fremdes kleines Wesen , das Heimatsrechte dort hatte . Ein Kuckucksei - seit langer Zeit hatte Olly nicht solch ein Gefühl der Bitterkeit gehabt . Wieder etwas Neues , das Anspruch auf Papas Liebe und Zärtlichkeit machte , wie wollte er da wohl noch etwas für sie übrig haben ? " Olly , ich glaube , du freust dich gar nicht , " meinte Senta erstaunt , " ich finde die Sache sehr ulkig . Nur quaken darf das Wurm nicht ! " Die Schwester antwortete nicht . Olly schämte sich , etwas von ihren häßlichen Gefühlen verlauten zu lassen . Und doch vermochte sie nicht , dieselben zu bezwingen . Sogar Fräulein Richter gelang es nicht , das Empfinden der Abneigung , das Olly von der neuen Mutter auch auf das unschuldige kleine Brüderchen übertrug , ganz zu zerstreuen . Zu ihren mahnenden Worten , daß der Kleine ein Bindeglied sein solle zwischen dem Herzen seiner Mutter und dem seiner großen Schwester , schüttelte sie ablehnend den Kopf . Und dabei spannen sich die Tage jetzt mit einer geradezu unglaublichen Schnelligkeit von der Jahresspule . Schon sah man das Ende des Schicksalsfadens , der Olly und Senta an den Genfer See knüpfte . Der letzte Tag war herangenaht . Die Koffer standen gepackt . " Komme , Olly , wir wollen noch einen Spaziergang zu Zwei machen " , schlug Fräulein Richter , der das Scheiden von dem ihr lieb gewordenen Mädchen ebenfalls schwer wurde , vor . Olly , die heute den ganzen Tag über in Abschiedsstimmung war , schob dankbar ihren Arm in den der verehrten Lehrerin . Fräulein Richter schlug den Weg zur Rebenbank ein . Der junge Wein begann gerade zu sprießen . " Siehst du , Kind , hier hat es angefangen , und hier soll es aufhören . Wenigstens räumlich . In deinem Herzen und Sinnen , hoffe ich , wirst du noch manch liebes Mal bei uns am schönen Genfer See weilen . " Die junge Lehrerin zog Olly zu sich auf die Rebenbank . " Oh , Fräulein Richter , " Olly barg das Gesicht im Trennungsweh an ihre Schulter , " ich wünschte , ich dürfte immer hierbleiben . " Ihre Tränen flossen , aber das waren andere als die , welche sie im vorigen Jahre hier geweint . " Kind , ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis , in den unser Herrgott ihn gestellt hat . " " Ach , hätte ich einen Wirkungskreis - aber was soll ich zu Hause ? Überflüssig werde ich dort sein wie früher , und dadurch wieder auf schlechte Gedanken kommen . " Ollys Furcht vor dem Heimkehren formte sich zu Worten . " Studieren durfte ich nicht , weil ich zu faul und zu dumm war ; und einen Beruf ergreifen - ja , wenn ich nicht die Tochter vom Kommerzienrat Hildebrandt wäre ! Wie gern würde ich den Reichtum , den ganzen klingenden Plunder hergeben - - - " " Kind , Olly , du bist außer dir ! So habe ich dich ja bis auf das eine Mal hier nicht wieder gesehen . Ich glaubte schon , mein Entlein wäre ein Schwan geworden ! Aber das graue Entenfederkleid kommt noch allenthalben unter dem neuen weißen Gefieder zum Vorschein . " Olly senkte traurig den Kopf . Da faßte Fräulein Richter ihre beiden Hände . " Schau , Kind , es liegt nur an dir , deinen Reichtum , über den du dich beklagst , zu einem Segen für Viele werden zu lassen . Es gibt so manchen Weg , auf dem ein junges Mädchen aus begütertem Hause , das keinen Beruf ergreift , ihre Kräfte und ihre Zeit edel verwerten kann . Hast du niemals etwas von sozialer Frauenhilfe gehört ? Da gibt es Kleinkinder-Krippen und Kindergärten , wo weiche Hände und junge , freundliche Gesichter gebraucht werden . Volksküchen , Waisen- und Armenfürsorge , wo du dich nützlich machen kannst . Altersversorgungen und Asyle , in denen solch junges Menschenkind , das für die alten Leutchen ein Stündchen zum Vorlesen übrig hat , mit Freuden begrüßt wird . Du brauchst dich nicht überflüssig zu fühlen , du am wenigsten , Olly . Hast du mir nicht von eurer ausgedehnten Fabrik mit ihren vielen hundert Arbeitern , für die du besonderes Interesse zu haben scheinst , erzählt ? Nun wohl , kümmere dich um eure Arbeiter , schau nach ihren Kindern , die vielleicht ohne Aufsicht bleiben , wenn die Eltern beide in der Fabrik tätig sind . Hilf ihre Kranken pflegen , Not und Elend nach Kräften steuern . Da hast du einen edlen Lebenszweck vor dir ! " Olly blickte hinaus auf den bläulichen See . Goldene Bilder der Zukunft zogen da vor ihrem Auge vorüber . Das , was sie selbst schon öfters gefühlt und gewünscht , das hatte Fräulein Richter mit ihrem reiferen Denken in die richtigen Bahnen gelenkt . Ja , sie wollte - sie wollte den Armen zum Segen werden ! " Sie sind mein guter Engel , Fräulein Richter , " sagte sie warm , " wenn ich Sie nur nicht morgen verlassen müßte ! " " Ein Engel kann uns auch unsichtbar umgeben , Olly " , lächelte die junge Lehrerin . " Sei meiner Worte eingedenk , und du wirst meine Gegenwart empfinden . Noch eins , Kind - ein Anliegen habe ich noch zum Schluß - willst du mir meine letzte Bitte erfüllen ? " " Jede ! " sagte Olly ohne Besinnen . " Nun , so komme deiner neuen Mutter nicht mit feindseliger Abneigung entgegen . Versuche sie lieb zu haben und auch das Brüderchen ! " " Das - das kann ich nicht ! " " So hast du mich auch nicht lieb , Kind " , sagte Fräulein Richter traurig . " Es ist mein innigster Wunsch für dich , ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst , und weiß es , daß du nicht eher froh und zufrieden in deinem Elternhause werden wirst ! " Sie hatte Tränen im Auge . " Ich werde es versuchen . Fräulein Richter , weil Sie es wünschen ! " Olly zog die Hand , welche die ihre umfaßt hielt , errötend an die Lippen . Da hob die Lehrerin das junge Gesicht zu sich empor und drückte einen Kuß auf den jetzt purpurroten Mund . " Brav , mein Mädel - nun ist der Schwan bald fertig ! " Auf der Rebenbank , die ihr schon einmal zum Segen geworden , wurde Olly heute wiederum der richtige Weg gewiesen . Diesmal der Lebensweg . Am nächsten Morgen gab es einen tränenreichen Abschied . Von dem lieben Haus und den lieben Menschen , unter denen sie selbst ein neuer Mensch geworden war . " Ich will bei allem , was ich tue , an Sie denken , dann weiß ich , ob es das Rechte ist ! " flüsterte Olly noch ganz zuletzt ihrem lieben Fräulein Richter zu . Diese sah mit schwimmenden Augen dem enteilenden Zuge nach . Bis Heidelberg , wo wieder Station gemacht wurde , waren die Tränen längst getrocknet . Zwei frohe Mädchengesichter lachten Rudi , dem schmucken Bruder Studio , der sie auf dem Bahnhof in Empfang nahm , entgegen . Aber auch der lachte übers ganze Gesicht . Ja , da soll einer wohl nicht lachen , wenn zwei so bildhübsche Mädel plötzlich vor einem auftauchen , und noch dazu seine Schwestern sind ! Daß die Senta ein netter Käfer war . das hatte er ja immer gewußt , aber Olly - " Bist du es denn wirklich , Mädel ? " Er vermochte gar nicht , an diese Umwandlung zu glauben . " Leibhaftig ! " Olly lachte - tatsächlich , sie lachte ! Wie ein Weltwunder staunte Rudi die Schwester an . Jetzt aber schob Senta ihr zierliches Persönchen vor die sie fast um Kopfeslänge überragende . " Du , Rudi , jenseits des Berges wohnen auch noch Leute ! " sagte sie mit niedlichem Schmollen . Da packte Rudi die Schwarze rechts und die Blonde links , so zog er stolz , untergeärmelt , durch die alte Musenstadt . Hei - wie flogen die bunten Studentenmützen in die Luft , wo der junge Mediziner mit seinen hübschen Begleiterinnen auftauchte . Jetzt brauchte sich Rudi nicht mehr Ollys zu schämen , ihre aparte Erscheinung zog die bewundernden Blicke der Vorübergehenden fast noch mehr auf sich wie das rosige Puppengesicht des Blondchens . Abends nahm Rudi sie mit zur Stammkneipe Perkeo . Er mußte seine Schwestern doch mit den Kommilitonen bekannt machen . Farbenfrohe Mützen , wohin man auch blickte , darunter frohe , junge Gesichter mit kecken Schmissen . Hier war Senta mehr in ihrem Element als Olly . Sie nahm die Huldigungen der Rotgrünweißen , der zu Rudis Burschenschaft Gehörenden , wie eine kleine Königin in Empfang . Das war doch etwas anderes , als Pensionsmädel zu spielen . Olly dagegen kamen die schönen Redensarten der jungen Herren banal vor , sie war trotz allem erlangten Jugendfrohsinn doch älter als ihre achtzehn Jahre . Nun hieß es auch von Rudi wieder scheiden . Ein stattlicher Kreis von rotgrünweißen Mützen gab den beiden Schwestern das Geleit . Die ganze Verbindung war an der Bahn erschienen . Es regnete Blumensträuße . Und dann zogen sich gegen Abend wieder märkische Sandflächen längs des schwarzen Schienenbandes hin , Lichter strahlten auf , wie ein Riesennetz von gelblichen Leuchtkörpern spann es sich aus - ratternd fuhr der Zug in die Berliner Bahnhofshalle . Olly klopfte das Herz zum Zerspringen . Sie zitterte vor dem Moment des Wiedersehens . Sollte sie Papa von selbst einen Kuß geben ? Aber als sie ihren Vater jetzt auf dem Perron stehen sah , da gab es keine Überlegung mehr für sie . Nur ein wehes Gefühl durchzitterte Olly . War das wirklich ihr schöner , stattlicher Papa , den sie in voller Jugendkraft vor einem Jahr verlassen ? Die Haltung war nicht mehr Strafe und stramm wie einst , das Gesicht bleich und müde , das blitzende Auge matt , und durch den blonden Schnurrbart zogen sich lichte Fäden . Beide Arme schlang Olly in schmerzlicher Aufwallung um den Hals des Gealterten : " Papa - lieber Papa ! " Der sah mit großen , erschreckten Augen auf das schlanke Mädchen . " Eugenie " - sagte er tonlos , und noch einmal " Eugenie ! " Keinen Blick verwandte er von dem zarten Antlitz unter dem tiefschwarzen , weichen Scheitel . Vergeblich schmiegte sein Liebling Senta den Blondkopf an seinen Arm . " Ich bin es ja , Papa , die Olly " , sagte das junge Mädchen mit schüchternem Lächeln . " Ja , ja , Olly - " der Kommerzienrat fuhr sich über die Stirn . " Ich glaubte , die Toten kämen wieder , wie bist du deiner Mutter ähnlich geworden , Kind ! " Das war der schönste Willkommensgruß , der Olly in der Heimat werden konnte . Nun kam auch Senta zu ihrem Recht . Der Kommerzienrat schüttelte mit Gewalt den Bann ab , der auf ihm lastete . Und das übermütige , rosige Ding , das noch nicht einmal bemerkt hatte , daß der Vater ein anderer geworden , wußte im Augenblick alle grauen Schatten der Vergangenheit zu scheuchen . Das Plappermäulchen stand nicht still , tausend Fragen tat es auf einmal . Olly war schweigsam während der Heimfahrt . Sie sah immer wieder auf den ersten Schnee in Papas blondem Haar . Da lag die weiße Rokokovilla wieder vor ihr - als ob sie gar nicht fort gewesen wäre . Und doch - anders war es hier geworden . Wie riesengroße , schwarze Zeigefinger wiesen die Fabrikschlote in das Abendgrau . Olly nickte ihren Freunden einen stillen Gruß zu . Dann preßte sie tapfer beide Hände auf das klopfende Herz . In den bläulichen Lichtschein der elektrischen Bogenlampe trat in einem rosa Hausgewande die neue Frau Kommerzienrat . Ihre zweite Mutter . " Ich will , Fräulein Richter - ich will ! " sprach Olly unhörbar , ohne daß sie die Lippen bewegte . Dann trat sie mit möglichst freundlichem Gesicht auf die ehemalige Hausdame , die Senta im Arme hielt , zu . " Guten Abend " , sagte sie leise . Mehr wollte nicht über ihre Lippen . Aber die neue Mutter faßte herzlich ihre beiden Hände . " Olly , ist es denn die Möglichkeit - eine richtige junge Dame bist du geworden - jetzt haben wir zwei erwachsene Töchter " , der Mutter Blick glitt bewundernd an Ollys schlanker Gestalt herab . Wenn sich das Mädel auch innerlich so zu ihrem Vorteil verändert hatte , wie äußerlich , konnte man zufrieden sein . Herbertchen kam wie ein Pfeil aus einer Tür geschossen und umarmte Senta stürmisch mit Tintenfingern . Vor Olly blieb er mit verdutztem Gesicht stehen . Da beugte sich diese nieder und küßte den vor Staunen offenen Jungenmund . " Das ist die Olle ? " Herbertchen , der inzwischen ein hoffnungsvoller Quintaner geworden , fand sich nicht mehr in der Welt zurecht . Er hatte sich darauf gefreut , daß die Hänseleien mit der stets unfreundlichen großen Schwester jetzt von frischem beginnen würden . Und nun stand da eine erwachsene junge Dame vor ihm , ein schönes Fräulein , und küßte ihn sogar ! Rührend war Murks in seiner Freude über das Wiedersehen . Schwanzwedelnd sprang er von einer Schwester zur anderen , als wüßte er , daß die Entfremdung zwischen den beiden ausgeglichen . Senta , der Wirbelwind , war bereits in der Kinderstube . Sie mußte das neue Brüderchen bewundern . Da lag das winzige Etwas , die rosigen Fäustchen gegen den Kopf gepreßt , in seinem mit duftigem Mull verhängten Wiegenkorb . Senta jubelte so laut bei seinem Anblick , daß es die Augen aufschlug und den Mund jämmerlich verzog . Olly folgte langsam an Papas Seite . Jetzt kam das Schwerste für sie . Als aber das mauzende dünne Stimmchen an ihr Ohr klang , wurde es ihr mit einem Male ganz merkwürdig zumute . Ein hilfloses , kleines Wesen war das , und dem brachte sie Abneigung entgegen ? Papa griff nach dem weinenden Bündel , nahm es im Kissen heraus und legte es mit einem sprechenden Blick , der viele ungesagte Worte in sich schloß , der neben ihm stehenden Ältesten in den Arm . Da bedurfte es nicht mehr der Erinnerungen an Fräulein Richters Bitte . Als Olly das unschuldige Brüderchen an ihrem Herzen hielt , da quoll nichts als warme Zärtlichkeit zu dem Kleinen in ihrer weichen Seele auf . Sie neigte sich und drückte einen leisen Kuß auf eines der winzigen Fäustchen . Dann legte sie das Brüderchen mit einem tiefen Atemzug in die Arme seiner Mutter zurück . " Wie er dir gleicht - Mama ! " sagte sie leise . Zum erstenmal gebrauchte sie den Namen , den sie nie wieder auszusprechen geglaubt hatte . 14. Kapitel . Streik Spät war es , als Olly am anderen Morgen in ihrem altvertrauten Balkonzimmer erwachte . Ein regenschwerer Apriltag graute draußen . Sie dehnte sich wohlig in den gestickten Kissen . Es war doch etwas Eigenes um das Gefühl , wieder daheim zu sein . Nur Papa machte ihr heftige Sorge . War er krank ? Sein elendes Aussehen ließ darauf schließen . Aber jede dahin zielende Frage hatte er verneint . War er nicht glücklich in seiner neuen Ehe ? Auch dies schien nicht der Fall zu sein . Das Verhältnis zu seiner jungen Frau war entschieden ein harmonisches . Die Mutter sorgte , wie selbst Olly es sich hatte zugestehen müssen , mit liebevoller Aufmerksamkeit für den Gatten , und er hatte für ihre Bemühungen immer ein Lächeln , wenn auch ein müdes . Aber was war mit Papa , was hatte ihn so verändert ? Olly grübelte und grübelte . Sie kam zu keinem Resultat . Entschieden war er nervös , ihr schöner , starker Papa , der immer auf das schwache , nervöse Geschlecht verächtlich herabgesehen hatte . Als sie ihm gestern abend zum " Gute Nacht " die Lippen bot , zum erstenmal wieder seit vielen Jahren , da hatte er Tränen im Auge gehabt . So weich war Papa geworden , der immer von sich gesagt hatte , er sei hart wie seine Maschinen . Die Maschinen - Olly setzte sich plötzlich jäh im Bette hoch . Warum hörte man sie denn gar nicht , warum sangen sie ihr nicht den Willkommensgruß in der Heimat ? Kein Rasseln und Rattern , kein Hämmern , alles still - totenstill . - War denn Sonntag heute ? - Nein , es war Wochentag , und dennoch feierte die Fabrik ? Herrgott - was hatte das zu bedeuten ? Am Ende war es noch gar nicht sechs , sie hätte ja sonst auch den gellenden Pfiff , der den Arbeitsbeginn meldete und sie früher stets zu wecken pflegte , hören müssen . Sie griff nach der kleinen Taschenuhr , einem Erbstück ihrer Mutter . Schon neun - Himmel , das konnte doch gar nicht sein , hatte sie vergessen die Uhr aufzuziehen ? Aber das deutlich vernehmbare Ticken überzeugte Olly vom Gegenteil . Sie sprang aus dem Bett und ans Fenster . Kein Rauch wirbelte aus den hohen Schornsteinen da drüben auf , der Atem des gewaltigen Arbeitskörpers stand still . Die ungewohnte Ruhe legte sich geradezu beklemmend auf das junge Mädchen , mit fliegender Hand zog es sich an . Senta , die Langschläferin , blinzelte inzwischen auch gähnend . Olly teilte der Schwester ihre beunruhigende Wahrnehmung mit . " Pah " - Fräulein Leichtsinn lachte unbesorgt , " vielleicht hat Papa der Fabrik unserer Ankunft zu Ehren einen freien Tag bewilligt . " Olly schüttelte den Kopf . Sie kannte ihren Vater , trotzdem sie ihm die Jahre über ferngestanden , besser . Das Frühstückszimmer war leer . Papa pflegte schon um acht Uhr ins Büro zu gehen . Herbert war in der Schule , und die gnädige Frau badete gerade Bubi , wie das servierende Hausmädchen meldete . So nahm Olly ihr Frühstück nur in Gesellschaft von Murks ein . Sie blickte sich um in dem gemütlichen , noch immer geheizten Raume . Es stand alles wie sonst , die neue Mutter hatte keine Änderung der Einrichtung vorgenommen . Das berührte Olly angenehm . Aber das Brötchen wollte trotzdem nicht rutschen . Die Unruhe wuchs im Alleinsein . Selbst Murks ' Liebesbezeigungen vermochten sie nicht zu zerstreuen . Aus dem durch das Bibliothekzimmer von ihr getrennten Rauch- und Arbeitszimmer des Vaters kamen gedämpfte Stimmen . Olly strengte ihr Ohr an . Papa zu dieser Zeit nicht drüben im Büro , das war ebenso merkwürdig wie das seltsame Feiern der Fabrik ! Wem gehörte die andere tiefe Männerstimme ? Alles Blut drängte der jungen Lauscherin plötzlich zum Herzen . Sie hatte die Stimme erkannt . Niemals war Wolfgang Steinhardt zu so früher Morgenstunde in der Rokokovilla erschienen . Sie mußte erfahren , was vorlag . Sollte sie zur neuen Mutter gehen und sie befragen ? Nein , ihr Verhältnis zueinander war vorläufig nur ein höflich-freundliches , Vertrauen konnte Olly , trotz aller guten Vornamen , noch nicht zu ihr fassen . Senta , die mit blanken Augen am Kaffeetisch erschien , plauderte lustig drauflos . Daß sie vormittags vor allen Dingen mit der Mama einen Frühjahrshut kaufen müßte , denn mit dem Winterhut konnte sie Irmgard von Buschen unmöglich mehr besuchen . Ob Olly nicht auch mitkommen wollte ? Olly schüttelte den Kopf . Ihr war augenblicklich nicht nach neuen Frühjahrshüten zumute . " Mädel , du bist ja heute so tranig " , Senta sah verwundert auf die in der Pension stets frohe Schwester . " Ich weiß nicht , Senta , ich wünschte , ich hätte deine heitere Lebensauffassung . Es liegt hier irgend etwas in der Luft , was jede Fröhlichkeit in mir niederdrückt . Fühlst du es denn nicht ? " Senta schnupperte mit ihrem feinen Näschen ähnlich wie Murks in der Luft umher . " Nee " , sagte sie dann lachend , und entwischte in die Kinderstube zum Bubi . Olly trat ans Fenster und blickte in den regenschweren Garten hinaus . Hier war die Vegetation dies Jahr noch weit zurück , kaum die ersten grünen Spitzchen wagten sich ans Licht . Ach , die Sonnentage am blauen Genfer See ! Eine starke Sehnsucht nach der lachenden Schönheit des gesegneten Fleckchens Erde wallte in ihr empor . Dort war auch sie ein lachendes junges Menschenkind gewesen , und hier fühlte sie förmlich , wie die Schwere und der Ernst der nördlichen Heimat sich ihr wuchtig auf das für Sonnenschein so empfängliche Gemüt legte . " Ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis , in den unser Herrgott ihn gestellt hat ! " War es nicht , als ob Fräulein Richters weiche Stimme eben den Raum durchzittert ? Und doch schrie Bubi nur im Kinderzimmer nach seinem Fläschchen mit künftiger Feldherrnestimme . Olly richtete sich Strafe auf . Nein , sie wollte den Mut nicht gleich wieder sinken lassen . Vor allem nicht ihrem früheren Fehler , dem untätigen Grübeln , aufs neue verfallen . Sie hatte jetzt den Segen der Arbeit kennen gelernt . Also frisch ans Auspacken und Einräumen ihrer Sachen . Eher war sie nicht richtig daheim . Als sie die Tür zur Diele öffnete , hemmte sie jäh den Schritt . Denn nebenan hatte ebenfalls eine Tür geknarrt . Wolfgang Steinhardt trat hinaus und griff nach seinem Mantel . Olly zögerte . Der Wunsch , von dem jungen Ingenieur zu erfahren , was in der Fabrik vorlag , war stark . Stärker aber noch das Herzklopfen vor der ersten Begegnung mit dem einstigen Freunde . Es benahm ihr fast den Atem . Ehe Olly noch ihr pochendes Herz zur Ruhe gebracht , war aus der gegenüberliegenden Kinderstube Senta getreten . " Wölfchen Steinhardt - - - " sie eilte mit alter Herzlichkeit auf ihn zu . Beide Hände streckte sie ihm unbefangen entgegen . " Sentchen - Mädel , was bist du für eine hübsche junge Dame geworden ! " Wolfgang sah mit Freude auf die gleich einem hellen Sonnenstrahl in der regengrauen Diele Auftauchende . Ollys Herz pochte nicht mehr erregt . Es war sogar , als ob es seinen Schlag von Sekunde zu Sekunde verlangsamte . Leise schloß sich die Tür zum Frühstücksraum . Olly wollte die beiden in ihrer Wiedersehensfreude nicht stören . Aber Sentas rosiges Ohr hatte den Schall aufgefangen . " Olly , sieh nur , Wölfchen ist hier ! " Sie zog die Schwester auf die Diele hinaus . Wolfgang Steinhardt rührte sich nicht vom Platz . Keinen Schritt kam er Olly entgegen . Er blickte mit ungläubigen Augen auf die gertenschlanke Mädchengestalt im Rahmen des tiefroten Türvorhangs . Wie auf etwas Unwirkliches , was der nächste Augenblick wieder in nichts zerfließen lassen könnte . Ollys zartes Gesicht färbte sich mit warmer Glut . Dann aber nahm sie sich zusammen . Sie trat auf Wolfgang zu und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand . " Guten Tag , Herr Ingenieur , kennen Sie mich nicht mehr ? " Ihr Mund lächelte und scherzte , aber die großen dunklen Augen wußten nichts davon . Über denen lag es wie ein Schleier heimlichen Wehs . " Olly " - - -nein , das ging doch nicht , daß er eine erwachsene junge Dame , die ihn mit " Herr Ingenieur " anredete , duzte - " Fräulein Olly , seien Sie willkommen daheim ! " Er zog die schmale Hand des häßlichen jungen Entleins , die sich ihm als Zeichen der Verzeihung bot , dankbar an die Lippen . " Ein Handkuß - und mir hast du nicht die Hand geküßt , du unhöflicher Mensch - ich verlange auch meinen respektvollen Handkuß , sonst kündige ich dir die Freundschaft und nenne dich ebenfalls » Herr Ingenieur « . " Senta spitzte drollig geziert das rote Mäulchen und reichte Wolfgang mit hoheitsvollem Gesicht gnädig die kleine Grübchenhand zum Kusse . Die merkwürdige Stimmung die den Raum noch eben durchwebte , war zerstoben . Wolfgang lachte . " Um Gottes Willen nicht , es ist genug an einer ! " Auch Olly vermochte in das Lachen der beiden einzustimmen . Der weiche , glockenhelle Ton , der seit dem Tode ihrer Mutter hier in diesen Räumen verstummt gewesen , ließ Wolfgang Steinhardt wieder mit stiller Bewunderung auf die so anmutig Gewordene schauen . Er fand keine Worte , wie die anderen alle , für die kaum glaubhafte Verwandlung des häßlichen jungen Entleins . Aus dem Rauchzimmer klang gedämpftes Husten . Es erinnerte Olly an ihre für einige Minuten vergessene Sorge . " Bitte , Herr Ingenieur , " sie wandte sich in zögerndem Ton an ihn , " geben Sie mir darüber Aufschluß , was bei uns hier vorgeht . Papa steht elend aus , die Fabrik feiert - bitte sagen Sie , was hat das zu bedeuten ? " Sie hob in ihrer Unruhe flehend die gefalteten Hände zu ihm empor . Wolfgangs Gesicht war ernst geworden . " Wir haben ein schweres Jahr durchlebt , Fräulein Olly . Aber das kann ich Ihnen unmöglich hier draußen auseinandersetzen . Wenn Sie gestatten , trete ich noch auf einen Augenblick ein . Die Kinder des Hauses haben , meiner Ansicht nach , das Anrecht und die Pflicht , die Sorgen der Eltern zu teilen . " Olly setzte sich dem jungen Ingenieur mit großen , angstvollen Augen gegenüber . Was würde sie hören müssen ? Senta wippte im Schaukelstuhl . " Haben Sie nichts von dem allgemeinen Maschinenstreik gelesen ? " begann Wolfgang Steinhardt . Olly schüttelte den Kopf . Es war keine deutsche Zeitung in das Pierresche Pensionat gekommen . " Es geht schon seit Monaten " , fuhr der junge Mann , die Stirn in Falten legend , fort . " Zuerst das Murren und die Unzufriedenheit hier und dort unter der Arbeiterschaft . Aber das wurde immer wieder zum Schweigen gebracht und gütlich beigelegt . Ihr Vater hat stets freundschaftlich zu seinen Arbeitern gestanden . Er wußte die Wellen des Aufruhrs , bevor sie überschäumten , zu glätten . Aber solch ein Streik ist wie eine tückische Krankheit , wie eine Epidemie , welche auch die Besten und Zuverlässigsten überfällt . In anderen Fabriken hatten sie längst schon die Arbeit niedergelegt . Ja , sogar zu Ausschreitungen war es dort gekommen . Wir konnten uns vor Aufträgen nicht retten , da ein großer Teil der Maschinenfabriken außer Betrieb gesetzt war . Wir wußten nicht , wo wir genügend Hände herkriegen sollten , und stellten an Arbeitskräften ein , was sich uns bot . Das war der Fehler . So bekamen wir die Aufwiegler hier hinein , grüne , unreife Burschen , welche die erfahrenen Männer mit großprahlerischen Worten aufhetzten . Sie kamen mit Lohnerhöhungen und Arbeitszeitkürzung . Ihr Vater tat , was in seiner Macht stand , aber die Forderungen gingen zu weit . Diese unreifen Burschen hatten alles Vertrauen zu ihrem Herrn in den erregten Arbeitergemütern zerstört , allenthalben Groll und Aufruhr gesät . So kam es auch bei uns zum Streik . Seit Wochen währt der Ausstand bereits , wie lange noch , ist gar nicht abzusehen . Und Ihrem Vater hat die Aufregung , der Undank seiner Arbeiter und die mit dem Streik verknüpften Sorgen einen Teil seiner Lebenskraft gekostet ! " Der Ingenieur schwieg und blickte teilnehmend auf die ihm Gegenübersitzende . Sie hatte ihn durch keinen Laut unterbrochen , nur eine Träne löste sich von den langen , seidenweichen Wimpern . Die Fabrik - ihre Fabrik , mit der sie seit frühester Kindheit aufs innigste vertraut und verwachsen , die alte , liebe Freundin , trat plötzlich als drohender Feind ihr gegenüber ? Sie konnte es nicht fassen . " Sind - hat Papa auch pekuniäre Schwierigkeiten durch den - Streik ? " Das leiser gesprochene letzte Wort schien ihr geradezu körperlichen Schmerz zu bereiten . Wie ernst und verständig das Mädchen war ! " Machen Sie sich keine Sorgen . Fräulein Olly , die Firma Hildebrandt kann schon einer Streikepoche die Stirn bieten . Freilich , allzu lange darf sie nicht mehr anhalten . Auch das vollste Fass erschöpft sich schließlich ! " " Ich finde die Sache eigentlich ganz famos " , Senta gab ihrem Schaukelstuhl einen kraftvollen Stoß . " Solch Arbeiterausstand , das ist doch tausendmal interessanter als das ewige langweilige Maschinengerassel da drüben ! " Sie lachte selbst in diesen ernsten Augenblicken . " Du bist noch ebensolche ein Kindskopf wie du warst , Sentchen ! Ich wollte , wir hörten das langweilige Maschinengerassel recht bald wieder ! Weißt du , du solltest zum Vater gehen und ihn auf andere Gedanken bringen . Deinem lachenden Übermut werden die grauen Sorgengeister , die ihn nicht loslassen wollen , nicht standhalten . Er braucht Sonnenschein ! " Senta sprang erschreckt auf . " Nee , Wölfchen , geht heute absolut nicht , ich habe ja über die interessanten Streikgeschichten ganz vergessen , mich fertigzumachen . Mama wird gewiß schon auf mich warten . Nee , heute muß ich mir notwendig einen neuen Frühjahrshut kaufen ! Aber morgen , Wölfchen - au revoir ! " Damit war sie auch schon aus dem Zimmer gehuscht . " Ja - freilich , der neue Frühlingshut ist notwendiger ! " Wolfgang blickte kopfschüttelnd hinter dem sorglosen blonden Ding drein . " Senta besitzt eine glückliche Natur , sie tanzt lachend über die Hindernisse , über die ein anderer strauchelt , hinweg . Aber sie hat trotzdem ein gutes Herz ! " Wolfgang sollte von dem Mädchen , das er lieb zu haben schien , nicht enttäuscht sein . Er lächelte denn auch . " Ich freue mich , Olly - Fräulein Olly , daß Ihr schwesterliches Verhältnis ein besseres geworden . In dem einen Jahr hat sich vieles geändert - " er überflog ihre reizvolle Erscheinung - " ist es auch zwischen uns wieder anders geworden - sind wir dieselben guten Freunde wie einst ? " " Ja " - Olly atmete tief auf und blickte ihn voll an . Ihrem künftigen Schwager durfte sie keine feindselige Empfindung mehr entgegenbringen , das war sie Senta schuldig . " Dann will ich gern das » Sie « und den » Herrn Ingenieur « in den Kauf nehmen " , meinte er ein wenig schalkhaft . " Und nun , Fräulein Olly , gehen Sie zu Ihrem Vater , ich fand ihn heute verstimmter als je . Ihre Gegenwart wird ihm wohltun . " Olly erfreuten diese letzten Worte besonders . Ihre - des häßlichen jungen Entleins - Gegenwart sollte jemandem wohltun ! Sie sah ihn dankbar an . " Ich vermag aber nicht soviel Sonnenschein zu verbreiten wie Senta " , sagte sie dann leise . " Solch lachender , übermütiger Frühlingssonnenschein ohne Bestand ist nicht für jeden , Fräulein Olly . Einem versorgten Gemüte wie das Ihres Vaters wird ein gleichmäßig von innen heraus warmer Sommersonnentag , wie Sie ihn zu bringen vermögen , mehr helfen ! Leben Sie wohl und - Kopf oben ! " Er schüttelte ihr noch einmal die Hand und schritt hinaus . Olly starrte auf die Tür , hinter der seine hohe Gestalt verschwunden . Mit Anstrengung gab sie ihren Gedanken eine andere Richtung . Sie mußte zu Papa . Als Olly in das Arbeitszimmer trat , rührte sich Papa nicht . Der tatkräftige Mann , den sie nie anders als beschäftigt gesehen , lehnte in seinem Ledersessel in unfruchtbarem Grübeln . Über dem Schreibtisch hing nach wie vor das große Ölgemälde von Mama , nicht , wie sie gefürchtet hatte , von einem anderen Bilde verdrängt . Nur auf dem Schreibtisch stand eine kleine Photographie der neuen Mutter . Der dicke Smyrnateppich fing den Hall ihrer Schritte auf . Langsam ging sie näher . Bei dem grauen Tageslicht sah das Gesicht des Vaters noch grauer und abgespannter aus . Sicher war er krank . Ein schwerer Seufzer traf Ollys Ohr . Da stand sie bei ihm und legte schüchtern den Arm um ihn . " Papa - Wolfgang Steinhardt hat mir von deinen Sorgen erzählt - du mußt es dir nicht so zu Herzen nehmen , es wird sicher alles bald wieder gut werden ! " tröstete sie mit weicher Stimme . Der Kommerzienrat fuhr empor . Er blickte von der Tochter zu dem Bilde über dem Schreibtisch . " Es ist fabelhaft - geradezu fabelhaft , wie du der Verstorbenen auch im Wesen ähnlich geworden bist , Olly . Geradeso kam sie zu mir herein , legte den Arm um meine Schulter , geradeso war ihre Stimme - ja , damals , da wußten wir hier noch nichts von Aufwiegelei und Streik . " " Du bist es ja nicht allein , Papa , dasselbe Los trifft doch auch viele andere Fabriken " , wagte Olly vorzustellen . " Ich war wie ein Vater zu meinen Arbeitern , über zwanzig Jahre haben wir treulich zusammengehalten , und nun ist dies der Dank - Lumpen die ! " Papas Stimme schwoll zu alter Heftigkeit . " Sie sind sicher nur verblendet " - Olly trat für ihre alten Freunde aus den Kindertagen ein . " Hast du denn schon mit den langjährigen Arbeitern persönlich gesprochen ? Die müßten doch einem verständigen Wort zugänglich sein ! " " Wolfgang Steinhardt unterhandelt mit ihnen . Er sagte mir soeben , daß die älteren die Arbeit ganz gern wieder aufnehmen würden . Aber sie wagen es nicht , aus Furcht , als Streikbrecher zu gelten . Da gibt es nur eins - die Bande aushungern ! " " Papa ! " - Olly rief es entsetzt - " aushungern , auch die armen , unschuldigen Kinder ? Nein , das kann dein Ernst nicht sein ! " " Sie wollen es ja nicht anders - lange können sie der arbeitslosen Zeit nicht standhalten . Ihre Organisation vermag so viele hungrige Mäuler auf die Dauer auch nicht zu stopfen . Dann müssen sie entweder zu Kreuze kriechen , oder es kommt , wie in verschiedenen anderen Betrieben , zu Aufruhr und Meuterei . Am Ende zünden sie uns noch das Haus über dem Kopf an ! " Olly preßte die Hand auf das Herz . So stand es , so ?! " Papa , " sie legte bittend die Hand auf seinen Arm , " versprich mir , bitte , eins . Ich kann es mir denken , daß du durch die vielen Streikwochen große Verluste haben mußt . Mache dir deshalb wenigstens keine Sorgen . Du selbst hast uns Mal gesagt , daß unsere Mama sehr reich gewesen , und daß du ihr Geld für Senta und mich sicher angelegt hast . Bitte , lieber Papa , nimm mein Geld , ich brauche es nicht und würde es für nichts lieber verwendet sehen , als für unsere Fabrik ! " Der Kommerzienrat sah seine hochherzige Tochter , deren Wert er so wenig gekannt , schweigend an . Schweigend zog er sie zu sich nieder . Olly ruhte im Vaterarm . Nun nahm sie gern alles Schwere , was hier in der Heimat ihrer wartete , in den Kauf . " Ich will versuchen zu arbeiten , notwendige Briefe sind zu erledigen , aber ich fühle mich so unlustig und müde zu jeder Tätigkeit . " Der Vater gab sie frei . " Papa - könntest du mir nicht diktieren , ich würde dir schrecklich gern helfen . " Olly sah den Vater bittend an . " Du , Mädel , " - jetzt lächelte Papa wieder ein wenig - " ich halte nicht viel von Frauenarbeit - unter langen Haaren spuken allerlei Firlefanzgedanken , nur keine ernsten , zielbewußten . Aber immerhin , wir können es ja versuchen . " Olly nahm am Schreibtisch Platz , und Papa diktierte . Es war nicht leicht , ihm zu folgen , denn der Kommerzienrat sprach schnell hintereinander ; er vergaß während der Arbeit , daß er seiner ungeübten Tochter diktierte und nicht einem Stenographen . Aber Olly gab sich grenzenlose Mühe , nicht zurückzubleiben , die fremden Fachausdrücke richtig zu schreiben und den Vater zufriedenzustellen . Mit vor Eifer brennenden Wangen legte sie zum Schluß die Feder nieder . " Brav , Olly , " Papa durchflog das Geschriebene , " sieh Mal an , das hätte ich dir gar nicht zugetraut . Ich werde dich zu meiner Sekretärin ausbilden . " Nie war Ollys Herz so von freudigem Stolz erfüllt gewesen als in diesem Augenblick . Da lag wieder eine Aufgabe vor ihr ! Stunde um Stunde verging , Papa diktierte unentwegt . Olly konnte kaum noch die Hand rühren , das Gelenk schmerzte sie von der ungewohnten Anstrengung . Aber sie mochte Papa nicht bitten , eine Pause zu machen . Er sollte eine bessere Meinung von Frauenarbeit bekommen . Als Senta mit der Mama von ihren Einkäufen heimkehrte und wie ein Wirbelwind in Papas Zimmer gestürmt kam , um ihr entzückendes Frühjahrshütchen bewundern zu lassen , machte Papa ein ganz erstauntes Gesicht . Was - so spät war es schon , da hatte er doch wirklich über der gemeinsamen Arbeit mit der Tochter für mehrere Stunden seine Sorgen vergessen . " Du siehst heute frischer aus , Ludwig . " Die eintretende Mutter küßte den Vater erfreut auf die Stirn . Olly fühlte in diesem Augenblick entschieden schon etwas wie Sympathie für sie . Da reichte sie auch der Tochter freundlich die Hand . " Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen . Olly ; ich glaubte , du würdest zu mir kommen und dir Bubi im Bade anschauen . Er ist süß , der kleine Kerl , wenn er so strampelt . " Das junge Mädchen wurde ein wenig verlegen . " Ich war heute nicht so recht in der Stimmung wegen - wegen des Streiks " , setzte sie leiser , mit einem Blick auf den die Briefe unterschreibenden Vater hinzu . Am Nachmittag stattete Olly dem Garten ihren Besuch ab . Es hatte aufgehört zu regnen . Sie war jetzt an Luft gewöhnt , am liebsten hätte sie einen weiten Spaziergang mit Senta unternommen . Aber die war zu ihrer Freundin Irmgard gefahren . Unter dem Reinettenbaum , ihrem Lieblingsplatz , stand Olly lange . Sie blickte in das noch kahle , mit blitzenden Regentröpfchen in der vorbrechenden Aprilsonne wie Diamanten sprühende Gezweig . Bald würde die Sonne die Regentränen trockenen , wie sie auch jene getrocknet , die sie hier einst geweint . Langsam schritt sie dem Fabrikterrain zu . Ausgestorben lag es da . Die Arbeitssäle leer , keine feurige Lohe prasselte aus der Esse hernieder . Das rege Treiben der vielen Hunderte , die Stimme der Arbeit war verstummt . Drohend reckten sich die rußgeschwärzten Schlote gen Himmel , wie eine verödete Stadt umfing es das einsame Mädchen . Das war das Wiedersehen mit ihrer lieben Fabrik . Hinter dem gewaltigen Eisenkran , mittels dessen die schweren Maschinenteile gehoben wurden , regte es sich . Ein weißhaariger Kopf wurde sichtbar . Olly kannte den Alten von klein auf . " Guten Tag , Grundmann . " Sie legte dem Zusammenfahrenden die Hand auf den schäbigen Rock . Der blickte sie mit unsicheren Augen an . Er sah schlecht aus , der alte Mann . " Ist - sind Se 't denn wirklich ? " Nein , das konnte doch unmöglich " die Häßliche " sein - der Alte schüttelte den Kopf und rückte verlegen an seiner Mütze . " Doch , Grundmann , ich bin es - die Olly Hildebrandt , die Sie vor vielen Jahren manches Mal auf den Arm genommen haben . Ich bin traurig , daß ich Sie hier draußen wiederfinde , und nicht dort drinnen ! " Olly wies auf die tote Fabrik . " Je - jnädiges Fräulein , " - der Alte kratzte sich das Ohr , - " det is eine verfluchte Sache mit es Streiken . Der eine will und der andere will nicht ! Aber mitmachen , det müssen sie schließlich alle . " " Ich verstehe das nicht , Grundmann , so ein alter Mann wie Sie , der hier im Dienst meines Vaters ergraut ist , der sollte doch ganz genau wissen , daß wir es gut mit euch meinen . Der dürfte sich doch wirklich nicht von ein paar Grünschnäbeln aufhetzen lassen ! " sagte Olly ernst . " Ja , sehen Sie , Freileinchen , " meinte der alte Mann vertraulich , " was ich bin , ich habe det Faulenzen bis hierher . Ich möchte lieber heute als morjen wieder an meine Maschine ran . Und wie mir , so Jet das auch noch 'nen ganzen Hümpel älterer Arbeiter . Aber wa derfen nicht - nee , wa derfen nicht - sonst schimpfen se uns Streikbrecher ! Nee , det soll keiner nicht dem ollen Jrundemann nachsagen ! " Er schlug sich auf die Brust . " Ja , was wollen Sie dann aber noch hier ? " fragte das junge Mädchen traurig . Der Hoffnungsstrahl , den sie beim Anblick des Alten hatte aufleuchten sehen , erlosch wieder . " Et treibt mir immer wieder her , wie so 'n Hund , der viele Jahre an einen Ort treu jedient hat . Und denn , man muß doch ooch kieken , ob es nicht doch wieder mit de Arbeit losjeht - was meine Enkelchen sind , die müssen nun schon seit Tagen hungrig zu Bette . Gott , man is doch man ooch bloß 'n Mensch ! " " Ihre Enkelchen sollen nicht mehr hungern , lassen Sie mich dafür sorgen , Grundmann " , sagte Olly , mit Tränen des Mitleids in den Augen . " Hier , " - sie schüttete den Inhalt ihres Portemonnaies in die immer noch zwischen den Händen gehaltene Mütze des Alten - " und wenn_es zu Ende ist , kommen Sie wieder zu mir . " " Jnädiges Freilein , nee , det tue ich Ihn mein Lebtag nicht jassen , det Se selbst in' Ausstand 'n Herz vor unsereins haben ! " Der Alte lief , so schnell er konnte , mit dem geschenkten Gelde heim . In der Tür des Bureaugebäudes aber erschien ein anderer - Wolfgang Steinhardt . Er hatte vom Fenster des Ingenieurzimmers den Vorgang beobachtet . Er sah sehr ernst aus . " Fräulein Olly , Sie haben Unrecht gehandelt " , begann er vorwurfsvoll . " Zum mindesten unüberlegt . Sie haben sich von einer mitleidigen Regung fortreißen lassen , gegen Ihren eigenen Vater Partei zu ergreifen . " " Was , " - Olly war erschreckt zusammengezuckt - " können wir es verantworten , daß unschuldige Kinder verhungern ? " " Nein , soweit darf es nicht kommen , aber damit sie es nicht müssen , sollen die unvernünftigen Eltern ihre Arbeit wiederaufnehmen . Wenn Sie die Streikenden unterstützen , machen Sie mit ihnen gemeinsame Sache gegen uns ! " " Ich halte es für ein Unrecht , Menschen in Not zu lassen , wenn man dieselbe lindern kann " , sagte Olly , den Kopf senkend . " Und ich glaube auch nicht , daß dies uns schaden wird , im Gegenteil , wenn die Leute sehen , daß man es gut mit ihnen meint . . . " " Die Menschen denken nicht alle wie Sie , Fräulein Olly . Sie sind jung und wissen zum Glück noch nicht , wieviel schlechte Elemente die guten zum Schweigen bringen , besonders in Zeiten des Aufruhrs . Übrigens dürfen Sie jetzt nicht allein das Fabrikterrain betreten - ich bitte Sie darum ! Sie sind hier nicht sicher , überall lungern jetzt arbeitslose Burschen umher , es kann täglich zu Ausschreitungen kommen . Sehen Sie , dort hinter dem Staket , das ist so einer von der Sorte , die nur darauf warten , die Fackel der Empörung in diese Stille zu schleudern ! " Olly wandte den Kopf . Böse Augen lugten durch das Gitter zu ihnen herüber - Barmherziger - was hielt der Kerl denn in der erhobenen Hand - war es eine Pistole - zielte er damit nicht nach Wolfgang Steinhardt ? Da kam es auch bereits sausend durch die Luft - aber schon war Olly ohne Besinnen schützend vor den getreten , der ihr einst das größte Weh im Leben zugefügt hatte . Der Stein traf ihre Stirn , statt die des Freundes . Mit unterdrücktem Schmerzenslaut brach sie zusammen . " Olly ! " Entsetzt beugte sich Wolfgang über die Blutende . Dann faßte er sie mit starken Armen und trug sie behutsam in das Ingenieurzimmer auf eine Chaiselongue . Er riß sein Tuch aus der Tasche und versuchte das sickernde Blut zu stillen . Gottlob - die Wunde schien nicht tief zu sein . Der Stein des Bösewichts hatte nur ihre Schläfe gestreift Aber sie hielt die Augen fest geschlossen , der Schreck hatte sie überwältigt . Mit warmem Blick schaute Wolfgang auf das schmale , liebliche Mädchengesicht . Da regte sie sich , sie schlug die Augen auf . " Olly - Fräulein Olly , haben Sie große Schmerzen , können Sie wohl schon zur Villa hinüber , müssen wir an den Arzt telephonieren ? " fragte er besorgt . Olly richtete sich auf . Sie schwankte noch ein wenig . " Es wird schon gehen " , sagte sie , mühsam lächelnd . " Wie soll ich Ihnen danken , Fräulein Olly - Sie sammeln glühende Kohlen auf mein Haupt ! " Leise kamen die Worte von seinen Lippen . " Bitte , sprechen Sie nicht davon . " Noch immer ein wenig wankend und matt von dem Blutverlust , schritt sie , mit angstvoll spähenden Augen , an seiner Seite der Rokokovilla zu . Am Abend des ersten Tages nach ihrer Heimkehr lag Olly in hohem Wundfieber . An ihrem Lager wachte die neue Mutter . Eine ganze Woche mußte Olly das Bett hüten . Aber sie hatten doch etwas Gutes , diese Tage . Sie webten ein Band zwischen sie und die Mutter , die sich getreulich in die Pflege mit Senta teilte . Ollys dankbares Gemüt erkannte jetzt gern die guten Eigenschaften der sich um sie Mühenden an , ihre stets heitere Art brachte sie über manche Stunde quälender Sorge hinweg . Denn noch immer währte der Streik . Wolfgang sandte der Genesenden täglich die herrlichsten Blumen , bis Olly , die nun schon wieder im Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte , ihn bat , davon abzusehen . Trotzdem sie Blumen liebte , schmerzte es sie , daß dafür Geld verausgabt wurde , während Arbeiterfamilien darbten . Rührend war Papa während dieser Zeit . Seinen eigenen Zustand schien er ganz zu vergessen , er saß stundenlang am Bett seiner Tochter , hielt ihre Hand und erzählte ihr von früheren Tagen . Als wollte er sie die Jahre , in denen sie seine väterliche Liebe entbehrt , vergessen machen . Auch Katchen Lehmann stellte sich getreulich ein . Trotz der Seminararbeit noch rosiger als sonst . Und das hatte seinen Grund . Denn , als die beiden Freundinnen allein waren , vertraute das flachshaarige Katchen unter Lachen und Weinen Olly an , daß sie heimlich mit Herrn von Treuenfels verlobt sei , jenem jungen Maler , der an dem Märchenabend in der Rokokovilla die lebenden Bilder gestellt hatte . Nur ihre Eltern wußten davon , sonst keiner , denn sie mußten noch manches Jährchen warten . Aber was schadete das - sie waren ja beide jung . Olly nahm innigen Anteil an dem Glück der Freundin . Aber auch Katchen sah mit herzlicher Freude , wie gut Olly das Pensionsjahr getan hatte . Daß sie nicht mehr abseits von den anderen stand , daß sie jetzt erst richtig in ihrem Vaterhause daheim war . " Habe ich es dir nicht gesagt , Olly , " flüsterte sie beim Fortgehen , " daß noch alles gut werden wird ? Nun prophezeie ich dir wieder etwas : Es wird nicht lange dauern , und du wirst ebenso glücklich sein , wie ich es jetzt bin ! " Damit war sie zur Tür hinaus . Olly aber schüttelte traurig den Kopf . Wieder war eine Woche dahingegangen . Immer noch mußte Olly die breite weiße Binde über der verletzten Stirn tragen . Sie saß am Fenster und blickte hinaus in den Garten , in dem der Frühling jetzt an allen Ecken und Enden schaffte . Das frische , junge Lenzgrün tat ihrem Auge und ihrem Herzen wohl . Neben ihr lag im Wagen das kleine Brüderchen , strampelnd und krahlend . Der lebendige Frühling ! Junge Hoffnungsfreude ringsum - da regte es sich auch in ihrem zagenden Herzen , es mußte doch nun bald besser werden ! Die Botschaft des Frühlings hatte ja auch im vergangenen Jahre nicht getrogen . Lautes Gedröhn hallte wildlärmend in ihre lenzfreudigen Gedanken . Es kam von der Fabrik herüber , Olly preßte erregt die Hände auf die Brust . Erfüllte es sich schon , war der Streik zu Ende ? Gellendes Gejohle - und dazwischen Krachen und ohrenbetäubende Schläge auf Eisen - war das die friedliche Arbeit , die sie ersehnt ? Da stürmte , die Tür weit offen hinter sich lassend , Herbertchen ins Zimmer hinein . Er trug seine buntfedrige Indianerausrüstung , in der Hand Köcher und Pfeile . " Es geht los , Olly " , jubelte er . " Sie ziehen heran in schwarzen Scharen , unsere Mädchen sagen es . Jetzt gibt es Krieg , höre nur , sie zertrümmern die Maschinen in unserer Fabrik . Aber ich werde sie beschleichen , ich werde euch als Häuptling vor den Pfeilen der Rothäute schützen ! " Er wollte wieder zur Tür hinaus . " Du bleibst hier ! " Mit fester Hand hatte Olly den begeisterten Jungen , in dessen Kopf Indianergeschichten spukten , gepackt . " Keinen Schritt gehst du aus diesem Zimmer ! " Trotzdem ihre Stimme tonlos klang , machte sie auf den Knaben Eindruck . Er sah scheu zu der erbleichenden Schwester auf . Jeden dröhnenden Schlag , der ihren lieben Maschinen galt , empfand sie schmerzlich , als wäre er gegen den eigenen Körper gerichtet . " Mein Kind - mein Kind - sie werden mir mein Kind töten ! " In verzweifelter Aufregung stürzte die neue Mutter herein und warf sich schirmend über ihren harmlos lallenden Kleinen . Hinter ihr Senta , weinend , die Ohren gegen das laut und lauter herüberdringende Getöse mit den Händen verschließend . " Wo ist Papa ? " Olly sah verstört von einem zum anderen . " Wohl noch in seinem Zimmer - rufe ihn , Olly , er muß sofort die Polizei alarmieren - die wilde Rotte wird auch uns bedrohen - Gott schütze mein Kind ! " Die Mutter war ganz außer sich . Olly eilte in das Zimmer des Vaters . Die Beine wollten ihr kaum gehorchen . Papa saß regungslos auf seinem Platz , stierte vor sich hin und lauschte dem wachsenden Tumult . " Papa - lieber Papa , komme zu uns herüber , Mama bedarf deines Zuspruchs , wir werden das Schwere gemeinsam leichter durchleben ! " Der Kommerzienrat gab keine Antwort . " Papa , wir brauchen dich , wir bedürfen deines Schutzes ! " flehte Olly . Die stumme Starre des Vaters ängstigte sie mehr als die laute Verzweiflung der Mutter . " Ihr braucht mich - mich - hahaha ! Ich soll euch schützen - und kann doch nicht einmal meine Lebensarbeit vor den rohen Händen der Zerstörer retten ! Hörst du es - dort drüben zertrümmern sie mein Lebenswerk , nur zu - nur weiter ! " Mit zitternder Hand strich Olly über den ergrauenden Kopf des Vaters . " Es ist nur totes Material , " flüsterte sie mit erstickter Stimme , " aber hier - hier sind deine Kinder , Papa ! " Da erhob sich der Kommerzienrat schwerfällig . Sich auf den Arm seiner Tochter stützend , schritt er mühsam zu seiner Familie - ein kranker Mann . " Ludwig , du mußt die Polizei benachrichtigen , sie müssen uns Bedeckung schicken . " Die junge Frau flog am ganzen Körper . " Keine Waffengewalt auf meinem Grund und Boden . " Der Kommerzienrat schüttelte langsam den Kopf . " Olly , telephoniere an Wolfgang Steinhardt , er möchte sofort hinauskommen . Solange ich noch einen Pfennig mein Eigen nenne , darf kein Blut fließen . Ich will ihnen noch mehr entgegenkommen , Wolfgang soll mit ihnen unterhandeln - ich selbst vermag es nicht ! " Er sank wieder teilnahmlos in sich zusammen . Olly eilte ans Telefon . " Sie kommen - sie kommen . . . " Aus dem Souterrain stürzte die Köchin , den Schneeschläger kriegerisch in der Hand schwingend , herauf . Hinterdrein die kreischenden Mädchen . Olly , die gerade den Hörer wieder angehängt , stellte sich den schreienden Dienstboten mit zwingendem Ernst entgegen . " Geht an eure Arbeit , sie werden euch nichts tun ! " Wolfgang Steinhardts telephonische Worte : " Keine Angst - ich bin in kurzer Zeit zur Stelle ! " hatten sie wunderbar beruhigt . Wie eine schwarze Riesenschlange wälzten sich die Arbeitermassen von der Fabrik her unheilvoll auf die weiße Rokokovilla . Schon waren sie im Garten , plumpe , schwere Männerstiefel zerstampften mitleidslos das frühlingsduftige zarte Grün . " Olly , komme vom Fenster fort , sie werden wieder mit Steinen nach dir werfen . " Senta verbarg jammernd den Kopf in die Sofakissen . Herbertchen legte herzklopfend den ersten Pfeil in den Köcher . Für ihn war das Furchtbare nur aufregendes Knabenspiel . Die Mutter hielt Bubi fest gegen ihre Brust gepreßt . Olly rückte sich einen Stuhl neben Papa und griff nach seiner Hand . Er sollte in der schwersten , entmutigendsten Stunde seines arbeitsreichen Lebens fühlen , daß sein Kind mit ihm litt . Näher und näher kam das Stimmgebrause und Gejohle . Jetzt unterschied man schon schrille Rufe . " Brot - Brot - wir wollen Brot ! " - Dumpfes Murren durchtönte die Luft . " Wo steckt der Kommerzienrat - er schwelgt im Überfluß , und unsere Kinder hungern ! " Deutlich drangen die feindseligen Worte an Ollys aufs äußerste gespanntes Ohr . Sie sprang auf . " Olly , was willst du tun ? " Die Mutter und Senta riefen es entsetzt wie aus einem Munde . " Brot . . . " Wie einziger , wilder Schrei durchgällte es wieder die Luft . Da trat Olly entschlossen zur Verandatür . " Laß mich zu ihnen sprechen , Papa , ich will sie zu beruhigen suchen , bis Wolfgang Steinhardt kommt ! " Sie wartete keine Antwort des Vaters ab . Sie hörte die angstvoll beschwörenden Bitten der anderen nicht mehr . Schon stand sie draußen auf der vom ersten Grün umrankten Säulenveranda , schutzlos der entfesselten Menge gegenüber . Das Schreien , Johlen und Murren verstummte plötzlich . Man sah erstaunt auf das hochgewachsene liebliche Mädchen , das fast ebenso weiß war wie die Binde , die sich um ihren dunklen Scheitel legte . Mit großen , traurigen Augen blickte Olly in die drohenden , finsteren Gesichter . Da war manch einer darunter , mit dem sie in den Tagen der Kindheit gut Freund gewesen . " Was wollt ihr ? " fragte sie , die Stimme zur Ruhe zwingend , und trat mutig an die Verandabrüstung . " Brot - gebt uns Brot - wir hungern ! " Wilder Tumult erhob sich wieder . Vergeblich versuchte Olly , sich in demselben Gehör zu schaffen . " Was will das Mädel hier - der Kommerzienrat soll kommen ! " wurden Stimmen laut , während unreife Burschen , welche die Arbeiter aufgehetzt , mit gellenden Pfiffen alles übertönten . Da trat aus den ungezügelten Massen ein weißhaariger Alter . Er schritt zur Veranda und stellte sich neben die Tochter des Kommerzienrats . " Seid ruhig , " begann er , " sie hat es stets Jute mit uns Arbeitern jemeint . Selbst jetzt , im Ausstand , hat sie mir Jeld jejeben , damit meine Enkelchens nicht hungern sollten . " Beifälliges Gemurmel erhob sich . Hier und da löste sich einer aus der Menge und trat zur Veranda . Der Arbeiter Schulz , den Olly einst im Krankenhause besucht , und so mancher andere ihrer alten Freunde . Wie eine schirmende Mauer stellten sie sich vor das furchtlose Mädchen . " Ruhe - sie soll zu uns reden ! " Die johlenden Burschen wurden zum Schweigen gebracht . " Mein Vater ist krank von der Aufregung und dem Gram , den ihr ihm bereitet ; ihr könnt ihn nicht sprechen " , begann Olly mit gepreßter Stimme . " Ich bin , wie ihr seht , von einem Stein verwundet , den Gehässigkeit aus eurer Mitte geschleudert . " Sie mußte eine Pause machen , das Murren wurde wieder laut , aber diesmal galt es dem Missetäter . " Ihr selbst hungert - das sind die Errungenschaften des Streiks ! " fuhr Olly mutiger fort . " Viele , viele Jahre habt ihr treu mit uns zusammengehalten , mein Vater ist auch euch stets wie ein Vater gewesen . Und das soll mit einem Male alles vergessen sein ? Stets habe ich meine Freunde in euch gesehen , und nun seid ihr plötzlich meine Feinde geworden ! " Es war , als ob die weiche Mädchenstimme die tosenden Wogen des Aufstandes zurückebben ließ . Wieder traten einige der Streikenden mit gesenktem Kopf zu den an der Veranda Stehenden . " Mein Vater hat es verschmäht , die Polizei gegen seine Arbeiter zu Hilfe zu rufen . Er will friedlich mit euch unterhandeln und euren Forderungen , soweit es recht und billig ist , zu entsprechen suchen . Wenn ihr die Arbeit ruhig wiederaufnehmt , wird er vergessen , wie ihr heute dort drüben " - sie wies nach der Fabrik - " gehaust habt . Vor allem aber sollen eure unschuldigen Kinder nicht länger Hunger leiden . Wer wieder arbeiten will , der trete hierher und nehme an Brot und Lebensmitteln in Empfang , was wir hier im Hause haben , soweit es reicht ; den anderen wird Geld zu Brot vorgeschossen . " " Brot . . . " Die hungernden Massen drängten unaufhaltsam nach vorn . Umsonst ertönte hier und da der verächtliche Ruf : " Streikbrecher ! " Keiner vernahm in dem Lärm das Rattern eines anfahrenden Autos . Da stand neben der jungen Sprecherin plötzlich mit geladenem Revolver der Ingenieur Wolfgang Steinhardt . " Zurück , " donnerte er , " wenn euch euer Leben lieb ist ! " Er glaubte nicht anders , als der Ansturm entspränge feindlichen Absichten . Olly legte ihm beschwichtigend die Hand auf den drohend erhobenen Arm . " Nicht so - ordnen Sie es friedlich , die Leute sind bereit , die Arbeit wiederaufzunehmen , die Bedingungen müssen Sie mit ihnen besprechen . Wir wollen nur erst für den ersten Hunger sorgen . " Sie ließ von den Mädchen Körbe mit Eßwaren herbeischleppen , die sie unter die gierig danach Greifenden verteilte . Am nächsten Tage arbeitete die Fabrik wieder . Ihr Herr aber lag in schwerem Nervenfieber danieder . Der Streik war zu Ende . 15. Kapitel . Aus dem Entlein ist ein Schwan geworden Über ein Jahr war seit jenem Tage vergangen , da unbarmherzige Arbeiterfüße das lenzjunge Grün niedergetreten . Im Garten blühten die Syringen . Übermütig wirbelten krause Dampfwölkchen aus den Fabrikschornsteinen in den blauen Himmel hinein und erzählten von emsigem Treiben und Schaffen . Friedliche Arbeit war nach den Tagen des Aufruhrs wieder an dieser Stätte eingekehrt . In der weißen Rokokovilla freilich , die mit ihrem verschnörkelten Baustil so lustig dreinblickte , hatte es lange Zeit gebraucht , bis die Folgen der Schreckenstage getilgt waren . Lange stand der düstere Sensenmann unsichtbar draußen an der Pforte , die Sichel gewetzt , um sie unerbittlich gegen das Haupt des Hauses zu schwingen . Aber den treuen Pflegerinnen , die mit ihm rangen , wurde schließlich der Sieg . Als der Arzt , aufatmend nach bösen Fiebertagen und - Nächten , sich vom Lager des Schwerkranken wandte und das eine Wort " Gerettet " sprach , da waren sich Olly und die neue Mutter , wortlos in ihrem Glücksempfinden , in die Arme gesunken . Ihre Freudentränen mischten sich . Nichts verbindet zwei Herzen so fest miteinander , wie das Band gemeinsamer Sorge . Olly hatte in diesen Tagen der Krankheit des Vaters die neue Mutter in ihrer unermüdlichen Tatkraft und Selbstentäußerung dem Gatten gegenüber schätzen und lieben gelernt . Senta war nicht im Krankenzimmer zu gebrauchen . Sie war zu beweglich , ihr unruhiges Temperament scheuchte auch dem Fiebernden die Ruhe . Sie hatte sich inzwischen Bubis angenommen , in die Kinderstube paßte ihre Sonnennatur besser als in das Krankenzimmer . Monatelang konnte sich der Kommerzienrat nicht von jenen Tagen des Aufstandes , die sein innerstes Mark getroffen , erholen . Und als er schließlich zum erstenmal wieder seine Fabrik betrat , da wandte sich manch Arbeitergesicht in schuldbewußt erschrecktem Gruße ihm zu . Ein alter Mann mit schneeweißem Haar war es , der ihre Reihen durchschritt . Kaum kannten sie ihren stattlichen , jugendschönen Herrn in dem Gebeugten , sich noch immer am Stock Vorwärtsschiebenden wieder . Der Wetterstrahl zerschmettert zuerst die höchste , stolzeste Eiche . Olly war Papas Sekretärin geworden , seine " rechte Hand " , wie er schmerzlich sagte . Denn diese versagte ihm , trotz aller Massage und Elektrisierens , ihre Dienste . Morgens , pünktlich mit dem Glockenschlage acht , trat sie ihr Amt an , und bis Mittag beugte sie , eifrig schreibend , den dunklen Kopf über die Papiere . So hatte sich ihr Wunsch doch noch erfüllt , ihre Arbeitskraft für die Fabrik einzusetzen . Zweimal in der Woche aber , während Senta Reitstunde hatte , fuhr sie nach Berlin hinein . Sie hatte Fräulein Richters Worte nicht vergessen und sich als Helferin den sozialen Frauengruppen zur Verfügung gestellt . Da hatte sie ihre bestimmten Pfleglinge , Waisen , die in Familien untergebracht waren , deren körperliches und geistiges Gedeihen sie überwachen mußte . Da galt es , armen Kranken ein Labsal zu bringen , für ausreichende Pflege und ärztliche Behandlung zu sorgen . Ihre liebsten Stunden aber waren die im Kinderasyl . Sowohl bei den ganz Kleinen , die sie badete und wickelte , als auch bei den Größeren , mit denen sie spielte und lernte , und denen sie zur Belohnung für ihr Bravsein Geschichten erzählte . Hier fand Olly auch ihr jugendfrohes Lachen , das sie während der Krankheitstage des Vaters fast verlernt hatte , wieder . Tante Olly war die beliebteste Tante im Kinderasyl geworden . Viele kleine Händchen streckten sich ihr jubelnd bei ihrem Erscheinen entgegen . Keine verstand so schön mit ihnen zu spielen , tausend herrliche Dinge aus fast nichts zu zaubern . Denn das war die Hauptsache , was das reiche , im Luxus aufgewachsene Mädchen hier lernte . Alles mußte praktisch sein und mit möglichst geringen Kosten hergestellt werden . Abends , wenn sie Abschied nahm , nachdem sie die Kleinen mit Milch und Brot versorgt hatte , da hingen sich die Händchen wie die Kletten an das Kleid der lieben Tante Olly . Man wollte sie niemals fortlassen . Dies Bewußtsein gab ihr , der einst als Backfisch allgemein Unbeliebten , reiches Glücksempfinden . Für Senta , die Reitstunde mit Irmgard von Buschen zusammen hatte , existierte überhaupt nichts anderes mehr als " Tacky " , ihr graubraunes Reitpferd . Allenfalls konnte sich daneben noch Irmgards Vetter , der lustige Leutnant Erwin von Treuenfels , ihr getreuer Kavalier im Tattersall , behaupten . Papa hatte ihr mit Tacky , den sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag erhielt , den heißesten Wunsch ihres Lebens erfüllt . Auch Olly sollte ein Reitpferd bekommen . Aber diese hatte den Vater gebeten , davon Abstand zu nehmen , und ihr lieber das Geld , das der Gaul wohl kosten würde , zu geben . " Nanu , Mädel , ich habe ja gar nicht gewußt , daß ich solche geldgierige Tochter habe , - willst du Schätze scheffeln ? " hatte Papa amüsiert gefragt . Da war Olly mit ihrem langgehegten Wunsch herausgerückt . Baugelände wollte sie kaufen , das hier draußen noch billig war , und darauf ein Arbeiterkinderheim aufführen lassen . " Siehst du , Papa , ich habe jetzt öfters die Familien unserer Arbeiter besucht und Umschau gehalten , ob eine Notwendigkeit dafür vorliegt . Die Kinder sind fast überall , wenn die Eltern in der Fabrik tätig sind , sich selbst überlassen , haben selten warmes Essen , und verwahrlosen ohne Aufsicht . Willst du mir etwas schenken , so gib mir , bitte , die Erlaubnis , von meinem Vermögen die Gelder für solch einen Bau zu nehmen . " Der Kommerzienrat reichte seiner Tochter in stummer Anerkennung die Hand . Auf ihrem Geburtstagstisch aber lag bald darauf die Schenkungsurkunde für soundsoviel Quadratruten Land , das sich an das Fabrikterrain anschloß . Olly war " Großgrundbesitzerin " , wie Wolfgang Steinhardt sie lachend nannte . Ein emsiges Leben und Treiben begann bald auf ihrem Grund und Boden . Brettergerüste wurden aufgeschlagen , auf den Leitern kletterten kalkbespritzte Maurer auf und ab , ihr Hämmern einte sich mit dem Fabrikgetöse . Stein fügte sich auf Stein , das Haus wuchs in die Höhe . Jeden Tag stattete Olly ihrem Bau einen Besuch ab und blickte mit frohen Augen auf das Werk , das den Kindern der Arbeiter zum Segen werden sollte . Sie hatte den Plan für die Verwaltung ihres Kinderheims schon vollständig im Kopf . Morgens früh wurden die noch nicht schulpflichtigen Kleinen hingebracht , und abends nahmen die Eltern sie wieder mit nach Hause . Da wurde ein großer , luftiger Babysaal gebaut für die Allerkleinsten . Selbst weiße Gitterbettchen sollten darin aufgestellt werden , daß die Kinder zur Ruhe gebracht werden konnten . Ein Zimmer war für die Arbeiterwaisen vorgesehen , die ständig im Kinderheim wohnen durften . Dann gab es da einen großen , hellen Spiel- und Arbeitssaal , wo die Kinder nach der Schule ihre Aufgaben machen und spielen konnten , eine Küche , in der nahrhaftes Essen für die blassen Kinder der Armut gekocht wurde , und vor allem einen Garten . Einen ganzen großen . Mit grünen , weiten Rasenflächen , auf denen sich die Kinder tummeln sollten . Apfel- und Birnbäume mußten darin aufgepflanzt werden , Olly hatte die sehnsüchtigen Blicke der Arbeiterkinder zu dem herrlichen Obstgarten des Kommerzienrats nicht vergessen . Die Leitung des Kinderheims behielt Olly sich selbst vor . Aber zur ständigen Aufsicht hatte sie bereits eine junge Lehrerin , eine Bekannte von Katchen Lehmann , verpflichtet . Katchen wollte ihre freie Zeit ebenfalls gern der Freundin für ihr schönes Werk zur Verfügung stellen . Auch einige Seminaristinnen hatte sie schon als Helferinnen dafür gewonnen . Sogar Senta hatte sich herbeigelassen , einen Nachmittag in der Woche ihren Tacky im Stich zu lassen und sich der menschenfreundlichen Aufgabe zu widmen . " Aber die Schmutznäschen wische ich fremden Kindern nicht ! " hatte das elegante junge Fräulein gleich dabei erklärt . Selbst einen Arzt hatte Olly für ihr Kinderheim schon in Aussicht . Freilich vorläufig nur einen angehenden . Rudi , der jetzt in Berlin studierte , trug bereits seine erste Anstellung in der Tasche . Wolfgang Steinhardt zeigte warmes Interesse für Ollys edles Unternehmen . Er hatte ihr das Technische , das sie nicht beherrschen konnte , abgenommen , mit dem Architekten und den übrigen Fachleuten unterhandelt . Sie war ihm von Herzen dankbar dafür . Trotzdem wußte sie es einzurichten , daß sie so selten wie möglich mit ihm , der auch täglich auf dem Bau nach dem Rechten schaute , bei der Besichtigung zusammentraf . Zu Ostern hatte die Hildebrandtsche Maschinenfabrik eine Umwälzung erfahren . Der Kommerzienrat , der sich noch immer schonen mußte , hatte Wolfgang Steinhardt als Teilnehmer aufgenommen . Olly glaubte bestimmt , daß diese Veränderung die Vorbotin einer ebensolchen innerhalb ihres Familienlebens bedeutete . Täglich war sie darauf gefaßt , Sentas und Wolfgangs Verlobung zu erfahren . Ein wonniger Maitag blaute über dem in voller Frühlingsblüte stehenden Garten . Die großen weißen und rötlichblauen Syringenbüsche strömten betäubenden Duft aus . Die unter ihrer blumigen Last tief niederhängenden Zweige des Rotdorns bildeten purpurne Heckenwege , und die Obstbäume hatten sich in schneeige Blütenschleier gehüllt . In den Büschen jubilierten die Amseln , als wollten sie mit ihrem Sang das Rasseln und Hämmern , das aus den Maschinensälen erschallte , übertönen . Ollys Balkon glich einer Blumenlaube . Tiefblaue Klematisglocken schaukelten leise im Maienwind über dem dunklen Mädchenscheitel . Olly sah zu ihrem Kinderheim hinüber . Das Haus war fertig . Mit seinem funkelnagelneuen weißen Sandsteinkleid , mit den grünen Fensterläden grüßte es seine junge Besitzerin gar freundlich und hoffnungsfroh . Morgen sollte die Einweihung stattfinden . Trotzdem schauten Ollys Augen nicht so freudig drein , wie sie es eigentlich hätten tun müssen . Ihr Herz stimmte nicht in den Frühlingsjubel des Wonnemonats ein . Irgendeine Vorahnung , die sie nicht in Worte zu fassen vermochte , lag ihr schwer auf der Brust . Drunten im Garten machte Bubi jauchzend seine ersten Gehversuche . Über ihrem Haupte segelten in weitem Bogen die glückbringenden Schwalben . Glück . - Olly verzog wehmütig den roten Mund . Aber gleich darauf sprach sie kopfschüttelnd zu sich selbst : " Nicht undankbar werden , Olly , du hast nur Grund , froh und zufrieden zu sein ! " Doch aller Philosophie zum Trotz stahl sich ein leiser Seufzer aus der jungen Brust . In das gemeinsame Zimmer trat Senta mit heißen Wangen und gewehtem Blondhaar . Sie kam soeben von einem Spazierritt nach Hause und war noch im Reitkleide . Sie warf die Gerte auf den Tisch , schleuderte die Handschuhe daneben und trat zu Olly hinaus . " Na , war_es schön , Sentchen ? " Olly wandte sich der Schwester zu . Diese nickte . Ihre Wangen schienen sich noch tiefer zu färben . Dann schlang sie plötzlich in jäher Erregung die Arme um den Hals der Älteren und lehnte aufschluchzend den Blondkopf an ihre Schulter . Erschreckt umfing Olly die Fassungslose . Senta , das Sonnenkind , weinte , was hatte das zu bedeuten ? Da aber hob sie schon das Haupt , und wie nach einem Frühlingsregen lachte aus ihren vergißmeinnichtblauen Augen bereits wieder Sonnenschein . " Olly - es soll zwar heute noch keiner wissen - er will morgen abend erst zu Papa kommen - aber dir muß ich es sagen - ich bin ja so unmenschlich glücklich ! " Mechanisch streichelten Ollys Hände das weiche Blondhaar . Wie ein eisiger Strom hatte es sich bei Sentas heißen Worten durch ihre Adern ergossen . Es war ihr , als ob ihr Herz plötzlich still stand . Jetzt kam es , das Vorhergeahnte ! " Du - hast dich - verlobt ? " Wie aus weiter Ferne drangen Olly ihre eigenen Worte ins Ohr . Senta nickte in heißem Erröten . " Wir sind uns schon lange gut . . . " Olly brachte ihr törichtes , dummes Herz mit Gewalt zum Schweigen . Sie drückte die Schwester an sich . " Mögest du recht , recht glücklich werden mit ihm - und ihn ebenso glücklich machen ! " sagte sie leise . Ihre Stimme gehorchte ihr nicht weiter . " Glaubst du , daß Papa nichts dagegen haben wird ? Er ist noch so jung - - - " " Ich denke , daß du ihm keinen lieberen Schwiegersohn zuführen kannst , Senta , und so jung ist er doch schließlich nicht , er ist ja über seine Jahre ernst " , Ollys Stimme klang noch weicher als sonst . " Ernst - " Senta lachte hell auf . " Ich glaube , er hat noch nie ein ernsthaftes Wort mit mir gesprochen , selbst heute beim Antrag nicht . Wenn nur der Dienst nicht wäre , er ist fast den ganzen Tag in Anspruch genommen , wir werden wenig von unserer Verlobungszeit haben " , meinte Senta , das Reithütchen aus dem Goldhaar lösend . " Papa ist ja kein Tyrann , er wird schon ein Einsehen mit euch haben und ihn mehr entlasten " , tröstete Olly . " Papa - wie kommt denn Papa dazu , der ist doch nicht sein Vorgesetzter - - - " " Jetzt freilich nicht mehr , seitdem er sein Sozius geworden , aber - - - " " Um Himmels Willen , Olly , von wem sprichst du denn eigentlich ? " Senta starrte die Schwester mit weit aufgerissenen Augen an . " Von Wolfgang Steinhardt , deinem Verlobten - " " Von Wölfchen - hahahaha - - - " Senta brach in ein helles Lachen aus . Jetzt war es an Olly , die Schwester mit weit aufgerissenen Augen anzustarren . " Senta - ich verstehe dich nicht - was bedeutet das - - - " " Das bedeutet , daß ich mich mit Leutnant Erwin von Treuenfels verlobt habe - du Schäfchen - und nicht mit Wolfgang Steinhardt - Wölfchen , hahahaha - der Gedanke ist zu komisch ! " Olly mußte nach dem neben ihr stehenden Stuhl greifen . " Er - er wird sehr unglücklich werden durch deine Verlobung - er hat dich sicher lieb ! " sagte sie dann mit tonloser Stimme . Kein Gefühl der Freude wallte in ihr auf , nur grenzenloses Mitleid mit dem enttäuschten Freunde . " Wölfchen mich lieb - " Senta begann aufs neue zu lachen - " na ja , wie Rudi und Herbertchen mich auch lieb haben , nicht 'ne Spur anders ! Liebe schaut anders aus , komme du erst in meine Jahre ! " Übermütig wollte sie die Schwester auf dem schmalen Balkon herumwirbeln . Aber die machte sich frei . " Laß mich , Senta , du siehst in deinem jubelnden Glück nicht die am Wege Weinenden . Mir tut Wolfgang schrecklich leid - - - " " Weißt du was , dann nimm du ihn , Olly ! " unterbrach Senta sie in ihrer impulsiven Art . " Für dich paßt er auch viel besser - " sie konnte nicht weiter sprechen , der Schwester Hand legte sich ihr gebieterisch auf den die Worte heraussprudelnden Mund . " Rede ' keinen Unsinn ! " Senta sah der vom Balkon Gehenden verdutzt nach . Nanu - es war doch nur ein Scherz gewesen - Olly pflegte doch längst nicht mehr eine harmlose Neckerei krumm aufzunehmen ! Olly tat in dieser Nacht kein Auge zu . Wie sie sich hingelegt , erhob sie sich wieder . In ihr stand es fest , daß Senta im Begriff war , das Lebensglück des Freundes zu zertrümmern . Als der junge Morgen ins Fenster lugte , war sie mit sich im reinen . Sie selbst wollte Wolfgang Steinhardt von Sentas Verlobung Mitteilung machen , in zarter , schonender Weise , es nicht dem jähen Zufall überlassen , ihm grausam die Kunde zuzutragen . Papa blickte seine junge Sekretärin , die heute aus übernächtigten Augen schaute , prüfend an . " Du siehst angegriffen aus , Kind , wir wollen unsere Arbeit heute lassen , es liegt nichts Dringendes vor . Gehe ein paar Stunden spazieren , daß du nachmittags zu deiner Einweihung frisch bist " , sagte er gütig . Olly nahm dankbar Papas Vorschlag an . Es wäre ihr heute schwer geworden , ihre Gedanken zu konzentrieren . Wolfgang Steinhardt hatte als Teilhaber der Fabrik jetzt sein eigenes Privatzimmer . Als Olly es mit scheuem Gruß durchschritt , hielt er sie an . " Sie sehen heute so bleich aus , Fräulein Olly , sind Sie krank ? " fragte er besorgt . Sie schüttelte stumm das Haupt . Einen Augenblick schwankte sie . Sollte sie es ihm jetzt gleich sagen ? Nein - nein , sie brachte es nicht über sich , den tödlichen Streiche gegen sein Glück zu führen . Leutnant von Treuenfels wollte erst gegen Abend zu Papa kommen , inzwischen fand sie wohl noch einige Minuten Zeit , mit Wolfgang zu sprechen . Die kosende Maienluft tat ihrem schmerzenden Kopf wohl . Mit helleren Augen und zartgefärbten Wangen erschien sie bei Tisch . Papa war mit ihr zufrieden . Sie fand jetzt keine Zeit mehr , ihren Gedanken nachzuhängen . Es gab noch allerlei im neuen Haus zum Empfang ihrer kleinen Schützlinge zu rüsten . Die Fabrik hatte der Einweihung zu Ehren einen freien Nachmittag . Um vier Uhr waren die Eltern mit ihren Kindern hinbestellt . Olly schritt im weißen Sommerkleide ihrem neuen Reich zu . Die Goldbuchstaben über dem Eingange " Arbeiter-Kinderheim " blitzten und funkelten in der Maisonne . Mit zufriedenem Auge durchwanderte Olly die vor Sauberkeit leuchtenden Räume . Hier würde manch verkümmertes Menschenblümchen aufleben und erstarken . Ein frohes Gefühl überkam sie . In der Küche war die neue Köchin damit beschäftigt , einen großen Kübel Schokolade zu kochen . Die Kinder sollten eine schöne Erinnerung an die Einweihung ihres Heims behalten . Auf den niedrigen Tischen in dem Arbeits- und Spielsaal stand vor jedem Platz ein blauer Emaillmilchbecher . Olly schnitt von Riesennapfkuchen für jedes Kind zwei Stücke und legte sie neben die Becher . Die Familie des Kommerzienrats war vollständig versammelt . Auch Wolfgang Steinhardt nahm an der Einweihung Teil . Er schritt mit bewunderndem Blick durch die ebenso praktischen , hygienischen , als auch dem Auge wohltuenden Räume . Was Olly hier geschaffen , trug den Stempel ihrer vollgültigen Persönlichkeit . Der junge Ingenieur fuhr sich mit der Hand lockernd in den Halskragen . Der Gedanke an das , was er sich für diesen Tag vorgenommen , beengte ihn . Er wollte heute mit Olly sprechen . Ihr offen seine Neigung gestehen - er mußte endlich Gewißheit haben ! Dieses feige Versteckspielen ertrug er nicht länger , entweder - oder ! Der heutige frohe Festtag , ihr ganz besonderer Ehrentag , schien ihm dafür günstiger als jeder andere . Die Fabrikuhr schlug vier . In langen Scharen zogen die Arbeiter in sonntäglichen Kleidern dem Heim , das ihnen edle Menschenfreundlichkeit errichtet , zu . Einige achtzig Kinder waren für den Anfang gemeldet . An der Schwelle des neuen Hauses empfing Olly , in ihrem weißen Gewande wie eine gütige Fee anzuschauen , mit schlichtfreundlichem Gruß die Eintretenden . Die Kinder nahmen ihre Plätze auf den Bänken ein , die Eltern ringsum Aufstellung . Aus jungen , frischen Kehlen erklang es : " Unseren Eingang segne Gott . " Dann sprach Olly einige warm empfundene Worte , daß heute sich der größte Wunsch ihres Lebens erfüllt habe , und wie sie hoffe , daß sich die Kinder in ihrem Heim wohl fühlen würden und dort zu braven , pflichtgetreuen Menschen heranwachsen . Während ihrer Rede dachte wohl so mancher der Arbeiter daran , daß der junge Mädchenmund schon einmal zu ihnen gesprochen in den Tagen der Gewalttat und der Empörung , und wie sie heute Böses mit Gutem an ihnen vergalt . Die Gefühle der Treue gegen ihren Herrn und sein Haus erstarkte dieser Augenblick . Es war eine Lust , zu sehen , wie es den Kleinen zum erstenmal in ihrem Reich mundete . Das schleckte und leckte , stopfte und schlürfte , allenthalben sah man braune Schokoladenbärte in frischen Kindergesichtern . Da wich der Druck , der auf Olly lastete , und sie war froh und heiter mit den Kleinen . Aber als die Napfkuchenreste unter den Arbeiterfamilien verteilt , als das letzte " Vielen Dank ooch , jnädiges Fräulein ! " verklungen war , legte es sich wieder wie ein Zentnergewicht ihr auf die Seele . Die Mutter war zu Bubi geeilt , Senta hatte sich in Papas Arm gehängt , um ihn auf den bevorstehenden Besuch vorzubereiten , Rudi , der Studio , mußte heute noch zu einer Fuchstaufe , und Herbertchen sich mit dem lateinischen Ablativ anfreunden . Das neue Haus leerte sich . Wolfgang brauchte keine Furcht zu haben , daß Olly ihm heute wieder entwischen würde . Sie wartete auf ihn . An seiner Seite schritt sie durch den im brennenden Abendkuß rosig erglühenden Frühlingsgarten . Keiner sprach . Keiner wagte von dem , was ihm am Herzen lag , zu beginnen . Die duftigen Blüten streiften ihre Stirn . Die Vöglein flogen zum Nest . Sie standen unter dem Reinettenbaum . " Ich muß mit Ihnen sprechen " , hob Wolfgang da plötzlich an , seine Stimme klang seltsam in die Abendstille hinein . Olly atmete auf . Gott sei Dank - wenigstens noch eine kurze Galgenfrist ! Sicher wollte er mit ihr die Abrechnung des Neubaues durchgehen . " Sie sprachen vorhin zu den Arbeitern davon , daß der heutige Tag Ihnen den größten Wunsch Ihres Lebens erfüllt habe , Fräulein Olly . Vielleicht bringt er auch meinem heißesten Lebenswunsche Erfüllung - - " er machte erregt eine Pause . Olly preßte die Hände auf das erregt schlagende Herz . Wollte er jetzt mit ihr von Senta sprechen ? " Sie müssen es längst schon gemerkt haben , daß ich Sie liebe , daß ich keinen anderen Gedanken mehr habe , als Sie zu besitzen - Olly , können Sie mir kein Wort der Hoffnung geben ? " Tief hatte sich das dunkle Mädchenhaupt gesenkt . Ollys uneigennütziges Fühlen bezog das " Sie " ganz selbstverständlich auf die Schwester - es war ja nicht das erstemal in ihrem Leben , daß sie abseits stand - heute vom Glück . Wenn sie nur ihm hätte das Weh ersparen können ! Sie kam sich vor wie der Henker , der Leben und Tod in seinen Händen hält . Sie blickte in die zartduftige Blütenpracht des Apfelbaumes . Hier hatte sie schon einmal die schwerste Stunde ihres Daseins durchlebt . " Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen , Wolfgang " , sagte sie mit weicher , tränenverschleierter Stimme . In diesem Augenblick des Mitleids kam ihr der vertraute Name der Kinderzeit wieder auf die Lippen . Er erbleichte . Sie legte sanft die Hand auf seinen Arm . " Senta liebt einen anderen , sie - " " Senta , was frage ich in dieser Stunde nach Senta ! An dich nur denke ich , Olly , von dir will ich wissen , warum du mich mit meiner großen Liebe abweist - sage , hast du mir noch immer nicht verziehen ? " " Mich - mich - das häßliche junge Entlein - ich glaubte Senta - - - " sie kam nicht weiter . Wolfgangs Arme umfingen sie , seine Lippen preßten sich auf die kleine rote Narbe an ihrer Stirn . " Mein Schwan - mein schöner , edler Schwan ! " Und der alte Reinettenbaum ließ seinen bräutlichen Blütenregen herniederrieseln auf das glückliche junge Paar .