Erster Teil Schloß Nevershuus lag grau und schwerfällig unter hohen Bäumen mit seinen breiten Seitenflügeln und dem viereckigen Turm , der kaum das Dach überragte . Aber von seiner Plattform aus konnte man weit über Meer und Heide sehen und auf die kleine Küstenstadt hinunter , die sich zwischen Deichen und grünen Wiesen hinzog . In früheren Zeiten sollte es einmal irgendeiner schlimmen Fürstin als Witwensitz gedient haben - von daher stammten wohl die altersschwarzen Ölbilder droben im Rittersaal und allerhand Spukgeschichten , die immer noch im Volksmund fortlebten , obgleich das Gut jetzt schon lange im Besitz der Familie Olestjerne war und die gemalten Damen mit ihren feierlichen Mienen auf die Schicksale und das Treiben einer anderen Zeit herabsahen . Es konnte immer noch einen melancholisch unheimlichen Eindruck machen , das alte Schloß , wenn die Herbststürme durch alle Kamine heulten wie geängstigte arme Seelen , oder wenn der Nebel vom Meer heraufstieg und alles in seine wogenden grauen Schleier einhüllte . Aber es hatte auch seinen Frühling und seinen Sommer , wo die Sonne alles Düstere aus den weiten hohen Räumen herausleuchtete , wo der reiche grüne Garten um die grauen Mauern blühte und drüben in der Ferne das Meer blau und schimmernd dalag . Für die Bewohner von Nevershuus ging die schöne Jahreszeit ebenso still und gleichförmig hin wie der Winter . Der Gutsherr Christian Olestjerne war meist draußen im Felde oder auf der Jagd , und seine Frau saß mit ihrer ältesten Tochter am Steintisch unter den Buchen , wenn sie nicht in Küche und Vorratskammer zu tun hatten . Die Freifrau Anna Juliane war eine schöne , stattliche Frau mit raschen , dunklen Augen und eiserner Tatkraft - von früh bis spät auf den Beinen , um überall nach dem Rechten zu sehen . Aber dabei hatte sie nichts Leichtes in ihrer Art , das Leben zu nehmen , es türmte sich alles vor ihr auf wie ein Berg , über den sie nie hinaussehen konnte - die Wirtschaft , der große Haushalt , die Kinder , tausend Dinge , die täglich zu tun und zu überlegen waren und ihr beständig im Kopf herumgingen . Seit ihre Älteste erwachsen war , hatte sie nun wenigstens jemand , mit dem sie das alles teilen und beraten konnte , während sie des Vormittags im Garten saßen , Wäsche ausbesserten oder Obst zum Einkochen schälten . Wenn nur das Heu von den Strandwiesen hereinkäme , ehe es wieder Regen gab und alles zugrunde ging wie im vorigen Jahr - Gott weiß , der Vater hatte diesen Frühling schon genug Ärger gehabt ; das durfte nicht noch dazu kommen . Wie lange würde sich Nevershuus überhaupt noch halten lassen , bei all den mißlichen Verhältnissen . " Ach Mama " , sagte dann wohl Marianne in ihrer ruhigen Weise , " quäl ' dich doch nicht darum , es hat ja noch Zeit bis zur Heuernte . " Aber die Mutter war schon längst wieder bei anderen Gedanken - ob Marianne meinte , daß das neue Kindermädchen zuverlässig sei ? Ellen und Detlev waren in letzter Zeit gar so unbändig , und sie hatte jetzt doch nur die beiden Kleinen zu hüten . Und wie würde es Erik nun wohl auf der Schule gehen - mit Kai wollte es ja immer noch nicht recht vorwärts , und vor allem war seine Gesundheit eine rechte Sorge . Ja , Sorgen überall , und Sorgen mußten ja sein . Es war ein Wort , das die Freifrau häufig gebrauchte , und wenn sie dabei angekommen war , konnte sie so aus tiefster Seele heraus seufzen . Dann fiel ihr plötzlich wieder ein , daß sie versäumt hatte , irgend etwas anzuordnen , und sie ging mit ihrem raschen Schritt ins Haus hinein , um es nachzuholen . Manchmal seufzte Marianne dann im stillen mit : die Mutter ließ sich und anderen wenig Ruhe , und ihre rastlose Lebhaftigkeit hatte beinahe etwas Aufreibendes - es war keine Kleinigkeit , ihr immer das Gleichgewicht zu halten , besonders , wenn sie sich in Taten umsetzte . Mochten nun die Dienstboten etwas versehen haben , die Jungen mit schlechten Zeugnissen heimkommen , oder die Kleinen irgendein Unheil anrichten - immer war es Marianne , bei der sie Zuflucht suchten , die alles ausgleichen und vermitteln sollte . So atmete sie meist erleichtert auf , wenn der stürmische Vormittag vorüber war und die Mutter sich nach Tisch mit einem Buch ins Wohnzimmer zurückzog . Für Marianne kamen dann die besten Stunden des Tages , wo sie dem Vater bei seinen Schreibereien half , oder ihn bei seinen Rundgängen auf dem Gut begleitete . Auch die jüngeren Geschwister wußten diese häusliche Nachmittagsruhe nach Kräften zu genießen . Es war die Zeit , wo sie ungestört allen möglichen verbotenen Unternehmungen nachgehen konnten - den alten Gärtner drüben im Nebenhaus besuchen , wo sie Kaffee bekamen und an seinen langen Pfeifen rauchen durften , oder die Dorfkinder , die schon lange wartend am Gitter standen , hereinlassen und mit ihnen am Graben Brücken bauen und Schiffe schwimmen lassen . Das Kindermädchen hatte noch zu tun , und wenn Erik dabei war , ließ man die Kinder ruhig eine Zeitlang ohne Aufsicht . Ellen folgte dem älteren Bruder durch dick und dünn und zog den kleinen Detlev an der Hand hinter sich her . Mit vereinter Anstrengung bekamen sie ihn über alle Gitter und Schwierigkeiten weg , und wehe ihm , wenn er schrie oder sie verklagte . In diesem Sommer war das Nachmittagsglück nicht mehr so ungetrübt wie früher , denn seit Erik zur Schule ging , wurde er hochmütig , fing an , Ellen , die sonst seine unzertrennliche Gefährtin war , zu verachten , um sich zu den Großen zu rechnen . Sie hatte jetzt manches auszustehen - zuweilen fiel es ihm ein , ihr Unterricht zu geben , sie sollte ihm Geschichten nacherzählen oder Buchstaben in den Sand schreiben , und lehnte sie sich im Gefühl ihrer Ohnmacht dagegen auf , so wurde sie einfach übergelegt und durchgeprügelt . Manchmal kam dann Lise , das Kindermädchen , ihr zu Hilfe : " Laß doch Ellen in Ruhe , was hat sie dir getan ? " " Da brauchst du dich gar nicht hineinzumischen " , sagte Erik überlegen . " Mama ist immer sehr strenge mit Ellen , und wenn sie nicht da ist , muß ich Ellen verhauen , damit sie sich nichts einbildet . " Im ganzen war das Mädchen recht froh , ihn jetzt für einen Teil des Tages los zu sein ; wenn er wieder zur Schule war , ging sie mit den beiden Kleinen auf die einsame Graskoppel hinter dem Garten , wo Owe Jensen , der lange blonde Knecht , arbeitete . Und die ganze Gesellschaft war dann sehr vergnügt , Owe ließ seine Arbeit liegen und wanderte mit Lise langsam die breiten , grasüberwucherten Wege entlang , während die Kinder Hand in Hand hinterdrein trottelten . Zuweilen brachte er auch seinen Freund mit ; das war Lise zuerst nicht ganz recht gewesen , denn Klaus Sörens war eine Art Räuberberühmtheit in der Umgegend und erst vor kurzem aus dem Zuchthaus entlassen . Aber allmählich fand sie , daß es auch seine Vorteile hatte , wenn er mitkam . Dann konnte sie ungestört mit Owe im Gras liegen und brauchte sich nicht um die Kleinen zu bekümmern . Detlev bekam einen schönen , weichen Platz , wo er schlief oder mit den Beinen im Sonnenschein strampelte , und der Zuchthäusler spielte mit Ellen . Sie liebte ihn leidenschaftlich und war selig , wenn er mit ihr herumjagte oder ihr Blumen und Erdbeeren pflückte . Man hatte ihr wohl eingeschärft , nichts davon zu erzählen , und das tat sie auch nie . Bei Lise und ihren Freunden fühlte sie sich viel wohler wie zu Hause , denn Mama und Prügel kriegen waren so ziemlich die ersten Begriffe , die ihr Bewußtsein zu fassen vermochte und die für sie in eins zusammenfielen . Die kleine Ellen hatte schon frühzeitig ein dunkles Gefühl davon , daß sie mit dem linken Fuß auf die Welt gekommen sein mußte . Sie war ein etwas schwächliches , zurückgebliebenes und dabei scheues , trotziges Kind , an dem niemand besondere Freude hatte , und das zwischen den beiden Brüdern nicht recht zur Geltung kam . Eigentlich war sie überflüssig und wurde fortwährend hin und her geschoben . Wenn Erik ihre Gesellschaft wünschte , durfte sie mit zu Nachbarskindern oder Besuchen , wußte er nichts mehr mit ihr anzufangen , so wanderte sie wieder in die Kinderstube . Und er konnte sie nur brauchen , solange sie sein willenloses Werkzeug und Echo war , Löcher wühlte , wo er Bäume pflanzen wollte , ihm die Bälle aufsammelte oder auch nur dabeistand und seine Taten bewunderte . Aber mit der Zeit bekam sie ihren eigenen Kopf , wurde eigensinnig und ungefällig und wandte sich immer mehr dem kleineren Bruder zu . Im Grunde fuhr sie dabei noch schlechter wie früher , denn war schon Erik verzogen und bewundert , so wurde Detlev , das goldhaarige Jüngste , vom ganzen Hause vergöttert und stellte sie völlig in den Schatten . Dazu kam noch , daß sie jetzt die Ältere war und für alles , was sie zusammen verbrachen , die Verantwortung zu tragen hatte . Ellen kam allmählich zu dem Schluß , es läge alles nur daran , daß sie ein Mädchen war ; das bekam sie ja unzählige Male zu hören : Kleine Mädchen dürfen nicht so wild sein - kleine Mädchen klettern nicht auf Bäume - kleine Mädchen müssen ihre Kleider schonen - diese verwünschten rosa und weißen Kleider , die sie zu Tisch anbekam und die immer gleich zerrissen oder schmutzig waren . Manchmal klagte sie dann verzweifelt dem Mädchen ihr Leid : " Wenn ich doch nur ein Junge wäre ! " Und Lise tröstete sie : " Warte nur , bis du sechs Jahre alt bist , dann wirst du einer . " Der sechste Geburtstag kam und brachte ihr die erste , schwere Enttäuschung . Als sie aufwachte , wollte sie Kleider von Erik anziehen , denn jetzt war sie doch ein Junge und wollte auch verzogen und bewundert werden . Aber sie wurde nur entsetzlich ausgelacht , selbst der Vater lachte mit , und dann erfuhr sie , daß sie immer ein Mädchen bleiben müßte . An dem Tage konnte Ellen sich über nichts mehr freuen . Dafür war sie nun sechs Jahre alt und sollte anfangen , lesen zu lernen , neben Mama auf der grünen Gartenbank stillsitzen mit den schrecklichen Buchstaben vor sich , die man nie behalten konnte . Die Buchen waren eben erst grün geworden , die Luft voller Bienensummen und sommerlichem Gezwitscher . Das machte Ellen so zerstreut , daß es mit dem Lesen durchaus nicht gehen wollte . Drüben schaufelte Detlev in dem großen , weißen Sandhaufen , jeden Augenblick schielte sie sehnsüchtig zu ihm hinüber . Aber die Mutter ließ nicht aus , sie nähte und schalt , während Ellen wahre Fieberphantasien buchstabierte . Fast regelmäßig endete es mit Klapsen und Tränen , und dann kam das Allerschlimmste : der lange , graue Strumpf , an dem sie zur Strafe stricken mußte , - der Strumpf , der nie ein Ende nahm und auf den viele , viele Tränen hinunterliefen , während Detlev im Sand spielte und die Sonne schien . War Ellen dann endlich entlassen , so ließ die Mutter einen Augenblick ihre Näherei sinken und seufzte : " Es ist doch wirklich ein Kreuz mit dem Kind ! " Gegen Ende des Sommers wurde der fünfzehnjährige Kai schwer krank . Die Mutter war Tag und Nacht bei ihm , und die anderen Kinder bekamen sie kaum mehr zu sehen . Marianne mußte für den Haushalt sorgen , und so gab es einmal wieder Freiheit , denn diese hatte alle Hände voll zu tun und konnte sich nicht viel um die Kleinen kümmern . Während dieser Zeit schlief auch Ellens Unterricht fast ganz ein , statt dessen entstand ein erbitterter Wettkampf zwischen Erik und ihr , wer die schönsten Teufel zeichnen könnte . Da kam eines Tages Mariannes Freundin Hedwig Janssen dazu , die eine Pastorentochter war , und sagte mit ihrer etwas heiseren Stimme : " Du solltest doch den Kindern verbieten , immerfort Teufel zu malen , ich finde es wirklich nicht recht . " Marianne verbot es , und nun hatte das Zeichnen allen Reiz verloren . Abends lag Ellen lange wach im Bett , drüben am Tisch saß das Kindermädchen und nähte . " Du , Lise , wer ist eigentlich der Teufel ? " " Warum willst du das wissen ? " " Weil Hedwig gesagt hat , es wäre nicht recht , wenn wir ihn immer zeichneten . " Lise versuchte ihr zu erklären : Ein böser Geist , von dem alles Schlimme herkam und der große Macht besaß . Das Kind setzte sich im Bett auf und horchte gespannt . Zuletzt erzählte Lise ihr die Geschichte von einem Mann , der sich dem Teufel verschrieben hatte mit Leib und Seele . Dafür bekam er alles , was er wollte , aber zuletzt , als er sterben sollte , erschien der Böse , um ihn zu holen , und er mußte mit in die Hölle . " So , aber jetzt sollst du schlafen , Ellen . " Kais Krankheit dauerte sehr lange , und selbst die Kleinen fühlten die trübe , lastende Stimmung , die über dem ganzen Hause lag . Sie suchten sich alles mögliche auszudenken , was ihm Freude machte , denn sie hatten ihn alle sehr lieb . Kai wollte Naturforscher werden , sein ganzes Zimmer war voll von Steinen , Schmetterlingen , ausgestopften Vögeln , und hinten im Garten stand ein verdorrter Baum , wo er tote Tiere für seine Skelettsammlung aufhängte . Was die Geschwister jetzt an verendeten Katzen , ertränkten jungen Hunden und anderem Getier fanden , kam an den Baum , und sie freuten sich heimlich auf die Überraschung , wenn er wieder aufstand . Aber Kai stand nicht wieder auf - - die Großen wußten es schon lange , daß er sterben mußte . Mama war blaß , sie hatte tiefe Ringe um die Augen und schalt nicht mehr so viel , und der Vater sprach kaum ein Wort . Eines Vormittags spielten die beiden Jüngsten im Garten . Seit dem Frühstück hatten sie niemand von den anderen gesehen , und unten im Schloß war alles still . Gegen Mittag kam Erik aus dem Haus , er setzte sich auf die eiserne Treppe , und Ellen hörte , daß er laut weinte . Sie rannten zu ihm hin und quälten ihn mit Fragen , aber er schluchzte nur immer lauter . " Kai ist tot ! " Tot - Ellen empfand nur einen furchtbaren Schrecken , ein Gefühl von kalter , beklemmender Angst , wie sie es noch nie am hellen Tage gehabt hatte . Sie klammerte sich fest an Erik und weinte entsetzt mit . Detlev wurde auch bange , er wußte nicht , was das alles bedeuten sollte , und rief laut nach Mama . Stadt dessen kam die alte Stina heraus , ihr Gesicht war ganz verstört und zusammengefallen - die Kinder hatten sie noch nie in Tränen gesehen . " Ihr müßt ganz ruhig sein , ihr könnt jetzt nicht zu Mama . " Dann ging sie mit ihnen durch den Garten . Sie saßen am Abhang dicht beim Schloßgraben , und Stina und Erik sprachen darüber , ob Kai wohl in den Himmel gekommen sei : ja , gewiß war er das - Kai war ja ein so guter Junge , hatte so viel gebetet , noch in den letzten Tagen - denn er wußte ja selbst , daß er nicht wieder gesund würde . Ellen hörte schweigend zu : wie konnten sie das so sicher wissen - und wie war es wohl im Himmel ? Sie wußte sich nichts darunter vorzustellen , und dann kamen andere bange Gedanken : wenn sie selbst stürbe - sie käme gewiß nicht in den Himmel , weil sie so schlecht war . Später kam Marianne und holte die Kinder ins Wohnzimmer . Dann gingen alle zusammen hinauf . - Alles war so still und unheimlich , Kai lag im Bett wie sonst , wie er die ganze Zeit dagelegen hatte , nur etwas blasser und mit gefalteten Händen . Ellen hatte ihren Vater an der Hand gefaßt ; es war so sonderbar und so schrecklich , daß die Erwachsenen alle weinten und daß Kai wirklich tot war . Und wie konnte er im Himmel sein , wenn er doch hier tot auf dem Bett lag ? Die Mutter wußte den Tod ihres ältesten Jungen kaum zu verwinden . Lange Zeit hindurch war sie leidend und schwermütig und konnte es nicht ertragen , die Kinder viel um sich zu haben , die immer wieder von Kai sprachen und nach ihm fragten . So wurde für die beiden Kleinen eine Gouvernante ins Haus genommen , und Ellen bekam nun regelmäßige Stunden , Tag für Tag , unerbittlich . Sie mochte immer noch nicht lernen , und es wurde ihr bitterschwer stillzusitzen . Einförmig liefen die Tage hin unter vielen Tränen und ewigem Nachsitzen . Als Detlev größer wurde , fing er an mitzulernen ; er war auffallend begabt und hatte die Schwester bald eingeholt . Man wurde sich nun darüber klar , daß Ellen wirklich dumm sei , und sie tröstete sich selbst damit : ich kann nun einmal nicht lernen . Aber im ganzen war Fräulein Anna gutmütig und hatte viel Geduld . Sie kam bald dahinter , daß Ellen für freundliche Worte zugänglicher war wie für Schelte , und sie vertrugen sich ganz gut miteinander . Das Kind fühlte sich wie geborgen , wenn es nur dem Bereich der Mutter entfliehen konnte - mit Mama war es beständig , als ob man auf Eiern tanzte , jeden Augenblick ging eins kaputt . Wenn sie sich alle Mühe gab , nicht ungezogen zu sein , tat sie unfehlbar irgend etwas , was verboten war oder sich für ein kleines Mädchen nicht schickte . Öfters waren es allerdings auch schwerere Verbrechen , wo Ellen sich schuldig fühlte ; aber um Verzeihung bitten und Reue zeigen waren Dinge , die sie nicht über sich gewann , wenn Mama böse war . So war sie eines schönen Tages mit Detlev verschwunden , und stundenlang wurde nach den beiden Kindern gesucht . Gleich nach Mittag waren sie in den Garten gelaufen und von da auf die Koppeln . Drüben auf der " Freiheit " war Schützenfest , die Musik und die vielen Leinwandzelte lockten unwiderstehlich . Über den Wall , der nach dieser Seite hin das Gut abgrenzte , durften sie nicht hinaus , es war streng verboten , aber Ellen hatte bei dem verlangenden Hinüberschauen alles vergessen . Sie kletterte hinüber und wagte sich mit Detlev an der Hand in das Gewühl . Vor einer Schießbude traf sie ihren alten Freund Klaus Sörens , und das Wiedersehen erfüllte sie mit großer Seligkeit . Er kaufte ihnen Lebkuchenherzen , ließ sie Karussell fahren und zeigte ihnen alles , was zu sehen war . Besonders von den Seiltänzern waren sie nicht wieder wegzubringen , denn da waren fünf kleine Jungen , die sich in der Luft überschlugen und auf Kniestelzen tanzten . Neben dem Zelt stand ein grüner Wagen mit Blumenstöcken in den Fenstern - darin wohnten sie , sagte Klaus , und fuhren von einem Ort zum anderen . In Ellen zuckte es förmlich - wie mußten die glücklich sein ! Die ganze übrige Welt war für sie versunken und vergessen ; es war nur gut , daß Klaus sie schließlich nach Hause schickte . Und nun kam ein jäher Sturz aus allen Himmeln . Vor der Gartentür stand Mama : " Um Gottes Willen , wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt ? " Detlev war so begeistert , daß er sich gleich verschwätzte , und Ellen sah ein , daß lügen nichts half . Aber erzählen wollte sie auch nicht , es war nichts aus ihr herauszubringen , nicht einmal mit Schlägen . Wie immer , mußte sie selbst die Rute holen , die unter dem Klavier auf einem niedrigen Notenpult lag . Während sie in das Halbdunkel unter dem Instrument hinein kroch , tanzten immer noch die bunten Bilder von der " Freiheit " vor ihren Augen . Dann ließ sie die Strafe über sich ergehen und bis die Zähne zusammen , um nicht zu schreien . Den Triumph sollte Mama nicht haben , die jedesmal ganz außer sich geriet über diesen stummen Eigensinn . Für den Rest des Tages wurde Ellen in die Kinderstube geschickt . Das Mädchen war ausgegangen , sie saß ganz allein in einer Ecke und sann Rache . Sie war wütend auf Detlev , der nie den Mund halten konnte - und daß immer alles Schöne verboten war - und Mama - nicht einmal die Hunde bekamen so viel Prügel . - Mama hatte wohl die Hunde auch viel lieber . Das war nicht mehr auszuhalten , ihr Gesicht glühte vor Zorn und Aufregung . Immer nur Schelte und Schläge - nein , sie wollte lieber fortlaufen , gleich morgen früh fortlaufen . Und dann malte sich Ellen aus , wie sie immer den Deich entlang gehen würde , der sich so endlos in die Ferne schlängelte . Denn da mußte es hinausgehen in die Welt . - In eine große Pappschachtel packte sie ihre liebsten Sachen zusammen , um sie auf der Flucht mitzunehmen . Dann dachte sie wieder an die Akrobaten , sie hatte Geschichten gelesen von Zigeunern , die Kinder raubten und zu Kunststücken abrichteten . Die würden sie gewiß mitnehmen , und was für ein wundervolles Leben mußte das sein , ohne Stunden und Eltern und Gouvernanten . Dazwischen fiel ihr plötzlich ein , was Lise vom Teufel erzählt hatte : wer sich ihm verschrieb , dem konnte er alles verschaffen , was er sich nur wünschte . Es wurde Abend , die alten Marmorreliefs am Kamin schimmerten matt durch die Dämmerung , aber heute fürchtete Ellen sich nicht . Sie saß tief in Gedanken und rang mit einem großen Entschluß . Schließlich suchte sie sich einen von ihren schönsten bunten Briefbogen aus der Schublade , ging damit ans Fenster , wo es noch etwas hell war , und verschrieb sich dem Teufel mit Leib und Seele , wenn er ihr helfen wollte , zu den Zigeunern zu kommen . Ellen steckte den Brief in ein Kuvert und legte ihn oben auf das Kaminsims , dann ging sie verstockt zu Bett . Das Fortlaufen wollte sie nun einstweilen noch aufschieben . Als sie ein paar Tage später nachsah , war der Brief verschwunden , der Teufel hatte ihn also wohl gefunden und mitgenommen . - Ellen erschrak furchtbar , ihr Trotz war inzwischen schon wieder etwas abgesunken , aber nun gab es keine Rückkehr mehr . Die Mutter und Fräulein Anna waren in der folgenden Zeit manchmal der Verzweiflung nahe , denn mit Ellen war nichts mehr anzufangen , sie wurde von Tag zu Tag ungezogener . Wozu sollte sie sich jetzt noch Mühe geben , wenn sie doch dem Teufel gehörte . Sie wartete nur darauf , daß er sich irgendwie betätigen würde , und fühlte sich einsam und verwegen , als ob die ganze Welt gegen sie stände . Inzwischen überfiel sie manchmal eine furchtbare Angst - wenn er nun kam und sie holte , wenn er jetzt auf einmal hinter der Tür herausschaute ! Ellen wagte kaum mehr , durch ein dunkles Zimmer zu gehen . Wenn sie ihre Aufgaben lernte , sah sie nach der Uhr : bis dahin muß ich fertig sein , sonst kommt er . Sie zählte im Gehen Pflastersteine , Treppenstufen , Korridorfliesen und gelobte sich , nur auf jede vierte zu treten , dann sollte er keine Macht mehr über sie haben . Manchmal konnte sie es aber nicht lassen , absichtlich falsch zu treten , um ihn herauszufordern , und dann berauschte sie sich an ihrem schlechten Gewissen - wenn Mama und die anderen wüßten , daß sie sich dem Teufel verschrieben hatte und er jeden Augenblick kommen konnte , sie zu holen . Ein Jahr später kam Ellen am Weihnachtsabend zum erstenmal mit in die Kirche , und nun gab es eine große Umwälzung in ihrem Inneren . Der schmucklose weiße Raum mit dem blaugemalten Sternenhimmel und den zwei brennenden Christbäumen neben dem Altar kam ihr unsagbar schön vor . Auf der vergoldeten Kanzel stand der Propst mit seiner mächtigen , kahlen Stirn und der tiefen Friedensstimme : Siehe , ich verkündige euch große Freude , die allem Volke widerfahren wird , denn euch ist heute der Heiland geboren ! Ellen war geblendet und überwältigt , es schien ihr , daß der liebe Gott selbst da oben stände und zu ihr redete , und als ob sie ihn vorher noch gar nicht gekannt hätte . Und jetzt mit einemmal glaubte sie an Gott , glaubte an das Wunder : der Heiland war auch für sie geboren , um sie zu erlösen von der finsteren Macht der Sünde . Als der Propst von der Kanzel verschwand , war sie ganz unglücklich . Aber dann erschien er wieder vor dem Altar und sagte etwas , die Orgel setzte ein , und der Chor antwortete . Musik hatte Ellen fast noch nie gehört , und es kam ihr vor wie Engelsstimmen , die aus dem Himmel herabtönten . Als sie hinter der Mutter aus der Kirche ging , sah sie sich noch einmal um ; ihr war , als ob der liebe Gott da drinnen in all dem Lichterglanz zurückbliebe . Dann der Heimweg durch die schmalen Straßen und die lange Kastanienallee , die nach Nevershuus führte , - hinter den erleuchteten Gangfenstern sah man die Dienstboten eilig hin und her laufen . Die Eltern verschwanden gleich in den " grünen Saal " , um die Lichter anzuzünden . Oben in Mariannes Zimmer warteten die Geschwister im Dunklen . Die Stühle wurden dicht an die Tür geschoben , damit man rasch hinunter könnte , wenn es klingelte . Leise sprachen sie von Kai , nun waren es schon vier Jahre , daß er unter ihnen fehlte , und sie dachten daran , wie lustig der große , blasse Bruder an solchen Tagen gewesen war . Endlich wurde geschellt , und nun stürzten sie die Treppe hinunter , jeder wollte zuerst kommen . Im Eßzimmer standen die Leute in ihrem Sonntagszeug , die Mädchen mit weißen Schürzen und Hauben , die uralte bucklige Köchin , der Gärtner , all die langjährigen Getreuen , die eng zum Schloß und zur Familie gehörten . Die Flügeltüren gingen auf , im Saal wogte es von Lichtern und Tannenduft , im ersten Augenblick waren alle wie geblendet . Ellen stand vor ihrem Tisch , sie fand alles , was sie sich wünschte , und dazu noch ein Buch , das Kai gehört hatte . Mama kam und küßte sie . " Freust du dich , mein Kind - das ist ein Andenken an Kai - ihr müßt ihn nie vergessen . " Mama sah verweint aus . Es war selten , daß sie so gut mit Ellen sprach , und Ellen hätte sich für sie kreuzigen lassen in diesem Augenblick . Das Herz wurde ihr voll von Weihnachtsseligkeit , am liebsten hätte sie laut geweint . Neujahr war sie wieder in der Kirche . Neben dem Altar brannten noch einmal die Christbäume , und der Propst redete , aber diesmal war es nicht der wundergläubige Festjubel , den er verkündete , sondern ernste , beinahe drohende Worte von Sterben und Vergehen , von der kurzen Gnadenfrist , die dem Menschen gegeben ist , um sich zu besseren . Ellen faßte tausend gute Vorsätze , sie wollte von nun an jeden Tag beten und so vollkommen werden , daß niemand mehr über sie schelten konnte . Auf ihren früheren Bundesgenossen , den Teufel , blickte sie jetzt mit großer Verachtung herab - er hatte ihr ja nicht einmal geholfen ; aber sie fürchtete sich auch nicht mehr vor ihm . Er konnte ihr nichts mehr anhaben , wenn sie betete : Gott war mächtiger . Eine Zeitlang strengte sie sich nun wirklich an und betete mit großem Eifer , aber es war so schwer , man fiel doch immer wieder in Sünde . Gegen Ostern ging Fräulein Anna fort , um eine Stellung im Ausland anzunehmen . Die beiden Kleinen hatten lange Ferien , während die Mutter eine neue Lehrerin suchte . Allmählich fingen sie an zu hoffen , es würde sich überhaupt keine finden , und sie hatten jetzt so viel andere Dinge im Kopf , daß sie ihre Freiheit sehr gut brauchen konnten . Eine Jugendbekannte der Baronin Olestjerne hatte ihren Sohn drunten in der Stadt zur Schule gegeben , und dieser schmächtige , schwarzäugige Junge , der Geerd hieß , war ein großes Ereignis im Leben der beiden Geschwister . Sie hatten jetzt einen Freund , den sie mit wetteifernder Leidenschaft liebten und in ihre Geheimnisse einweihten , in alles Verbotene und Verlockende : wie man das verrostete Türschloß zum Turm und zum alten Gefängnis aufbrachte , oder durch eine Luke vom Garten aus in die dunklen , gewölbten Keller einstieg - in alle verstohlenen Winkel von Schloß und Garten , von denen sie Besitz ergriffen hatten und jeder seinen Namen und seine Geschichte besaß . Geerd war entzückt von alledem , die drei Kinder schlossen sich immer feuriger zusammen und kamen schließlich auf die Idee , ihre Freundschaft durch einen Blutbund zu besiegeln . Ein Abend , wo die Eltern in Gesellschaft waren , wurde dazu ausersehen , denn diese heilige Handlung konnte nur ganz im geheimen , bei Nacht und Nebel vor sich gehen . Als der Wagen aus dem Hof rollte , stürmten sie rasch in die Kinderstube , wickelten sich in phantastische Gewänder aus weißen Bettüchern , zündeten die heimlich erbeuteten Wachskerzen an und wallfahrteten mit dumpfem Gemurmel , in dem immer wieder das Wort " Blut ! " vorkam , durch den Rittersaal , durch die weiten , dunklen Bodenräume , die sich über das ganze Schloß hinzogen , und dann die schmale Wendeltreppe hinab in die frühere Kapelle . Unwillkürlich hörten sie auf zu murmeln , auf dem glatten Fliesenboden hallte jeder Schritt laut wider , und die tiefen Nischen rings an der Wand waren unheimlich dunkel . An der Stelle , wo der Altar gestanden , war noch eine viereckig aufgemauerte Erhöhung , da stellten sie ihre Lichter hin . Keines von ihnen sprach ein Wort , während sie sich mit einem stumpfen Messer Arme und Beine ritzten und das Blut in einem Glase sammelten . Weil es nicht genug war , kam noch etwas Wasser dazu , dann tranken sie es aus , schwuren sich ewige Treue und furchtbare Rache dem , der zum Verräter würde . Als das geschehen war , wurde die Stimmung etwas leichter . Geerd , der über Taschengeld verfügte , hatte Kuchen und eine Flasche Wein beschafft , und sie lagerten sich zum Mal um den Altar . Verspätet und mit erhitzten Köpfen erschienen die drei an diesem Abend im Eßzimmer , und während sie bei Tisch saßen , gingen immer wieder geheimnisvolle Blicke und Anspielungen zwischen ihnen hin und her . Wenn es irgend anging , feierten sie jetzt jeden Sonntagabend ein heimliches Bundsmal in der Kapelle , im Keller oder auf dem Turmboden - aber dunkel mußte es sein , und niemand durfte darum wissen , sonst wäre alles entweiht gewesen . Als aber der Winter zu Ende und es draußen wieder schön und trocken war , fanden sie , daß nun etwas Neues kommen müsse . Anfang April , an einem warmen , lichten Tage , durchstreiften sie den ganzen Garten , diese unerschöpfliche Märchenwelt von Abhängen , Gebüschen und halbverwachsenen Wegen , wo man immer wieder etwas entdeckte : Plätze , wo sie noch nie gewesen waren , Pflanzen , die sie nicht kannten , Ameisenhaufen , Vogelnester und so vieles andere . Besonders war es der breite Schloßgraben , der sie anzog , mit seinem geheimnisvollen , grünen Wasser , auf dem sonderbare große Spinnen wie auf Schlittschuhen hinglitten . An den Abhängen blühten schon die weißen Sternblumen und die Weidenzweige hingen tief herunter . Zuletzt kamen sie in die verwilderte Schlucht , die zwischen Garten und Koppel lag , mit einem schmalen Fußweg mitten durch und ein paar krummen Holunderbäumen . Geerd ging wie immer zwischen den beiden anderen , die sich so ähnlich sahen , daß man sie in gleichen Kleidern fast für Zwillinge halten konnte . Trotz der zwei Jahre , die zwischen ihnen lagen , waren sie fast gleich groß , beide mit kurzem , blondem Haar und den scharfen Olestjerneschen Familienzügen . Ellen war im Lauf der Jahre kräftig und gesund geworden und stolz darauf , daß sie es mit jedem gleichaltrigen Jungen aufnehmen konnte . Es war Bundestag heute , und sie ratschlagten gewaltige Pläne , gingen ernst prüfend umher und maßen die Schlucht mit den Augen . Dann wurde Geerd das Wort zuerteilt , und er schwang sich in einen Baum , um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen : " Bundesgenossen , hier wollen wir unser Reich gründen - unser Königtum - , von hier aus soll es wachsen , sich ausbreiten und die Nebenreiche verschlingen , wo jetzt noch unsere Feindin , die grimme Fürstin Anna Juliane , herrscht . Wir wollen sie entthronen und uns zinsbar machen . " Die beiden anderen stimmten ein furchtbares Kriegsgeheul an und schwangen ihre hölzernen Speere . Von früh bis spät waren sie jetzt draußen an der Arbeit , rammten Pfähle in die Erde , schleppten Tannenzweige und Moos herbei und bauten Hütten . Mit vieler Mühe hatten sie sich die Erlaubnis errungen . Die Mutter wollte erst nichts davon wissen , aber Detlev hörte nicht auf , sie zu bestürmen , und schließlich erfuhr der Vater von der Sache und kam ihnen zu Hilfe . Er nahm sogar lebhaftes Interesse daran und ging selbst mit hinaus , um ihnen die Grenzen ihres Gebietes anzuweisen . Das Königreich wuchs nun rasch empor , es wurden Straßen gelegt , Felder und Bauplätze abgemessen . Auf dem freien Platz in der Mitte erhob sich eine große Hütte aus Brettern und Backsteinen , das war der Tempel , denn sie hatten sich heimlich vom Christentum losgesagt und eine neue Religion erdacht . Im Tempel stand die Bundeslade , in der geraubte Schätze verborgen wurden , und ein unförmlicher Götze aus Holz , den hatten sie selbst in vielen mühsamen Stunden geschnitzt und angemalt . Er hieß der Mohu und wurde mit Opfern , Gesängen und wilden Tänzen gefeiert . Vier Wochen lang hatten sie unermüdlich geschafft , da kam plötzlich ein Blitz aus heiterem Himmel - Ellen und Detlev wurden eines Morgens zu Mama gerufen : im Wohnzimmer saß eine blasse Dame mit schwarzem , glattem Haar . Die Geschwister sahen sich erschrocken an , das konnte nur die neue Gouvernante sein , an die sie schon längst nicht mehr geglaubt hatten . Sie mußten ihr guten Tag sagen und erfuhren , daß sie Cläre Huhn hieß ; darüber wären sie beinahe ins Lachen geraten und vermieden ängstlich , sich anzusehen . Fräulein Huhn war sehr freundlich und hatte feuchtkalte Hände . " Nicht wahr , wir wollen jetzt recht fleißig zusammen sein ? Ihr müßt mich aber auch etwas lieb haben und mich du nennen . " Dann wurden sie wieder entlassen . Zum Draußenarbeiten hatten sie heute die Lust verloren , und als Geerd am Nachmittag kam , fand er die beiden melancholisch neben einer angefangenen Hütte sitzen . Ellen war verzweifelt : nun sollte das Jammerleben wieder anfangen - Stunden - Schelte - Nachsitzen , und hinter all diesen Schrecknissen stand Mama und die Ecke im Wohnzimmer , wo sie stricken mußte . Geerd versuchte sie mit Bonbons zu trösten , und allmählich wurde der Schmerz etwas milder . Dann schlug er einen Trauergottesdienst vor , - alle drei rauften sich die Haare und schlugen sich an die Brust , während sie den Mohu umtanzten und seinen Fluch auf Cläre Huhn herabriefen . Sie sollte ihm zu Ehren geschlachtet und verbrannt werden , wenn er seinen treuen Dienern zu Hilfe kam . Danach lag jeder vor seiner Hütte , und sie pflegten Rat , was jetzt zu tun sei . Alle drei waren in kriegerischer Stimmung und verlangten danach , sie auszutoben . Detlev kroch vorsichtig den Abhang hinauf , um zu sehen , ob nicht etwa wieder die Dorfkinder zum Blumenpflücken in die Koppel eingebrochen wären . Und richtig , da war eine ganze Rotte , raufte Feldblumen und trat das Gras nieder . Nun erhoben sich auch die beiden anderen , sie schlichen geduckt am Wall entlang und umzingelten den Feind . Bald war eine wütende Prügelei im Gang , die Bundesgenossen trugen trotz ihrer geringen Zahl den Sieg davon und machten ein paar Gefangene , die übrigen entflohen unter zornigen Drohreden . Nun hielten sie Gericht : den Mädchen banden sie mit Taschentüchern die Augen zu und stürzten sie vom Wall herab . Ein Junge , der sich heftig zur Wehr setzte , sollte mit in ihre Stadt geschleppt werden . Sie warfen ihn nieder , zogen ihn an Armen und Beinen über das Gras hin zu den Hütten , wo er dann noch ein paarmal hin- und hergeschwenkt und in einen großen Brennesselbusch geworfen wurde . Damit war ihr Blutdurst gestillt , und der Gerichtete durfte mit ziemlich zerrissenen Kleidern heimgehen , während das Geschwisterpaar mit seinem Freunde frohlockend den Mohu umtanzte . Nach diesem stolzen Tage fing das Schulleben für Ellen und Detlev wieder an . Es war wenigstens ein Glück , daß die neue Lehrerin nicht im Hause wohnte und nur zu den Stunden kam . Die Kinder wußten bald , daß mit ihr nicht so leicht fertig zu werden war wie mit der früheren , die sie jetzt in der Erinnerung mit einem förmlichen Nimbus umgaben . Die Mutter hatte eingehend mit ihr über Ellen gesprochen , und das Fräulein nahm sich vor , das unmögliche Kind mit gütiger Strenge zu zähmen . Dadurch hatte sie von vornherein verloren ; Ellen wand sich geradezu vor diesen eindringlichen Blicken und feuchten , ermahnenden Händedrücken , die an ihre Seele heranwollten . - Draußen blühte der Sommer , der Rasen vor dem Fenster wuchs immer höher empor , so daß man gerade in das bunte Gewoge von Gras und Blumen hineinsah . Dahinter breiteten die Kastanienbäume ihre grünen Gewölbe mit den weißen Blütenkerzen bis auf den Boden nieder . - Ellen und Detlev saßen sich gelangweilt gegenüber , platzten manchmal zur Unzeit in Gelächter aus und widerstrebten aus tiefstem Herzen jedem Wort , das die schwarze , glattgescheitelte Lehrerin sagte . Kaum war die Stunde zu Ende , so rannten sie wie kopflos davon und mußten zehnmal zurückgerufen werden , um das Tintenfaß , ihre Bücher oder sonst etwas wegzuräumen . Dann stürzten sie zu den Hütten und warteten auf Geerd . Jeder Tag brachte neue Gedanken , neue Pläne und Taten . Sie gruben Kanäle , legten Inseln drunten im Graben an und befuhren das schlammige , grüne Wasser in einem alten Backtrog oder auf Bretterflößen . Das war die stolze Flotte , die von fernen Gestaden unermeßliche Schätze brachte und mehr wie einmal strandete . Jeden Monat wurden die Ämter und Würden neu verteilt , so waren sie abwechselnd Könige , Minister und hohe Kirchenfürsten in prunkvollen Gewändern aus farbigem Glanzkattun , mit Kronen und Bischofsmützen aus Goldpapier . Dann legten sie sich Namen und Wappen bei , und jeder erdachte sich eine verwickelte Sage über die Abstammung seines Geschlechtes , die mit gemalten Anfangsbuchstaben und absonderlichen Ungeheuren geschmückt , niedergeschrieben und in der Bundeslade aufbewahrt wurde , neben den langen Papierrollen mit Gesetzen . Dann ging der Sommer herum , das Moos an den Hütten vermoderte , und draußen mußte die Arbeit ruhen . Dafür gab es nun Reichstage , Kunstausstellungen von selbstgemalten Bildern , glänzende Mohufeste mit Prozessionen durch das ganze Schloß und Turniere im Rittersaal . Grüngestrichene , hölzerne Gartenstühle waren die stolzen Rosse , die sich hoch auf bäumten , während die Recken sich mit höhnischen Reden zum Kampf herausforderten und mit eingelegter Lanze aus dem Sattel zu heben suchten . An einem Sonntagabend im Winter saßen die drei Kinder allein im Eßzimmer . Es war heute nichts Rechtes mehr anzufangen , Ellen mußte noch für morgen lernen , und Geerd sprach ein paarmal davon , jetzt nach Hause zu gehen . Aber jedesmal suchte Detlev wieder etwas Neues hervor , um ihn festzuhalten . Schließlich wühlte er den ganzen Bücherschrank durch und kam mit einem Stoß von alten Bilderbüchern wieder , die von irgendeiner Großmutter stammten . Sie blätterten darin herum und sahen gelangweilt auf all die ausländischen Tiere , Pflanzen und Völkertrachten . " Jetzt kommen Eingeweide und Gerippe " , kündigte Geerd an . Ellen sah über ihre biblische Geschichte weg : " Was ist das für ein Buch , das haben wir noch nie gesehen , glaube ich ? " " Es lag auch ganz zuunterst " , sagte Detlev . " Eure Mutter hat es wohl vor euch versteckt , da sind Sachen drin , die ihr noch nicht sehen dürft . " Geerd wollte das Buch zumachen , aber nun fielen die beiden darüber her . " Was dürfen wir nicht sehen ? - Gib doch her . - Was ist denn das , ein Embryo ? - Weißt du das , Geerd ? " " Ja , ich weiß schon - das ist ein Kind , ehe es geboren wird . Du bist auch Mal einer gewesen . " Die Geschwister sahen die Illustrationen an und versanken in staunendes Schweigen . Dann wollten sie sich totlachen . " Gibt es denn schon Kinder , ehe sie geboren sind ? " " Seid doch nicht so albern " , sagte Geerd und fing an , ihnen mit wissenschaftlichem Ernst den Zusammenhäng zu erklären . Die Kinder hörten auf zu lachen , es erwachte zum erstenmal die Ahnung in ihnen , daß das Leben auch drohende , dunkle Tiefen barg , und es schien ihnen seltsam und entsetzlich . Von diesem Abend an drehten sich ihre Gedanken und Gespräche fast ausschließlich um das große Geheimnis , das sie zu begreifen suchten und doch nicht ganz begriffen . Sie nahmen es alle drei sehr ernst - die ganze Welt verwandelte sich ihnen in einen Abgrund von unausdenkbaren Greueln , sie schämten sich ihrer Mitmenschen und verachteten sie . " Wie waren die nur imstande - fast alle Erwachsenen " , sagte Geerd - " sich mit solchen sinnlosen Widerwärtigkeiten abzugeben ? Die Verheirateten , um Kinder zu bekommen , das ging ja wohl nicht anders , aber die übrigen ? Zum bloßen Vergnügen ? - Aber wie konnte ihnen das Vergnügen machen ? Und warum bekamen die keine Kinder ? " So drängte sich ihnen Rätsel auf Rätsel , und alle wußte Geerd auch nicht zu lösen . " Woher weißt du eigentlich das alles ? " fragten sie einmal . " Von meiner Mutter - sie sagt mir alles , was ich wissen will . " Ellen und Detlev waren sehr erstaunt und beneideten ihn um seine Mutter . Bei ihnen war das ganz anders , sie gingen beinahe schuldbewußt herum , seit sie so viel erfahren hatten , und zitterten , daß die Eltern es merken könnten . Das Königreich geriet darüber mehr und mehr in Vergessenheit , wenigstens waren sie nicht mehr mit demselben Eifer dabei wie früher , und als die schöne Zeit wiederkam , machten sie lieber weite Spaziergänge miteinander . Der Mutter war es ein Dorn im Auge , daß Ellen immer nur mit den Jungen zusammen sein wollte , aber Geerd und Detlev ließen nicht nach , bis sie mitdurfte . " Meinetwegen diesen einen Sommer noch " , sagte sie schließlich , " aber dann hat es ein Ende . Dann muß sie wirklich einmal anfangen , ein vernünftiges Mädchen zu werden . " Davon war bis jetzt noch wenig zu merken , immer war es gerade Ellen , die mit zerrissenen Kleidern , mit Schrammen und Beulen heimkam oder schlammbedeckt und bis an den Hals durchnäßt . Woher hatte das Kind nur diese unbändige Wildheit im Leibe ? Kein Baum war ihr zu hoch , kein Graben zu breit , und wurde sie dafür gescholten , so brach sie jedesmal in schmerzliche Verwünschungen aus , daß sie kein Junge war . Trotz all dieser Bitternisse war es noch ein wunderbar schöner Sommer , den die drei Freunde zusammen verlebten . Lange Nachmittage lagen sie draußen am Strand in dem kurzen , harten Deichgras , wenn die Luft so klar war , daß man die Inseln deutlich sehen konnte und weitum nichts hörte , wie den langgezogenen , sehnsüchtigen Schrei der Seevögel . Und der Rückweg durch den grünen Koog , wo es große Gefahren und Hindernisse mit Gräben und losgerissenen Bullen gab . Oder sie gingen weit in die Heide hinein zum " Galgenberg " . - Vor vierzig Jahren sollte dort die letzte Hinrichtung gewesen sein , jetzt stand nur noch ein einziger alter Pfosten da . Die Kinder saßen im roten Heidekraut und schauderten , wenn eine Krähe aufflog . Oft sprachen sie dann von ihrem späteren Leben - Geerd sollte zum Herbst auf eine andere Schule , und das war ein furchtbarer Schlag für sie alle . Wie sollten sie ohne einander fortleben , bis sie groß waren und tun konnten , was sie wollten . Denn dann wollten sie wieder zusammenkommen , das stand fest . " Ja , und du wirst wohl auch später einmal heiraten müssen , Ellen , und Kinder kriegen " , sagte Geerd manchmal . Ellen sträubte sich wütend dagegen , es war ein schrecklicher Gedanke , daß sie eine Frau werden sollte , sie suchte sich dann durch doppelte Kraftleistungen hervorzutun und redete wilde Zukunftspläne . Sie dachte immer noch daran , einmal fortzulaufen zu den Zigeunern , hatte sich heimlich beim Tischler Kniestelzen machen lassen und übte sich in Purzelbäumen , um bereit zu sein , wenn der Augenblick kam . Ach , und dann im grünen Wagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt , konnte es wohl etwas Schöneres geben ? Oder wenn das nicht ging , als Schiffsjunge verkleidet zur See gehen ; kein Mensch hielt sie für ein Mädchen , wenn sie Detlevs Kleider anhatte . " Ellens Vogelbauer " , sagte der Bruder überlegen , wenn sie so sprach , und dann lachten die beiden Jungen sie aus . Ellen arbeitete nun schon seit mindestens zwei Jahren daran , einen ungeheuren Käfig für ihre Kanarienvögel zu bauen , der immer wieder mißlang , und jedesmal versuchte sie es dann auf andere Weise . Einmal hatte sie schon einen zustande gebracht aus zerspaltenen Zigarrenkisten , aber es war so dunkel darin , daß die Vögel melancholisch wurden und nicht mehr sangen . Und nun hatte sie natürlich wieder einen neuen angefangen . " Du hast gut reden " , sagte Ellen geärgert , denn Detlev wollte Philosoph werden und große Werke schreiben . Das war in ihren Augen kein Kunststück , und sie fand es sehr langwellig . Die Herbsttage kamen , im Garten wurde es feucht , alles versank in welken Blättern , und der Sturm riß große Äste von den Bäumen . Die Kinder gingen nur noch engumschlungen und waren traurig - ihnen war zumute , als ob eines von ihnen sterben sollte . An Geerds letztem Tage rissen sie die Hütten und den Mohutempel nieder und versenkten ihren Götzen in den Graben - mit bitterer Wehmut - was sollte das alles jetzt noch ? Und dabei kam es ihnen vor , als ob sie seit dem letzten Jahr unendlich viel älter geworden wären . Gegen Abend gingen sie zusammen hinauf , um Geerds Sachen aus der Kinderstube zu holen . Während Detlev noch im Zimmer kramte , standen die beiden anderen Hand in Hand auf der Diele neben der großen Stehuhr , die immer so unheimlich laut tickte und beim Schlagen wie ein Uhu heulte . Es war schon halbdunkel . Ellen sah nur Geerds weißen Strohhut und seine weiten , schwarzen Augen , sie sehnte sich heimlich danach , ihm um den Hals zu fallen und ihn viele Male zu küssen , fand aber nicht den Mut dazu . Dann kam Detlev , und sie begleiteten ihren Freund zum letztenmal durch den dunklen Rittersaal , die Treppe hinunter und über den Hof bis zur ersten Laterne . Die Geschwister wohnten nebeneinander und die Tür zwischen ihren Zimmern stand immer offen . Wenn sie im Bett waren , kam die Mutter herauf und betete mit ihnen . An diesem Abend konnte Ellen kaum ein Wort herausbringen und war in Todesangst , daß Mama böse würde . Die sagte aber nur : " Ich finde es auch schade , daß Geerd fort ist , aber nun muß das viele Herumtoben wirklich aufhören . " Mama fand es auch schade - das rührte Ellen so , daß sie sich nur mit Mühe beherrschte . Als die Mutter wieder hinunterging , schlich sie sich leise zu Detlev hinein und setzte sich auf sein Bett . Sie umarmten sich immer wieder und weinten zusammen , dann sprachen sie noch lange von Geerd und wie nun alles verödet war ohne ihn . Seit Geerd fortging , war für Ellens Kinderzeit die beste Freude verloschen , und sie suchte mit tiefem Verlangen nach etwas , das ihr Leben wieder so ausfüllen sollte . Detlev kam nun auch aufs Gymnasium , er fand neue Freunde , die meistens rasch wechselten ; die alte Kameradschaft zu drei kam mit keinem mehr recht zustande . Die Mutter schränkte Ellens Freiheit auch immer mehr ein , sie fand jetzt mit einemmal , daß sie sich früher zu wenig um das Mädchen gekümmert hatte , und zwang sie , viele von den schönen freien Nachmittagen mit einer Näharbeit im Wohnzimmer zu sitzen . Und Ellen haßte diese Art von Beschäftigung mit verzweifelter Unlust , es war fast noch schlimmer wie Lernen . Ihr ganzer Tag bestand aus immer neuen Versuchen , diesen beiden Üblen zu entrinnen . Wo sie nur konnte , stahl sie sich fort auf die Koppel hinaus , wo der Wind durch die mächtigen Baumkronen strich . Da hörte sie nicht , wenn die Mutter sie rief , und fühlte sich eine kurze Weile sicher vor ihr . Und ihre Seele klammerte sich leidenschaftlich an diese ganze Heimatswelt , die in tausend vertrauten Tönen zu ihr sprach ; sie dachte an all die langen Sommerstunden , wo sie hier gespielt hatten mit soviel Freude und Mut , weil jeder Tag und jede Jahreszeit immer wieder etwas brachte , daß Geerd kam , oder bald Ferien waren , oder das Obst reif wurde . So unendlich viel hatten sie immer vorgehabt und sich ausgemalt für die nächsten Jahre und für später , als ob überall große Schätze und Reichtümer lägen , die man nur zu heben brauchte . Aber auch durch all diese frohen Zeiten ging doch immer ein bitterer Grundton - Mama ! Seit sie denken konnte , fühlte Ellen sich wie verfolgt von ihr und warum ? Warum bekamen Mamas Augen immer diesen sonderbaren , bösen Blick und ihre Stimme den zornigen , fast pfeifenden Ton , wenn Ellen nur zur Tür hereinkam ? War sie allein mit der Mutter im Zimmer , so wehte es sie eisig an , als ob jeden Augenblick etwas Furchtbares geschehen könnte , und nachts träumte sie manchmal , daß die Mutter mit der großen Schere hinter ihr herlief und sie umbringen wollte . Sie hatte sich ja beinahe daran gewöhnt , wie an ein Gebrechen , mit dem man geboren wird und weiß , daß es auf Lebzeiten nicht wieder abzuschütteln ist . Aber woher die Kraft nehmen , es zu tragen ? Ellen fing an , wieder fromm zu werden - der liebe Gott war der Einzige , der ihr helfen konnte , aber er war so weit weg . Sie versuchte es förmlich mit Sturm , ihm wieder nah zu kommen . Es war ihr nicht mehr genug , jeden Sonntag zur Kirche zu gehen , sie betete beim Aufstehen und beim Schlafengehen alles , was sie auswendig wußte , lange Gesänge , Katechismusstücke , und immer auf den Knien . Das bloße Dasitzen mit gefalteten Händen , wie bei der Hausandacht , war ihr nicht feierlich genug . Oft stand sie auch nachts wieder auf , zog den Vorhang in die Höhe , um die Sterne zu sehen , und hielt ihren einsamen Gottesdienst . Oder bei Tage , wenn sie sich ungestört wußte , errichtete sie eine Art Altar , um davor zu beten , stellte ihren liebsten Kanarienvogel mit seinem Käfig auf einen Stuhl und Blumen ringsherum . Nach solchen Stunden fühlte sie einen fanatischen Mut , alles zu ertragen , und es konnte ihr dann beinahe Freude machen , wenn sie un gerecht gescholten wurde . Als Ellen vierzehn Jahre alt war , kam wieder etwas Abwechslung in ihr Dasein : sie sollte Tanzstunde bekommen . Das gehörte ebenso unabänderlich in das Erziehungsprogramm wie längere Kleider und reine Hände , die jetzt von ihr verlangt wurden . Es war ihr ganz neu und zuerst etwas beängstigend , mit so vielen Kindern zusammenzukommen . Aber wenn der langbeinige , immer etwas angetrunkene Tanzmeister mit seiner Geige mitten im Saal stand und die ganze Schar um ihn herumwirbelte , kam es wie ein Rausch über sie , und sie vergaß , daß das Leben sonst so schwer war . Den anderen Mädchen gegenüber fühlte sie sich etwas zurückgeblieben , vor allem war es unangenehm , als Schloßfräulein so schlecht angezogen zu sein . Dafür hatte ihre Mutter gar keinen Sinn - jahraus , jahrein dieselben alten Kleider , die immer wieder ausgebessert , verlängert oder gewendet wurden und niemals nach der Mode . Ellen hatte sich bisher nicht viel darum gekümmert , aber jetzt konnte sie stundenlang vor dem Spiegel stehen und über ihr Äußeres nachdenken . Wenn Mama sie dabei ertappte , gab es wieder ein Donnerwetter : " Gib dir nur Mühe ordentlich auszusehen und nicht alles zu zerreißen . Das andere ist Nebensache . " Aber das war nicht der einzige Punkt , in dem die Stadtkinder ihr überlegen waren : sie hatten Liebesgeschichten , Rendezvous , gingen mit den Schülern spazieren und zum Konditor . Alle diese lustigen Dinge , von denen Ellen jetzt immer erzählen hörte , schienen ihr so verlockend und begehrenswert , daß sie Detlev verleitete , mitzumachen . Sie erfanden immer neue Vorwände , um in die Stadt zu kommen , und gingen dann mit den anderen bummeln . So wundervoll sündig kam man sich vor bei diesen heimlichen Streifzügen unter Lärm und Gelächter , oder in dem dunklen Hinterzimmer der kleinen Konditorei , bei all den Neckereien und Anspielungen , die da hin und her flogen , - bei all dem Herzklopfen vor Entdeckung und den hinterlistigen Verabredungen während der Tanzstunde unter Mamas Augen . Es bekam alles eine andere Perspektive . Ellen hatte bis dahin nur in sich selbst hineingelebt in dem engen Kreise , den man um sie zog . Jetzt fing die Welt an , sich zu weiten , sie sah : es gab noch ein Leben , das jenseits der Mauer lag , das rascher pulsierte und reich an lockenden Erregungen war . Am Ende dieses bewegten Sommers verreisten die Eltern auf längere Zeit . Ellen genoß die Septembertage im Gefühl eines großen Triumphs , denn Cläre Huhn war krank geworden , und das empfand sie als ihr Werk . Vier Jahre hindurch hatten sie sich Tag für Tag an dem großen runden Schultisch gegenübergesessen , und vier Jahre hindurch hatte Ellen das arme , bleichsüchtige Geschöpf buchstäblich gemartert mit allen Schikanen , die der rücksichtslose Haß eines Kindes ersinnen kann . Sie ließ sich kein Lächeln , keinen Fleiß , kein Eingehen auf irgend etwas abgewinnen , begegnete aller Freundlichkeit und aller Strenge mit derselben steinernen , ablehnenden Hartnäckigkeit und betete allabendlich , daß Gott Cläre Huhn mit seinem Zorn treffen möge . Als die Nachricht kam , daß sie erkrankt war , lag Ellen in ihrem Zimmer auf den Knien und dankte Gott . Am Fenster sangen ihre Kanarienvögel , die Sonne lachte , und sie brauchte nicht in die Stunde . Das Werkzeug ihrer Qual war verstummt und unterlegen . Nun kam eine Reihe von Festtagen . Marianne regierte mit Milde und fand , daß die Kinder sich dann auch viel besser lenken ließen . Sie war sich immer gleich geblieben als die sanfte , ruhige Älteste , zu der alle mit ihren Anliegen kamen . Und sie hatte nicht immer einen leichten Stand dabei - die Mutter war hitzig und parteiisch , Papa konnte keinen Ärger vertragen , und die junge Meute stürmte fortwährend dagegen an , mit allen ihren Forderungen , Wünschen und Unbotmäßigkeiten . Jetzt ging jeder seinen Weg und dabei war Frieden . Ellen und Detlev saßen halbe Tage in den Obstbäumen oder lagen im Gras und lasen verbotene Bücher . Sie deklamierten sich gegenseitig die Räuber vor und stritten darum , wer den Faust besser verstände . Hier und da mußten sie auch alle der Schwester bei Gartenarbeiten helfen , und manche Vorübergehende blieben am Gitter stehen und sahen hinein , denn war das heranwachsende Geschlecht der Olestjernes vollzählig beisammen , so konnte man jederzeit ein stürmisches , weithinschallendes Gelächter hören , besonders wenn die " jungen Leute " , wie sie in liebevoller Respektlosigkeit ihre Eltern nannten , nicht dabei waren . In dieser Zeit gab es für Ellen viel Gelegenheit , unbemerkt zu entkommen , und das Herumtreiben hatte jetzt noch einen besonderen Hintergrund . Denn Ellen liebte , und alle ihre Gedanken gingen darauf hin , einem rothaarigen Primaner zu begegnen - an den nebelverschleierten Herbsttagen , wenn die junge Welt in den dämmerigen Gassen oder im Stadtpark auf- und abging . Ellen wußte , daß ihre Liebe unglücklich und hoffnungslos war , denn er stand auf der fernen , unerreichbaren Höhe des Erwachsenseins . Aber es war schon lähmende Seligkeit , ihn nur zu sehen , von ihm gegrüßt zu werden und dann abends an ihn zu denken , wenn sie im Bett lag . In der kleinen Stadt blieb nichts verborgen . Bald nachdem die Freifrau zurückgekehrt war , wurde sie von wohlmeinenden Bekannten darauf aufmerksam gemacht , daß ihre beiden Jüngsten sich eines schlimmen Rufes erfreuten . Nicht einmal Ladenklingeln und Fensterscheiben waren sicher vor ihnen , und was das Ärgste war , Ellen trieb sich mit Jungen in der Stadt herum . Nun wurde Ellen plötzlich aus allen Himmeln geschleudert ; aber diesmal fand sie den Mut zu offener Auflehnung , und es gab eine heiße Szene zwischen ihr und der Mutter . " Zieht mir doch lieber gleich eine Zwangsjacke an " , schrie sie . Ellen hatte gar keine Ahnung , was das eigentlich für ein Ding wäre , aber sie bekam ihre Zwangsjacke . Man ließ sie nicht mehr aus den Augen , und mit dem heimlichen Ausreißen war es ein- für allemal vorbei . Dies Jahr durfte sie nicht einmal mit den Brüdern zum Schlittschuhlaufen . Wehmütig sah sie an Winternachmittagen in den beschneiten Garten hinaus und dachte an ihre unglückliche Liebe - jetzt war er wohl auf dem Eis , und ihr war jede Möglichkeit abgeschnitten , ihn auch nur zu sehen . Die Sehnsucht wurde immer brennender , sie zitterte und wurde rot , wenn Erik zufällig seinen Namen nannte . Die gehrende Unruhe , die sie in sich fühlte , machte sich manchmal in überlauter Lustigkeit Luft und häufiger noch in wilden Wutausbrüchen . Ellen fand auch , daß man sie namenlos reizte . Von früh bis spät fuhr die Mutter sie an , jeder Blick sagte : Wozu bist du überhaupt auf der Welt ? Und an Heftigkeit gab Ellen ihr nichts nach . Eine Zeitlang hörte sie schweigend zu , bis die Zähne zusammen , daß sie knirschten , dann stürzte sie hinaus und schlug die Tür zu . Mama war hinter ihr her , ehe sie sich_es versah . Plötzlich hatte sie die zornig flammenden Augen dicht vor sich , fühlte einen brennenden Schlag im Gesicht : " Gehe mir aus den Augen , ich habe es satt , mich mit dir zu quälen . " War sie dann allein im Zimmer , so wußte sie nicht , wo hinaus mit der Wut , die in ihr tobte , wußte nicht mehr , was sie tat . Dann rannte sie mit dem Kopf gegen die Wände , bis ihr die Funken vor den Augen sprühten und der Schmerz sie wieder zur Besinnung brachte . An solchen Tagen mußte sie oben bleiben und durfte sich nicht mehr vor der Mutter blicken lassen . Da lag sie dann auf dem Bett und spann endlose Pläne . Wieder und wieder malte sie sich aus , wenn sie nur erst erwachsen wäre und von zu Hause fort könnte . Die Zirkusgedanken hatte sie jetzt allmählich aufgegeben , es war doch wohl zu spät geworden . Aber das stand ihr immer noch fest , irgendwann einmal mußte sie sich freimachen von diesem unerträglichen Leben und in die Welt hinaus , in die unbekannte verheißungsvolle Welt . An einem Sonntagmorgen , als Ellen zum Frühstück hinunterkam , las Mama gerade einen Brief . " Nun ist alles in Ordnung " , sagte sie und legte ihn neben ihren Teller . " Du kommst Ostern in die Pension nach A... , Ellen . " Ellen nahm diese Nachricht mit dumpfer Gleichgültigkeit hin . Von der Pension war schon oft die Rede gewesen , aber sie hatte bisher nie recht daran geglaubt . Es waren nur noch wenige Wochen bis Ostern . Sie machte ihrer Umgebung die letzte Zeit noch so schwer wie möglich . Nur mit Detlev allein war es anders , da taute ihr ganzer Schmerz auf , daß sie fort sollte , von ihm und von der Heimat . Die beiden waren noch nie einen Tag getrennt gewesen , hatten jedes Erlebnis , jede Empfindung geteilt , seit sie denken konnten . Sie wußten es nicht zu fassen , daß sie jetzt voneinander gerissen wurden , daß wirklich einmal der letzte Tag käme . Aber er kam , und er ging vorüber - am Abend sollte Ellen mit ihrer Mutter abreisen . Nach Tisch schlichen sich die beiden Jüngsten hinauf in die alte Kinderstube . Beim Essen hatten sie Wein bekommen , ihre Köpfe brannten , - so hielten sie sich lange umschlungen und weinten ihre bittersten Tränen . - Zwei Jahre - zwei endlose Jahre voneinander getrennt sein und lernen müssen , gequält werden , - sie fühlten beide , daß etwas Unwiederbringliches vorüber war und nie wiederkommen würde . Als man sie rief , kamen sie mit roten , verschwollenen Augen . Dann gingen alle zusammen an die Bahn . Vor den anderen weinten sie nicht mehr und küßten sich nicht . Detlev stand mit zusammengebissenen Zähnen abseits von den Geschwistern auf dem Perron und ließ keinen Blick mehr von Ellen , bis der Zug mit ihr und der Mutter in die weite Marschebene hineinfuhr . " Ellen Olestjerne soll hereinkommen . " Sie kam , machte die drei vorschriftsmäßigen Knickse - einen an der Tür , dann in der Mitte des Zimmers , wo die großen Blumen im Teppich waren , und den letzten , als sie vor der alten Dame stand . Die Pröpstin des freiadligen Stiftes zu A... saß an ihrem Schreibtisch . Sie war schon über sechzig Jahre alt und kannte keine Ruhestunden . Ihr strenges , wie in Stein gehauenes Gesicht mit der hohen , blanken Stirn hatte einen Zug von eiserner Energie - sie hielt sich sehr gerade , nur in der weißen schmalen Hand , die auf der geschnitzten Stuhllehne lag , war etwas von der Müdigkeit des Alters . " Was sind das für Sachen , Ellen ? Du hast Hedwig Vogt ins Gesicht geschlagen ? " " Ja , weil sie mich geärgert hat , das lasse ich mir nicht gefallen . " Die Pröpstin faßte Ellen ums Handgelenk und führte sie ans Fenster , wo es etwas heller war . " Vor allem , mein Kind , mäßige dich in deiner Art zu reden . " Ellen wollte etwas sagen , aber sie kam nicht zu Wort , die gestrenge Stimme sprach immer weiter mit ihrem harten , scharfklingenden S. " Es schickt sich überhaupt nicht , so aufzubrausen . Mit solchem Benehmen kommst du mir hier nicht durch , Ellen . Wenn du meinst , daß dir Unrecht geschieht , kannst du zu mir kommen und dich beschweren . Ihr seid keine Gassenjungen . " " Ich wollte , ich wäre einer " , fuhr Ellen endlich dazwischen . Sie war empört , daß sie sich nicht selbst ihrer Haut wehren sollte . " Was sagst du da ? " die Stimme wurde immer strenger und das S immer schärfer . " Nimm dich in acht , Ellen , ich weiß , wes Geistes Kind du bist . Deine Mutter hat mit mir gesprochen , und wenn ich sehe , daß in Milde mit dir nicht auszukommen ist , so gibt es noch andere Mittel . " Mein liebes Kind - die Frau Pröpstin hat uns wieder geschrieben , daß Du sehr eigensinnig bist und Dich mit den anderen Mädchen schlecht verträgst . Wirst Du denn nie aufhören uns immer neuen Kummer zu machen ? Ich habe die Frau Pröpstin gebeten , Dich in strenge Zucht zu nehmen , und wir verlangen von Dir , daß Du Dir jetzt endlich Mühe gibst , anders zu werden . Mehr will ich heute nicht sagen , ich bete täglich zu Gott , daß er Deinen Sinn ändern möge . Die Geschwister lassen grüßen . Deine Mutter . Geliebtes , vielen Dank für Deinen Brief . Es ist schrecklich öde ohne Dich . In der Schule ziehe ich mich immer mehr zurück und gehe viel allein spazieren . Nachmittags dichte ich gewöhnlich . Dein schwarz und gelber Vogel ist gestorben , aber sei nicht traurig , ich will Dir mein anderes Männchen schenken . Ich habe zwei Photographien von Geerd gekriegt , aber Mama erlaubt nicht , daß ich Dir eine schicke . Jetzt weiß ich nichts mehr . Eure Briefe werden ja auch immer gelesen und da kann man nichts Ordentliches schreiben . Dein Detlev . A... , Juni 1885 - - - morgen darf ich mit den D. es und ihrer Mutter in die Stadt , da kann ich heimlich einen Brief einstecken und schicke ihn an Jens Kettelsen , der ihn Dir in der Schule geben soll . - Gott , Detlev , Du machst Dir gar keinen Begriff davon , wie schrecklich es hier ist . Man ist eingesperrt wie im Zuchthaus und kommt gar nicht heraus , außer bei dem langweiligen Spaziergang , wo man in Reih und Glied geht und vor jedem Hofwagen knicksen muß . Sonst immer nur lernen , den ganzen Tag , die Fleißigen lernen sogar auch bei der Promenade und im Bett . Ich bin schon sehr oft hereingefallen , gleich in der ersten Zeit , weil ich eine andere geohrfeigt hatte und die Treppe herunterrutschte . Dann waren wir neulich im Garten und haben Stachelbeeren gerast . Nun dürfen wir in der Freistunde nicht mehr hinunter und kriegen ins Zeugnis , daß wir gestohlen haben . Und so weiter - - Übrigens habe ich jetzt eine Flamme , sie heißt Editha und ist bei weitem die Hübscheste . Ich schwärme sehr für sie und habe schon viele Gedichte auf sie gemacht . - Hoffentlich komme ich Michaelis in die erste Klasse , dann sind wir immer zusammen . Leider geht sie nächste Ostern schon ab . Ach Du , ich weiß nicht , wie ich es hier noch so lange aushalten soll und dann noch ein ganzes Jahr . Die Pröpstin kann mich nicht ausstehen , gerade wie Mama , und sie können alle nicht begreifen , daß man toben muß , wenn man vergnügt ist . Wir dürfen uns hier nur » sittsam und anständig bewegen « . Ich schicke Dir eine Karikatur von unserer Mademoiselle , die anderen finden sie sehr ähnlich . Ich zeichne überhaupt in allen Freistunden . Aber laß um Gottes Willen nichts herumliegen . Deine Ellen . Nevershuus , Oktober 1885 Liebe Ellen , Deine Versetzung in die erste Klasse hat uns sehr gefreut und überrascht . Es ist mir sehr lieb zu hören , daß Du Deine frühere Trägheit abgelegt hast und gut weiterkommst . Nun Sorge aber auch das nächste Mal für ein gutes Zeugnis im Betragen . Ich weiß , wie schwer es Dir wird , Deine Lebhaftigkeit zu zügeln , aber bedenke , daß Du jetzt am Konfirmationsunterricht teilnehmen und anfangen sollst , eine junge Dame zu werden . Wir müssen uns alle mehr oder minder in das Leben schicken . Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Vater. A... , November 1885 Liebster Detlev , eben habe ich den Diener auf der Treppe erwischt , und er will mir den Brief besorgen . - Es hat eine große Mordsgeschichte gegeben , und wäre nicht die ganze Klasse dabei gewesen , so hätte man mich und Editha sofort geschwenkt . Die Alte will an all unsere Eltern sofort schreiben , und wir haben schon einen Preis ausgesetzt , wer den ärgsten Brief von zu Hause kriegt . Ich habe aber doch verfluchte Angst vor den jungen Leuten . Denke nur , wenn sie mich hier wirklich herausgeworfen hätten , es war nicht mehr weit davon . - Also es war so : Unsere Erste war letzten Sonntag nicht da , Editha als Zweite sollte sie vertreten , und wir überredeten sie , den Abend volle Freiheit zu geben . Als das Mädchen fort war , standen wir wieder auf . Maria Besserer blies die Mundharmonika , und wir sangen und tanzten . Nun ist hinten am Saal eine Tür , die auf den Speicher geht , und da bekamen wir Lust , eine Entdeckungsreise zu machen . Editha ging mit der Nachtlampe voran . Du glaubst nicht , wie schön sie war mit ihren langen , schwarzen Haaren . - Erst hielt sie noch eine Rede über die Mysterien des Stiftes : wir sollten uns gefaßt machen , auf eingetrocknete Blutflecken und Leichen von früheren Stiftskindern zu stoßen . Einige wurden so bange , daß sie wieder in ihre Betten krochen . Dann kamen wir in lauter alte Bodenräume , voll Gerümpel und Spinneweben , und überall schien der Mond herein . Editha und ich stiegen auf die Leitern in den Turm hinauf , durch die Luke hinaus und rutschten das ganze Kapellendach entlang . Das haben die dummen Gänse nachher , als sie ausgefragt wurden , alles erzählt . Nachher stellten wir die Lampe auf den Boden und tanzten einen Indianertanz darum herum . Dabei haben wir so gehopst , daß wir den anderen Tag ganz lahm waren . Zuletzt liefen wir noch auf den Korridor hinaus und brachten dem vierten Schlafsaal ein Ständchen und warfen ihnen Stiefel ins Bett . Die haben uns dann angezeigt - ist das nicht eine Gemeinheit ? Die Alte kam selbst in die Klasse , alle sagten , so wütend hätte man sie noch nie gesehen . " Die Sünde ist unter euch wie ein fressender Eiter " , sagte sie einmal - dabei platzte ich heraus , und nun fuhr sie auf mich los : ich wäre die Anstifterin , das wüßte sie ganz genau . Ich hätte die anderen verleitet , im Nachthemd auf den Korridor zu gehen , und das wäre unsittlich usw . Es ist immer noch große Aufregung im Stift , denn fortwährend kommen neue Schandtaten heraus , auch von dem vierten Schlafsaal , der uns angezeigt hat . Aber es ist nicht recht dahinterzukommen , was die eigentlich gemacht haben , denn das wird alles bei der Pröpstin im Zimmer verhandelt . Sie hat nur die Erste abgesetzt und alle in andere Schlafsäle verteilt . Na , Gott sei Dank , Weihnachten sehen wir uns wieder , dann habe ich Dir noch viel zu erzählen . Aber ich werde dann wohl sehr in Ungnade sein . Deine Ellen . Ist Fritz H. noch auf der Schule ? Seit ich Editha habe , bin ich lange nicht mehr so verliebt in ihn . Hier ist überhaupt niemand in Jungen verliebt , wer keine Flamme hat , schwärmt für den Pfarrer . Aber nun lebe wohl . Deine Ellen . Am Neujahrstage saß Ellen in ihrer Heimatskirche und legte wie in Kinderzeiten glühende Besserungsgelübde zu Gottes Füßen nieder . Ein furchtbares Unwetter von elterlichem Zorn war über sie hingebraust , und der Vater hatte lange und ernst mit ihr gesprochen . " Was soll denn aus dir werden , wenn sie dich nun fortschicken und es immer so weiter geht ? " Ihr war selbst bange geworden , was aus ihr werden sollte , aber es war ja noch nicht zu spät , sie wollte sich wirklich ändern , sich mehr im Zaume halten . Aber sie fühlte sich doch nicht ganz sicher , und dies Gefühl wurde noch stärker , als sie wieder in der Pension war . Die ersten Wochen ging es ganz gut . Unter den jungen Mädchen war jetzt viel von der Konfirmation die Rede . Der Pfarrer hatte damit angefangen , ihnen die Grundlagen und das Wesen des Christentums zu erzählen , dann kamen die einzelnen Gebote und ihre Beziehung auf das Leben - der ganze schwerwiegende Ernst , der in all den Drohungen und Verheißungen lag - Gottes Zorn und Gottes Gnade . Als die Sünde wider den heiligen Geist besprochen wurde - die Sünde des Gläubigen , der mit vollem Bewußtsein die Gnade verscherzt , die furchtbarste , äußerste Sünde , für die keine Vergebung ist , folgten sie angstvoll jedem seiner Worte und zitterten bis in die tiefste Seele hinein unter demselben Gedanken : und wenn nun ich sie begangen hätte ? Sie sollten nun bald zum erstenmal an den Altar Gottes treten und davor stand das Wort : Wer aber unwürdig isst und trinket , der isst und trinket sich selber das Gericht . Wie ein Schauer lief es durch die Reihe der zwölf jungen Mädchen , die andächtig auf ihrer Schulbank saßen , und zugleich lag ein mächtiger Reiz darin , schuldvoll und niedergeschlagen vor diesem Mann dazustehen , der ihnen bis ins tiefste Innere schauen konnte und wußte , was Sünde war . Für Ellen war der Pfarrer von allen Vorgesetzten der einzige , zu dem sie Vertrauen hatte . Er bekam alles zu wissen , was man tat , und wie oft hatte sie ihm schon nach der Stunde in den großen Saal folgen müssen , um eine Vermahnung zu bekommen , aber er schalt nicht , suchte sie nicht zu beschämen oder zu demütigen wie die Pröpstin , er fand jedesmal ein gutes Wort und ein verstehendes Lächeln . Dafür war Ellen auch in seinen Stunden die Aufmerksamkeit selbst und lernte die längsten Psalmen auswendig , um ihm Freude zu machen . Mit Editha war sie immer noch viel zusammen und schwärmte sie in namenloser Hingebung an . Sie hatte das Herz voller Anbetung und den Kopf voller Verse , bei Tisch , in den Stunden und abends im Bett , immer fand sie wieder neue Reime zusammen , um die Freundin zu besingen . Editha war die Schönste , die Beste , die Unvergleichliche . Wenn sie abends im Schlafsaal das Haar aufmachte , hing es wie ein dichter Mantel um sie her , die Brauen lagen gleich zwei breiten , schwarzen Strichen über den dunklen , schweren Augen . Und ihre Hände und Füße , die so klein und zierlich waren - man konnte kaum begreifen , daß Editha sie wie andere Menschen gebrauchen konnte . Für die alte Vorsteherin gab es viele schwere Stunden . Seit die beiden so eng befreundet waren , schien eine ganze Horde von Teufeln in dem ehrwürdigen alten Gebäude zu spuken . Die ganze erste Klasse war außer Rand und Band , trotz Konfirmationsstunden und quälender Gewissensfragen . Es kam vor , daß den Lehrerinnen Salz ins Bett gestreut wurde , so daß sie die ganze Nacht nicht schlafen konnten , oder dem Kandidaten wurden alle Knöpfe vom Mantel geschnitten und der Hut von oben bis unten mit Kreide bemalt , was dann niemand getan haben wollte . Oder Ellen und Editha wetteten , ob man Tinte trinken und vom höchsten Schrank herunterspringen könnte . Und sie tranken wirklich Tinte und sprangen von den Schränken herunter auf die Fliesen , daß die anderen leichenblaß wurden vor Schreck . Anfang Februar war Edithas Geburtstag . Ellen träumte eine Zeitlang davon , der Freundin ihre gesammelten Gedichte zu schenken , mit Druckschrift und schön gebunden . Sie schienen ihr aber schließlich doch nicht gut genug , und so wollte sie denn lieber ein Gedichtbuch kaufen . Wer sie gemacht hatte , war ja einerlei , wenn nur recht viel von Liebe drin stand . Es war nicht so einfach , eins zu bekommen , denn das Taschengeld wurde ihr regelmäßig für Strafen abgezogen , und alle Einkäufe gingen durch die Hand der Vorsteherin . Ellen zerbrach sich nicht lange den Kopf darüber , sie borgte die kleine Summe zusammen , obgleich Geldleihen streng verboten war , und überredete eine von den letzten Neuen , das Buch auf ihren Namen kommen zu lassen . Es war eine Sammlung von 450 Gedichten . Dann lag es eine Nacht unter ihrem Kopfkissen , und sie dachte in fieberhafter Seligkeit daran , wie Editha es morgen an ihrem Platz finden würde . Als Ellen vor der ersten Stunde ihre Bücher zusammensuchte , legten sich plötzlich zwei Hände um sie und es ging wie ein Feuerstrom durch ihr Herz ; Editha küßte sie auf den Mund . " Das war lieb von dir , kleine Ellen , ich habe mich so gefreut . " In der Arbeitsstunde um Mittag fehlten die beiden Unzertrennlichen . Zufällig kam die Klassenlehrerin herein und fragte nach ihnen , aber niemand hatte sie gesehen . Mademoiselle geriet in Aufregung , suchte und fragte durchs ganze Haus . Um Gottes Willen , wo konnten die beiden sein , es war ihnen ja alles zuzutrauen . Die ganze Klasse mußte mitsuchen und es entstand ein förmlicher Tumult . Endlich entdeckte man sie oben im Schlafsaal der Kleinen , auf zwei der entlegensten Betten lagen sie und lasen sich Gedichte vor . Sie machten nicht einmal Miene aufzustehen und wollten sich halb totlachen , als die Mademoiselle wutbleich vor ihnen auftauchte . Dann wurden sie in die Klasse hinuntergeschickt . Das Buch , in dem sie gelesen hatten , nahm die Lehrerin an sich und ging damit zur Pröpstin . Die alte Dame unterzog es einer genauen Prüfung , während sie sich den ganzen Vorfall berichten ließ . Auf dem ersten Blatt stand eine lange Widmung in Versen von Ellens Hand . Wie kam Ellen zu dem Buch , das gestern erst eine andere bestellt hatte ? Nun folgte ein Verhör auf das andere , nur Ellen wurde nicht vorgerufen . Stadt dessen erschien die Vorsteherin nach Tisch selbst in der Klasse , um sie vor allen anderen niederzuschmettern . Sie war in großer Toilette , weil sie nachmittags an Hof gehen wollte , die lange Seidenschleppe knisterte wie eine zornige , schwarze Schlange hinter ihr her . Ellen stand da , beide Hände in den Schürzenlatz gesteckt und sah ihr gerade in die Augen . Sie wollte zeigen , daß sie sich nicht fürchtete , während die alte Dame mit harten , zischenden Worten auf sie ein sprach : " Mit dir , Ellen Olestjerne , werde ich von jetzt an nicht mehr unter vier Augen reden , denn du verdienst diese Rücksicht nicht mehr . Du hast meine Geduld nun bald ein Jahr lang auf eine harte Probe gestellt ; ich will jetzt nicht davon reden , daß du dich von Anfang an gegen jede Zucht und Ordnung aufgelehnt , dich auch heute noch wieder mit Editha , die ja leider ganz unter deinem Einfluß steht , lachend über alle Regeln hinweggesetzt hast , nur das eine will ich dir sagen : für ehrlich wenigstens habe ich dich bis jetzt gehalten , bis zu dem Augenblick , wo ich erfuhr , auf was für Schleichwegen du dir dieses Buch verschafft hast . Jetzt weiß ich , daß du selbst vor einem gemeinen Betrug nicht zurückschreckst - du , ein Mädchen aus guter , hochgeachteter Familie - eine Konfirmandin . - Und ich sage dir noch einmal , zum letztenmal : halte ein auf der abschüssigen Bahn , die du wandelst . Gehe in dich , ehe es zu spät ist , sonst wirst du dermaleinst mit bitterer Reue an meine Worte zurückdenken . " Dann wandte sie sich zu den anderen : " Ellen Olestjerne hat sich eines gemeinen Betruges schuldig gemacht - sie hat den Namen einer Mitschülerin mißbraucht , um sich ein Buch zu verschaffen , das sie nicht bezahlen konnte , und noch zwei andere veranlaßt , ihr Geld zu borgen , um ihre Schuld wenigstens für den Augenblick zu decken . Ihr habt sie von jetzt an als ehrlos zu betrachten und ich warne jede , die noch mit ihr verkehrt . " Damit verließ sie das Zimmer und die schwarze Seidenschlange raschelte ihr nach . Ellen wanderte auf drei Tage in Arrest . Da saß sie in der dämmerigen Turmstube , machte lange Gedichte auf Editha und wartete , wie ihr Schicksal sich entscheiden würde . Als sie am nächsten Sonntag der Reihe nach zur Pröpstin hineinkamen , um ihre Zeugnisse vorzulegen , sagte die verhaßte Stimme : " Ellen Olestjerne , deine Eltern sind von dem Vorgefallenen benachrichtigt . Du kannst noch bis Ostern hierbleiben , weil ich ihnen nicht die Schande antun will , dich vor der Einsegnung fortzuschicken . " Es war doch ein arger Schrecken , als die kalte , unerbittliche Tatsache plötzlich vor ihr stand : fortgejagt - und die Eltern . - Wie in einem bösen Traum ging Ellen hinaus , an den anderen vorbei , ohne irgend etwas zu sehen , die Treppe hinauf , oben am letzten Gangfenster blieb sie stehen und legte das Gesicht an die Scheiben . Sie hatte Todesangst vor zu Hause - heute wußten sie es vielleicht schon . Es war nicht auszudenken , wie eine erdrückende Last wälzte es sich von allen Seiten über sie her . Dazwischen glänzte wohl auch etwas Helles , Freudiges auf : heimkommen - fort aus diesen dumpfen Schulstuben , aus der moderigen Kerkerluft . Heimatsvisionen kamen , das Schloß , die sonnigen großen Zimmer , wo abends die Spatzen vor den Fenstern in den Ulmen schwätzten , der sommerliche Garten mit seinem starken Fliederduft - Detlev , die Geschwister alle - und nun schluchzte sie vor Heimweh . Ja sie wollte nach Hause , nur nach Hause , wie schlimm es auch werden mochte . Am Montagmorgen kam Ellen noch halb verschlafen hinunter . Vor ihrem Schrank stand Fräulein Blümner , die Wirtschaftsdame , mit der turbanartigen , punktierten Haube und räumte die Sachen auf . " Was soll das ? " " Fragen Sie nicht so unverschämt - Sie bekommen Ihren Schrank jetzt da oben auf der Treppe , damit die anderen nicht mehr wie nötig mit Ihnen in Berührung kommen . Wer so lügt und trügt wie Sie , muß sich auch darauf gefaßt machen , daß man ihn danach behandelt . " Ellen lachte , um ihre Wut zu verbergen , und machte ihr hochmütiges Gesicht . Nachher schrieb sie mit Riesenbuchstaben auf die Innenseite der Schranktür : Ich habe nie das Knie gebogen - den stolzen Nacken nie gebeugt . 17. Februar 1885 . Das brachte ihr wieder einen Tag Arrest ein . Und so ging es nun mit allem ; sie war in Acht und Bann getan , jede von den anderen , die sich noch mit ihr sehen ließ , fiel in Ungnade . Aber sie nahm den Fehdehandschuh auf , beging bei jedem Anlaß die größtmöglichen Ungezogenheiten , nahm die Strafe lachend hin und überbot sie durch noch ärgeres Benehmen . Im Schlafsaal gab es fast jeden Tag Skandal . Wenn Ellen sich Wasser holte , balancierte sie die blecherne Waschschüssel auf dem Kopf und behauptete , sie könnte kein Blech anfassen . Beim Mundspülen gurgelte sie nur in Melodien und sagte , es käme ganz von selber , sie könnte es nicht lassen . Und wenn alle im Bett lagen , fing sie an zu heulen wie ein wildes Tier in langgezogenen Tönen die halbe Nacht hindurch , so daß niemand schlafen konnte . " Ellen , sei ruhig " , schrie die Erste , die Aufsicht führen mußte . " Mein Gott , ich bin so traurig , du kannst mir doch nicht verbieten , zu weinen " , und sie heulte weiter . Die anderen kamen um vor Lachen , und die Erste war machtlos dagegen . Sie konnte nur anzeigen , immer wieder anzeigen , und das war Ellen jetzt ganz gleichgültig , sie lebte in einem förmlichen Rausch von Auflehnung . Ein paarmal ging sie zur Pröpstin , um sich selbst anzuzeigen , wenn sie fand , daß man zu nachsichtig gegen sie war . " Miß Collins hat wohl vergessen zu melden , daß ich gestern in der Stunde gelacht habe . " Die Pröpstin geriet außer sich vor Zorn und verbot ihr schließlich , das Zimmer überhaupt noch zu betreten . Aber manchmal fühlte Ellen sich auch todunglücklich - sie stand jetzt wirklich ganz allein , selbst Editha wollte nichts mehr von ihr wissen , hatte sich immer mehr von ihr zurückgezogen und ging nur noch mit einer früheren Freundin , die Ellen nicht leiden konnte . Sie ballte heimlich die Hände , wenn sie die beiden zusammen sah , und ihre Dichtungen wurden immer verzweifelter : draußen heulte der Sturm , Eulen schrien in finsterer Nacht - alle schliefen , nur sie allein wachte mit ihrem zerrissenen Herzen , in dem die Leidenschaft wütete und die verratene Liebe . Manchmal wurden es auch Rebellengesänge : " Wie lange soll ich diese Schmach noch dulden - wie lange diese Ketten tragen noch ! " oder : " Es kreist mein Blut in wildem schnellem Lauf - und alle Pulse hämmern laut . - Mein Stolz , mein Selbstgefühl bäumt , ach , sich auf . - Zuviel , zuviel habt ihr mir zugetraut . " Kurz vor Ostern kam noch die letzte Zeugnisverteilung . Das war immer ein feierlicher , öffentlicher Akt , dem viele Ehrenpersonen aus der Stadt beiwohnten und wo die Pröpstin eine Rede hielt . Diesmal ging es wie ein Gewitter über die fünfzig Kinder hin , von denen manche kaum mehr aufzusehen wagten . Während ihrer zweiunddreißigjährigen Amtsführung habe sie noch kein Jahr erlebt wie das letzte , - ein Geist des Aufruhrs ist in unsere Anstalt eingedrungen , - unlautere Elemente , die wir leider erst zu spät erkannt haben und die durch Leichtsinn und Gewissenlosigkeit ein schlimmes Beispiel gaben , - und dann erhob sich ihre Stimme immer lauter und strafender . - Derartige Elemente müssen schonungslos ausgemerzt werden - es sind Krebsschäden , die nur durch einen raschen Eingriff beseitigt werden können . - - Ellen sah wohl , wie viele Blicke sich auf sie richteten , wenn auch nicht ihr Name genannt wurde . Sie wollte die Augen nicht niederschlagen und empfand es beinahe wie einen Triumph : " Ja , mit mir seid ihr doch nicht fertig geworden . " An demselben Abend wurde sie zum Pfarrer gerufen , er sah sie lange ernst an und sagte dann : " Nein , Ellen , vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten , ich glaube zu wissen , wie es in Ihrem Inneren aussieht und daß Sie die Absicht haben , es von nun an anders werden zu lassen . Denken Sie an das Wort : es wird Freude sein im Himmel über einen Sünder , der Buße tut , vor neunundneunzig Gerechten . Vor allem lassen Sie den schlimmen Widerspruchsgeist und allen kindischen Trotz fahren , damit kommt man nicht durch die Welt , Ellen . - Ich habe trotz alledem gutes Zutrauen zu Ihnen , denn ich weiß , daß Sie im Grunde nicht schlecht sind . Sie machen es nur sich selbst und anderen schwer . Aber Sie waren eine von meinen besten Schülerinnen und ich möchte auch , daß Sie einer von meinen besten Menschen werden . Ich will auch selbst mit Ihrer Mutter sprechen , die wohl einigen Grund hat , ungehalten über Sie zu sein . " - Damit gab er ihr die Hand , und ihr liefen große Tränen übers Gesicht . Als am nächsten Tage die Mutter kam , war Ellen weich wie Wachs . Und es ging viel besser ab , als sie gedacht hatte . Mama schien doch nicht ganz mit der Pröpstin einverstanden , sie sprach viel mit dem Pfarrer und war merkwürdig milde . Vor der Beichte versöhnten sich die Konfirmandinnen untereinander und suchten auch die Lehrerinnen auf , um in vollem Frieden mit aller Welt das Abendmahl zu nehmen . - Ellen schloß sich von diesem Brauch aus : was haben die mir zu verzeihen , wenn ich mit mir selbst und dem lieben Gott im reinen bin ? Dann mußten sie alle einzeln zur Pröpstin hereinkommen , man murmelte auch dort ein paar Worte von Verzeihen und bekam einen Kuß auf die Stirn : - du bist mir eine liebe Schülerin gewesen , gehe hin in Frieden . Als Ellen kam , standen sie sich einen Augenblick gegenüber , beide in tödlichem Widerwillen , die alte Dame und das fünfzehnjährige Kind . " Hast du mir nichts zu sagen , Ellen Olestjerne ? " " Nein . " Auf die einzelnen Worte , die nun folgten , konnte Ellen sich nachher nicht mehr recht besinnen . Die Pröpstin sprach eine Art Fluch über sie aus und wies dann gebieterisch mit ihrem aristokratischen , wohlgepflegten Zeigefinger nach der Tür . Später gingen die jungen Mädchen auf dem Gang hin und her , meist in ernsten Gesprächen , einige hatten auch große Sorge wegen der Kleider für morgen und wie sie das Haar tragen sollten . Trotz der Pröpstin war Ellen weich und froh gestimmt , das Wiedersehen mit der Mutter war überstanden und sie hatte Editha wieder , nach einer langen Unterredung . " Siehst du , ich mußte die letzte Zeit etwas Rücksicht nehmen . Du weißt , ich bin von Kind an hier , die Alte hat sozusagen Mutterstelle an mir vertreten und ist immer sehr nachsichtig gewesen . Sie verlangte einfach von mir , daß ich den Verkehr mit dir abbrechen sollte . Leicht ist es mir nicht geworden , aber du tatest ja immer , als ob es dir ganz gleich wäre . " " O Gott , nein , das war es nicht . " Sie umarmten sich , und Ellen war überselig . " Weißt du , wir wollen uns oft schreiben . Laß mich wissen , wie es dir zu Hause ergeht . " " Ja , und ich habe noch eine Bitte - , schenke mir doch eine Locke von dir . " Ellen durfte sich selbst eine abschneiden , sie hatte schon eine ganze Edithasammlung bis zu weggeworfenen Stahlfedern , heimlich abgeschnittenen Plaidfransen und alten Schreibheften , aber die Locke kam in ein Medaillon , das sie immer unter dem Kleid tragen wollte . Die Osterglocken läuteten , und in weißen Kleidern mit langen Schleppen stiegen die Konfirmandinnen die hohen Steinstufen hinab , durch den dunklen , feuchtkalten Hausflur in die Kapelle . Als Ellen vor dem Pfarrer kniete , war ihr , als ob seine Stimme für sie einen ganz besonderen Klang hätte , der ihr allein galt , wie eine feierliche Heimlichkeit zwischen ihnen . - Ihre Seele war voller Ernst und wogte in einem frohen , morgenfrischen Gefühl . Mit diesem Tage wollte sie ja ein neues Leben anfangen , es kam ihr jetzt so leicht und hell vor , - wie wenn man nach einem mißglückten , zerfetzten Tag aufwacht und nun alles zurechtbringen will , was gestern nicht gelang . Anderen Tags reiste sie mit ihrer Mutter ab . An der Treppe stand die Pröpstin und streckte ihr kalt die Hand zum Kuß hin . - Ah - zum letztenmal diese Treppe , zum letztenmal dies harte , blanke Gesicht mit den tiefgemeißelten Augenhöhlen , zum letztenmal dieser Sklavenhandkuß ! Und dann das wehmütige Glück , in den Frühlingsabend heimzufahren , heimwärts , nach Nevershuus , zu den Geschwistern - und mit dem Versprechen , daß Editha sie nicht vergessen wollte . Marianne Olestjerne war bei ihrem Vater im Zimmer und staubte den mächtigen alten Schreibtisch ab . Mit bedächtigen , liebevollen Bewegungen stellte sie die verblaßten Familienphotographien in dunkelbraunen oder violetten Samtrahmen wieder hin und legte vorsichtig die Papiere beiseite . Dann die lange Schale mit Federhaltern und Bleistiften , jeder kam wieder an seinen Platz . Es war wohl zu sehen , sie tat das alles mit Liebe und langjähriger Gewohnheit , als ob jedes Stück Bedeutung und Leben hätte . Der Freiherr saß am runden Mitteltisch vor dem Sofa und trank seinen Morgenkaffee aus der großen Kopenhagener Tasse . Diese ganze Frühstunde ging vor sich wie eine heilige Handlung , die nicht unterbrochen und gestört werden durfte . Marianne sah zu ihm hinüber , während er die Zeitung durchsah und wieder hinlegte . Der Vater war für sie der Beste und Geliebteste von allen , das , worum sich ihr Tag und ihre Arbeit drehte . " Papa " , sagte sie etwas leise . " Was willst du , mein Kind ? " " Papa , heute ist Ellens Geburtstag - willst du nicht wenigstens einen Augenblick hinübergehen , wenn sie ihre Geschenke bekommt ? " Ein unwilliger Zug ging um seinen Mund , er schob den Sessel weg und ging durchs Zimmer . " Ich warte nur darauf , daß sie zu mir kommt . " " Das wagt sie nicht " , sagte die Schwester . " Unsinn , ich habe noch nie bemerkt , daß Ellen etwas nicht wagt . " " Du hast es ihr auch nicht leicht gemacht , Papa , seit sie wieder hier ist , hast du kein Wort mit ihr gesprochen . Das schüchtert sie ein und Mama - - " " Ich dachte , das ginge jetzt besser ? - Ich habe wahrhaftig die Lust verloren , mich darum zu kümmern . " " Nein , es geht nicht besser , lieber Vater , ich weiß ja selbst , wie schwer es mit Mama ist . Und Ellen ist noch so jung und hat nicht die Überlegung . - Wir anderen haben dich gehabt , und Ellen braucht vielleicht mehr wie alle eine feste Hand , aber auch Liebe . " Er ging immer rascher , und Marianne fühlte seine Verstimmung aus jedem Schritt . " Ich weiß nicht , was sie will und was sie braucht , ich kann dies Kind nicht begreifen . Wie ist sie denn wiedergekommen - strahlend , daß sie nicht mehr so viel zu lernen braucht und ihre dummen Jungenstreiche mit Detlev fortsetzen kann . Keine Ahnung , daß sie sich schämt , kein Wort , daß es ihr auch nur leid tut , uns das alles angerichtet zu haben . Sie ist doch damals nur fortgekommen , weil ich sah , daß es mit ihr und Mama nicht gehen wollte - um ihr zu helfen . Aber sie hält alles , was man für sie tut , für Feindseligkeit und Bosheit und widerstrebt blind und unvernünftig . - Sage du ihr das , sprich einmal mit ihr . Wenn sie dann von selbst kommt , soll es gut sein . " Aber Ellen kam nicht . " Es nützt ja doch nichts " , war die Antwort auf alle Vorstellungen der älteren Schwester . - So wurde es ein melancholischer Geburtstag . Als die anderen nach Tisch vor der Gartentür saßen , lief Ellen auf die Koppel hinaus . Was sollte sie da droben ? Sie fühlte sich überflüssig , im Wege , ausgeschlossen . So warf sie sich ins Gras und weinte - ja , die Heimat , die hatte sie nun wieder , aber sonst war alles wie früher , täglicher Kampf und tägliche Quälerei , nur noch rettungsloser und verfahrener durch die unglückselige Pensionsgeschichte . Später kam Marianne mit Detlev , sie fand , daß doch etwas Festliches für Ellen geschehen müßte und wollte mit den beiden ihren Lieblingsweg nach Olrup gehen - es war ein kleines Dorf draußen am Meer . Ellen bewunderte ihre Schwester sehr - die hatte ihre ganze Jugend zu Hause verlebt und war nie unzufrieden , immer gleichmäßig in ihrer stillen Heiterkeit . Sie kamen darauf zu sprechen , auf die Eltern und alles . " Du mußt dir doch auch ziemlich viel gefallen lassen und darfst alles mögliche nicht " , meinte Ellen . " Aber es liegt mir auch meistens nicht so viel daran . Wenn Papa mir zum Beispiel verbietet , irgendein Buch zu lesen , so weiß ich , daß er seinen Grund dafür hat . Und es bleibt immer noch so viel Schönes , woran man sich freuen kann , daß das gar nicht in Betracht kommt . " " Ja , aber hast du jemals gesehen , daß Mama mir etwas aus einem vernünftigen Grund nicht erlaubt ? Sie verbietet nur , um zu verbieten , oder weil sie alles überflüssig findet , was mir Freude macht . Sie sagt , ich wäre faul und wollte nichts tun , aber warum läßt sie mich nicht malen ? Es ist das einzige , was ich mir wünsche und was mir Freude macht . Dann würde ich mit Vergnügen den ganzen Tag arbeiten . Aber sowie sie mich mit einem Skizzenbuch sieht , heißt es : laß doch das alte Geschmier , es kommt ja doch nichts dabei heraus . " Marianne zuckte die Achseln . " Mama ist nun einmal dafür , daß man nur nützliche Sachen tut , sie hat es auch nicht gern , wenn ich viel lese . Ich sage dir deshalb auch immer wieder , du solltest dich an Papa halten , der kann dir noch am ehesten helfen . Mir scheint immer , daß ihr Jüngeren ihn eigentlich gar nicht kennt . " " Er kümmert sich nicht viel um uns . " " Das würde er schon tun , wenn ihr nur wolltet . Ich habe dir doch gesagt , er wartet nur darauf , daß du kommst . " " Das kann ich nicht - ich kann einfach nicht . Wofür soll ich ihn denn um Verzeihung bitten ? Daß dies infame Tier von Pröpstin mich nicht leiden konnte ? Ich möchte ihr heute noch den Hals umdrehen . " " Ich auch " , fuhr Detlev ingrimmig dazwischen ; die Pröpstin haßte er mit . Vor ihnen lag das Dorf mit seinen Strohdächern und dem niedrigen , stumpfen Kirchturm . Über den Heidehügel gingen sie zum Meer hinunter , und Marianne pflückte Blumen für Papas Schreibtisch . Dann saßen sie am Strand auf den großen Steinen , während die Sonne langsam ins Meer hineinrollte wie eine große brennende Kugel . Der Himmel loderte weithin auf , das Meer wurde rot , und die Heidehügel glühten . Allmählich losch alles wieder aus und nun wurde es rasch dunkel , die einzelnen Gestalten auf dem Deich sahen aus wie schwarze Silhouetten . " Wenn man das malen könnte , " sagte Ellen , " überhaupt malen können , alles , was es gibt . " Detlev lachte : " Immer noch Vogelbauer , Ellen ! Du bist doch noch geradeso wie früher . " " Ja , aber ich werde meine jetzigen Vogelbauer doch noch einmal zusammenkriegen , darauf könnt ihr euch verlassen . " Sie gingen jetzt rasch den Deich entlang und sprachen von der großen Sturmflut vor acht Jahren . Es war die lange gerade Strecke , wo damals der Deich beinahe gebrochen und nur einen Meter breit stehengeblieben war . Wie da die haushohen Wellen herüberschlugen und die Menschen , die sich hinauswagten , wie Papierfetzen herumflogen . - Dann kam das rote Deichwärterhaus mit dem kleinen , sonnenverbrannten Garten , der Bootschuppen , das Dock , wo alte Schiffe zum Ausbessern lagen . Dicht beim Hafen begegneten sie vielen Spaziergängern , immer die gleichen , die jeden Abend hier herausgingen , all die bekannten Gesichter aus der kleinen Stadt . Das Grüßen nahm kein Ende , hier und da mußten sie auch stehenbleiben und ein paar Worte sprechen , bis sie endlich in die schmalen Hafenstraßen einbogen , über den Markt unter dem Rathausbogen durch und schließlich die dunkle Kastanienallee zum Schloß gingen . Ein paar Tage später , als Ellen zur Stadt war , ging die Mutter in ihr Zimmer hinauf : " Ich muß doch einmal sehen , was sie da immer treibt , wenn sie allein ist " , dachte sie . - Ellen hatte vergessen wegzuräumen , da standen drei Bilder von Editha mit Blumen davor , auf dem Tisch lag ein langer , angefangener Brief an die Freundin , der bitteren Weltschmerz atmete und endlose Klagen über Ellens elendes Los . Und daneben ein dickes , ledernes Buch mit selbstgeschriebenen Gedichten , das die Mutter noch nie gesehen hatte . Sie nahm es mit ins Wohnzimmer , setzte ihre Brille auf und las den ganzen Nachmittag . Als Ellen nach Hause kam , warf Mama ihr das Buch vor die Füße . " Du hättest es verdient , daß ich es dir um die Ohren schlage . Was ist das für ein unerhörtes Zeug ? Schämst du dich denn nicht , so was zusammenzuschmieren ? Das hört jetzt auf , verstanden ? - Und was du da an deine Editha schreibst - du meinst wohl , daß dir arges Unrecht geschieht , wenn du nicht all deinen verrückten Einbildungen folgen sollst . Von jetzt an lese ich all deine Briefe , verlaß dich darauf . " Ellen stand zuerst wie versteinert . Wie konnte Mama sich das herausnehmen , in ihren tiefsten , innersten Geheimnissen herumwühlen - ja , jetzt schämte sie sich allerdings - ihr war , als ob man ihr alle Hüllen von der Seele gerissen hätte und dann kam eine sinnlose Wut über sie . - Sie schrie der Mutter alles ins Gesicht , was an Groll in ihr aufgespeichert war . " Ich wollte , ich wäre Gott weiß wo , nur nicht mehr bei euch , in dieser Hölle . Aber ich laß es mir nicht mehr gefallen . Lieber Lauf ich fort oder bringe mich um . " Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer - Ellen hatte den Arm erhoben in drohender Abwehr : " Rühr mich nicht an , Mama ! " Denn die Mutter hatte sie schlagen wollen . Ellen kam wieder fort von zu Hause . Der Vater hatte sie zu sich rufen lassen und lange mit ihr darüber gesprochen . Ihr ganzer Trotz zerfloß in Tränen - sie hatte nie geglaubt , daß Papa so gut wäre , so vieles verstehen konnte und ihr helfen wollte . So wurde sie denn auf längere Zeit zu ihrer Tante Helmine Olestjerne geschickt . Es war eine jüngere Schwester des Freiherrn , die für sich allein in ihrem eigenen Haus und Garten lebte und eine besondere Vorliebe dafür hatte , sich bedrängter Jugend anzunehmen . Bei ihr konnte Ellen frei heraus mit allen ihren Beschwerden und unruhigen Wünschen . Schon am ersten Abend , als sie bei Tante Helmine in dem gemütlichen Wohnzimmer mit altväterischen Möbeln und Familienbildern saß , erzählte sie all ihre Erlebnisse zu Hause und in der Pension . Die Tante hörte aufmerksam zu : " Ja , mit deiner Mama ist es sehr schwierig - ich habe sie auch manchmal nicht verstehen können . Du bist ja jetzt groß genug , daß man mit dir darüber reden kann . Aber bei mir sollst du dich nun einmal wirklich wohl fühlen und soviel Freiheit haben , wie ich dir mit gutem Gewissen geben kann . Es ist eine Malerin hier , bei der du Stunden nehmen kannst , wenn du so große Lust dazu hast . " Ob sie Lust hatte ! Ellen riß beinahe das Tischtuch mit Lampe und allem herunter und fiel der Tante um den Hals . " Und wenn die sagt , daß du Talent hast , lassen sie dich vielleicht auch zu Hause dabei . Dann hast du wenigstens eine Arbeit , die dir Freude macht . " Ellen bekam ein Zimmer als Atelier eingerichtet und warf sich gleich vom ersten Tage an mit Heißhunger auf die Arbeit , mit ihrer vollen , gesunden Jugendkraft , die sie bisher fast wie etwas Überflüssiges gedrückt hatte und jetzt mit einemmal in ihr aufjauchzte , weil sie ein Ziel bekam und das Ziel , das ihr glühendster Wunsch war . Am liebsten stand sie die ganzen , langen Sommertage vor der Staffelei oder streifte mit dem Skizzenbuch draußen herum , statt mit der Tante auf Besuche zu fahren oder Vergnügungen mitzumachen . Ihre Lehrerin betete sie etwas scheu und aus der Ferne an - eine Künstlerin , die in Paris und München gewesen war , ein Wesen aus einer ganz anderen Welt , von der Ellen nichts geahnt hatte und alles mit staunender Glut verschlang , was sie jetzt erfuhr . Sie schämte sich ihrer bodenlosen Unwissenheit - hatte noch nie ein richtiges Bild gesehen , nicht einmal gewußt , daß man nach lebenden Modellen malte , und tat so dumme Fragen , daß Fräulein Hunius oft lächelte . Und wie die da herumging zwischen all den beschränkten , engherzigen Leuten - nur ihrer Kunst lebte . Nur der Kunst leben . Ellen fing an zu ahnen , was das sein müßte . Wenn die Lehrerin zur Stunde kam , stand sie bebend hinter ihr und folgte jedem Strich . Und nur dann , wenn sie ihr Gesicht nicht sehen konnte , wagte sie von sich selbst zu sprechen - wie sie sich auch so ganz in die Kunst hineinstürzen möchte , nur dafür dasein und arbeiten bis aufs Blut , trotz aller Hindernisse . Und was für Hindernisse standen ihr entgegen - das meinte Fräulein Hunius auch , die Ellens ganze Verwandtschaft kannte . Sie sprach ihr auch von den Enttäuschungen , daß Ellen noch so jung sei und sich wie alle Anfangenden große Illusionen mache , die wohl meist nach und nach zerschellten . Aber das bedrückte sie nicht weiter , und sie glaubte nicht daran . Es war eine Zeit , wo sich ihr alles in einen Traum von immerwährender Glückseligkeit verwandelte , der ganze Tag war ein ernstes Spiel mit frohen Kräften , und selbst in den warmen Sommernächten wollte keine rechte Müdigkeit kommen . Manchmal stand Ellen heimlich wieder auf , stieg aus dem niedrigen Fenster und lief über den Rasenplatz zum Fluß hinunter , der am Garten vorbeifloß . Da schaukelte sie sich in Tante Helminens kleinem Boot oder tauchte in das dunkle , raschfließende Wasser hinein , mit stiller Angst , daß die Tante sie gehört haben könnte . Anfang Dezember schrieb die Mutter , Ellen müsse nun endlich einmal wiederkommen . Die Tante ließ sie ungern gehen , denn sie hatte große Freude an Ellens Fleiß und konnte ihre rastlose Lebendigkeit gut ertragen . Aber im nächsten Jahr sollte sie wiederkommen und weiterlernen . Ellen fuhr nach Hause mit zwei großen Zeichenmappen und voll von Plänen und Zukunftsträumen . Jetzt strahlte ihr die Welt . Sie wollte gut gegen Mama sein , ihr nachgeben , soweit es ging , und im Stillen weiterarbeiten , bis sie alle überzeugt hatte , daß sie Malerin werden müßte . Am Weihnachtsabend saßen sie alle noch spät beim Punsch im Eßsaal auf Nevershuus . Der Freiherr ging , wie er es liebte , während des Gespräches mit großen Schritten auf und ab . " Das waren eure letzten Weihnachten hier " , sagte er plötzlich und blieb am Tisch stehen . Die vier Geschwister saßen wie versteinert und sahen ihn an . " Ja , Papa hat Nevershuus verkauft " , sagte nun die Mutter mit Tränen in den Augen . " Zum Frühjahr müssen wir fort . " Sie schwiegen alle , der Vater stand vor ihnen und reckte sich in die Höhe : " Seid doch froh , wenn wir endlich einmal aus dem Nest herauskommen - von euch Jungen wird ja doch keiner Landwirt , und wir sind jetzt zu alt , um uns damit zu plagen , für nichts und wieder nichts . " Marianne war die einzige , die schon darum gewußt hatte , die anderen konnten sich immer noch nicht von der jähen Überraschung erholen : daran hatten sie nie gedacht , sich nie vorgestellt , daß es einmal so kommen könnte - Nevershuus ihnen nicht mehr gehören . Und die Eltern waren in ihren Augen die " jungen Leute " , denen keine Zeit etwas anhaben konnte - Papa sich zur Ruhe setzen , das war wie eine Erklärung , daß sie nun alt würden . Sie mühten sich alle , ihre Bewegung zu unterdrücken , denn Gefühlsäußerungen , besonders im größeren Kreise , waren bei den Olestjernes niemals Brauch gewesen . Es gab nur hier und da einen etwas unsicheren Ton in den Stimmen , während sie über das große Ereignis sprachen . " Wo wollt ihr denn hinziehen ? " fragte Erik mit seiner gewohnten überlegenen Ruhe - für ihn kam es auch nicht so sehr in Betracht , da er demnächst auf die Universität sollte . " Das wissen wir noch nicht , aber jedenfalls in eine größere Stadt . " " Für uns ist es überall gut , wo wir zusammen sind und euch haben " , meinte Marianne ; "- aber es war doch unser Nevershuus . " " Ach , ihr solltet euch doch freuen , einmal in andere Umgebung zu kommen , " sagte der Vater wieder . " Hier versimpelt ihr auf die Länge , seht nichts von der Welt , wißt nichts von der Welt . Euer Nevershuus werdet ihr schon mit der Zeit vergessen . " " Wie kannst du das sagen , Christian ! " Der Freifrau ging es wie den Kindern , sie hing mit allen Fasern an dem alten Schloß - vierundzwanzig Jahre - ihre ganze Ehe - die Kinder , die hier geboren und aufgewachsen - ihr Ältester , der hier gestorben war ! Sie begriff doch nicht recht , daß ihr Mann sich so leicht loslöste , es wie eine Befreiung empfand , wie einen neuen Lebensanfang , von hier fortzukommen . Marianne saß mit ineinandergelegten Händen und sah nur ihren Vater an - er war grauer geworden in den letzten Jahren , die Stirn noch höher und gefurchter , aber heute schien er ihr so verjüngt . Sie wußte am besten , wie er sich von jeher hinausgesehnt aus diesem engumschlossenen Leben , in das die Verhältnisse ihn gegen seine Neigung hineingezwungen hatten . Durch die offene Tür sah man in den Weihnachtssaal , die Lichter waren längst heruntergebrannt , das Silber auf den Tannen schimmerte matt im Dunklen . " Ihr lacht ja heute gar nicht " , sagte der Freiherr auf einmal , " was ist denn in euch gefahren ? " Sonst mochte es ihm manchmal zu viel werden , wenn seine junge Schar bei jedem vernünftigen Gespräch , bei jeder ernsten Lektüre unweigerlich im Chor losplatzte , besonders an Festtagen , wenn die Bowle auf dem Tisch stand . Aber er vermißte doch etwas , wenn sie so unnatürlich ernst waren . Aber sie saßen alle und dachten , daß diese Weihnachten nun die letzten in der alten Heimat wären , da wollte kein Gelächter in Gang kommen . Zweiter Teil Zweiter Teil L... , 3. März 1888 Vor allem will ich Sie beruhigen , daß weder meine Mutter noch Detlev etwas von unseren Gesprächen gehört haben - sie schalt nur , daß ich zu viel mit Ihnen getanzt hätte . - Herrgott , wenn sie wüßte , daß ich jetzt an Sie schreibe - es ist bald fünf Uhr , unten auf der Straße rasseln schon Milchwagen , ich liebe nichts mehr , als so eine Nacht durch aufzubleiben , und heute wäre es mir unmöglich gewesen zu schlafen . Es kommt mir wie ein Wunder vor , daß ich nun wirklich einen Menschen gefunden habe , dem ich alles sagen kann und der mein Freund sein will . Sie machen sich ja keinen Begriff davon , wie allein ich war und wie todunglücklich ich mich von jeher zu Hause gefühlt habe , besonders in diesem letzten Jahr , wo auch Detlev mir immer fremder wurde . Sie wollten mir das nicht recht glauben , aber es ist wirklich so : meine Mutter sieht es nicht gerne , wenn ich viel mit ihm zusammen bin . Sie hat ihm das Versprechen abgenommen , mich keine modernen Bücher lesen zu lassen und mich mit seinem Verkehr nicht in Berührung zu bringen . Nur unter der Bedingung darf ich mit ihm ausgehen , die Eltern sind ja schon außer sich , daß er so in all diese Sachen hineingekommen ist und mit freidenkenden Menschen verkehrt . Aber Sie können sich vorstellen , wie mir dabei zumute war , wenn er mir von Ihnen und den anderen erzählte , wie von einer Welt , die mir immer verschlossen bleiben sollte . Dann fand ich eines Tages auf seinem Schreibtisch " Brand " und " Peer Geeint " und nahm es mir herüber . Ganze Tage habe ich darüber zugebracht und konnte weder essen noch schlafen , nur immer wieder lesen , sowie ich allein war . Es kam mir vor , als ob jedes Wort für mich geschrieben wäre , ich wußte mit einemmal , daß es keine unmöglichen Hirngespinste waren , mit denen ich kämpfte , - wenn sich alles in mir sträubte gegen das Leben , das man mir aufzwingen will . Früher empfand ich es immer als eine Art Unrecht gegen meine Eltern , mich so dagegen aufzulehnen und heimliche Sachen zu tun , aber nun ging es mir plötzlich auf , daß jeder ein unveräußerliches Recht an sein Ich und sein eigenes Leben hat . Wissen Sie die Stelle : das Eine darfst du nie verschenken , - dein Selbst , dein Ich , den heiligen Dom - du darfst nicht binden - nicht es lenken - nicht hemmen seines Lebens Strom - Er rauscht dahin und strömt und schwillt : - bis er im Meer die Sehnsucht stillt . Wenn Sie erst mein ganzes , bisheriges Leben kennen , werden Sie begreifen , was für einen überwältigenden Eindruck das auf mich machte , als ob plötzlich etwas Erlösendes durchbräche , wo früher eine dumpfe , undurchdringliche Maße war . Und dabei muß ich immer wieder an den großen Krummen im " Peer Geeint " denken , wie er im Nebel auf ihn losschlägt und nicht durchkann , und der Krumme antwortet : " Gehe herum . " Aber wo er hinkommt , ist wieder dasselbe da und ruft : " Gehe herum ! " Zuerst habe ich das alles ganz allein durchlebt , aber es hätte mich einfach erstickt , ich mußte mit Detlev davon sprechen . Und da kamen wir uns wieder so viel näher , er hat mir dann auch die anderen Bücher gegeben , und was waren das für Stunden , wenn wir zusammen darüber sprachen . Er arbeitet abends immer in meinem Zimmer , und da reden wir oft die ganze Zeit von alledem . Dann erzählte er mir auch von Ihnen , und ich versuchte , ihm das Verantwortungsgefühl auszureden , weil ich Sie so gerne kennenlernen wollte . Als ich Sie ein paarmal gesehen hatte , wußte ich ja gleich , daß wir uns verstehen würden . Und wie Detlev es dann durchsetzte , daß ich zu dem Tanzabend mitdurfte - sehen Sie , da hatte ich das Gefühl , als ob etwas Entscheidendes kommen müßte , jetzt oder nie . Sonst wäre es wieder an mir vorbeigegangen , und ich hätte in dem alten Elend weiterleben müssen . - Und nun ist es wirklich geschehen - als ich hinter Mama und Detlev nach Hause ging mit Ihrem Brief in der Tasche , dachte ich immer nur : jetzt kann kommen , was will , das können sie mir doch nicht mehr nehmen . Daß wir uns öfter sehen , wird allerdings schwierig sein , ich weiß schon gar nicht , wie ich immer zur Post kommen soll , um Ihre Briefe abzuholen - also wenn möglich , Mittwoch im Dom , die Tür beim Turm ist ja immer offen . Und nun leben Sie wohl - es kommt mir vor , als ob ich Ihnen so viel zu sagen hätte , daß es nie ein Ende nimmt. 8. März , nachmittags Eben komme ich von unserer so schmählich zerrissenen Zusammenkunft im Dom zurück . Der Schrecken sitzt mir noch in allen Gliedern . Gott im Himmel , wenn mein Vater uns gesehen hätte - ich hätte mir auch denken können , daß er unserem Besuch die Kirchen zeigen würde . Und was der Kirchendiener wohl gedacht hat , als wir auf allen vieren zwischen den Bänken durchliefen . Es war eine gute Idee von Ihnen , denn sonst hätten sie uns sicher gesehen . Aber es war doch schön , daß wir uns wenigstens so lange in Ruhe unterhalten konnten . Glauben Sie nur nicht , daß ich Ihnen unsere häuslichen Verhältnisse übertrieben habe . - Seit wir hier sind , habe ich mit Mühe erreicht , daß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sein kann und nicht mehr nähen muß . Da habe ich mir mit einer spanischen Wand eine Art Atelier eingerichtet , wo ich Male und modelliere . Aber es ist unmöglich , allein weiterzukommen - ich darf weder Modelle nehmen , noch mir Gipsabgüsse ausleihen . Meine Mutter findet , ich soll dann wenigstens " hübsche , brauchbare " Sachen - Geschenke , Porzellanteller usw. machen . Das fällt mir natürlich nicht ein , und so bleibt mir nichts übrig , wie meine alten Stiefel und ähnliches zu malen . Davon habe ich schon eine ganze Galerie . - Ich weiß ganz gut , daß meine Mutter mich auf diese Weise zwingen will , nachzulassen . Aber ich lasse nicht nach . Es ist überhaupt ein fortwährender Krieg . " Jedermanns Hand wider jedermann . " Mit meinem Vater kann ich auch zu keinem Verständnis mehr kommen , er hat sich in letzter Zeit mehr um mich gekümmert , aber es ist doch zu spät . Ich kann mich nicht freundlich mit ihnen stellen , wenn ich sie zugleich fortwährend hintergehen muß . Und das wieder muß ich , um zu meinem Lebensrecht zu gelangen . Ein ehrlicher , offener Kampf würde mir gar nichts nützen , sie sperren mich dann höchstens noch mehr ein . Und was das Leben so schön macht , kann nicht schlecht sein . Wo bliebe dann die Wahrheit ? In all dieser verschrobenen Sittlichkeit und Moral ist ja doch kein Funke davon . Ich lese jetzt gerade " Die Frau " von Bebel und Lassalles " Leben " . Was ist das für ein Kerl , ich bin ganz weg , in den hätte ich mich wahnsinnig verliebt . Seine Flugschriften will ich jetzt auch lesen , Detlev hat sie ja. P.S . Die Mutter hat Detlev gestern gefragt , ob er etwa mit zu diesem abscheulichen Ibsenklub gehörte , wo die Mädchen mit jungen Männern über unmoralische Sachen sprächen und zusammen Ibsen läsen . - Sie hat in einer Gesellschaft davon gehört . Natürlich waren Sven Olafson und die Schwestern Seebald damit gemeint , aber wer mag den Namen Ibsenklub aufgebracht haben ? Vielleicht haben wir Detlev jetzt bald so weit , daß ich die alle einmal kennen lerne . Übrigens hat Mama bei dieser Gelegenheit auch noch gesagt : " Friedrich Merold ist doch der einzige Nette von deinen Freunden . " - Sie scheinen also doch guten Eindruck gemacht zu haben . 20. März Es ist morgens um fünf Uhr - beim Aufwachen fiel mein erster Blick auf die Blumen von Ihnen , die noch immer blühen . - Ich stehe jetzt immer so früh auf , um mehr Zeit für mich zu haben , und diese stillen Morgenstunden sind das schönste am ganzen Tag . Früher in Nevershuus lief ich oft so in der Frühe auf die Wiesen hinaus und manchmal heimlich durch die Stadt zum Strand . Es war so schön , ganz allein am Meer zu sein , ich habe oft noch Heimweh danach . Aber was hätte ich für ein Leben geführt , wenn wir dort geblieben wären - jetzt scheint doch wenigstens hier und da ein Lichtstrahl durch die Türspalte . Und das tut auch wirklich Not . Gott , was ist das für ein Familienleben , mir schaudert , wenn ich gleich zum Frühstück hinunter muß . Den ganzen Tag gibt es Auseinandersetzungen und Szenen , wo nur zwei in einem Zimmer beisammen sind . Sagt einer : das ist weiß , so schreit gleich der andere : nein , was fällt dir ein - schwarz ist es . Und alles hat Nerven , selbst die Hunde sind nervös bei uns und fangen an zu quieken , wenn zu laut gesprochen wird . Aber es ist Zeit , ich muß hinunter , leben Sie wohl , bis wir uns wiedersehen . Ellen. 28. März Wenn wir uns doch bald wiedersehen könnten , ich habe Ihnen so viel zu erzählen . Vorgestern nahm Detlev mich nun wirklich mit zu Seebalds , und Olafson war zuerst auch da . Es wurde über die " Frau vom Meer " gesprochen , über Murgers " Zigeunerleben " und über freie Liebe . Und dann erzählte Olafson von Paris . Wie kann er wundervoll reden - wenn er sprach , schwiegen alle still , aber ich glaube , uns war allen zumute , als ob man laut schreien müßte vor Begeisterung oder weinen oder irgend etwas ganz Verrücktes tun . Was sind das alles für Menschen , endlich einmal wirkliche Menschen , ohne Schablone und voll Künstlertum und Freiheit . Es ist einem , als ob man sein Leben lang taub , blind und stumm in einer Höhle gesessen hätte und nun zum erstenmal sieht , zum erstenmal menschliche Stimmen hört , die ins Leben rufen . Nachher zeigte Lisa uns ihre Skizzen . Gott , wenn ich denke , daß man auch einmal so hinauskönnte . Sie fanden es alle entsetzlich , daß ich so eingesperrt bin , besonders Marga , die ja auch Ihre besondere Freundin ist . Ich bin sehr angetan von ihr - man sieht , daß sie ihren Lebenskampf mit Stärke und Entschlossenheit kämpft . Später gingen wir mit der ganzen Gesellschaft zu Sens . - Sie haben ganz recht : das düstere , alte Haus paßt wunderbar zu diesen Menschen . Die zwei Schwestern saßen in großen Lehnstühlen und sahen aus wie seltsame schwarze Blumen . Anita spielte mit einer kleinen Katze - von der anderen weiß ich nicht , wie sie heißt , und der Bruder mit dem Christuskopf stand am Fenster . Sie sagten alle sehr wenig , aber man fühlt , daß sie es auch nicht nötig haben , so viele Worte zu machen wie wir anderen . - - das war ein ereignisreicher Tag für mich , ich finde , das Leben wird jetzt mit jedem Tag schöner und reicher . Und ich bin mitten drin , nun lasse ich es nicht wieder fahren . 14. April Kaum eine Stunde ist es her , daß wir uns trennten - nur die Rose , die im Glas vor mir steht , sagt mir , daß ich nicht geträumt habe - daß wir jetzt für immer zusammengehören . Friedl , ich hätte Dir noch so unendlich viel zu sagen , aber ich kann nicht . Es ist , als ob die ganze Wirklichkeit um mich versunken wäre - ich weiß nur noch unsere Liebe , und daß uns nichts mehr trennen kann . Abends Und dieser Tag ist verschont geblieben von all den Dissonanzen , die mich sonst quälen und zerreißen . Ich war ganz alleine mit den Eltern , und es fiel ausnahmsweise kein böses Wort zwischen uns . Mein Gott , und wenn sie einmal mit mir so sind , fühle ich auch wieder , wie ich sie im Grunde doch liebe . Ich war in einer so weichen Stimmung , daß ich ihnen am liebsten um den Hals gefallen wäre . Gute Nacht , Geliebter , meine ganze Seele ist bei Dir und gehört Dir . Mein Fenster steht weit offen , die Luft ist voller Frühling , und in mein Leben ist zum erstenmal Sonne gekommen . 21. April Hab Dank für Deinen Brief - wenn Du wüßtest , wie mich Deine Worte glücklich machen und auch wieder traurig . Ach , Friedl , daß wir jetzt an eine lange Trennung denken müssen , wo wir uns eben erst gefunden haben - das ist sehr schwer . - Aber es war schon lange festgesetzt , daß ich für diesen Sommer zu meinen Verwandten sollte . Länger wie ein halbes Jahr können sie mich hier zu Hause ja nicht ertragen . Aber sieh , wir können ja auch aus der Ferne alles miteinander teilen - wir müssen um unserer Liebe Willen alles ertragen , und ist es nicht geradeso schön , daß niemand darum weiß ? - Und ich weiß doch nicht , wie ich nur einen Tag ohne Dich leben soll , und nun erst Wochen und Monate . - - Ich muß Dir heute abend noch ein Wort schreiben und Dir immer wieder sagen , wie glücklich ich bin . Endlich - endlich ist es Frühling geworden , und ich komme mir wirklich vor wie ein Baum , der Knospen treibt . Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen - in Schönheit und Freiheit , nur die letzten Schranken gilt es noch einzurennen , und sie sollen und müssen fallen . Herrgott , wir sind ja noch so jung - die paar Jahre , bis ich mündig bin , werde ich wohl noch aushalten , und dann soll keine Macht der Welt mich zwingen , noch zu bleiben . Sollte ich etwa mit gebundenen Händen immer weiter zusehen , wie man mir mein Leben zertritt , bis die Jugend vorbei ist und alles zu spät ? Nein , siehst Du , Friedl , ich muß hinaus aus alledem , sonst gehe ich innerlich zugrunde . - Und denke Dir nur , wie göttlich es werden kann , wenn wir beide in München wären - Du studierst und ich Male , und wir lieben uns , wie noch nie zwei Menschen sich geliebt haben . - Ich sitze oft stundenlang da und stelle mir das alles vor , und es wird immer leuchtender in mir . Aber es macht vor allem Deine Liebe , und daß ich jetzt endlich einmal fühle , was Glück ist - da blüht dann auch alles andere auf . Sage mir immer wieder , jeden Tag , daß Du mich lieb hast - Ich küsse Dich tausendmal - - 24 . April Warum kamst Du gestern nicht ? Du fehltest mir so unter den anderen . Gerade dann , wenn es lustig und laut ist , kommt mir auf einmal eine solche Sehnsucht nach Dir . - Wir trafen uns vorm Tor , der ganze Ibsenklub , und zogen in irgendein Wirtshaus weit draußen an der Landstraße , wo wir zur Feier des Karfreitags Grog tranken und sehr viel Lärm machten . Auf dem Rückweg kamen wir an der kleinen Kirche vorbei und hüpften im Gänsemarsch oben auf der Mauer entlang , als plötzlich die Türen aufgingen und die andächtige Gemeinde herausströmte . Wir machten , daß wir herunterkamen , und tanzten alle angefaßt um Lisa herum , die nicht mitgewollt hatte . Die Kirchenbesucher und Vorübergehenden schienen einigen Anstoß daran zu nehmen , und wir wurden verschiedentlich ermahnt weiterzugehen . Es war zu schade , daß Du nicht da warst . - Detlev und ich kamen noch etwas angesäuselt zu Tisch und wurden mit einem Donnerwetter über unser langes Ausbleiben empfangen . - Sie sind auch außer sich , weil wir uns weigerten , morgen mit zur Kommunion zu gehen , den ganzen Abend wurde kein Wort gesprochen - aber wäre es nicht Feigheit , es um des Friedens Willen doch zu tun ? 2. Mai Das ist nun unwiderruflich der letzte Abend - für Monate . Eben bin ich noch mit unserem alten Nero im Mondschein durch den Garten gegangen - und mir war ganz wehmütig dabei . Dies Tier ist das einzige Wesen , das hier zu Hause wirklich an mir hängt und mich vielleicht etwas entbehren wird . Nein , es ist nur gut , daß ich fortkomme , dieser Zustand reibt mich auf . Immer liegt es wie ein dunkler Schatten über meinem Leben , das sonst so froh und Licht sein könnte . Friedl , denke daran , daß ich keine Mutter habe , nie gewußt , was Mutterliebe ist - das alles mußt Du mir ersetzen , und Du tust es ja schon . So lebe wohl , Du einzig Geliebter , wann werden wir uns nun wiedersehen ? Wann wird wieder eine Blume von Dir vor meinem Bette stehen , wenn ich einschlafe ? Du wirst wohl oft zu meinem leeren Fenster hinaufsehen - es ist mir ein Trost , daß Du oft mit Detlev zusammen bist , den werde ich auch schwer vermissen . Lebe wohl , ich schreibe Dir so bald wie möglich . Balsdorf , 4. Mai Nun sind wir so weit auseinander , und das Herz tut mir so weh . Ich denke den ganzen Tag an Dich , an alle die einzelnen Stunden , die wir zusammen waren und an jene allerschönste auf dem Kirchhof , wo Du mir Deine Liebe sagtest . Immer wieder zog das alles an mir vorbei . Wie habe ich mich heute auf diesen Augenblick gefreut - ich bin allein in meinem Zimmer und Dein Bild steht vor mir - ich sehe in Deine Augen - draußen über den dunklen Tannen der Mond , und im Garten schlagen die Nachtigallen . - Friedl , was sollte wohl aus mir werden , wenn ich Dich nicht hätte . Ich habe noch viele bittere Worte gesagt und gehört in den letzten Tagen zu Hause , es gab noch einen argen Zusammenstoß mit meiner Mutter , und wir haben uns kaum Adieu gesagt . Papa sprach den letzten Morgen mit mir über meine namenlose Starrköpfigkeit und versicherte mir , daß es mir doch alles nichts helfen würde . Das einzige Gute bei diesem Abschied war mit Detlev , wir haben uns eine ganze Stunde geküßt und uns geschworen , fest zusammenzuhalten . Beinahe hätte ich ihm jetzt schon unser Geheimnis verraten . Vorhin war ich mit den anderen im Wald . Ich lag im Gras und träumte , während sie sich unterhielten , machte die Augen zu und dachte an unser letztes Beisammensein : wir standen wieder im Dom bei der großen Orgel - und dann sah ich Dich rasch fortgehen . Da wurde mir zumute , als ob ich weit fortstürzen möchte in die Einsamkeit mit allem Sehnen und Denken . Ich möchte Dich noch einmal sehen und dann mein verfehltes , zertretenes Leben von mir werfen . Ja , Friedl , ich fühle mich manchmal so entsetzlich zerrissen und heimatlos , daß mich alle Kraft verlassen will . Nirgends bin ich zu Hause , nirgends - am wenigsten da , wo ich es sein sollte . Kaum ein halbes Jahr kann ich mit ihnen leben , dann muß ich wieder hinaus unter fremde Menschen , wo ich auch nicht hingehöre . Wenn sie auch gut gegen mich sind , gerade das tut mir manchmal am meisten weh und es sind doch überall dieselben Schranken , an denen ich mich Wundstoße . Und ich fühle doch auch , daß niemand so zur Lebensfreude geschaffen ist wie ich - manchmal erschrecke ich selbst darüber , was für Wildheit in mir steckt und sich ausrasen möchte . Du bist ja der einzige , zu dem ich so sprechen kann . Hab Geduld mit mir , Du allein , die anderen haben sie ja alle nicht , weil ich nicht so sein kann , wie sie mich haben wollen . Vielleicht , wenn Du mich ganz kenntest , würdest Du ebenso denken wie sie . Das ist ein fürchterlicher Gedanke ; nein , sage mir , daß Du immer an mich glauben willst - immer . Hilf mir , ich will auch alles auf mich nehmen , wenn Du mich nur lieb hast . 10. Mai Die ruhigen Tage hier haben mich wieder mehr ins Gleichgewicht gebracht - sowie ich nur die wahnsinnige Überreizung von zu Hause überwunden habe , bin ich wieder ein anderer Mensch . Und Dein geliebter Brief macht mich so froh . Ich werde hier förmlich verzogen und habe ziemlich viel Freiheit , kann den ganzen Tag draußen zeichnen oder rudern . Dein Herbstgedicht ist sehr schön - ich mußte an die Herbsttage daheim in Nevershuus denken , wenn ich mit den Hunden auf der Koppel war und im Gehen den Ossian las . Kennst Du den ? Oder in den Sturm hinaussang - ich kann eigentlich gar nicht singen , nur wenn ich allein bin . Aber ich sehne mich so oft nach Musik , und sie fehlt mir so . Aber bei uns ist das nun einmal so : was nicht zum täglichen Brot gehört , ist überflüssig und verwerflich . Und was könnte man alles aus sich machen , wenn einem nur ein bißchen geholfen würde . Ich möchte alles können und alles wissen und muß fortwährend meine ganze Kraft aufbieten , um nur das wenige zu retten , was ich habe - damit mir nicht auch das zerdrückt wird . Jetzt lese ich Tristan und Isolde in der alten Sprache , es ist so wunderbar schön . Meist steige ich damit in einen Baum und schaukle mich in den Zweigen und denke an Dich. 18. Mai Kennst Du das Gedicht von Ibsen : " Sie saß schon frühe - im Lebensmai - in der Galerie - vor ihrer Staffelei ? - " Und den Schluß , wie sie immer noch da sitzt und von " leuchtenden Schönheitstagen " träumt , als der Lebensmai längst vorüber ist ? Vielleicht wird mein Schicksal ähnlich fallen . Und wenn Du nach vielen Jahren heimkommst und Dir Dein Leben aufgebaut hast , groß und schön , findest Du mich immer noch an meinem Fenster - aber zerstört - vernichtet und fürs Leben verloren . Und das mit dem Jäger - ich las heute gerade die beiden wieder - erinnerst Du Dich - wie er den anderen mit magischer Gewalt auf einen Berg hinaufzieht und dort festhält . Und von droben sieht er alles vergehen , woran er hing : sein Haus brennt auf , während der Jäger von der schönen Beleuchtung spricht . Seine Braut zieht mit einem fremden Mann zur Kirche - aber er bleibt auf dem Berg , und wie alles vorbei ist und tot da drunten , ist er stark geworden und gefeit : Mein Leben im Tale auf ewig tot - Hier oben Gott und ein Morgenrot - dort unten tappen die anderen - . Vielleicht fällt es auch so - - 1. Juni Morgens halb vier - eben sind wir vom Ball gekommen durch den schimmernden , tauigen Sommermorgen . Uns liefen Rehe über den Weg . Wie kann man da zu Bett gehen ? Ich habe unsinnig getanzt und dachte so viel an Dich , wie wir damals zusammen tanzten . Ich schicke Dir die Blumen , die ich im Haar hatte . - - Sechs Uhr Mir wurde vorhin doch etwas müde , da bin ich hinaus und zwei Stunden lang durch die Wiesen und Felder gerannt , ganz ohne Besinnen ins Blaue hinein mit meinen Tanzschuhen durchs nasse Gras und über Gräben . Es war wie ein Rausch , ich fühlte mich so frei , als ob es keine Fesseln mehr gäbe . Ach , wenn Du hier wärest , ich alles mit Dir genießen könnte , mit Dir zusammen in der freien Natur und die Seele ausruhen lassen . Da müßten wir beide froh werden . - Vorhin war mir noch ganz wirblig vom Tanzen , aber jetzt ist es vorbei . - Siehst Du , so etwas ist eigentlich nicht gut für mich , es steigt mir immer so zu Kopf . Ich bin so entsetzlich wild , Friedl , ich könnte tanzen , bis ich tot umfalle . 12. Juni Friedl , ich habe einen großen Schritt getan - meinem Vater geschrieben , er sollte mich das Lehrerinnenexamen machen lassen . Ich habe es mir in dieser Zeit eingehend überlegt . - So lassen sie mich doch nicht fort , und dann kann ich mich wenigstens auf eigene Füße stellen , wenn es zum Klappen kommt . Und mir das Geld zum Malen selbst verdienen . Ich habe mir schon alles ausgerechnet , wenn ich erst Mal für ein Jahr genug habe , gehe ich nach München , und das Weitere findet sich . Es ist nur ein greulicher Gedanke , alles andere liegen zu lassen und sich wieder hinter die Schulbücher zu setzen . - Übrigens habe ich Papa gesagt , wenn er mir dies nicht erlaubte , würde ich mich weigern , überhaupt wieder nach Hause zu kommen . Du , Schatz , durch Detlev habe ich erfahren , daß man mich möglichst viel auf Bälle und solche Sachen schickt , weil Mama hofft , es würde sich doch Mal jemand zum Heiraten finden . Momentan ist hier das ganze Haus voll von Offizieren zur Jagd . Ich halte ihnen Reden über Ibsen und moderne Ideen . Wenn sie morgens in den Garten kommen , sitze ich im Kirschbaum , und sie müssen bitten , daß ich ihnen Kirschen hinunterwerfe . Die werden sich schwer hüten , mich zu heiraten . Überhaupt macht es mir furchtbaren Spaß , die Leute vor den Kopf zu stoßen , besonders diese aristokratische Bande . Ich bin aus meinem Zimmer ausquartiert und wohne in einer Bodenkammer , droben ist ein plattes Dach , auf dem ich gestern Nacht geschlafen habe , das war herrlich . In acht Tagen fahre ich nach D... zu Tante Helmine und treffe Detlev dort . Lebe wohl - D... , 25. Juni , vier Uhr morgens Liebster Friedl - Detlev weiß alles - gestern abend habe ich es ihm gesagt , bis jetzt haben wir zusammen auf seinem Bett gesessen und gesprochen . Er war so furchtbar lieb , freut sich so an unserem Glück - und will uns helfen , so viel er kann . Jetzt habe ich ihn ganz wieder , wie in unserer Kindheit . Dann hat er mir auch vieles von sich selbst erzählt , was ich noch nicht wußte - ich kann dir nicht sagen , wie es mich erschüttert hat und auch tief bewegt . Detlev fühlt sich ja so unglücklich und denkt nur an Maria N. , ob sie ihn wohl doch noch lieben wird . Nicht wahr , wir wollen tun , was wir können , um ihn froher zu machen - Du bist ihm ja ein solcher Halt . 3. Juli Morgen fährt Detlev nun fort zu Euch - ich mag ihn gar nicht hergeben , was haben wir hier für Abende gehabt , wenn die Tante zu Bett ist und wir noch stundenlang zusammen redeten , von Dir , von ihm und von allem . Auch über die Kreuzersonate haben wir viel gesprochen , habe Dank , daß Du sie schicktest . Ja , ich kann begreifen , wie sie Dich erschüttert hat , uns ist es ebenso gegangen , gerade durch all die furchtbaren Wahrheiten . - Mein Gott , so verbinden sie einem die Augen bei dieser idiotischen Erziehung , und wenn man sie aufmacht , sieht man in einen Abgrund . Hab auch Dank für alles , was Du mir gesagt hast , ja , wir wenigstens wollen in unserer Liebe nach Reinheit und Wahrheit streben . - Gott , Friedl , wenn ich Dich nicht hätte und den ganzen Reichtum unserer Liebe - Abends - Heute nachmittag ist mein Vater gekommen , und es gab eine große Unterredung . Also : ich trete diesen Herbst ins Seminar ein und muß dann zweiundeinhalb Jahre drinbleiben - zu Hause . Mir graut doch davor - denke Dir , die ganze Zeit nicht malen können . Vielleicht geht es auch in anderthalb Jahren , wenn ich mich sehr anstrenge , dann wäre ich gerade zwanzig - Gott , und dann - - Übrigens hat er mich auch arg verdonnert - es wäre ein letzter Versuch , ich würde ja auch dort wahrscheinlich wieder hinausgeworfen werden , wenn ich mich nicht mehr zusammennähme . - Er wüßte auch , daß ich Detlev aufhetzte und daß wir beide eine Verschwörung im Hause bildeten mit unseren sogenannten freien Ansichten . Fortlassen würde er mich nie , wenn ich mich nicht änderte . Ach Du , mir fehlt doch im Grunde die " moralische Kraft " , um das alles auszuhalten - ich glaube , davon habe ich überhaupt nicht viel . Wenn mein Ziel nicht wäre . Vorläufig bleibe ich noch hier - es ist auch ganz nett , nur diesen Sommer etwas unruhig ; fortwährend muß man ausfahren , Theater spielen und so weiter . Früher ließ meine Tante mich den ganzen Tag arbeiten , jetzt findet sie , ein junges Mädchen muß sich vor allem amüsieren . Gott ja , ich amüsiere mich auch , aber es bekommt mir innerlich nicht , ich gerate zu leicht in das hinein , was Detlev meine Tobsucht nennt . Und das ist natürlich auch wieder nicht recht : ein junges Mädchen muß immer die Grenzen innehalten ! - Aber wenn ich einmal anfange , kann ich das nicht . Ich möchte dann nur losrasen und alles vergessen , bis ich zusammenklappe , und dann wieder von vorne an und so durch alle Tiefen und Höhen des Lebens durch , bis es aus ist . Weißt Du , was man so inneren Halt nennt , ich glaube , das fehlt mir gänzlich . Das mußt Du mir geben , Du hast so viel davon - und in Deiner Liebe werde ich es finden . Allenberg , 15. August Nun bin ich schon wieder anderswo , Du siehst , ich suche noch die sämtlichen Güter heim , ehe ich mich ins Seminar begrabe . - Hier bin ich alle Tage schon bei Sonnenaufgang an der See und bade ganz alleine . Es ist wundervoll , so allein in das kühle , goldene Wasser hineinzuschwimmen , während der ganze Himmel rot ist . Sonst beschäftigen wir uns damit , ein paar störrische Esel zuzureiten ohne Sattel und Zügel , und abends wird fast immer getanzt . Es ist hier überhaupt ein ideales , verwöhntes Landleben - so ganz leicht wird es mir doch nicht , von alledem Abschied zu nehmen . Aber ich denke daran , daß wir uns dann wiedersehen - endlich , nach all den Monaten . - Und Ostern schon geht ihr beiden von der Schule - und ich bleibe ganz allein . Deshalb habe ich jetzt auch Eile , zurückzukommen , damit wir wenigstens dies halbe Jahr voll genießen können . Und es soll so schön werden . L... Deinen Brief , daß Du für die Ferien verreistest , bekam ich erst heute morgen und fuhr mit sehr gemischten Gefühlen hierher . Detlev ist ja auch noch nicht da , und ich mit den Eltern allein . Vorhin habe ich meine Malsachen eingepackt - mir war dabei , als ob ich jemand Geliebten in den Sarg legte , aber ich glaube an eine Auferstehung . - Dann den Schreibtisch ans Fenster gerückt , damit ich Dich immer sehen kann , wenn Du zu Detlev kommst . - Als ich gerade dabei war , kam meine Mutter und sprach mit mir über das Seminar . Ich sollte nur recht fleißig sein , und wir wollten jetzt in Frieden leben . Das schnitt mir durchs Herz , Friedl , früher hat sie nie so mit mir gesprochen . Ich glaube , sie hat jetzt Angst , daß sie uns doch einmal ganz verlieren könnte . Mama ist überhaupt ganz anders geworden , sie hat etwas Milderes , das ich sonst an ihr nicht kenne , und wenn sie nur gut mit mir ist , habe ich sie doch wieder so lieb . - Aber es ist zu spät - gerade in dem Augenblick fühlte ich auch , wie sehr ich schon losgelöst bin . - Sieh , Friedl , von Natur ist mir alle Unwahrheit verhaßt , aber sie haben mich selbst da hineingetrieben . Du hast ja recht , daß gerade wir als Kämpfer für unsere Ideen alle Lüge verschmähen und unantastbar dastehen sollen . Aber jetzt noch würde es dasselbe bedeuten , wie die Waffen aus der Hand geben und verzichten . Selbst der Weg zur Wahrheit steht uns noch nicht offen . Ach , Friedl , wir werden noch viel bluten müssen um unsere Freiheit ; sagt nicht Lassalle irgendwo , daß wir alle Gladiatoren der neuen Zeit wären ? Von jetzt an wird mein ganzes Zuhauseleben nur noch Schein und Verstellung sein , jedes Wort , das ich sage - mein wahres Leben liegt anderswo - mit Euch . Aber wenn ich so allein bin , ist mir oft , als ob ich diesem Widerspruch erliegen müßte - jeden Schritt zu mir selbst mit Lügen erkaufen . Aber es muß sein und ich werde die Kraft auch finden . - Und wie lange wird es dauern , bis einmal alles herauskommt - mir ist , als ob ich auf einer Pulvertonne lebte , die jeden Augenblick in die Luft fliegen kann . Wenn Du nur erst hier wärest - - - Ellen stand am Fenster und hörte durch Herbstwind und Regen vom nahen Bahnhof herüber die Züge pfeifen . Heute abend sollte Friedl ankommen . Es wurde dunkel , sie zündete die Lampe an und wollte den Vorhang herunterlassen . - Da stand plötzlich jemand drüben unter der Laterne und sah herüber . Sie riß das Fenster auf , Sturm und Regen schlugen ihr ins Gesicht . - Ja , das war er , in seinem weiten Mantel - - keiner versuchte ein Wort oder ein Zeichen , sie mühten sich , mit den Blicken durchs Dunkel zu fühlen , als ob nur ihre tiefe Sehnsucht die Arme ausbreitete . - So standen sie sich lange stumm von ferne gegenüber . Als dann der Bruder ins Zimmer kam , schloß sie gerade das Fenster , die Haare hingen ihr naß in die Stirn . " War Friedl da ? " fragte er , dann fielen sie sich in die Arme und konnten beide eine Zeitlang nicht sprechen . Detlev war der getreue Helfer , unermüdlich trug er die täglichen Briefe hin und her , Blumen , Bücher - holte Ellen von der Schule ab und brachte sie zu ihren Liebesstunden . Die beiden wollten sich jeden Tag sehen , bei gutem Wetter wartete Friedl draußen vor der Stadt am Mühlwasser . Da saßen sie in einem morschen alten Boot unter den kahlen Weidenzweigen und hielten sich umschlungen , als ob der lange Tag zwischen dem letzten Wiedersehen und dem nächsten in diese kurze Stunde zerfließen müßte . Als es Winter wurde , lagen sie oft alle drei auf der weiten , gefrorenen Wasserfläche oder auf dem Felde im Schnee und sahen in den schimmernden , weißen Himmel hinauf . Und war die Zeit zu kurz und das Wetter arg , so blieben die Kirchen ihre Zuflucht . Detlev nahm ein Buch mit und las , während Friedl und Ellen auf einer alten schwarzen Sargbare oder im Kirchengestühl saßen und sich küßten und die hohen feierlichen Gewölbe schweigend auf all den Frevel herabsahen . Wenn es vier Uhr war , kam der Kirchendiener mit seinem großen , rostigen Schlüsselbund entlang : " Meine Herrschaften , die Kirche wird jetzt geschlossen . " Dann mußten sie sich trennen . Die Geschwister gingen langsam heim ; bis zum späten Mittagessen saßen sie in der Küche beim heimlichen Kaffee , den die Köchin ihnen immer bereithielt , und abends in Ellens Zimmer mit ihren Schularbeiten . Sie waren unzertrennlich wie in alten Zeiten und sahen die übrige Familie fast nur bei den Mahlzeiten . Alles , was sie in sich aufnahmen , lasen , dachten , was in ihnen wuchs und was jeder erlebte , wurde erst voll und ganz , wenn sie es miteinander teilten . Und was hatten sie nicht alles in sich aufzunehmen in dieser Zeit ! Eines Abends kam Detlev mit einem Buch nach Hause . Die Eltern waren aus , und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem . Sie holten sich ihren Tee herüber , vor dem Ofen schliefen die Hunde , Ellen lag auf dem Sofa , Detlev saß neben ihren Füßen und las vor - es war Nietzsches " Zarathustra " . Sie bebten beide - der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne - jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele , band eine dumpfe , schwere Kette los , sagte etwas , was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte , wonach man im Dunklen herumgetappt hatte und geglaubt , es nie zu finden . Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen - es war Offenbarung , letzte äußerste Erkenntnis , die mit Posaunen schmetterte - brausend , berauschend , überwältigend . Und alles andere , der Alltag , das Alltagsleben und - empfinden schrumpfte in eine öde , farblose Maße zusammen , verlor sein Dasein - nur das wahre , heilige , große Leben leuchtete , lachte und tanzte . Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden - noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter - wie aus einer anderen Welt hörten sie Eltern und Schwester heimkommen , die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden . Und von nun an lasen sie jeden Abend , der " Zarathustra " wurde ihre Bibel , die geweihte Quelle , aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten . Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren , - da gab es Gespräche , bei denen sie alle fieberten : die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer , und die neue Welt , das waren sie selbst mit ihrer Jugend , ihrer Kraft , mit allem , was sie schaffen und ausrichten wollten . Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen , jeder träumte von einem ungeheuren Lebenswerk , und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensrecht und ihre Überzeugung hinschlachten lassen , wenn es nötig gewesen wäre . Aber noch im Laufe dieses Winters schmolz der Ibsenklub immer mehr zusammen , und das war ein großer Schmerz . Olafson , der Apostel aus dem Norden , der die neuen Lehren zuerst in die würdige alte Patrizierstadt gebracht hatte , war wieder nach Paris . Nach Weihnachten ging auch Marga Seebald ins Ausland , von der Detlev sagte : Marga ist wie das Meer . Sie war älter wie die übrigen und die Seele der ganzen Gesellschaft mit ihrer größeren Reife und Erfahrung . Die anderen Schwestern verließen auch bald nacheinander die Stadt , und die Zurückgebliebenen mochten kaum mehr an dem Hause vorübergehen , das jetzt so leer und fremd dastand . Das Frühjahr rückte heran . Detlev und Friedrich Merold steckten im Examen , dann war es bestanden , und sie sollten zusammen nach Berlin , um zu studieren . Die waren nun frei und hatten das Leben vor sich - alle , alle gingen sie hinaus , nur Ellen mußte zurückbleiben , einsam und zähneknirschend ihre Ketten schleppen . Sie machten noch einen letzten Abendgang zusammen , sie und Friedl , während die Eltern wieder einmal ausgegangen waren . Detlev blieb diesmal zu Hause . In einer Seitenstraße trafen sie sich und gingen durch die Vorstadt hinaus , verirrten sich in unbekannte Gegenden , stiegen über Planken und Gitter , quer über Höfe und Lagerplätze . Endlich waren sie draußen auf freiem Feld , weit fort von allen Menschen . Friedl saß am Grabenrand . Ellen lag mit dem Kopf in seinem Schoß und sah in sein Gesicht und in den Mond hinauf . Beide waren still und traurig , ihnen war so schwer ums Herz , und die tiefe , stille Einsamkeit erfüllte sie mit Bangen . " Warum sind wir uns doch so fern bei aller Liebe , " kam es plötzlich über Ellen , " so ganz anders sollten wir zusammengehören , und wenn auch mein Leben zerbräche , was liegt daran . Sich einmal ganz gehören , und dann sterben und vergehen . " Es ging ein Zittern durch ihre Seele und durch ihren Körper , und sie glaubte es auch in ihm zu fühlen . Vielleicht ahnte er , was sie dachte , denn er sagte plötzlich : " Ellen , laß uns gehen " , und beugte sich dann zu ihr nieder . Sie umarmten sich lange , lange . - Es war wohl das letztemal vor seiner Abreise . Schweigend trennten sie sich vor ihrem Haus . Drinnen saß Detlev bei der Lampe . " Gott sei Dank , daß du da bist , es ist gleich Mitternacht . Ihr seid doch wahnsinnig unvorsichtig . " Ellen antwortete nicht , sie warf sich aufs Bett und weinte : " Wie soll ich es aushalten , wenn ihr fort seid . " 3. April Bis zum letzten Augenblick hoffte ich noch , Dich am Bahnhof zu sehen , aber Papa schickte mich auf halbem Weg zurück , ich wollte nicht erst bitten und ging bei dem tollen Schneegestöber langsam nach Hause , mir war bei jedem Schritt , als ob ich es nicht mehr ertragen konnte , ich hatte nur den einen wilden Wunsch , hinzustürzen und Dich noch einmal zu sehen . Dann war ich in Detlevs Zimmer , und da fühlte ich erst ganz , was ich verloren habe , wie ich auf Schritt und Tritt nach ihm rufen werde . - Die Hälfte von mir selbst ist fort , er war ja immer neben mir . Hüte ihn mir gut , Friedl , es ist mein Bestes , was Du mitnimmst . Ich kann mir selbst unsere Liebe ohne ihn nicht denken . Aber Du sollst kein Wort der Klage von mir hören - all die gewesenen glücklichen Stunden kann uns niemand mehr nehmen . Und jetzt bleibt uns die Arbeit an uns selbst und für das spätere Leben . Wenn auch jeder seine Schule alleine durchmachen muß - es ist doch immer im Gedanken an den anderen . Lebe denn wohl , Geliebtester , ich will Dich und mich nicht weich machen - den Kopf oben behalten , sonst schlägt es über mir zusammen . Lebe wohl . 12. Mai Du schreibst jetzt so selten - es fehlt Dir doch nichts , oder bummelt ihr viel ? - Wenn ich einmal mittun könnte . Nun seid ihr schon so lange fort , und ich vergrabe mich ganz in Arbeit . Ich will das Examen doch schon übers Jahr machen , die Lehrer haben mir selbst dazu geraten , und seitdem ist mir etwas leichter ums Herz . Ein Jahr - nicht mehr ganz ein Jahr , mein Gott , Friedl , was ist das für ein Gedanke . Wenn sie mich nur nicht vorher noch aus dem Seminar hinauswerfen ; es ist meinen Eltern neulich erzählt worden , daß ich schlechte Bücher und Ansichten verbreitete . Übrigens schwänze ich oft die Stunden und rudere statt dessen auf dem Wasser hinter der Bändstraße . Einmal bin ich auch heimlich zu Lisa Seebald gefahren , es sind ja nur zwei Stunden . Sie hat eine entzückende Wohnung und sagte , wenn der Krach mit zu Hause einmal käme , könnte ich bei ihr wohnen , so lange ich wollte . Meine Sünden sind überhaupt Legion - ich bin tief gesunken , seit Du und Detlev mich nicht mehr bewachen . Soll ich Dir auch noch beichten , daß ich neulich mit Elfriede Liemann auf einem Sonntagstanz gewesen bin , wo wir mit Soldaten und Arbeitern tanzten ? Wir standen an der Fähre und bekamen solche Lust , als wir die Musik hörten . Elfriede und ich sind übereingekommen , wenn alle Stränge reißen , als Kellnerinnen nach Berlin zu gehen , um mit euch zusammenzusein . Schüttelst Du nun auch den Kopf und sagst wie mein Vater : " Was soll aus dir werden , wenn du dich nicht zügeln lernst ? " Ja , was soll aus mir werden , das denke ich auch manchmal . Übrigens bin ich viel mit Ernst Senn zusammen , wir gehen fast jeden Morgen vor meinen Stunden am Hafen herum . Der Verkehr mit ihm ist mir sehr viel , und ich brauche jemand , mit dem ich reden kann . Weißt Du noch , wie Detlev ihn immer den zweiten Zarathustra nannte , ich muß oft daran denken . Wir gehen meist schweigend nebeneinander , oder ich erzähle ihm von meinem Leben , und er rollt nur die Augen und sagt : " Ja , ja . " - - Wieder ist mein Brief liegen geblieben , aber heute muß ich mich zu Dir flüchten , um wieder zur Besinnung zu kommen . Vorgestern hat sich der junge Rehmer erschossen , Du hast ihn doch bei uns gesehen - er war erst sechzehn Jahre alt . - Ich habe ihn gesehen , da ich gerade mit einer Bestellung hingeschickt wurde , und den ganzen Tag konnte ich diesen Anblick nicht mehr los werden - das blasse Gesicht mit dem Tuch um die Stirn . Stadt zur Schule zu gehen , nahm ich mir ein Boot und war den ganzen Nachmittag auf dem Wasser - der Himmel war so trübe und bleigrau , und ich konnte immer nur an den Tod denken und - wenn dieses Kind den Mut hatte , warum kann ich ihn dann nicht auch finden ? Es wäre ja das beste , die Erlösung von allem . Jetzt bin ich am Fenster bei dem schwülen Maiabend und möchte vergehen vor Weh . Du schriebst mir das letztemal , ich sollte mir vor allem Lebensmut und Freude bewahren . - Glaubst Du denn , ich habe noch eines von den beiden ? Nein , es ist nur noch eine verzweifelte Zähigkeit , das Letzte durchzuhalten . Und warum muß das Leben gerade mich so drücken , gerade mir alles nehmen , alles versagen ? Es gibt doch viele , die das nicht so fühlen und ganz zufrieden wären an meiner Stelle . Vorhin kam mein Vater zu mir herein und sagte ganz leise : " Ellen , bedenke , daß Tatsachen unwiderruflich sind . " Wir sahen uns lange an , dann ging er wieder . Er muß wohl etwas geahnt haben , was heute in mir vorging , und ahnt auch , daß er mich doch einmal verlieren wird , so oder so - rettungslos . Ach , hilf mir , Friedl , mir ist , als ob ich versinken müßte . 20. August Seit zwei Monaten haben wir nun nichts voneinander gehört . Warum schreibst Du nicht mehr ? - Und ich - was sollte ich Dir schreiben , immer das gleiche : Tag für Tag dieselbe Tretmühle , dasselbe Elend zu Hause . Und wenn Du nicht antwortest , denke ich , daß meine Briefe Dich ermüden und langweilen . Könnten wir doch noch einmal das vorige Jahr zusammen durchleben , es kommt mir jetzt vor wie ein Traum voller Frieden , und als ob es schon so lange her wäre . Es stimmt mich auch so traurig , daß Du und Detlev immer mehr auseinanderkommt . In den Ferien war ich fort , jetzt wieder mitten in der Arbeit und mache Morgenspaziergänge mit Senn . Wann kommt ihr denn ? - Lebe wohl und auf Wiedersehen . Deine Ellen . Kurz vor Friedls Rückkehr , an einem Septembermorgen , ging Ellen mit ihrem Freunde Senn im Dom auf und ab . Die Kirche war ganz leer , die Sonne leuchtete durch die Bogenfenster , und droben spielte jemand auf der Orgel . - Sie blieben auf demselben Platze stehen , wo sie so oft mit Friedl gestanden hatte - der Mann neben ihr legte den Arm um sie , sie wollte sich wehren , losmachen , aber dann sahen sie sich an , und wieder schlug das heiße Verlangen in ihnen empor - sie fühlte seine Küsse brennen - dazwischen rauschten langgezogene Orgeltöne durch den Raum . Ellen ging nach Hause - in die Schule , wie alle Tage , aber sie sah nichts von dem , was um sie herum vorging , glaubte nur immer wieder zu fühlen , wie er sie küßte , und hörte die Orgel wieder brausen . Ihr war , als ob eine Lawine auf sie zukäme , die sie mitreißen wollte , und sie wußte , es gab keinen Widerstand . Der Gedanke an Friedl drückte sie wie ein schwerer Stein - gleich war sie erlegen , das erstemal , wo eine Versuchung an sie herantrat - ein paar Tage , ehe er zurückkehren sollte - sie , die jahrelang freudig hatte warten wollen . Friedl kam - draußen beim Mühlwasser wartete sie auf ihn . Er war in Uniform , spielte mit seinen weißen Handschuhen , war verändert , fremd . Schon die Uniform kam ihr fast wie ein Verrat an ihren einstigen Idealen vor . Sie machte einen gezwungenen Scherz darüber , keiner wußte recht , was er reden sollte . " Wir haben uns wohl beide verändert " , sagte Ellen schließlich . " Fühlst du das auch , Ellen ? " Es klang fast bewegt , und sie wußte mit einemmal , daß sie nicht lügen und schweigen konnte . " Friedl , ich muß dir etwas sagen - du hast dich in mir getäuscht - - " " Ellen " , sagte er sehr ernst , " wir haben uns wohl beide getäuscht . Es ist mir eine Erleichterung , daß du das auch empfindest . Wir waren töricht , uns aneinander zu binden , ehe wir das Leben kannten und uns selbst . Eine schöne , wunderbare Zeit ist es gewesen , wie wir beide sie vielleicht nie wieder erleben werden - aber sinnlos , sie festhalten zu wollen , wenn wir beide fühlen , daß sie vorbei ist . " Die Fremdheit schwand , sie konnte ihm jetzt alles sagen . " Ja , siehst du , halb und halb habe ich mir auch das gedacht . Und dann ist ja auch alles gut , nicht wahr , und wir können ohne alle Bitterkeit scheiden . Ich hatte so viel Sorge um dich , - aber er wird dir ein besserer Halt sein wie ich . " Sie küßten sich noch einmal an der Stelle ihrer einstigen Liebesstunden . Dann ging Ellen allein hinunter an den Hafen , da klammerte sie sich mit beiden Armen an einen von den Kaipfosten , sah auf das schimmernde Wasser hinaus , und die Tränen liefen ihr übers Gesicht . Jetzt hatte sie zum erstenmal erfahren , daß etwas vergehen kann , woran man einst mit ganzer Seele hing . Sie sah ihr erstes Frühlings-Kinderglück zerbrochen , die Blüten verweht und die Morgenfrische hin . Und was nun folgte , war kein Frühling mehr . Schwüle Sommerwinde strichen über sie hin und rüttelten wach , was noch in ihrer Seele geschlafen hatte . - Begehren , Verlangen , alles , was sie bisher nicht verstanden hatte . Als der andere erfuhr , daß sie jetzt losgelöst war , riß er sie an sich , als wollte er sie zermalmen . " Jetzt bist du mein . " Es war eine fortwährende zehrende Unruhe , bis sie sich wiedersahen , und waren sie zusammen , so schüttelte er sie durch , in verwirrenden , heißen Liebkosungen , die Ellen noch neu waren - brennend süß und beängstigend . Friedl und sie hatten sich nur geküßt wie zwei Kinder . Aber im letzten Grunde war immer eine leise Enttäuschung , etwas wie Ernüchterung mitten im Taumel . - Dieser Mensch , mit seiner hohen Stirn und den unergründlichen Augen war ihr als etwas Überirdisches erschienen - er sollte nur in Wolken wandeln - der zweite Zarathustra sein - sollte schweigen , als ob er keine gewöhnlichen Worte reden könnte . So hatte sie ihn früher gesehen - sie konnte nichts Menschliches an ihm ertragen . Als sie ihn das erstemal essen sah , war es wie eine zerstörte Illusion , das hatte sie sich nie vorstellen können , daß er aß , trank , zu Bett ging , wie alle anderen Menschen . Und dann , daß er es seiner Mutter sagte , damit sie sich ungestört sehen konnten . Als Frau Senn von Verlobung sprach und Ellen als Tochter umarmte , wäre sie am liebsten davongelaufen . Das schien ihr alles so sinnlos , so gut bürgerlich und gänzlich unmodern - war nicht das , was sie wollte . Der erste Schnee fiel . Ellen stand am Fenster und sah die Flocken wirbeln . Von jeher war ihr das eine so ganz besondere Stimmung gewesen , etwas von Heimatsehnen und Weihnachten . Sie wollte eigentlich an Senn schreiben , und der Brief lag angefangen . Aber immer wieder kamen andere Gedanken - in der kurzen Zeit , seit er fort war , schien ihr alles verändert und am meisten sie selbst . - Er hatte sie die ersten Schritte gelehrt und sie dann alleine gelassen , - sie sollte auf ihn warten , und schon fing es an , sie wie eine unerträgliche Fessel zu drücken , daß sie an diesen einen Mann gebunden war . Sie meinte zu ahnen , daß sie sich doch niemals so ganz binden könnte ; wie sollte man es wissen , ob nicht immer und immer wieder ein anderer kam ? Denn kaum war er fort gewesen , so hatte sie schon wieder an einen anderen gedacht und dachte jetzt unaufhörlich an ihn . Ellen hatte keine Ahnung , wer er war - sie begegneten sich eine Zeitlang fast täglich , und dann sprach er sie eines Abends an . Es war ihr auch ganz gleichgültig zu wissen , wie er hieß , für sie war er gar kein Mensch mit irgendeinem Namen - er war die Versuchung selbst - der Versucher in irgendeiner Menschengestalt , der plötzlich vor ihr auftauchte , wenn sie abends zur Stunde oder ins Theater ging - er sprach auch nicht laut wie andere - er raunte nur , wich nicht von ihrer Seite und raunte ihr geheimnisvolle Lockungen zu : " Komme mit mir , bei mir ist der Rausch , nach dem du verlangst - komme mit mir , ich will dich alle Geheimnisse und Wunder lehren , die du noch nicht kennst . " Und dies diabolische Lachen , mit dem er dann wieder im Straßengewühl untertauchte , wenn sie alle ihre Kraft zusammennahm und nein sagte . Tagelang bebte es in ihr nach , als ob wirbelnde Wogen um sie her brandeten ; und wie es lockte und reizte , da hineinzustürzen , Hals über Kopf , alles vergessen , über sich hinbrausen lassen . Ihr ganzes Wesen schlug um , sie arbeitete nicht mehr , dachte nicht mehr mit tiefem Ernst über alle möglichen Dinge nach - sie träumte nur noch von einem Rausch ohne Grenzen und Ende . Und diese Träume ließen sie Tag und Nacht nicht los . Immer wieder sah sie sich in einem rotdurchleuchteten Zimmer , die Wände , die Teppiche , alles brannte in Rot - rote Ampeln , rote Gläser , in denen der Wein rote Schaumperlen warf . Alles mußte funkeln und leuchten - und ein Ruhebett war da , mit seidenen Kissen und durchscheinenden Vorhängen . Und er war da - der Versucher - und sie tranken Wein - immer näher zog er sie an sich - jauchzend hintaumeln in namenlose Lust , das versengende Feuer löschen in berauschter Raserei , sich selbst vernichten , sterben , vergehen in Wollust . Da half keine Arbeit , und wenn sie sich noch so hartnäckig auf die Bücher warf - immer wieder tauchte sein Gesicht zwischen den Zeilen vor ihr auf , und das rote Glühen fing wieder an . Der Kopf sank auf die Bücher nieder , die Augen zu und träumen , träumen , bis sie verstört auffuhr und wieder versuchte zu arbeiten und alles von vorne anfing . Hatte er , der Versucher , nicht recht , daß er sie auslachte mit ihrer gewollten Treue und mit ihren Wahrheitsprinzipien ? " Eine Stunde nur " , so redete er zu ihr , " und nachher vergessen , was geschehen war - was niemand weiß , ist so gut wie ungeschehen . " - Nein , nein , dann würde alles aus sein und sie den einzigen Menschen verlieren , der ihr gehörte . Sie mußte an ihm festhalten , sonst ging es hinab in unabsehbare Tiefen . So schrieb sie an Senn , erzählte ihm alles , jedes Wort , jedes Zusammentreffen . Darüber kam es zu blutigen Auseinandersetzungen , die sie reizten und verstimmten . Dann kehrte Ellen den Spieß um und überzeugte ihn , daß er ihr Unrecht täte . Der Versuchung ins Auge sehen und sie überwinden , sei bessere Treue , als ihr aus dem Wege gehen , und sie wollte sich und ihm nur beweisen , wie stark sie sei . So endigte es damit , daß er sie beinahe um Verzeihung bat , sie fühlte ihre Macht über ihn und daneben eine leise Spur von Geringschätzung . Dann traf sie den anderen wieder , diesmal bei hellem Tag . Sie gingen zusammen durch stille Seitenstraßen , und an einer Ecke blieb er stehen . " Eine Stunde nur , du süßes Weib - nur eine Stunde - " " Gott , ich kann ja nicht - - " " Ihre Augen haben längst ja gesagt , und wenn Sie schweigen , sagt Ihr Mund auch ja . - Aber , comme vous voulez - Samstag bin ich den ganzen Nachmittag zu Hause und erwarte Sie . " Nachher saß sie an ihrem Schreibtisch vor der Arbeit - ihre Gedanken drehten sich wie im Wirbel . Sie schrieb einen raschen , abgerissenen Brief an Senn - " Es hilft doch alles nichts - ich will nicht mehr . Du mußt mich lassen , mir meine Freiheit geben . " Seine Antwort kam und sprach von Rechten - Verpflichtungen : " Ich verlange von Dir - " Als Ellen den Brief gelesen hatte , warf sie ihn in die Schieblade und ging hinunter . - Schweigend wie immer saß sie mit ihren Eltern am Tisch - die litten auch alle unter ihr . Das Familienleben war im letzten Jahr immer trostloser und verbitterter geworden - nur noch ein schweigender Kampf aufs Messer . Nachher suchte Ellen einen Vorwand , um auszugehen , und dann geradenwegs zu ihm , der sie erwarten wollte . Sie wußte jetzt seinen Namen und seine Wohnung . Da stand sie auf dem hellgetünchten Vorplatz und sah auf das weiße Porzellanschild . Aber er war nicht da - verreist - Freitag käme er wieder . Langsam ging sie die Straße hinunter - es losch etwas in ihr aus - der große Augenblick war vorbei - verfehlt . Stadt dessen kam Ernst Senn selbst am nächsten Tag , es hatte ihm keine Ruhe gelassen . - Er wohnte im Hotel , um seiner Familie und allen Bekannten auszuweichen . Ellen stand erst kalt und feindselig in der Tür , aber er stürzte auf sie zu , riß sie an sich mit so viel Angst und Liebe , daß sie ganz erschüttert war , machte ihr keine Vorwürfe : sie sollte nur sein bleiben , nicht mit ihm spielen . Und sie wurde weich gestimmt , wie immer , wenn sie Liebe fühlte - es kam etwas von dem alten Gefühl für ihn wieder . Sie sagte zu allem ja - er sollte ihr nur nicht wieder mit Rechten und Verpflichtungen kommen , das reizte sie dann gerade , das Gegenteil zu tun . Und schließlich war sie wieder im Recht und er hatte sie gekränkt . Senn blieb noch einen Tag , und sie kam frühmorgens ins Hotel , statt zur Schule zu gehen . Er schlief noch , und Ellen setzte sich zu ihm auf das Bett - sie waren wieder ganz versöhnt . Langsam zog er sie immer dichter an sich , löste ihr die Haare auf - Schritt für Schritt kamen sie dem Geheimnis näher , das ihnen beiden noch fremd war . Aber dann schraken sie doch wieder zurück . - Sie hätte lieber alles vergessen wollen , aber wenn sie darüber nachdachte , kamen ihr wieder all die bangen Bedenken - all die unsichere Angst . - - Ein Kind - dann wäre alles für sie Vorbeigewesen , alle Pläne , ihre Kunst , die Freiheit , die nun immer näher kam . - Im letzten Grunde war es ja auch nur das , was sie dem anderen gegenüber zurückhielt - sie wußte etwas und wußte doch nichts und konnte sich nicht entschließen , zu fragen - da lag immer noch ein Rätsel und niemand löste es ihr . Die Examenangst trieb eine Zeitlang alles andere in den Hintergrund . Ellen saß ganze Nächte lang und lernte . Dies Letzte mußte nun noch durchgehalten werden , und dahinter stand die Freiheit , endlich die Freiheit . Den Sommer über wollte sie wie gewöhnlich eine Verwandtenreise machen und dann mit Sturm die Entscheidung herbeiführen . Ließ man sie nicht freiwillig gehen , so würde sie es erzwingen , Lehrerin werden und Geld verdienen . Der häusliche Himmel hatte sich wieder etwas aufgehellt , die Eltern waren aufgeregt über den Ausgang der bevorstehenden Prüfung und aus Sorge um Ellen , weil sie blaß und überarbeitet aussah . Dann war es vorbei , und Ellen konnte zuerst kaum begreifen , daß sie wirklich gut durchgekommen war . Aus dem grauen Schulhaus stürzte sie in den Frühlingsabend hinaus und schleuderte ihre Bücher auf die Erde , daß die Blätter flogen . - Zu Hause wurde sie förmlich gefeiert , die Mutter war stolz , daß Ellen eine gute Note hatte , und Papa legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte : " Jetzt hast du mir eine wirkliche Freude gemacht . " Die Brüder waren zu den Osterferien gekommen - so war es einer von den seltenen ungetrübten Abenden , wo sie alle um Papas Tisch saßen mit Wein und Gelächter . Ellen konnte heute mitstimmen , ohne einen bösen Blick von der Mutter zu bekommen , es schien , als ob man sie jetzt zum erstenmal anerkannte , zum erstenmal mit ihr zufrieden war . Ihr selbst war nicht ganz wohl dabei - die dachten jetzt nicht daran , daß es doch nur ein kurzer Waffenstillstand sein konnte . Wenn sie wüßten , wie es in Wirklichkeit um Ellen stand , daß sie innerlich schon lange draußen auf hoher See trieb und wohl nie mehr den Weg zurückfinden würde - . Der Frieden dauerte denn auch nicht lange , in den kurzen Wochen , die sie noch zu Hause blieb , fing es immer von neuem an zu gewittern . Die Eltern lebten in beständigem Mißtrauen : wo steckt Ellen nur wieder ? , was treibt sie ? - wenn sie den halben Tag verschwunden war , um mit einer Freundin , die am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte , zu modellieren , oder mit einer anderen Französisch zu treiben . Konnte man denn auf Schritt und Tritt hinter ihr stehen und ihr das bißchen Verkehr mit jungen Mädchen verbieten ? Und Ellen nahm jetzt alles auf die leichte Achsel und baute nur auf den Zufall , der sie nun schon jahrelang vor Entdeckung beschützt hatte . Was lag auch jetzt noch daran , wenn das Pulverfaß explodierte ? So führte sie ein förmliches Abenteuerleben ; solange Senn noch Ferien hatte , schlich sie sich frühmorgens aus dem Hause , um ihn zu treffen , lange , ehe die anderen aufstanden , und manchmal auch abends , wenn man sie im Bett glaubte . Und drunten am Hafen hatten sie eine stille Bierstube entdeckt , wo sich die Reste des Ibsenklubs und allerhand neu hinzugekommene Bekannte versammelten , während am anderen Tisch die Schiffskapitäne Karten spielten . Dann war Senn fort - auf Ellens Sommerfahrt wollten sie sich wiedertreffen . Am letzten Tage , als ihre Koffer schon gepackt standen , begegnete sie dem Versucher , den sie jetzt auch wieder öfters sah . Es war allmählich eine Art frivoler Kameradschaft zwischen ihnen geworden , sie gingen zusammen ins Café , lachten , spielten eine Zeitlang mit dem Feuer und trennten sich dann wieder . Ellen ließ sich auch heute wieder mitziehen in das Bahnhofsrestaurant , wo nachmittags die bekanntesten Lebemänner der Stadt saßen und durch die Glasscheiben des runden Erkers die Vorübergehenden kritisierten . " Das ist nun das letztemal " , sagte Ellen . " Schade , schade , und wie steht es mit der Moral ? " " Immer das gleiche . " Er kam eben vom Reiten , war in hohen Stiefeln und ließ die Reitpeitsche auf dem Tisch tanzen . " Nein , es ist wirklich schade um den schönen Leichtsinn , denn den haben Sie doch in sich . Und dann mit dem Trottel da verlobt sein - . Soll ich Ihnen einmal weissagen - darauf verstehe ich mich einigermaßen ? " " Ja , bitte . " " Also Sie - Ellen , Freiin von Olestjerne , mit Ihrer guten Erziehung und Ihrem unglaublichen Lachen - , Sie werden noch eine von den Allerschlimmsten werden , wenn Ihre Zeit erst einmal gekommen ist . " " Das ist sehr möglich " , meinte sie . " Nun also , warum denn noch dieser Tugendpanzer ? Glauben Sie nur nicht , daß er Ihnen gut steht , dazu sitzt er viel zu lose . - Ich möchte doch übrigens wissen , wer Sie die ersten Flötentöne gelehrt hat ? " " Sie ! " " Ach , das ist ja nicht wahr , das sagen alle Frauen . Da wäre man immer der erste . Und was haben Sie denn von mir gelernt ? Sie sind ja immer noch ebenso verlobt . " Ellen lachte - dann nahmen sie Abschied . Ellen fühlte etwas wie Reue um schöne , nichtbegangene Sünde . - Wenn er doch einmal ihre Gedanken erraten hätte , ihr das Rätsel gelöst , von dem alles abhing . Aber das Unglück lag darin , daß er sie für viel raffinierter hielt , wie sie war . Aber trotz allem wogte eine selige Stimmung in ihr , als sie die Allee zum elterlichen Hause hinaufging - zum letztenmal ! Jetzt war sie keine Gefangene mehr , alles lag so wundervoll weit und unsicher vor ihr . Die Mutter stand schon an der Gartentür und sah nach Ellen aus . " Wo bleibst du wieder so lange ? Gott sei Dank , das hat nun ein Ende ; wenn du wiederkommst , werden wir eine andere Ordnung einführen . " Nach Tisch rief der Vater sie herüber . " Wir lassen dich jetzt zum erstenmal ohne Begleitung reisen , Ellen . Ich erwarte von dir , daß du dich auch danach benimmst - vor allem bitte ich dich , deine sogenannten Ansichten nicht überall auszuposaunen . - Im Herbst wollen wir dann einmal weitersehen - vielleicht findet sich bei unseren Bekannten irgendeine Gelegenheit , deine Ausbildung als Lehrerin zu verwerten . " " Papa , ist es ganz ausgeschlossen , daß Ihr mich Malerin werden laßt ? " " Hast du den Blödsinn immer noch im Kopf ? - Dann Schlag es dir jetzt ein für allemal aus dem Sinn - all diese Emanzipationsgeschichten . Glaubst du , ich werde dich mit deinem törichten Hang zur Ungebundenheit allein in die Welt hinausschicken ? Aber das sind Sachen , die du nicht verstehst - - " Dann nahm er einen Brief vom Tisch und warf ihn wieder hin : " Hast du etwas davon gewußt , daß Detlev Schulden hat ? " " Nein " , aber Ellen fühlte , wie sie rot wurde . " Und auch nicht von der Duellgeschichte ? " " Nein ! " " Ellen , ich will die Wahrheit wissen . " " Ich habe ihm versprochen , nichts davon zu sagen . " Und nun brach sein Zorn hervor : " Immer steckt ihr unter einer Decke , ihr beiden - gegen uns , gegen alles . - Was wollt ihr damit ? - Was setzt ihr euch in den Kopf ? zu fügen habt ihr euch , und ihr werdet euch fügen , solange wir leben . " Ellen stand hinter ihrem Stuhl und wiegte ihn langsam hin und her , sie fühlte , wie jedes Wort kalt an ihr herunterlief , und die ganze jahrelange Erbitterung regte sich in ihr gegen diese zermalmende Strenge . Und der Vater wurde immer heftiger , ging rasch hin und her und blieb dann vor ihr stehen . " Ihr habt nichts getan , ihr beiden , wie uns das Leben verbittert , seit Jahren - " Sie zitterte innerlich vor seinem Zorn und wollte nichts sagen , aber plötzlich fuhr es ihr heraus : " Ja , weil ihr uns unsere Jugend nehmen wollt . " " Nimm dich in acht , Ellen " , schrie er auf und machte einen Schritt auf sie zu . Ellen rührte sich nicht , und dann kehrte er rasch um und ging ins Wohnzimmer hinüber . " Kronsee , den 3. August Liebe Lisa - dieser Brief gilt Euch allen - und lest ihn mit Andacht , es ist der erste Schrei aus meiner Gefangenschaft , der ein menschliches Ohr erreicht . Ich bin ja selbst von Detlev abgeschnitten , kann ihn weder sehen , noch ihm schreiben . - Und was mögt Ihr gedacht haben , als der berühmte Krach , den wir uns immer wie mit Freiheitsposaunen vorstellten , so abgelaufen ist - am Ende denkt Ihr gar , ich habe mich » gefügt « . Aber ich schwöre Euch bei allen unseren Göttern : Ellen Olestjerne wird sich niemals fügen . Das war eine Zeit , Lisa , diese letzten acht Wochen und jetzt immer noch ! Zähneknirschen und Wutschäumen sind nur schwache Worte für das , was ich von Morgen bis Abend empfinde . Aber nun alles der Reihe nach : zuerst kam die Reise nach meiner alten Heimat . - Sie wissen , ich war bei Bekannten in Halmby , unserer kleinen Seestadt bei Nevershuus . Es war so schön , alles wiederzusehen , ganze Sommertage am Strande zu liegen , die alten Wege zu gehen und ganz eigener Herr zu sein , denn dort kümmerte sich niemand darum , was ich tat . Ich habe wirklich einmal nur so hinausgeschrien vor Lebensfreude nach all den bedrückten Jahren . - Nachher besuchte ich dann noch verschiedene Verwandte weiter nach Norden - daß Senn überall mit war , haben Sie wohl durch Detlev gehört . - Es war wie in einem Lustspiel , dies fortwährende Trennen und Wiederfinden . Und denken Sie nur , wenn an diesen entlegenen Orten ein Fremder mit schwarzem Bart und unheimlichem Aussehen auftaucht , von dem niemand weiß , wer er ist und was er da will , und wie wir uns dann immer heimlich trafen , meist in aller Morgenfrühe in irgendeinem obskuren Hotel . - Zuletzt unterschlug ich mit vieler List noch ein paar Tage , wir fuhren im Dampfschiff die Küste entlang und blieben , wo es uns gerade gefiel in den Fischerdörfern . Dann kam ich hierher nach Kronsee , alles war gut gegangen - und drei Tage später telegraphiert Papa an meinen Onkel , er möchte sofort zu ihm kommen und der Krach war da . Ich hatte zu Hause in einem Lexikon den letzten Brief von Senn liegen lassen und meine Mutter hatte ihn zufällig gefunden . Daraufhin brachen sie meinen Schreibtisch auf - Sie können sich ungefähr einen Begriff davon machen , was alles zu Tage kam - mein ganzer Briefwechsel mit Friedl Merold - mit Senn , Detlev , den Ibsenklubleuten und noch allerhand kleine Torheiten vom letzten Winter - der arme Senn war ja nur ein verschwindender Faktor in dem ganzen Sündenpfuhl . Als mein Onkel zurückkam - mit mir selbst wollten meine Eltern nicht mehr unterhandeln - all diese Unterredungen , Ausfragen - ich habe getobt , Lisa , bis ich endlich so klug geworden bin , alles schweigend über mich ergehen zu lassen . Denn mir sind einfach die Hände gebunden - man läßt mich nicht aus den Augen , gibt mir kein Geld in die Hand , fängt jeden Brief auf . Außerdem behaupten sie , solange ich nicht mündig bin , könnten sie mich jederzeit zwingen zurückzukommen . Das muß ich erst alles ganz genau wissen . Ich will Ihnen keine Einzelheiten erzählen , Lisa , sonst gerate ich wieder in solche Wut , daß ich alles entzweischlage , und sie sind imstande , mich dann für tobsüchtig zu erklären . Es war schon einmal die Rede von unter Kuratel stellen . - Mir ist schon so zumute , als ob man mich in ein Tollhaus gesteckt hätte , um mich verrückt zu machen , ich schiele nach jeder Tür , um zu entkommen , aber jedesmal steht ein Wächter dahinter . So habe ich mich einstweilen zum Schein ergeben - man hat beschlossen , mich in ein Pfarrhaus zu geben , wo ich Moral und Haushalt lernen soll - und ich habe freudig ja gesagt . Zweitens ist Senn und mir ein wöchentlicher Briefwechsel gestattet , und wenn wir uns sieben Jahre lang - nämlich bis er eine Stellung annehmen kann - musterhaft führen , dürfen wir sogar heiraten . Er hat sich schriftlich verpflichten müssen , ohne Einwilligung der Familie keinen Schritt in Bezug auf mich zu unternehmen . Natürlich wollen sie mir auf diese Weise nur die Waffen aus der Hand winden - ach , Lisa , als ob ich daran dächte , ihn zu heiraten , mir geht es ja nur um meine Freiheit und ums Malen , aber ich hüte mich wohl , das durchscheinen zu lassen . - Ich warte nur auf den Moment , wo sich eine Türspalte auftut - es kommt mir ja schon vor , wie ein erstes Aufleuchten , daß ich einen Brief an Euch fortschicken kann . Mein Onkel ist heute zur Stadt gefahren , und wenn die Tante schläft , will ich versuchen , nach der Station zu rennen und ihn einzustecken . Noch ist nicht einmal sicher , ob es gelingt . Mein Gott , wenn ich doch jetzt soviel Geld hätte , um zu Euch zu fahren oder meinetwegen auch zu Fuß hinzulaufen . Aber dann würden sie mich ja doch erwischen . Kinder , denkt an mich - ich habe vielleicht noch schlimmere Zeiten vor mir . So lebt wohl und vergeßt mich nicht - schreibt mir nicht , ich würde es doch nicht bekommen . Ellen . Pfarrhaus Steensby - - Da bin ich nun als räudiges Schaf mitten unter der Schar seiner Gläubigen - in einem friedlichen Landpastorat - wasche Zimmer auf , putze Lampen und stehe am Herd - » frühmorgens , wenn die Hähne krähen « . Seit dem ersten Oktober bin ich hier - wurde wie ein sibirischer Sträfling hergebracht - man ließ mich keine Wagenstrecke allein fahren . - Vorher in Kronsee mußte ich noch eine Art Kontrakt unterschreiben , daß ich keine heimlichen Briefe abschicken , nie allein zur Stadt gehen und mich in die Hausordnung fügen wollte . Es ist nur gut , daß ich im Seminar von der reservatio mentales gelernt habe . Am ersten Abend habe ich mir gleich das Haus darauf angesehen , wie man von hier ausreißen könnte - Türen , Fenster , alles . Ich war eigentlich auf lauter neue Quälereien gefaßt : Verhöre , Bußpredigten , Überwachung - aber nichts von alledem . Es sind sympathische Menschen , die mir nun mit Takt und Freundlichkeit entgegenkommen , - was ich im Gegensatz zu meiner Familie doppelt wohltuend empfinde . Ich mag sie alle gerne und es ist eine einfache , heitere Atmosphäre , in der ich mich wohlfühle . Ja , Lisa , es läuft der Hase manchmal wunderlich - daß ich mich in einem Pfarrhaus zum erstenmal wohlfühlen würde , hätte wohl zur Zeit unserer » Ansichten « niemand gedacht . Mit letzteren läßt man mich ganz in Ruhe , und ich mache stillschweigend Kirchgänge und Andachten mit . Ebenso fragt man nicht danach , was ich in meiner freien Zeit anfange und was für Briefe ich bekomme . Ihr könnt mir also ruhig hierherschreiben , und wie lechze ich nach einem Wort von Euch . - Kinder , wie habe ich diesen Sommer oft nach einem Briefkasten ausgespäht , - hier kann ich meine Briefe ungestört nach der Stadt bringen . Alles in allem , Lisa , ich dehne mich in einem langentbehrten Gefühl von Frieden nach - und vor dem Sturm . Denn der schläft ja nur . - Bis zum Frühjahr bleibe ich hier , dann schreibe ich noch einmal heim , ob sie mich freiwillig gehen lassen . Dann haben sie die Wahl , ob sie mich zum Äußersten zwingen wollen . Es wird mir ja auch nicht leicht , mich für immer von ihnen loszureißen , und ich weiß , daß ich ihnen den Rest ihres Lebens zerstöre . - Ich habe doch manchmal Heimweh nach allen - seit ich von zu Hause fortreiste , habe ich keinen von ihnen mehr gesehen , die anderen Geschwister haben sich ja auch gegen mich gestellt - nur Detlev nicht . Aber es ist besser , nicht daran zu denken . - 24. März Lisa , nun ist es entschieden . Papa hat auf meinen Brief hin eine Zusammenkunft mit dem Pastor gehabt . Als der zurückkam , war seine gute Meinung über mich bedenklich erschüttert . Mein Vater hat ihm alles erzählt , auch von der Reise mit Senn , und er war ganz entsetzt . Beinahe drei Stunden hat er auf mich eingeredet , er von seinem Schreibtisch und ich daneben auf dem Stuhl , " wo schon so manche arme gnadenbedürftige Seele gesessen hat " . Er sähe mich ins Verderben rennen , wenn ich von diesem Menschen nicht lassen wollte , denn die Sünde ist der Leute Verderben und unser Verhältnis ein sündiges und beflecktes . - Meine Eltern würden es nie zugeben , daß ich mich selbständig machte - aber er , der Pastor , schlüge mir vor , in seinem Hause zu bleiben . Da sollte ich meine volle Freiheit haben , malen , alles , was ich wollte , und zugleich mich von ihm zu Gott führen lassen , bei dem allein die Wahrheit ist . Er wüßte wohl , daß viel Gutes in mir steckte ( das finden die Pastoren immer bei mir ) . - Aber alles das nur unter einer Bedingung - von Senn mich lossagen , weil der mich rettungslos herabzieht . Wenn ich das nicht täte , könnte ich auch hier nicht bleiben und müßte zu meinen Verwandten zurück . Denn er wolle sich nicht mit mir im Sumpf wälzen - - . Mir wurde ganz wirblig dabei - ich sah zuletzt nichts mehr wie seinen Kopf , der mir immer größer zu werden schien , und die Augen , die mich unaufhörlich ansahen . Jetzt kann ich mir einen Begriff machen , wie die armen Seelen hypnotisiert werden und wie man in solchen Momenten nachgibt , einfach , weil man schwindlig wird . - Schließlich fing ich aus lauter Nervosität an zu weinen , und das hielt er wohl für ein Zeichen , daß die Gnade nun bei mir durchbräche - das tut sie nämlich , wenn der Sünder ganz zermalmt und zerknirscht ist . Dabei tat es mir auch beinahe weh , er ist trotz aller Verranntheit einer von den wenigen , die es gut mit mir meinen , und als Menschen habe ich ihn sehr gern . Ich habe mir vierzehn Tage Bedenkzeit ausgebeten , aber die Würfel sind geworfen . Lisa , es bebt in mir bei dem Gedanken , nun so bald frei zu sein . Ich möchte in einem_Fort schreien , und meine Hände zittern bei allem , was ich tue . Jetzt komme ich , Lisa , ich komme - ich komme , und dann soll geschehen , was will . Ich muß mir selbst etwas Vernunft einreden , - - also : am Ostermorgen brenne ich durch - um halb neun gehen sie alle in die Kirche , da ich sonntags manchmal ausschlafe , fällt es nicht auf , wenn ich vorher nicht erscheine . - Der Hauslehrer hat mir einen Koffer und das Geld zur Reise geliehen , ich habe ihn in alles eingeweiht . - Sollte mich jemand sehen , so sage ich , es wäre ein Aprilscherz - Sonntag ist gerade der erste . Nur noch acht Tage - es ist mir doch auch wieder wehmütig . Ich erzählte Ihnen von der Kranken , die wir im Hause haben - um die wird es mir ganz schwer . Ich bin so viel bei ihr , manchmal auch nachts , wir haben uns sehr gerne und hatten viele schöne stille Stunden . Jetzt ist sie wohl dem Ende sehr nahe , ich sitze frühmorgens bei ihr am Fenster , wenn die Vögel draußen zwitschern , und denke daran , daß ich nun bald in die Freiheit gehe , während hier ein Mensch mit dem Tode ringt . Dann bilde ich mir ein , sie könnte mich entbehren , und möchte lieber , sie stürbe noch vorher . Es ist eigentlich schrecklich , Lisa , daß man überall wieder so mit seinem Herzen festhängt . Aber jetzt leben Sie wohl , ich telegraphiere Ihnen noch , wann ich komme . Und lassen Sie es Detlev dann wissen . Ihre Ellen . Es war die Nacht auf den ersten April , Ellen lag halb angezogen auf dem Bett und daneben brannte die Kerze . Jede Stunde hörte sie schlagen , dazwischen schlief sie halb ein und fuhr erschrocken wieder in die Höhe - Mitternacht - eins - halb zwei - Sie kämpfte mit der Versuchung , sich in die Kissen hineinzuwühlen und fest zu schlafen - morgen war ja auch noch ein Tag , warum sollte es durchaus gerade heute sein ? Nachtdunkel und Müdigkeit nahmen ihr den Mut : wenn nun alles fehlschlug , sie eingeholt , festgehalten und mit Gewalt zurückgeschleppt wurde ? Wieder schlief sie eine halbe Stunde und richtete sich erschrocken wieder auf , die Lider wurden immer schwerer - ihre Kerze war halb heruntergebrannt - halb drei Uhr . Wie ein wahnsinniger , undurchführbarer Entschluß kam es ihr plötzlich vor , aufzustehen und fortzulaufen - es war kalt und dunkel , sie dachte an ihre Eltern , ihr schien , als ob die ganze Welt da draußen so sein müßte , wie diese finstere Nacht , und da sollte sie nun allein ihren Weg suchen . - Ah - nur noch etwas schlafen , da schlug die Uhr wieder - , nein , nein , wenn sie sich nicht aufraffte , war es zu spät - jetzt oder nie . So riß sie sich mit Gewalt empor und kleidete sich an - das kalte Wasser verscheuchte den Schlaf und all die zögernden Gedanken . Draußen über den Bäumen schien der Mond , und durch die Zweige fuhr ein rascher Morgenwind . Frühling , dachte sie , und draußen wartet das Leben . Am Tisch vor dem Fenster schrieb sie rasch ein paar Zeilen an den Pfarrer , und bei jedem Wort durchrieselte es sie wie ein Schluck starker Wein . Wie oft hatte sie von dem Augenblick geträumt , wo sie solche Worte sagen konnte : " Ich gehe jetzt . Ihr seid die Besiegten . Macht , was ihr wollt , ich gehe . " Dann machte sie das Fenster auf und ließ ihren Koffer an einem Strick herunter . Mit Schrecken fühlte sie , wie schwer er war , ein paarmal wäre ihr fast der Strick aus der Hand geglitten , und der Koffer schlug gegen die Hauswand . Gerade unter ihr lag das Krankenzimmer , wo jetzt eine Pflegerin bei der langsam Sterbenden wachte . Gott im Himmel , da schlug er wieder an . Wenn nun plötzlich da unten jemand das Fenster aufmachte und fragte - . Und nun konnte sie ihre Schuhe nicht finden . - Alles war wie verhext heute morgen . Natürlich lagen sie unten in der Küche zum Putzen , sie war ja gestern in Hausschuhen heraufgekommen . Sie blies das Licht aus , schloß die Tür hinter sich zu und warf den Schlüssel in eine Ecke - ihr Zimmer lag oben auf dem Speicher . Dann tappte sie die Treppe hinunter , die Stufen knarrten wie noch nie . Und jetzt in der dunklen Küche aus dem Haufen von Stiefeln die ihren heraussuchen . Der große Haushund lag auf dem Flur , er erkannte sie nicht gleich und fing an zu knurren , dann wedelte er und wollte mit , als Ellen zum Küchenfenster hinaussprang . Sie faßte ihn am Halsband und schob ihn zurück , horchte noch einmal , ob alles still wäre , dann schlich sie leise um das Haus und band den Koffer los . Im Krankenzimmer war Licht , und man hörte gedämpfte Stimmen . Auf dem Kirchhof blieb Ellen stehen und sah auf das stille , weiße Haus zurück , und dann strebte sie so rasch wie möglich über die Felder der Stadt zu . Hier und da setzte sie sich auf den Koffer und ruhte aus , er war entsetzlich schwer . Im Notfall laß ich ihn im Stich , dachte sie , aber es war alles darin , was sie besaß - Briefe und Bücher , die sie nicht preisgeben wollte . Endlich kamen die ersten Häuser der Stadt , und dort drunten lag der Bahnhof . Es war höchste Zeit - Ellen warf ihre Last mit einem heftigen Ruck auf die Schulter und fing an , Trab zu laufen , ihre Schritte hallten laut durch die stillen Straßen , und dicke Tropfen rannen ihr von der Stirn . Im letzten Moment kam sie an , konnte gerade noch das Gepäck hineinwerfen und nachspringen , ehe der Zug sich in Bewegung setzte . Über dem weiten Flachland wurde es immer heller . Ellen war allein im Kupee und sang laut in den Morgen hinein . Sie konnte nicht stillsitzen und nicht stillschweigen , ihr war , als ob sie sonst zerspringen müßte : frei bin ich , frei bin ich , frei - frei ! An dem Wort berauschte sie sich , taumelte fast , lief hin und her , von einem Fenster zum anderen und sang wieder hinaus : frei bin ich , frei - setzte sich einen Augenblick hin und lachte , daß ihr die Tränen kamen . Als der Schaffner kam , hielt sie ihm ihr Billett hin , als wäre es ein Königreich - und für sie war es auch eines . - Gott , wenn er nur etwas sagte , der erste Mensch , der ihr heute begegnete - er mußte etwas sagen , sich mit ihr freuen , ihr Glück wünschen . Sie gab ihm alles Kleingeld , das sie noch in der Tasche hatte , und nun grinste er endlich , und Ellen lachte . " Na , Sie sind aber vergnügt am frühen Morgen , Fräulein . " Ellen warf sich in die Ecke und lachte - lachte . Es war klar , daß der Mann sie für verrückt hielt . Bei der nächsten Station tat sie eine schwarze Brille und einen dichten Schleier an , es ging ja mitten durch das Land der zahllosen Verwandten , überall konnte sie bekannte Gesichter treffen . Und dann wußte sie nicht , wie ihre Fassung behaupten , als andere Leute einstiegen mit einem Kind , das sich vor ihr fürchtete und zu schreien begann - und der Schaffner wieder hereinkam und sie immer verdutzter ansah . Nicht einmal Lisa und Detlev erkannten sie , als Ellen über den Perron auf sie zustürzte . Der Bruder war heimlich gekommen , um diesen Tag mitzuerleben , sie flogen sich in die Arme und lachten bis zu Tränen . Durch das stürmische Frühlingswetter gingen sie alle drei zu Lisas Wohnung . Es war wie der Wahrheit gewordene Traum all ihrer Jugendjahre , daß Ellen jetzt ihre Ketten gebrochen hatte , und tagelang war mit den beiden Geschwistern kein vernünftiges Wort zu reden . Sie sprangen über Tische und Stühle , erfüllten das ganze Haus mit Lärm und Lachen , gingen Arm in Arm durch die Stadt , verkauften Ellens Schmucksachen , um Rheinwein zu trinken , und kamen abends singend nach Hause , um das fröhliche Gelage fortzusetzen . " Jetzt wollen wir doch endlich ein ernstes Wort über Ellens Zukunft reden " , sagte dann Detlev , während er die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch stellte - und gleich darauf klangen die Gläser und sie lachten . Selbst die Freundin schüttelte manchmal den Kopf - sie hatte ein warmes Interesse für diese beiden jungen Menschen und ihr Schicksal lag ihr sehr am Herzen . Aber was sollte wohl einmal aus ihnen werden , besonders aus Ellen , wenn das Leben sie hart anfaßte ? Dazwischen erwarteten sie jeden Augenblick , daß plötzlich irgendein Abgesandter der Familie erscheinen , Ellen zurückfordern und gewaltige Szenen und Stürme mit sich bringen würde . Aber es geschah nichts von alledem , es kam nur ein kurzer Brief von Ellens Vater an ihre Freundin ; er sähe jetzt , daß er seine Tochter nicht mehr zurückhalten könnte , sich ins Verderben zu stürzen . Als der Bruder fort war , kam Ellen wieder etwas mehr zur Besinnung und fing an , Stellung zu suchen - fuhr hierhin und dorthin , meldete sich auf alle Annoncen oder bei Schulvorsteherinnen und Schulräten . Aber es vergingen Wochen , ohne daß sich irgendeine Aussicht bot . Ellen machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck mit ihrem adligen Namen und ihren etwas abgetragenen Kleidern : einmal fand man , sie sähe viel zu jung aus , ein andermal erkundigte man sich nach ihren Familienverhältnissen . Endlich kam Antwort auf eine Annonce , in der sie sich als Reisebegleitung oder Gesellschafterin angeboten hatte : sie sollte ihre Photographie einschicken und mitteilen , über welche Sprachen und Kenntnisse sie verfügte . Der Brief kam aus Straßburg und war mit " Louis Michel " unterzeichnet . In einem zweiten Schreiben wurde sie aufgefordert , zu einer persönlichen Vorstellung nach Köln zu kommen . Lisa und Ellen ergingen sich in Vermutungen - vielleicht war es ein kränklicher , älterer Herr oder ein Witwer mit Kindern . Am Abend vor der Abreise war Ellen allein zu Hause , und es kam ein Bekannter von Lisa - Doktor Laurenz . Sie hatte ihn während dieser Wochen oft gesehen , denn er wußte von ihrer Lage und nahm französische Stunden bei ihr . Als sie mit ihren Büchern auf dem Balkon saßen , erzählte Ellen ihm , daß sie jetzt Aussicht auf eine Stellung habe und morgen nach Köln fahren werde . Doktor Laurenz war ein hochgewachsener Mann mit raschen , jugendlichen Bewegungen und klugen , blauen Augen , die etwas Forschendes im Blick hatten , und Ellen fühlte etwas wie Respekt vor ihm , weil er so überlegen lächeln konnte . " Ich finde das ziemlich bedenklich für Sie " , meinte er , " so aufs Geratewohl hinzufahren . " " Aber das ist ja gerade schön - ich habe keine Ahnung , was für Leute das sein mögen und wozu sie mich engagieren wollen - am Ende werde ich noch Kindermädchen . " " Und was sagt Herr Senn dazu ? " " Den habe ich gar nicht gefragt , nur geschrieben , daß ich nach Köln fahre . " Ihm kam das Verhältnis überhaupt etwas merkwürdig vor , es schien sie immer zu bedrücken , wenn sie davon sprach . Es wurde dunkel , und das Mädchen kam mit der Lampe - Doktor Laurenz nahm den Klemmer herunter und sah Ellen an . " Ich glaube , Sie lassen sich überhaupt nicht gern dreinreden - aber wollen Sie mich nicht ein wenig als älteren Bruder betrachten , der hier und da raten darf ? - Nehmen Sie wenigstens einen Revolver mit auf die Reise . " Ellen versprach es und lachte über seine Bedenklichkeit . Am nächsten Morgen kam er an die Bahn und brachte ihr Rosen . " Haben Sie den Revolver ? " " Ja . " Lisa fand es auch etwas übertrieben . Sie gingen zusammen zurück , als der Zug fort war und sprachen über Ellen . " Ich wollte ihr wünschen , daß sie endlich was fände " , sagte die Freundin . " Das arme Kind , sie hat wirklich keine frohen Jahre hinter sich und gehört so sehr zu denen , die das Leben mit Jubel genießen möchten . " " Glauben Sie eigentlich , daß sie diesen Senn liebt ? " " Ach " , Lisa machte ein Gesicht , " lieben - Ellen tut mit ihm , was sie will , und das ist ihr ganz bequem . Er hat gar kein Rückgrat - ich glaube auch nicht , daß die Geschichte noch lange dauert . Ich habe schon oft beobachtet , daß sie ganz ungeduldig wird , wenn ein Brief von ihm kommt . " Dann trennten sie sich . Ellen machte ihre ernsthafte Gouvernantenmiene - sie hatte sich ihr Benehmen für solche Fälle mit vieler Mühe einstudiert - zurückhaltend , liebenswürdig , bescheiden - und möglichst weltgewandt . Jede Bewegung mußte sagen : ich bin allem gewachsen , verlangt , was ihr wollt . Innerlich kämpfte sie mit einer fast unbezähmbaren Lachlust - ihr zukünftiger Brotherr hatte sie am Bahnhof abgeholt . " Wo wünschen Sie abzusteigen ? " Das wußte sie nicht , da sie hier ganz unbekannt war . " Dann haben Sie wohl nichts dagegen , mit in mein Hotel zu gehen ? " " O nein , gewiß nicht . " Als sie im Wagen saßen , fragte er rasch : " Es ist Ihnen doch nicht unangenehm , wenn ich Sie als meine Frau einschreibe - nur um alles Auffallende zu vermeiden . " Es kam ihr etwas seltsam vor , aber sie fand es ganz lustig und dachte , es sei am besten zu tun , als ob alles ganz selbstverständlich wäre . Dann hatte er ein Zimmer mit Salon genommen und ließ das Abendessen heraufbringen , und jetzt saß sie mit dem wildfremden Mann , der etwas gebrochen deutsch sprach , beim Souper . Er war groß und brünett , sehr elegant und sehr aufmerksam . Als was mochte er sie wohl engagieren wollen ? - Er fragte nach allem , was sie gelesen hätte , wofür sie sich interessierte , sprach über Kunst und Bücher . Als der Kellner wieder hereinkam , duzte er sie - sie galt ja für seine Frau - und darüber fiel Ellen plötzlich aus ihrer Würde und fing an zu lachen . " Gott sei Dank " , sagte er , als sie wieder allein waren , " Sie können also doch lachen . Mir war schon Angst , daß Sie immer so ein feierliches Gesicht machten . " Darauf ließ er Sekt und Zigaretten bringen , sie unterhielten sich immer lebhafter , und es wurde ziemlich spät . Ellen saß in einem bequemen Liegestuhl und fühlte sich sehr wohl . Dann fiel ihr wieder ein , weshalb sie hier war , und sie entschloß sich jetzt endlich nach ihrer künftigen Stellung zu fragen . " Ach , davon können wir morgen noch sprechen . " Louis Michel ging im Zimmer herum und dann ans Fenster . " Kommen Sie einmal her . " Da lag der Rhein im Mondlicht , die alten Häuser am Ufer im tiefblauen Schatten , aus dem viele einzelne Lichter funkelten . Es war Festtag - drunten in der Straße zogen Trupps von lärmenden Menschen vorbei . Ellen setzte sich auf die Fensterbank , er stand vor ihr und sah sie an . " Wollen Sie mit mir auf Reisen gehen ? " fragte er plötzlich . " Bitte , lassen Sie mich ruhig ausreden . - Ich habe Ihnen erzählt , was für ein Leben ich führe , heute in Paris , morgen in Monte Carlo , und dann spiele ich wie toll , das ist meine einzige Leidenschaft , und weil ich nicht weiß , was ich anfangen soll . Irgendeinen Reiz muß das Leben haben . Dann habe ich einmal gedacht , wenn ich einen Menschen mit mir hätte , eine Frau , die alles mit mir teilt , nicht verheiratet , nur als guter Kamerad - und sah zufällig Ihre Annonce . Warum können Sie nicht ebensogut mit mir reisen , wie mit einer unangenehmen alten Dame ? - Ihr Bild gefiel mir - dann habe ich mit Ihnen selbst gesprochen - - " In Ellen wogte und wirbelte es - reisen , wohin man will - was konnte sich da alles vor ihr auftun ! Aber mit diesem Menschen - irgend etwas in ihr widersprach gegen ihn . Dann dachte sie an Senn . " Ich bin an jemand gebunden " , sagte sie . " So machen Sie sich los - oder wollen Sie etwa heiraten ? " " Das weiß ich noch nicht - vor allem will ich malen , sowie ich die Mittel dazu habe . Das bindet mich auch . " " Aber ich gehe mit Ihnen , wohin Sie wünschen - lasse Sie ausbilden . " Ellen war so verwirrt von all den Gedanken , die auf sie einstürmten , daß sie schwieg . Als er sie dann anrühren wollte , wehrte sie sich . " Nein , nein , haben Sie nur keine Angst . Ich gehe fort , wenn Sie es verlangen . Aber Sie sind - - sagen Sie mir , warum Sie nicht mit mir kommen wollen ? " Sie waren währenddem wieder an den Tisch gekommen , er lehnte sich in seinem Sessel zurück . " Sehen Sie , ich wollte ganz ruhig mit Ihnen reden , aber das kann ich jetzt nicht mehr . - Zuerst war es natürlich nur ein Experiment , daß ich an Sie schrieb , Sie kommen ließ . Als wir hier beisammen saßen , habe ich mich immer mehr in Sie verliebt - und jetzt will ich , daß Sie mit mir gehen . Sie müssen . " " Und wenn ich aber nicht will ? " " Warum wollen Sie denn nicht ? Ist es denn ein so unmöglicher Gedanke , mit mir zu leben ? " " Ich könnte nur mit einem Mann leben , wenn ich ihn liebe oder wenigstens in ihn verliebt bin . " " Lieben Sie denn den anderen ? " " Das nicht , aber ich bin doch manchmal verliebt in ihn , und vor allem hängt er so an mir , daß ich ihm sein Leben ganz zerstören würde . " " Gott , das ist alles so pathetisch , so echt deutsch . Treue bis in den Tod . " Im Grunde fand Ellen das auch und schämte sich etwas - wie ein Schuljunge , der mit seiner Unschuld geneckt wird . " Wenn ich mich doch etwas in diesen Mann verlieben könnte " , dachte sie . Im Gespräch war er nicht unsympathisch , aber sowie er eine Annäherung versuchte , stieß er sie wieder ab . Und dann wurde er so geschmacklos , fing an zu schauspielern , warf sich vor ihr nieder und sprach davon , wie unglücklich er wäre , sie sollte Mitleid haben . Und Ellen mußte dabei immer auf seine roten Pantoffeln sehen - vorhin nach Tisch hatte er sie um Erlaubnis gebeten , die Schuhe zu wechseln . Die Pantoffeln zerstörten alle Illusion und reizten sie zum Lachen . Dann standen sie wieder am Fenster , er zog mit einemmal einen Revolver heraus und setzte ihn an die Stirn : " Ich erschieße mich hier vor Ihren Augen , wenn Sie nicht wollen . Nein , zuerst Sie und dann mich . " " Schießen Sie nur . " Ihr wurde doch kalt , einen Augenblick - dann dachte sie an Laurenz , fuhr mit der Hand in die Tasche und umklammerte die kleine Waffe , die sie bei sich trug ; - wenn er eine Bewegung machte , würde sie ihm zuvorkommen . " Gott , Sie haben Mut " , sagte er , " aber Mitleid haben Sie nicht . Sie sind das kälteste Weib , dem ich jemals begegnet bin . " Damit steckte er den Revolver wieder zu sich . " Nein , hier nicht - leben Sie wohl , ich gehe jetzt , und Sie sollen mich nie wiedersehen . " Er nahm den Mantel vom Sofa , den Hut und ging hinaus . Ellen blieb einen Augenblick mitten im Zimmer stehen , er tat ihr plötzlich so leid . So lief sie ihm nach , er war schon unten an der Treppe . " Nein , das will ich nicht , kommen Sie zurück . " Er folgte ihr hinauf , dann schleuderte er Hut und Mantel in eine Ecke und stürzte auf sie zu . " Dann hast du mich doch ein wenig lieb ! Haben Sie keine Angst , ich will nichts , was Sie mir nicht freiwillig geben . " Wieder warf er sich vor ihr am Sofa nieder und legte den Kopf auf ihre Knie . - Bei all seinen Theaterphrasen war auch wieder etwas Kindliches darin , das sie rührte , wie er so vor ihr lag und bat , daß sie ihn nur auf die Stirn küssen sollte . Warum sollte sie das nicht tun ? - Dabei sah sie wie hypnotisiert auf seine roten Schuhe . Er wollte sie mit Gewalt an sich reißen , und sie rangen miteinander . " Ich schreie um Hilfe , wenn Sie mich nicht loslassen . " " Das hilft Ihnen gar nichts . Sie gelten hier für meine Frau , - aber ich habe Ihnen mein Wort gegeben , daß ich nichts erzwingen will . " Ellen antwortete nicht , und er zog immer andere Saiten auf . " Mein Gott , so gehören Sie mir wenigstens für diese eine Nacht - ein paar kurze Stunden - es soll Sie nicht reuen . " Und er nahm eine Brieftasche heraus , legte einen Schein nach dem anderen auf den Tisch . " Glauben Sie , daß ich mich verkaufe ? " Es stieg heiß und kalt in ihr auf , erst der Zorn und dann die Versuchung , Ja zu sagen . Aber die Versuchung verflog , sobald sie ihn nur ansah . " Wie Sie wollen - mein Gott , Sie sind ja so kalt , daß man selber zu Eis wird . - Gehen Sie nur schlafen , ich bleibe hier . Sie brauchen sich nicht einmal einzuschließen . " Wieder tat er ihr leid , sie brachte ihm noch ein Kopfkissen aus dem Nebenzimmer , dann legte sie sich aufs Bett und hörte auf jede Bewegung - wie er sich hinlegte , herumwarf , wieder aufstand . Schließlich klopfte er an . " Erschrecken Sie nicht , ich kann auf dem Sofa nicht schlafen . Wenn Sie mir erlauben , mich auf das andere Bett zu legen , verspreche ich Ihnen - " Ellen lag fast die ganze Nacht durch wach - die Gedanken kamen und gingen , während der fremde Mensch da neben ihr lag und schlief . War sie es wirklich selbst , die dieses sonderbare Abenteuer erlebte ? - Sollte sie es Senn erzählen - alles , - daß sie ihn geküßt hatte , Bett an Bett mit ihm schlief und zuließ , daß er seinen Arm um sie legte ? - Hätten das andere an ihrer Stelle getan ? Im Halbdunkel sah sie durch die offene Tür ins andere Zimmer - der Eiskübel stand auf dem Tisch und daneben lagen noch die Scheine . Noch war es nicht zu spät - und dann konnte sie nach München gehen . Nein , die Treue war es nicht , die sie hielt - der Versucher von damals fiel ihr wieder ein . - Hätte ich da wohl so lange widerstanden ? - Dieser Mann hier hatte keinen Reiz für sie , das war die Wahrheit , ihre Sinne sagten nicht ja - sonst wäre sie mit ihm gegangen . Und dies physische Sträuben , das sie gegen ihn empfand , war ihre Treue und ihre Kraft , - der Instinkt , der redete oder schwieg , wie es ihm gerade einfiel - weiter nichts . Sie sah ihn an , wie er dalag und schlief . - Was war er eigentlich für ein Mensch ? - Wie weit mochte doch vielleicht etwas Echtes an ihm sein , oder war alles nur Komödie ? Brutal war er nicht gewesen , hatte sein Wort gehalten , denn was hätte es ihr geholfen , wenn sie Lärm schlug . Es wurde Morgen , ringsum von allen Kirchen läuteten die Glocken , Ellen ging ins andere Zimmer hinüber , bis er kam . Jetzt war er unliebenswürdig und verstimmt , sah übernächtigt aus - die Unordnung rings umher - alles stieß sie ab . Und draußen der frische helle Sommermorgen . Sie wollte gleich zu Senn fahren , ihn wiedersehen , zur Besinnung kommen aus all dem wüssten Durcheinander , das ihr im Kopf wogte . Da standen sie am Bahnhof : " Leben Sie wohl , ich wünsche Ihnen viel Vergnügen für Ihr späteres Leben " - damit war er verschwunden . Ellen hatte nicht darauf gerechnet , wieder zurückzukommen , und ihr Geld reichte nur gerade noch so weit , daß sie an Senn telegraphieren konnte , und für ein Billett vierter Klasse nach dem Ort , wo er sie treffen sollte . Und Ernst Senn war etwas verwundert , als Ellen ausgehungert und zerschlagen ankam , aber in ausgelassenster Stimmung , und ihm nach und nach ihr ganzes Erlebnis erzählte . Er war unzufrieden , machte ihr alle die Vorwürfe , die sie schon kannte , und Ellen hörte ungeduldig zu , ohne viel zu antworten . Mit jedem Tage fühlte sie mehr , daß sie dies nicht weiter ertragen könne , und fand doch nicht den Mut , ein Ende zu machen . Und jetzt wußte sie auch , daß sie in seinen Armen nie etwas von den geträumten Seligkeiten finden würde , - die Zeit war vorbei . Sollte sie immer wieder all die verlockenden Möglichkeiten an sich vorübergehen sehen , um jedesmal dieselbe Ernüchterung zu fühlen ? Es begann sie zu reuen , daß sie den anderen hatte gehen lassen mit allem , was er ihr bot . Als sie dann zu ihrer Freundin Lisa zurückkam , hatte die inzwischen etwas für sie gefunden , bei Bekannten , die für den Sommer eine Gesellschafterin suchten . Ellen sagte ja , aber in der ersten einsamen Stunde setzte sie sich hin und schrieb an Louis Michel , sie sei jetzt bereit zu kommen , er möchte ihr nur eine neue Zusammenkunft vorschlagen . Aber es kam nie eine Antwort . Während der kurzen Zeit , die sie noch bei Lisa blieb , kam Doktor Laurenz fast jeden Abend und holte Ellen zum Spaziergang ab . Sie sprach jetzt offen mit ihm über Senn , und wie sie es nur von Tag zu Tag hinausschob , das letzte Wort zu sagen . Er konnte das alles so gut verstehen , auch ihr Zögern , etwas so Jahrelanges abzubrechen , das doch eine Art fester Punkt war , während alles andere hin und herschwankte . Eines Abends trafen sie sich vor seinem Büro , und da es regnete , gingen sie in ein nahes Weinrestaurant . " Mein Gott , Ellen , warum strahlen Sie denn heute so ? " fragte er , als sie am Tisch saßen . " Ja , es geschehen wirklich noch Wunder - denken Sie nur , ein Freund von Detlev will mir bis zum Herbst eine Summe verschaffen , mit der ich nach München gehen und anfangen kann zu malen . Ich kann mich noch kaum besinnen , so unerwartet ist das gekommen . " Er hob das Glas und sie stießen an . " Glück auf , Ellen " , sagte Laurenz und sah sie froh an . " Wenn Sie wüßten , wie mich das freut . Es kränkt mich schon so , daß ich selbst nicht in der Lage bin , Ihnen zu helfen . " Ellen war zerstreut , sie konnte heute abend nichts anderes denken , als daß ihr brennendster Wunsch in Erfüllung gehen sollte . " Ich fand es auch zu schrecklich , daß Sie in Stellung gehen wollten . " " Ja , vorläufig muß ich das wohl noch " , sagte Ellen , " aber nur für die paar Monate , bis ich das Geld bekomme . Es ist so viel , daß ich ungefähr ein halbes Jahr davon leben kann ; und um das Weitere ist mir nicht bange . Wenn ich nur erst in München bin . Ob Sie sich denken können , Reinhard , was für mich davon abhängt ? Ich könnte alles einschlagen und niedertreten , wenn ich nur malen darf . " " Ich glaube , dazu neigen Sie überhaupt , wenn sich Ihnen etwas entgegenstellt . " " Ja , sehen Sie , es ist eine ganz dumme Redensart : man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand . Ich schwöre darauf , daß man doch durchkann , und wenn ich wüßte , hinter der Wand ist das , was ich haben will , würde ich immer dagegen rennen . Entweder komme ich durch , oder mein Kopf geht kaputt . Darauf kommt es nicht an . " Reinhard Laurenz lachte , aber im Grunde kam es ihm ernst vor . In Ellen sah er immer noch ein halbes Kind , von dem man nicht weiß , wie es sich entwickeln wird , und manchmal wachte in ihm der Wunsch auf , ihr Leben in die Hand zu nehmen und es ihr zu gestalten . Spät abends brachte er sie nach Hause und sie küßten sich zum Abschied vor der Tür . " Vergiß nicht , daß ich dein Freund bin " , sagte er leise ; " und wenn - . Ich möchte jetzt nicht noch mehr Verwirrung in Ihr Leben bringen , Ellen , aber wir wollen uns wiedersehen . " " Papa liegt im Sterben - Detlev . " Ellen war kaum acht Tage in ihrer neuen Stellung und lag frühmorgens noch im Bett , als man ihr das Telegramm brachte . - Alle anderen Gedanken loschen aus wie von einem dumpfen , schweren Schlag , sie starrte nur auf das Papier hin , und erst als jemand an die Tür klopfte , begriff sie : ihr Vater lag im Sterben , und sie war weit fort . Gegen Mittag saß sie in der Bahn , um heimzufahren . Alles , was zwischen ihr und den Jahren lag , schien ihr wie weggewischt und vergessen , und das Heimweh hämmerte in ihr wie schmerzende Herzschläge . Es wurde Nachmittag , dann sank die Julisonne langsam nieder , und der Abend kam , die Nacht . Ellen lehnte die Stirn gegen die kühlen Fensterscheiben : ob er noch leben würde , wenn sie kam ? Nun war es zehn Uhr , noch eine halbe Stunde , sie kannte jede kleine Station , ihr war , als ob ein innerer Krampf sich löste und die Wirklichkeit wieder zurückkam in langsamen Wellen . Der Zug fuhr in die Halle - er war fast leer , nur wenige Menschen stiegen aus . Ellen sah ihren jüngsten Bruder auf dem Perron stehen neben Annita Senn - die beiden wußten , daß sie kam . Dann kam jemand auf sie zu , ein breitschulteriger Mann mit dunklem Bart . Es war ein Freund ihrer Eltern - Pastor Bern - den sie früher immer den Hauskaplan genannt hatten . Er vertrat Detlev den Weg mit einer abwehrenden Handbewegung : " Hier habe ich das erste Wort zu reden , lassen Sie mich mit Ihrer Schwester allein . " Ellen war ganz verwirrt . " Wie geht es Papa ? " fragte sie rasch . " Ihr Vater lebt noch , aber es ist keine Hoffnung mehr - und ich bin hier , um Sie zu fragen , weshalb Sie gekommen sind ? " " Weil ich meinen Vater noch einmal sehen will . " " Ich komme im Auftrag Ihrer Familie , die Ihnen sagen läßt , daß Sie hier nichts mehr zu suchen haben . " Ellen faßte sich mühsam : " Dann will ich zu meiner Mutter gehen und mit ihr sprechen . " " Das werden Sie nicht tun - Ihre Mutter will Sie nicht sehen . Sie haben genug Schmerz und Schande über Ihre Eltern gebracht , treiben Sie es nicht noch weiter . Oder wollen Sie auch noch das Totenbett Ihres Vaters und den Schmerz der anderen entweihen ? " " Weiß er , daß ich hier bin ? " " Nein , und er wird es auch nicht erfahren . Man ist ängstlich bemüht , ihm jede Aufregung fern zu halten , und verlangt deshalb von Ihnen , daß Sie gleich wieder abreisen . Es geht heute noch ein Nachtzug nach Hamburg . " " Nein , ich bleibe hier , solange mein Vater noch lebt , und wenn er mich rufen läßt - " " Ich wiederhole Ihnen , Sie dürfen das Haus Ihrer Mutter nicht betreten . " Der Geistliche erhob mahnend die Hand . " Und ich will Ihnen nur noch das eine sagen : Sie werden Ihren Vater nicht mehr sehen - und wenn ich mich selbst vor die Tür stellen müßte . " Ellen wandte ihm den Rücken und ging auf die beiden zu , die langsam auf und ab wanderten ; dann nahm Annita Senn sie mit in ihr Haus . Die ersten Tage kam Detlev und brachte ihr Nachricht ; der Vater lag im Krankenhaus , und sie waren alle von Morgen bis Abend dort . Dann blieb er aus . Als er bis Nachmittag nicht gekommen war , suchte Ellen den Arzt auf , der ihren Vater behandelte und den sie von früher her kannte . " Sie sollten doch mit Ihrer Mutter sprechen " , sagte dieser . " Es ist wohl kaum zu hoffen , daß er den Abend überlebt . " Ellen ging durch die ganze Stadt und weit hinaus bis in den Wald , da lag sie eine Stunde nach der anderen im Gras . - Nun würde er sterben und sie ihn nie wiedersehen , und was mochte er gelitten haben um sie ! Ihr ganzes Zuhauseleben zog wieder an ihr vorüber - was war es anderes gewesen , als Feindseligkeit und Erbitterung . Man war hart verfahren mit ihrer Jugend , die nach Freude und Sonne verlangte . Aber sie wußte doch auch , daß ihr Vater viel Liebe und Weichheit in sich trug , bei aller Schroffheit gegen das , was er nicht anerkennen und nicht dulden wollte . Eine namenlose Sehnsucht erwachte in ihr nach all der Liebe , die sie einander nie gegeben hatten . Hätte sie ihm das nur einmal noch sagen dürfen , aber er wußte nicht , daß sie hier war . Und sie dachte an ihre Mutter - war sie jemals eine Mutter gewesen , diese kalte , fremde Frau , die ihr sagen ließ : gehe , woher du gekommen bist ? Als Ellen gegen Abend wieder zurückkam , wartete ihr älterer Bruder auf sie : der Vater war gestorben , und nun durfte sie kommen , um ihn noch einmal zu sehen . Wortlos gingen sie nebeneinander her bis zu dem großen , fahlgelben Gebäude und die stille Treppe hinauf . Erik ließ sie allein im Zimmer - da drüben auf dem weißen Bett lag er kalt und starr - eingefallen und verändert - . Das war nicht mehr ihr Vater , es war etwas Furchtbares , Unheimliches , das ihr einen eisigen Schauer nach dem anderen durch die Seele trieb . Sie kniete vor ihm nieder , versuchte ihn anzusehen , etwas von ihm wiederzufinden - immer wieder stieg das eine Bild vor ihr auf , wie sie ihm zum letztenmal gegenübergestanden hatte im Kampf um ihre Jugend und ihre Freiheit . Jetzt hatte sie gesiegt , und er lag tot . - Allmählich kam ein hilfloser Schmerz über sie , sie legte den Kopf auf sein Bett und weinte . Dann stand der Bruder plötzlich hinter ihr , und der Geistliche war auch wieder da und redete mit schriller Stimme von Vergebung und von dem Herzen , das da ausgeschlagen hatte . Erik zog sie aus dem Zimmer hinaus und begleitete sie durch die stillen dunklen Straßen zurück . Am nächsten Abend stand Ellen zu später Stunde vor dem Gartengitter ihres Elternhauses , es hatte sie hergetrieben , ob sie wollte oder nicht , noch einmal Abschied zu nehmen von den letzten Heimatgedanken . Durch die offenen Fenster , vor denen leichte , weiße Vorhänge hin und her wehten , sah sie alle bei der Lampe sitzen und hörte die Stimmen . " Wenn Sie umkehren in aufrichtiger Reue , sich willig in alles ergeben , was zu Ihrem Heil beschlossen wird - dann , aber nur dann wird Ihre Mutter Sie wieder als ihr Kind aufnehmen " , so hatte der Hauskaplan heute noch einmal zu ihr gesprochen . - Wie schneidender Hohn kam es ihr vor , daß diese Mutter jetzt da drinnen unter ihren Kindern saß , mit ihrer gewohnten Stimme sprach - hier und da klang ein Wort zu ihr herüber . Und sie stand hier draußen und konnte nicht umkehren . - Aber die ganze Welt schien ihr so weit und leer und tot - wo gehörte sie denn hin , wohin würde sie treiben ? Jetzt standen sie da drinnen auf , Stühle wurden gerückt , die Stimmen gingen durcheinander , dann wurde es dunkel , die Fenster verloschen . Ellen stand immer noch unbeweglich und sah starr darauf hin . Nun ging ein Lichtschein durch die oberen Zimmer und allmählich erlosch auch der . Im Hof schlug der Hund an , als ein paar Menschen vorüberkamen - ihr alter Nero . Langsam zog sie die Hände vom Gitter zurück , sie waren wie angefroren an dem feuchten , kalten Eisen , und schauerte zusammen in der Nachtkühle und der leeren Straßeneinsamkeit . - Tags darauf kam Ellen unerwartet und unangemeldet bei ihrer Freundin Lisa an , und die erschrak beinahe über ihre völlige Teilnahmlosigkeit . Ellen lag tagelang oben in ihrem Zimmer und schlief , sie dachte nicht mehr daran , in ihre Stellung zurückzukehren , oder was sonst geschehen sollte . Wenn Briefe kamen , ließ sie dieselben ungelesen liegen , ihr war , als ob alles in das Grab ihres Vaters und ihrer Heimat versunken wäre . Als Reinhard Laurenz dann hörte , daß sie wieder da war , kam er gleich . Fast mit Gewalt zog er sie mit hinaus in die Sommersonne , auf weite Spaziergänge und brachte sie allmählich wieder zum Erwachen . Immer wieder sprach er ihr von der Zukunft , die so Licht und froh für sie werden sollte , daß alle dunklen Schatten weichen mußten . Sie sollte sich wieder auf ihre Jugend und ihre Ziele besinnen , sich auflehnen gegen den Schmerz , ihn abschütteln und nur an den neuen Morgen denken , der vor ihr lag . Und er ließ nicht nach , bis sie wieder froh wurde . Von sich selbst sprach er nicht , aber Ellen wußte seine Liebe wohl , es war nur noch ein leises Zögern in ihr und etwas wie Angst vor jeder innerlichen Erschütterung . An einem Sonntagnachmittag waren sie beide mit Lisa hinausgefahren , um die Rennen anzusehen . Das Menschengewühl unter der brennenden Sonne , der Wein und das aufregende Spiel da drunten auf der weiten Sandfläche , wo die dunklen , schimmernden Tiere dahinrasten , brachte sie in seltsame Stimmung - in eine Art von stürmischer Erwartung , als ob jeden Augenblick etwas hereinbrechen , über alles hinfegen könnte . Auf dem Programmzettel fanden sie heraus , daß eins von den Rennpferden Ellen hieß . Darüber lachten sie mit Lisa und wetteten untereinander ; aber als die Freundin wieder ganz im Zuschauen versunken war und sich weit vorbog , um besser zu folgen , gingen ernste Blicke zwischen den beiden anderen hin und her . Reinhard stand hinter Ellens Platz , sie sprachen leise zueinander , fast nur indem sie die Lippen bewegten , und mit den Augen . Er fühlte all das Schwanken in ihr , seit langem schon : " Zu mir kommen , Ellen , zu mir , - wir gehören zusammen . " Dann mußten sie wieder laut sprechen - nun kam das Pferd , das Ellens Namen trug , ins Rennen - und Lisa drehte sich um : " Was flüstert ihr denn ? " " Wir machten eine Privatwette ab , ob » Ellen « siegen wird . " Lisa versank wieder in aufmerksames Zuschauen , und über die beiden kam plötzlich ein gewitterschwüler Übermut . " Es soll gelten " , sagte Ellen leise . " Sie wissen doch , daß ich abergläubisch bin , wenn Ellen siegt - - " " Dann geben Sie mir die Hand , und wir wollen sehen , was unser Schicksal für Sprünge macht . " " Wer soll Sprünge machen ? " fragte Lisa zerstreut , die zufällig das Wort aufgefangen hatte und etwas in Angst vor Ellens plötzlichen Extravaganzen lebte . Aber dann merkte sie es nicht einmal , daß keine Antwort kam - denn eben war eins von den Pferden in die Knie gestürzt . Die anderen lachten und sahen sich verwirrt an , darunter zitterte schwerer Ernst . Ellen hatte ihre Hand auf die Banklehne gelegt und Reinhard behielt sie fest in seiner , während sie jetzt wie gebannt das Rennen verfolgten und das Schicksalspferd ein Hindernis nach dem anderen nahm , einen Augenblick zurückblieb , sich bäumte , zauderte und dann wieder allen vorankam . Dann zitterten sie beide , als die " Ellen " Siegerin blieb , eine Welle von murmelnder Aufregung durch die Zuschauer lief und Lisa sich atemlos zurücklehnte . - Und nun folgte eine Zeit , wo sie nur von ihrer Liebe und von hellem Sommerjubel wußten , nur daran dachten , daß das Leben ihnen jetzt zusammen gehören sollte wie eine endlose Reihe von schimmernden Morgen ohne dumpfe Mittagsstunden und wehmütiges Abenddämmern . Ellen konnte es manchmal kaum begreifen , daß sie so rasch alles Schwere , was hinter ihr lag , überwinden konnte , aber es schien ihr , als wäre jahrelanges Vergessen dazwischen . Auf Reinhards Wunsch sollte sie jetzt noch eine Zeitlang an die See gehen , damit sie in seiner Nähe bliebe . " Ich kann dich doch nicht hergeben " , sagte er . " Nachher in München verschlingt dich die Arbeit , und wir sehen uns lange nicht wieder . So kannst du dich auch noch einmal ganz ausruhen . " Sie lagen zusammen im Wald , die Sonne flimmerte durch das helle Unterholz , die Stadt und die Menschen schienen so weit fort . " Ja , mit vollen Kräften möchte ich auch an die Arbeit kommen , wenn ich endlich komme . Was für Jahre habe ich schon verloren . " " Hast du jetzt an Senn geschrieben ? " fragte Reinhard , und sie wurde etwas verlegen . " Nein , aber in den nächsten Tagen - sowie ich dort draußen bin . " " Es muß geschehen - Ellen , manchmal begreife ich dich nicht recht . Er muß doch erfahren , daß du ihm nicht mehr gehörst . " " Ach - das weiß er schon lange - er hat die ganze Zeit nur hier und da ein paar flüchtige Worte von mir - und es ist so schwer . " " Was ist schwer ? " " So über einen Menschen hinwegzugehen . Ihm plötzlich sagen : Alles ist aus . Das quält mich dann wieder , und ich möchte jetzt an nichts Quälendes denken . " Reinhard richtete sich auf , und sie sah jetzt , daß er ernstlich unzufrieden war : " Nein , Ellen , darin mußt du noch anders werden , endlich einmal lernen , klar gegen dich selbst zu sein . Du hast diese sonderbare Neigung , alles Unangenehme von dir fortzuschicken , bis es von selbst über dich kommt , und dann würdest du am liebsten noch fortlaufen , um es los zu sein . " " Das kommt von meinem ganzen bisherigen Leben . Denke dir einmal : wenn man durch Jahre immer in der Erwartung lebt : was wird morgen geschehen ? Ich fahre heute noch zusammen , wenn die Post kommt oder die Haustür klingelt . " " Armes Kind - ich weiß es ja auch . Und es soll meine Hauptsorge sein , daß dein Leben jetzt wirklich einmal aufblüht . Aber über dies Letzte mußt du jetzt noch weg - die letzten Hindernisse nehmen , Ellen - . " Dann sprach er davon , daß sie doch heiraten wollten , über kurz oder lang , denn wann es sein konnte , ließ sich nach seiner unsicheren Praxis noch nicht sagen . Ellen wurde etwas unruhig dabei , ihr war , als schöbe sich wieder eine graue Wolke über ihren hellen Himmel hin . " Ach , Reinhard , warum müssen wir denn gleich wieder an Verloben und Heiraten denken ? Ich habe einen förmlichen Schrecken vor dem bloßen Wort . Und dann muß ich auch jetzt erst einmal ganz ins Blaue hineinleben - ich muß wenigstens vier , fünf Jahre ganz für mein Studium haben , das geht allem anderen vor . " " Auch mir und unserem Glück ? " " Das darf dir nicht weh tun , und du darfst es nicht verkehrt verstehen . Wenn ich in der Kunst nicht zu dem komme , was ich will , kann ich dich auch nicht glücklich machen und nicht glücklich sein . " " Ellen , du sollst ja deine Kunst haben und alles , was ich dir schaffen kann . Und ich werde nie verlangen , daß du sie aufgibst , um eine gute Hausfrau zu werden . Siehst du , ich habe mir das alles überlegt - vor dem nächsten Frühjahr können wir nicht an Heiraten denken , ich fasse es auch nicht so auf , daß man nun festgeschmiedet ist . Ich will damit zufrieden sein , wenn du immer ein halbes Jahr bei mir bist und die übrige Zeit dich in Berlin oder München weiterbildest . - Wie weit denkst du überhaupt mit deinen sechshundert Mark zu reichen , in diesem Jahr werde ich dir so gut wie gar nicht helfen können . " " Ach , das findet sich alles , wenn ich nur erst dort bindu bist so gut , Reinhard " , - ihr war immer noch etwas beklommen - " aber jetzt wollen wir das noch erst Mal ruhen lassen , nicht wahr ? " Als Ellen in dem kleinen Badeort ankam , regnete es in Strömen . Nachmittags kam ein Telegramm von Senn , das Lisa ihr nachgeschickt hatte : " Warum so lange keine Nachricht , bin in Unruhe ? " So setzte sie sich in der niedrigen Bauernstube an den Tisch und schrieb einen langen Brief an ihn , während schwere Tropfen an die Scheiben schlugen und die Kühe draußen in den Wiesen dumpf gegen den Himmel brüllten . Sie wurde traurig und nachdenklich dabei - wieder etwas , das sich von ihr loslöste , und es schien ihr eine ewige Wiederholung , daß sie Liebe wollte und Liebe nahm und im Grunde doch immer nur an sich selbst dachte - geliebt sein wollte , aber ohne etwas dafür hinzugeben . Nun lag auch das hinter ihr , das letzte , was sie an die Vergangenheit band . Jeden Sonntag fuhr sie in die Stadt zu Reinhard und wohnte jedesmal in demselben Hotel , das seiner Wohnung gegenüberlag . Die Leute kannten sie schon und lächelten , wenn Ellen mit ernster Miene ein Balkonzimmer nach Norden verlangte . Reinhart holte sie von der Bahn mit seinem übermütigsten Gesicht , und sie drängten sich zusammen durch das sonntägliche Gewühl , um in den Wald hinauszukommen . Draußen in ihrem Badeort lebte Ellen anfangs ganz für sich allein . Ihr war , als ob das Leben jetzt Flügel bekommen hätte , die sie hintrugen , wo es schön und sonnig war . Malen , den ganzen Tag malen , oder ein Boot nehmen , stundenlang auf den Wellen umhertreiben , ohne sich um Zeit und Stunde zu kümmern , mit dem wundervollen Gefühl , daß kein Mensch auf der weiten Welt ihr mehr dreinredete . An ihrem Mittagstisch waren meist langweilige Ehepaare und einzelne Damen , dann kam noch ein älterer , kränklicher Herr dazu , mit dem Ellen bald Freundschaft schloß . Er wußte die ganze Gesellschaft durch seine bissigen Bemerkungen und schlimmen Witze in Spannung zu halten - und sah aus wie ein kranker Teufel mit dem spitzen , grauen Bart und den verglasten , fahlen Augen . Aber Ellen konnte ihn gut leiden und stimmte zum Entsetzen der übrigen in seinen Ton ein , sie genoß es wie einen Triumph , wenn die ganze Tafelrunde sich still oder laut empörte . Er fragte die jungen Frauen , wie viele Kinder sie hätten , schlug dann die Augen zum Himmel und legte seine Hand auf die Ellens . " Haben Sie gehört ? - Fünf Kinder ! - Sehen Sie , ich wollte Ihnen schon einen Antrag machen , aber so weit brächten wir es nimmer - ich habe höchstens noch zwei Jahre zu leben . " " Nein , dieser Zynismus geht doch zu weit " , sagte eine behäbige , blonde Witwe , nachdem er fort war . " Sie sind noch so jung und können das nicht so verstehen , aber auf solche Scherze sollten Sie wirklich nicht eingehen . " Und nun erhoben sie alle ihre warnenden Stimmen , sie fanden es schon lange befremdlich , daß Ellen so allein stand , und hätten sie gerne etwas unter ihre schützenden Flügel genommen . Bald darauf fehlte er bei Tisch . " Wo ist Herr Markus ? " fragte Ellen . " Krank - besuchen Sie ihn doch ! " klang es im Chor in einer Tonart , die deutlich sagte : " Sie werden doch nicht - - " " Ja , das ist wahr , wo wohnt er denn ? " Gleich nach Tisch ging sie hin , er lag im Bett , blaß wie die Wand , mit schrecklich verdrehten Augäpfeln . Von nun an kam sie jeden Tag , brachte ihm Blumen , räumte sein Zimmer auf , das in arger Unordnung war , und ließ sich seine Leiden erzählen . " Sie sind ein gutes Kind " , sagte er , " aber es bringt kein Glück , wenn man so weichherzig ist . Was haben Sie davon , wenn Sie einen alten Krüppel besuchen und sich ins Gerede bringen . Ja , wenn es ein junger Kerl wäre . " Aber sie verstand sich so gut mit dem kranken Teufel und liebte diese Stunden , wo sie an seinem Bett saß und er über die verdammten Weiber schimpfte und ihr immer wieder die Schwindsucht weissagte , weil sie hustete . " Aber lachen Sie nur , lachen Sie nur , es vergeht früh genug . " Inzwischen lernte Ellen andere Menschen kennen . - Sie ruderte eines Abends in ihrem kleinen weißen Boot aus dem Hafen . Eben vor ihr war eine größere Segelbarke hinausgefahren , und nun erschien jemand am Kai , der sich verspätet hatte , rief sie an und bat , sie möchte ihn bis zum Segelboot mitnehmen . Der Wind war schwach , und sie hatten es bald erreicht . Ellen kannte niemand von der Gesellschaft , aber es schien ein lustiges Volk zu sein . Alles lachte und lärmte durcheinander und Weinflaschen gingen von Hand zu Hand . Ihr Begleiter ließ ihr keine Ruhe , bis sie ihr Boot festmachte und mit einstieg . Aber er schien nicht mehr ganz sicher auf den Füßen zu sein , und beinahe wären sie zusammen ins Wasser gefallen , gaben sich aber noch zur rechten Zeit einen Ruck und stürzten nun über ein paar Schultern und Köpfe weg mitten ins Schiff hinein . Da lagen sie beide auf den Knien und sahen sich verwirrt an , während die anderen ringsum in die Höhe fuhren , aufschrien oder lachten . Ein paar Herren sprangen auf , um Ellen zu helfen : " Sehr liebenswürdig von Ihnen , uns so zu überraschen , darf man fragen , wo Sie so gut springen gelernt haben ? Das war ja schon mehr geflogen . " " Von dem da " , sagte Ellen , während sie vorsichtig aufstand , denn der Boden war voller Glasscherben . " Leonhard " , stellte er sich jetzt rasch vor , immer noch auf den Knien , " ich bitte tausendmal um Verzeihung - aber schön war es doch " , und mit einem andächtigen Blick küßte er ihr die Hand . Die übrigen hatten sich inzwischen von ihrem Schrecken erholt und stimmten ein lautes Jubelgeschrei an : " Sehr schön - bravo Leon ! Leon soll leben - die junge Dame soll leben . - Festhalten , sonst springt sie auf der anderen Seite wieder hinaus . - Wein her - wo ist der Wein ? " Sie bekamen jetzt einen Platz auf der Bank , und alle stießen mit ihnen an . " Habe ich es vielleicht nicht gut gemacht ? " rief Leonhard in den Lärm hinein . " Wir fahnden nämlich schon eine ganze Zeit auf Sie " , wandte er sich zu Ellen , " die alten Hexen aus Ihrer Pension haben uns allerhand erzählt . - Sie sind hier nur noch » die junge Dame mit dem Herrn Markus « . " Ellen sah ihn jetzt etwas genauer an - er hatte rötlich blondes Haar , das dicht und wirr um den Kopf stand , und redete alles mit einer Heiterkeit , der nicht zu widerstehen war . Es sah aus , als lachte der ganze Mensch bei jeder Bewegung . Und diese strahlende Lebensfreude schien sich seiner Umgebung mitzuteilen , sie lachten alle mit , wenn er anfing zu sprechen . Er mußte ihr nun erklären , wer die anderen waren . Ein bunt zusammengewürfelter Kreis war es , der sich hier oben an der See gefunden hatte . Er selbst , Leonhard , kam vom Rhein her mit zwei Freunden , von denen einer kurzweg als " der Regierungsrat " vorgestellt wurde , der zweite mit dem fliegenden roten Schlips war Opernsänger , und man nannte ihn Harry . Dann gab es noch ein internationales Ehepaar , das unter sich französisch sprach , mit zwei Töchtern , eine stellenlose Gesellschafterin und ein paar junge Leute , die nicht weiter in Betracht kamen . Im ganzen wußte man nicht viel voneinander , man vergnügte sich nur zusammen und - damit schloß er seinen Vortrag - Ellen sollte von nun an mittun , da sie jetzt glücklich eingefangen war . Und das tat sie denn auch . Das Gelage wurde immer lauter und fröhlicher , je weiter sie auf die See hinauskamen , und anfangs achtete niemand darauf , daß der Himmel sich bezog und leise Donner in der Ferne rollten . Allmählich ballten die Wolken sich immer dunkler zusammen - die Damen wurden ängstlich und ließen den Schiffer umwenden . Aber der Wind ließ nach und es ging sehr langsam . " Wenn Sie jetzt in Ihrem kleinen Ruderboot allein hier draußen wären " , sagte Ellens Nachbar . " O , ich käme rascher damit vorwärts wie so . " " Aber so weit hinaus können Sie mit dem Dings doch nicht rudern . " Das stachelte ihren Ehrgeiz . " Wollen wir wetten , daß ich eher daheim bin wie Sie ? " Und ehe er sie zurückhalten konnte , war sie schon beim Steuer und kletterte in ihr Boot hinab . Wieder gab es Tumult . " Sie ist des Teufels - halte sie , Leon - fange sie ! " Aber Leon kam zu spät . Das Gewitter zog rasch herauf und einzelne heftige Windstöße fuhren in die Segel . Ellen blieb eine Zeitlang neben der Barke , die dann plötzlich rasch vorwärtstrieb . Man winkte und rief , aber sie konnte nichts mehr verstehen , denn das Unwetter brach jetzt los . Schwere Donnerschläge rollten über den Himmel und schienen unten im Wasser zu widerhallen . Dann folgten sie sich immer schneller , und sie konnte kaum mehr sehen , so blendeten die Blitze , es kam ihr vor , als ob sie rechts und links neben ihr in die Wellen hineinzuckten und wieder aufsprühten . Dann klatschte der Regen nieder in langen hellen Streifen , in einem betäubenden Gewirr von Ringen und Tropfen . Das Boot schaukelte vorwärts , rückwärts , legte sich auf die Seite und tanzte wie unter einer Peitsche . Ellen verlor ein Ruder , fing es glücklich wieder auf , dabei flog der eine Ruderpflock heraus , und nun rutschte es bei jedem Schlag hin und her . Endlich war sie bei den Büschen angekommen , die am Ausgang des Hafens das Fahrwasser markierten . Das war eine Strecke , die sie sonst in fünf Minuten zurücklegte , aber jetzt brauchte es fast eine halbe Stunde , bis sie endlich triefend im Hafen ankam - das Boot war halb voll Wasser - die ganze Segelgesellschaft stand unter ihren Schirmen am Ufer und daneben der Fischer , dem das Boot gehörte . Sie empfingen Ellen mit großem Lärm und zogen sie mit in die Strandhalle , um einen Grog zu trinken . Leonhard rückte ganz nah an sie heran und schüttelte den Kopf : " Furchtbar toll - Sie sind furchtbar toll . - Sagen Sie Mal , was fällt Ihnen eigentlich ein ? " Sie war noch ganz berauscht von der wilden Fahrt und von der Gefahr , ihre Augen leuchteten : " Aber schön war es doch ! Am liebsten möchte ich gleich noch einmal hinaus . " " Kind , Kind " , sagte er , " spielen Sie nicht so mit Ihrem Leben . Wir haben Sie schon oft gesehen , wenn Sie sich auf dem Wasser herumtrieben und die Meergreise von Ihrem Mittagstisch am Ufer die Hände rangen . - Wer sind Sie denn eigentlich ? " Da legte plötzlich jemand die Hand auf ihre Schulter und Markus stand hinter ihr , schweigend stellte er ein Glas Kognak vor sie hin und sah zu , wie sie es austrank . " O unglückselige Ellen " , sagte er dann mit seiner schneidenden Stimme . " Sehen Sie , junger Mann - die Schwindsucht hat sie schon im Leibe und dabei säuft sie wie ein alter Seemann . Nein , nein , ich würde Sie doch nicht heiraten , obgleich Sie mich kompromittiert haben . " " Wie schade " , sagte Ellen , " ich gleich . " Und nun legte er feierlich die eine Hand aufs Herz und reichte ihr die andere : " Heirate mich und sei mein Weib , - damit wie du ich froh und glücklich sei . " Ellen schlug ein , der lärmende Chor rief Bravo und wollte Markus mit an den Tisch ziehen , aber er schlug seinen Mantel um sich und wandelte stumm hinaus . " Also Ellen " , sagte Leon wie in tiefem Nachdenken . " Ellen - die furchtbar tolle Ellen . " Von nun an war Ellen tagtäglich mit ihren neuen Bekannten zusammen . Kam sie morgens an den Strand hinunter , so sah sie schon von ferne Leon mit beiden Armen winken und hörte seine jubelnde Stimme : " Da kommt sie , da kommt meine tolle Ellen " , und dann schwenkte er sie im Kreise rundum , bis sie um Gnade bat und beide sich außer Atem ins Gras warfen . Für jeden Tag wußte er neue Unternehmungen , sie ruderten und segelten , wanderten zur Ebbezeit weit auf den festen , grauen Schlamm hinaus , spannten des Strandwirts Ackergäule vor einen klappernden alten Leiterwagen , fuhren von Dorf zu Dorf und durchschwärmten nach der Rückkehr die halben Nächte im Freien vor den Gasthäusern . Es war ein ununterbrochenes Fest ; wo sie hinkamen , gab es Leben und übermütige Lust . Ellen gab sich diesem stürmichen Sommerleben in gedankenloser Freude hin . Bald war ja ihre Zeit sowieso abgelaufen - Reinhard war zu seinen Eltern gereist , und wenn er zurückkam , wollten sie noch ein paar Tage zusammensein , dann kam München . Es lag alles so klar und froh vor ihr , sie schrieb glückselige Briefe an Reinhard und erzählte ihm von ihren Freunden und den tollen Fahrten . Der Tag ihres Scheidens rückte heran , und es kam hier und da ein wehmütiger Ton in ihr Beisammensein mit dem frohen Gefährten . " Kind , Kind , nun soll ich dich hergeben " , sagte Leon , " und du gehst ebenso lachend fort , wie du gekommen bist . " Dann wurde sie wohl einen Augenblick ganz still , aber gleich darauf faßte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn . " Nein , ich möchte gerne noch bei dir bleiben , aber ich freue mich doch auch so darauf , ihn wiederzusehen . Kannst du dir nicht denken , wie ich mich freue ? " Er nahm ihre Hand , mit der anderen fuhr sie ihm langsam durch die Haare . " Leon , ich darf mich nicht in dich verlieben , das wäre wirklich schlimm . " " Auch nicht für einen Tag , wenn du doch so bald schon fortgehst ? Kind , eigentlich waren wir doch alle beide verliebt , diese ganze Zeit , oder glaubst du nicht ? - Und das Heute gehört uns noch , laß morgen morgen sein . " Zu guter Letzt waren sie noch einmal alle zusammen nach einer von den kleinen weißen Sandinseln hinausgesegelt . Es sollte eigentlich eine Seehundsjagd sein , man hatte Flinten mitgenommen und lag den ganzen Nachmittag hinter den großen Strandsteinen auf der Lauer . Aber die meisten von ihnen hatten noch nie einen Seehund gesehen , und kam eins der runden schwerfälligen Tiere zum Vorschein , dann brachen sie in ein so schallendes Gelächter aus , daß es gleich wie der den Rückzug antrat . Keiner dachte auch nur daran , ihm einen Schuß nachzuschicken . Aber das war so vergnüglich , daß der Schiffer mehrfach zur Abfahrt mahnen mußte , und als sie schließlich aufbrachen , war die Flut schon so weit vorgerückt , daß man das Boot nur watend erreichen konnte . Lachend , schwankend und durchnäßt kamen sie endlich an Bord . Ellen und Leon wanderten , bis an die Brust im Wasser , noch dreimal um das Boot herum - sie wollten von einem alten Seemann erfahren haben , das sei ein sicheres Mittel gegen alle Seeunfälle . Dann sprangen sie wie bei Ellens erstem Auftreten mitten in das Schiff hinein , während das Wasser von ihren Kleidern niederrann . " Ihr beiden " , sagte der Regierungsrat und wiegte seinen schon etwas grauen Kopf hin und her , " was schaut ihr euch denn so an ? Gebt euch doch lieber einen Kuß . - Was soll nur aus dir werden , Leon , wenn du sie nicht mehr hast ? " " Uns hat Gott geschieden " , sagten sie einstimmig in feierlichem Ton und küßten sich vor aller Augen . Während der langen Heimfahrt senkte sich allmählich eine matte Stimmung über die sonst so unermüdlich frohe Gesellschaft . Einer nach dem anderen suchte sich einen bequemen Platz auf der Bank oder am Boden und schlief ein . - Der Schiffer legte die langen Ruder aus , um dem schwachen Wind nachzuhelfen - bei jedem Schlag leuchteten die durchschnittenen Wellen in grünlichem Schimmer auf , und von den Rudern rann es wie flüssiges , vielfarbiges Silber . Ellen saß mit Leon beim Steuer , er hatte sie in einen großen Mantel gewickelt und hielt sie an sich gedrückt wie ein kleines Kind . Sie sahen dem Meerleuchten zu und sprachen leise miteinander . Erst nach Mitternacht kamen sie heim , einige zogen sich gleich zurück , um zu schlafen , die anderen gingen durchfroren und in ihren nassen Kleidern zur Strandhalle . Sie alarmierten das ganze Haus , gingen selbst in die Küche , wirtschafteten am Schenktisch herum und deckten im großen Saal den Tisch . Wer wollte wohl an Schlafen denken , heute mußte noch bis zum Morgen gefeiert , Kälte und Müdigkeit weggejubelt werden . Und sie feierten und jubelten , und die Wellen der Freude gingen immer höher . Nach Tisch setzte Harry , der Opernsänger , sich ans Klavier und raste wilde Tanzmelodien herunter , die anderen tanzten um die Tische , durch den Saal und zur Tür hinaus durch die Straßen . Mit gefüllten Gläsern klopften sie an die Fenster derer , die schon zur Ruhe gegangen waren und ließen nicht nach , bis sie wieder herauskamen und mittaten , meist in wunderlichen Kostümen , Schlafröcken oder rasch übergeworfenen Mänteln . Hier und da öffneten sich auch noch andere Fenster , und scheltende Stimmen wurden laut , denn in dieser Nacht kam keiner von den Badegästen zu einer ruhigen Stunde Schlaf . Zwischendurch fanden Ellen und Leon sich auf der Bank vor dem Hause zusammen . " Küsse mich , Kind " , bat er immer wieder , " nur heute , nur heute noch , - laß morgen morgen sein . " Und sie sagte nicht mehr nein . " Liebst du ihn denn wirklich so ? " fragte er . Ja ; und sie glaubte , daß sie sehr glücklich mit ihm sein würde . " Ach , wie können wohl zwei Menschen auf die Länge glücklich miteinander sein ! " Ellen wußte , daß er verheiratet war , und hörte nachdenklich zu , wie er darüber sprach - auch dieser lachende Mund kannte das Lied von der unausbleiblichen Enttäuschung und Ernüchterung . Und sie dachte sich noch die Liebe wie einen immerwährenden Rausch - nur mußte es dann wirklich die eine , große Liebe sein . - Aber das hatte sie ja schon jedesmal geglaubt , wenn sie liebte . " Und immer kommt wieder ein anderer " , dachte Ellen . - Sie war so sicher gewesen , daß sie Reinhard liebte und von nun an alle ihre Gedanken nur ihm gehören würden . Und nun saß sie da in der Sommernacht und wußte dem strahlenden Verlangen , das sie umwarb , nicht nein zu sagen - laß morgen morgen sein . - Noch als der Festlärm längst verklungen und alle schlafen gegangen waren , gingen die beiden langsam durch dämmernde Straßen und küßten sich wieder und wieder . Ziemlich bleich und übernächtigt fand sich die wilde Tafelrunde um Mittag wieder zusammen . Ellen hatte heute nicht den Mut , sich bei Tisch in ihrer Pension sehen zu lassen , denn die ganze Badegesellschaft war nur noch ein einziger Sturm von Entrüstung über das nächtliche Gelage . Wie sie beim Kaffee saßen und die ermatteten Lebensgeister sich wieder zu regen begannen , kam Markus . Er hatte eine Drehorgel umgehängt , blieb an der Tür stehen und sang mit hohler Stimme ein altes Leierkastenlied : " Am Weidenbaum , am Weidenbaum Da fand ich ein Gerippe : Da zog sie aus den Krinoline Verfluchte sich - und es - und ihn Und hing sich an die Strippe . " Als der Beifallssturm sich wieder gelegt hatte , kam er an den Tisch und setzte sich neben Ellen und Leonhard : " Da sitzen sie wieder Hand in Hand und trinken Kognak . - Ja , lachen Sie nur , in dem Lied steckt tiefe Lebensweisheit . Hüten Sie sich , Ellen , die Welt hat Fallstricke und Gefahren . " " Ich reise ja heute abend schon " , sagte sie , " vormittags war ich bei Ihnen , um adieu zu sagen . " " Ja , ja - deshalb bin ich auch hergekommen " , er faßte ihre beiden Hände und sah sie an , " lieben Sie nur weiter , Kind , so lange es was zu lieben gibt . Und denken Sie manchmal an den grämlichen , alten Kerl , dem Sie etwas von Ihrem Sonnenschein gegeben haben . " Ein paar Stunden später sah Ellen vom Kupeefenster aus noch einmal Leons blonde Mähne im Abendlicht flattern und hörte noch einmal seine frohe Stimme : " Lebe wohl , du furchtbar tolles Kind . " Sie zog wieder in ihr altes Quartier bei Lisa Seebald ein . Für einen der nächsten Abende hatte die ein kleines Verlobungsfest in Szene gesetzt . Detlev war gekommen , um seine Schwester noch einmal zu sehen , ehe sie nach München ging , und Reinhard wollte ein paar Freunde mitbringen . Als Ellen gegen Abend in ihrem Zimmer war und ihren Koffer packte , brachte das Dienstmädchen ihr einen Brief herauf - darin lag eine Karte mit Versen : Fahr wohl , mein Liebe , der Abend graut - Fahre ' wohl , wir müssen uns trennen . Das Scheiden ist ein bitteres Kraut , Von heißen Tränen ist_es betaut Und seine Blätter brennen . Dort drüben am Meer eine Weide steht - Die Äste hängen hernieder - Ein Blatt sich wirbelnd zur Erde dreht , Wer weiß , wohin es der Wind verweht : Zurück kehrt es nimmer wieder . Schau mich noch einmal lächelnd an , Das will ich zum letzten bitten . Du hast mir viel zulieb getan Und treulich wollte ich zu dir stehen - Die Welt hat es nicht gelitten . Darum fahr wohl , Ellen , fahre wohl . Das Glück möge dich geleiten . Seit unserem Abschied , das weißt du wohl , Ist Leon toller noch wie toll . Er kann das Scheiden nicht leiden . Und in ganz kleiner Schrift am Rand : " Als traurigen Abschiedsgruß von deinem traurigen Leon . " Ellen saß auf dem Koffer , die Karte in der Hand , und sah abwesend vor sich hin . Wehmütig lockend zog es wieder an ihr vorüber , die ganze frohe Zeit - sein Lachen , - die Sommernachtsstunde vor dem Wirtshaus . Dann hörte sie unten die Haustür gehen und viele Stimmen Durcheinandersprechen . Lisa rief , und sie mußte hinuntergehen . Das Zimmer sah festlich aus mit Blumen und Weinranken und den grünen Römern auf weißgedecktem Tisch . Detlev ging herum , stellte sich vor und machte die Honneurs . Er umarmte Reinhard halb im Scherz als Schwager . " Daß ihr euch verlobt habt - richtig verlobt . - Ich finde , Ellen ist ganz aus der Rolle gefallen - aber ich bin sicher , sie kommt doch mit einem Skizzenbuch unter dem Arm zur Trauung . Und jetzt wollen wir eine gehörige Orgie feiern , um der Sache etwas von ihrem Spießbürgertum zu nehmen . Nicht wahr , Lisa ? " " Ja , wenn Detlev Olestjerne nur Weingläser sieht , ist ihm jede Familienfeier recht " , sagte die . Ellen war dem Bruder von Herzen dankbar , daß er mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit alle ins Gespräch zog und immer wieder zum Lachen brachte , während sie sich um den Tisch sammelten , anstießen , einer von Reinhards Freunden am Klavier den Brautgesang spielte und Lisa sie der Reihe nach mit Weinranken bekränzte . Ihr gingen immer noch Leons Verse durch den Sinn und sie lächelte etwas mühsam , wenn Reinhard sie ansah und fragte : " Fehlt dir etwas , Ellen , du bist heute so still ? " München , 20. August In München - . Ich kann immer noch nicht begreifen , daß es kein Traum ist . Es ist etwas so ganz Neues , allein zu leben und nur mit sich selbst zu reden , und jetzt fühle ich erst , wie mir das Not tat . Ich möchte mir doch endlich einmal angewöhnen , für mich selbst über mein Leben Chronik zu führen . Bisher sind solche Versuche immer gescheitert - man bekommt das dumme Gefühl , als ob man vorm Spiegel steht und Monologe darüber hält , wie man aussieht . Die Malschulen feiern noch bis Oktober , so arbeite ich in einem Atelier , das fünf Malerinnen zusammen haben - vormittags Zeichnen und nachmittags Modellieren . Meine Wohnung ist nur ein paar Häuser davon , ein großes helles Dachzimmer , freundliche alte Wirtsleute . Die Luft hat beinahe etwas Südliches in diesen heißen Tagen , die Straßen ganz weiß von dem flimmernden Kalkstaub . - Und das Arbeiten in unserem großen kühlen Atelier , und dann wieder in die Sonne hinaus , den ganzen Tag sein eigener Herr sein , keinen Moment des Tages sich nach anderen richten zu müssen ! So habe ich mir_es geträumt , das ist endlich die Luft , in der ich leben kann . Mein Gott , und jetzt muß ich arbeiten , arbeiten bis aufs Blut , und dann faßt mich der Jammer an um all die verlorene Zeit , was für Jahre hätte ich jetzt schon arbeiten können . Und die Angst , ob meine Kraft doch noch voll ist - manchmal jubelt es in mir , und ich möchte alle Himmel stürmen , aber dann kommt wieder dies sonderbare Gefühl , als ob irgend etwas fehlte - als ob da irgendein toter Punkt wäre , über den ich nicht wegkam . Da habe ich nun , seit ich halbwegs selbständig denken kann , diesen Heißhunger nach der Kunst gehabt - wie man sich mit allen Gedanken nach einem geliebten Menschen sehnt . Aber in dem Augenblick , wo er da ist und man mit ihm zusammenschmelzen möchte in jeder Empfindung , da versagt wieder die innere Glut und man tut nur so , als wäre es , was es sein sollte . Manchmal glaube ich überhaupt , ich bin wirklich mit dem verkehrten Fuß auf die Welt gekommen und werde mich nie zurechtfinden . 5. September Allmählich lerne ich meine Kolleginnen kennen ; sie sind im ganzen ziemlich langweilig , nur mit der Dalwendt Freunde ich mich immer mehr an . Sie ist aus meiner Heimat , sieht aus wie eine Germania , groß , mit schwerem blonden Haar . Wir gehen nachmittags zusammen ins Café und dann spazieren . München ist wundervoll in dieser Sommer-Herbststimmung mit dem blauen Duft . Gestern lud sie mich den Abend zu sich ein . Sie lebt mit ihrer Mutter , die den ganzen Tag arbeitet , um ihr das Studium zu ermöglichen . So etwas greift mich an meiner sentimentalen Seite an . - Die Erinnerungen sind mir noch zu nah , ich darf nicht daran denken , - an nichts , als daß ich jetzt weiterkomme . Nach Tisch ließ sie mich ihre Sachen sehen , Federzeichnungen , alle möglichen Kompositionen . Ich bin ganz in mich zusammengesunken . Was hat die für ein Können und ist kaum älter wie ich . Wir gingen noch spät im Mondschein an die Isar hinunter , standen lange auf der Brücke und sprachen von unserem Leben und von der Kunst . Jetzt ist es nach Mitternacht , ich bin eben erst heraufgekommen , habe die Fenster weit aufgemacht , Mondlicht und Nacht kommen von draußen herein . Heute habe ich einen Einblick in das ganze , bewußte Schaffen eines anderen Menschen getan und ringe nun darum , das auch in mir zu finden . Es ist wie Gebetsstimmung in mir . 9. September Früh an der Akademie , um ein Modell zu suchen . Ich war schlecht angezogen - wie immer , denn ich habe überhaupt fast nichts mehr anzuziehen - und wurde selbst für ein Modell gehalten . Ein Maler wollte mich mitnehmen , ich hatte die größte Lust , aber ich darf jetzt nur für meine Arbeit leben und keine Kindereien treiben . 14. September In den Bergen gewesen , und da bekam ich Heimweh nach dem Meer , nach dem Freien , Weiten . Die anderen lachten mich aus , weil ich mir die Berge höher vorgestellt hatte . Überhaupt bin ich fast immer enttäuscht , wenn ich etwas sehe , das ich mir irgendwie vorgestellt habe . Es ist nie so überwältigend , wie ich es haben wollte . Zu Hause Briefe von Reinhard vorgefunden . Er freut sich über meine jetzige Lebenslust . - Es kommt mir fast wie Ironie vor - denn ich bin gar nicht lustig - mir ist , als ob mein Leben in einer Krisis wäre , die vielleicht alles verschlingt . Ich denke viel über Reinhard und über unser Verhältnis nach . Wie waren wir glücklich zusammen diesen Sommer - ich war also doch einmal wirklich glücklich und glaubte selbst daran . Aber mitten im Glück dachte ich wieder an einen anderen - Leon - , es zuckt immer noch etwas in mir nach , wenn ich seine Karte lese , und ich möchte ihn wiedersehen . Das war noch bei allen meinen Lieben so . Vielleicht kann ich überhaupt nicht ganz und ungeteilt lieben - das habe ich mir schon oft gesagt - oder wenigstens nicht einen allein . Wie oft haben Reinhard und ich darüber gesprochen - er glaubt selbst , daß er sehr frei denkt - aber nur da , wo es nicht unser Verhältnis zueinander angeht . Er ist im Grunde doch ein moralischer Mensch und ich bin es nicht , das ist die ganze Geschichte . Hätte ich ihm von Leon erzählt , so wäre alles zwischen uns aus gewesen . Gestern sprach ich mit der Dalwendt darüber - sie ist auch verlobt ; aber noch ganz unschuldig - aus Überzeugung , weil sie es so will . Bei mir ist es immer nur , daß ich gezwungen bin oder mich zwingen lasse , nach dem Empfinden eines anderen zu handeln . Mir selbst gegenüber habe ich nie das Gefühl , etwas einzubüßen - im Gegenteil , mich drückt oft nur meine Tugend nieder , dies ewige Vorbeigehen am Leben , und manchmal verlangt mich danach , mich besinnungslos in den Strudel zu stürzen . 20. September Heute haben wir den ganzen Abend in einer Schnapsschenke gezeichnet - eine niedrige , verräucherte Gaststube , wo wahre Banditengestalten an langen Tischen saßen , mit kleinen Schnapskelchen aus dickem gelben oder rotem Glas vor sich . Die Strolche fühlten sich sehr geschmeichelt und sagten , wir sollten nur bald wiederkommen . Nachher an der Isarbrücke bis Mitternacht , dann allein an meinem Fenster . Wie gut ist es , so allein zu leben - ob ich es wohl jemals aushalte , mit jemand anderem immer zusammen zu sein ? - Wie soll das später werden ? Auf alle Fälle bin ich entschlossen , erst in mehreren Jahren zu heiraten , wenn wir denn durchaus heiraten müssen . Nach meinem Gefühl wäre es viel schöner , nur hier und da eine Zeit zusammen leben und dann jeder wieder seinen eigenen Weg gehen . Ich möchte es immer so haben wie jetzt , nur ans Malen denken und alles tun , was mir einfällt . 30. September Morgen fängt die Malschule an , ich bin in dieselbe eingetreten wie die Dalwendt - für den Nachmittag gehen wir in eine andere zum Modellieren . Der Auszug aus unserem Atelier ging mit Hindernissen vor sich ; die anderen hatten schon tags vorher ihre Sachen holen lassen , und die Dalwendt und ich standen ratlos vor einer Horde von Dienstmännern und Modellen , die alle Geld haben wollten . Schließlich luden wir unsere Staffeleien und Modellierböcke selbst auf und trugen sie fort . Wie es mit dem Geld gehen soll , weiß ich überhaupt noch nicht . Bei all den Anschaffungen und dem doppelten Schulgeld bleibt mir zum Leben fast nichts übrig . Ich habe heute alles ausgerechnet , für Kleider , Schuhe , Essen , Trinken und was sonst zum täglichen Leben gehört . Es ist nicht viel . 4. Oktober Unser jetziges Atelier ist ein " gemischtes " , Maler und Malerinnen zusammen . Außer uns noch einige Amerikaner , Polen und ein früherer Offizier , von Balder . Der , die Dalwendt und ich finden uns in den Pausen als Rauchkollegium zusammen . - Von acht bis elf Uhr arbeiten wir in der Zeichenschule , dann bis eins modellieren , nachmittags noch zwei Stunden zeichnen und dann der Abendakt . Außerdem skizzieren , soviel es geht . Gut , daß ich eine solche Gesundheit habe - was andere Leute angegriffen sein nennen , kenne ich überhaupt nicht . 9. Oktober Natürlich mußte wieder etwas kommen - ich wußte es ja . Die Ruhe konnte nicht dauern , für mich kommt niemals Ruhe . - Wo war mein Verstand , daß ich eine Zeitlang daran glaubte - an ein volles Glück zu Zwei , " mit Weinlaub im Haar " , wie wir in alten Zeiten sagten , in voller Freiheit , schrankenlosem Verstehen bis ins Letzte hinein - an all das , was es nie für Menschen gegeben hat und nie geben wird . Ich hatte vergessen und vergessen wollen , daß es unmöglich ist . - Ich hätte mit allem brechen sollen und für mich allein bleiben . Weil Senn nach München gekommen ist , um hier weiter zu studieren , verlangt Reinhard von mir , ich sollte nach Berlin zu seinen Verwandten gehen und dort arbeiten . Wir wechseln endlose Briefe darüber , und diesmal gebe ich nicht nach . Von München fort , nachdem ich zum erstenmal die Atmosphäre gefunden , in der ich atmen kann , von der ich alles erwarte . - » Unser Glück muß allem anderen vorangehen « - da liegt es eben - darin fühle ich ganz anders . Ich kann nicht an Zusammenleben und Glück denken , ehe ich mich selbst gefunden habe , und endlich bin ich auf dem Wege dazu ; aber es ist noch alles so unklar und verworren in mir . Man soll mich in Ruhe lassen . - Auf die Höhe hinaufkommen oder daran kaputt gehen , - aber diese beiden Möglichkeiten soll man mir lassen . Wie kann ich da jetzt nach Glück fragen ? Und wenn er soweit nicht mit mir gehen kann , müssen sich unsere Wege trennen . Ich brauche gerade diese Zwanglosigkeit - meine Mutter würde sagen Zügellosigkeit - meines hiesigen Lebens . Und vielleicht ist das auch das richtigere Wort - ich kann keine Zügel vertragen . Wenn ich ihm nur begreiflich machen könnte , daß das alles furchtbarer Ernst ist - vielleicht ist es auch meine Schuld , daß mich niemand ernst nimmt . Sie nehmen mich alle nur von meiner Clownseite , die andere kennt selbst Reinhard nicht - nur ich selbst . Im Grunde bin ich halb gleichgültig dagegen , was nun werden mag . Ich stürze mich nur in die Arbeit . Beim Aufwachen kommt alle Morgen so ein Gefühl , daß irgend etwas Bedrückendes da ist . Im Bett beim Kaffeetrinken denke ich darüber nach , aber dann wird es abgeschüttelt , mit einem Sprung ins kalte Wasser , und für den ganzen Tag vergessen . 20. Oktober Eine ganze Woche briefliche Auseinandersetzungen . Er wirft mir rücksichtslosen Egoismus vor - ja , den habe ich auch , wo es sich um dies eine handelt . " Unser Glück " , immer wieder unser Glück - was einmal auch für mich so schöne volle Worte waren , kommt mir jetzt fast wie eine Redensart vor , wie wenn man bei einem Gottesdienst sitzt , nachdem man längst den Kinderglauben verloren hat . Und ich bleibe bei meinem Nein . - 22. Oktober Wirklich , ich bin ganz verwandelt , mich erregt nichts , macht nichts mehr traurig , mich läßt alles kalt außer dem Arbeitsfieber , das in mir brennt . Ich kann mich nicht mehr teilen - aber ich bin froh , daß das endlich gekommen ist . Durch die Dalwendt lernte ich noch zur Zeit unseres alten Ateliers ein junges Mädchen kennen , sie heißt Marie-Luise und ist sehr eigentümlich und schön mit ihrem gradlinig geschnittenen Gesicht und dem dichten , goldenen Haar . Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen , er hat dieselben Züge , nur schärfer und etwas Leidendes drin . Beide leben ganz in Büchern und Ge danken - ich bin oft abends da und kann sie mir nur in diesem halbdunklen Zimmer mit der umschlierten Lampe und den vielen alten Sachen denken . Es kommen noch allerhand Menschen hin , die auch nicht zur übrigen Welt zu gehören scheinen und von denen man nie recht begreift , wer sie sind und was sie tun . Alle kommen spät abends , gegen elf Uhr , und meist gehen wir dann noch in der Nacht durch den Englischen Garten . Manchmal besuchen wir auch einen alten , verwachsenen Pfarrer , der in einer Dachstube wohnt und aussieht wie ein Waldmensch in seinem graugrünen kuttenartigen Schlafrock und dem mächtigen Bart . Er gibt uns schlechten Wein zu trinken - Maria-Luises Bruder liest " Zarathustra " vor und gibt es für ein apokryphes Buch der Bibel aus . Zuweilen fällt es dem Alten ein , eine Andacht zu halten , er kriecht in eine Ecke und brüllt zu dem verstimmten Klavier mit furchtbarer Stimme Choräle . " 29. Oktober Neulich abend wollten wir etwas erleben und gingen in möglichst verdächtige Gesindelkneipen , hatten Revolver mit , aber es passierte gar nichts . Es waren nur die beiden Geschwister und ich , wir gingen nachher noch zu ihnen hinauf und sprachen die ganze Nacht durch , ich erzählte ihnen von meinem Leben . " Und Sie glauben noch an Glück " , sagte der Bruder . - Ich dachte an den Sommer und sagte ja - aber ich fühlte wohl , daß er weiß , wie es in mir aussieht . In der Morgenfrühe brachten sie mich nach Hause , und ich lag den ganzen nächsten Tag mit furchtbarem Kopfweh da . Es ist ein eigenes Gefühl , so einen langen , hellen Tag im Bett zu liegen und sich nicht recht besinnen zu können . Ich wußte kaum , ob es Morgen oder Nachmittag wäre . Dann kam jemand herein , ich sah Marie-Luise neben mir stehen und konnte mir nicht recht klar werden . Sie beugte sich zu mir nieder , sagte irgend etwas , dann küßte sie - mich auf die Stirn und war wieder fort . Gegen Abend wachte ich auf und merkte , daß ich etwas in der Hand hatte - ein Zehnmarkstück . Es fuhr mir förmlich durch die Glieder . Woher weiß sie , wie schlecht es mir geht . Vielleicht habe ich gestern abend selbst davon gesprochen , aber ohne an so etwas zu denken . Von anderen würde ich nie etwas annehmen , aber hier lag etwas darin , was mich tief bewegte . - Jetzt weiß ich auch , was mir gefehlt hat - sowie ich etwas Vernünftiges zu mir genommen hatte , war ich wieder gesund . Und ich war so stolz darauf gewesen , daß man ebensogut ohne Mittagessen leben könne . Und was nun ? Nach Berlin gehen und mich füttern lassen - meine schöne Freiheit verkaufen ? - Reinhard darf nichts davon wissen , ich schreibe ihm nur , daß ich ganz gut auskäme . 5. November Das Modellieren aufgegeben - wir sollten diese Woche Halbaktreliefs in Lebensgröße machen , aber ich habe kein Geld , um Modell zu nehmen . Darüber geriet ich gestern so in Wut , daß ich den Ton herunterriß , die Modellierhölzer in alle Ecken warf und tobend abging . Die Dalwendt sagte mir nachher , daß unser Lehrer sehr erstaunt gewesen sei . So habe ich mich jetzt ganz aufs Zeichnen geworfen . Nachmittags stehe ich der Dalwendt Modell , weil sie auch keins mehr halten kann , und sie muß mir dafür einen Kaffee zahlen . " 8. November Oben im Haus , wo unsere Schule ist , wohnt ein polnischer Maler , mit dem Balder befreundet ist . Er nahm mich gestern mit hinauf . Ein junger Mensch , der Maxl genannt wurde , saß auf der Erde ; Zareck , der Pole , lag im Bett , und sie stritten wütend über Shakespeare . " Entschuldigen Sie , daß ich liege in Bett , ich bin schrecklich krank , aber sind Sie ja freies Weib . " Dann meinte er , ich sähe noch zu jung aus für ein Bewegungsweib , und ich bestritt auch , daß ich eines wäre . " Aber die kurzen Haare ? " Ich sagte , daß ich mir die noch zu Hause hätte schneiden lassen , um nicht immer so rauft von meinen Rendezvous heimzukommen . Das war noch in der letzten Seminarzeit . " Sie haben Schatz gehabt , Fräulein ? " - worauf ich ihnen erklärte , daß ich jetzt verlobt wäre , und das erregte einen förmlichen Sturm von Empörung . 12. November Jetzt bin ich alle Tage droben , in den Pausen und oft auch abends . Da kommen viele Maler hin , meist Polen und Russen . - Walkoff hat meine Studien in die Hand genommen , und ich lerne viel durch ihn , muß ihm alle meine Zeichnungen bringen . Es scheint , daß sie sämtlich nichts zu essen haben - wenn einer etwas Käse mitbringt , gibt es einen Aufruhr . Aber so habe ich noch nie über Kunst sprechen hören , sie sind alle wie toll , wenn sie davon anfangen . Bei Zareck hatte sich abends eine Gesellschaft versammelt , die viel zu groß für das enge Atelier war . Dazu ein kalter Novemberabend , und man fror erbärmlich . Ellen versuchte , das Feuer in Gang zu bringen , und warf dabei ein paar Holzscheite auf den Boden . " Kind , bist du ungeschickt " , sagte Zareck , " hast du Hände , wo alles fallt heraus . Wirst du miserable Hausfrau . " " Laß mich in Ruhe , dummer Onkel , dein Ofen taugt nichts . Außerdem bin ich noch lange nicht Hausfrau . " Sie konnte es nicht leiden , wenn immer auf ihr Verlobtsein angespielt wurde , und sah unwillkürlich zu Walkoff hinüber . " Nennt sie mich immer Onkel " , sagte Zareck und ging an den Spiegel . " Schau ' ich wirklich aus wie alter Onkel ? " Er hatte eine rote wattierte Jacke an , eine Riesennase und struppiges Haar . " Geben Sie Obacht , der Spiegel zerspringt , wenn Sie hineinsehen " , rief eine russische Studentin , die neben Balder auf einer Matratze saß . - Außer den beiden war noch ein Bildhauer da mit einem rotblonden Mädel . Der Maxl schlug vor , man sollte Glühwein machen , um endlich warm zu werden . So legten sie alle zusammen , und er ging zur Krämerin hinüber , um Wein zu holen . Dann gab es ein lautes Durcheinander , bis jeder sein Glas oder seine Tasse hatte . Zareck schnitt mit einem großen Messer Holzspäne , die als Löffel dienen mußten . Nun wurde es endlich gemütlich ; weil nicht genug Platz war , zogen sie Polster und Kissen aus dem Bett und legten sich damit auf den Boden . Die Luft füllte sich mit Zigarettenrauch , und es war ein solcher Lärm , daß man sich kaum verstehen konnte . Balder und die Russin hatten sich auf dem Bett niedergelassen , er spielte Gitarre und sie sang ein Lied nach dem anderen . Der Maxl , der einzige , der immer nüchtern blieb , saß auf einem Stuhl , die Beine weit von sich gestreckt , und sprach über Rembrandt , Ellen neben Walkoff an der Erde und hörte zu . Sie hatte den Kopf an ihn gelegt , seine Hand glitt über ihre Haare und ihren Hals - zwischendurch sahen sie sich an und tranken aus demselben Glas . Das andere Paar flüsterte und küßte sich in der entferntesten Ecke . Dazwischen wanderte der Onkel unruhig umher und stolperte jeden Augenblick über ein paar Füße - er hatte ein künstliches Bein und hinkte stark ; das machte seine schwerfällige , breite Gestalt noch unbeholfener . " Seid ihr alle besoffen , pfui , liebe ich nicht Bacchanal . " " Habe ich kein Weib " , parodierte ihn Balder , " komme her , du kannst abwechselnd bei uns hospitieren . " " Nicht gemein werden " , sagte die Russin . " Warum ist die Dalwendt nicht hier , dann seid ihr immer so anständig . " Zareck setzte sich neben sie und strich ihr eine schwarze Locke aus der Stirn . " Fräulein , schauen Sie mich an mit glühenden Augenach , sind Sie schön , sind Sie wie Schmetterling . " Dann wollte er sie fangen und küssen , irgend jemand löschte die Lampe aus , und nun kam eine verworrene Rauferei im Dunklen - die Studentin schrie , der Onkel grollte mit seiner tiefsten Stimme , und das Paar in der Ecke lachte laut . Walkoff beugte sich zu Ellen nieder und küßte sie auf den Hals , auf den Mund , bei jeder Bewegung durchrieselte sie ein heißer Schauer . Der Maxl sah ruhig zu , sein schmales Gesicht mit dem blonden , kurz emporgesträubten Haar blieb unbeweglich , während er immer weiter sprach . Da wurde stark an die Tür geklopft , alle fuhren zusammen , blieben dann aber ruhig in ihrer vorigen Stellung , als eine lange Gestalt , die man nicht deutlich erkennen konnte , in der Tür erschien . Nur Zareck polterte dem Angekommenen entgegen : " Ach , Fritz ! Grüß Gott , Fritz . " " Grüß Gott , Fritz " , schrien nun alle im Chor , niemand wußte , wer er war . - Zareck versuchte vorzustellen : " Herr Bruhnert - Fräulein ... " Der neue Gast verbeugte sich aufs Geratewohl ins Dunkel hinein , er war namenlos verlegen und wußte sich nicht hineinzufinden ; obendrein konnte er niemand erkennen , und immer mehr Stimmen kamen aus dem Hintergrund . " Mache ' doch Licht , Zareck , man kann ja nichts sehen . " " Ist auch besser , du siehst nicht . - Ist der Fritz noch sehr unverdorben " , erklärte er dann . Der setzte sich ergeben auf einen Stuhl und schien peinlich berührt . Die anderen kümmerten sich nicht viel um seine Gegenwart , schließlich wurde auch die Lampe wieder angezündet . Etwas mißtrauisch und halb amüsiert sah der Fritz über seinen Klemmer weg . - Er war sehr gut angezogen und machte einen wohlhabenden Eindruck . " Du mußt etwas zu trinken haben , Fritzl " , sagte Ellen , " dann wird dir schon besser werden " , worauf er sie mit unbegrenztem Erstaunen ansah . " Ja , wenn Sie so freundlich sein wollen . " Sie goß den Rest in die Gläser , während Zareck es noch einmal mit dem Vorstellen versuchte , aber es war umsonst , und er gab es auf . Dann schlug er mit dem großen Küchenmesser an sein Glas und brüllte : " Ruhe ! - Sind wir alle Menschen , sind wir alle Brüder - sind wir alle Künstler - haben wir alle Rausch - wollen wir Brüderschaft trinken in Kunst ! " " Na , dann komme ich Mal doch auch zu einem Kuß " , sagte der stoische Maxl , und das Bruderschaftstrinken begann ; sie waren alle aufgestanden , legten die Arme ineinander , schwenkten sich im Kreise herum und küßten sich . Der Fritz küßte den Damen nur die Hand . " Gehen wir jetzt ins Café , Fritz hat Geld . " Im Café ließen sie sich an ihrem gewohnten Tisch nieder ; man kannte sie dort schon und erschrak etwas , wenn sie kamen , denn für die anderen Gäste war es dann unmöglich , noch ein Wort zu reden . - Ellen saß dem Fritz gegenüber und war in ihrer seligsten Laune . " Schaut sie aus wie ein Kind " , sagte Zareck zärtlich . " Walkoff , nimm dich in acht vor Zuchthaus . " " Nimm dich selber in acht " , ließ die ruhige Stimme des Maxl sich vernehmen . " Kuppelei ist auch strafbar . " Der Fritz hatte bisher nur stumm in sich hineingelächelt , allmählich fing er nun an , etwas berauscht zu werden , sah plötzlich auf und nahm sein Glas . " Still , still , will der Fritz Rede halten ! " Er lächelte noch mehr : " Ich glaube allerdings - nachdem - Sie werden mich nach dem heutigen Abend wohl alle für etwas - " " Sie ? - Wir haben doch auf du getrunken ? " " Ja , du hast recht - das wollte ich ja gerade sagen - also da Sie mich so in Ihren Kreis - aber es ist doch nicht so leicht , sich gleich - ich glaube , ich bin heute abend etwas aus der Rolle gefallen ... " Das wurde mit einem so schallenden Gelächter beantwortet , daß er alle der Reihe nach verzweifelt anlächelte . " Sie brauchen mich aber deshalb nicht - ich wußte nur nicht recht , ob es Spaß oder Ernst wäre - " er sah Ellen mit einem tiefen Blick an - , " also nachdem auch diese liebenswürdigen jungen Damen - na , zum Teufel , ich finde nämlich , wenn du Fritz sagst , kann ich auch Ellen sagen . - Dein Wohl , Ellen . " Er sank ganz erschöpft wieder auf seinen Stuhl und wurde fast zerrissen vor Beifall und Händeschütteln . Balder und die Russin stimmten einen Gesang an , Ellen hielt sich an Zareck fest und war nahe daran , vor Lachen ohnmächtig zu werden . - Aber nun mahnte der Wirt mit nachsichtigem Lächeln zum Aufbruch . Sie nahmen noch einige Bierflaschen mit , tranken sie draußen vor der Tür aus und warfen sie auf der leeren Straße in Scherben , daß es weithin klirrte . Zareck ging voran , sein Stock stieß dröhnend gegen das Pflaster , und er sang laut in die Nacht hinaus , während die anderen das Trottoir entlang Galopp tanzten . Bald darauf kam Zareck eines Abends , um Ellen abzuholen . Er war auffallend ordentlich angezogen und machte ein geheimnisvolles Gesicht . " Hat der Fritz uns eingeladen in Ratskeller , mache dich ein bißchen schön , Kind - Ratskeller ist nobel . " Sie musterten Ellens ganze Garderobe durch und stellten mit vieler Mühe ein Kostüm zusammen , in dem sie zur Not auftreten konnte . " Schenke ' ich dir ein Kleid , wenn ich mein Bild verkauft habe ' " , sagte Zareck , während er prüfend um sie herumging . " Sapristi ! - kannst du nicht in alten Tanzschuhen gehen - wird der Fritz dir immer auf Füße schauen . " " Der Fritz soll schauen , so viel er will " , und Ellen wurde ganz ungeduldig , " meine Stiefel sind entzwei , und ich kann sie mir diesen Monat nicht mehr machen lassen . " Endlich waren sie fertig , und Zareck polterte an ihrer Seite die vier Treppen hinunter . - Im Ratskeller wartete Fritz , vornehm angetan und mit einer Blume im Knopfloch . " Na , Zareck , das sieht dir ähnlich , so spät zu kommen . " " Ach , der Onkel mußte mich ja erst anziehen " , sagte Ellen , während sie sich setzten . Fritz warf aus seinen tiefliegenden Augen einen mißtrauischen Blick auf den Onkel . " Habe ich noch nie solche Garderobe gesehen bei junger Dame . Sage ich : zieh an blaue Bluse - ist halber Ärmel abgerissen . Hat sie nur weiße und reibt mit Kreide , daß man Flecken nicht sieht . Gürtel gibt es nicht , muß man Plaidriemen nehmen . " Über des Fritz Gesicht glitt ein langsames Lächeln : " Mir bist du in jedem Anzug schön genug , Ellen . " Dann stellte er ein auserlesenes Souper zusammen und ließ Wein kommen . Die Unterhaltung war anfangs etwas einsilbig und geriet mehrfach ins Stocken . Erst nach dem Essen , als sie beim Sekt angelangt waren , begann der Gastgeber allmählich aus seiner Korrektheit aufzutauen . Schließlich setzte er sich neben Ellen und sprach von Liebe , erst im allgemeinen - dann wollte er durchaus wissen , ob sie Henryk Walkoff liebte . " Ach , keine Spur . " " Aber warum bist du dann neulich abend so zärtlich mit ihm gewesen ? " " Das ist man bei uns immer , wenn wir alle einen Schwips haben . - Die anderen waren doch auch zärtlich zusammen . " " Ja , und dem Maxl hast du auch einen Kuß gegeben beim Schmollistrinken und Balder . Gibt es denn bei euch gar keine Grenzen ? " " Doch , dir habe ich ja keinen gegeben , Fritzl . " " Ach , du bist schlecht , Ellen - bitte , sei einmal ernsthaft - wen liebst du denn eigentlich - deinen Verlobten ? " " Will ich dir Problem lösen , Fritz " , warf Zareck dazwischen , " mir liebt sie . Haben wir uns schon manchmal geküßt - sapristi ! Denkst du noch , Ellen ? " " Ist das wahr ? " Sie nickte und der Onkel brach in ein unbändiges Gelächter aus : " Schau den Fritz , wie er ist unglücklich ! " Aber der schüttelte den Kopf und starrte eine Zeitlang in sein Glas : " Ihr seid doch sonderbare Leute . - Wollen wir jetzt ins Café ? " Im Café kam ein Blumenmädchen an den Tisch und Fritz kaufte Rosen für Ellen . Eine behielt er in der Hand und drehte sie nachdenklich hin und her , dann rückte er seinen Stuhl etwas vor : " Siehst du , Ellen , die ist noch nicht ganz aufgeblüht - gerade das liebe ich so - halberblühte Rosen , und so kommst du mir auch immer vor . " " Ach , Fritz , dann kommst du doch etwas zu spät . " Er beugte sich noch etwas weiter vor : " Wirklich zu spät ? Schau nicht immer zum Onkel hinüber , schau mich an , Ellen , wir sind doch beide so jung , und ich habe auch noch nie geliebt . - Warum hast du dich denn verlobt , willst du wirklich heiraten ? Du hast mir doch erzählt , daß er zehn Jahre älter ist als du . Dann kann er dich doch gar nicht verstehen - du wirst nur unglücklich sein mit ihm , und was dann ? " - Er sprach fort und fort mit dem vergeblichen Bemühen , auch nur ein ernsthaftes Wort aus ihr herauszulocken . Ellen ließ ihm ihre Hand , die er dann und wann an seine Lippen zog . Dann wurde es spät , und man mußte heimgehen . Die beiden versprachen dem Fritz , morgen vormittag auf sein Atelier zu kommen , er wollte ihnen etwas zeigen , was er gemalt hatte . Ellen erschien denn auch frühmorgens bei Zareck , um ihn abzuholen , aber er lag noch im Bett und wollte nicht mit . " Mußt du allein gehen , Kleines . " " Aber wenn er nun wieder von vorne anfängt , um Gottes Willen . " " Ach , ist nicht so heiliger Ernst - habe ich ihm gesagt , du liebst ihn schon , und wartet er auf dich . " Der Fritz wohnte weit draußen beim Kirchhof . Als Ellen kam , fand sie ihn mitten in einem fast leeren Zimmer vor der Staffelei , die Palette in der Hand , in jedem Knopfloch seiner Maljacke und über jedem Ohr steckten Pinsel , und einen hatte er quer im Mund . Auf dem Fensterbrett stand eine Schnapsflasche und zwei Gläser . " Ja , da kommst du ja wirklich , Ellen - aber warum kommst du nicht lustig hereingesprungen , - warum lachst du nicht - gibst mir keinen Kuß zum guten Morgen ? " Dabei machte er ein frivoles Gesicht und befreite sich von seinen Pinseln . Ellen wußte selber nicht , weshalb sie jetzt nicht wieder lachen konnte und statt dessen ein plötzlicher Zorn in ihr aufstieg . Sie ging ans Fenster und sah hinaus : da lag der Kirchhof mit seinen weißen Grabsteinen und kahlen Bäumen . Regen und Wind fegten darüber hin , alles sah so trostlos melancholisch und verlassen aus . Als der Fritz , immer noch mit einem leichtsinnigen Lächeln , auf sie zutrat , sah er , daß sie weinte . " Aber Ellen , was hast du ? " Sie wußte es selbst nicht , sie fühlte sich nur todunglücklich . Man sollte nicht so mit ihr umgehen - ja , sie wäre schon leichtsinnig - aber was fiele dem dummen Onkel ein , solche Geschichten zu machen . Konnte sie sich nicht verlieben , in wen sie wollte ? Aber deshalb brauchten sie sich nicht einzubilden , daß sie nun jedem von ihnen gleich in die Arme sänke . Ratlos stand der Fritz neben ihr und wollte sie trösten , aber ihr fielen immer mehr traurige Sachen ein , alle glaubten , daß man mit ihr nur lachen und Tollheiten treiben könnte , aber sie brauchte auch Menschen , die gut gegen sie wären ; wußten sie denn überhaupt , was alles für Kämpfe und Schmerzen hinter ihr lagen ? Der Fritz ging ganz in Mitgefühl auf ; daß Ellen auch traurig und empfindsam sein konnte , war so überraschend für ihn , daß er alles andere vergaß . Er streichelte ihre Haare und legte den Arm um sie wie ein guter Bruder , schließlich weinten sie beide zusammen helle Tränen über alles , was es im Leben Schweres und Trauriges gab , - bis zum späten Nachmittag blieben sie droben . Dann gingen sie in die Stadt zum Essen - und bei Zareck zerbrach man sich den Kopf darüber , warum die beiden sich den ganzen Tag nicht sehen ließen . Aber von nun an hatte Ellen am Fritz einen treuen Freund gefunden , auf den sie sich verlassen konnte , und der nie mehr von Liebe sprach . " Das taugt alles nichts " , sagte Walkoff - Ellen war bei ihm im Atelier und hatte einen Haufen Zeichnungen mitgebracht - , " du zeichnest wie verrückt drauf los , aber es liegt nichts darin - gar nichts . Deine Arbeiten sind ganz wie du selbst : du taumelst herum , fällst auseinander - ein Stück hierhin , eins dorthin . " Sie sah ihn an . Ja , wenn sie reden könnte , warum sie so war , so geworden - alles , was sie drückte - aber davon wollte er nichts wissen - drängte alles in sie zurück . " Hart sein , Ellen , nicht dies ewige Sichhingebenwollen . Nur in der Kunst , da gib dich ganz hin , aber im Leben halte dich zusammen . Ich will dein Freund sein , aber gerade deshalb mag ich dich nicht schwach sehen . Wenn ich dir helfen soll , darfst du kein Mitleid von mir wollen . - Lege einmal deine Hand dort hin . " Er rückte die Lampe zurecht und fing an zu zeichnen : " Das soll nicht etwa nur wie eine Hand aussehen - das ist kein Kunststück und jeder kann es lernen , einfach etwas nachzumachen - aber fühlen muß man , wie es darin lebt und zuckt . Sieh Mal , wie es da weich in den Schatten hinübergeht - das herausbringen , die Bewegung , das Leben . Wozu malst du überhaupt , wenn du nichts dabei fühlst ? Eine Zeichnung kann noch so schlecht sein , wenn nur eine Linie darin Empfindung hat . Und arbeiten , Ellen , arbeiten ! Den ganzen Tag davor hinsitzen ist noch kein Arbeiten . Lieber gar nichts tun , wenn du nicht fühlst , daß alles in dir zittert . Immer muß man daran denken und sich darauf einstimmen wie zu einer Andacht . " Erst tief in der Nacht kam Ellen nach Hause und wie in einer großen inneren Erschütterung . Auf den Knien hätte sie dem Himmel danken mögen , daß sie diesen Menschen gefunden hatte , wenn er ihr auch noch so wehe tat . Erbarmungslos nahm er das Messer und legte ihre innersten Wunden bloß , schnitt alles hinweg , was darüber wucherte . " Und nun sieh selber zu , wie du es wieder heil bekommst . Wenn du keine Kraft hast mitzugehen , so bleibe nur am Wege liegen . Ich will nicht der sein , der dich aufhebt und tröstet . " Und dann lächelte er wieder , als wollte er sagen : " Ich weiß schon , was an dir ist , aber zeige es mir . Hart sein , stark sein , dann zeige ich dir den Weg . Sonst ist es mir nicht der Mühe wert . " Fast alle Nachmittage war sie jetzt bei ihm , er ließ sie mit nach seinem Modell arbeiten und lehrte sie sehen . Bisher war sie nur wie im Finsteren umhergetappt , hatte sich mit verbohrtem , hartnäckigem Fleiß gequält , durch den undurchdringlichen Nebel zu kommen , und es hatte nichts geholfen , bis er ihn mit seinem Zauberstab zerteilte und sich plötzlich eine lichte Weite vor ihr auftat . Sie saß zu seinen Füßen und ließ sich lehren . Seit dem Abend bei Zareck war etwas Schwüles in ihr Beisammensein gekommen , das vorher nicht gewesen . Wenn das Modell fortging , blieb Ellen noch , bis es Zeit zum Abendakt war . Manchmal zog er sie dann auf seine Knie und sie küßten sich , aber plötzlich beherrschte er sich wieder : " Gehe ' jetzt , Kind , du kommst zu spät . " Aber die bange Stunde kam jeden Tag wieder , und endlich ein Abend , wo es über ihnen zusammenschlug . Ihre Zähne gruben sich tief in die Kissen hinein , um den wilden , seligen Aufschrei zu ersticken - ihr war , als läge sie in einem tiefen Abgrund und Sturmswogen von ungeahnter Qual und ungeahnter Wonne brausten über sie hin , bis sie das Bewußtsein von allem verlor - wie tot in seinen Armen lag , die sie eben noch wie glühendes Eisen umklammert hatte . Henryk war tief erschrocken , es war auch ihm alle Besinnung vergangen , als er den jungen Körper in seiner Gewalt fühlte . Dann sahen sie sich lange an . Ihr war , als ob die ganze Welt leuchtete wie ein Weihnachtsabend . - Früher , in den Träumen ihrer Jugend , hatte sie sich feenhafte Umgebungen ersehnt : leuchtende Farben , schimmernde Gläser mit glühendem Wein - Schleier , durch die rotes Licht und Geheimnisse funkelten , wollüstige Musik in der Ferne . - Und jetzt lag sie mit weit offenen Augen da , ihr schien , als ob sie noch nie so deutlich gesehen hätte - das verwahrloste Atelier im dämmernden Abendschein - sein unschönes Gesicht mit dem wirren schwarzen Haar - und doch fühlte sie das Leuchten und Schimmern , und das rote Glühen war in ihr . Es hätte mehr nicht sein können - in keinem Märchentraum . Er konnte so gut sein , Henryk , er sorgte für sie , ging im Atelier herum und brachte ihr Tee . Dann saß er neben ihr , und in seinen Augen war etwas , was sie noch nie gesehen hatte . Als sie dann später gehen wollte , trennten sie sich mit einem ernsten langen Kuß . " Ellen , und jetzt wollen wir beide arbeiten - schaffen - schaffen ! " Sie stand im Aktsaal vor ihrer Staffelei unter all den anderen , sprach mit ihnen in der Pause auf dem Korridor und war abends mit den Freunden im Café - wie alle Tage , aber sie dachte nur , es müßte ihr jeder ansehen , wie es in ihr strahlte . Sie ging im Traume , wie in einer ganz anderen Wirklichkeit - jetzt war der Schleier gerissen , der sie vom Leben und von sich selbst geschieden hatte , und was dahinter sich auftat , war nicht Enttäuschung , nicht Reue um etwas Verlorenes - es war , als wäre ihr ein großes Wunder geschehen , das ihr tiefstes Leben weckte . Und auch kein Rausch , der wieder in frostige Alltäglichkeit zerrann , ein unendlicher Reichtum drängte sich in jeden Tag zusammen und verwandelte das ganze Leben . Jetzt konnte sie mit ganzer Seele bei ihrer Arbeit sein und vergaß alle Entbehrungen . Ihre Kraft erneuerte sich in jeder Liebesstunde und in den langen Gesprächen mit Henryk , im Verkehr mit all diesen Menschen , die nur ihrer Kunst lebten . Und doch war sie in dieser Zeit nicht eigentlich verliebt in Henryk ; vor allem fühlte sie tiefe Bewunderung für ihn als Menschen und als Künstler , der ihr Meister war . Das andere gehörte wie von selbst dazu , und sie dachte nicht darüber nach , ob es Liebe war oder nicht , ebensowenig , wie man sich Gedanken darüber macht , warum die Sonne scheint . Weihnachten sollte sie Reinhard wiedersehen , und nun kam ihr allmählich das Bewußtsein zurück , daß es noch eine zweite Welt gab , die wieder an sie herantrat . Das hatte sie alles vergessen , nur hier und da klang es wie eine ferne leise Mahnung an ihr Ohr , und dann rang sie mit dem Entschluß , ihm die Wahrheit zu sagen und sich von ihm zu lösen . Aber als er kam , sie sich nach der langen Trennung wiedersahen , wurde sie wieder schwankend . Er war so strahlend froh , sie wieder zu haben , fühlte sich ihrer so sicher - und Ellen empfand seine tiefe , große Liebe wie ein Stück ihres Lebens , über das doch nicht so leicht hinwegzugehen war . Bei ihm überkam sie immer ein Gefühl von Schutz und Heimat , er war der , an den sie sich anschmiegen konnte , der alle weichen und sehnsüchtigen Saiten in ihr zum Klingen brachte . Und im Grunde fürchtete sie sich auch etwas vor ihm , vor seinem Zorn , seiner geraden , sicheren Klarheit , die solche Wege nie verstehen würde . Für die Festtage fuhren sie zu Verwandten von Reinhard , dann waren sie noch zwei Tage zusammen in München . Ellen wohnte mit ihm im Hotel , sie hatte selbst den Anstoß dazu gegeben , denn sie empfand es wie eine Art Ausgleich , wenn sie jetzt auch ihm Angehörte . Und diese Stunde , vor der sie gezittert hatte , kam und ging vorüber - ihm kam keinen Augenblick der Gedanke , daß Ellen ihn hintergehen könnte . Als er abgereist war , ging Ellen durch die Winterfrühe vom Bahnhof ihrer Wohnung zu . Neujahrsmorgen - sie dachte an ferne Zeiten , wo sie diesen Tag mit guten Vorsätzen und frommen Gelübden begann - das war immer etwas Frohes , Klares , Anfangsfrisches gewesen , und jetzt alles so verworren in ihr . - Wie fingen es wohl andere an , um glatt durchs Leben zu kommen , und warum wurde es einem immer so schwer gemacht durch all dies Binden und Verpflichten . In ihrem eigenen Gefühl war nichts , was dem widersprach , mit beiden das Leben zu teilen , weil jeder ihr etwas war , was der andere nicht sein konnte . Henryk war auch über Weihnachten fortgefahren und noch nicht zurück . So lebte Ellen die nächste Zeit fast ausschließlich in ihrer Arbeit , die war und blieb doch das Erste und Größte und das , worin sie Ruhe fand vor allem , was in ihr stritt und wogte . Und darin wollte sie Reinhard keinen Schritt weichen . - Wenn er ihr auch noch so viel Freiheit zugestand , ehe sie wirklich imstande war , allein weiterzukommen , würde sie nicht von München fortgehen . Ellen hatte ihm deshalb auch ängstlich verschwiegen , wie es mit ihren Mitteln stand . Schon seit dem Herbst aß sie nur noch ein oder zweimal in der Woche in einer kleinen Garküche zu Mittag , die anderen Tage konnte man sich mit einem Stück Brot behelfen . Sie legte sich dann , wenn alle fort waren , auf dem Modellpodium schlafen , da merkte man es kaum , ob man etwas im Magen hatte oder nicht . Zufällig kam Zareck einmal herunter und fragte , warum sie nicht zu Mittag fortginge . Von da an teilten die beiden sich in eine Portion um vierzig Pfennige , die vom Wirtshaus herübergeholt wurde . Von Woche zu Woche mußte sie auf neue Ersparnisse sinnen , nahm sich ein ganz kleines Zimmer , wo kaum das Bett Platz hatte , der kostspielige Morgenkaffee wurde abgeschafft , denn beim Onkel gab es ja schließlich immer Tee und Brot , wenn sie in der Pause hinaufkam . Ellen war überzeugt , daß sie sich ganz gut auf diese Art noch ein paar Jahre durchschlagen könnte ; es waren ja manche unter ihren Bekannten , denen es ebenso ging , und keiner klagte darüber ; sie lachten nur , wenn sie am Monatsende ihre leeren Taschen umkehrten und abends im Café zusammenkamen , um bei einem Glas Bier stundenlang wenigstens Licht und Wärme zu haben . Wieder und wieder sprach Reinhard in seinen Briefen davon , daß er die Heirat jetzt endgültig auf Anfang des Sommers festsetzen möchte , und jedesmal schrieb Ellen zurück , sie könnte vorläufig noch nicht daran denken , sie brauchte noch Zeit , um nur sich selbst zu leben . Wollte er das nicht , so müsse er sie freigeben und ihren Weg gehen lassen . Er warf ihr den grenzenlosen Egoismus vor , mit dem sie ihrer beider Glück gefährdete , und hielt dennoch fest , in der sicheren Überzeugung , daß sich alles ganz wie von selbst ändern würde , wenn Ellen erst bei ihm war . Aber in ihr hatte sich seit dem weihnachtlichen Beisammensein vieles gewandelt - das unbedachte Hineinleben in all die brausende Lebensfreude , die der erste Rausch und das erste Aufatmen in voller Freiheit mit sich gebracht hatte , war zur unerbittlichen Leidenschaft geworden . Seit sie nach wochenlanger Trennung zum erstenmal wieder in Henryks Armen lag , wußte sie , daß sie ihn liebte und daß es kein Entrinnen mehr gab . Sie wußte jetzt auch , daß die Liebe kein Sommerglück sein konnte , kein jubelndes Aufgehen in dem anderen , - nichts von alledem , was sie früher darin finden wollte , - nein , die Liebe war eine blinde , wütende Sturmflut , die alle Dämme niederbrach , und da gab es kein Fragen mehr , kein Überlegen , was mit fortgerissen und was gerettet werden konnte . Es kam ihr nicht in den Sinn , Henryk für sich besitzen zu wollen , sein Leben mit ihm zu teilen ; er war kein Mann , mit dem man an " Glück " hätte denken können . Das sah sie alles und wußte es wohl , aber ihre Liebe dachte nicht an Fragen und Verlangen . - Dabei lernte sie immer tiefer in ihn hineinsehen , fühlte all das zerrissene Schwanken , das auch in ihm war . Er konnte anderen geben , was er selbst nicht hatte , wonach er in ewiger Unruhe rang und jagte . Oft fuhr er mitten in der Nacht auf : " Jetzt muß ich arbeiten ! " Dann stand sie ihm Modell , stundenlang - , er arbeitete wie ein Wahnsinniger und sprach von seinen Werken , die er schaffen wollte - mit immer glühenderer Phantasie . - Es war etwas Sinnloses , Ausschweifendes in seiner Art zu malen . Wenn er über die Skizze hinaus wollte , fing er an : " Diesmal soll es etwas werden , ich lasse nicht nach , bis es wird . " Dann wollte er malen , wie noch kein Mensch gemalt hatte , in unerhörten Farben , - und es gelang nicht , gelang nie - , immer wieder begann er von neuem . Wurde er schließlich müde , so gingen sie zusammen ins Café . Dort war im Nebenzimmer ein Klavier , und da spielte er endlos - , manchmal wild und leidenschaftlich , dann wieder ganz leise , traurige Melodien . Ellen saß auf dem harten Ledersofa , in eine Ecke gedrückt , die Töne klangen in ihrer Seele nach , und sie sah ihn an , - er wurde fast schön , wenn er spielte . Sie lebte alles mit ihm durch , zitterte um jedes Bild und war stillglücklich , daß er das mit ihr teilte , sie in seinem Höchsten mitleben ließ . Inzwischen kam sie viel mit den anderen Freunden zusammen , es gab Stunden , wo sie all der stürmischen Gefühle müde wurde und nur einmal lachen wollte . War sie nicht bei Henryk , so traf sie den Zarekkreis in seinem Stammlokal . Es gab kaum eine Nacht , wo man vor drei Uhr heimkam , und wollte Ellen einmal zu Hause bleiben , um auszuschlafen , so erschien gewiß die ganze Bande noch um Mitternacht unter ihrem Fenster , oder sie schickten den Pikkolo vom Café , dem sie ihren Signalpfiff beigebracht hatten . Und sobald Ellen den hörte , war es aus mit ihren guten Vorsätzen , sie fuhr rasch in die Kleider und war in ein paar Sätzen die Treppen hinunter . In ganz München tobte jetzt der Karneval , und sie brannten alle darauf , etwas zu unternehmen . Aber keiner von ihnen hatte Geld , - Künstlerfeste und Redouten waren unerschwinglich , so gingen sie nur eines Nachts ins Café Luitpold . Ellen hatte sich ein Clownkostüm geliehen , die Russin war auch maskiert , die übrigen alle in ihren gewöhnlichen Kleidern . Für Ellen war es alles ganz neu , und sie stürzte sich Hals über Kopf hinein . Henryk war nicht mit , sie vergaß ihn , vergaß alles , trieb hierhin und dorthin und war völlig willenlos vor Freude . Ein paarmal fing Zareck sie wieder ein und brachte sie an den Tisch zurück . Aber da war es heute langweilig , Max und der Onkel gerieten immer wieder in erboste Kunstgespräche und betrachteten das ganze Treiben nur vom malerischen Standpunkt aus , das eine Paar saß weltvergessen in einer Sofaecke , das andere zankte sich - der Fritz wich nicht von Ellens Seite und suchte sie vor allen Anfechtungen zu behüten , wenn andere Masken herankamen . " Seid ihr alle oberflächlich " , klang plötzlich Zarecks rauhe Baßstimme . " Karneval ist abscheulich , gehen wir heim zu mir und machen Tee . Will ich euch Hamlet lesen . " Die anderen schwankten nach , und Ellen erklärte , daß sie dann alleine dableiben wollte , - als eine Horde weißer Pierrots auf sie eindrang und sie mit fortziehen wollte . Zareck und Fritz hielten sie jeder von einer Seite fest , da sah der eine von den Weißen sie aufmerksam an . " Ah , du bist es - ich habe doch gleich gesagt , daß ein Mädel drin steckt . " Ellen wurde neugierig . " Laß mich , Onkel , der gefällt mir . " " Was hast du denn da für einen Onkel ? " " Gefällst du mir gar nicht " , sagte der . " Laß ihr - muß ich hüten bezechtes Kind . " " Nein , ich will mit , weg da , Fritz ! " " Auch noch ein Fritz , mein Gott , bist du aber gut behütet . " Ellen war schon auf den Tisch gestiegen und flog in seine Arme . Gegenüber hatte sich ein Trupp Italiener niedergelassen mit Gitarren und Mandolinen , es war ein ohrenbetäubender Lärm . Ellen tanzte mit ihrem Pierrot um die Tische und dann oben auf dem Billard zwischen den Kaffeetassen , bis der Wirt kam und sie vertrieb . Dann brachte er sie an seinen Tisch : " Seht Mal , was ich da gefangen habe - ist das nun ein Bub oder ein Mädel ? " Die drüben brachen auf und winkten ihr . " Bleibe du nur bei uns " , sagte einer , " der Johnny läßt dich doch nicht wieder her . " " Ja , Johnny , ich bleibe bei dir , die anderen wollen heimgehen und Hamlet lesen . " Er schüttelte sich vor Lachen . Dann kam Zareck mit ernstem , verantwortungsvollem Gesicht und wollte sie mitnehmen . Aber Ellen lag in Johnnys Armen , er hielt ihr das Sektglas an die Lippen und ließ sie trinken : " Bezechtes Kind bleibt bei uns , gehe du nur deinen Hamlet lesen . " Ellen blieb und trank Sekt und Freude bis in den Morgen hinein mit vollen Zügen . Allmählich wurden die Räume des Cafes immer leerer , die Kellnerinnen standen gähnend herum zwischen umgestürzten Stühlen und verwüsteten Tischen , hier und da saßen noch vereinzelte Paare und umarmten sich immer bewußtloser . Johnny schlug vor , man sollte mit ihm auf sein Atelier gehen und dort Kaffee trinken , aber unterwegs fiel einer nach dem anderen ab , sie waren alle müde und hatten genug . Ellen fiel jetzt erst ein , daß Zareck ihre Schlüssel eingesteckt hatte und sie nicht in das Haus hineinkonnte . So gingen sie langsam durch den weichen Schnee , der über Nacht gefallen war , die Straße hinauf , wo die Laternen noch müde in der Dämmerung flackerten , und saßen dann in Johnnys Atelier mit den vielen gemütlichen Ecken vor einem kleinen Tisch , auf dem die gelbumschleierte Lampe brannte und die kupferne Kaffeemaschine summte . Johnny zog sich im Nebenzimmer um und wickelte dann Ellen in einen schweren Seidenmantel - es war eine Atmosphäre von Behaglichkeit , die sie lange nicht mehr gewöhnt war , und sie dehnte sich vor Wohlgefühl . Nun mußte sie ihm erzählen , wie sie lebte , manchmal lachte er , dann wieder schüttelte er den Kopf : " Ich habe das ja alles selbst durchgemacht , aber glauben Sie mir , die Boheme kriegt jeder einmal satt und Ihre Gesellschaft da gefällt mir nur halb . - Aber das verrückteste finde ich doch , daß Sie heiraten sollen . " Es war jetzt heller Tag , und sie berieten , wie Ellen in ihrem Clownkostüm nach Hause kommen sollte - er brachte alle möglichen Dinge herbei , steckte sie zuletzt in einen Regenmantel von sich , schnürte ihr ein Paar unförmliche Bergstiefel an die Füße und drückte ihr einen Schlapphut ins Gesicht . Dann stand er da und wollte sich totlachen . So wateten sie wieder durch den Schnee zu einer nahen Badeanstalt , nahmen Zelle an Zelle ein Brausebad unter vielem Lachen - es war alles so lustig und morgenfrisch und dabei wie ein leichtes Spiel , das sich immer an der Grenze bewegte . " Ich habe wirklich allen Respekt vor mir " , sagte Johnny , als er sie im Fiaker nach ihrer Wohnung brachte , " nicht einmal um einen Kuß habe ich Sie gebeten , seit wir uns wieder in normale Menschen verwandelt haben - warum sind Sie auch verlobt ? - Aber hübsch war es doch . " Das kleine Abenteuer mit Johnny , das ja eigentlich gar kein Abenteuer war , ging Ellen noch ein paar Tage nach wie ein wohliger Traum , bei dem sie immer wieder lächeln mußte . Sie hätte ihn gerne einmal wiedergesehen , aber die anderen hatten natürlich davon erfahren , Zareck war beleidigt und auch Henryk etwas verstimmt . So gab sie es auf , und ihre Gedanken waren auch bald wieder ganz in Henryk gefangen , so daß ihr alles andere unwesentlich vorkam . Der Frühling kam mit schweren Stürmen , und sie wußten nichts mehr wie diese verzweifelte Leidenschaft , die mit jedem Tag wuchs . In einer Märznacht waren Walkoff und Ellen bis spät mit den Freunden zusammengewesen ; als alles sich trennte , gingen sie in heißer Stimmung zu ihm hinauf . - Dann faßte ihn wieder die Arbeitswut . " Oder bist du zu müde , Ellen ? " Nein , sie war nie müde . Sie stand vor ihm am Tisch , und er arbeitete , da wurde sie auf einmal blaß und fing an zu schwanken . Er konnte sie gerade aufs Bett legen , ehe sie ohnmächtig wurde . Bald nach diesem Abend stiegen bange Ahnungen in ihr auf , sie wollte sich selbst die tödliche Angst nicht eingestehen , die immer banger und beklemmender auf sie herabsank , suchte sie von Tag zu Tag zurückzudrängen und sagte sich immer wieder : Es kann ja nicht sein , ist zu furchtbar , als daß es sein könnte . Ihr schien , als sähe sie ein Beil herabfahren , das ihr den Schädel spalten wollte , und sie hätte sich verkriechen mögen , um nur nicht daran zu denken . So vergingen Wochen , und endlich wußte sie , daß es wohl nicht anders sein konnte . Und die Gewißheit , der nicht mehr auszuweichen war , verwandelte ihre Empfindungen . Es war das Schicksal selbst , das dunkel und übermächtig sich vor ihr aufrichtete , und sie beugte sich vor seinem brennenden Blick . Beinahe wie Freude kam es jetzt über sie : sie wollte es ja gerne tragen - ein Kind von ihm - ein Kind ihrer Leidenschaft . Neben all den seltsamen , beängstigenden Gefühlen , die ihrem Körper alle Spannkraft nahmen , erfüllte es sie mit wehmütig ahnender Wonne - ein Kind , ein Wesen , das ganz ihr eigen sein sollte - ihr , der Heimatlosen , die keine Stätte hatte auf der weiten Welt und keinen Menschen , der ihr die Arme auftat . Als sie es Henryk sagte , konnte sie vor Bewegung kaum sprechen . Sie saß auf dem Bett und sah ihn an , - aber er schien nur erschrocken , ging rasch auf und ab in dem schmalen Raum und blieb schließlich vor ihr stehen : " Das ist schlimm genug - was soll daraus werden ? " " Vor allem will ich jetzt an Reinhard schreiben , daß alles zwischen uns aus sein muß - das wollte ich ja schon lange . " " Und dann ? " " Das weiß ich noch nicht - irgendwie wird es sich schon finden . " Ellen lächelte . " Du brauchst keine Angst zu haben , Henryk , daß du mich heiraten mußt . - Du weißt doch , daß ich sowieso hier bleiben wollte , und ich werde mich schon durchschlagen . Wir haben ja alle nichts und leben doch . " Henryk setzte sich neben sie , war gut und zärtlich : " Laß uns nur noch abwarten , Kind , vielleicht findet sich ein Ausweg , und es ist ja noch nicht so sicher . Gehe an die Arbeit und versuche , nicht immer daran zu denken . " In dieser Zeit kamen wieder lange Briefe von Reinhard , er drängte zur Entscheidung , sie sollte jetzt von München fortgehen , es nicht mehr hinausschieben , denn wenn sie vor dem Sommer heirateten , war noch vieles zu ordnen . " Was ist mit dir , warum schreibst du nicht ? Ich begreife nicht , daß du selbst jetzt nichts anderes im Kopf hast wie deine Malerei - auf alles , was ich schreibe , nicht eingehst . " Ellen hatte ein langes Schreiben an ihn angefangen , schrieb Bogen auf Bogen , immer wieder konnte sie die Worte nicht finden und begann am nächsten Tag von neuem . Nachts konnte sie nicht schlafen , wenn sie auch todmüde war . Ihre Gedanken gingen irre durcheinander . - Henryk mit seinem : Was soll daraus werden ? - Die Frage drängte sich auch ihr immer unentrinnbarer auf . - Von ihm fordern , daß er für sie und ihr Kind sorgen sollte , sein Künstlertum unterbinden , lähmen ? - Nein , er mußte freibleiben , sie wollte sich nicht wie ein Bleigewicht an ihn hängen . Aber was dann ? - Dann stand sie vor dem nackten Elend , vor dem Hunger - sie und ihr Kind . Ihr Geld war jetzt völlig zu Ende , hie und da lieh sie sich etwas von den Bekannten , aß mit Zareck zu Mittag , weiter brauchte sie nichts . Noch vor kurzem hatte es ihr ganz einfach geschienen , jahrelang so weiterzuleben , wenn sie sich von Reinhard trennte . Aber jetzt , wo ihre Kräfte immer mehr versagten , wo sie tagelang mit Ohnmachten und einem entnervenden Schwindelgefühl kämpfte und das kleine Leben in ihr sich immer beängstigender regte - und niemand , der ihr zu Hilfe kam . Sterben - immer wieder kamen ihre Gedanken darauf zurück - jedes Gefühl in ihr wehrte sich dagegen , aber was blieb ihr sonst ? Es muß sein - das sagte sie sich immer wieder vor wie eine Lektion , die nicht in den Kopf hinein will . - Den Brief an Reinhard wollte sie zurücklassen - er war jetzt endlich fertig geworden - und dann von Henryk Abschied nehmen , ohne daß er etwas davon wußte . Aber er kannte sie zu gut , er wußte immer , was sie dachte , und ihre Angst verriet sich , ohne daß sie es wollte . " Was hast du vor , Ellen ? - Du hast doch nicht schon an ihn geschrieben ? " " Schon ? " sagte sie . " Mir scheint , es ist höchste Zeit . Der Brief liegt da und braucht nur noch abgeschickt zu werden . " " Was hast du vor , Ellen ? " " Ich weiß selbst nicht - laß mich gehen , ich komme morgen wieder . " Henryk ließ sie nicht gehen , er schloß die Tür zu . " Ich weiß , was du willst - ich kann es mir denken - aber ich will es nicht . " Sie konnte sich nicht länger beherrschen und schrie auf : " Laß mich , Henryk ! - Es hat ja keinen Sinn , es noch länger hinauszuschieben . - Was soll ich denn tun ?! " " Komme , Kind , sei vernünftig - du hast ja doch nicht den Mut dazu . " Nein , den hatte sie im Grunde nicht , das Grauen vor dem Tod schüttelte sie , wenn sie klar darüber nachdachte . Aber er sollte sie nur in ihrer Verwirrung lassen , dann würde es schon gehen - irgendwo hinaus ans Wasser und dann besinnungslos hinein , dann war ja alles gut . So setzte sie sich wieder auf das Bett , die Hände vorm Gesicht und wollte nicht antworten , nicht sehen , nichts mehr hören , nur ganz in sich hineinsinken , sich kalt und gleichgültig machen zu dem , was unabänderlich vor ihr stand . " Du hast mir gesagt , daß der Brief noch nicht fort ist - du darfst ihn überhaupt nicht abschicken , Ellen . " " Es geht nicht länger - er wartet immer noch darauf , daß ich komme . " " Du mußt ihn heiraten , Ellen , es bleibt nichts anderes übrig . " Es ging ihr eisig durchs Herz - ein Schrecken , der furchtbarer war , wie alles andere . Einen Augenblick war ihr zumute , als ob die ganze Welt um sie her zusammenbräche und in einem wirren Haufen zu ihren Füßen niederrollte . Sie sagte kein Wort , während Henryk immer weitersprach : " Er liebt dich , und ist es nicht besser , wenn einer glücklich wird , als daß wir alle drei zugrundegehen ? - Wenn du dir etwas antust , ist mein Leben mitzerstört und seines auch . Oder glaubst du , ich könnte weiterleben mit dem Gedanken , dich in den Tod gejagt zu haben ? Ellen , und ich kann dich nicht bei mir behalten mit einem Kind , du weißt es selbst - was sollte aus uns allen werden dabei ? " Nach langer Zeit nahm Ellen die Hände vom Gesicht und sah ihn an . Sie fühlte nur wieder , wie sie ihn liebte , daß ihre Liebe bis an die Grenzen des Wahnsinns ging . Mochte er von ihr verlangen , was er wollte , ihr den Kopf abschlagen , den Lebensnerv durchschneiden - sie hätte ja gesagt und stillgehalten . " Ja , Henryk , ich will tun , was du willst - mache jetzt die Tür auf . " Er faßte sie bei den Schultern und sah sie an : " Versprich mir , daß du dir nichts antust . " " Ja , ich verspreche es dir , aber laß mich gehen . " Als Ellen nach Hause kam , zerriß sie den Brief an Reinhard und schrieb einen neuen : " Ich komme , sowie alles in Ordnung ist , und bin mit allem einverstanden . " - Dann saß sie noch lange am Tisch mit geschlossenen Augen : wenn es möglich war , daß Henryk ihr das vorschlug , dann mußte sie es wohl auch tun können und brauchte nicht zu sterben . Sie fühlte keinen Groll gegen ihn - jede Empfindung in ihr war wie gelähmt . Gegen Abend brachte sie den Brief auf die Post und ging zu Zareck hinauf . Der Fritz war auch da ; die beiden sahen , daß Ellen sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte und legten sie auf die Matratze , die als Sofa diente . Zareck saß am Kopfende neben ihr und der Fritz zu ihren Füßen . Später kam noch die Dalwendt mit einer Flasche Wein unter dem Mantel ; sie war zuerst in Ellens Wohnung gewesen und hatte sie dort nicht gefunden . " Sagen Sie , Fräulein , was ist mit dem Kind ? " sagte Zareck , während er die Gläser füllte . " Geht sie herum wie Geist , lacht nicht mehr und fällt um jeden Augenblick . " Der Fritz streichelte ihre Füße und beugte sich etwas vor : " Ja , du bist ganz verändert - wir haben schon oft davon gesprochen die letzte Zeit . Du mußt krank sein , Ellen , und ich glaube , es wird dir auch arg schwer fortzugehen ? " Zareck hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt : " Darfst du ihr nicht mehr streicheln , Fritzl , ist sie bald verheiratete Frau mit Baby auf dem Arm und Kochlöffel in der Hand . - Fräulein , sagen Sie ihr , ist Blödsinn heiraten für solche Ellen . - Kommt sie nie wieder und vergißt uns alle . " Ellen begegnete dem Blick ihrer Freundin - sie war die einzige , die von ihrem Verhältnis zu Henryk wußte , und die wohl jetzt auch den ganzen Zusammenhäng ahnte . Sie hatte ein seltenes Vermögen , mitzuwissen und mitzufühlen , auch das , was man ihr nicht mit Worten sagte , weil Worte zu wehe taten . " Ich glaube doch , daß Ellen wiederkommt " , meinte sie in ihrer langsamsten Weise , " und warum soll sie nicht heiraten , wenn ihr Mann sie weitermalen läßt . " Zareck hob feierlich sein Glas : " Prost , Fräulein , stoßen wieder an auf Kunst . - Braucht man nicht treu sein Männern , wenn man nur treu bleibt in Kunst . Seid ihr tapfere Weiber und gute Kameraden . - Mache nicht so traurige Augen , Ellen - sehen wir uns alle wieder . " Nein , sie war nicht traurig , - ihr war nur , als ob nichts wieder ein Gefühl in ihr zu lösen vermöchte . - Da saßen sie , die Freunde , die Kameraden , mit denen sie das Leben so froh geteilt hatte , und sie begriff es selber kaum , daß sie es über sich gewann , ihnen nicht ihr ganzes Elend ins Gesicht zu schreien . Aber was bedeutete es jetzt noch , daß sie auch die alle verlieren sollte - mochten die Räder über sie hingehen und alles zermalmen , daß nichts mehr übrig blieb . Ihr Schmerz war keiner , den man ausrasen oder ausweinen konnte , mit eiserner Wucht lag es auf ihr , drängte sich mit tausend glühenden Fangarmen in ihre Seele hinein und preßte sie zu einem fühllosen Etwas zusammen . - Das einzige , was noch in ihr lebte , war der Gedanke an das Kind - ihr Kind und Henryks - das mußte geborgen werden - dafür geschah ja das alles . Ihr war wie einem Menschen , der sein Haus brennen sieht und hineinstürzt , um ein Kleinod zu retten , an das er bis dahin kaum gedacht hat . Aber jetzt in diesem Augenblick weiß er nichts mehr , als daß dies Eine geborgen werden muß , - alles übrige mögen die Flammen verschlingen , mag einstürzen , ihn selbst mitbegraben , darauf kommt es nicht mehr an . - Ellen wollte jetzt so rasch wie möglich fort von München , - aber jeden Tag , der ihr noch blieb , trank sie in sich ein wie einen Becher mit schwerem Wein - die letzte Wollust und die letzte unergründliche Qual ihrer Liebe - das dunkle Weh ihrer Mutterschaft von diesem Mann , den sie liebte . Das wenigstens durfte sie mit sich nehmen , wenn sie alles andere hinter sich zurückließ . Am letzten Tage war Henryk bei ihr - Ellen ging im Zimmer herum und ordnete ihre Sachen - er folgte ihr mit den Augen , bis sie kam und sich neben ihn setzte . Nun ging eine plötzliche Erschütterung durch ihn und er umschlang sie fast gewaltsam . " Wirst du mich auch nicht hassen , wenn du fort bist ? " " Nein , nein " , sagte Ellen und lächelte mit einem starren Blick , der weit in die Ferne ging . Henryk legte den Kopf an ihre Schulter und weinte . - Die ganze Unseligkeit ihres Opfers kam über sie , sie fürchtete jetzt , noch ihre Kraft zu verlieren . " Ellen - Kind - ich glaube , du tust das Ganze nur für mich , und ich wollte , du solltest es für dich selber tun . " Sie hatte nicht gewollt , daß er das fühlen sollte , es war , als ob sie ihn dadurch beschämen , zu ihrem Schuldner machen würde - das war unerträglich , wo man so liebte . " Ellen , du wirst mich doch einmal hassen . " " Nein " , sagte sie noch einmal , " du hast mir zu viel gegeben , Henryk - das vergesse ich nie . Von dir habe ich erst die Seele bekommen , vorher hatte ich keine . - Das andere ist Unglück , Schicksal - dagegen kann man nichts machen . Du hast mir doch oft gesagt , daß es auf das Leben nicht ankommt , ich meine darauf , wie man äußerlich lebt - wenn man nur die Kunst hat und darin - das hätte ich ohne dich vielleicht nie so gefunden . Das bleibt mir ja - ich werde niemals loslassen . " " Und das Kind ? " " Nein , Henryk , ich habe nur Dank für dich - glaube es mir . " " Ja , wenn wir hätten beisammen bleiben können . - Denn das will ich dir jetzt noch einmal sagen , Ellen , ein Weib wie dich werde ich nie wiederfinden , nie . Und du wirst etwas leisten in der Kunst , wenn du treu bleibst . Willst du dann auch noch etwas an mich denken und an alles , was wir zusammen gelebt und gesprochen haben ? " Das letzte , was Ellen von München sah , war Henryk , der auf dem Perron stand , unter der dunklen Riesenhalle , im Frühlingsabend , und zu ihr hinaufsah . - Selbst in dieser Stunde fühlte sie keine Verzweiflung , kein zerreißendes Entsagen , ihr war nur , als ob sie einen Sarg mit sich führte , in dem ihre Jugend , all ihr Glücksverlangen und ihre Liebe lag , während sie dahinfuhr , einer fremden , gleichgültigen Zukunft entgegen - fremd und gleichgültig , weil ja doch alles gestorben war - eine lange , stumme Totenwache , während der Zug rollte und rollte . Ein paar Wochen später war Ellen Reinhards Frau - und ihr Zusammenleben gestaltete sich vom ersten Tage ganz anders , wie er gedacht hatte . Er war auf einen langen , schwierigen Kampf gefaßt , auf ihren stets bereiten Widerspruch gegen tausend Dinge , die ihr jetziges Leben und seine Stellung verlangten . Aber nur einmal , als die Rede davon war , sie wieder mit ihrer Familie zu versöhnen , sträubte Ellen sich so wild gegen jede Annäherung , daß er schließlich nachgab . Sonst ließ sie alles fast willenlos über sich ergehen , selbst über die kirchliche Trauung verlor sie kein Wort , während sie früher bei dem bloßen Gedanken in Empörung geriet . Überhaupt fand er sie seltsam verändert - nichts mehr von ihrem alten Übermut und dafür etwas Stilles , in sich Gekehrtes und eine Weichheit , die er früher nicht an ihr gekannt hatte . Mit Staunen sah er , daß Ellen sich ihrer Häuslichkeit annahm und das äußere Leben sich ohne Schwierigkeiten abwickelte . Was mochte es sie gekostet haben , sich von ihrem sorglosen , ungebundenen Leben in München loszureißen , und dem wollte er Rechnung tragen , es ihr so leicht machen , wie nur möglich . Es entsprach ihrer beider Wunsch , still und zurückgezogen zu leben , sich den Tag so einzurichten , daß jeder seiner Arbeit ungestört nachgehen konnte . Und Reinhard sah auch , wie der Gedanke an ihre Malerei sie mit einem fast verzweifelten Ernst erfüllte - bei ihm sollte sie nicht gehindert und eingeengt sein , er wollte alles in ihr pflegen , in Ruhe und Liebe . Denn die hatten ihr bisher immer gefehlt , und er fühlte wohl , daß ihre Seele Wunden trug . Nur kam ihm nie der Verdacht , daß ein anderer Mann ihr die geschlagen haben mochte . Und für Ellen war es fast überwältigend , all diese umsorgende Liebe zu fühlen , die nur darauf bedacht war , ihr Leben so zu gestalten , wie sie es wünschte und brauchte . Zuerst , nach ihrer Rückkehr aus München , war sie bei Reinhards Familie gewesen , wo sie vor jedem Blick zitterte und gewaltsam ihre körperliche Schwäche niederzwingen mußte , um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken . Es schien ihr fast undenkbar , daß niemand ihr Geheimnis erraten sollte . - Und dann der Hochzeitstag , die Junisonne lachte , und sie sah in lauter strahlende Gesichter , hörte lauter frohe Worte und Stimmen und sollte selbst lächeln und viele heitere Worte sagen , während die beklemmende Angst in ihr immer höher stieg . Nur eine kurze Stunde vor der Trauung war sie allein in ihrem Zimmer , da warf sie sich aufs Bett und weinte zum erstenmal in all den Wochen bange und verzweifelt - dann kam Reinhard , um sie zu holen , und abends langten sie in ihrem neuen Heim an . Und jetzt , wo sie mit ihrem Mann zusammenlebte , wuchs die Gefahr mit jedem Tag unentrinnbarer empor . Immer klarer kam es ihr zum Bewußtsein , wie wahnsinnig und unüberlegt sie gehandelt hatte , es konnte nicht lange mehr dauern , dann war es nicht mehr zu verbergen . Und wie sollte sie ihn dann täuschen ? Sie hing wie ein Schiffbrüchiger mitten im Meer an einem Balken , der jeden Moment hinweggespült werden kann - mit der unsinnigen , unmöglichen Hoffnung , daß noch irgend etwas kommen möchte , sie zu retten . - Dazwischen glaubte sie wieder Henryks Stimme zu hören : Hart sein , Ellen , stark sein - und sie fühlte sich fast übermenschlich stark in diesem einsamen Kampf . Reinhard begann allmählich sich um ihre Gesundheit zu sorgen - Ellen hatte gleich wieder angefangen zu arbeiten , aber wenn er nachmittags aus seinem Büro kam , fand er sie meist auf dem Sofa , oder sie saß in dem leeren Zimmer , das ihr als Atelier diente , mitten unter ihren Malsachen und Skizzen und starrte vor sich hin . Es waren jetzt sechs Wochen vergangen , seit Ellen aus München kam . Sie saßen sich abends gegenüber an Reinhards großem Schreibtisch . " Willst du mir etwas helfen ? " fragte er . " Ich habe heute schon so viel geschrieben . " Er litt manchmal an Augenschmerzen und liebte es , dann zur Abwechslung zu diktieren . So setzte Ellen sich an seinen Platz und begann zu schreiben . " Bist du müde ? " fragte er ein paarmal . Ellen schüttelte den Kopf . Sie fühlte seit ein paar Tagen Schmerzen , die jetzt gegen Abend immer heftiger wurden . Eine Viertelstunde nach der anderen ging vorüber und sie bis heimlich die Zähne zusammen , während eine ratlose Angst durch ihre Gedanken wirbelte . Inzwischen schob sie die Lampe so , daß ihr Gesicht im Schatten war . Als die Arbeit zu Ende war , stand Reinhard auf : " Danke , Ellen , hast du dich auch nicht zu sehr angestrengt ? " Er sah , daß sie sehr blaß war . " Gehe nur gleich schlafen . " Ellen hatte ihr eigenes Zimmer neben dem Atelier . Was sie während dieser langen Nachtstunden durchlebte , erfüllte sie mit solchem Entsetzen , daß sie glaubte , ihre Haare müßten weiß werden oder eine sichtbare Spur in ihren Zügen zurückbleiben . Stundenlang lag sie alleine da in der Nachtstille unter unerträglichen Qualen , die nicht laut werden durften , und ließen die Schmerzen nach , so kamen all die Gedanken , die sie fast noch mehr folterten . - Ihr Kind - Henryks Kind , nun war alles umsonst gewesen ; wie sollte sie jetzt noch weiterleben ? - Es hatte eine Zeit gegeben , wo sie selbst gewünscht hatte , es möchte so kommen . Aber seit sie von Henryk Abschied nahm , war all ihr Sehnen zu diesem ungeborenen kleinen Wesen hinübergeglitten , das in ihr schlummerte . Der Gedanke an ihr Kind war der einzige leuchtende Hoffnungsschimmer gewesen , der ihr blieb , um den sie alles auf sich genommen hatte . Und nun war auch der verloschen . Endlich verrann die Nacht , dann lag sie da in der Morgendämmerung , ihre Augen hingen an der Wanduhr gegenüber , deren Zeiger langsam vorrückten . Ihr schien , als ob sie von Minute zu Minute schwächer würde und ihr Leben in langsamen Wellen zu entfluten drohte . Gegen neun Uhr klopfte Reinhard leise an : " Schläfst du noch , Ellen ? " Sie antwortete nicht , er blieb noch einen Augenblick stehen , sie hörte ihn ein paar Worte mit der Aufwärterin sprechen , die jeden Morgen kam , dann ging er und zog die Haustür vorsichtig hinter sich zu . Als er nachmittags zurückkam , war Ellen wieder auf - sie hatte ihren gewohnten Spaziergang gemacht und fühlte sich ganz wohl . So schleppte sie sich noch ein paar Tage hin , dann warf es sie plötzlich nieder . Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen und schickte erst zum Arzt , wie ihr Mann aus dem Hause war . Als sie wußte , daß der Arzt schweigen würde , kam zum erstenmal eine tiefe dumpfe Ruhe über sie . Lange Tage lag sie nun schwerkrank in dem halbdunklen Zimmer , Reinhard saß neben ihr , sorgte für sie in seiner fast mütterlichen Liebe , und Ellen fühlte nun das Unbegreifliche , daß sie gerettet war . Etwas über ein Jahr war verflossen , als Ellen wieder nach München fuhr . Sie saß im Zug und dachte an jene lange Fahrt damals , die Totenwache über den Trümmern ihres ersten heißen Jugendlebens . Und wie dann alles gekommen war , sich von neuem aufgebaut hatte , anders freilich , wie ihre jungen Träume es gewollt hatten . Mit tiefem Heimweh gingen ihre Gedanken zu Reinhard hin - wie er jetzt so allein war , sie so ruhig hatte gehen lassen , ohne zu ahnen , was alles wieder in ihr aufwachen mußte , und mit wie schwerem inneren Bangen sie sich von ihm getrennt hatte . Als sie dann den ersten Morgen im Hotel aufwachte und durch die wohlbekannten Straßen ging , kam wieder das alte jubelnde Lebensgefühl über sie , als ob sie eine andere Luft atmete , in der so viel Leichtes , Frohes , Junges lag , und die manche vergangene Schmerzen wegblies . Ihr erster Gang war zu Zareck , er saß wie einst auf seinem Bett und stritt mit dem Maxl , - es sah aus , als hätten sie sich in all der Zeit nicht vom Platz gerührt . Beide waren sprachlos erstaunt , als sie Ellen hereinkommen sahen . Dann faßte Zareck sie um und tanzte mit ihr durchs Atelier : " Sapristi - ist kleines Ellen wieder da ! " " Habt ihr mich denn wirklich nicht vergessen ? " sagte sie ganz gerührt . Nun drehte er sie um und sah sie von allen Seiten an . " Bist du noch ganz wie früher , aber hast du dir wieder lange Haare wachsen lassen - doch ein bissel Frau geworden . " " Kinder , Kinder " , sagte Ellen überwältigt , " wie schön , euch wiederzuhaben ! " " Hast du viel gemalt ? " fragte der Maxl . " Oh , es geht , ich war meist nicht recht gesund , aber das kommt alles noch . " " Wie viele Babys hast du denn schon ? " Einen Augenblick ging es wie ein Schatten durch ihre Augen . " Was denkt ihr denn ? Gar keins . " " Sage Mal , Kind , bist du denn wirklich geheiratet ? - Glaubt es niemand . Weißt du noch , wie alte Tanten in der Schule sagten : Der Mann muß Mut haben . Dachten alle , würde dein Mann dich nach vier Wochen zurückschicken . " " Nein " , sagte Ellen auf einmal ganz ernst , " über meine Ehe dürft ihr keine schlechten Witze machen . Ich habe noch nie einen Menschen gekannt , wie meinen Mann , er will selbst , daß ich jedes Jahr wiederkomme und hier Male . " " Muß feiner Kerl sein " , sagte Zareck bewundernd , " Hab ' ich so viel Angst gehabt , du würdest Philister . - Bleibst du jetzt hier ? " " Noch nicht , ich gehe mit der Dalwendt aufs Land , um mich erst ganz wieder zu erholen . " Gegen Mitte Mai war Ellen dann mit ihrer Freundin auf dem Land in einem kleinen Gebirgsdorf . Der Frühling kämpfte noch mit Sturm und Regen , dazwischen kamen warme Tage , wo die Sonne schien wie mitten im Sommer . Ellen lag in ihrem bequemen Stuhl auf dem Balkon und las einen Brief von Reinhard . " In sechs Wochen wird er wohl Urlaub nehmen und mir nachkommen " , sagte sie und reckte sich . Die Dalwendt ließ ihr Buch in den Schoß sinken , sie war groß und kräftig , mit schwerem blonden Haar und etwas trägen Bewegungen . Ellen fand es sehr angenehm , mit ihr zu leben , sie war wie eine Schatulle , in die man alle Geheimnisse einschließen konnte und nur hervorholte , wenn man eben wollte , niemals sprang sie von selbst auf . Und dann ließ sie sich jede Stimmung suggerieren , empfand gerade das , was man wünschte . So wußte sie jetzt auch gleich , daß Ellen an Reinhard und Henryk dachte . " Dein Mann muß ein seltener Mensch sein " , sagte sie . " Ja , das ist er - ich habe ihn eigentlich erst kennengelernt , nachdem wir heirateten , und wir sind doch sehr glücklich zusammen gewesen . - Siehst du , es war mir etwas so ganz Ungewohntes , ein Heim zu haben . Reinhard ist fast wie eine Mutter gegen mich , ich weiß nicht mehr , wie ich ohne ihn leben sollte . - Aber manchmal frage ich mich doch wieder , ob ich überhaupt für ein friedliches Dasein geschaffen bin . Wenn du mir von München und euch allen schriebst , bekam ich oft rasendes Heimweh nach dem ganzen Leben von damals , als ob das das Eigentliche wäre . - Man ist doch im Grunde schrecklich feig . " " Warum feig ? " fragte die Freundin nachdenklich . " Weil man nie den letzten Mut zu sich selbst hat , wie wir in unserer Ibsenklubzeit sagten . - Hätte ich den , so würde ich Reinhard alles sagen und mich von ihm trennen . - Ich meine nicht nur das , was ich damals getan habe , - auch daß ich überhaupt nicht imstande bin , fürs ganze Leben nur einem Menschen zu gehören . Solange ich bei ihm war , habe ich mir das nie so klargemacht , aber jetzt geht es wieder alles in mir hin und her . " " Hast du Henryk gesehen ? " " Nein , er war nicht da , - aber wenn ich das nächste Mal in die Stadt fahre , werde ich ihn wohl sehen . Übrigens , daß er mit der Anna zusammen ist " - die andere sah sie etwas unruhig an , aber Ellen verzog keine Miene . " Nein , ich habe nie daran gedacht , daß es zwischen uns wieder anfangen könnte - das ist vorbei . Es ist doch wohl etwas Wahres daran , daß man nur einmal liebt - wenigstens so , daß man sein ganzes Leben auf eine Karte setzt . " " Ein paarmal habe ich ihn gesprochen " , sagte die Dalwendt , " als du fort warst - damals war er drauf und dran , dir nachzureisen . » Ich hätte sie nie heiraten lassen sollen « , sagte er . " Ellen antwortete nichts , diesmal zuckte doch ein tiefer Wunder Schmerz in ihr auf . " Nein - aber weißt du , wen ich neulich getroffen habe " , sagte sie nach einiger Zeit , " den Johnny . Ich ging mit ihm auf sein Atelier , und wir sprachen vom Karneval damals . Er hat so etwas , was einen in fröhlich frivole Stimmung bringt . Wir fanden es beide eigentlich schade , daß wir damals nichts weiter zusammen erlebt haben . " " Das ist es ja immer " , meinte die Freundin bedächtig . " Es ist ein Gefühl , das mich ganz wild machen kann , wenn man daran denkt , was man alles nicht erlebt und was so vorbeigeht . Ich möchte mehrere Leben nebeneinander haben - eines dürfte dann meinetwegen tragisch sein und entsagend mit einer großen stillen Liebe - » gut und glücklich « sein - verstehst du , aber das andere - nur hineinstürzen und alles über sich zusammenschlagen lassen . - So war mir neulich bei Johnny zumute - als ich ging , fragte er , ob ich ihm nicht jetzt den Kuß geben wollte , um den er mich damals nicht gebeten hat . - Nachher dachte ich wieder an Reinhard . " " Es ist doch sonderbar " , sagte die Dalwendt langsam und wartete ab , was Ellen sonderbar finden würde . " Ja , siehst du , das ist es eben , wenn man mit einem Menschen lebt und ihn sehr lieb hat - da ist man immer gezwungen , durch seine Empfindungen zu sehen . Und das gibt dann diesen fortwährenden Widerspruch . Für Reinhard würde alles zwischen uns aus sein , wenn ich ihm untreu wäre , und für mich würde es dann vielleicht gerade anfangen - wenn er verstände , daß ich auch anderen gehören kann . Warum muß man gerade verheiratet sein - Kommen und Gehen , eine Weile zusammenleben und sich dann wieder trennen - mir läge das viel näher , überhaupt das Erotische als etwas Zufälliges nehmen , sonst geht es mit der Zeit auch verloren . " " Du hältst ja förmliche Reden , Ellen , das ist man an dir gar nicht gewöhnt . " " Ja , früher habe ich auch über die Sachen nicht viel nachgedacht . - - Mein Gott , als ich von euch fortging , damals glaubte ich , daß nun alles für mich zu Ende wäre - » die große Entsagung « und die Kunst - auf das Leben kam es nicht an . Das hatte Henryk mir alles eingeredet , aber wie soll man jemals etwas schaffen können , wenn man nicht sein eigentliches Leben lebt ? Wir hatten doch recht mit unseren pathetischen Jugendredensarten . - Und mein Leben muß ich auch wieder leben , wenn es auch noch so viel kostet . " " Aber diesmal würde es dich viel kosten , Ellen , äußerlich . Du sagst doch selbst , daß du nicht mehr so eisern kräftig bist wie früher . " Ellen hatte sich ganz heiß geredet , nun stand sie auf und dehnte sich : " Siehst du , das ist mir auch ein Wunder Punkt - der Wundeste . - Fortwährend haben sie mich in München darauf angeredet , daß ich schlecht aussähe - und ich fühle es ja auch selbst , daß mir irgend etwas fehlt , schon seit langem . Fast das ganze Jahr hindurch war ich immer wieder krank . Aber ich will einfach nicht krank sein - womöglich noch ein inneres Leiden , - das ist mir von jeher ein schrecklicher Begriff gewesen . - Laß uns um Gottes Willen nicht mehr davon sprechen . " Bald nach diesem Gespräch fuhren sie zusammen in die Stadt . Henryk hatte jetzt eine andere Wohnung . Als Ellen die Treppe hinaufstieg , kam ihr alles so fremd und öde vor . Aber sie wollte ihn wiedersehen , vielleicht nur dies eine Mal noch - nicht etwas von ihrer einstigen Leidenschaft wiederfinden , die hatte sie längst ins Grab gelegt und sie sollte nie wieder erwachen . Nur ihm noch einmal in die Augen sehen und ihm sagen , daß sie nicht unterlegen und zerbrochen war . Er machte selbst die Tür auf , als sie läutete . " Ellen . " Sie war selbst verwundert , daß dies Wiedersehen sie völlig ruhig ließ . Er wollte sie umarmen , aber sie wich ihm aus . " Du bist ganz fremd geworden , Ellen . " " Ja , das bin ich wohl auch . " Dann saß sie auf dem Sofa und ließ ihre Blicke umhergehen ; es sah nicht mehr so armselig bei ihm aus wie früher . Henryk stand immer noch vor ihr : " Warum bist du dann wiedergekommen ? " " Um zu malen , nicht zu dir . " Beide schwiegen eine Zeitlang , sie suchte etwas von ihm wiederzufinden , von dem alten Zauber , der einstmals von ihm ausgegangen war , - ging im Atelier herum und sah seine Bilder an , es war immer noch dieselbe wilde , unfertige Malerei wie damals . Dabei antwortete sie halb mechanisch auf seine Fragen . In der Ecke stand eine größere Leinwand - eine schwarzhaarige Frau mit dem Kind an der Brust , einem ganz kleinen Kind , das beinahe formlos aussah , wie kaum zum Leben erwacht - Ellen erkannte das Gesicht . " Ist das nicht die Anna , die uns damals Modell stand ? " Dann drehte sie sich plötzlich um und sah ihn an . Henryk war sichtlich verlegen und verwirrt . " Ich dachte , das würden dir die anderen längst erzählt haben . " " Ist es dein Kind ? " Ihre Blicke begegneten sich . Ellen war langsam blaß geworden . In den wenigen Sekunden war alles wieder in ihr aufgewacht - die ganze Zeit , wo sie hilflos herumging mit seinem Kind unter dem Herzen , nicht wußte , wo sie es bergen sollte und sich selbst - die Heimreise - ihre Hochzeit - all die Todesangst , das Grauen , als es ihr wieder genommen wurde . Und ihre Schuld war ihr etwas Großes und Heiliges gewesen , das sie aufrecht erhielt . Jetzt lag plötzlich alles in einem ganz anderen Licht da - warum hatte sie sich so wehrlos dahintreiben lassen von diesem Mann , der ihr Kind nicht wollte , und der ihr jetzt so fremd und armselig vorkam - warum war sie ihm zuliebe über sich selbst hinweggegangen ? - Ihr Kind nicht gewollt , es kam ihr vor , als sei es seine Schuld und sein Wille gewesen , daß es niemals gelebt hatte . " Was hast du mit mir gemacht , Henryk ? " sagte sie endlich . " Wie meinst du das , Ellen , glaubst du , es wäre besser gewesen , du säßest jetzt im Elend wie das Mädchen da ? " " Tausendmal besser - denn du hast mich Komödie spielen lassen mit meinem Leben und mich glauben gemacht , es wäre ein großes Trauerspiel . Du konntest so schön reden . " " Reut es dich jetzt , daß du das damals für mich getan hast ? - Ich hätte es mir ja denken können . " " Nein , aber ich finde es jetzt beinahe lächerlich . " Ellen hatte ein Papiermesser vom Tisch genommen und bog es zwischen den Fingern hin und her , bis es plötzlich durchbrach . Dann sah sie auf , ihm in die Augen , und warf ihm das Messer vor die Füße : " Siehst du , das ist auch Theater , aber ich habe es von dir gelernt - so hast du es damals mit meinem Leben gemacht . - Komme , gib mir die Hand , wir können ja das übliche Ende machen und als Freunde scheiden , und dann gehe ich mir einen anderen suchen - ich weiß , wo er zu finden ist . " Reinhard - ihr stilles heimatliches Glück bei ihm - und auch all das bange vergangene Leid - , das lag irgendwo in weiter Ferne , wo ihre Gedanken nicht hinkamen , - um sie her wogte nur ein taumelnder Rausch , der alles übertäubte , und das Leben leuchtete ihr wieder in ungebrochener Jugend , als ob sie nie von seinen Tiefen gewußt hätte . Der weite , matterleuchtete Raum , die gelbverschleierte Lampe und das dunkel schimmernde Kupfer - das alles hatte sie schon einmal gesehen in einer fernen Zeit , bei durchwachter Morgenfrühe . Und er hüllte sie wieder wie damals in einen langen , raschelnden Seidenmantel , während sie ihn aus halbgeschlossenen Augen ansah . " Du kamst mir immer vor wie ein Kind " , hörte sie seine Stimme ganz leise sagen , " ich hätte es kaum gewagt , dich nur anzurühren , und nun kommst du zu mir wie im Märchen und bist wie ein wirkliches Weib - " Dann war sie wieder draußen in den Bergen , wo es jetzt immer mehr Sommer wurde . Ellen hatte ein stilles einsames Unterkommen gefunden in einem abgelegenen Bauernhaus auf der Höhe , und ihre Freundin wohnte noch fast eine Stunde höher in der Almhütte . Vom frühen Morgen an kletterten sie in den Bergen umher , badeten , wenn es heiß war , unter den Wasserfällen , die hier und da von einer Felswand heruntersprühten , schliefen stundenlang im Freien , abends kehrte jede in ihre Bergklause zurück , und dann kamen die langen Sommernächte , die Ellen fürchtete wie den Tod - oben in der stummen Einsamkeit , wo manchmal rings am Himmel die Gewitter dröhnten oder der Wind an den Fenstern rüttelte . Da lag sie in quälender Schlaflosigkeit und dachte an Reinhard - sie ertrug es kaum mehr , seine Briefe zu lesen , die sie heim mahnten zu ihm - nun kam er bald und wußte nicht , daß sie sein Glück in Scherben zerschlagen hatte . - Und noch ein anderes , worüber sie sich bei Tage gewaltsam hinwegzutäuschen , es immer wieder zurückzudrängen suchte , das trat in der Nacht wie ein drohendes Gespenst vor sie hin : - das Bewußtsein , daß eine hinterlistige schleichende Krankheit langsam und unerbittlich ihre Kräfte zernagte . - Aber sie wehrte sich immer von neuem dagegen , wollte nichts davon wissen , nur leben , leben . Und dann wieder kam ein Brief von ihm - von Johnny - meist nur wenige Zeilen , ein kurzer , lockender Ruf . Der Anblick seiner Schrift allein trieb ihr das Blut zu heißen Wogen , und es litt sie nicht mehr in der sommergrünen Stille da droben . Beim dämmernden Morgen lief sie den Berg hinunter bis zu der kleinen Station . Dann stand sie plötzlich vor ihm in seinem Atelier und nächtelang lauschten sie nur der Stimme ihrer Sinne , die unaufhaltsam zusammenfluteten , das Leben jauchzte in ihr , bis es wieder in den einsamen Nächten da draußen aufschluchzte . Im Juli kam Reinhard , und sie machten zusammen eine weite Fußwanderung nach Tirol hinein . Die Sommersonne leuchtete , und jeder Tag war eine lange strahlende Zeit . Ellen schien keine Ermüdung zu kennen , und so lachend heiter hatte er sie selbst in der alten Zeit nie gesehen , sie schien jeden Sonnenstrahl in sich aufzunehmen . Nur von Zukunftsplänen sprach sie nicht mehr , vom Malen , von ihrer Gesundheit , ging alledem förmlich aus dem Wege . Es war nur ein Gedanke in ihr : diese wenigen Wochen noch mitsammen glücklich sein , - dann mußte alles zerbrechen . Und alles Glück , alles Frohe und Schöne , alle tiefste und letzte Freude , was andere während eines ganzen Lebens bedächtig in sich näh men , Zug auf Zug , das sollte er jetzt auf einmal leeren und mit ihr . Sie hielt ihm den Becher an die Lippen und er trank und trank . Und wenn der Becher leer war , wollte sie ihm sagen : " Jetzt ist es vorbei ! " Aber bis dieser Augenblick kam , sollte nichts die langen Sommertage trüben . Hier und da blieben sie länger an einem Ort , der sie besonders anzog , und in diesen Ruhetagen kam es oft zu langen Gesprächen wie früher daheim , wenn Reinhard an seinem Schreibtisch saß und Ellen in der halbdunklen Ecke auf dem Diwan lag . Dann schien es ihm manchmal , als ob ihre Frohheit sich auf Augenblicke verdunkelte , und es durchfuhr ihn plötzlich : sollte nicht irgendeine geheime Angst hinter alledem stecken ? Vielleicht fürchtete sie , wieder krank zu werden wie im letzten Winter , nicht arbeiten zu können - - Und Ellen konnte dann so seltsam sein und seltsame Sachen reden , fast wie im Fieber . " Wenn nun mit einemmal alles vorbei wäre , Reinhard - könntest du das ertragen ? " " Ertragen - ich weiß nicht . Aber was sollte denn vorbei sein ? Solange wir uns haben , gehört uns das Leben , das habe ich noch nie so gefühlt wie jetzt , und du auch , glaube ich . " " Ja - aber wir wissen doch nie , was kommen kann . - Sieh Mal , es gibt doch so etwas wie Schicksal , was die Menschen voneinanderreißen kann - gerade so , wie es uns beide zusammengeworfen hat . Wie kann man das wissen ? - wenn nun einer von uns sich in jemand anderen verliebte . - Ob du es zum Beispiel begreifen würdest , wenn ich einmal etwas ganz Wahnsinniges täte - von dir ginge . " " Warum sprichst du so sonderbar , Kind ? Willst du mir etwa fortlaufen ? Wenn du es tätest , müßte es doch einen Grund haben , und wenn deine Liebe aufhörte , würde ich dich niemals halten wollen . " " Nein , so meinte ich es nicht - ich glaube , das , was zwischen uns beiden ist - wie ich dich liebe - gerade dich , das kann nie zu Ende sein , wenigstens könnte das nie einem anderen Menschen gehören . Aber anderes könnte vielleicht kommen - ich weiß doch nicht , ob du mich ganz kennst . - Man fühlt doch manchmal Tiefen in sich , wo nie jemand anders hineinschauen kann , etwas Wildes , das vielleicht immer schlafen bleibt , aber es könnte auch einmal herauswollen und dazu treiben , alles , was schön und gut ist , zu zerstören - daß wir gerade das Unglück wollen - einfach müssen . Und würdest du das verstehen - bei mir ? Wenn ich dir sagte , du mußt mich freilassen , weil ich in mein Unglück hineinrennen will ? " " Ellen , es ist mir beinahe unheimlich , wenn du so redest - was soll das ? Es sind Phantasien , kranke Gedanken ! Ich glaube , gerade du bist so zum Glück geschaffen wie wenige , und um glücklich zu machen . Das kannst du nur selbst nicht fühlen - damals wolltest du es auch nicht glauben , und sind wir dann nicht doch glücklich gewesen , so ganz selten glücklich ? " " Ja , aber vielleicht könnte ich es auch einmal wollen , unglücklicher zu sein , wie alle anderen . " Sie sah ihn lange an , dann warf sie sich in seine Arme und atmete förmlich auf - es war ja noch Zeit , noch mußte es nicht sein . " Ach , jetzt wollen wir nicht mehr von solchen Sachen reden , Reinhard . " Noch eine letzte große Fußtour wollten sie machen und dann , ehe Reinhards Urlaub zu Ende ging , auf ein paar Tage zu seiner Mutter , die auch im Gebirge war . Ellen fing an die Stunden und Tage zu zählen - noch siebenmal Morgen und Abend - bei jedem Schritt ging es jetzt neben ihr her - noch einen Tag , noch einen - noch war er jeden Morgen da , wenn sie aufwachte , und dann wanderten sie zusammen in die sonnenglühende Bergwelt hinein , übernachteten wieder in einem anderen stillen Dorf . Noch vier Tage - - . Eines Nachmittags stiegen sie über einen Paß . Ellen machte einen ungeschickten Tritt und glitt ein paar Stufen hinunter - die Berge schwammen um sie her , drehten sich , sie fühlte einen heftigen , inneren Schmerz , dann sank sie in die Knie , und ihr wurde schwarz vor den Augen . Reinhard war gleich neben ihr und half ihr auf : " Was hast du denn , Ellen ? " " Ich weiß nicht " , sagte sie , " aber ich glaube , ich kann nicht weiter gehen . " Dann versuchte sie ein paar Schritte . " Nein , es geht schon wieder . " Sie ruhten eine Weile aus und gingen dann weiter , durch Täler im Sonnenuntergang , auf Höhen hinauf und wieder hinunter . Ellen ging hinter Reinhard her , um ihn nicht sehen zu lassen , wie schwer es ihr wurde . Der Schmerz von vorhin kam immer wieder , nur im Kopf war ihr so seltsam leicht und klar - das andere war nur noch wie eine fremde , brennende Maße , die ihr folgen mußte , weil sie es wollte . Es lag eine Art Wollust darin , sich so Herr über seinen Körper zu fühlen . Sie wollte jetzt nicht krank werden , nicht zusammenbrechen - nur jetzt nicht - , dazu war später noch Zeit . Spät abends , als es lange dunkel war , fanden sie endlich ein Nachtquartier in einem entlegenen Dorf . Ellen lag die ganze Nacht wach und hörte auf seine Atemzüge . Ihr schien , als ob bei dem langen Stilliegen alle Kraft sie verließe . Wenn sie nun nicht wieder aufstehen konnte ? Wenn sie hier liegen bleiben mußte in dem niedrigen , moderigen Zimmer , - es nahm ihr den Atem , daran zu denken . " Können wir nicht fahren ? " fragte sie am Morgen . " Es geht von hier aus keine Post , aber wir könnten ein paar Tage bleiben und uns ausruhen . Du sollst dich nicht überanstrengen , fühlst du dich krank ? Vier Stunden müßten wir noch gehen bis zur Bahn und dann nach Bozen fahren . " Er ging hinunter , um den Kaffee zu bestellen , und als er wiederkam , war Ellen schon bereit . " Nein , wir wollen doch lieber gehen . " Abends waren sie in Bozen und standen zusammen auf dem Balkon , der nach dem Hotelgarten hinausging . Unten lag ein großes Beet mit Monatsrosen . Reinhard und Ellen sahen hinaus in die Dämmerung und sprachen , plötzlich fuhren sie beide unwillkürlich zusammen . Von der Seite , aus dem Gebüsch her , kam ein hinkender , verwachsener Mensch mit seltsam spitzigem Kopf - wie ein Gnom sah er aus - der sich scheu nach allen Seiten umblickte , dann rasch den Beeten zuschlüpfte und ein paar Blumen abriß . Dann war er wieder im Gebüsch verschwunden . Reinhard und Ellen sahen sich an . " Bist du erschrocken ? " " Was war das ? " sagte sie . " Das war kein wirklicher Mensch , und was wollte er ? - Er hat uns so angesehen . " Reinhard lachte , um sie zu beruhigen , aber er hatte ebenso wie sie einen unerklärlichen Schauder gefühlt . " Kannst du wieder nicht schlafen , Ellen ? " " Nein - wenn du nicht müde bist , komme noch etwas her und sprich mit mir . " Er kam und setzte sich auf ihr Bett : " Wenn sich doch etwas gegen diese Schlaflosigkeit tun ließe - was ist nur mit dir , Ellen ? " " Ja , es ist schon manchmal arg - , aber ich möchte doch nicht wieder mit den Schlafmitteln anfangen wie letzten Winter . - Und man denkt so viel dumme Sachen , wenn man immer so daliegt . " " Woran dachtest du denn jetzt ? " " Ach , daß ich doch vielleicht krank bin , daran denke ich oft . - Und dann geht mir gerade heute eine Geschichte im Kopf herum , die mir die Dalwendt erzählte , als wir zusammen auf dem Land waren - wir haben viel darüber gesprochen und ich möchte eigentlich wissen , wie du darüber denken würdest . " " Was für eine Geschichte ? - Dann erzähle sie mir doch . " Ellen lag im Dunklen , er konnte ihr Gesicht nicht sehen , und sie erzählte ihm ihre Geschichte . Ihr ganzes Fühlen war in einer übermenschlichen Spannung - bei jedem Wort fürchtete sie laut aufzuschreien , aber ihre Stimme klang ganz ruhig und monoton . Reinhard hörte nachdenklich zu : " Liebte er sie denn nicht ? - Ich meine der , von dem sie das Kind hatte ? " " Gott - er war wohl ein Mensch , der überhaupt nicht lieben konnte , viel zu zerspalten und zu zerfahren . Und sie sah einen großen Künstler in ihm , einen Menschen , wie er ihr nie wieder begegnen würde , der ihr unendlich viel gab . Vor allem dachte sie daran , daß er frei bleiben müßte , und dann wohl auch an das Kind - - aber das ist noch nicht alles . Den Mann , den sie heiratete , kannte sie eigentlich kaum - das ist wohl meistens so . - Wir haben uns doch auch erst nachher kennengelernt . - Als sie seine Frau wurde , war er ihr beinahe gleichgültig und fremd , aber dann fing sie an , ihn zu lieben - anders wie den anderen - , vielleicht nicht so leidenschaftlich , aber viel tiefer . Sie war glücklich mit ihm , und er war sehr glücklich . - Das Kind kam nicht zum Leben - , ihr Mann war in der Zeit gerade verreist , und niemand erfuhr davon . - Zuletzt vergaß sie es selbst beinahe , und es kam ihr vor , als ob alles nicht wahr gewesen wäre . " Ellen meinte , er müßte ihr Herz klopfen hören , es schlug langsam und schwer . - Die Art wie sie erzählte , hatte für Reinhard etwas seltsam Erregendes . Ihm wurde immer beklommener zumute , vielleicht ging es wie eine ferne Ahnung durch seine Seele , von der er selbst nicht wußte . " Dann sah sie den anderen wieder - zufällig - und da hatte er ein Kind mit irgendeinem Mädel - und nun fiel mit einemmal alles in sich zusammen , ihr war , als ob selbst ihre Schuld entwertet sei , die ihr immer wie eine Art Heiligtum vorgekommen war . Und auch was sie sonst in ihm gesehen hatte , war fort , alles Illusion , die in nichts zerrann . Wenigstens in dem Augenblick kam es ihr so vor - vielleicht war es auch ungerecht - , aber es tat ihr so entsetzlich weh , daß er ihr Kind nicht gewollt und nun ein anderes hatte . Und dann fing sie ein neues Verhältnis an , das ihr gerade in den Weg kam . Und als sie das getan hatte , fühlte sie plötzlich , daß sie nun ihrem Mann alles sagen und sich von ihm trennen müßte . " Bis tief in die Nacht sprachen sie noch darüber , es schien Ellen , als ob sie nie in ihrem Leben so hätte reden können - bis in die kleinste Einzelheit hinein zwang sie ihn förmlich mitzufühlen , was jene Frau durchlebt hatte . Er sollte alles verstehen , begreifen , daß es unentrinnbare Gewalten gab , die einen Menschen treiben konnten , so zu handeln und dabei doch so viel zu lieben . Und sie dachte nicht daran , daß die Erkenntnis , sie selbst sei es gewesen , alles Verstehen wieder hinwegschwemmen würde wie einen Strohhalm . Eine törichte Hoffnung dämmerte in ihr auf , daß vielleicht ein Wunder geschehen möchte , das unerhörte Wunder , daß einer , der liebt , dem anderen folgen könnte bis in seine dunkelsten weggewendeten Tiefen , und daß er ihr bleiben könnte , welche Wege sie auch ging . Dann brach der letzte Tag an - die Sommerwärme lag glühend zwischen den Bergen - , Reinhard und Ellen gingen vormittags einen flimmernden , staubigen Weg , an dem roter Mohn blühte und kleine , wie aus Stein geschnittene grüne Eidechsen spielten . - Sie konnte ihn jetzt nicht länger darüber täuschen , daß sie leidend war , jeder Schritt wurde ihr schwer , und ihre Hände brannten . " Es braucht ja nichts Schlimmes zu sein " , sagte sie , " aber es ist doch vielleicht besser , wenn du jetzt allein zu deiner Mutter gehst , für die zwei Tage , und ich nach München fahre , um einen Arzt zu fragen . " So wußten sie nun beide , daß es für lange Zeit das letzte Alleinsein war . Lange saßen sie auf den weißen Steinen , die in der Sonne schimmerten . " Aber war es nicht schön ? " sagte Ellen . " Alle die Wochen jetzt - wie ein ganzes langes Leben voll Sommer . Sage mir , daß du noch nie so glücklich gewesen bist , Reinhard . " " Noch nie " , sagte er , so von innen heraus , daß es ihr ins Herz schnitt . Namenlos traurig sah sie ihn an , und er fühlte plötzlich , daß ihr bange war zum Vergehen . Und dieser Blick kam noch ein paarmal wieder , während die Sommerstunden verrannen und Ellen wie im Fieber von Glück und Leben sprach . Und jedesmal fragte Reinhard wieder : " Was ist dir ? - Sage mir doch , was dir ist . " Als sie abends wieder auf dem Balkon standen , war es beklemmend schwül , und schwere Gewitterwolken hingen am Himmel . " Da ist er wieder ! " , und Ellen faßte unwillkürlich nach seiner Hand . Derselbe unheimliche Bucklige kam aus dem Gebüsch , sah sich nach allen Seiten um und zu ihnen hinauf , riß Blumen ab und verschwand . Dann waren sie ins Zimmer zurückgegangen und saßen auf dem Sofa , die Tür stand offen und in der Ferne donnerte es . Ihre Zeit war um . " Reinhard , nun ist unser Sommer zu Ende - morgen gehe ich fort von dir . " " Ja " , sagte er traurig , " aber vielleicht bleibt uns noch ein Tag , wenn du in München gewesen bist . Eigentlich wäre es mir lieber , selbst mitzufahren . " " Nein , es bleibt uns kein Tag - ich gehe fort für immer . " Ellen fühlte plötzlich , daß sie sich verwirrte , und wiederholte es noch ein paarmal , bis sie sein Gesicht dicht vor sich sah und seine Stimme hörte , die fast wie ein Schrei klang : " Was heißt das ? Bist du wahnsinnig geworden ? " " Nein - , Reinhard - , aber es war meine eigene Geschichte , die ich dir gestern erzählte . " Am nächsten Morgen war Ellen allein in der Bahn , bei glühender Sommerhitze und überfüllten Kupees . Wie sie dahin gekommen war , wußte sie selber kaum , nur daß sie einen endlosen Tag immer weiterfuhr und fremde Menschen wie in weiter Traumferne sprechen hörte . Sie fühlte nichts wie einen schweren Druck im Kopf und folternde Schmerzen , die bis zum Hals hinaufstiegen , wie glühende Nadelstiche . Dann und wann hielt der Zug , und sie schrak aus dem Halbbewußtsein empor , sah ein Stück Tageswirklichkeit vorübergleiten , und verwirrte Gedanken wollten durch die Betäubung brechen . Dunkle Bilder der vergangenen Nacht zogen an ihr vorbei - schwere Donner rollten draußen im Finsteren , durch die Glastür flammten Blitze und drinnen taumelten zwei Menschen durch Abgründe von Qual . - Reinhard stand vor ihr , schüttelte sie : " Besinne ' dich doch , sage mir , daß alles Wahnsinn ist . " Waren sie nicht beide wahnsinnig geworden ? Saßen sich mit irren Blicken gegenüber und redeten zerrüttete , unmenschliche Dinge ? Und eine spukhafte , verzerrte Wirklichkeit um sie her ? Sie hörte seine Stimme , die nur noch wie dumpfes Stöhnen klang , und ihre eigene in gebrochener Klanglosigkeit : " Nein , es ist wahr , Reinhard , es ist wahr , es ist alles wahr . " Dann wieder lag sie im Lehnstuhl , er drüben auf dem Bett in betäubtem Schlaf - die Nacht war vorbei , und der Morgen brach durch die Scheiben - : ein blutiger , zerstörter Morgen . Sie versuchte sich aufzurichten , zu atmen - ihr Körper war wie in glühendes Eisen eingeschnürt . Wieder hielt der Zug , Menschen kamen und gingen , für einen Augenblick zerrissen die tanzenden Gewebe vor ihren Augen - gegenüber war ein Platz frei geworden und Ellen versuchte , die Füße hinaufzulegen . " Es geht nicht " , sagte sie ganz laut , und immer wieder schlug ihr Kopf gegen etwas an . " Sind Sie krank ? " sagte eine fremde Stimme . Sie sah sich um , da saßen zwei junge Mädchen und ein Mann - große , weiße Strohhüte flatterten wie Vögel . Jemand schob ihr ein Kissen unter den Kopf . Ellen schlief und wachte auf , schlief wieder ein , das Kissen verschob sich und wurde zurechtgerückt . Einmal fiel es ganz hinunter , sie schlug die Augen auf und fragte : " Ist es schon Abend - gibt es denn kein Wasser ? " Dabei fühlte sie , wie ihre Zähne aufeinanderschlugen . Dann gab man ihr etwas zu trinken , aber es war nur Feuer , was sie hinunterschluckte . " Sie haben ja Fieber " , sagte wieder die Stimme , oder waren es viele Stimmen , und eine Hand legte sich um ihre . Ellen fühlte , wie ihre Adern gegen die fremden , kühlen Finger hämmerten . Endlich stand der Zug still - in München . Über dem Menschengewühl in der Halle strich kühle Nachtluft . Ellen wußte jetzt plötzlich wieder , wo sie war - , daß jede Bewegung ihr weh tat und der brennende Durst ihr die Sprache raubte . Ein fremder Herr sorgte für ihre Sachen und brachte sie die wenigen Schritte bis zum Hotel . " Ich danke Ihnen " , sagte sie und fühlte , daß ihr Tränen übers Gesicht liefen . Irgendwie kam sie dann die vielen Treppen hinauf in ein Zimmer und lag im Bett . Wieder war es Nacht , und sie wußte nicht , ob sie schlief oder wachte . Immer wieder kam derselbe Traum - , als ob sie von einer schwindelnden Höhe hinunterstürzte , ihre Glieder zerrissen und zerschellten , wollten sich wieder zusammenfügen und rieben sich gegeneinander wie mit lauter schmerzenden Stacheln . Dabei lag sie auf einer wogenden Maße , die sich hob und senkte - , im Kreise drehte . Das hörte nicht auf , begann immer wieder von neuem , bis alles in Fieberdelirien untersank . Der Sommer ging zu Ende , und Ellen lag immer noch im Krankenhaus . Schwer und langsam gingen die Nächte hin , unter quälenden Vorstellungen , die sich immer wiederholten - eine unabsehbare Leiter mit hohen , schmalen Sprossen , die sie hinaufsteigen mußte , und bei der leisesten Bewegung wachten die zerrenden Schmerzen wieder auf und verscheuchten den Schlaf . Dann lag sie und sah nach der Tür , fühlte etwas wie Erleichterung , wenn sich von draußen ein Lichtschimmer nahte und die Schwester kam in ihrem friedlichen , weißen Schleier , das Nachtlicht in der Hand , und ihr wieder frisches Eis brachte . - Und so von Stunde zu Stunde , bis es Morgen war , dann wandte sie mühsam den Kopf nach dem Fenster und sah , wie es über Dächern und Bäumen allmählich heller wurde , lauschte auf jedes Geräusch im Hause , wie die Türen gingen , die Schwestern von der Messe die Treppe heraufkamen , alles wieder erwachte aus der tiefen Stille . Am späteren Vormittag kam der Arzt , manchmal brachte er noch andere mit , sie standen am Bett , stellten Fragen und redeten untereinander . - Dann war Ellen wieder allein , während die wechselnden Tagesstimmungen vorüberzogen da draußen , die Herbstsonne leuchtete oder Regenwolken tropften , hier und da zog auch noch ein verspätetes Gewitter herauf . Nachdem die ersten , fieberheißen Tage vorüber waren , hatte sie immer wieder gefragt , wann sie wieder aufstehen könne , und wurde von Woche zu Woche vertröstet . Jetzt war schon lange nicht mehr die Rede davon , und Ellen fragte auch nicht mehr . Sie begann , sich an dies stille , weltferne Dasein zu gewöhnen , das ihr ein tiefes , langes Ausruhen brachte und einen milden Schleier über Leid und Freude legte . Ihr schien jetzt , als läge schon eine unendlich lange Zeit zwischen dem Jetzt und jener Gewitternacht in Bozen - der Aufschrei war verhallt und nur noch ein mattes , sehnendes Weh zurückgeblieben . Noch einmal hatten sie und Reinhard sich wiedergesehen , er war an ihr Krankenlager gekommen , als er durch den Arzt erfuhr , daß sie wohl hoffnungslos daläge . Und als er sie dann so wiederfand , in einem engen , heißen Hotelzimmer , sie ihn aus starren , tiefliegenden Augen ansah und kaum erkannte , da schwieg sein eigener Schmerz und sein Groll . Er brachte sie ins Krankenhaus und blieb bei ihr , bis die erste Gefahr vorüber war , und selbst dann fand er keine harten Worte mehr . Sie hielten sich lange an der Hand zum Abschied - , es war nicht mehr Ellens Schuld , die sie voneinandergerissen hatte - , sie glaubten beide das Schicksal zu fühlen , das dunkel über ihrem Leben war , eine fremde , unerbittliche Macht , der sie Hand in Hand gegenüberstanden . Oft gingen jetzt ihre Gedanken zu ihm hin ; ihr Heim war für immer verloren , das wußte sie wohl , aber es war doch wie ein großes Geschenk , daß er so von ihr geschieden war ohne Haß und Zorn . Und wie ungeheuer mußte seine Liebe gewesen sein , daß er so bis in die letzten Tiefen zu verstehen mochte - und wie einsam lag der Weg jetzt vor ihr ohne ihn und alles , was er ihr gewesen war . Aber es kamen auch Tage , wo sie daran dachte , wie jung sie noch war , und was noch alles vor ihr lag - , wo sich die Zukunft in goldene Fernen weitete - leben und schaffen . - Die Gesunden kamen zu ihr herauf in das stille , weiße Zimmer , die alten Freunde , und sprachen davon , wenn Ellen erst wieder mit ihnen arbeiten würde . Johnny brachte ihr Blumen , alle verwöhnten sie und wunderten sich im stillen , daß Ellen dies lange Krankenlager so ruhig ertrug . Sie wußte wohl selbst nicht , wie es um sie stand . So war allmählich fast ein Vierteljahr dahingegangen , und sie war immer noch kaum imstande , sich aufzurichten ; dann standen eines Vormittags wieder die Ärzte um ihr Bett - , sie gingen zur Beratung hinaus , und einer kam zurück , um mit ihr zu reden . Ellen drang selbst in ihn um volle Wahrheit . Ihr waren schon lange manche bange Ahnungen gekommen - , aber dann traf es sie doch wie ein Donnerschlag : nur , wenn sie sich einem schwierigen und gefährlichen Eingriff unterziehen wollte , so wäre auf Besserung zu hoffen . Gewißheit könne man ihr vorher nicht geben - , sie sollte sich alles wohl überlegen . " Und sonst ? " fragte Ellen . Ja , sonst hätte sie wohl nur ein unabsehbares Siechtum zu erwarten - ein jahrelanges Krankende sein - vom Bett auf das Sofa und wieder zurück . Der Arzt sagte das alles so schonend wie möglich - er wußte manches von ihrem Leben und daß sie ganz alleinstand . Aber sie ahnte wohl , daß es noch nicht die volle Wahrheit war - in seinem Gesicht glaubte sie ihr Urteil zu lesen und etwas von dem Mitleid , das der Arzt nicht sehen lassen darf - Mitleid mit dem Verurteilten . In dieser Nacht kämpfte sie einen harten Kampf . Daß sie schwerkrank war , hatte sie wohl gewußt , und anfangs war auch manchmal der Gedanke an den Tod gekommen , an ein langsames Verlöschen bei halbem Bewußtsein . Aber mit dieser schreckenden Klarheit war er noch nie vor sie hingetreten - sie hatte sich ja nur mit Geduld in das lange Daliegen gefunden , weil sie immer wieder dachte , es müßte doch endlich der Tag kommen , wo sie wieder hinauskönnte ins Leben . Nein - nicht sterben , nur nicht sterben - sie hatte noch nicht entsagt , hatte noch wieder hinaustreiben wollen auf das ruhelose Meer von Hoffnungen und Möglichkeiten . Sie - Ellen Olestjerne - mit ihren dreiundzwanzig Jahren , die mehr vom Leben verlangte als viele andere , die noch so viel schaffen und gewinnen wollte - , und das sollte nun das Ende sein von allem . - Immer wieder sagte sie es laut vor sich hin : das soll nun das Ende sein . - Und doch war sterben noch nicht das Schlimmste - , wenn sie sich nicht entschließen konnte , den Kampf zu wagen , dann erwartete sie das andere : jahrelanges Siechtum , hatte er gesagt , das bloße Wort war schlimmer wie zehnfacher Tod - sich herumschleppen vom Bett zum Sofa , vielleicht auch einmal bis ans Fenster - mit den ewig bohrenden und zerrenden Schmerzen - nichts mehr tun , nichts mehr wollen können und dabei verfallen , häßlich werden , Falten bekommen , langsam zum Skelett werden , bis auch das zusammenbrach . - Der Gedanke schüttelte sie wie etwas Widersinniges , Wahnsinniges , Unfaßliches . Was hatte sie nicht schon alles hingegeben in dem unbändigen Drang nach ihrem innersten Selbst , das so viel zum Opfer wollte - Heimat , Geschwister , selbst den Bruder , den sie so sehr liebte , denn der war schließlich auch von ihr gegangen zu den anderen - den Mann , dem ihre erste große Leidenschaft gehörte - sein Kind - Reinhard - alles , alles von sich geworfen , ihr war , als ob sie immer nur über Leichen hinweggegangen sei - , um schließlich vor ihrer eigenen anzukommen , und daneben stand das Schicksal und grinste sie eisig an : Es ist noch nicht genug - jetzt nehme ich dir auch noch deine letzte Kraft , deinen jungen Körper , der noch blühen wollte , deine jungen Jahre , die noch heißes Verlangen trugen - , und schlage dich zum Krüppel . Ohnmächtig sollst du vor mir daliegen , und es war alles umsonst . Und sie konnte nicht einmal aufspringen , um sich zu wehren oder zu fliehen . Was half es ihr , wenn sie die Fäuste zum Himmel ballte und ihrem Geschick fluchte ? - Nein - kraftlos daliegen und warten , bis der Schlag sie traf oder an ihr vorbeiglitt . - Wie hatte sie nicht schon warten gelernt - auf Gesundheit und auf die Rückkehr zum Leben , aber auf den Tod warten , auf den wirklichen oder den anderen - den Tod bei lebendigem Leibe - , das war eine fürchterliche , verzehrende Geduld , die sie noch zu lernen hatte . Als der Arzt am nächsten Morgen wiederkam , stand Ellens Entschluß fest , sie wollte nun alles so rasch wie möglich festgesetzt haben . Aber es hieß noch eine Reihe von Tagen warten und sich zur Ruhe zwingen . Draußen war immer noch Sonnenschein und goldene Tage . Ellen meinte noch nie einen so lichten , strahlenden Herbst gesehen zu haben , es schien ihr fast wie eine gute Vorbedeutung , und mit der Entscheidung kam allmählich eine Art Zuversicht über sie . Manchmal lag sie lange da und betrachtete sich in ihrem Handspiegel - nein , sie sah noch nicht aus wie ein zerstörter Mensch . - Sonnenkind , so nannte Johnny sie - ja , sie hatte eigentlich immer noch ein Kindergesicht , nur etwas schmaler war es geworden , aber keine Leidenszüge . Am letzten Tage kamen viele von ihren Bekannten mit dem verborgenen Gedanken , sie vielleicht zum letztenmal zu sehen , Schwester Maria fragte , ob sie nicht doch mit einem Geistlichen reden wollte - und dann Johnny - er legte ihr einen Haufen Rosen aufs Bett , seinen Kopf dazu , und Ellen glaubte zu sehen , daß er weinte . " Aber Johnny " , sagte sie , " was habt ihr alle ? - Tut , als ob ihr mich schon begraben wolltet , und ich denke ja gar nicht daran zu sterben . " Jetzt , wo es so dicht vor ihr war , fand sie beinahe etwas Festliches in der Gefahr und gewann ihre alte Fähigkeit wieder , über alles zu lachen . Es war ein trüber , grauer Nachmittag , und die ersten Schneeflocken trieben gegen die Fenster , als Ellen aus langer Betäubung wieder erwachte - wie durch einen Nebel sah sie Gesichter um sich her , dann sank sie wieder in den Nebel zurück , und es kam eine lange , halb bewußtlose Nacht - neben ihr die Schwester - ihre weißen Schleier schwankten hin und her wie große Flügel - - noch mehr Tage und Nächte - ein Gewirr von neuen wühlenden Schmerzen , schreckhaften Träumen und sengendem Durst - ein dumpfes , willenloses Ringen gegen unerträgliche Pein und dann wieder Zurücksinken in die milde Morphiumbetäubung . War das noch Leben oder war es schon Todeskampf ? Am ersten Morgen , wo sie wieder klar um sich sehen konnte , war ihr zumute , als sei sie schon weit fortgewesen , in dem dunklen Land , aus dem keiner mehr zurückkommt - und ein seltsames Gefühl von Erdenfremdheit durchzog sie , als ginge es sie nichts mehr an , ob sie wieder zu den Lebenden gehören sollte . Dezember 93 Den ganzen Tag in alten Briefen gelesen und zuletzt in meinem einstigen Münchener Tagebuch - bis dahin , wo es plötzlich abbricht ... Seither habe ich nie wieder geschrieben , es taumelte alles zu überstürzend rasch an mir vorbei und über mich weg , von einer Katastrophe zur anderen , bis zu der langen Ruhezeit im Krankenhaus . Danach kann ich mich oft noch zurücksehnen - mein Gott , es war nicht leicht , von der stillen Zeit Abschied zu nehmen und so mit halben Kräften wieder hinaus - sich am Stock herumschleppen wie ein Krüppel . Und wo mich Bekannte sehen , dies Erstaunen - man hat ja immer nur gehört : mit der ist_es aus . Es kommt mir beinahe vor , als wären sie enttäuscht , wenn einer wieder aufersteht von den Toten . - Und diese endlosen Fragen , warum ich immer noch hier bin , nicht bei meinem Mann . - Das weht einen so kalt und feindlich an , man möchte seine Habe auf den Rücken nehmen und davongehen - Gott weiß wohin . - Aber ich hätte es mir vorhersagen können . - Und wenn ich so dasitze und meine Umgebung ansehe , in der ich jetzt lebe - dies kleine , enge Atelier mit dem Feldbett und dem großen Tisch , weiter ist fast nichts darin - , da kommen so allerhand Gedanken . - Ja , ich bin jetzt nicht mehr die verwöhnte junge Frau , der man jeden Wunsch an den Augen abliest - , und auch nicht mehr die unverwüstliche Ellen früherer Tage , der die größte Misere am lustigsten schien . Der schwerste Kampf wird jetzt erst beginnen , wo ich ihm eigentlich nicht mehr gewachsen und schon recht kampfmüde bin . Da steht der Stock neben mir - der Stab Wehe - mein guter Doktor versichert mir , daß ich mit der Zeit wieder würde gehen können wie andere Menschen , aber dann redet er auch von Schonung und Pflege und ist entsetzt , wenn er hier heraufkommt : " Kann denn niemand etwas für Sie tun ? " - Aber das kann ich ihm nicht auseinandersetzen - - Reinhard tut immer noch für mich , was er kann , aber die Krankenzeit hat mehr verschlungen , wie ich ihm sagen möchte , und noch Schulden von früher her . - Es kommt eine ziemliche Misere dabei heraus . Nur gut , daß wir immer zwei sind , die Dalwendt ist jetzt auch ganz auf sich selbst angewiesen , und wir teilen gute und schlechte Tage wie früher . Alles in allem bin ich ja gerade dahin gelangt , wo ich wollte , mein Leben gehört nur noch mir , ich kann daraus machen , was ich will . Ich bin auch noch jung genug - wie viele fangen in meinem Alter erst an hinauszukommen . Wenn ich daran denke , wie ich mich in ganz jungen Jahren fürchtete , ich möchte nicht genug erleben ! - Jetzt liegt viel hinter mir in den kurzen Jahren . Die alten Briefe haben mich heute ganz wehmütig gemacht - Detlev , Friedl und all die anderen . - Wir waren ja noch halbe Kinder damals , in unserer Begeisterung und unserem Pathos , fühlten uns als die Vorkämpfer einer neuen Zeit - jeden Augenblick wären wir bereit gewesen , uns dafür zu opfern . Ich weiß wenig davon , was aus ihnen allen geworden ist und wie weit sie dem Damals " treugeblieben " sind . - Aber wer mag so dafür geblutet haben wie ich ? - Ja , " der letzte Mut zu sich selbst " - ein blutiger Weg , der dahin führt - , der die Füße wund und müde macht . Und manchmal möchten Heimweh und Sehnsucht rufen : Komme zurück ! - Als ich anfing , mich zu erholen , den ganzen Tag im Lehnstuhl am Fenster saß und daran dachte , wie Reinhard jetzt einsam ist und sich vielleicht noch nach mir sehnt - , da haben sie oft nach mir gerufen - - Aber dann der erste Besuch bei Johnny - , er trug mich die Treppe hinauf , die ich so lange nicht mehr gegangen war - , und da droben , wo alles an unsere wilden Stunden erinnerte - , da fühlte ich wieder den heißen Hauch der Stürme , die draußen wehen , wo man frei ist . Die am warmen Kamin sitzen , wissen nichts davon - nur wir , die auf der Landstraße gehen . Januar 94 Endlich kann ich wieder etwas an die Arbeit , und der Stab Wehe ist verbannt . Allmählich fangen nun die Erfahrungen an , die man mir früher so oft weissagte - , daß wir nie ungestraft vom geraden Wege abweichen dürfen . - Ich wollte in unsere frühere Malschule eintreten , aber man hat etwas von Ehescheidung gehört und erhebt Bedenken . - So bin ich denn in eine andere gegangen , wo es nicht so strenge genommen wird . Und das andere ist dem gleich . - Bei meinem ersten Münchener Aufenthalt verkehrte ich noch in einigen Familien - trotzdem ich damals doch ein ziemlich extravagantes Leben führte , aber man wußte nicht , wie weit es in Wahrheit ging , und vor allem wußte man , daß ein geachteter Mann in sicherer Stellung mich heiraten wollte . - Eine Mittelsperson macht mich jetzt schonend darauf aufmerksam , daß man an mir irre geworden sei - aus dem , was sie sagt , fühle ich wohl heraus , daß ein offenes Bekenntnis vielleicht alles wieder gutmacht - man könnte ja vielleicht eingreifen , helfen - tout comprendre et tout pardonner - man weiß ja nichts Genaues . Aber ich danke schön - ich suche niemand mehr auf , der nicht zu mir kommt . Es wacht etwas von dem alten Ibsenklubgeist in mir auf . Wenn mir etwa Steine in die Fenster fliegen sollten , so werde ich sie mit Vergnügen aufsammeln und für meine Kinder aufheben . - Ich habe eine stille Freude dabei , all diesen guten Leuten in Gedanken die Tür recht weit aufzumachen . 2. Februar Diesen Winter hat sich eine etwas merkwürdige Freundschaft angeknüpft - ich war abends bei strömendem Regen in der Stadt , wollte beim Marienplatz in den letzten Fiaker steigen . Als ich ankam , stand schon jemand daneben , will mir aber aus Höflichkeit den Wagen überlassen , hält sogar seinen Regenschirm über mich . Mir machte das so tiefen Eindruck , daß ich sagte , er könne ja mitfahren , wenn wir denselben Weg hätten . Das Ende war , daß wir dreimal zwischen dem Hoftheater und dem letzten Stück der Theresienstraße hin- und herfuhren und uns noch nicht darüber geeinigt hatten , wer wir eigentlich wären . Dann trafen wir uns am Weihnachtsabend wieder auf der Straße , hatten beide nichts anderes vor und feierten ihn zusammen in einer Weinstube , gerieten so tief in ein Gespräch über Boheme , Gesellschaft , guten Ton und Etikette , daß wir eine Stunde vor meiner Haustür standen und ich ihn schließlich zu einem Kaffee bei mir einlud . So ähnlich hat sich unser Verkehr dann weitergesponnen , er kommt oft abends zu mir herauf , und wir schwätzen die halbe Nacht durch - trotz allem guten Ton , an dem wir übrigens aufs strengste festhalten . Denn unser Benehmen ist tadellos korrekt in Gedanken , Worten und Werken , man könnte es eigentlich nicht einmal Freundschaft nennen , wir verkehren nur wie zwei liebenswerte Eisblöcke , die irgendwelchen Gefallen aneinander finden . Bel-ami - den Namen hat er bekommen , wie ich seinen wirklichen noch nicht wußte - gehört der sehr guten Gesellschaft an - ist immer sehr elegant und scheint ein ziemlich unruhiges Leben zu führen . - Jetzt im Karneval , kommt er einmal im Frack , einmal in irgendeiner Maske zwischen zwei Festlichkeiten bei mir angestürzt , um sich auszuruhen . Wir suchen erst lange nach einem geeigneten Platz für seinen Zylinder , dann sitze ich auf dem Bett , er auf dem einzigen Klappstuhl und erzählt mir seine Erlebnisse . Einmal schlief er dabei im Stuhl ein - und entschuldigte sich wenigstens drei Stunden lang . Ich versicherte ihn meiner Nachsicht , und so ist es allmählich Brauch geworden , daß er bei mir seine nächtliche Siesta hält . Ach , dieser Karneval ! Wenn ich Bel-amis Schlaf bewache oder Johnny zu irgendeinem Fest schminken und kostümieren helfe , da wird es mir doch manchmal arg schwer , immer zu Hause zu bleiben - aber dies Jahr darf ich nicht tanzen - wer weiß , ob später . März Nun ist bald Frühjahr - und dann geht Johnny fort - vielleicht auf Jahre . Aber wir sind beide sehr tapfer und machen uns keine Abschiedsschmerzen . - Eigentlich sind wir überhaupt sehr weise , nehmen das Leben nun von der Sonnenseite , soweit es uns zusammen angeht . Wir wissen wohl , was der andere an trüben und schweren Sachen zu tragen hat ; aber das behält jeder für sich . Es gibt keine abgründigen Gespräche zwischen uns über Seelenzustände und dergleichen , aber auch keine Verstimmungen und keine Szenen . Der Tag gehört jedem allein und der Tagesordnung , die man nie miteinander teilen sollte . - Wir kennen eben alle Weisheiten . Und Eifersucht , ich glaube , davon wissen wir auch nichts . Oder doch - ich fühlte so etwas , weil er ein Kind hat . Sonntags kommt die Mutter manchmal damit , um es ihm zu zeigen - einmal auch , wie ich da war . Und dabei wurde mir ganz weh - man hat mir gesagt , daß ich wohl nie eins haben werde . Und wenn ich dann solche kleine Wesen sehe , schmerzt mich das Gefühl , daß es eine Sehnsucht gibt , die mir nie erfüllt werden kann . Aber Johnny hat mich furchtbar ausgelacht , als ich ihn bat , er sollte es mir schenken . August Lange , lange nichts aufgeschrieben - daran kann ich selbst immer messen , ob mein Leben still und einsam gewesen ist , oder ob es mich mitgerissen und durchgeschüttelt hat . Ich bin viel gesünder , seit ich draußen auf dem Lande bin , Male den ganzen Tag . - Und doch denke ich immer wieder , daß ich nicht lange leben werde - , daß es mich doch wieder hinwerfen könnte und ich mich eilen müßte . Dann kommt ein förmliches Fieber über mich , ich möchte in jeden Tag hineindrängen , was er nur fassen kann , an heißer Arbeit und heißem Leben . Wenn ich mein Tagebuch lese - das klingt alles so , als ob ich immer in tiefer Melancholie herumginge und der dunkle Hintergrund nie ganz wiche . Und dabei gibt es keinen Menschen , der so viel lacht wie ich - niemand glaubt , daß ich auch nur einen Tag ernst oder traurig sein könnte , oder daß mir irgend etwas tief geht . Ich begreife es ja auch selbst manchmal nicht völlig , daß ich immer noch ganz dieselbe bin . Aber immer noch könnte ich für einen Moment der Freude meine ewige Seligkeit verkaufen . - Ich könnte es nicht nur , ich tue es auch . Seit Johnny fortging , ist es fast wie das Leben im herumziehenden Zigeunerwagen , das ich mir als Kind träumte - von einem Ort zum anderen und über dem Hier das Dort vergessen . Nur immer weiter , nicht rückwärts sehen und nicht vorwärts , den Zufall als Gott anbeten und ihm opfern . Ich denke oft daran , wie ich als Kind war . Ich dachte mir immer , mein Leben müßte etwas ganz Besonderes werden , und später auch noch : Ungeheure Dinge leisten , in der Kunst , in allen möglichen Verwegenheiten , am liebsten hätte ich auch Seiltanzen und Akrobatenkünste gelernt , überhaupt alles können , alles beherrschen . Und vielleicht wäre ja auch allerhand daraus geworden , wenn sich nicht von Anfang an alles dagegen gestemmt hätte . Zu Hause - ich kann meine Eltern doch heute noch nicht recht begreifen - ; Eltern sollen doch froh sein , wenn ihre Kinder viel wollen , und sie sind immer nur entsetzt . Ich habe wohl kein Wort so gehaßt wie das : Es geht nicht . - Es ist das unwahrste Wort , das es gibt . Und später , ja , hätte der liebe Gott mir nicht dies Kranksein geschickt , mir wieder eine Kette an den Fuß gehängt - - , denn darüber gibt es wohl keine Täuschung : Ein ganz gesunder Mensch werde ich nie wieder , wenn ich auch nach außen hin so tue und so lebe . Und das ist doch das einzige , wirkliche Unglück , das einen treffen kann . Aber ich habe immer noch nicht gelernt zu sagen : Es geht nicht . September Zwischendurch ein paar Tage in der Stadt . Ein Abend mit Bel-ami . Der ist wie ein Anker in der Brandung , er weiß wohl ungefähr , wie ich lebe , aber wir reden nicht davon . Wir zwei verlieben uns nicht ineinander , auch nicht vorübergehend , kommen uns auch freundschaftlich nicht näher , es liegt eine weite Ferne zwischen uns , und die geringste Übertretung würde alles zunichtemachen . Er schlief wieder ein auf seinem gebrechlichen Lehnstuhl . Es wurde immer später , und ich versuchte ein paarmal , ihn aufzuwecken . Es ist etwas Eigenes , jemand schlafen zu sehen - bei diesem ist_es , als ob der wirkliche Mensch dann erst zum Vorschein käme , seine Züge bekommen etwas Zerwühltes , Gequältes , er sieht aus , als ob er nie jung und froh gewesen wäre . Ich weiß wenig von seinem Leben , aber ich denke manchmal , daß er ebenso ruhelos ist wie ich , sein Gesicht sagt es , wenn er schläft . Vielleicht hält uns das zusammen - , obgleich wir es uns niemals eingestehen würden . Schließlich werde ich auch müde , lege mich aufs Bett . Dann und wann wache ich auf und sehe mich um : dieser elende Raum ohne alle Behaglichkeit - der große , wüsste Tisch , auf dem all meine Sachen liegen , weil ich keine Schubladen habe - die Lampe mit dem zerrissenen , hellgrünen Schirm - aber doch liebe ich das Ganze , und es hat einen gewissen Zauber . Und drüben im Lehnstuhl schläft der ferne , fremde Mann . Beim Einschlafen geht mir durch den Sinn , wie schön doch diese unsere stillen Stunden sind - , daß ein Mensch zu mir kommt , um auszuruhen , und all das Schweigen zwischen uns beiden Ruhelosen . Erst am hellen Sommermorgen wachen wir auf , die Lampe brennt immer noch . Ich mache Kaffee , und nun kommt erst die Plauderstunde . Dann begleite ich ihn durch den Englischen Garten , er hat einen weißen Tennisanzug an und ich ein weißes Kleid - draußen ist alles so morgenfrisch und schön . November Nun wieder zurück von den Sommerfahrten , und der Herbst macht melancholisch . München verödet immer mehr ; dieses Jahr sind viele gegangen . Johnny , die Dalwendt - der Zarekkreis hat sich nach und nach aufgelöst , es ist nicht mehr das abenteuerliche Traumland von früher . Ich komme im Café mit allerhand Leuten zusammen , Malern , Literaten usw. , aber es ist eine ganz an derer Sorte Menschen . Es scheint mir beinahe , als ob inzwischen eine andere Zeit und eine andere Generation gekommen wäre . Es ist kein Sturm mehr darin , und all das Neue ist eben doch nicht gekommen . Diese Kaffeehausmodernen sind schon so mit allem fertig , was wir damals andächtig anbeteten , als ob man nun keine Andacht mehr brauchte , weil man die Kinderschuhe ausgetreten hat . Und im Grunde haben sie dafür nur Pantoffeln angezogen und bewundern nur mehr sich gegenseitig . Oh , diese vielen ernsten Gespräche , was der eine als Künstler will und wie der andere das Leben anfaßt usw . Ich bin doch , weiß Gott , noch nicht so alt , daß mir alles in der Erinnerung anders aussieht , aber diese Leute scheinen mir so abgelebt und greisenhaft gegen die , mit denen ich jung war , sogar auch gegen unsere Zareckboheme vor drei Jahren . Sie wollen auch nicht mehr Boheme sein , jeder hat seinen schwarzen Rock und geht auf jours , um über Kunst und Kultur zu reden . Man soll es doch nicht ganz mit der Gesellschaft verderben , denn sie hat die Übermacht behalten , und es ist gescheiter , sich eine Tür offen zu halten . Ach , wie hätten wir den totgelacht , der auf einen jour gegangen wäre . Neujahrsabend Wenn doch Bel- ami noch käme , um mir die schwarzen Gedanken etwas zu vertreiben , und wenn er nur ganz ruhig dasäße und kein Wort sagte . Aber es ist alles still , und ich bin allein . Seit Tagen schon nicht mehr ausgegangen , es hilft nichts , gegen diese Kraftlosigkeit und Erschöpfung anzukämpfen , es hilft nichts , daß ich mich nicht ergeben will . Warum man wohl an solchen Tagen immer so sehr zu Betrachtungen aufgelegt ist - , aber es scheint eine alte Gewohnheit , die schwer loszuwerden ist . Immer wieder muß ich an Reinhard denken , vor zwei Jahren waren wir an dem Abend noch zusammen - , und weiter zurück - zu Hause - die Geschwister . - Vielleicht denken sie manchmal noch an mich , wie an jemand , der lange gestorben ist . Und ich sitze hier , halbkrank , in dem elenden Raum , wo das Schneewasser durch die Scheiben läuft , und wo alles zu sagen scheint : Was führst du für ein Dasein ! Und ich bin noch jung - aber alles , was ich hoffen und wünschen könnte , ist untergraben durch diese elende Kraftlosigkeit . Es hat längst zwölf geschlagen , lärmende Menschen kommen unten in der Straße vorbei , dann ist es wieder ruhig . - Mir ist , als ob mein eigenes Leben mir hier in der Totenstille gegenübersäße - so haben wir beide schon oft Zwiegespräche gehalten , mit bangen schweren Fragen . Wenn ich an die eine Hoffnung glauben könnte , die ganz leise und ganz ferne aufdämmern will , aber ich habe nicht den Mut dazu - , als ob sie dann zerrinnen müßte wie alles andere , wenn ich nur den Blick nach ihr wende oder nur eine Hand rühre . Mitte Januar Nun schon seit Wochen so hinliegen . - Wollte ich mir meine ganze Verzweiflung eingestehen ! Wozu immer wieder sich aufraffen , wenn doch alles umsonst ist . Als ob ein Gespenst mich vor meinen eigenen Augen hinwürgte - ich kann nicht leben und nicht sterben . Heute habe ich mir mit vieler Mühe den Lehnstuhl ans Fenster geschleppt - es ist ein wahres Ereignis , einmal den Platz zu verändern , in den Hof hinauszusehen , wo ein paar Knechte Holz hacken und der Schnee von den Dächern rinnt . Alles trüb und grau , weiche , drückende Vorfrühlingsluft , über dem Kohlenschuppen graugelbe Häuserwände - so einer von den Tagen , wo man sehnsüchtig von Luft und Licht träumen möchte wie ein Gefangener . Ja , was ist das für ein Dasein , wenn man krank ist - morgens liege ich lange im Bett , nur um nicht in den Tag hinein zu müssen . Dann mit dem Hammer dreimal an die Wand klopfen , bis der alte Hausmeister kommt , um Feuer zu machen . Er läßt die Tür offen , und sie knarrt , daß ich weinen möchte , dann fliegen die Späne durchs Atelier , und dabei unterhalten wir uns über das Elend im Leben - drüben liegt seine Frau schon seit Monaten krank . Die beiden Alten sind wie eine Art Familie für mich . Dann bringt er mir den Kaffee , der auf meinem schwarzen Koffer serviert wird , weil kein anderer Platz da ist . Ich stehe allmählich auf , alles ist in Unordnung , nichts da , was ich brauche . Mein roter Schlafrock ist mein einziger Trost , der sieht wenigstens aus , als ob man bessere Tage gekannt hätte , wenn ich die alte Frau drüben besuche , findet sie mich sehr schön . 15. Februar Heute kommt mein Doktor wieder - sieht mich sehr ernst an . Ich habe doch recht gehabt - , die Hoffnung , an die ich nicht zu glauben wagte - - Ein Kind , mir ein Kind - , am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen . - Das war die erste frohe Stunde seit langer Zeit , und ich kann es immer noch nicht begreifen . März Und nun sind mir alle Stunden froh - der lange Tag und die lange Nacht ; ich möchte immer nur daliegen und auf die leise , ferne Stimme horchen , die mir von einer namenlosen Sehnsucht und einem namenlosen Jubel redet . Und die Mattigkeit , die Ohnmachten , das stundenlange Augenflimmern morgens beim Aufstehen - all diese fast unerträglichen Gefühle , die ich früher schon einmal gekannt habe , jetzt erkenne ich sie mit Freuden wieder . - Es ist nicht mehr das Gespenst der Krankheit , vor dem ich mich so entsetzlich fürchtete - jetzt ist es der Ruf zum Leben . Ich bin wohl ungeduldig , daß bessere Tage kommen , aber sie müssen ja bald kommen . 30. März Wie oft denke ich jetzt zurück - an Henryk . - Ich begreife es nicht mehr , daß ich mich damals so in Angst und Verzweiflung hineinjagen ließ . Ich war selbst ein hilfloses Kind , es schlug mir alles über dem Kopf zusammen . Nach außen hin ist meine Lage vielleicht noch schlimmer - ich weiß keine Hand , die sich mir bietet , nach der ich greifen könnte . Ich weiß nur , daß ich Mutter werden und daß mein Kind mir ganz allein gehören soll . Es ist ein seltsames Gefühl , wenn der Körper sich so verändert - etwas schwermütig und süß Geheimnisvolles und wie Andacht , wenn man fühlt , wie das kleine Leben sich von Tag zu Tag deutlicher regt - ich möchte nur darauf lauschen dürfen - nichts mehr tun , nichts mehr denken . 31. März Ich lebe wieder mein gewohntes Leben , die Kräfte kommen wieder , aber damit auch eine körperliche Verzagtheit und Ratlosigkeit , über die ich schwer Herr werden kann . Ein unaufhörliches Hin- und Herdenken : Was soll ich nun tun ? Es dauert nicht lange mehr , so weiß es alle Welt , die Leute im Hause , in den Läden , wo ich täglich einkaufe , an denen ich vorübergehe , alle werden mich anstarren , mein Geheimnis herumzerren . Mein Gott , bin ich feige - , aber ich möchte nur fort von hier , weit fort , wo mich niemand kennt . Dabei der ewige Kampf mit der äußeren Not , mit den Schulden , die sich immer höher türmen . Der Hausbesitzer will mich vor die Tür setzen , denn die Miete steht seit einem Vierteljahr aus . Alle paar Tage kommt er herüber , in der Soutane und mit seinem Rosenkranz , denn er ist Priester . Auf meiner Staffelei steht ein angefangenes Porträt vom letzten Winter ; ich vertröste alle , die um Geld kommen , darauf , daß ich für das Bild sehr viel bekommen werde . - - So geht es von Tag zu Tag . Inzwischen hat sich auch wieder ein kleiner Kreis von Bekannten gesammelt , denen es ähnlich geht - Ateliernachbarn und andere . Wir haben einen gemeinsamen Mittagstisch bei mir , sie kommen zu allen Tageszeiten , machen Musik und Lärm und versuchen mich aufzuheitern , wenn ich traurig bin . Und abends Bel-ami - ich habe es ihm gesagt . Er sieht sich in meinem Atelier um : " Ja , um Gottes Willen , was wollen Sie denn mit einem Kind anfangen ? " Dann redet er davon , daß es meine Lage nach allen Seiten hin erschweren würde , und daß es doch eigentlich ein Verstoß gegen den guten Ton sei . Er hat sich so viel Mühe gegeben , mich etwas zu erziehen . Ich lache wohl , aber mir ist das Herz so voll , daß ich kein Wort herausbringe von allem , was ich sagen wollte . 2. April An Reinhard geschrieben - ich konnte es nicht lassen . Bis vor einem halben Jahr haben wir immer noch Briefe gewechselt - jetzt schweigt er schon lange . Aber es war wie ein vermessener Glaube in mir , daß er vielleicht jetzt wieder mein Freund sein könnte , mir selbst kommt die ganze Welt so verwandelt vor - in einem ganz neuen , weicheren Licht . Er hat kalt und hart geantwortet ; daß ich doch jetzt bedenken möchte , was ich mir und meinem Kinde schuldig wäre - den Vater zu heiraten . Mein Kind hat keinen Vater , es soll nur mein sein . Ich habe es selbst so gewollt - er ist schon lange fort , und ich würde ihn nicht zurückrufen , selbst wenn ich wüßte , wohin er gegangen ist . Dieser Mann gehört nicht zu meinem Schicksal . Aber der Brief von Reinhard läßt mir keine Ruhe - ich muß ihn noch einmal sehen , mit ihm sprechen , alles in mir schreit danach . Kein anderer Mensch hat so tief zu mir gehört und so tief in mich hineingesehen - keiner mich auch wohl so geliebt . - Ich will ja nicht seine Liebe wiedergewinnen , nur ihn noch einmal sehen und dann meiner Wege gehen . - Ich weiß ja , daß ich vielleicht sterben muß , wenn das Kind kommt - die Ärzte haben mir früher oft gesagt , daß ich mich der Gefahr nicht aussetzen sollte . 10. April Gestern abend zurückgekommen . - Wo war meine Besinnung , daß ich hinfuhr und nur daran dachte : morgen sehe ich ihn wieder und fühle noch einmal seine milde gute Hand . Und dann sein Telegramm : Wiedersehen ausgeschlossen . - Es ist wie eine ewige Wiederholung , die durch mein Leben geht . - Meine Mutter , die mir sagen ließ : Du gehörst nicht mehr hierher - ; dann Henryk - , aber der gab mir wenigstens noch die Hand . Und nun auch Reinhard , der mich geliebt haben will . - Das ist also immer das letzte , was Liebe geben kann ! - Sie wissen alle nicht , was Liebe ist - sind alle hart . Es war Sonntagmorgen und alle Glocken läuteten , ich wußte nicht wohin , um allein zu sein , und bin in eine von den großen Kirchen gegangen . Und da habe ich lange hinter einem Pfeiler gesessen und daran gedacht , daß wir beide ganz allein auf der Welt sind - ich und mein Kind . Wenn es wüßte , wie viel Liebe seiner wartet , mir war beinahe , als ob ich laut zu ihm sprechen müßte . 15. April Jetzt gilt es vor allem Arbeit suchen , mit der ich etwas verdienen kann - es hat sich auch allerhand gefunden - Schreibereien , eine Arbeit , die mir im Grunde nicht liegt und mich nicht freut . Aber was soll man machen ? Die Reise hat für diesen Monat alles verschlungen - ich habe nur noch eine Matratze zum Schlafen - alles andere ist ins Leihhaus gewandert . 25. - - Niemand weiß , wo ich bin . Ganz heimlich bin ich fortgegangen , ohne Abschied . - Nur Bel-ami war den letzten Abend noch da , wir saßen bis spät in die Nacht in dem leeren Atelier auf zwei Koffern . - Ob er etwas davon fühlte , wie bange und traurig mir war ? Und am nächsten Morgen fort , ganz allein . - Nur die alte Hausmeisterin weinte - ja , nun hätte sie niemand mehr . Ich sehnte mich so danach , ganz allein zu sein , aber nun weiß ich die Einsamkeit nicht zu ertragen - von einem Ort bin ich zum anderen gefahren , überall kam es mir unerträglich vor , auch nur einen Tag zu bleiben - immer neue , fremde Gesichter , die mir von feindlicher Neugier erfüllt schienen , mich bis in die Träume hinein verfolgten . Ich will ruhig sein und nur an mein Kind denken . Aber das Heimweh reißt an mir , Heimweh nach jedem Stückchen Heimat , das ich jemals besessen habe - selbst nach meinem öden Atelier in München . Nur nach einem Fleck auf der Welt sehne ich mich , wo ich mich still und müde hinlegen könnte und nur ein Mensch um mich wäre , der mir ein gutes Wort sagt . Mir ist , als hätte ich die letzte Stätte verloren , keinen Boden mehr unter den Füßen - ganz allein auf öder Landstraße , mit dem ungeborenen Leben unter meinem Herzen . Und wir beide allen Stürmen überlassen - wohin werden wir treiben - wohin geht unsere Straße ? In einem kleinen abgelegenen Wirtshaus unten am See habe ich mich niedergelassen und gleich angefangen zu arbeiten , um die Gedanken niederzuzwingen . Dazwischen weite Gänge ins Land hinein oder den See entlang . Es hilft alles nichts - ich weiß nicht , warum diese rastlose , drängende Schwermut sich immer dunkler auf mich herabsenkt - , als ob alles Leid und Weh , das man jemals erlitten hat und noch erleiden kann , alle Schmerzen , die mir getan wurden , und die ich anderen tat , - jedes unerfüllte und unerfüllbare Sehnen - , als ob jede wehe Erinnerung und jeder ferne Klang sich zusammenballte zu einer unentwirrbaren , unerträglichen Qual , die keinen Lichtstrahl mehr durchläßt . - Warum es immer finsterer wird in mir , warum ich aufschreien möchte , wenn die Sonne scheint und der Frühling um mich her leuchtet ? Der Sturm der letzten Tage hat nachgelassen ; ich ging am See hin gegen Abend , und es kam wieder eine etwas mildere Stimmung über mich . Alles war so still : auf der einen Seite das weite , dämmernde Land mit seinen weißen Obstbäumen und zur anderen die blauen , verschwimmenden Ufer . Und doch immer wieder die Gedanken , die nicht weichen wollen - : wenn nun auch das Kind mir wieder genommen würde , oder ich selbst sterben müßte und es zurücklassen . Wäre es denn nicht besser , jetzt noch freiwillig hinabzugehen und es mit mir zu nehmen ? Manchmal ist mir , als ob ich hellsehend wäre und wüßte , daß es so kommen muß . Und wie eine Melodie , die mich nicht losläßt , klingt es in mir bei jedem Schritt : nur sterben , nur sterben . Ich horche in ewiger Todesangst darauf , ob das Kind sich regt in mir , und wenn ich es nur eine Stunde lang nicht fühle , dann glaube ich , nun ist alles vorbei und wir sind beide verloren . Sonntagnachmittag Der Anblick von Menschen macht mich krank , und heute kommen sie scharenweise hier heraus . Mir wird dann , als ob ich von Gefahren umringt wäre , mich verteidigen müßte , wenn ich nur ein fremdes Gesicht sehe . So habe ich mich in mein Zimmer geflüchtet - am offenen Fenster mit dem weiten Blick in sommerliches Grün . Ich sehe auf den langen , gewundenen Weg zwischen den Bäumen und denke daran - , wenn jetzt auf diesem Weg jemand zu mir herkäme und mich aus meiner einsamen Angst erlöste . Gegen Abend das Boot losgemacht und weit auf den See hinausgefahren , jetzt wieder oben - der Sonntagslärm schallt zu mir herauf , und da draußen die blütenweiße Sommernacht . Wenn man nur schlafen könnte , eine einzige Nacht ruhig schlafen . So kann es nicht weitergehen , oder ich treibe dem Wahnsinn zu - ich weiß es , fühle es , wie er mich immer mehr umfängt . Nur selten kommt eine klare Stunde wie jetzt , wo ich mir sage , daß das alles krankhaft ist - körperlich . Aber wenn ich es mir Tag und Nacht vorsagen wollte , es hilft nichts , es ist da , weicht nicht von mir . - Den ganzen Tag stehen mir die Augen voller Tränen , und meine Stimme versagt bei den gleichgültigsten Worten . Ich kann nicht mehr auf den See fahren , nicht mehr ans Ufer gehen , ich fürchte mich vor dem Wasser - , daß ich auf einmal die Besinnung verlieren und mich da hineinwerfen könnte , in die Tiefe , die nach mir ruft . Nein , ich muß mich retten vor diesem Ruf , sonst verschlingt es mich - mich und mein Kind . München , Juli Aus einer langen Nacht bin ich zurückgekehrt - war es nicht schon , als ob schwarze Totenhände mich umklammert hielten , sich immer fester krallten , bis das Bewußtsein sich unter ihrem Griff allmählich verwirrte ? Dann ließen sie langsam , langsam wieder los . Oft geht es noch durch dunkle Tiefen jetzt - , aber ich sehe das Licht wieder , und es scheint in mich hinein . Ich kann jetzt wieder lächeln über all die Schrecken , wie ein Arzt über die Einbildungen seiner Kranken lächelt . Das Leben wollte mich doch nicht von sich lassen , und es hat lauter gerufen wie all die schlimmen , dunklen Mächte . Mein Gott , wie rasch uns etwas Überwundenes in der Erinnerung fremd und unbegreiflich erscheint . Wer denkt , wenn die Sonne aufgeht , noch an die Gespenster , die ihn in der langen , schlaflosen Nacht marterten ? Er kann nur noch fühlen , daß die Welt sich in Klarheit verwandelt hat . Und so geht es mir jetzt - ich weiß nicht , wo die dunkle Angst geblieben ist und woher mir die tiefe Ruhe kommt - Ruhe in mir selbst , die ich nie gekannt habe . - Ich war der ruheloseste Mensch unter der Sonne , immer im Kampf , in tausend Kämpfen . Jetzt möchte ich nur still sein , und lauter neue Gedanken treiben in mir , wie Blüten , die man noch nie gesehen hat . - Wo waren sie vorher ? Wo war ich selbst und mein Leben ? Es rannte immer in die Irre und immer wieder durch lauter Stachelhecken , riß sich wund und blutete aus vielen Wunden - und ich stand daneben und sah ratlos zu und war verzweifelt , weil nie die Blumenwiesen kamen , die ich suchte . Warum haben wir als Kinder keine Lehrmeister , die uns lehren , mit dem Leben eins zu werden , warum haben sie uns immer nur gesagt , daß es Feindschaft und Kampf sein müßte , schwer und hart ? Das ist es nur , solange wir uns dagegen sträuben , taub und blind dahinrennen und nicht hören , was es uns sagt . Und wenn wir das einmal dunkel ahnen wollen , dann schreit so viel dagegen an , von außen her und von dem , was man jahrelang in uns hineingelogen hat , daß wir uns immer wieder von dem wirren Lärm betäuben lassen . Ich glaubte so mutig zu sein , weil ich ein paar Sprünge gemacht hatte , die nicht alle wagen - , aber wie elend verzagt bin ich dann oft dagesessen und habe an der Lektion herumbuchstabiert , die das Leben mir zu lernen gab - wie töricht habe ich gemeint , sie hieße Entsagung , Enttäuschung oder noch alles mögliche andere . Jetzt kommt es mir vor , als ob mit dem großen Rätsel , das sich in meinem Körper vollendet , auch all die anderen Rätsel sich lösten , als ob ich mit anderen Augen sähe , mit anderen Sinnen fühlte , und endlich fange ich an , lesen zu lernen . - - Ein kleines , enges Zimmer mit zwei Fenstern nach Süden - ohne Läden , die man gegen die Hitze schließen könnte - mein alter , großer Tisch , der fast den ganzen Raum ausfüllt - gegenüber Schieferdächer , auf denen die Sonne glüht - und schreiben , den ganzen Tag von Morgen bis Abend . Aber jetzt sage ich nicht mehr : Was führst du für ein Dasein ? Ich würde kein anderes Schicksal mehr gegen meines eintauschen , auch das vergangene nicht . - Wie ich mich all der Verzagtheit schäme - wie konnte ich mich so vor feindlichen Blicken fürchten ? Einzelne von früheren Bekannten grüßen mich nicht mehr , andere beklagen mich . Mehr oder minder bin ich in ihren Augen doch jetzt für immer bankrott - entgleist - die Tore der " Gesellschaft " sind für immer hinter mir zugefallen . Und das Kind ? - Ich weiß meine Verantwortung wohl - und ich bin froh , ihm gerade dieses Schicksal bieten zu können - ich will es lehren , sein Schicksal zu lieben , wie ich meines lieben gelernt habe . Zu Hause trage ich nur noch lange , weiße Kleider , die nach verwöhnter Ruhe aussehen , und die träume ich mir dann manchmal dazu . Wie müßte das sein , jetzt so leben zu können - in großen hellen Räumen mit vielen Blumen und festlichen Dingen - frohe Menschen um mich her , die alles für mich täten , mich verwöhnten - und dann nur daliegen und an das Kind denken . Wenn ich dann auffahre und mich besinne , laufen mir dicke Tropfen von der Stirn , und die Hände wollen nicht weiter . Die Hitze ist lähmend - auf meinem Tisch steht immer eine große Schale mit Eis , um Kopf und Hände daran zu kühlen - das ist mein einziger Luxus . August Die Heimat ist bereit , in der mein Kind erwachen soll . - Seit vierzehn Tagen kaum ins Bett gekommen , ich lege mich nur ein paar Stunden auf den Diwan , dann ist es wieder vorbei mit dem Schlaf , und ich wandere von der ersten Dämmerung an in der Wohnung herum - von einem Zimmer ins andere . - Es war so viel Freude darin , alles selbst einzurichten , so viel Stolz , daß man es selbst zusammengearbeitet hat . Alles scheint zu warten - die kleine Wiege , die neben meinem Schreibtisch steht - armselig ist das Ganze wohl , aber es war alles , was ich geben konnte , und für mich liegt schon der Glanz all der Liebe darüber , die hier zwischen uns beiden leuchten soll . Nur die letzte Arbeit muß noch getan sein - meine Augen brennen nach Schlaf . - Ich habe eine Schieblade vom Schreibtisch herausgezogen , um den Rücken dagegenzulehnen , die Schwere im Körper will mich fast zu Boden ziehen . Und ein Gefühl , als ob man nicht mehr auf der Erde wäre , sondern in einem fremden , durchsichtigen Element , wo ferne Glocken läuten und man nur lächeln und weinen möchte . September - - Mein Kind - nun ist es aus seinem langen , dunklen Schlaf erwacht , Tag und Nacht liegt es neben mir - Tag und Nacht scheint jetzt die Sonne , und die letzte Finsternis ist hell geworden - die Welt steht still um uns beide , wie ein Tempel , in dem alle Offenbarungen tönen . Mein Kind - mein schwererkämpftes - nach all dem stillen , frohen Warten noch einmal hinunter in den allertiefsten Abgrund - durch Martern hindurch , wie sie kein Traum zu ersinnen vermag , die alles hinweglöschen , was noch leben will an Furcht und hoffender Erwartung , alles verstummen machen vor dem einen schaudernden Aufschrei , daß solches Entsetzen möglich ist . Und dann der lichte Morgen , die hellen strahlenden Stunden , wo das Leben in seine Bahnen zurückflutete - , und wo ich zu fassen begann , daß ein Märchenwunder Wirklichkeit geworden war - das Märchenwunder , das neben mir in weißen Kissen lag und mich aus weiten , dunklen Augen ansah . - Mein Kind - was frage ich jetzt noch , ob es schwer erkämpft war - , mein Kind soll zur Freude geboren sein , nicht die verblaßten Spuren tragen von dem , was ich gelitten habe , und was jetzt mir selber Freude und Reichtum geworden ist . Mein Weg war wohl oft dunkel und blutig , ich habe den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen und seinen Blick gefühlt , den Wahnsinn und die letzte Verzweiflung - nun sehe ich dem Leben ins Auge und bete es an , weil ich weiß , daß es heilig ist . Es hat mich all seinen Reichtum gelehrt an Leiden und Lust - ich liebe alle die Schmerzen , die es mir angetan hat , und all die Opferwunden , die es schlug - ich liebe auch die Verlassenheit und die Not , die vor unserer Tür steht . - Wie konnten wir je Feinde sein ? Mag es jetzt geben oder nehmen - ich sehe ihm ins Auge , und wir lächeln beide .