Kapitel In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle , langgezogene Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub . Die breite , ungepflasterte Straße , die sich , nicht weit von der russischen Hauptstadt , in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache Land erstreckt , lag einsam im Frühnebel da . Dann holperte ein Leiterwagen , mit einigen Möbelstücken bepackt , schwerfällig des Weges ; der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz , warf den kurzen Schafpelz von den Schultern , und im roten Hemde neben seinen beiden mageren Gäulen hergehend , stimmte er eine Volksweise an , die schwermütig in den Vogelgesang hineinklang . Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf , meist ein Holzbau , mit geschlossenen Fensterläden und bretterverschlagener Balkontür ; oder es schimmerte ein Garten hervor , wo man eifrig beschäftigt war , das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für den Sommer in Stand zu setzen . Aber erst nach Beginn der städtischen Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig . Der Möbelwagen hielt vor einem Hause , das ganz abseits , weit entfernt von jeder Nachbarschaft , zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas feuchtem Wiesengrund lag . Es war nicht sonderlich groß , besaß aber von allen den schönsten Garten . Die Frühlingsbäume , die es umstanden , breiteten einen zarten bräunlichen Schleier darüber , und rings über den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen Blattknofpen . " Die Pforte von außen aufstoßen ! " schrie eine vergnügte Stimme in gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen , und gleich darauf kam ein halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen . Langsam bewegte sich der Wagen über den Kiesweg bis hinter das Haus , wo einige Stufen zur offenen Terrasse mit der Eingangstür emporführten . Eine ältliche Magd , mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf , wartete schon unten , griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen , das mit seinem breiten Fenster auf die Terrasse hinaussah . Im Wohnzimmer stand die Tür zu einem kleineren Nebengemach auf , das bereits vollständig eingerichtet zu sein schien . Von den Sachen , die man beim Auszug aus der Stadtwohnung im gemieteten Landhause vorgefunden hatte , war offenbar alles Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden , um Ordnung und Gemütlichkeit zu schaffen . An der Tür lag auf einem deckenumhangenen Ruhebett einen bleiche , nicht mehr junge Frau , deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren ungewöhlicher einstiger Schönheit zeigten . Unter den halbgesenkten Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und Gehenden . Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme , bei der ein Lächeln durch die großen blauen Augen ging . " Erik ! " rief sie bittend , " komme doch her zu mir . Komme doch her . " Er stand vor dem Terrassenfenster , in dunkler Morgenjoppe , die Hände in den Seitentaschen versenkt , zwischen den Zähnen eine Zigarette . Auf den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging in das Zimmer . Ihr schien immer : ein Strom von Leben käme mit ihm , wenn er so zu ihr trat . " Nun , Bel , " sagte er heiter , " du sollst sehen , jetzt bricht die Sonne durch den Nebel , und dann trage ich dich in den Garten hinaus . Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen aufgestellt . " Sie schüttelte den Kopf . " Ich habe keine Ruhe draußen , solange hier alles noch in solcher Verwirrung ist . Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen , Erik ? Seitdem wir gestern herkamen , habt ihr nur für mich gesorgt . Ach , weißt du , das ist das schlimmste : im ganzen Leben wird nichts mehr recht ordentlich werden . Alles wird herumliegen . " " Aber , Bel ! " versetzte er spottend , " welchen Sinn hätte es auch sonst , aufzuräumen ? Was sind das für Sorgen und Schmerzen ! " Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein , sondern sah betrübt vor sich hin . Da fügte er ungeduldig hinzu : " Damit mußt du dich ernstlich abfinden . Nicht immer wieder davon anfangen . Sicherlich bist du dazu geschaffen , als die peinlichste aller Hausfrauen hinter der blitzendsten aller Teamaschinen zu sitzen , und mußt nun statt dessen jahraus , jahrein daliegen und es untätig mit ansehen , wie deine beiden männlichen Hausfrauen , Jonas und ich , es sorglos treiben . Das ist schwer , ich weiß . Es ist schwer , sein Talent zu unterdrücken . Aber es kann dir nicht erspart werden , du mußt es endlich überwinden . " " Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein , Erik , wenn du nur wolltest . " " Daß er wie eine Tochter wäre ? Nein , natürlich will ich das nicht . Wie kannst du nur solchen Unsinn reden , Bel. " " Es ist kein Unsinn , Erik . Du bist so streng gegen ihn , und daher ist er gegen dich oft schüchtern , geht nicht recht aus sich heraus . Aber mir zu dienen macht ihm Freude - auch in den häuslichen Dingen . Kannst du mir diese Freude nicht lassen ? " " Nein , " sagte er kurz , " nicht so , wie du es meinst . Ich wünsche nicht , daß er verweiblicht wird . An mir ist es , dir zu dienen - " Er brach ab , weil die Magd hereintrat ; sie wollte den Fuhrmann ablohnen . Erik legte Geld auf den Tisch , der , noch staubig , in die Mitte der Stube gesetzt worden war . " Dies ist das Trinkgeld , Gonne . Nein , es ist nichts darauf herauszugeben . Wenig genug für viel Arbeit . " Als sie hinausgegangen war , blickte er mit einem unterdrückten Lächeln in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber . " Wir haben entsetzlich viel Geld , Bel. Natürlich . Wer sollte es uns auch in diesem Winkel abnehmen . Nicht wahr ? " " Ach , Erik , das kann doch gar nicht sein . In diesem , Winkel ' haben wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht . Ich habe ja nichts dagegen zu sagen gewagt . Aber wenn du wüßtest , wie es mich im stillen drückt . Denn du bist es ja , der seine ganze Kraft aufwenden muß , um das viele Geld zu verdienen . " " Meine ganze Kraft aufwenden ! " wiederholte er langsam , " wie schade ist es doch , Bel , daß es nicht wahr ist . Ich glaube fast , das wäre so schön , daß ich es sogar umsonst täte ! Es dürfte dann freilich nicht bei den paar armseligen Schulstunden bleiben . - Nein du , in diesem heiligen Lande vergesse ' ich bald , daß ich überhaupt Kraft aufzuwenden habe . Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen , wenn - ich Geld habe . Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr hierher gepilgert ? " Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus . " Nun ja , Erik , es ist nur gut , daß dir immer alles zu leicht und zu wenig scheint , " sagte sie , " du hast eine solche merkwürdige Frische . Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht , wo du beim besten Willen noch mehr Schulstunden hineinstopfen könntest ? " Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht . Er antwortete nicht , sondern kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers . Jonas war aus dem Garten hereingekommen , blieb neben dem Vater stehen und blickte hinaus . Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne ; man konnte in der Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden , in deren Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand . Im Hintergrunde schloß ein kleines Gehölz von Birken , Pappeln und Weiden , an denen noch die Kätzchen niederhingen , die Aussicht ab . Näher zum Hause streckten ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach . Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des Jahres entgegen . Einen Augenblick lauschten sie stumm . Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren , fiel die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf ; sie trat noch stärker dadurch hervor , daß Erik sich bartlos trug . Derselbe blonde Kopf , breit ausgebaut in Stirn und Schädelform , dieselbe ein wenig stumpf abschließende Nase und derselbe große , im Sprechen und Lachen sehr ausdrucksfähige Mund . Aber diese ein wenig groben Züge bedurften sichtlich mancher Jahrzehnte , um durchgeistigt und fesselnd zu wirken . Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und Schatten , die ihnen erst seelischen Reiz verliehen , als die Jugend von ihm ging . Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht , das in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen ließ , als er wirklich war . Schön konnte man an ihm nur die großen Blauaugen der Mutter finden und deren blendende Haut , die nur das Krankenlager an ihr entfärbt hatte . Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen . In ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen Gestalt ihres Mannes ; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen , so wie er damals war , als sie ihn kennen lernte und er um sie warb . Es war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren , die ihn damals von Jonas' Alter unterschied , - einundzwanzig Jahre zählte Erik erst , als ihm sein Knabe geboren wurde . Sie fühlte jedesmal eine kleine Regung von Stolz , wenn sie daran dachte . Hatte er sich doch toll genug in sie verliebt , um sie mitten in seiner leichtlebigen Pariser Studentenzeit frischweg vom Fleck zu heiraten ! Er , der begabte , ehrgeizige , früh weltmännisch geschulte Mann , band sich an sie , das einfache Kinderfräulein , das nur der Glücksfall einer günstigen Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte . Die fremden Kinder an der Hand , hatte sie bewundernd in den Salon gespäht , wo er verkehrte . Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach England und lebten ein paar Jahre von dem geringen Vermögen , das schnell verbraucht war . Eriks Studien waren breit angelegt gewesen , sie sollten Geistes und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen , aber als Jonas zwei Jahre alt wurde , da galt es , sich mit eisernem Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen , um Brot zu erwerben . Eine kleine Lehrstelle bot sich ihm , ganz aus der Welt , weit draußen im Meer auf einer friesischen Insel . Klare-Bel freute sich im Grunde , daß ihre verrückte glückliche Studentenehe in so stille , geordnete Verhältnisse mündete , aber für Erik tat es ihr leid . Denn erstens war er sicherlich zu viel Größerem berufen als zu diesem abhängigen Stillleben für Weib und Kind , und dann konnte sie ihn sich auch gar nicht anders vorstellen als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und im vollen Verkehr mit einer gebildeten , raffinierten Gesellschaft , die ihn fortriß und die er fortriß . Wie sie ihn zuerst unter den einfachen Menschen des Volkes dastehen sah , kam er ihr vor wie ein verzauberter Prinz . Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht : irgendwie werde er auch schon die Leute verzaubern , bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen besser entsprächen . Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders . Erik lehrte niemand seine Art , wohl aber nahm er die der Leute an . Bald sah man ihn ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen wie in seiner früheren Kleidung . Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab , daß er geradezu echt in der Farbe erschien . Aber die Folge war , daß er seine Umgebung beherrschte . Er gab sich nicht , wie Bel gefürchtet hatte , Grübeleien über seine weitausschauenden , ehrgeizigen Wünsche hin , vielleicht war es eine zu aktive Natur dazu . Was es nur gab , raffte er zusammen , um sich in der Gegenwart voll zu betätigen , und an die Zukunft - an die glaubte er so fest wie ein Kind an Gott . Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte den Kopf in die Hand . Weiter als bis hierher dachte sie niemals . Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht , der es verjüngte . Die kunstvoll geordneten Locken , die statt jeder festen Frisur dies Gesicht umrahmten , trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe wie damals . Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn geworden , ja dort hatte sich sogar eine ganz kleine verheimlichte Glatze gebildet . " Jetzt müssen wir in die Schule wandern , Jonas , " bemerkte Erik und wandte sich vom Fenster . " Gehst du heute zu den Mädchen , Papa ? " fragte der interessiert . " Ja . Aber deshalb brauchst du nicht wieder am Torweg der Mädchenschule auf mich zu warten und dort herumzulungern , " versetzte Erik mit einem Seitenblick , der Jonas verlegen machte . Ohne ein Wort zu erwidern , trollte sich dieser aus der Stube . " Jonas fängt früh an ! Er artet dir nach , Erik ! " sagte Klare-Bel lächelnd , und als stünde es mit ihren Worten in irgend einer Gedankenverbindung , griff sie unter allerlei Sachen , die auf einem niederringen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen , einen geöffneten Brief heraus . " Hier liegt noch die Einladung . Wenn du wirklich absagen willst , vergiß es nicht heute in der Stadt , oder gehst du persönlich vor ? " Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig . Es war eine kurze Einladung , unterschrieben : Warwara Michailowna . Erik kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch . " Ich möchte dich wohl was fragen , Erik . " " Ja , Bel ? " " Sage mir : gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen Kreis , weil sie dir gefährlich geworden ist ? " Er fing an zu lachen . " Nein , Bel , darüber kannst du ruhig sein . " " Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt ? " " Das hat sie wohl . Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten Frau . " " Junge Mittwen hält man immer für kokett . Von Warwara würde ich es nicht denken . Glaubst du das von ihr ? " Er sah seine Frau verwundert an . " Ja natürlich . Alle schönen Frauen sind es . Auch ist ihr nicht der geringste Vorwurf daraus zu machen . Das gehört zu ihnen , wie die Schönheit . Das Gegenteil wäre fast stilwidrig . - Und es ist gut - vielleicht ein Grund , warum die Schönheit keinen tieferen Schaden anstiftet . Adieu , Bel ; es ist Zeit für uns zum Bahnhof . " Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin . Wie er sich aber zu ihr niederbeugte , um fing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn einen Augenblick , zu ihm aufschauend , fest . Er hielt geduldig still . " Du ! " sagte sie lachenden Mundes , ließ sich küssen , und ließ ihn los . Erik und Jonas waren schon fortgegangen , und Gone räumte eifrig und geräuschvoll in den Stuben auf , als Klare-Bel noch über das letzte Gespräch nachsann . Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen angelegt , alles andere eher . Aber wenn man ewig so stilliegen mußte , immer auf dem Rücken , und die Augen an der geweißten Zimmerdecke , so geriet man zuletzt auf alles mögliche , und auch auf das Nachdenken . An sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie , stets nur indirekt . Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche , sozusagen hauptsächliche Gedanken , die Sammlung heischten : Erik , Jonas und die gefürchtete Unordnung im Haushalt . Aber es war merkwürdig , wie viel man aus den drei machen konnte , wenn man sie geschickt kombinierte . Man hätte meinen können , es seien tausend . Erik hatte also vorhin gesagt : die Schönheit stifte keinen tieferen Schaden an . Ja , das war gewiß ein rechtes Glück . Denn Erik war sehr empfänglich für die Schönheit . Schon , als sie noch gesund umherging , beunruhigte es sie . Sie selbst war glücklicherweise sehr schön , aber sie war blond , und ihr schien es , als ob ihn die Braunen ebenfalls interessierten . Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt . Aber nur ein einziges Mal erschrak sie , - schrak förmlich auf aus aller bisherigen Freude . Während des zweiten Jahres auf der Insel . Da fing er an , sie so viel allein zu lassen ; manchmal war es ihr , als ob sie ihm nicht mehr wie sonst genüge . Er wurde auch wortkarger . Und endlich - ja endlich tat sie dann , was er nie im Leben erfahren durfte : sie ging ihm heimlich nach . An einem weichen , dunklen Aprilabend war_es . Das Meer lag regungslos , und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter . Sie sah ihn aus einem kleinen Hause , hart an der Düne , heraustreten und an ihr vorbei , in Gedanken verloren , heimgehen . In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste Frau auf der ganzen Insel . Bei allen stand sie in hohen Ansehen wegen ihres Vestandes , wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen Schicksalen , wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung , aus dessen Fülle sie schöpfte , wenn sie ein feiner , liebevoller Menschenkenner zum Sprechen brachte . Es war Frau Larsen , einen lahme sechzigjährige Frau . Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem Manne . - Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium ; gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen , die ziemlich entfernt lag . Er war in einen vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen , und an einer der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein . Dieser sah erhitzt aus , behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und fächelte sich mit dem Taschentuch . " Wie geht es , Herr Matthieux ? " fragte er Erik , hastig atmend , " hier in der Stadt ist der Mai schon unerträglich , - wirklich , - wenigstens beim Gehen . Und dabei wagt man nicht , den Sommerüberzieher abzulegen ; jeden Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß . Ohne Übergänge , ohne Normaltemperatur . Ein mörderisches Klima . " Er begleitete sie Worte mit so vielen Gestikulationen , daß man den Eindruck empfing , er werde sich nie im Leben wieder abkühlen . Erik betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden ungefähr gleichaltrigen Mann , auf dessen entblößtes , bereits stark gelichtetes Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah . " Ob das meine Zukunft hier ist ? - der Mai unerträglich ! " dachte er , und sagte laut : " Ich muß gestehen , ich habe eine Schwäche für diesen russischen Frühling . Er mag unartig sein , vielleicht launischer und gefährlicher als jeder andere , aber dafür ist er ein Wunder . Er zögert so lange , und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön , daß man seinen Augen nicht traut . " " Ja ja . Wenn man Augen dafür behalten kann . Ich reise nach Schulschluß immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen Windstößen und Verhältnissen . Ich schreibe an einem Werk - immer in den Ferien in Deutschland . Das ist meine Erholung . Da bleibt für den Sommer wenig übrig . So geht es eben uns allen - allen , die wir uns geistig überarbeiten müssen . " Erik schwieg einen Augenblick , dann erwiderte er , wie wenn er einen stummen Gedanken beende , ruhig : " Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als , Geistesarbeiter ' . " " Ach , Sie meinen doch nicht , weil Sie da drüben , - weil Sie etwas lange in ländlichen Verhältnissen - ? aber ich bitte Sie , bei Ihrem Wissen und Ihrer Begabung ! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk schreiben ? " Erik lachte . " Nein , so meint ich es nicht . Nicht daß ich drüben vielleicht ein wenig verbauert sein könnte . Nicht den Mangel an Büchern . Denn wir - der Lehrer vor allen Dingen - arbeiten doch vorwiegend mit Menschenmaterial . Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der Gelehrtenstube , scheint mir . Mitten in das Leben hinein . " " Hm ! " machte der Kollege , " ich finde , an die Menschen kommt man doch nur sehr oberflächlich heran . Es bleibt wirklich nur die Schreibtischarbeit . Aber sagen Sie doch Mal : man sprach davon , daß Sie vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen halten wollten ? Was war es damit ? " Eriks Augen verdunkelten sich . " Nichts war es damit ! " sagte er kurz , " man hat mir den Saal verweigert ! " " Sehen Sie , sehen Sie ! Das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube . Man fürchtet , daß Sie ein wenig lebhaft werden könnten . Wir gehen hier ja eben alle mit gebundenen Händen , - Sie wissen_es doch ! Aber mit einem sollten Sie sich wirklich trösten : es gibt hier ja gar keine Menschen , unter denen irgend etwas zünden und wirken könnte . Es gibt nur das Volk , zu dem wir weder sprechen dürfen noch können , - und ein Publikum , das sich amüsieren will . " Er hatte sich in Eifer gesprochen . Erik antwortete nicht . Die Pferdebahn hielt , und beide stiegen aus . " Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen ? " nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf , und wie er jetzt langsam einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte , sah er ebenso schwerfällig und schläfrig aus , wie vorhin hastig und zerfahren , " ja , da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen ! Sie hatten diese Klasse ja erst im Herbst zu übernehmen . " " Es war aber Not am Mann . Auch wollt ich die Mädchen kennen lernen , Fühlung gewinnen , ehe ich sie im Herbst ganz übernehme . " " Nun , Sie werden es satt kriegen . Wissen Sie , dieses Geschlecht ist entsetzlich ! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen . Auch nicht das geringste . Rechnen können sie alle nicht . " " Gott sei Dank ! " sagte Erik . " Nein , nehmen Sie es nicht humoristisch . Als Mädchenlehrer verlernt man das Lachen . Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse ? " " Hübsche Mädels ! " entfuhr es Erik beinahe ; als er aber die fast bekümmerte Meine seines Begleiters gewahrte , verschluckte er es noch rechtzeitig und erwiderte nur : " Sie bringen doch Anregung , Abwechslung . Sehen Sie , hier in meiner Lederrolle : ein ganzer Stoß Aufsatzhefte . Das kurioseste Zeug . Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück ; ich ließ sie mir nur geben , um mich zu orientieren . Auch habe ich eine wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden . " " Da bin ich nicht neugierig ! " versicherte der Kollege von der Mathematik und kniff die Augen zu , " wahrhaftig nicht . Aber Sie sind ein beneidenswerter Mensch . Von Ihrem Vorgänger weiß ich , daß diese blauen Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Albdrücken verursachten . " " Das war nur eine gerechte Strafe ! " meinte Erik lachend , während sie einen hohen Torbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten , " warum gab er auch Aufsatzthemata wie zum Beispiel das letzte hier : , Über das Glück . Arme Mädels , die da in schönem Deutsch beschreiben sollen , was sie doch noch gar nicht genossen haben . " Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen , das von der Flurhalle zu den Klassen hinaufführte . " Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls dran , und das ist ja wohl der Zweck , " bemerkte der Kollege steif , denn die letzte Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen , " Ihr Vorgänger hat gewiß an kein Glück gedacht , wozu man die Schule verlassen haben muß . - Aber hier trennen sich wohl unsere Wege . Ich meine : wörtlich . " " Also auf Wiedersehen ! " " Wünsche beste , Anregung ' . " Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang , an dem die Klassenzimmer lagen . Er öffnete eines davon und blickte auf seine Uhr . Noch war die Frühstückspause nicht vorüber . Die meisten Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt ; man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise umhergehn und spielen sehen . Dicht unter dem Fenster , an das er sich setzte , stand der Brunnen mit einer Holzbank ; dort machte es sich eine Gruppe halberwachseuer Mädchen bequem , - das Kichern und Schwatzen drang deutlich bis zu Erik herauf . In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still ; selten nur klappte eine Tür , oder wurde ein Ruf laut . Auf den zur Hälfte niedergelassenen Fensterrouleaus brütete die Sonne , und einzelne Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen auf den staubigen Pulten . Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin , wobei er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß . Im Grunde waren dies wirklich recht langweilige Schulhefte . Solch ein Backfisch ist interessant , ohne Zweifel , er ist als Mensch , als Weib , als Backfisch interessant , und eine Welt für sich ; aber von alledem kommt in den Schulaufsatz nichts hinein . Kein Wunder ! Ist es nicht schließlich ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt ? Ist nicht der kleinste Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher , aufschlußgebender ? Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende , schwatzende Mädchengruppe am Brunnen . Die , die er von seinem Standort sehen konnte , gehörten sicher seiner neuen Klasse an , hatten also die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen . Er verzieh sie ihnen , während er sie so anblickte , - diese frischen Geschöpfe , die noch das Vorrecht besaßen , ohne Schönheit schön zu sein . Es waren unter ihnen ganz bestimmte Typen leicht zu unterscheiden , obgleich sie verschiedenen Nationalitäten angehörten . Drei Sprachen schwirrten durcheinander . Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr weltlichen Typus . Beide besaßen etwas Anziehendes , - sowohl dieser schelmische Blick , der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte , als auch der sanfte , sittsam stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel . Das eigentlich kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr vertreten . Und vielleicht deshalb auch so wenig Untypisches im ganzen , so wenig Individuelles , - man konnte sie schon klassifizieren , sie waren schon fest geprägt durch die Umgebung , in der sie erzogen wurden , wo es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks Ideal gab , sondern nur gewöhnliche Amts und Standespersonen . Unwillkürlich suchte seine Hand unter den Heften , als wünsche er sich selbst Lügen zu strafen . Ja , hier stand die " Merkwürdigkeit " unter den Aufsätzen , - etwas höchst Individuelles jedenfalls . Anstatt des vorgeschriebenen Titels " Über das Glück " trug er die Überschrift " Seligkeit ! " - und wie ein Sehnen und Tauchzen klang etwas von dieser Überschrift dem Lesenden aus jeder Zeile entgegen . Er war nicht in vernünftiger , oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa geschrieben , sondern in Versen , in gänzlich unkorrigierbaren und wilden Versen , in denen die Sprache Reißaus genommen hatte . Trotzdem wirkten diese Verse , so fehlerhaft sie hingeschrieben waren . Oder vielmehr : hingeträumt . Denn im Grunde glich dieses einem unklaren Traum , einem bloßen Gedankenstammeln , einem Siechauflehnen gegen Wort und Logik , aber es steckte unleugbar eine Gefühlsmacht darin . Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre , aber man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wünsche überfallen , dem , der hier träumte und stammelte , mit Gewalt die Zunge zu lösen , daß er Aufschluß gäbe über seine Seele . Solche Verse mochte die heilige Therese als Kind gedichtet haben , ehe sie ihre Visionen auf Gott bezog , dachte Erik . Welche von denen im Hof mochte das sein ? Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und brachten ihn aus dem Lesen . Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie sagen : " Er muß unglücklich sein . Ich will es so . So unglücklich wie nur möglich . Sonst tu ich es nicht . " " Nein , nein , dagegen bin ich ganz ! " rief eine andere in mitleidigem Ton . " O , ich wäre schon dafür , " suchte eine dritte zu vermitteln , " wenn es nur für eine Weile ist . Denn später , da heiratet sie ihn ja dafür . " " Heiratet ? " fragte die erste Stimme erstaunt , " nein , ich denke nicht daran ! Er ist und bleibt unglücklich , sage ich euch . Ein für allemal . Aber heiraten werde ich ihn nicht . " Erik fiel das Heft aus der Hand . Er stützte sich auf das Fensterbrett und sah vorsichtig hinab . Er hätte gern gewußt , wie das grausame Geschöpf aussah , das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen wollte und ihn nicht einmal heiratete . Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den anderen so umstellt , daß sich Erik nicht tiefer hinabbeugen konnte , ohne von unten her gesehen zu werden . Er erblickte nur zwei schmale , weit vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunklen Strümpfen . Jetzt zwitscherten alle so durcheinander , daß man nichts verstand . Dann sagte ein bildhübscher dunkelhaariger Backfisch , während er herzhaft in einen Apfel hineinbiß : " Ich finde es wirklich komisch von dir . Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besonderen Eigenschaften ausgestopft , wenn du ihn doch nicht nimmst ? Er hat doch das Allerbeste abbekommen . Wenn er nur edel und unglücklich sein soll , so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können , - meint ihr nicht ? " " Laß sie doch , Wjera , du sollst sehen , sie hat im stillen schon wieder etwas Neues vor , - vielleicht was viel Schöneres , " meinte ein kleines blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze , " und wenn ihr sie nicht in Ruhe laßt , so sagt sie es uns am Ende nicht . " " Hast du was ? Hast du was ? Ist es schön ? " schrien sie erwartungsvoll . " Es ist nichts für euch ! Aber von allen die allerschönste Märchengeschichte ! " erklärte die Angeredete an der Hausmauer , " kennt ihr die Verse von Uhland ? " Und sie begann mit einer weichen Stimme zu deklamieren : " In Liebesarmen ruht ihr trunken , Des Lebens Früchte winken euch ; Ein Blick nur ist auf mich gesunken , Doch ich bin vor euch allen reich . Das Glück der Erde miss ' ich gerne , Und blicke , ein Märtyrer , hinan , Denn über mir , in goldener Ferne , Hat sich der Himmel aufgetan . " Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern , bis die letzten Worte gedämpft , in einer Art von schwärmerischer Andacht verklangen . " Hu ! " sagte die hübsche dunkle Wjera , ordentlich ergriffen , und eine zweite fügte besiegt hinzu : " Ja , dann freilich - " Aber die , welche deklamiert hatte , lachte nur . Sie lachte so von innen heraus , so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle , daß Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte , mitzulachen , und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte . Auch von den Mädchen begannen einige zu kichern . Aber die meisten verstimmte es . " Du hast gar keinen Lebensernst ! " sagte die Erste der Klasse strafend , eine andere aber behauptete sogar : " Sie hat kein Herz . Sie verlacht ihre eigene Sache , und uns mit . " Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende zu schmiegen und erinnerte sie : " Du hast doch versprochen , uns den , Unglücklichen ' endlich zu zeigen . Willst du es heute auf dem Heimweg tun ? " " Ja , das will ich . Denn ich will ihn euch überlassen . Macht ihn so glücklich , wie ihr wollt . " " Also denkst du an einen anderen ? " Die Glocke , die zum Klassenbeginn läutete , unterbrach das Geplauder in diesem kritischen Augenblick . Arm in Arm schlenderten sie gemächlich ins Schulgebäude hinein . Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt in der Sonne . " Jetzt muß ich sie sehen können , " dachte Erik und beugte sich mit ernstem Gesicht vor . Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen gemacht . Und er sah sie . Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt , die Arme hoch über dem Kopf verschränkt , saß sie auf einem umgestülpten Regenfaß , das in diesem beliebten Brunnenwinkel gelegentlich als Sitzbank benutzt wurde . Sie trug das entschieden aschblonde glanzlose Haar offen , so daß es ihr weich und lockig in einiger Verwirrung über Brust und Schultern fiel . Das tiefrote Bändchen , wodurch es am Hinterkopf zusammengehalten werden sollte , war hinabgeglitten und bewegte sich leise im Luftzug . Es war der einzige bunte Punkt und Schmuck am Bilde . Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem losen graublauen Gewande , das keinerlei Ähnlichkeit mit den hübsch gearbeiteten Kleidern , Miedern , Schleifen und Schürzen der anderen aufwies . Über den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel kittelartig geschlossen , ließ es zwischen den weichen Falten kaum den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas sonderbar Knabenhaftes . Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges Gesichtchen , das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Übermut wirkte . Wie sie so dasaß , den Oberkörper zurückgebogen , die ziemlich dunklen Augen leuchtend erhoben , die Lippen wie in beginnendem Gelächter oder verlangendem Durst halb geöffnet , so daß unter der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne hervorschauten , - da machte sie die Eindruck , als bäume sie sich auf in überschäumender Lebenslust , bereit , jeden Augenblick jauchzend über alle Stränge zu schlagen , - fast unwillkürlich dachte man sich einen Thyrsusstab in die hinausgestreckten verschlungenen Hände , - und der Bacchusknabe war fertig . Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang , erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte hastig seine Hefte zusammen . Während er den Weg in seine Klasse antrat , kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit . Zwei Lämmer in seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt an : die heilige Therese , und dann dieser arge Schlingel und Taugenichts . Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten , in allen Ecken lebendig geworden , und einige Minuten lang schwirrte es dort durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne . Dann schwächte sich der Lärm ab , die Klassentüren fielen ins Schloß ; hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz ; einzelne Lehrer , sämtlich in dunkelblauem Frack , der für diese Schulen vorgeschriebenen Uniform , schritten grüßend aneinander vorüber oder blieben , ein paar Worte wechselnd , im Gange stehen . In Eriks Klasse war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen , als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat . Einen Augenblick lang ließ er , auf dem Katheder stehend , seinen Blick über die blonden und braunen Mädchenköpfe schweifen , die fast alle mit lebhaften und aufmerksamen Augen zu ihm aufschauten . Obgleich er erst zum zweitenmal auf diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand , fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie , die ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete . Er verdankte sie seinem eigenen Entgegenkommen . Denn die da merkten recht wohl das tatsächliche Interesse , das er ihnen als Lehrer zubrachte , - den Blonden wie den Braunen , den Klugen wie den Dummen , den Willigen wie den Widerspenstigen . Welche Fehler er auch besitzen mochte , einen wenigstens besaß er nicht : seinen Unterricht wie eine leblose Pflichtmaschine zu absolvieren . Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte , sich niedersetzend : " Die Hefte können wieder verteilt werden . Sie sind zum größeren Teil recht bedauerlichen Inhalts . Hoffentlich lautet die Fortsetzung viel besser . In Bezug auf einen Aufsatz möchte ich aber eine Erkundigung einziehen . " Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte , den Namen ablesend : " Wer ist Ruth Delorme ? " Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben , sie hatte sich erhoben , ehe ihr Name von seinen Lippen gefallen war . Er richtete einen bestürzten Blick auf sie . Es war der Bacchusknabe aus dem Schulhof . Jetzt freilich machte sie nicht mehr so ganz den kuriosen Eindruck . Das ordentlich zusammengenommene Haar und der " Klassenernst " auf ihrem Gesicht störten ihn , - vielleicht auch , daß sie die Augen niedergeschlagen hatte . Am liebsten wäre ihr Erik mit der Hand über das Gesicht gefahren , wie um eine Maske abzustreifen , damit er darunter die wirkliche Ruth zu sehen bekäme . Aber das wäre dann der mutwillige , lachende Junge von vorhin gewesen , - und das deckte sich so wenig mit der Vorstellung , die der Aufsatz von ihr weckte . Das wunderliche Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein . " Unmöglich ! " entsuhr es ihm . Sie sah verwundert auf . " Doch ! " sagte sie . " Das kann sie ! sie kann Verse machen ! " riefen einige Stimmen . Man konnte es ihnen anhören , wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden . " Verse , - das ist ja möglich , " gab Erik zurück , " auch sind sie keineswegs schön . Ganz das Gegenteil davon . Aber ein Schulmädchen - " Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich . Die Bemerkung war auch gar zu einfältig . Schulmädchen waren sie ja alle , und eine von ihnen mußte es doch gewesen sein . Mußte ? Da kam ihm der Gedanke : vielleicht ist es gar kein selbständiger Aufsatz ? Er blätterte im Heft zurück . " Es ist noch ein früherer Aufsatz drin . Etwas Literarhistorisches . Der fällt stark dagegen ab . Lauter mühsam nachgezogene Linien - und falsche Linien . Es geht die Sage , daß bei den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird . Sollte das nicht die Lösung des Rätsels sein ? " Während er aber noch sprach , war er schon überzeugt , daß er sich irrte und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten werde , ihr habe niemand geholfen . Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte : " Mir hilft niemand . " Aber wieder schaute er betroffen auf . Wie klang das ! Grade so , als habe sie unter Tränen gesagt : " Ich bin ja so mutterseelenallein ! " Ein stiller Ton war darin , der ihn rührte , - etwas so ganz Neues , Unerwartetes , was er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen konnte . Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder , in der ruhigen Haltung des Lehrers . Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam seinen Ausdruck darin , daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die Bank , in die Mitte der übrigen . Als er dicht vor ihr stand , wurde er sich einer Übereilung bewußt und kehrte , wenn nicht zum Platz , so doch zur Rolle des Lehrers zurück . " In der Änderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen ; hier galt wohl eine Ausnahme , die mein Vorgänger machte ? " fragte er . " Er zog sie vor ! sie durfte tun , was sie wollte ! " schrien einige . " Sie gehört nicht mehr zur Schule ! Sie kommt nur zu einigen Stunden ! " riefen andere . " Ich gehe bald fort , " sagte Ruth . " Fort ? Vom Ort ? " fragte er , und ein brennendes Bedauern überfiel ihn . Sie hob die Augen . " Nein . Nur aus den Stunden . " Wie beider Blicke sich trafen , sah er ihr Gesicht aufleuchten . Nicht nur die Augen taten , das Leuchten ging über Stirn und Augen wie ein Lächeln , obschon sie ernst blieb . Der " Klassenausdruck " fiel von ihren Zügen wie ein vorgehaltener Schleier . Er gab ihr einen Wink , sich zu setzen . " Das ist sehr schade , " meinte er dann , ein paarmal auf und ab gehend , und es war ihm selbst nicht klar , für wen es eigentlich schade sei , ob für den Lehrer , oder für die Schülerin , oder für alle beide . Doch setzte er rasch hinzu : " Es ist zu früh . Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz nicht . " Dann richtete er , mit dem Aufnehmen des Unterrichts , keine Bemerkung mehr an sie , vermied es auch während der Stunde , ihren Namen aufzurufen , obgleich es ihn beschäftigte , daß sie fortgehen wollte . Aber er begriff , daß dies lebhafte Interesse für ein merkwürdiges Kind , wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte , von ihm selbst erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig geklärt haben mußte , ehe daran zu denken war , ihm vor einigen Dutzend neugieriger Mädchenaugen nachzugeben . Er kannte sehr wohl die üblichen Schwärmereien für den Lehrer , zweifelte auch nicht daran , daß auch er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei , hielt aber doch möglichst daran fest , sich nicht durch sein Benehmen zu verraten , wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte , - was doch unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut . Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen mit verträumten Augen . Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin , und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf , was er vortrug , sondern merkte sich nur die Art , wie er vortrug , und die ihm eigentümliche Gebärde der Hand dabei . Daß er schmale , nervige Hände von edler Form besaß , daß sie aber leicht gebräunt waren , wie bei einem , der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat , merkte sie , - und es kam ihr wie ein Widerspruch vor , der sie beschäftigte . Die gerade , etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein wie ein Bild , und dann , daß ihm das Haar beim Sprechen in einem strafen kleinen Büschel in die Stirn fiel , und er es stets mit einem kurzen Ruck zurückwarf , wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb . Es war kurzgehaltenes , schlichtes , dichtes Haar , und es ärgerte sie förmlich , daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte , - nur ein bißchen ; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen , die sahen aber drollig aus , und so schnitt sie sie ihm wieder ab . Darüber mußte sie lachen ; sie hätte fast laut aufgelacht , und der Sicherheld halber stützte sie den Mund auf die Hände . Aber bei alledem sah sie nicht aus , als ob sie sich in losem Mutwillen mit solchen Äußerlichkeiten beschäftige , sondern als sinne sie angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach . So hatte sie schon neulich , in seiner ersten Stunde , dagesessen , von ihm unbemerkt . Ruth machte noch immer dasselbe verträumte , nachdenkliche Gesicht , als nach Beendigung des Unterrichts sich ein ganzer Schwarm von Mädchen zum Heimgehen um sie drängte . Sie hatten diesen Augenblick kaum erwarten können , denn nun sollte Ruth ihnen ja den " Unglücklichen " zeigen , der aller Phantasie beherrschte . Arm in Arm , hintereinander , und mit den Ranzen schlenkernd , gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab und bogen in den Newskyprospekt ein , Ruth vorauf und ohne auf sie zu achten . Einige sahen sich vorsichtig um , ob ihnen auch niemand folge auf den Wegen , die sie Ruth führen sollte , aber die Straße war ziemlich menschenleer , nur ein paar Dienstmädchen , die den Verwöhntesten den Schulsack trugen , folgten in bescheidener Entfernung , und hinter diesen sah man Erik herankommen . " Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche ! " sagte die hübsche Wjera zu ihrer Nachbarin , " daß sie solche Geschichten treiben kann . Ich glube , ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum . Ja , es ist ganz anders , wenn man noch Eltern hat . " " Pfui , schäme dich ! " empörte sich das Mädchen , das neben ihr ging , und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite , " es ist doch ein schreckliches Unglück , seine Eltern so früh zu verlieren . Die arme Ruth ! Denke nur , wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist , - in Belgien und Deutschland , und immer unter fast Fremden . " " Ja , da kommt man eben auch weit herum , " beharrte der gemütlose Backfisch , " sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen . Und gerade da möchte ich so gern hin . " " Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt , " behauptete eine von ihnen etwas unsicher . Ein schallendes Gelächter erhob sich . " Ja , im Traum ! Das ist doch nur ein Märchen , das sie erzählt hat . Höre nur , Ruth , das hält sie für Wirklichkeit ! " " Da kommt er ! " sagte Ruth mit einem Male . Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen . Im ersten Augenblick stoben sie fast auseinander , aber dann sammelten sie sich wieder , räusperten sich , zupften an ihren Kleidern , reckten die Hälse , und die meisten von ihnen wurden rot . " Hier der Blonde ? " " Nein ! Der Herr im Zylinderhut . " Es war keiner von beiden . Ruth blickte ernsthaft geradeaus und einem Herren ins Gesicht , der auf sie zuschritt . Ein junger brünetter Mann , im hellen Sommerüberzieher , mit etwas verlebten Zügen , einem kleinen Schnurrbart und mandelförmigen Augen . Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie , - darüber waren alle einig . Aber während sie ihn noch anstarrten wie ein Meerwunder , geschah vor ihren Augen das Ungeheuerliche , woran sie eigentlich doch nicht im Ernst geglaubt hatten : Ruth grüßte ihn , ganz ernsthaft grüßte sie ihn , ohne eine Miene zu verziehen , aber doch so wie einen alten Bekannten . Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht ; er hatte sie fest fixiert , jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder . Ziemlich vertraulich tat er das . Die hübsche Wjera schrie fast auf vor Überraschung und Vergnügen , sie war feuerrot geworden , und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden , mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen . Ein paar von den anderen aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt , sie genierten sich sichtlich , gingen verlegen neben dem Trottoir auf dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder . Doch fand der heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen , die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten . Während er mit ganz verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging , flogen Blicke und Lächeln zu ihm hinüber , empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt . Ein paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um , und auch er wurde nicht müde , zurückzusehen . " Nein ! Das ist aber zu arg ! " brach eine von den Sittsamen auf dem Straßendamm los , " es ist geradezu sündhaft ! " " Ach , du liebe Tugend ! Wir sind es ja gar nicht gewesen , die angefangen haben . Ruth hat es getan . Siehat ihn gegrüßt . Wenn sie jetzt auch so gleichgültig drauf los geht , als ging es sie nichts an . " " Ja , was schadet denn auch ? " verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas betreten . " Gewiß schadet es , - abgesehen davon , daß es sündhaft ist , " behauptete die Sittsame , " hast du nie gehört , daß man nicht geheiratet wird , wenn man ein Verhältnis gehabt hat ? " " Ja , sie hat ganz recht ; es bringt uns in Verruf , " half ihr eine zweite , " und der da würde euch gewiß nicht heiraten , bildet euch das ja nicht ein . Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten ! " setzte sie schlagend hinzu . Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln . " Es ist doch alles nur Unsinn . Eine bloße Phantasiegeschichte . Also laß doch ! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen weiter , dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche , und alle Gefahr ist vorbei . " " Nein , nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr . Du hättest ihn uns nicht zeigen sollen , Ruth . " Diese zuckte ungeduldig die Achseln . " Das kann ich nicht so trennen . Wenn wir_es spielen , leben wir es ja auch . Aber macht es doch , wie ihr wollt , " sagte sie zerstreut . " Nein , erst mußt du es weiter ausdenken . Eigentlich ist es auch sehr lustig . Grade als ob man zweimal lebte : einmal zu Hause und in der Schule , - und dann noch einmal ganz wo anders , wo alles gerade so ist , wie man sich_es ausdenkt . - Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht wieder gehen . " " Ach , seid ihr Feiglinge ! " rief Wjera dazwischen , die sich bis jetzt nicht am Streit beteiligt hatte , weil sie sich noch mit dem " Unglücklichen " zu tun gemacht hatte , der irgendwo an einer Straßenecke stehen geblieben war , " ich finde diese Geschichte tausendmal interessanter als all die Phantastereien darum herum . Was hat man denn von denen ? Sie amüsieren uns nur , weil man uns eingesperrt hält ! " Über ihrem Hin und Herreden beachteten sie es gar nicht , daß sie an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren , das heißt , daß die meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim entfernt hatten . Sie liefen gewohnheitsmäßig mit wie eine Hammelherde , Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen . Jetzt blieb sie zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust , in eine Seitenstraße einzubiegen , und der Notwendigkeit , zur gewöhnlichen Stunde bei ihren Verwandten einzutreten . Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit , einen Vorwurf zog sie sich nicht zu , und was ihr jetzt vorschwebte , war süß und lockend gleich einem Frühlingsmärchen . Aber es gab da etwas anderes , was sie zurückhielt : wenn sie jetzt hineinging , so blieb sie , wie immer , gänzlich unbemerkt und unbeachtet im ganzen Hauswesen ; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen fortblieb , so wurde sie vielleicht bemerkt , befragt , belästigt . Und daß entschied . Wie eine jener kleinen Insekten , die zum Schutz vor feindlichen Mächten die Farbe des Holzes oder Laubes annehmen , auf dem sie sitzen , so verhielt sich , halb unbewußt , auch Ruth gegenüber ihrer Umgebung . Es war ihre Art , sich zu wehren . Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand hinter den hohen Türflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes , vor dem ein Soldat Wache stand . Eine Abteilung des Kriegsministeriums lag darin , nebst mehreren großen Kranswohnungen , wovon Ruths Onkel , der Staatsrat war , eine innehatte . Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch . Jetzt erst erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den Droschkenkutschern , die sich sofort um sie sammelten und laut schreiend einander nach Möglichkeit unterboten . Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr , sie hatten sich ausgezeichnet unterhalten , sich ordentlich echauffiert ! Morgen , wenn sie nach neuer Nahrung begierig waren , kam sie wieder . ---------- Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt , denn er hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden zu geben . Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf , die geräumig und freundlich , aber vier Treppen hoch lag : dafür konnte man aus den Fenstern die Newa überschauen , durch deren mächtige blaue Wogen der Ladogasee noch seine letzten Eisschollen trieb . Sie schimmerten durchsichtig im blendenden Maisonnenschein . Über seine Aussicht freute sich Erik täglich von neuem . Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen , allerlei zu erledigen und eingelaufene Briefe mitzunehmen , denn die Landpost galt als unzuverlässig . Heute war er kaum eingetreten , als es klingelte . Er öffnete die Tür und blieb mit einem Lächeln daneben stehen . " Warwara Michailowna ! " sagte er . " Was ist denn das ? " fragte sie , rasch um sich blickend , " schon auf dem Lande ? umgezogen ? allein hier ? Ich wußte es nicht ! Dann haben Sie also meinen Brief - - ? " " Ich habe ihn gestern hier vorgefunden , " versetzte er , sie in die angrenzende Wohnstube führend , wo die Polstermöbel schon ihre Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen gleich Gespenstern herumstanden . Unter dem runden Sofatisch war der Teppich entfernt worden , und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte in der Luft . " Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen - oder bei Ihrer Frau ! " sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der weißbezogenen Sessel sinken , " trotz Staub und Sonne bin ich also da . Ich muß wissen , weshalb Sie nicht kommen wollen . " Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer Frühjahrskleidung , mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie in den Tiefdunkeln Augen , die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem munteren Wesen bildete . " Ich danke Ihnen ! " erwiderte Erik und blickte sie an , " aber Sie nehmen mir in der Tat die Antwort schon von den Lippen : ich wollte wirklich nicht kommen . Mich eine Zeitlang ganz auf dem Lande vergraben . - Dort können wir ja , wenn Sie erst hinausgezogen sind , so poetisch Fangball spielen und Krocket . - Ich bin diesen Winter gar zu stark ins Gesellschaftstreiben geraten . " Und was schadet das ? Fragen Sie nur Klare-Bel , ob sie Sie nicht auch am liebsten im Gesellschaftsrock sieht ? Der Salon ist Ihr natürliches Milieu . Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister , wie sie mitunter mit goldenen Brüllen und blonden Vollbärten zu uns kommen ! Erst seit ein paar Generationen hat sich Ihre Familie dort niedergelassen , - irgendwo an der friesischen Grenze , - französische Emigranten , - weiß ich es nicht gut ? " " So weit wollen Sie den Beweis herholen , daß ich in Gesellschaft gehen soll ? " Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms gegen die Tischplatte . " Sie sind ein Spötter . Ich wollte nur sagen : bilden Sie sich nicht ein , daß Sie zum Schulmeister geboren sind . Trotz der blauen Uniform da , die Sie noch anbehalten haben , - die Ihnen übrigens gut steht , weil es ein Frack ist . Sie sind zum Weltmann geboren . Wenn Sie uns - mondains - meiden , tun Sie sich selbst weh . - - Ich weiß es . Lachen Sie nicht . " " Ich lache ja nicht . Sie sind sehr scharfsichtig , Warwara Michailowna . - Vielleicht zu sehr - ? " Sie schüttelte den Kopf . " Sie würden unserer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen , wenn Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden . Hab ich nicht recht ? " " Nun , nehmen wir also an , ich will nicht berauscht werden , " sagte Erik und kreuzte die Arme ; " daß gerade Sie als Versucherin kommen , ist freilich schlimm für mich . Ein Glück , daß die Saison zu Ende geht . " Sie machte einen schmollenden Mund . " Ich weiß schon . Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher Oberflächlichkeit . " Er widersprach nicht . Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide , und zwischen ihnen lag , unmöglich zu überhören , Warwaras stumme Frage : " Bin in es , die dich berauscht ? " " Sie sind ein Egoist , " sagte sie dann aufblickend , " sonst hätten Sie bemerken müssen , daß Sie sich irren . Wissen Sie nicht , weshalb ich Sie so gern da habe , mitten unter den Menshcen ? Weil ich gerade ebensogut fühle wie Sie , daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl ist , - inhaltsleer , - und es mich dennoch berauscht , - wie Sie . Ihre Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich . Hand aufs Herz ! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen ? Wir haben eine gemeinsame Versuchung . " Er blickte sie fest an . Sie sprach rasch , ein wenig erregt , mit dem weichen , klingenden Tonfall , den er an den Slawen so einschmeichelnd fand . Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar , ob sie mit ihm kokettierte , oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm sprach , als je mit sich allein . Es schien ihr wirklich manchmal - und besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins , - als triebe sie ein verwandter Zug zueinander . Und dann war ihr Erik interessant : als Mensch . So , wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist . Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie einer , der ungeduldig auf Beute ausgeht , und weil er die ihm gemäße dort nicht findet , seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht . " Also : Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung ! " sagte Erik wegblickend - " vielleicht - ein Wettkampf , wer ihr besser erliegt ? " Sie erhob sich , um zu gehen . " Sie haben vielleicht recht zu spotten , und es würde nur sentimental klingen , wenn ich antworten wollte : nein ! mehr als das , - eine gemeinsame Sehnsucht , " entgegnete sie , dicht neben ihm , der ebenfalls aufgestanden war , " Sie haben tausendmal recht . Wir habe ja nie ein ernstes Wort miteinander gesprochen . Und ein Mann braucht keinen Bundesgenossen . Er kann_es allein . " Sie sprach ganz erst , es klang beinahe echt , und was sie sprach , stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunklen Augen . Eine Minute , - eine verschwindende Minute lang fühlte Erik , wie ihm seine Phantasie etwas vorgaukelte . Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf , über die der Verstand lachte , - und ein wilder herrischer Wunsch , den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen Selbstbetrug wahr zu machen . Ohne genau zu wissen , was er tat , hatte er die Hand ausgestreckt , es war eine fast befehlende Bewegung , wie ein : " Bleibe ! " Er sah nichts mehr deutlich , er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt , dieser Augen , von denen Sehnsucht ausging . Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die Wange . Nicht tändelnd , versuchend . Rasch , heftig , fast gewalttätig . Er murmelte halb unverständlich : " Mache es wahr ! mache es wahr ! laß mich nicht aufwachen ! Suchtest du mich ? " Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck . Sie war selbst berauscht gewesen , einen Augenblick lang , aber die Wucht , womit er darauf einging , ernüchterte sie ebenso rasch . Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm , an die sie unvorsichtig gerührt hatte . Nicht wie eine Dreistigkeit , die erstaunt oder verletzt , empfand sie seinen Kuß , sondern wie eine lähmende Gefahr für Leib und Seele , die zu verschlingen droht , was ihr zu nahe gekommen ist . Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht . Ihr Blick lief über ihn hin . Eigentlich sollt er ihr wie ein Kind vorkommen , das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger Erwartung , daß es nicht mehr zu spielen vermag . Es zerbricht gewaltsam das dargebotene Spielzeug , um zu sehen , was dahinter ist , und bleibt mit enttäuschtem Gesicht stehen . Das wollte sie nicht . Lieber noch gespielt haben , als zu ernst genommen werden , - so ernst , daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen Illusionen gemessen würde . Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten Gesicht . Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung . Aber sie weckte auch ihn . Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen , daß sie spielte . - Seine Erregung verflog sofort . Nur etwas Spott blieb in den Augen und um den Mund zurück . Spott über sich selbst . Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül . Fast ungehindert schien die Sonne durch die dünnen weißen Fenstervorhänge , und mißtönend klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf . Warwara war langsam in den Vorflur gegangen , und Erik geleitete sie an die Haustür . Sie wechselten kein Wort miteinander . Erst an der Tür wandte sie sich um zu ihm und Maß ihn mit einem sonderbaren Blick , den er nicht verstand . Bedauern lag darin , aber auch Ablehnung , eine kleine Überlegenheit über ihn , den Mann , und dann noch etwas , wie ein ganz leises Eingeständnis : " Ich möchte wohl die sein , die du brauchst , und die dich sättigen könnte , du Wilder . Aber ich bin es nicht . " " Ich nehme an : Sie kommen nicht , " bemerkte sie dabei zerstreut . " Mit Ihrer Erlaubnis : nein ! " entgegnete er und sann dem Blick nach . Die Tür fiel ins Schloß . - ---------- Ruth war punklich um vier Uhr , zur festgesetzten Mittagsstunde , im Speisesaal erschienen , der , hoch und groß , mit dunklen Mahagonimöbeln ausgestattet , in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag . Sie hatte ihren äußeren Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt , wie der Onkel , die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten , und saß schweigsam auf ihrem Platz am Tisch , den ein Diener in weißbaumwollenen Handschuhen geräuschlos bediente . Während des Essens , das die Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte , blieb die Unterhaltung recht einsilbig . Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche , und seine Frau hatte genug damit zu tun , ihn mit den richtigen Stücken zu versorgen . Erst als die Mundspüler von grünem Glas , die kein Mensch benutzte , vor jeden einzelnen niedergesetzt waren , und vor der Tante die silberne Kaffeemaschine stand , auf der sie den Kaffee immer eigenhändig bereitete , wurde es ein wenig lebhfter bei Tisch . Darauf schien Ruth nur gewartet zu haben . Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte verschwinden . " Gehst du schon auf dein Zimmer , mein Kind ? " fragte die Tante , " dann sieh dich Mal darin um . So unordentlich , so wenig zierlich sollt es bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen . " Ruth machte eine Armesündermiene . " Ich will wunderschön aufräumen , " sagte sie eilig ; " darf ich dann bis zum Tee noch einmal fortgehen ? " " Bis zum Tee ? Ist es denn etwas so Dringendes ? " " Es ist etwas Dringendes , " sagte Ruth . Der Onkel sah auf . " Zu wem willst du denn gehen ? Es ist wohl jemand aus der Schule ? " " Ja , " erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Türgriff , den sie schon in der Hand hielt . " Sage dem Diener , daß er dich begleitet und dort auf dich wartet . " Der Onkel blickte ihr nach , wie sie leise die Tür hinter sich schloß . " Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch , " meinte er dann , seine Zigarette anzündend , " ich kenne niemand , der weniger verlangt und sich weniger bemerkbar macht als sie . " " Weil man ihr alles gewährt , " ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen Stimme , die den baltischen Akzent noch deutlicher hervortreten ließ . Sie war eine Baronesse aus Livland . " Alles ? nun weißt du , ein anderes Kind würde nicht so zurückhaltend sein . Sie weiß zum Beispiel : dies ist die Stunde des intimsten , ungestörtesten Beisammenseins , - und immer geht sie fort . Aber mit knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt . " " Nein , das tut sie auch nicht . Du idealisierst Ruth immer . Sie liebt uns einfach nicht genug , um sich enger an uns zu schließen . Manchmal denke ich : sie ist vielleicht herzlos . " " Aber Mathilde ! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses nachsagen ! Lies Mal den letzten Brief aus Belgien , wie sie sie da in der Pension loben und zurückverlangen . " " Ja , das kennt man , mein Lieber . Sie war ein einträglicher Pensionär . Und dann sind sie dort katholisch . Wie kann man ihnen trauen ? Ich bin es gerade , die deswegen für Ruths Übersiedlung zu uns gewesen ist . Wir sind doch schließlich verantwortlich für sie . Dafür , daß sie in Zucht und Ordnung aufwächst . Was hat man davon , daß ihre Verwandten dort von flämischem Adel sind ? Die Ansichten sind doch die Hauptsache . Und diese Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht . " Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht . Er wußte , daß für seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen " diese Leute " waren , - während für ihn , gerade umgekehrt , die Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing . Ihm kam nicht nur die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich vor , sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl . Mit seinem französischen Namen und den deutschen und slawischen Elementen in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit , daß er nie eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte . Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland , wie die meisten seinesgleichen , weil er dies für unvornehm hielt . " Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen , Mama , " bemerkte die Tochter , " jetzt , wo sie so gut wie erwachsen ist . Nirgends kann man doch so gut in die Welt eingeführt werden wie hier . " " Aber mir scheint , das will sie gar nicht , " versetzte der Onkel lächelnd , der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften begleitete , " sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehen , und macht sich nichts draus . Gott sei Dank also , daß wir mit ihr nicht noch einmal dieselben Umstände haben werden , wie seit einem Jahre mit dir , Liuba . " " Nun bist du wahrhaftig imstande und setztest dein eigenes Kind für Ruth herab , " sagte seine Frau nervös , die kein Gehör für einen scherzenden Ton besaß , " laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien reisen ! " " Nein ! " entgegnete er ärgerlich , drehte seinen Stuhl vom Tisch ab , ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein . Als eine der unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre unleugbare Vortrefflichkeit erschienen , wogegen es nirgends einen Appell gab , aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser gänzliche Mangel an Humor . Die Stunde des " intimsten , ungestörtesten Beisammenseins " war gründlich verdorben . - Ruth freilich ahnte nicht , daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch den unschuldigen Störenfried spielte , ja sie hatte im Augenblick vielleicht fast ganz vergessen , in welchem Lande der Erde , ob in Belgien oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo , sie sich befand . Die Hände auf dem Rücken verschränkt , den Kopf ein wenig gesenkt , ging sie rastlos in ihrer Stube auf und ab , und dabei trug ihr Gesicht den Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens , wie vorhin auf der Schulbank während des Unterrichts . Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet , und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf , als könne sie mit ihren Gedanken nicht recht ins reine kommen . Nach einer Weile blieb sie stehen , strich sich das Haar aus der Stirn und entsann sich ihres Versprechens , " wunderschön aufzuräumen " . Damit ging es außerordentlich rasch . Jedes einzelne Ding , das herumlag , wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert , und als dies gewissenhaft geschehen war , zeigte es sich , daß im Zimmer verblüffend wenig Gegenstände übrig geblieben waren , die man nach der Vorschrift der Tante " zierlich " hätte ordnen können . Es war ein ganz wohnliches kleines Zimmer , mit hübschen Möbeln , einem rotsamtenen Ecksofa und sogar einer Nippesetagere , worauf ein gläserner Mops stand . Aber es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin , sondern das einer gut eingerichteten Hotelstube . Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten etwas über das Wesen derjenigen aus , die hier schlief und lernte und träumte . Es hatte den Anschein , als sage Ruth täglich auch zu dieser Umgebung , wie vorhin in der Schule : " Ich gehe doch bald fort . " Als Ruth fertig war , griff sie hastig nach einem weichen englischen Wollbarett von leichter grauer Strickerei , setzte es wie eine Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube neben der Küche . Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde , die Messer putzend , rittlings auf einer Bank und sang dazu , so daß die Messer im Takte flogen . Es war ein junger Tatar , sehr gewandt und , als Mohammedaner , musterhaft nüchtern . Beten , Singen und Schlafen waren seine liebsten Beschäftigungen . Als er Ruth rufen hörte , schlüpfte er eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Haustür . Sie ließ sich von ihm bis zum sinnländlischen Bahnhof begleiten ; dort entließ sie ihn . " Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehen , Basil , " sagte sie zu ihm , als er mit gezogenem Hut an der Waggontür stand , " aber um neun Uhr mußt du mich hier wieder erwarten . " Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf , der oben eine kreisrunde , glatt ausrasierte Stelle zeigte , sah aber dabei seine kleine Herrin etwas besorgt an . Er wollte gern zu " seinen Bekannten " gehen , aber unerhört kam es ihm vor , sie so schutzlos in die weite Welt hinausfahren zu lassen , namentlich gegen Abend , wo es so viele Betrunkene auf den Straßen gab . " Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten , mitzufahren ? " fragte er und kämpfte mit dem heroischen Entschluß , freiwillig auf sein Vergnügen zu verzichten . Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht , das eben jetzt fast treuherzig aussah , und schüttelte den Kopf . " Wo ich jetzt hingehe , darf niemand mitgehen ! " sagte sie feierlich . Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus , wie eine , die froh ist , alles hinter sich zu lassen ; die kurze Strecke kam ihr lang vor , als führe sie wirklich weit - weit in eine ganz andere Welt . Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach dem richtigen Weg durchfragen mußte , da wurde ihr bänglich zumute . Was ihr vorgeschwebt hatte - zwingend , unwiderstehlich , - war ein ganz bestimmtes Traumbild , und solange nur ihre Phantasie daran herummalte , schien sich ihr alles von selbst zu verwirklichen . Das Wirklichkeitsbild aber , das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den Traum eingriff , verschüchterte sie ; es wäre eigentlich schöner gewesen , wenn sich alles auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte , wie man sich es eben träumen läßt . Die bange Empfindung nahm nicht ab , sondern zu , als sie endlich dem Hause nahe kam , das sie suchte . Es war ihr , als erwache sie plötzlich und befinde sich totenallein in wildfremder Gegend . Eine förmliche Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit , und wie gelähmt blieb sie am Gartengitter stehen . Da lag das Haus vor ihr ; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn Strohhalme zusammen , die bis auf die Straße verstrent waren , und daneben stand ein Knabe , den Hut im Nacken , und sah zu . Der mußte sie sicher gleich bemerken . Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt . " Die Augen zumachen - fortlaufen ! " dachte sie sehnsüchtig . Aber das durfte sie nicht . Ihren eigenen Willen durfte sie ganz gewiß nicht hinterdrein im Stich lassen . Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun . Und leise - leise , mit werbendem Klang , lockte aus der Tiefe des Gartens die zweite . Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben entzückt darauf haften . " Der Frühling ! " sagte sie jauchzend , ganz laut . Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr . Nun erst wurde sie sich dessen bewußt , daß sie doch soeben , auf dem Weg vom Bahnhof , unter grünenden Birken gegangen war , und daß im Grase am Wegrand weiße Anemonen standen . Jetzt kam es ihr vor , als sei das nur so ein wenig Frühling gewesen , der von den Menschen , die aus diesem Garten traten , unterwegs verstreut wurde . Aber hier war der Frühling zu Haus , von hier mußte er kommen ; und nun stand sie dicht vor dem Gitter , hinter dem er blühte . In dem rotgoldenen Duft , den die Sonne darum wob , schaute er mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie ein Märchen hinter dem alten Hause hervor . Da einzutreten , das war fast , als ob man aus einem Traum gar nicht herauskäme . Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert , an der jemand stand , von dem er nicht recht wußte , ob es ein Mädchen sei . " Ich möchte hier herein ! " sagte Ruth bittend . - Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im Wohnzimmer an der Terrasse , und wie immer erzählte Erik seiner Frau lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages . Voll Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth . Warwaras Besuch in der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig . Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt . " Papa ! da ist jemand , der dich sprechen will . Ruth heißt sie . Ich habe sie in dein Arbeitszimmer geführt . " " Aber Jonas ! " rief seine Mutter , " wie konntest du das nur tun ! Da drin muß es ja noch schauderhaft aussehen ! Bringe sie doch herüber , Erik ! Bitte , bringe sie lieber herüber ! Wenn Gone nur abräumen möchte ! " Erik hörte es nicht mehr . Er war schon fort . Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat , stand Ruth mitten darin , etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die Brust gedrückt . Der erste Eindruck , den er empfing , war wieder der des Scheuen , Vereinsamten , wie in dem Augenblick , wo sie so still gesagt hatte : " Mir hilft niemand ! " Wie er sie so dastehen sah , und sie ihm mit großen , bangen Augen entgegenblickte , erinnerte sie in keinem Zuge mehr an den ausgelassenen Jungen im Schulhof . Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon , daß man im Fall eines unerwarteten Besuches zuznächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas Freundliches sagt . All dies Getty kam ihm wie zu einer anderen Welt gehörig vor , - jedes konventionelle Wort vergaß er dieser schüchternen , kindlichen , sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt gegenüber . Es war , als stünde sie auf einer einsamen Insel am weiten Meeresstrande ganz allein vor ihm , - ein Kind aus dem Volke - , und ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen . Ganz unwillkürlich aus diesem Eindruck heraus fand er nur das Wort der Freude : " Kommst du zu mir ? " Das " Du " wirkte wie eine Erlösung auf sie . Es schien ihr in dieser Einfachheit ein Zauberwort , das die fremde , herzbeklemmende Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte , - sie umwandelte zur traumhaften Verwirklichung dessen , was Ruth ersehnt und ersonnen hatte . Sie machte einen Schritt auf Erik zu , ein heller Ausdruck flog über ihr ganzes Gesicht , und die Hände fester gegen die Brust pressend , deren Herzklopfen ihr den Atem benahm , sagte sie kindlich : " Danke ! " Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte ihre Hände in den seinen zusammen . Die Hände zitterten , und es fiel ihm auf , wie blaß und schmächtig sie aussah , wenn nicht der Ausdruck übermütiger Lebensluft , den er an ihr gesehen hatte , darüber hinwegtäuschte . " Fürchtest du dich ? " fragte er , und sein Blick ruhte auf dem schmalen Gesichtchen . Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe , und noch immer zitterte sie , wie ein Vogel , auf den sich eine fremde Hand legt . " Du fürchtest dich doch nicht vor mir , zu dem du kommst ? Sage mir , weshalb du kommst . " Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich . In Gedanken durchlief sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses , vom ersten Schuleindruck an , - aber die ließ sich ja , so weitläufig und verworren wie sie war , ganz gewiß nicht wiedererzählen . Sie versuchte , die Hauptsache herauszuholen . Aber nun vergaß sie alles . Es war rein unmöglich . Und plötzlich brach Ruth in Tränen aus . " Mein liebes Kind ! " sagte er sanft und strich ihr das lose lockige Haar aus der Stirn , das über das gesenkte Gesicht gefallen war . Dann nahm er ihre Hände wieder in die seinen . " Hast du Vertrauen zu mir ? " fragte er . " Ja ! " sagte sie leise . " Unbedingtes ? " " Ja ! " sagte sie wieder . " Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten . Versuche jetzt einmal ganz fest , es zu bezwingen . Ganz fest , hörst du ? Es wird schon gehen . " Sie machte eine Anstrengung , das nervöse Beben , das durch ihren Körper ging , zu unterdrücken . Er wartete ruhig einige Augenblicke , bis es ihr gelungen war . Dann beharrte er auf seiner ersten Frage : " So . Und nun sage mir , weshalb du gekommen bist . Sage es , so gut du kannst . Versuch es nur . Ich werde dir helfen . " Sie seufzte und begann unsicher : " Ich komme nun bald nicht mehr in die Schule - " " Nein . Ich weiß . Und - ? " " Und da mußt ich hierher . " Sie brach ab , wie um ihre Gedanken zu ordnen , dann fügte sie schüchtern hinzu , mit einem rührenden Ausdruck : " Ich bin ja allein ! " Erik wurde es warm bis ins innerste Herz . Noch nie meinte er eine so tiefe , so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben wie diesem Kinde gegenüber . Der Wunsch , sich ihr zu widmen , die Hand auf sie zu legen , wie auf etwas , was ihm zugehörte , wurde plötzlich so stark in ihm , daß er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten ließ . " Möchtest du hierher gehören , Ruth ? " fragte er . " Ach ja ! " rief sie lebhaft , und dann sagte sie mit Inbrunst : " Immer ! " Ihr Gesicht hatte sich verändert , die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus und lachten aus den nassen Wimpern . Sie hätte so gern wieder gesagt : " Danke ! " Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem Worte ausgesprochen . Aber sie scheute sich , es zu wiederholen . Erik sah ernsthaft vor sich nieder , als erwäge er nachdenklich einen Plan . " Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei Unterricht erhalten , " bemerkte er , sie zur Wirklichkeit zurückfürhend , " wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert . Möchtest du ihn bei mir nehmen ? " Sie nickte eifrig . " Gut . Wir würden also miteinander arbeiten , " - und in leichtem Tone setzte er hinzu : " sehr viel arbeiten , Ruth ! Wirst du das auch wollen ? In dem Aufsatz da , - der hat uns ja zueinander geführt , nicht wahr ? - nun , da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen . Einen so ungeordneten kleinen Kopf mit so krausen , wilden , unfertigen Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen . Glaubst du das wohl ? " Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an , als ob sie dächte : " Du wirst es schon ordnen und entwirren ! " Er blickte schweigend auf sie hin , und wieder erschien sie ihm wie ein scheuer mattgeflogener kleiner Vogel , der sich hilflos flattert hat und sich mit einemmal in einem weichen Neste findet . Draußen zögerte die Maisonne am Himmel , und durch den seinen Nebel hindurch , der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg , fielen ihre Strahlen beinahe rot wie flüssiger Purpur . Die beiden noch vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hinteregarten hinaus . Ein herber frischer Duft nach Birkenknofpen wehte mit dem lauen Abendwind ins Zimmer , und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der Nachtigallen . Während Erik auf Ruth schaute , kam ihm eine störende Erinnerung . " Erzähle mir doch , " sagte er unerwartet , " was denn das für ein Mann war , den du auf der Straße grüßtest ? " Sie errötete etwas und wurde verlegen , aber um ihre Mundwinkel zuckte es dabei , wie von verhaltenem Mutwillen . Auf den Wangen erschienen verräterisch zwei Schelmengrübchen . " Ich - - - ach der ! Den kenne ich ja gar nicht . " " Aber er sah dich doch so an , als ob ihr euch recht gut kenntet . Wie kam denn das ? " " Ja , das kam so , " begann sie mit einem Seufzer und überlegte , "- es ist wirklich nicht leicht zu erzählen . Ich habe ihn mir ausgesucht , aber er weiß ja nichts davon . " " Ausgesucht ? Aber , liebes Kind , das kann doch kein Mensch verstehen , " sagte er ungeduldig , " nimm dich besser zusammen , Ruth ! sprich deutlicher . - Nun ? " " Ich will ja ! " rief sie eingeschüchtert , " es ist bloß so schwer ! Es war eine bloße Geschichte , - die wir untereinander spielten - im Schulhof in der Frühstückspause , - und da mußte jemand vorkommen , der ungefähr so aussah . Und da - habe ich mir diesen ausgesucht , weil es schöner geht , wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt . " " Aber was sollt er denn davon denken ? Zum Beispiel schon davon , daß du ihn zuerst grüßtest ? " " Das mußt ich ja tun ! Wie sollt er sonst wissen , was er zu tun hatte ? Ob er grüßen durfte ? " " Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte ? Hast du denn das nicht überlegt ? " Sie sah erstaunt auf . " Das durfte er ja gar nicht . Das hätte gar nicht in sie Rolle gepaßt . Er mußte edel und unglücklich sein . " Erik einfuhr ein kurzer Laut . Seine Augen blickten ernst , fast besorgt auf sie . " In eurem kindischen Spiel - ja . Aber in der Wirklichkeit ? " fragte er langsam . " Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen ? Kannst du das nicht auseinanderhalten ? Das mußt du können , Ruth ! Und nun sage mir , was du getan hättest , wenn er aus der eingebildeten Rolle gefallen wäre ? " Sie dachte nach . " Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen . " " Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden , daß tue die Augen zugemacht hättest ? " " Ich ? Nein ! aber er doch . Denn dann hätte ich ja einen anderen suchen müssen . " " Einen anderen ?! " Sie nickte . " Es gibt ihrer viele ! " versicherte sie treuherzig . " Und das hättest du wirklich getan ? Besinne dich Mal ! Wäre es dir wirklich auch dann noch nicht klar geworden , wie kindisch und dreist dein Benehmen war ? " Ruth sah unglücklich aus . Offenbar machte er ihr einen Vorwurf . Sie dachte nach , was er nur damit meinen könnte ? Sie konnte nicht begreifen , was sie dieser fremde Mann außerhalb seiner Rolle kümmern sollte ? " Ich brauchte ihn , und da nahm ich ihn mir ! " rief sie mit kläglichem Gesicht . Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer . Dann blieb er vor Ruth stehen , die sich auf die Kannte seines Stuhles gesetzt hatte . " Sage mir , gibt es mehr solcher fremden Menschen , die du auf der Straße grüßest ? " " Ja , Alle Straßen sind voll davon . " "- Männer ? " fragte er zögernd . " Auch Männer . Ich brauche immer frische für die Schule . Auch Frauen , Kinder , alte Leute . " " Was meinst du damit , daß du Männer , für die Schule brauchst ? " " In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen . Am liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart . Aber ich habe auch andere Geschichten , - viel , viel schönere , - wunderschöne , " fügte sie lebhaft hinzu , - " und die mit Kindern sind mir die liebsten . " " Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht ? " Sie schüttelte den Kopf . " Sie finden sie nicht schön ! ' sagte Ruth traurig . Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel , der am Fenster stand , und neigte sich ein wenig vor . " Willst du sie künftig mir erzählen ? " fragte er ernst , " aber alle , ohne eine Ausnahme . Und ohne einen Winkel , in den ich nicht hineinsehen könnte . Ich muß alles wissen und hören , was durch diesen phantastischen , unnützen Kopf geht . Wir wollen einen ordentlichen Vertrag machen : du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen . Nur mir . Immer , mit allem hierher kommen . Du wolltest ja hierher gehören . - Wirst du es bedingungslos und Gehorsam tun ? " Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet ; er konnte es an ihrem Gesicht sehen , wie die Gedanken in ihr vergebens nach Ausdruck rangen , aber er hatte dennoch keine Ahnung davon , mit welch einem inneren Jubel ein neues Glück ihr aufging . Sie wollte es ihm so gern sagen , aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt dessen gänzlich , und plötzlich , als müßte sie sich anstatt des Wortes wenigstens durch die Gebärde helfen , glitt sie nieder vom Stuhl und kniete bei Erik hin , - wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz , erwartungsvoll , mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten . Sie fühlte sich so glücklich . Zu Hause . Geborgen . Von hier aus mußte alles Gute kommen . Er strich ihr leise über das Haar . " Also höre unseren Vertrag zu Ende , " sagte er in dem ruhigen Ton , unter dem sie ganz still wurde und lauschte , " wenn du mir deine Geschichten schenkst , dann schenke ich dir auch etwas . Du sollst , soweit es an mir liegt , nicht in deiner eigenen Phantasie stecken bleiben , sondern mit klarem Blick so weit schweifen lernen , wie das Leben - das wirkliche , herrliche Leben - reicht . Und wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte , meinst du nicht , daß ich dich damit etwas Schöneres lehren werde , als du dir bisher geträumt und zusammengedichtet hast ? " " Ach ja ! " rief sie sehnsüchtig , als strecke sie verlangend beide Hände nach etwas Erwartetem aus , - " das ist sie ja : von allen die allerschönste Märchengeschichte ! " Ihm fiel der Ausdruck auf , weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen gegenüber gebraucht hatte . " Grade das sagtest du ja , als du heute morgen den Mädchen erklärtest , daß du etwas Neues vorhättest . Was war es denn ? " Zu seine .. : Erstaunen fuhr Ruth zusammen und senkte den Kopf . Erik sah betroffen aus . " Was war es ? " fragte er streng . " Ich kann es nicht sagen , " versicherte sie scheu , " bitte , bitte nicht . " Er faßte ihre Hand hart im Gelenk , so daß es sie schmerzte . " Wenn es etwas ist , was dir so schwer fällt , auszusprechen , dann ist es um so notwendiger , daß du es sagst . Ich muß es wissen - jetzt gleich , Ruth . " Sie versuchte , die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen , und als es ihr nicht gelang , senkte sie das Gesicht noch tiefer , so daß es sich an seinem Rockärmel fast versteckte . Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht . Es war über und über in Glut getaucht . " Es hilft nichts , sich zu verstecken , " sagte er unerwartet sanft , " du wirst mir immer nachgeben müssen , mein Kind . Mache es kurz ! " Ihre Hände schlangen sich nervös auf sienen Knien ineinander , dann hob sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf . " Es war nur - ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt ; alles stockte auf einmal , - nichts mochte ich mir weiter ausdenken . So schön ich mir es auch ausdachte , mit so vielen Menschen drin ich mir es auch ausdachte , - ich blieb immer allein . Die Menschen grüßten und gingen vorüber . Und da - da kam eine solche Sehnsucht , - seit vier Tagen solche Sehnsucht . Ich konnte nicht mehr spielen . Nie mehr . " " Sehnsucht - wohin ? " fragte er halblaut . " Hierher ! " sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg . Er ließ ihn frei , ließ zu , daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel versteckte . Beide Arme hatte er um sie geschlungen . Kapitel Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon , hielt Hut und Handschuhe auf den Knien und blickte nachdenklich darauf nieder , während er dem Gespräch der beiden zuhörte . " Ich finde , mit deiner Reise stimmt es gut zusammen , Mathilde , " sagte der Onkel jetzt , " denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist , ist Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier . Ich weiß ohnedies nicht , was die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll , da in diesem Jahr die meisten Bekannten nicht aufs Land , sondern ins Ausland gehen . " Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde stark durch sie beeinflußt . Der Onkel mit seinem aschblonden , schon etwas graugemischten Haar und Bart , mit den schmächtigen Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und den frauenhaft feinen Händen gefiel ihm recht gut . In Ton und Haltung erinnerte er ein wenig an Ruth . Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine ausgesprochene Antipathie . " Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären auch jetzt durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth , " bemerkte er aufblickend ; " sie muß zu tun haben , - wirkliche Arbeit und Anstrengung muß sie haben . Selbst körperliche oder geistige Überanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung . In diesen Jahren braucht man starke Nahrung , und Ruth braucht sie am meisten . " " Siehst du ; was sage ich immer ? " fiel die Tante ein , und nickte ihrem Mann bedeutsam zu ; " ich sage immer : man läßt sie viel zu viel gewähren . Aber du hast das immer am bequemsten gefunden . " " Lieber Gott ! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen Frauenzimmer anfangen , " versetzte der Onkel begütigend , " man konnte sie doch nicht etwa anstellen , Stuben zu scheuern ? " " Nein , weißt du , lieber Louis ! das brauchst du nur wirklich nicht vorzuhalten , - es ist ja gerade , als ob ich Ruth Dinge verrichten ließe , die sich nur für den niedrigsten Dienstboten schicken ! " sagte seine Frau , die scherzende Übertreibung unerbittlich ernst nehmend , " aber sich ein wenig im Häuslichen umsehen , - das hätte Ruth ganz wohl können . Liuba wird ja auch dazu angehalten . Es ist doch nun einmal der Beruf der Frau . " Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große , stattliche Erscheinung der Tante , für deren ganzes Wesen ihm charakteristisch erschien , daß die gewohnten guten Formen des äußeren Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht zu verdecken vermochten . " Was das anbetrifft , " unterbrach er sie ungeduldig , " so brauchen Sie sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen . In einem so von allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte , häusliche Hilfe ' , bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen , im besten Fall eine gleichgültige Spielerei , - im schlimmeren Fall weckt sie die Einblidung , man habe etwas geleistet . Dagegen hätte ich gegen das Stubenscheuern nicht viel einzuwenden . " Der Onkel lachte erfreut auf . " Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau gründlich verdorben ! " drohte er scherzend , " aber ich muß bekennen , daß ich gar nicht begreife , warum Sie alle beide so versessen drauf sind , Ruth ins Joch zu spannen . Natürlich habe ich nicht das geringste gegen den Unterricht , den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen , - im Gegenteil , es freut mich für die Kleine . Aber ich möchte Sie doch bitten , das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch auszuführen . Nicht ins Geistige zu übertragen . Machen Sie es nur nicht zu ernsthaft . Ruth ist es so gewohnt , umherzulaufen und in ihrer Faulheit vergnügt zu sein . " " Ich glaube , Sie täuschen sich , " entgegnete Erik in bestimmtem Ton . " Ruth ist weder faul noch vergnügt . Sie ist es gewohnt , sich in einem selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen . Sie ist dadurch zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt , zum Teil aber auch hinter ihrem Alter zurückgeblieben . Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung gesehen . Wenn sie nicht rechtzeitig aufgehalten wird , so läuft Ruth Gefahr , an ihrer Phantasie geistig zu erkranken . " Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf . " Das ist doch kurios , " sagte er , " ich habe Ruth stets für ein höchst praktisches kleines Frauenzimmer gehalten . Von Phantasie war doch nie eine Spur an ihr zu bemerken . Alles was sie sagt , ist ja so direkt und nüchtern . Und am liebsten sagt sie gar nichts . Sie sollten nur wissen , wie nüchtern sie in allem ist , wo die jungen Mädchen sonst ihre Phantasie sitzen haben ! Das hat mir stets so gut gefallen . Da kann Liuba gar nicht mitkommen . " Seine Frau sah ihn verletzt an . " Glücklicherweise nicht ! " bestätigte sie etwas erregt . " Liuba würde nicht umhergehn wie in einen grauen Sack gekleidet , bloß weil es so am bequemsten ist . Und überhaupt - denken Sie nur , neulich höre ich , wie meine Tochter zu Ruth sagt : , paß nur auf , wenn du ein Jahr älter bist , dann wirst du schon wissen , was schön und häßlich ist , und wirst vorm Spiegel fragen : Wie gefalle ich ihm ? ' - - Mein Gott , Sie wissen ja , wie junge Mädchen so untereinander reden ! Aber was antwortet Ruth orauf ? Sie lacht nur , und dann fragt sie erstaunt : , Warum nicht lieber : wie gefällt er mir ? ' " In diesem Augenblick ging die Tür auf , und Ruth trat ein . Sie kam aus ihrem Zimmer , ohne eine Ahnung , daß sie Besuch vorfinden würde . Als sie so unerwartet Erik erblickte , fuhr sie zurück und wurde glühend rot . Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der Ihrigen , die ihr so fern standen , - die unerwünschte Vermischung eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung , die sie mied und floh , machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie . Etwa so , wie wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben niedersteigt , um ein banales Gespräch zu führen ; - etwa so , wie wenn man das Intimste , was nicht einmal Worte besitzt , in die Sprache des Pövels übersetzt findet . Daß Erik herkommen , daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten auseinandersetzen mußte , das fiel ihr nicht im geringsten ein . Er hätte das schon so einrichten müssen , daß es eine Angelegenheit aus einer anderen Welt - aus ihrer Welt blieb . Sonst wäre sie lieber noch des Nachts heimlich und auf bloßen Füßen zu ihm gelaufen . Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus , wie sie sich da , verlegen und mit scheuem Gesicht , in die Türspalte drückte . Aber nicht Verlegenheit empfand sie , sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham , - Scham darüber , daß etwas Zartes , ihr Zugehöriges vor fremden Augen herumgezeigt und besprochen wurde . " Nun , Ruth , benimmt man sich so ? " bemerkte die Tante verweisend , " kannst du nicht näher kommen ? " Da tat sie etwas Wunderliches . Sie hob beide Hände seitlich vor die Augen , und so , mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht , ging sie , wie ein Kind , das sich vor fremden Gästen fürchtet , durch das Zimmer bis vor den geschnitzten runden Sofatisch , um den sie saßen . Der Onkel lachte , seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte strafend : " Ein so großes Mädchen ! " Erik , der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte , blickte sie schweigend und aufmerksam an . Als sie dicht neben ihm stand , hob er die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort . " Warum willst du mich heute nicht ansehen , Ruth ? " fragte er sie . Sie antwortete nicht . Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu Boden gesenkt . Dieses " Du " , das er zu ihr sagte , und das sie gestern so dankbar hingerissen hatte , verletzte sie heute beinahe . Es klang ganz anders - hier , an dieser Stelle , - es klang wie die Anrede , die man einem Kinde gegenüber wählt , das unter lauter Erwachsenen dasteht . Ja , sie stand ihm und den anderen gegenüber , und sie verhandelten da über sie , als wäre sie verraten und verkauft , - als handelte sich es gar nicht um ihre - ihre eigene , eigenste Angelegenheit . Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft . " Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen , " meinte der Onkel , noch immer lächelnd , " aber sie ist nicht so schlimm , wie es aussieht . Was ist dir nur in die Krone gefahren , Kleine ? Verlegen habe ich dich noch nie gesehen . " Erik , der sie unverwandt ansah , suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken . " Wir wollen schon miteinander zurechtkommen , " sagte er mit warmer Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und Stunde des geplanten Unterrichts . Ruth stand teilnahmlos daneben , ohne die Wechselreden der anderen zu beachten . Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz . Sie blickte nicht auf , sondern studierte eingehend das glänzende Muster des Parkettfußbodens . Da , als Erik schon Miene machte , sich zu verabschieden , hörte sie ihren Onkel sagen : " Wenn es Ihnen also wirklich kein zu großes Opfer ist , so erwarten wir Sie hier nachmittags nach Ihren Schulstunden ! " " Nein ! " warf Ruth plötzlich laut dazwischen . Es war , als ob sie aufwachte . Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum anderen . " Hierher ? das ist ja ein Irrtum . Ich werde hinaus kommen . " Alle sahen sie verwundert an , als sie das so kategorisch , ohne eine Spur von Befangenheit erklärte . Erik aber erhob sich rasch . " Das ist am Ende wirklich das Bessere , " stimmte er ihr unwillkürlich bei , " und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns verbringen will , so wäre es in der Tat während dieser Sommertage vorzuziehen . " Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen , überlegenen Sicherheit wie vorhin , sondern etwas hastig . Ein schwacher Reflex von dem , was Ruth so peinigend und störend an der Situation berührt hatte , schien jetzt auch auf ihn überzugehn , als ahne oder begreife er plötzlich ihre zornige Scheu . Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen , fast strengen Blick auf sich gerichtet sah , da kam es ihm selbst mit einemmal sonderbar vor , daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen als in seinem eigenen , stillen Zimmer , - dort , wo sie zu ihm gekommen war . Beinahe hätte der Zufall es so gefügt . Aber sie ließ keinen Zufall zu . Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen , was sie sich ersehnt und erträumt hatte . Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ , und die Tante hinausging , blieb Ruth regungslos stehen , die Hände auf dem Rücken , den Kopf gebückt , wie immer , wenn etwas sie sehr beschäftigte . Im Flur hörte sie die Haustür gehen , dann einen raschen Schritt auf der steinernen Treppe . Darauf wurde es ganz still . Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier , überschüttet von blendendem Sonnenlicht , das durch die hohen Blattgewächse und Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte , die schon einen dünnen Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten . Ruth ging langsam auf den Stuhl zu , worauf Erik vorher gesessen hatte . Sie setzte sich hin , legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf darauf . Und dann fing sie an , bitterlich zu weinen . - Bei Tisch , zu Mittag , beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich . Es hatte ihm so sehr imponiert , daß Erik alles zu ergründen schien , was in ihr vorging . Da saß sie nun so schweigsam . Freilich konnte man nicht wissen , woran sie dachte . Aber das konnte dieser Lehrer doch auch nicht . Er war doch kein Hellseher . " Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag ? " fragte Onkel Louis plötzlich ärgerlich . " Ich ? An gar nichts ! " versicherte sie mit einem verwunderten Blick . " Aber an irgend etwas mußt du doch denken . Das tut ja jeder Mensch . Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben ? " " Jetzt eben dachte ich an Großpapa , " sagte Ruth . Darüber freute sich der Onkel und sah sie freundlich an . Er hatte seinen Vater unendlich lieb gehabt . " Du warst erst fünf Jahr alt , als deine Eltern starben und du hierher kamst , erinnerst du dich denn seiner noch ? " Sie nickte , und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf : eine Generalsuniform , ein schneeweißer großer Schnurrbart , und darüber zwei gütige blaue Augen - Kinderaugen eigentlich . " Einmal habe er mich aus dem Bett , - er sah so schön aus , mit Bändern und Sternen , und blitzte über und über , - und da kam seine brennende Zigarette an meine bloßen Arm . Ich schrie sehr . Und da kamen ihm Tränen in die Augen , - aber wirkliche , große Tränen , so daß die Augen ganz voll davon standen . Und dann drückte er mich an sich und küßte mich - auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den ganzen Körper . - So war Großpapa . - Jetzt würde ich mir gern den Arm abbrennen lassen , wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte ! " fügte sie wild hinzu . Man sah , wie es in ihr gärte . Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie vergessen können . " Hast du Bilder und Andenken von ihm ? " fragte der Onkel und dachte darüber nach , was er ihr schenken könnte . Sie schüttelte den Kopf . " Keine Bilder . Nur ein Knallbonbon . Das brachte er mir einmal vom Kaiser mit . Von einem Galadiner . Ich glaubte so bestimmt , es müßten goldene Kleider drin sein . Aber Großpapa meinte , es wären nur Kleider von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold . Da habe ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen . Ich habe es noch . - . Und so sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin . " Dem Onkel kam ein Lächeln . Erik imponierte ihm lange nicht mehr so sehr . Großpapas Küsse , Knallbonbons , goldene Kleider und Kleider aus Seidenpapier , - das waren doch sicherlich normale und harmlose Phantasien eines Kinderkopfes . - Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde fortging , zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr zu : " Du ! wenn du ihm weglaufen solltest , so nehme ich dich in Schutz ! " - Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand , kam ihr nicht , wie neulich , der Gedanke an Weglaufen . Sie zauderte auch nicht mehr so lange , einzutreten , sondern stieß die Pforte auf und ging geradeaus , - nicht hinten die Terrasse hinauf und ins Haus , sondern weiter , in die Tiefe des Gartens , der sie das erste Mal so gelockt hatte . Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen , emsig beschäftigt , Raupen zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen . Eigentlich waren noch gar keine Raupen da . Aber er konnte es nicht erwarten , sie abzulesen . Als er Ruth herankommen sah , riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf und machte ein verlegenes Gesicht , denn der Sonnenwärme wegen hatte er die Jacke abgeworfen . " Papa ist im Hause ! " bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach seiner Jacke , die auf dem Rasen lag . " Ja ! Er stand am Fenster , " bestätigte Ruth , und lehnte sich gegen den dicken Stamm einer alten Ulme . Darauf wußte er nichts zu entgegnen , und so schwiegen sie beide einige Augenblicke . " Wie wunderschön ! " sagte Ruth dann , ganz in ihren Frühling versunken , und breitete beide Arme nach den mächtigen , leise schwankenden Ästen empor , die über ihr rauschten . Jonas sah angestrengt in die Höhe , gewahrte aber nichts . " Wo ist das Schöne ? " fragte er verwundert . " Diese drolligen kleinen Ulmenblätter ! Die anderen Bäume haben schon viel größere Blätter . Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den Knospen , - und alle miteinander an den Zweigspitzen , - als getrauten sie sich nicht . Oder als guckten sie frierend nach den klebrigen braunen Hülsen , die sie schon heruntergeworfen haben . Sieht es nicht aus , als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut ? Es sieht aus , als wären sie ihm nur so angeflogen . Und als könnten sie wieder wegfliegen . " " Die fliegen aber nicht weg , " versicherte Jonas und wandte sich wieder seinen vermeintlichen Raupen zu . " Nein . Nur diese hier tun es , " bemerkte Ruth und streckte ihre Hand gegen den Kirschbaum aus , von dem unter Jonas ' unvorsichtiger Berührung die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten . " Dies hier sind gute Kirschen . Hoffentlich von den roten durchsichtigen , " meinte Jonas , " denn die es ich am liebsten . Sonst habe wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen . " " Die sehen ebenso schön aus , " entgegnete Ruth ; " wenn man am Gitter steht , sieht es aus wie ein Märchen . Aber später werden sie so grün und natürlich wie die anderen Bäume . Nur kleiner . " " Das muß so sein , " erklärte Jonas gleichmütig , " sonst würde der Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen . Und der ist das Beste vom Sommer . Denn gerade hier am Springbrunnen unter den Obstbäumen liegt meine Mutter im Ruhestuhl . Und sie kann die viele Sonne nicht vertragen . " Ruth sah ihn mit Interesse an . Es kam ihr als etwas Besonderes vor , daß er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten freute und die grünen Blätter besser fand als all die wunderschönen weißen Blüten . Die Schulmädchen , die sie kannte , besaßen zwar meistenteils auch Mütter , aber die pflegten gesund zu sein , und nie hatte sie gehört , daß sie sich Deernwegen auf den Sommer freuten , sondern immer nur wegen der Ferien . Und dann waren es Mädchen . Dies hier aber war ein Junge . Sie betrachtete Jonas genauer , und er gefiel ihr sehr gut . Und auch er sah jeden Augenblick zu ihr hinüber , und auch sie gefiel ihm über die Maßen . " Ist sie sehr krank ? " fragte sie nach einer Weile zaghaft . " Nicht sehr . Sie kann nur nicht aufstehen , - schon viele Jahre nicht , " belehrte er sie ; " wenn sie das tun will , dann nimmt Papa sie in die Arme und trägt sie . Das kann er so prachtvoll . Machmal hat sie auch Schmerzen , und weint . Und dann muß Papa immer bei ihr sein , und das hilft ihr . " Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu , wo die kranke Frau lag und wo er war , der sie trug und ihr half , wenn sie Schmerzen hatte . " Hinter diesem Fenster , " sagte Jonas und wies mit der Hand über die Terrasse nach dem Wohnzimmer ; " da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen hereingetragen worden . " Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu sehen , der ihnen den Rücken zukehrte . Und nun wandte er sich langsam um . Ruth löste sich ein wenig hastig von dem Stamm , woran sie lehnte . " Jetzt will ich hineingehen , " sagte sie . Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten sehen , war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt , wo sie mit Jonas stand und plauderte . Klare-Bel lag neben dem Fenster , mit einer mühsamen und kunstvollen Handarbeit beschäftigt , die darin bestand , an einer schadhaft gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen . Man nannte diese Arbeit in Holland " Matzen " . Und wer es ernst damit nahm , der wollte das " Matzen " bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt wissen . " Kommt Ruth noch immer nicht herein ? " fragte sie nach einer langen Pause . Er zog die Uhr . " Nein . Noch fehlen einige Minuten an der Zeit , " bemerkte er einsilbig . " Das ist doch eigentlich kein Grund , nicht hereinzukommen , wenn sie einmal da ist . Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und plaudert mit Jonas , als daß sie im Zimmer sitzt und lernt , Erik . Das ist am Ende auch ganz natürlich . " Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre Handarbeit nieder . Er konnte das " Matzen " nicht leiden und bahauptete , es verdürbe die Augen , und sogar den Charakter . " Bitte , höre jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf , " sagte er und nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand , " ich weiß nicht , - das Zeug macht nervös . " Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr . Ihm war die Ahnung gekommen , daß es doch nicht so ganz von selbst gelingen werde , bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen , wie er sich es an jenem wundersamen Maiabend gedacht hatte . Sie wollte durch keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung von seiner Seite in ihrem selbständigen Traumleben gestört werden , und erhob sie ihn auch zum Helden ihrer " allerschönsten Märchengeschichte " , so mußte er sich dabei doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen , - sonst entglitt sie ihm leise wieder , so leise und traumhaft , wie sie in sein Leben gekommen war . Das durfte nicht sein ; der Erzieher in ihm litt es nicht , daß ihm mißlinge , was er sich mit Ruth vorgenommen hatte . Er wußte : er würde nicht eher ruhen , als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte . Aber welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben ! Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige Freude . Freude über den Kampf , der ihm mit Ruth bevorstand . Erik , der andere weit besser zu erforschen verstand als sich selbst , ahnte gar nicht , wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein jugendliches , herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte . Er wandte sich dem Garten zu . " Jetzt kommt sie ! " sagte er , und wirklich , es klang wie ein Seufzer der Erleichterung . Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf . " Nun , viel Erfolg , Erik ! Vergiß nur nicht , daß wir um neun Uhr den Tee nehmen . Du wirst sie hungrig und durstig machen , denke ich mir . " Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen und öffnete schon von innen die Tür , als Ruth kam und anklopfen wollte . " Endlich ! " bemerkte er , während sie eintrat , " weißt du , Ruth , was meine Frau soeben meinte ? Sie meinte , du seiest gewiß viel lieber mit Jonas draußen im Garten als bei mir hier in der Stube . Was sagst du dazu ? " Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in den Ledersessel , der am Fenster stand . Dann erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen : " Ich bin doch gekommen , weil ich wollte , - nur weil ich es wollte . Das Jonas auch hier ist , wusste ich doch gar nicht . Das ist ja nur Zufall . Den fand ich hier . " Er wußte nicht gleich , was ihn an der Antwort , die keine war , überraschte . Sie betonte ausschließlich , daß sie ganz aus freien Stücken hier sei . Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar nicht ein . " Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt , mein liebes Kind , " sagte er , indem er an seinen Schreibtisch trat und einige Hefte und Bücher zurecht legte , " denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehn wirst du ja in der Folge nur , wenn du , willst ' , das heißt , wenn dir Stimmung und Laune zufällig danach stehen . Hier hingegen , wo du freiwillig hergekommen bist , kann es doch nicht ganz so bleiben . Hier wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten , was vom Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist . Also auch etwas , wovon du manchmal denken wirst : , ganz so möchte ich es nicht , - ganz so meint ich es nicht , - dies da soll anders sein , - das da soll heute nicht da seine . Ist es nicht so ? " Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes Gesicht . Es war ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen , was er da sagte . Aber daß er das wissen konnte , kam ihr sehr unangenehm vor . Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze , die sie aufbehalten hatte , vom Haar . " Nun Ruth , gestern hast du mich nicht ansehen wollen , und heute willst du mich nicht anreden . Hältst du so unseren Vertrag ? Und ich hoffte bestimmt , daß du mir viel erzählen würdest . Viel - alles . Alle deine schönsten Geschichten . " " Nein , " erklärte Ruth , " nie und nimmer . Ich will nichts erzählen . Ich will alles für mich allein bahalten . " " Du Geizhals ! " sagte er und lachte , " das ist sehr schlimm . Ist es nicht schlimm , wenn man einen zu Gaste geladen hat , und dann die Haustür vor ihm zuschlägt ? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr , Ruth . Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt ? Hast du das vergessen ? Nun sind sie mein Eigentum . Ich kann damit machen , was ich will . Ich kann sie dir aus Kopf herausnehmen und für mich ganz allein behalten . " " Ach nein ! " fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach ihrem Kopf , " das geht ja gar nicht . Es geht nicht , wenn ich nicht will . " " Du sprichst so viel von deinem Willen , Ruth . Und daß du nur hier bist , weil du gerade willst . Aber weißt du denn eigentlich auch , wozu du es willst ? " Sie stutzte und blickte auf . Als sie nicht gleich eine Antwort fand , fügte er hinzu : " Ich weiß es für dich : du wolltest eben diesen Willen klären und erziehen lassen von jemand , der dich lieb genug dazu hat . Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu . " Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels , und ihr Gesicht wurde noch ablehnender . " Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte ! " dachte Erik , sie betrachtend . Aber hinter diesem Visier arbeitete eine steigende Erregung in ihr . Die passive Stimmung , in der sie heute hergekommen war , hielt unter Eriks Andrängen nicht stand , aber noch weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten Abends wiederzuerhaschen . Sie verschloß und verbarg sich daher instinkitv vor ihm , wie vor einer Macht , die man sich erst genau ansehen muß , ehe man sich mit ihr einläßt . " Alles ist heute anders ! " murmelte sie . " Es wird immer anders sein , als du dir_es willkürlich ausmalst , " entgegnete er in ruhigem Ton , " und das soll es auch , Ruth ! Es soll zu ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie . Siehst du , auch ich habe mir etwas Schönes ersonnen und geträumt , was ich in dir verwirklicht sehen möchte . Ich versprach dir doch : für die Geschichten , die du mir erzählen wolltest , solltest du eine durch mich erleben . Die Allerschönste , - sagtest du nicht so ? Mit dem Erzählen mußt du es nun halten , wie du willst , aber mit dem Erleben wirst du_es halten , wie ich will . Es war mein Geschenk für dich . Und wenn du heute auch nichts davon wissen willst , so wirst du es doch annehmen müssen . " Ruth wurde unruhig . Sie kannte nur zwei Sorten Menschen , und daß sie Erik in keiner von beiden unterbringen konnte , ängstigte sie . Die eine Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung , die ihr meistens störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt ; die andere bestand aus den fremden Menschen , die sie , wie Schattenbilder , aus der Ferne betrachtete und denen sie die äußere Anregung zu ihren Phantastereien entnahm . Zu diesen konnte Erik nicht gehören , denn die taten nur , was sie wollte , - sie waren ja nur , was sie wollte . Er hingegen war eine Wirklichkeit , die auf sie eindrang . Sie konnte ihn aber auch nicht abwehren , wie sie die Ihrigen von sich abwehrte , denn es war etwas da , was sie mächtiger reizte und anregte , als es alle Schattenbilder zusammen getan hatten . Sie sah ihn scheu an . " Ich will lieber ein anderes Mal kommen , " bat sie leise , " ich kann heute nicht lernen . Ich kann es nicht . " " Doch , doch ! " entgegnete er beschwichtigend , " du kannst es . Und im Grunde willst du es auch . Aber wir können nicht in jedem Augenblick den Kampf darum von neuem aufnehmen . Der muß ein für allemal entschieden werden . Du oder ich , Ruth ! Einer von uns beiden muß gehorchen . " Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich : " Dann kann ich auch fortbleiben . " Es war ihr ganz spontan , wider alle Überlegung , entfahren . Aber nun half es nichts . Nun war es heraus . Erik sah , daß sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand , und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn . Ihm kam es vor , als habe er sie mißhandelt , und sein Blick wurde sehr weich . Aber er dachte nicht daran , dieser weichen Regung nachzugeben . Er wünschte , die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag zu bringen . Am Gelingen zweifelte er nicht . Und voll Freude fühlte er : war es erst überstanden , so konnte er alle Strenge in die Rumpelkammer werfen . Dann war er Ruths für alle - alle Zeit sicher . " Gewiß kannst du fortbleiben , " bestätigte er ruhig , " wenn sich es für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat als um einen solchen Zeitvertreib , wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt . Weißt du noch , was du von dem Fremden gesagt hast , den ihr in euer kindisches Spiel hereinzogt ? , Wenn er mir nicht gepaßt hätte , wenn er aus der Rolle gefallen wäre , die ich ihm zugewiesen habe , dann hätte ich mir einfach einen anderen suchen müssen , - ich hätte die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen . ' Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so - - dann Lauf nur fort . " Während er sprach , fühlte er beständig das große Mitleid . Sie sah nur ein einziges Mal auf , und wie sie seinem weichen Blick begegnete , da war es , als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über , - als suche sie nach einer Waffe , nach irgend etwas , was sie von ihrem Leiden befreien , ihm weh tun und ihr Macht geben könne . Ihm fielen die Worte ein , die sie vom Fremden gebraucht hatte : " Ich brauchte ihn eben , und da nahm ich ihn mir ! " Ruth langte nach ihrer Wollmütze , die auf dem Schreibtisch lag , und drückte sie zwecklos in den Händen zusammen . " Ich will nach Hause gehen ! " wiederholte sie und zitterte am ganzen Leibe . " Wie du willst . " " Also adieu , " sagte sie und ging langsam , wie gelähmt , der Tür zu . " Adieu , mein Kind . " Sie hatte Mühe , den Türgriff zu finden und niederzudrücken , ihre Hände waren kalt und gehorchten ihr nicht . Als aber die Tür offen war und sie in den Flur hinaustrat , da blickte sie beim Schließen der Tür mit brennenden Augen ins Zimmer zurück . Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster . Er hatte den rechten Arm auf die Lehne gestützt und die Hand über die Augen gelegt . Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein : daß all sein Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienwollen sei . Plötzlich überfiel es sie : daß er eben jetzt leide , - um sie leide , die ihn verletzt hatte . Es traf sie mit einem Schmerzgefühl , aber dies Gefühl war seltsam und berauschend : es lag Triumph darin . Es war ein Schmerz , der sich wie ein Glück anfühlte . Noch immer zitterte sie am ganzen Körper , aber nicht mehr in der Angst der Flucht . Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht , sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen . Wer Ruth über den Flur gehen sah , der konnte meinen , sie sei trunken . Um neun Uhr , - Gone hatte bereits den Tee und die gerösteten Brotschnittchen auf den Tisch gebracht , - kam Erik endlich ins Wohnzimmer herüber . " Es ist doch nichts vorgefallen ? " fragte seine Frau mit einem Blick in seine Gesicht . " Ruth ist ja schon so bald fortgegangen . Und ich dachte doch , daß sie mit uns bleiben sollte ? " " Für heute war es besser so , " versetzte er , und Klare-Bel fragte nicht weiter . Aber Jonas tat es statt ihrer . " Ruth habe ich ganz ungeheuer gern , " versicherte er , " kommt sie bald wieder her , Papa ? " " Bald ! " sagte dieser . " Denke dir nur , sie wollte mir es nicht sagen , " plauderte Jonas weiter , " ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen , wie sie fortging . Da sah sie so kurios aus , Papa , ihre Augen waren so groß und glänzten so , - sie sah aus , als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte . " Was geschenkt ? " wiederholte Erik und setzte das Teeglas , das er zum Munde führen wollte , hart auf den Tisch nieder . " Ja , ganz gewiß , gerade so sah sie aus . Aber sie antwortete mir nicht , und dann , am Gitter , da bat sie mich um ein Glas Wasser . " " Ihr ist doch nicht unwohl geworden ? " fragte Klare-Bel besorgt . " Nein , aber sie zitterte ordentlich . Das Wasser habe ich ihr vom Brunnen geholt . Und dann ist sie fortgegangen . - Ich habe ihr aber noch lange nachgesehen , " fügte Jonas hinzu . " Gewiß warst du zu streng mit ihr , Erik , " sagte Klare-Bel , " ich konnte es dir schon ansehen , wie du hinübergingst . " " Zu streng ? Aber , Bel , dann sieht man doch nicht aus , als ob man etwas geschenkt bekommen hätte . " Er sprach in leichtem Ton , doch beschäftigte ihn , was Jonas erzählt hatte . Es war etwas Neues , Unerwartetes , worin er sich nicht gleich zurechtfinden konnte . Daß sie trotzte , und selbst daß sie weglief , begriff er ganz gut und rechnete damit . Aber dies hier begriff er nicht . War es denn möglich , daß sie gern - mit Freude fortging ? - - Und daß sie nicht wiederkam ? - - Während sie noch beim Tee saßen , zog draußen ein schweres Gewitter herauf . Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fentser , durch das man die dunkle , schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah . Ein Sturmwind fuhr durch die Baumkronen , schüttelte und beugte sie ; der Tagesschein , den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte , verschwand unvermittelt . Und gleich darauf prasselte unter grellzuckenden Blitzen und gewaltigen Donnerschlägen ein heftiger Platzregen nieder . " Bitte , laßt doch die Fenster schließen ! Bitte , Jonas , esse nicht mehr ! Ach Erik , der Donner ! " sagte Klare-Bel , die vor jedem Blitz die Augen schloß . Erik stand auf , blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in den Aufruhr hinaus , dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück . Die Gewitterangst war etwas , was sie überkommen hatte , seitdem sie hilflos daliegen mußte . Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht , und Erik würde es auch wohl nicht an ihr geduldet haben . Jetzt hatte er Geduld damit . " Wenn man eine Lampe anzünden könnte ! Es ist so dunkel geworden auf einmal . Und dann ist der Blitz so furchtbar hell , Erik ! " " Gone braucht keine Lampe hereinzubringen , " erwiderte er lächelnd und legte seine Hand über ihre Augen ; " bist du nun nicht geborgen , Bel ? " Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände . Es war ein arges Gewitter . Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag . Auf Augenblicke sah der Garten aus wie von bengalischen Flammen beleuchtet , und im bläulichen Schein konnte man die vom Sturm losgerissenen Blätter und Blüten in tollem Wirbel Durcheinanderfliegen sehen . Wenn der Donner besonders gellendes krachte , fuhr Klare-Bel jedesmal zusammen . " Ob Ruth wohl schon zu Hause war , ehe es losging ? " fragte sie . " Längst . Sie muß zu Hause gewesen sein , ehe wir uns zu Tisch setzten , " beruhigte er sie , " und der Diener wird sich freuen , daß er sie bei diesem Unwetter nicht zu holen braucht . " Es währte noch eine ganze Weile , ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig nachließen und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach niedertrommelte . " Nun , Bel , jetzt wird es besser , " sagte Erik und nahm seine Hand von ihrem Gesicht . Er öffnete wieder das Fenster , durch das die abgekühlte Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte . Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und blickte , über die Brüstung gebeugt , in den verwüsteten Garten hinaus . Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt , die Obstblüte hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen . " Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen , alle mit einemmal , die weißen Blüten , " rief Jonas bedauernd , " so , wie Ruth es gesagt hat ! Wie leid wird es ihr tun . Sie fand sie so schön . Aber dort oben wird es schon wieder blau , Papa . " " Gott sei Dank ! " meinte Klare-Bel . " Solche Aufregung und Verwirrung draußen ist schrecklich . Man wird förmlich mit hineingerissen . " " Ja , das ist nichts mehr für dich , meine Arme , " sagte Erik , " es gab aber Zeiten , wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des Meeres aushalten mußtest , ohne daß ich bei dir war . " " Das war auch entsetzlich , Erik , ganz entsetzlich war es , " versicherte sie zusammenschaudernd , " damals , als du mit Leuten hinausfuhrst , wenn ein Schiff in Gefahr war . Und das eine Mal , weißt du , wo du es ganz allein warst , der den Niels und die anderen dazu beredete . Denn die hatten ja auch Frau und Kind . Aber das hast du immer so gut gekonnt : die Leute bereden . , Es wird gehen ! ' sagtest du zu ihnen , und da glaubten sie dir . " " Du glaubtest mir ja auch , Bel , wenn du allein zurückbleiben mußtest , und wenn es dir schien , als ginge das nicht . " " Ja , Erik . Manchmal dachte ich , der Schreck würde mich töten . Aber dann sagtest du so zuversichtlich : , Wenn ich nach Hause komme , naß und müde , Bel , dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen , und beide vergnügt und gesund . ' Nun , und da mußte es wohl so sein . " Er schwieg . Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht , wo er , aus wirklicher Lebensgefahr heimkehrend , seine Frau gefunden hatte , wie sie , das Kind neben sich , mitten in der kleinen Stube auf den Knien lag und laut betete . Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen geblieben , denn noch nie hatte er sie beten sehen . Als sie heirateten , waren ihm unter ihren Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände gefallen , und wie sie ihn darin blättern sah , fragte sie ihn : " Glaubst du an das , was darin steht ? " Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt und geantwortet : " Nein , Bel. " Seitdem war dieser Gegenstand nur noch ein einziges Mal , nach Jahren , im Gespräche wieder berührt worden , und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen , daß seine Frau , ohne es auch nur selbst recht zu merken , ihren Glauben gar nicht mehr besaß . Auf seine Frage , wie denn das geschehen sei , hatte sie mit ihrem freundlichen Gleichmut verwundert erwidert : " Ja , Erik , wenn es doch gar nicht so ist , - was kann es dann noch nützen , daran zu glauben ? " Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln und seinem nassen Wollwams hereintrat , da hörte sie auf zu beten und streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen . Er hob sie von den Knien auf und küßte sie . " Tust du das , Bel , wenn ich nicht bei dir bin ? " fragte er sie leise . " Wenn du nicht bei mir bist , Erik ! " sagte sie weinend , " denn dann , scheint mir immer , muß ich es tun ! " Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde . Kurz darauf tat sie den Geofährlichen Sturz , der ihr die Gesundheit kostete , und das Kindchen wurde tot geboren . Als Gone mit einer brennenden Lampe hereinkam , fuhr Erik aus seinen Gedanken auf . " Ich möchte jetzt zu mir hinübergehn , " bemerkte er und küßte seine Frau auf die Stirn , " ich habe noch Schularbeiten für morgen . Sobald du müde bist , mußt du mich rufen lassen . " Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel . Nur von ein paar rosenroten Wölkchen , die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden hatten und nun mit heiterem Leuchten selbständig auf einem breiten Stück Himmelsblau umherschwammen , fiel ein schwacher Schein durch die Fenster . Man konnte in ihm den Schreibtisch , den Bücherschrank , das alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen . Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen . Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt , daß auf dem Ledersessel am Fenster Ruth säße . An Halluzinationen konnte er doch nicht leiden . Mit einem Gefühl des Ärgers über sich selbst schloß er hinter sich die Tür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter , um Licht zu machen . Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin . Auf dem Sessel saß wirklich jemand . " Ich bin es ! " sagte eine klägliche Stimme . " Ruth ! " rief er laut . Sie war es . Durchnäßt bis auf die Haut , in Kleidern , von denen das Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte und die an einer Seite zerrissen niederhingen . Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander . Erik hatte sie in sie Arme gerissen und betastete sie besorgt und erregt mit liebkosenden Händen , - Brust und Arme und das verworrene Haar , das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte . " Wann - wann , - von wo bist du gekommen ? Warst du denn nicht zu Hause ? " " Ich war nicht zu Hause , " sagte sie zaghaft und schmiegte sich frostbebend an ihn ; " ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren . Und hergelaufen . Grade als es losging . Ich will nicht nach Hause , " fügte sie flehend hinzu , " mich friert so ! " " Mein Liebling , du sollst nicht nach Hause ! Du sollst hier bleiben ! Aber wie lange mußt du hier schon sitzen ? Wie konntest du das nur tun ? Und es hat dich doch niemand an der Tür auf der Terrasse läuten hören ? " " Ich habe nicht geläutet . Ich schämte mich . Ich bin hier durchs Fenster geklettert . Aber es ging schwer , " gestand sie , und Mund und Augen lachten übermütig zu ihm auf . " Und dann ? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingekommen wäre ? " " Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen ! " erklärte sie schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene Katze . Und dann sagte sie ganz leise : " Denn vor den anderen konnte ich es nicht sagen . Und doch musste ich es sagen . Deshalb kam ich ja zurück ! Ich mußte sage : Ich will alles tun , was ich soll . " Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof unterwegs , um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben , daß sie draußen übernachten müsse . Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt , das Gone eilig für sie hergerichtet hatte . Dann bekam sie heißen Tee zu trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer . Jonas fühlte sich sehr stolz , als er bei seiner Rückkehr hörte , daß er Ruth das wichtigste Möbel , das der Mensch besitzt , sein Bett , abgetreten habe . Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus , dessen Polsterwerk an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünshcen übrig ließ . Auch war Jonas zu aufgeregt , um bald einzuschlafen , und alle Augenblicke guckte er durch die Türritze , und fragte , was denn Ruth jetzt wohl mache . Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr durcheinander . " Der Sandkuchen , " hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen , " er drückt mich so . Er ist immer größer und größer geworden . Ich fürchte mich . Er verschlingt mich . Und anfangs war er so weich und klein und so wunderschön zum Kneten ! " Erik wachte bei ihr , bis der Morgen aufstieg . Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher , und immer wieder sprach sie mit sich selbst in abgerissenen Sätzen . Aber wie ihm schien , waren es keine eigentlichen Fieberphantasien , sondern sie enthielten einen deutlichen Zusammenhäng . Es kam ihm der Gedanke , daß sie vielleicht oft so mit sich selbst spräche , ohne daß es ein Mensch hörte , und daß jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe , es unbewußt vor Menschenohren zu tun . Er konnte ihren Worten entnehmen , daß sie sich fortwährend noch mit dem Gewittergang beschäftigte . Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise , als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht , sondern als sei sie gegen ihren Willen des Weges geschoben worden , - mit Gewalt hinausgetrieben in Sturm und Blitz und Donnerschläge . Sie sah sich auf dem einsamen , dunklen Weg dahingehen , während ihr Hagel und Wind entgegentosten und ihre Füße im tiefen durchweichten Lehmboden stecken blieben . Und damit vermischte sich dann ein anderes Fieberbild : der Versuch , vor etwas fortzulaufen , ohne es zu können , wie es wohl im Traume geschieht . " Ich laufe und laufe , und komme nicht vom Fleck ! " klagte sie unruhig , und das Fieber nahm zu , wenn sie daran dachte . Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei . Als Erik , für seinen Schulgang fertig angekleidet , zu ihr eintrat , saß sie aufrecht im Bett , in einem Nachtjäckchen von Klare-Bel , das ihr zu kurz und zu weit war , und blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen . Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut , die Jonas in aller Frühe hereingeschickt hatte . Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von seinem Kirschbaum waren dabei . Er hatte sie mit Todesverachtung abgerissen . " Muß ich nun nach Hause ? " fragte Ruth ängstlich . " Nein , mein Liebling . Du sollst hier doch nicht nur krank liegen , sondern auch gesund umherspringen . Meine Stube wartet ja noch auf dich . Wollten wir nicht zusammen arbeiten ? " " Ja ! " sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung , wie um aufzustehn , so daß die Blumen von der Decke glitten . " Aber , mein liebes Kind , doch nicht jetzt im Augenblick . Später ! " " Später ! " wiederholte sie Gehorsam , indem sie sich zurücklehnte und die Augen schloß . Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls . " Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme , " bemerkte er dazwischen , " dann finde ' ich dich im Garten , im Sonnenschein , und ganz gesund . Nicht wahr ? " " Ja , " sagte sie folgsam , ohne die Augen zu öffnen . Aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Leiden oder Kummer , der ihn beunruhigte . Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn . " Aber nicht nur gesund , Ruth , " fügte er hinzu , " sondern auch froh ! Nicht diesen in sich gekehrten , verschlossenen Ausdruck ! Du darfst dich nicht wieder so scheu vor mir zuschließen , mein Kind . Bist du denn nicht mehr gern bei mir ? Tut es dir nicht wohl , hierher zu gehören ? " Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an . " Es ist , als ob ich ins Meer gestürzt wäre , " sagte sie . - Erik ging früher als sonst fort , um noch vor Beginn seiner Schulstunden bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können . Er traf sie beim ersten Frühstück . Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch , etwas zaudernd , in den Speisesaal eintreten , wo sich die Tante , im Morgenhäubchen , noch hinter dem Samowar befand . Sie zeigte sich ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch . Der Onkel , schon im Begreif , wie an jedem Morgen ins Ministerium hinunterzugehn , saß in Miliarbeinkleidern und eleganter geschlossener Toppe beim letzten Glase Tee . Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften , besorgten Fragen nach Ruth entgegen . Erik erzählte , daß sie auf dem Heimweg umgekehrt , ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei . " Das kleine Ding ! " äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton ; er warf sich im stillen vor , daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe , " wegzulaufen " . " Wie schlimm muß das für sie gewesen sein ! Schon wenn Ruth einmal unerwartet aus dem Warmen ins Kalte gerät , da schaudert ihr die ganze Haut , und sie zittert . Und dann kann sie sich auch so ganz entsetzlich fürchten . " Liuba kam herein , begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten Augen Tee ein ; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben . " Ja , Courage hat Ruth Mal nicht , " bestätigte sie , " als wir ihr einmal eine Raupe auf den Hals setzten , fiel sie in Krämpfe . " Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf . " Hat sie dazu Anlage gezeigt ? " fragte er langsam . " Aber nein , sonst niemals ! " erwiderte der Onkel ärgerlich , " es ist schon Jahre her . Dreizehn Jahre war sie wohl alt . Es war irgendwo in der Schwiez . Ruth trug ein dünnes Sommerkleid , mit bloßem Halse . Es war sehr schlecht von euch , sie so zu erschrecken , Liuba . Du solltest lieber davon still sein . " " Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht , " sagte Liuba , " warum saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum , so ganz wie ein Stein , der weder sieht noch hört . Es störte das Spiel der anderen . Und da , wie nichts sie aufwecken wollte , setzten wir eine Ligusterraupe auf ihre Halskrause . Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein . Ruth schrie nicht einmal auf . Sie fiel um . " " Die Hauptsache habt ihr vergessen , " bemerkte die Tante , - " das , was die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt . Ruth war nämlich als Kind fest davon überzeugt , daß in den Raupen , Schlangen und allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze . Sie steckte überhaupt immer voll von gottlosen Ammengeschichten . Weiß Gott , wo sie die auflas . In solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen und auch geblieben . Sie hat noch heute unvermindert dasselbe Grauen . " " Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden , was sie daran erinnern könnte , " sagte der Onkel zu Erik . " Das hätte es nicht dürfen , " entgegnete dieser bestimmt , aber sein Gesicht war sehr nachdenklich geworden . " Man kann mit Ruth nicht behutsam genug , aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen , wenn man ihr nützen will . " Er erhob sich , um Abschied zu nehmen . Der Onkel schwieg einen Augenblick , zerdrückte stehend seinen Zigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich zu Erik : " Wissen Sie , - ich bin froh , ordentlich froh bin ich , daß die Ruth bei Ihnen ist . " " Ich wünsche nichts lieber , als daß sie mir bleibt ! " entgegnete Erik einfach . " Ja , sehen Sie , " fuhr der Onkel fort , indem er dicht an ihn herantrat , " ich glaube , gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor die rechte Schmiede gekommen . Nach all ihren Irrfahrten . Und vor die rechte Schmiede , das heißt fast so viel wie : nach Hause . " " Aber ich bitte dich , " fiel die Tante , unangenehm berührt , ein , " nach deinen Worten muß jeder denken , Ruth sei hier mißhandelt worden . " " Ach , wieso denn mißhandelt , " sagte er verdrießlich , " nein , gut behandelt , natürlich , wie sollt es auch anders sein ? Aber wozu sollen wir es leugnen : Sie wissen sich besser um sie zu kümmern , als wir es verstehen . Schon neulich fühlte ich_es , heute weiß ich es ganz deutlich . Ich freue mich ja auch an ihr , - ja , das tue ich , weiß Gott , - aber im übrigen : das Kind hat nichts davon . Das ist es nur , was ich meine . " " Nun ja , " lenkte die Tante ein , " sicherlich müssen wir Ihnen dankbar sein . Aber sprich nur nicht so sündhaft . Es klingt ja geradezu so , als ob du Ruth los sein wolltest . Grüßen Sie das liebe Kind von mir . Und wenn sie erkranken sollte , komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege sie . " Erik versprach , das " liebe Kind " zu grüßen , das er ihr am liebsten nie wiedergegeben hätte . Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan , wofür er ihn zu gewinnen hoffte . Sie waren beinahe Freunde geworden . - Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand , sah sie Klare-Bels langen Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt . Ein Stück gestreiftes Segeltuch , das man zwischen den Obstbäumen angebracht hatte , schützte sie vor der Morgensonne . Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber entfaltet zu haben . Der Garten stand ordentlich grün da , und die letzten Blätter drängten sich aus der Knofpe . Ruth ging langsam durch den Garten hin , und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die frische , sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau , die inmitten davon ruhte . " Guten Morgen , Ruth ! " rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte liebreich die Hand nach ihr aus , " willkommen , mein liebes Kind ! Du weißt wohl , wer ich bin ? Ich konnte nicht zu dir kommen , als du die Nacht krank dalagst . Ich bin froh , daß du wieder gesund bist , und daß du nun zu mir kommen kannst . " Ruth ergriff die kleine , weiche Hand , der man es ansah , wie rund und rosig , mit Grübchen über den Knöcheln , sie gewesen war . Und einem raschen Gefühle folgend , beugte sie sich nieder und küßte die Hand . Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an , wie den kostbarsten Gegenstand dort im Hause . " Erik und Jonas sind in der Stadt , " sagte Klare-Bel , " ich liege jetzt ganz allein hier . Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten , Ruth ? " Ruth nickte , noch immer ohne zu sprechen ; sie war wie berauscht vom Frühling und von dem starken , frischen Duft , den alles um sie herum ausströmte . Am liebsten hätte sie aufgejauchzt . " Ich werde hier sitzen bleiben , " erklärte sie und kauerte sich mit emporgezogenen Knien auf den bemoosten Steinrand des Spingsbrunnens , aus dessen geborstener Wasserurne über ihr sich ein langes , dünnes Schlinggewächs schlangengleich herunterrankte ; " denn hier ist es am allerschönsten in der ganzen Welt ! " " Sie übertreibt alles ! " dachte Klare-Bel , sie heimlich betrachtend , fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt . " Am Meer ist es jetzt noch viel schöner , Ruth , " sagte sie , " da , wo wir früher gewohnt haben , - auf der kleinen Insel weit draußen . Bist du schon einmal am Meere gewesen ? " " Ja , mehrmals , " versetzte Ruth , " aber viel lieber wäre ich gerade da gewesen , wo Sie gewohnt haben , - auf der kleinen Insel . Aber ich wußte damals nichts davon . Nein , ich wußte es nicht . " Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor , daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte . Klare-Bel fand , sie spräche ganz wie ein Kind : etwas so Selbsverständliches mit einem so ernsten und bewegten Gesicht . " Und Sie wissen alles darüber ! " setzte Ruth mit demselben Ausdruck hinzu , " alles , ganz so , wie es war . War es wunderschön ? " Klare-Bel war nicht redseliger Natur ; sie sprach ebenso wenig , wie Erik viel sprach . Aber sie bekam große Lust , sich mit Ruth zu unterhalten . " Soll ich dir davon erzählen ? " fragte sie und sah sie lächelnd an . " Ja ! " sagte Ruth dringend , und ein Gefühl , mächtiger als nur Neugier , trat in ihren Blick , " aber alles ! wie die Menschen waren , und das Leben , und das Haus , und das Meer , und auch die Schulkinder . " Klare-Bel fand , daß man mit dem Hause anfangen müsse . Und nachdem sie beschrieben hatte , wie dörflich-klein , und doch wie wunderbehaglich es gewesen sei trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen Fensterscheiben , die immer von der Salzluft beschlagen waren , - kam sie auf die Menschen zu sprechen , die dort aus und ein gingen . Vielen Menschen waren das , - ein ganzes Volk schien es Ruth , - und immer scharte Klare-Bel Erzählung sie um den einen , den sie in den Mittelpunkt stellte , um den einen , der mit ihnen alles teilte und alles tat , und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen Lächeln grüßten . Ruths Augen blitzten . Was Klare-Bel erzählte , das glaubte sie wahrzunehmen , zu schauen , mitzuerleben ; sie ergänzte unbewußt das Bild bis zur greifbarsten Deutlichkeit , indem sie es mit den Goldfarben übermalte , die ihr Klare-Bel selbst auf die Palette rieb . Und um dieses ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und schäumen . Sie roch die Salzluft und fühlte den seinen Meersand unter den Füßen knirschen ; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie den Andeutungen der Frau , die gar nicht wußte , wie liebevoll sie idealisierte , was sie Ruth beschrieb . Als Klare-Bel geendet hatte , atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten Wangen . " O wie herrlich Sie erzählen , " rief sie dankbar , " ich möchte nichts anderes tun , als Ihnen den ganzen Tag zuhören . Den ganzen Tag . Ach , das möchte ich auch erleben ! Wie schön muß es gewesen sein ! " " Das war es auch , " bestätatigte Klare-Bel zufrieden , der es selbst noch nie so schön erschienen war , wie heute während ihrer eigenen Erzählung . Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen , nur von Erik . Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau , die sich ihr Glück liebend verdient hat , hinzu : " Schön und auch schwer , Ruth . Denn es ist schwer , mit so Vielen teilen zu müssen , die Alle von Demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in Anspruch nehmen , - ihn immer fortnehmen . Es ist nicht leicht , man muß bescheiden werden . Das würdest du erst lernen müssen . " " Das ? " sagte Ruth verdutzt , " nein , das möchte ich lieber nicht . Das hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt . Aber so unter den Menschen stehen und alles können , als ob man ein Hexenmeister wäre , - das muß herrlich sein . Es muß sein , als ob man plötzlich viele Menschen auf einmal wäre - und dann auch noch mehr , als sie alle zusammen . " Klare-Bel schwieg betroffen . Sie fühlte recht wohl die enthusiastische Bewunderung in Ruths Ton heraus , aber sie konnte nicht befreifen , wie sich dieser Enthusiasmus , weit davon entfernt , dem Bewunderten dienen zu wollen , einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte . Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild , das sie sich ausgemalt hatte . Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an : " Und das war doch nur ein Dorf . Eine ganz gewöhnliche Insel . Ringsherum Wasser , so daß da alles aufhörte . Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können , nicht wahr ? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen drauf . Ich weiß nicht recht , wie . Aber ich denke mir : so stark sein , - und dann etwas Gewaltiges tun dürfen . Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben . " Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich . Sie dachte im stillen , das sei es vielleicht so ungefähr gewesen , war ihr Mann einst gewünscht und erhofft habe . Damals , als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung war . " Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben , " meinte sie und sah Ruth an , " daran waren nur die Verhältnisse schuld . Er hatte früher so große Pläne . Ach , was hatte er alles für Pläne ! Aber dann kam das Unglück , daß ich liegen mußte . Und es kamen die Ärzte , die Reisen , die Operationen . Zuletzt kamen die Schuten . Da war es mit den Plänen aus . Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet , Ruth . Und ganz umsonst . " Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau , die das so ruhig sagen konnte . " Ich könnte_es nicht überleben ! " stieß sie entsetzt , wider Willen , hervor . " Ach , mein liebes Kind ! Das denkt man , wenn man noch so jung ist wie du . Dann aber lernt man , sich in das Schicksal und seinen Willen fügen . Sogar in das Schwerste : stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen für das Behagen derer sorgen zu dürfen , die man liebt . Denn das ist das Allerschwerste , Ruth . " Es klang so sanft und liebevoll , wie sie das auf Ruths unbesonnenes Wort sagte . Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst . Sie beklagte es nur , den anderen nicht mehr dienen zu können . Aber Ruth fand , es sei beinahe gleichgültig , ob man in einem solchen Fall den anderen noch dienen könne . Was sie so entsetzte , war die Vorstellung , durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden , daß ein anderer , Starker , Gesunder aufhören mußte , seiner Sache zu dienen . Es verwirrte sie ganz , daß ihr die sanfte kranke Frau gar nicht leid tat . Sie hatte das Gefühl : diese würde ihr schon leid tun , wenn sie nur erst Zeit hätte , an sie zu denken . Aber sie mußte immer an Erik denken . Und sie empfand Mitleid mit ihm , stürmisches Mitleid bis zum Meinen . Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen Augen in den klaren blauen Himmel hinauf . Sie dachte an das Glück , wie sie es hätte behalten mögen , - so klar und blau und ruhig , wie der . " Das wünschte ich dir , " sagte sie zu Ruth , die ganz verstummt war , " einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen , den du lieb hast . Dazu gesund zu sein , und schön und gut und klug obendrein ! Gleichviel ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt , - daran liegt es nicht ! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere . Namentlich für uns Frauen . Es ist viel schöner , als der zu sein , dem es gilt . Das brauchen wir nicht zu beneiden . " " Ach nein ! " rief Ruth lebhaft , " es kann ja gar nicht möglich sein , daß es das Schönere ist . Der , dem es gilt , hat es besser . Sonst hätte es ja Gott schlechter als die Menschen ! " Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu , - einen tadelnden Blick . - Aber sie wußte nicht , was sie darauf erwidern sollte . Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth . Klare-Bel fühlte sich nur sicher , solange Ruth zuhörte . Sie hörte so hübsch zu . Aber sobald sie sprach , mußte man sich verwundern und eigentlich auch ärgern . Die war sicher mehr für Erik geschaffen als für sie . Er würde wohl aus ihr klug werden . Denn das war ja seine Spezialität . Inzwischen war Jonas , lustig pfeifend , von der Straßenseite her in den Garten getreten , und zwischen den Bäumen sah man ihn , den Schulranzen auf dem Rücken , im Hause verschwinden . Als er wieder zum Vorschein kam , war der Ranzen abgeworfen , und in der Hand hielt er ein mächtiges Butterbrot , in das er hineinbiß . Er lief auf seine Mutter zu , küßte sie , streckte Ruth die Hand hin und sagte : " Du - Sie - haben - " stockte und wurde rot . " Du ! " entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn . " Ja , nicht wahr ? " meinte er fröhlich und nahm neben ihr auf dem Rande des Springbrunnens Platz , " denn jetzt sind wir ja Hausgenossen . Eigentlich Geschwister . Nicht wahr , Mama ? Und Altersgenossen auch . Wie alt bist du denn ? " " In elf Monaten siebzehn , " sagte Ruth . " Ich bin erst sechzehn , " gestand er betreten , aber dann klärte sich sein Gesicht auf , - " das heißt jetzt . Aber in elf Monaten längst nicht mehr . Sogar schon eher . Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir essen , denn es ist noch eine gute Stunde , bis wir Mittag bekommen , " fügte er hinzu und brach sein Brot , im lebhaften Drang , es mit ihr zu teilen , in zwei Hälften . " Ich mag nicht essen , " sagte Ruth und lachte über seinen Eifer . " Dann bist du gewiß noch krank ! " behauptete er . " Aber das war auch ein rechtes Glück , weißt du , denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns geblieben . Es war eine gute Idee von dir , so im Gewitter herumzulaufen . Denke nur ! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben können . " " Ja . Wenn ich sitzen geblieben wäre , wäre ich auch fortgegangen , " bemerkte Ruth tiefsinnig . Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen , und so sagte er schnell : " Komme mit mir in das Gehölz , Ruth . Du kennst es noch gar nicht . Da sind so viele Nester . Und mittendurch fließt ein kleiner Bach nach dem Wiesengrund zu . Wir können leicht hinüberklettern , der Zaun ist ganz niedrig . " " Nein , " erwiderte sie , " gehe nur in das Gehölz . Ich muß jetzt hier bleiben . " " Was willst du denn hier tun ? " " Ich muß nachdenken . " " Nachdenken ? " Jonas sah sie etwas verdutzt an ; es schien ihm jedoch eine Beschäftigung zu sein , die Respekt verlangte . So stand er seufzend auf und trollte sich ins Haus , denn er wußte nicht recht , wie er sich dran beteiligen könnte . Ruth merkte nicht , daß er ging . Sie blieb mit emporgezogenen Knien sitzen , die Arme auf die Knie und das runde Kinn auf die geballten Hände gestützt , wie auf zwei Säulen . So blickte sie angestrengt vor sich hin auf einen einzigen Fleck im Grase , wo eine weiße Gänseblume stand , und dachte mit Hingebung nach , gleich einem indischen Derwisch . Sie wußte ganz genau , wo sie stehen geblieben war , als Jonas kam und sie aufhören mußte . Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen . Die Mittagssonne strahlte warm über den Bäumen , kein Lüftchen bewegte das duftende Laub . Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die Frühlingsbeete , und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig ihr Lied . Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum . Wie in goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt , die Klare-Bels Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten . Ein unklares Verlangen , halb Demut , halb Forderung , bemächtigte sich ihrer , diese Gestalt so lichtvoll , so schattenlos als möglich zu sehen , - in einem warmen Glanze , der sie unter allen anderen Wesen hervorhob . Warum ? das wußte Ruth nicht . Aber das wußte sie : in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen , die sie kannte , noch viel störender und sinnloser aus als bisher , - fast als ob sie bloße Leiber wären , in denen so gut wie nichts drinsteckte . Und die phantastischen Schattenbilder , die sie sich nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf , wie sie wollte , und wieder wegwischte , wann sie wollte , - die sahen viel schattenhafter aus als bisher , ordentlich dünn waren sie geworden und so durchsichtig , daß man meinen konnte , es seien nur Irrwische von Gedanken . Ruth durchwanderte die ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage , fand aber nur das Chaos wieder . Und mitten drin den einzigen , wenn er wollte , alles beseelenden Menschen , den zu gestalten Phantasie und Wirklichkeit zusammenschmolzen . Es war , als stünde er ihr ganz allein gegenüber in dieser einsamen , phantastischen Welt ihrer Träume , - der erste Mensch am sechsten Schöpfungstage , unerkannt noch , und ein Wunder . Mit Staunen stand sie vor ihm still , als müsse sie fragen : " Wer bist du ? Wie kommst du hierher ? Wie darfst du hier herrschen ? " Er beschäftigte ihre Gedanken so stark , er setzte sie so stark in Erstaunen , daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken verlor und ihn anschaute . Es schien ihr notwendig , daß er etwas Besonderes , Merkwürdiges , ganz außer allem Vergleich Stehendes sei , wenn sie ihn da dulden sollte . Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr , Glanz auf Glanz , Licht auf Licht auf ihn zu häufen . Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte , richtete sie sich aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die Gartenpforte . Die Arme über dem Zaun verschränkt , schaute sie die Straße hinab , die Erik entlang kommen mußte . Er kam bald . Sein erster Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf haften . Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht , aber der leidende Ausdruck vom Morgen war völlig aus ihren Kinderzügen verschwunden . Ein neuer Ausdruck , offen und verlangend , der Erik wohlgefiel , lag in ihren Augen . Er nickte ihr mit einem Lächeln zu . Sie sprachen nicht miteinander , nur Ruths Hand schlich sich leise in die seine . Hand in Hand sah Klare-Bel sie auf sich zukommen . " Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen , meine Arme ! " sagte er zu seiner Frau , " nun sollst du auch keinen Augenblick länger daliegen . " Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse , hob sie heraus und nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme , wie man ein Kind an der Brust bettet . " Du allzu leicht Last ! " scherzte er und sah heiter und belebt aus . Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen . Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die Stufen hinauf . Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst Zubehör nachgetragen , um dasselbe zu tun , was Erik tat . Das Mitleid , das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte , war in nichts verflogen , - und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen . Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor , daß sich die kranke Frau nicht als Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte , sondern daß sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang . Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm , vergaß sie ganz , daß es zum ersten Male geschah , und sie erst den Abend vorher hatte weglaufen wollen . Sie fühlte sich als ein längst dorthin gehöriger Hausgenosse , - zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen . " Von deinem Onkel bringe ich dir was mit , " sagte Erik , der sie bei Tisch neben sich gesetzt hatte , " nämlich die Erlaubnis , so lange hier zu bleiben , wie du willst . Ich denke , wir antworten ihm vorläufig : den ganzen Sommer . Was meinst du ? " Sie nickte nur und sah glücklich aus . Wenn er aber nicht unablässig auf sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte , so würde sie lieber keinen Bissen gegessen haben . Als sie beim Kaffee waren und die Kinder hinausliefen , blickte Erik seine Frau an und fragte : " Und nun , Bel , wie gefällt sie dir ? " " O Erik ! mir gefällt sie gut für dich . Denn sie hat etwas so Unverständliches , finde ich . Das ist gerade was für dich . Was zum Raten . " " Sie ist ein scheuer Vogel , " sagte er mit einem Lächeln , " und es ist noch nicht gewiß , ob ich sie eingefangen habe . Eine falsche Bewegung , - und sie fliegt mir fort . " " Ja , Erik , das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend . Es macht doch unsicher . Förmlich schwindlig würde es mich machen . Wie ein konfuses Stickmuster . " Unsicher ? Nein , Bel , im Gegenteil . Man wird sich dessen wieder bewußt , was man vermag , - ob man_es vermag . Man sammelt die Kraft , - die vergessene , eingerostete . Und so kommt man endlich wieder zur großen Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst . " " Ja ja , Erik . Wenn nur alles gut geht . " Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern : " Sorgenmütterchen ! nur ein einziges Mal : laß die Sorgen , die grauen ! Mir ist froh ! Du sollst es noch sehen : an dem Mädel wächst mir mein Meisterstück ! " Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht . Daß er Ruth zu sich nahm , das war ungefähr so , wie wenn ein Gelehrter irgendwo eine recht unentzifferbare Handschrift ausgräbt , - meinte sie ; an der liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch . Es war nun einmal nicht anderes : da steckte sein Talent und sein Beruf . Erik ging fort , er wollte noch nach dem Bahnhof , um Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herüberschaffen zu lassen ; der Onkel hatte sie bereits herausgeschickt . Klare-Bel lag und dachte nach . Sie zwang sich dazu , an die Zeit zu denken , die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob . Es war doch schön , daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von sanguinischen Hoffnungen . Das war doch besser und natürlicher für ihn , als diese langen , langen Leidensjahre , wo ihn nur der eine Gedanke erfüllte : wie seine Frau wieder gesund zu machen sei . Ein einziger jahrelanger Kampf , - ein schmerzensreicher , gräßlicher . Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner Hoffnungszähigkeit Willen , die nicht nachließ , nichts unversucht ließ , die noch ans Unmögliche anrannte und mit unermüdlichem Trotz den alten Kampf immer wieder aufnahm . Es war nicht leicht , denn bei Klare-Bel durfte Narkose wegen einer geringen Herzschwäche nicht angewendet werden . Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis , neuer Qual zu überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen . Er war in diesem Kampfe zum Arzt geworden ; was er früher aus Lust und natürlicher Begabung nebenher betrieben hatte , wurde ihm Beruf . Seine ganze , ungeteilte Kraft warf er hinein : er wollte es nicht glauben , nicht dulden , daß ein einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten könne . Und nun , da er_es glauben und dulden mußte , war es doch hart , alles das vergebens geopfert zu haben , woran seine Hoffnungen sonst noch gehangen hatten . Und wenn ihm Ruth nur eine davon zurückgab , wollte Klare-Bel sie lieben . Es war ja nicht mehr als eine kleine , späte und unscheinbare Blume für einen ganzen Strauß , den ihm das Leben schuldig geblieben war . Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden , wie heute , seit dem Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten . Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts . Er griff nach einem Bund Garn , das Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte , und hielt es ihr auf den Fingern . " Wird Ruth nun bei uns bleiben , Mama ? " fragte er . " Jawohl . Du hörtest es doch . Freut es dich nicht ? " " Über alles freut es mich . Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst anstrengen . " " Wie meinst du das , mein Kind ? " " Ich meine : Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich . Ganz gewiß . Sie ist klug , - meinst du nicht ? " " Das kann ich unmöglich wissen . Aber was ist das für ein Unsinn , Jonas . Weil dich Papa lieb hat , will er ja , daß du dich mehr anstrengst und besser vorwärts kommst . " " Ach , Mama , ich strenge mich schon an , so sehr ich kann . Ich komme ja auch vorwärts . Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen . Er ist der strengste Lehrer bei uns . Sie fürchten ihn alle . Aber ich am meisten . Von mir verlangt er am meisten . " " Darüber solltest du froh sein . - Mache nur jetzt keine Eifersüchteleien , Jonas , hörst du ? " Da lachte er über das ganze Gesicht , scheinbar völlig unmotiviert , so daß er wirklich einfältig aussah . " Nein , Mama , das tu ich gewiß nicht . Wenigstens nicht so , wie du_es meinst . Aber wenn es Ruth einfallen sollte , - Papa lieber zu haben als mich - - " " Aber Jonas - !! " Er ließ das Garn vom Finger gleiten , so daß es fast in Verwirrung geriet . " Verzeih , Mama . Ich bringe es gleich wieder in Ordnung . - Weißt du , du hattest eben ganz recht , als du sagtest , ich sollte nur froh sein , daß Papa so viel verlangt . Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer , als es ist . Sie wird das noch merken . Und ich werde nie etwas Unangenahmes von ihr verlangen . ' " Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge ! " sagte Klare-Bel ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an . Er machte ein ganz treuherziges Gesicht . Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen verkrochen . " Wenn Papa so was hörte ! Und da wunderst du dich noch , wenn dir Papa Ruth vorziehen sollte . " " Ich wundre mich ja gar nicht , Mama . Das kann ich ihm doch nie im Leben übelnehmen . Wie sollte ihm Ruth auch nicht besser gefallen als ich ? " " Wo steckt Ruth nur eigentlich ? " " Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen , wo Gone noch herumwirtschaftet . Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten , sagt sie . " Als Erik vom Bahnhof zurückkam und Ruths Kopf oben aus dem offenen Fenster herausschaute , stieg er zu ihr hinauf . Das kleine , nach hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung . Außer dem heute beschafften Bett und einer großen Holzkiste , die durch zierlich gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer wirklichen Waschtoilette bekommen hatte , gab es jedoch noch nicht viel zu sehen . Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem Olanstrich machte sich bemerkbar . Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett , zu dessen Seiten schon kleine weiße Gardinen niederhingen ; die Leiter lehnte noch daneben . Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der Terrasse , so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast Ruths Gesicht berührten . Man sah von hier oben nur in die Wipfel der Bäume , und das , fand Ruth , sah lustig aus : wie ein grünes rauschendes Gewoge , wovon man sich einbilden konnte , es schwebe in der Luft , ohne Stamm und Wurzel . Wie viele Vögel mochten im Sommer drin nisten ! Und unter dem vorspringenden Dach , gleich über dem Fenster , klebten zwei vorjährige Schwalbennester . Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers bemerkte , fing er an zu lachen . " Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer , wie gemacht für böse Kinder , die eine Strafe abbüßen sollen , " sagte er und blieb im Rahmen der Tür stehen , " oder für Durchgänger , die man mit Gewalt einsperren muß . Meinst du nicht , Ruth ? " " Nein . Es ist sehr schön ! " versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast übel , daß er ihre Wohnung verspotten konnte ; " es ist nur noch nicht fertig , und das ist das Schönste . Wenn ich drin bin , wird es von selbst fertig . Es ist sehr schön . Ganz so , wie ich es haben will . " " Das ist freilich die Hauptsache , meine kleine Königin , " gab er lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster . " Als wir zuerst aus dem Auslande angereist kamen , da sahen die Stuben in unserer Stadtwohnung auch nicht viel besser aus . Und es gefiel mir auch ganz gut . Man konnte so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen . " Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an . " Ach ja ! " sagte sie , " aber außerdem muß es doch schrecklich schwer gewesen sein , - da von der kleinen Insel weg - und hierher , weg vom Meer und von all den vielen Leuten ? " Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu , denn es machte ihm heimlich Sorge , daß sie sich so gern vornüberneigten . " Warum schwer ? " fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme , " hier gibt es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten , - schlimme kleine Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen , wie du weißt . " " Ach die ! " sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den Achseln , " die sind_es nicht wert . " " Auch du nicht ? " fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an . " Nein , auch ich nicht , " meinte sie treuherzig . " Du bist ja ungeheuer demütig heute , " bemerkte er , " allzu demütig , Ruth . Das ist nicht gut . " " Warum ist nun auch das wieder nicht gut ? " fragte sie zerstreut . " Weil es nicht aus dir selbst herauskommt , Mädel . Nicht aus deiner Natur . Es ist , wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte , für die er sich verrenken muß . Das sollst du nicht tun . " Sie erwiderte nichts drauf , vielleicht hörte sie kaum hin . Ihre Gedanken waren auf etwas anderes gerichtet , was sie nicht anzubringen wußte . Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser : " Sie sehen so froh aus . In den Augen - und überhaupt . Warum ? " " Weil ich dich wieder habe , mein Kind , " entgegnete er ernst . " Mich ! aber all die anderen ? " " Wen denn , Ruth ? " Nun hielt sie es nicht länger aus . " Ich meine : bloß Buben und Mädchen zu unterrichten , die es gar nicht wert sind , und sonst nichts ! Anstatt etwas ganz anderes tun zu dürfen , etwas viel , viel Größeres , - so groß wie ein Meer mit allen Schiffen drauf , " versuchte sie auseinanderzusetzen und nestelte dabei , ohne es zu merken , erregt an seiner Uhrkette . Er sah erstaunt auf sie nieder . " Phantasierst du , Kind ? Du sollst dem nicht so nachgeben , " sagte er eindringlich , " was hast du eigentlich zusammengedichtet ? Du mußt es klar sagen können . Nun ? " " Es ist ja etwas Wirkliches ! " rief sie schüchtern , " es ist gar keine Phantasie . Wir sprachen im Garten darüber - am Vormittag . " " Mit meiner Frau ? " Ruth nickte . " Sie hat mir erzählt . Von früher und von jetzt . Sie erzählt so wunderschön ! Ganz wunderschön erzählt sie . " " So . Tut sie das ? Aber was hat sie dir denn erzählt ? " fragte er , und sein Blick war forschend und gespannt . " Alles . Und da , - ja , da schien mir es so ganz entsetzlich , - so ganz unmöglich schien mir_es , daß nichts draus geworden ist , " sagte sie leidenschaftlich , und ihre Finger umklammerten die Uhrkette , als müßte sie irgend etwas zerbrechen , " nichts als eine Schulstube . Und daß es immer so bleiben soll . Es kann ja nicht so bleiben . " Sie sprach beinahe zornig , und in ihren Augen standen große Tränen . Erik antwortete nicht gleich . Seine Hand hob sich und strich sanft hin über ihr loses weiches Haar , und als Ruth aufblicken wollte , da glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen . Er schaute über sie weg , hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel , und kämpfte eine Erregung nieder . Ihm war seltsam zumute . Er wußte , daß das , was Ruth empfand , nicht von seiner Frau kam , weder die leidenschaftliche Auffassung , noch die phantastische Unklarheit des Bedauerten war seiner Frau möglich . Noch nie , seit er verheiratet war , hatte er zu einem Menschen , hatte ein Mensch zu ihm von den Enttäuschungen seines Lebens gesprochen . Und da stand sie nun , die ihn seit vier Tagen kannte , in Zorn und Gram und Tränen und härmte sich um diese Enttäuschungen , als wären es ihre eigenen . Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen , bückte Ruth den Kopf tiefer , und ihre Hand glitt von seiner Uhrkette . " Ich will_es gewiß nie wieder sagen ! " sagte sie leise , abbittend . Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen . " Du sollst mir immer alles sagen , alles , was dich beschäftigt , " versetzte er ruhig , aber seine Stimme klang verändert und gedämpft , " niemals sollst du Gedanken , die dich aufregen , vor mir verbergen , - und nun gar Kümmernisse , mein Kind , - solche kindische und phantastische Kümmernisse . " Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett , vom Licht abgekehrt , das Gesicht im Schatten . " Ich will dir eine Geschichte erzählen , Ruth ; soll ich ? " Sie nickte Gehorsam , ohne den gesenkten Kopf zu heben ; man konnte sehen , daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag , und daß sie sich als Kind behandelt fühlte . " Es war einmal ein Mann , " begann er , " den gelüstete es sehr , ein großes , weites Feld zu bebauen , - ein Feld , wohl so groß wie das Meer . Denn er wußte , der Boden war gut , und nur der Arbeiter gab es noch wenige , - viel zu wenige . Aber es kam anders , als er sich_es gewünscht hatte , und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht mitarbeiten . Nur ganz fern , im äußersten Winkel , wies man ihm ein kleines Stückchen Erde an , wo er Kohl pflanzen konnte und Kartoffeln . Nur eben genug , um zu leben . " Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm aufgeschlagen . Groß , ungeduldig hingen sie an seinen Lippen . Ihre ganze Seele war in diesen Augen . " Und da - ? " fragte sie atemlos . " Und da , " fuhr er fort , " fand er eines Tages unter seinen Kohl- und Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze . Irgendwoher mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein . Es war nur ein unscheinbarer , zarter Trieb , dem man noch nicht ansehen konnte , was drin steckte . Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen auswachsen . Und wenn das gelang , - wenn ein guter Gärtner an diesem Bäumchen unablässig seine Dienste tat , und sich das Bäumchen willig behandeln und biegen , pfropfen und beschneiden ließ , - dann - ja , dann konnte es am Ende seltenere Früchte tragen als irgend etwas , was sonst auf dem Feldwinkel wuchs . " " Bin ich das Bäumchen ? " fragte sie naiv und glitt leise vom Fensterbrett . Er antwortete nicht , aber zog sie näher an sich , so daß ihr Haar seine Schulter berührte . Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck , der kein Lächeln war und kein Ernst , und doch wie ein gesteigerter Abglanz von beiden , der einer Ekstase glich . Er erinnerte Erik plötzlich an jenen Aufsatz mit der Überschrift : " Seligkeit ! " Zum erstenmal erinnerte ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft . " Möchtest du solch ein Bäumchen für den Gärtner werden , Ruth ? " fragte er sie mit halblauter Stimmte . Sie atmete tief auf . " Noch lieber möchte ich der Gärtner werden , " sagte sie unerwartet , " aber es ist vielleicht fast dasselbe . " Kapitel Jeden Morgen , ganz früh , noch ehe das Haus wach war , fanden sich Erik und Ruth im Studierzimmer zusammen . Sie standen beide ein paar Stunden zeitiger auf als sonst , um es zu können , und jeden Morgen nahm er mit ihr ihre Arbeit für den Tag durch , der er sie dann allein überließ . Es war immer dasselbe Bild : Ruth war immer schon da und stand , ihn erwartend , ins offene Fenster gelehnt . Sie horchte auf die kleinen Buchfinken draußen und zugleich , ob sein Schritt nicht über den Flur käme . Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus , denn so übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte , - als Lehrer fürchtete sie ihn . Und auch jetzt noch , wenn sie seinen Schritt im Flur vernahm , überfiel sie , wie am Esten Abend , das Herzklopfen und die alte Schüchternheit . Es war immer dasselbe : ohne daß sie sich nach ihm umwandte , trat Erik dicht an sie heran , bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war , dann schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen , so daß sie wie eingefangen war zwischen seinen Armen . Es lag für sie darin nicht nur eine Liebkosung , sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und Zwingendes , unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte . Und dann , ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche , nahm er sie sofort nüchtern und Ersthaft vor . So ging der Morgengruß unmerklich in die Morgenarbeit über . Als Erik eines Morgens die Tür zu seinem Zimmer öffnete , blieb er einen Augenblick überrascht stehen . Vor den Fenster waren die weißlackierten Innenläden geschlossen worden , so daß die graue Regenluft draußen nur durch die Ritzen hereinschauen konnte ; ein einzelnes Licht brannte mit trüben Schein auf dem Schreibtisch . Davor saß Ruth , von Heften und Büchern umgeben , und schrieb , ohne auch nur aufzublicken . Erik sagte nichts . Er schlug einen Laden zurück und öffnete das Fenster , so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen , dann kam er an den Schreibtisch und blies das Licht aus , während Ruth verwirrt emporfuhr . Er beugte sich zu ihr nieder , nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und blickte sie aufmerksam an . " Du hast geweint . Worüber ? " Sie errötete und zauderte einen Augenblick . " Ich mag nicht dumm sein ! " reif sie dann außer sich mit sprühenden Augen . Er lachte . " Du bist nicht dumm . Hab ich das gesagt ? Wenigstens nicht hoffnungslos . Solange ich dich nicht aufgebe , brauchst auch du es nicht zu tun . " Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand . " Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten . Nie ohne mein Wissen . Das ist Unfug . Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen habe , dann sollst du aufhören . " " Die Sonne hörte auch nicht auf , " sagte Ruth , " sie schien hell fast die ganze Nacht durch . Im Gehölz schrie ein Kuckuck , die Drosseln vor meinem Fenster unterhielten sich . Da kam ich leise her . " Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft , worin sie geschrieben hatte , aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest . Man konnte ihre ansehen , daß sie in ihrer Erregung beinahe litt . " Ruhig ! " sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft . Schweigend las er eine Zeitlang darin , während Ruth mit gefurchter Stirn dasaß , die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß . Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin . " Das hast du gut gemacht , " bemerkte er , " hat es dir Mühe und Überwindung gekostet ? " " Ja , " gestand sie ehrlich , ohne ihre Haltung zu verändern , " aber es schadet nichts . " " Nein . Es schadet nichts . Siehst du das nun selbst ein ? Es konnte nichts helfen , mit dir zu treiben , was dir lieb und leicht ist ; durch das , was deinem kleinen phantastischen Kopf am härtesten ankommt , durch das , was ihm am schwersten fällt , gerade da muß er hindurch . " Er löste die im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den seinen . " Ich weiß , daß es manchmal ein harter Zwang war , " sagte er , " und du dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest ; es tat weh , nicht wahr ? Aber es mußte sein . Und nun - nun bekomme ich dich allmählich gerade so , wie ich dich haben will , Mädel . Ist es nicht schön ? " " Wunderschön ist es ! " rief sie , sich mit leuchtenden Augen nach ihm zurückwendend , " das denke ich ja immer dabei , wenn mir_es schwer fällt ! Ich such zu vergessen und denke mich nur hinein : wie wunderschön muß es sein , jemand , der ganz anders ist , gerade so zurecht zu kriegen , wie man ihn haben will ! " Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen . " Nur daran denkst du dabei , Ruth ? Und ich glaubte , dich selbst sollte es glücklich machen . " " Das tut es ja eben ! " erklärte sie erstaunt und stand auf . " Was willst du nun heute morgen tun ? Wir wollen in den Garten gehen . Es regnet nicht mehr . Oder meinst du , daß du schlafen könntest ? " Sie schüttelte lachend den Kopf . " Ich möchte nicht , daß du später allein bleibst , ohne Beschäftigung und Morgenfrische , " sagte Erik , " arbeiten sollst du nicht . Vielleicht solltest du mit mir zur Schule kommen . Noch immer warten die Mädchen auf deinen versprochenen Besuch . Und in ein paar Tagen ist Klassenschluß . Es wird dich ablenken . und zerstreuen . Und wenn es dich ermüdet , desto besser . " - Gone hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt , und Klare-Bel lag schon in ihrem Stuhl daneben , als Erik , Ruth und Jonas , erst auf wiederholte Rufe , aus dem Garten herankamen . Jonas sah ganz erhitzt aus , und der Strohhut saß ihm im Nacken ; in seiner rechten Hand trug er einen hohen Eimer , den er von Gone erbeutet hatte und jetzt auf die Stufen , die zur Terrasse führten , niedersetzte . Eine wohl zwei Fuß lange stahlfarbene , bläulich glänzende Schlange wand sich darin . " O pfui , Jonas ! " rief Klare-Bel entsetzt , " wie magst du nur ein so greuliches Tier herbringen ! Kann sie uns nicht alle totbeißen , Erik ? " " Das kann sie nicht . Es ist eine Ringelnatter , " versetzte er lächelnd . " Aber eine prachtvolle , Mama ! Ich fand sie hinterm Gehölz , da , wo sich der kleine Bach im Wiesengrund verläuft , " sagte Jonas voll Stolz und Bewunderung ; daß er einen solchen Fund getan hatte , war für ihn ein ganz unerwartetes Landvergnügen , er hatte eigentlich nur auf Raupen gerechnet und höchstens auf eine Blindschleiche . Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange , die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern , während sie Kaffee tranken . Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet waren , verhielt sich Ruth ganz still . Sie hatte heimlich gehofft , Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren , aber die erkundigte sich ja nur danach , ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte . Und das war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste , fand Ruth . Jetzt gelang es der Ringelnatter , sich nach mehreren vergeblichen Versuchen auf dem Boden des Eimers aufzurichten , sie wiegte rhythmisch ihren Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die Anwesenden an . Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth , deren Glieder ein Zittern durchlief und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte . " Wirf das Untier fort , aber schnell , Jonas , " sagte seine Mutter rasch , " siehst du denn nicht , das sich Ruth ängstigt ? " " Nein , laß sie nur da , " fiel Erik ruhig ein , der Ruth die ganze Zeit über beobachtet hatte , " darauf soll keinerlei Rücksicht genommen werden . " Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie : " Liuba hat mir erzählt , daß du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist . Strafe sie Lügen . " " Hat Liuba gesagt : wegen einer Kleinigkeit ? " fragte Ruth erstaunt . " Es war keine Kleinigkeit . Es war etwas Fürchterliches , - kalt und grausig , - was so gewaltsam von außen kam , - so , wie wenn man einen umbringt . " " Um Gottes Willen ! " bemerkte Klare-Bel , " was kann denn das nur gewesen sein ? " " Eine kleine Raupe ! " entgegnete Erik spottend . Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern : " Eine große Raupe , " aber sicherer erschien es ihr , nicht noch ausdrücklich zu bestätigen , daß es nur eine Raupe gewesen war . " Paß Mal auf , " rief Jonas , " ich werde das Prachttier zähmen , Ringelnattern sind zutraulich und verständig , man kann sie gern um den Hals winden . Dann spielen wir , Schlangenbändiger ' . Hast du je schon etwas so Schönes gehört ? Ich bin der Schlangenbändiger . Da brauchst du dich gar nicht zu fürchten . Du siehst nur zu und - und bewunderst mich . " Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar . " Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund , " warnte er , " denn schon ist die Zeit ganz nah , wo sich Ruth nicht mehr mit der Zuschauerrolle begnügen wird . Wo sie selbst freiwillig , aus eigenem Antriebe , an die Schlange herantritt , sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper hinaufkriechen läßt . " Ruth hatte vergeblich versucht , ihn zu unterbrechen . " Ich ! Wann wird das sein ? " fragte sie , ganz außer sich vor Erstaunen . " Wann ? vermutlich schon bald . " " Nein ! Nie ! " versicherte Ruth , noch ganz fassungslos über seinen Irrtum , " ich würde mich ja immer fürchten . " " Das würdest du wohl . Aber das ist noch kein Gegengrund . Es kommt vor , daß man stärker ist als die eigene Furcht , und daß man sie totschlägt . " " Nun , Erik , das ist ein starkes Stück , " sagte Klare-Bel halblaut . Jonas sah verdutzt aus , daß sein Vater so etwas im voraus wissen konnte , was doch Ruth selbst noch nicht wußte . Aber er begriff , daß ihr Erik etwas Unangenehmes geweissagt hatte , denn sie schauderte unwillkürlich zusammen . " Weißt du was ? " schrie Jonas ihr plötzlich zu , und der rettende Einfall verklärte förmlich sein Gesicht . " Ich weiß einen Ausweg , - tu es eben nicht ! Einfach ! denke nur : du brauchst es ja einfach nicht zu tun ! " Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen , und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu . Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer . Wie gebannt mußte sie den länglichen , schilderbedeckten , züngelnden Kopf ansehen , der sich dort herüberreckte . Es war , als grüße er sie . Es war , als schaue er gerade sie an . Nur sie ganz allein . Als sei sie ganz allein mit der Schlange . Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu erweitern , wie ein grausiger Höllenabgrund , wo alles Unheimliche sein Spiel trieb . Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig . Es war ganz gewiß : die Schlange lauerte schon auf sie . Sie sah doch wirklich so aus , daß man das Schlimmste von ihr denken konnte . Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken . Ruth errötete langsam , immer dunkler , ohne ein Wort zu sprechen . Da , als sich Erik vom Frühstückstisch erhob , und Jonas wieder in den Garten laufen wollte , sprang Ruth hastig auf und sagte wild : " Dann lieber gleich ! " Die anderen verstanden sie nicht recht , nur Erik , der sie unausgesetzt im Auge behalten hatte , entschlüpfte ein Laut der Überraschung . " Jetzt gleich ? " wiederholte er , " nein , mein Kind , das ist weder gut noch notwendig . Es wäre eine ebensolche Übertreibung wie das mit dem Nachtarbeiten . Und nach dieser Nacht bist du mir nicht fest genug dazu . " " Ich bin fest ! " versicherte sie fast flehend , " aber warten kann ich nicht auf etwas so Grausiges ! Ich kann es nicht so heranschleichen sehen - Tag für Tag - immer näher - immer gewisser ; - mit einer Schlange zusammenwohnen , vor der ich mich fürchte , - und die mit der ganzen Familie immer intimer wird , - - und nur auf mich lauert , - nein , das kann ich wirklich nicht ! " Erik lachte , sah aber dabei besorgt aus . Dies kam ihm ganz unerwünscht . " Aber Ruth ! " sagte er , " hat dich denn deine Phantasie mit Haut und Haaren aufgefressen ? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten in allmählicher Gewöhnung ab . Mir ist es lieber , wenn es allmählich geschieht . Überleg es dir ! Denn wenn du darauf bestehst , gibt es kein Zurückweichen mehr ! Dann kein Spielen und Versuchen ! Das würde ich nicht dulden . Deiner selbst mußt du sicher sein . " " Ja ! " behauptete Ruth , und die Stirn wurde ihr feucht . " Willst du es trotzdem ? Gut . Dann komme her . " Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich von hinten an sie heran , damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen mußte , wenn sie etwa " umfiel " . Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes , beinahe finsteres Gesicht . Als er aber nach dem Eimer langte , und sie , dicht vor sich , die Schlange sich in seiner Hand winden sah , überfiel sie ein Schwindel . Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände , denen sie befahl , sich nach dem glatten Wurm auszustrecken ; sie machte zuckend die Augen zu , und es fing an , ihr vor den Ohren zu sausen . Da hörte sie Eriks ruhige Stimme : " Fürchtest du dich sehr ? " Sie nickte fast unmerklich . " Dann wollen wir es lassen , mein Kind . " Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen . " Für immer ? " fragte sie schnell . Er mußte lächeln . " Nein . Nicht für immer , " sagte er ruhig und freundlich , " aber es eilt nicht . " Sie nahm sich zusammen . " Dann jetzt gleich ! " murmelte sie . Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand . Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie ein elektrischer Schlag , sie warf den Kopf zurück und drängte sich hilfesuchend enger an Erik . Aber ihre Finger hielten dabei den langen glatten Schlangenleib fest umspannt , und ohne einen Laut über die erblaßten Lippen zu bringen , sah sie mit weitgeöffneten Augen zu , wie sich die Ringelnatter an ihrem Arm hochstreckte , sich um ihn herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur Seite niederhängen ließ . Der Arm blieb ausgestreckt , als wäre es erstarrt . Und Ruth machte ein Gesicht dazu , als ob sie hingerichtet würde . " Bravo ! " sagte Erik , der seine Hände schützend und ermutigend um sie gelegt hatte , " auch das hast du gut gemacht , Mädel . " Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in den Eimer schüttelte , da taumelte Ruth . " Nein , nein ! " rief er heiter , " du mußt nicht denken , daß du jetzt noch , umfallen ' darfst . Damit ist es nun nichts mehr . " Und er schob ihr einen Stuhl hin . Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht , sondern ging , ohne aufzusehen , mit unsicheren Schritten an Erik vorbei und quer über die Terrasse in den Flur hinein . Dort , so weit von ihm entfernt wie möglich , setzte sie sich in eine Ecke , hinter den Mantelständer , versteckte ihr Gesicht in den Mänteln , die dort hingen , und fing an zu weinen . Erik sah ihr verwundert zu . " Aber Ruth , du Narr ! " rief er , und mußte doch lachen , " nun solltest du froh sein und sogar stolz . Was kann es nützen , hinterdrein zu weinen ? " Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll an . " Ich tue mir so leid ! " sagte sie und weinte weiter . Jonas , der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden , aber auf einen Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten hatte , sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll an . Er lief in den Flur , um Ruth zu trösten . Eine Stunde später fuhr Ruth aber doch mit ihm und Erik zur Stadt . Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch . Es interessierte sie außerordentlich , daß Ruth jetzt bei Erik im Hause lebte , und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei Erik . Sie fanden , alles sei plötzlich so nüchtern geworden . Nur eine kleine Partei , freilich die beste , vermißte Ruth nicht . Das waren die Musterschülerinnen , die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt wurden . Aber die Stimmung blieb flau , und als es nun , so kurz vor den Ferien , zu regnen anfing , da verdüsterten sich die Gesichter auch der Fleißigsten . So gab es denn eine gewaltige Freude , als Ruth in der Freistunde wieder auf dem Schulhof erschien , mit einem großen Regenschirm , unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute . Alle umringten sie , und der Lärm wurde so schlimm , daß im Hinterhause die Leute aus den Fenstern herabschauten , um zu sehen , was es gäbe und warum die Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst . Ruth war von ihnen die einzige Stille . Als sie so mitten unter ihnen stand , von allen bedrängt , da kam es ihr vor , wie wenn sie aus einer Weltenferne zu ihnen zurückgekehrt sei , und sie wurde fast schüchtern . All das Viele , was sie zu erzählen hatte , all das Viele , worauf jene begierig waren , schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen , und es blieb nichts als auf ihrem Gischt der Ausdruck von Kinderglück , der an ihrer Stadt erzählte . Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander , wo sie das überragende Dach vor dem schwachen Sommerregen schützte , und wie damals , als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte , fand Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß . Sie erschien den Mädchen verändert , ohne daß diese sagen konnten , wodurch . Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter ihnen aus , und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen . Daß sie nicht sprach , entging ihnen vollständig , der in ihnen selbst aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen , und anstatt dessen , was sie von ihr erfahren wollten , erfuhr Ruth in wenigen Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen , von damals bis zu jenem Tage , nebst dem ganzen Gang der " öffentlichen " Angelegenheiten . Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor . Das war eine Braut . Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse . Ein großes blondes Mädchen von frauenhafter Gestalt , mit ruhigen , freundlichen Gesichtszügen . Als Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine Inschrift triumphierend vorgezeigt , - der glatte goldene Traureif fiel Ruth in den Schoß . Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen , so als Gemeingut behandelt zu werden . Sie war mit ihren Gedanken begreiflicherweise längst aus der Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das unendliche Interesse verbunden , das ihr , ihrem Liebsten und ihrem Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde . Denn mit ihr betrachtete sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann gebracht . " Er ist dunkelhaarig ! " erklärte das kleine blonde Gretchen , die besonders zärtlich an Ruth hing , " ach Ruth , ein solcher wirklicher Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste . Denke dir nur , was man als Braut alles zu erzählen hat ! Wenn wir so zusammensitzen , und sie spricht von ihm und dem Leben und der Ehe und der Zukunft , dann meint man , daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren mit ihrem Kram . " " Wieso ? " sagte Ruth , " sie weiß ja selbst noch nichts davon . " Gretchen schweige etwas betroffen . " Nun , du bist auch nicht wenig prosaisch geworden ! " fiel eine andere ein und lachte , " sie lieben sich ja doch ! Findest du denn das nicht herrlich ? " " Doch ! " sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif in ihrer Hand ; " vielleicht ist es herrlich . " Dann gab sie ihn der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu : " Aber das Herrliche daran läßt sich ja doch nicht erzählen . Nicht wahr ? " Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an . Sie fühlte sich zum ersten Male zu dem beglückwünscht , was sie ganz für sich allein besaß , als Braut , - was sie mit den anderen nicht gemein haben konnte . " Es wäre eigentlich schöner gewesen , nicht so viel und so ausführlich mit allen darüber zu sprechen , " dachte sie plötzlich mit Scham und Stolz . Und während sie den Ring wieder ansteckte und Ruth anblickte , konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren : " Diese hier ist gewiß die nächste Braut . " " Ja , Ruth , du hast recht : zum Erleben mag es schmecken , zum Erzählen ist es fade ! " rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen , die schon immer zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das Übergewicht der " Brautschaft " in der Klasse sträubte ; " was hattest du immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager ! Und jetzt : der reine Hausfrauenzettel ! Ich bin einzige , die noch dem , Edlen , Unglücklichen ' nachsteigt . " " Ist der noch da ? " fragte Ruth . " Ja , stelle dir nur vor , " klatschte eine an Ruths Ohr , " sie macht förmliche Straßenbekanntschaften . Es hat schon einen Verweis gegeben . " " Laß dir nichts in die Ohren blasen , Ruth , " unterbrach die Geschmähte sie , " es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis ! Warum bist du auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten ? " Ruth hatte den Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in den verregneten Hof . Grade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein , dessen Rauchsäulen jahraus , jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß auf den Schulhof niederstäubten . Gegenüber sperrte die mächtige gelbe Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab . Die Luft war schwül ; sie hatte es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt . " Wie ein Gefängnis ! " dachte Ruth und sagte laut : " Das mit den Geschichten war ja nur ein Notbehelf . Phantastereien . " " Wieso ein Notbehelft " " Würdest du uns keine mehr erzählen ? " Sie schüttelte den Kopf . " Nein . Keine Phantasiegeschichten mehr . Nie mehr . Aber wenn man vor einer großen Mauer sitzt , dann malt man sich natürlich aus , was es hinter der Mauer gibt . Und wir wußten nichts , als daß es dahinter Mannet gibt . Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus . Ihr wolltet es ja so . " " Nun , und was ? Was gibt es sonst noch dahinter ? " " Weißt du jetzt etwas davon , was es da gibt ? " " Oh ! " sagte Ruth nur , aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten alle an , wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse , " dahinter gibt es das Leben . " In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes , die Neugier und das Verlangen Aufreizendes , daß in diesem Augenblick den meisten selbst der " Bräutigam " schon etwas schal und abgestanden erschien . In den Gesichtern prägte sich es deutlich aus , daß sich ein neuer Hunger geltend machte . " Wie kommt man denn über die Mauer ? " fragte die unternehmende Wjera . Ruth lachte . " Man klettert eben hinüber , " sagte sie und lachte noch immer , " und dann geht man geradeaus , und nach rechts und nach links , ringsherum und nach allen Seiten . Bis man alt ist . " " Nehmt euch in auch ! " rief eine von den Musterschülerinnen warnend , " seht ihr denn nicht , daß sie euch foppt ? So machte sie es immer mit euch . Sie spielt und phantasiert , und dann lacht sie uns aus , weil wir_es ernstlich nehmen . " " Nehmt_es nur für Ernst ! " sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe , den Schalk zu zügeln , der ihr im Nacken saß . " Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten , uns auch über die Mauer zu helfen ? " " Das könnt ihr ja tun . " " Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu ! " " Zeit hat er gewiß , " versicherte Ruth , " und Lust hat er auch . Er hat alles , außer den Menschen , die dazu gehören . " Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an . Und dann auf Ruth , die gleichmütig dasaß , wie das verkörperte Behagen . Die Spannung wuchs . Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu sein . " Sage Mal : ist es auch gewiß , daß es dahinter angenehm ist ? Hast du da auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden ? " fragte eine von ihnen vorsichtig . " Nie ! " behauptete Ruth , und es blitzte über ihr Gesicht , als ihr beiläufig einfiel , daß ihre Augen seit dem Tage vorher noch nicht trocken geworden waren . Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln , und die Mädchen verließen den Platz am Brunnen . " Du könntest Herrn Matthieux ja Mal für uns fragen , " meinte die hübsche Wjera , " das kostet nichts . " " Warum ? " entgegnete Ruth , " es ist eure Sache . Laßt es euch nur was kosten . " In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu . Darüber blieb es unbeachtet , daß ihnen Ruth nicht folgte . Über der Spannung , die sie hervorgerufen hatte , war sie selbst vergessen worden . Als sich die Mädchen dann nach ihr umsahen , um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden , war Ruth verschwunden . Das letzte , was sie noch von ihr vernahmen , war ein Gelächter . Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben wie sonst , denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht . So kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf , wo ihn Ruth erwarten sollte . Noch war nichts von ihr zu erblicken . Erik erledigte , was es hier noch zu tun gab , und kleidete sich um , froh , der heißen Uniform zu entrinnen . Als sich dann Ruth immer noch nicht melden wollte , öffnete er etwas beunruhigt die Tür zum Wohnzimmer und schaute hinein . Da lag sie und schlief . Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl gestellt . Dann hatte sie sich , mit emporgezogenen Füßen , auf dem weißen Leinwandschutzbezug des Sofas zusammengekauert . Den Kopf gegen das Seitenpolster gedrückt , schlummerte sie mit ernstem Gesicht und schlafgeröteten Wangen fest und eifrig , wie ein Kind . Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben . Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die Niedergelassenen Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel , worin der Staub in breiten Wellen flimmerte und zitterte , und huschten über Ruths Gesicht . Ein leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen darüber hin und blieb auf den Lippen stehen , wie im Traum . Dann , als die Sonne zudringlicher wurde , zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus , und endlich mußte sie heftig niesen . Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht . Lachend wachte sie auf und hörte Erik lachen . " Ist es Morgen ? " fragte sie verwundert und setzte sich auf . " Nein . Es ist Mittag . Warum bist du denn den Mädchen so rasch weggelaufen ? Sie fragten noch nach dir , " sagte er . Ruth rieb sich die Augen . " Ach so , die Mädchen . Jetzt weiß ich schon , " versicherte sie , " ja , mit den Mädchen ist es nichts . Glaube es nicht . Aber mir ist eingefallen : wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann , - dann gäbe es am Ende auch noch ein anderes Mittel . " " Mädel ! Schüttle den Schlaf ab . Träumst du denn noch ? " " Nein , nein . Kein Traum , " sagte sie eifrig , glitt mit den Füßen vom Sofa herunter , stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und drückte das Kinn auf die geballten Hände ; " ich habe es mir nämlich so gedacht : wenn man zu den Menschen sprechen will , - in sie hineinwirken , - an ihnen was Großes schaffen , - und man findet nicht recht die richtigen Menshcen , die gut dazu passen würden , dann muß man es so machen : man muß sich etwas ausdenken , was man ihnen vor Augen stellt , - so recht überzeugend und gewaltig vor Augen , bis sie Lust kriegen . Kann man das nicht ? Warum nicht ? Zu den Menschen vom Allerschönsten reden und nicht müde werden , - bis sie Lust kriegen . " Sie sprach rasch und belebt , mit wachen , glänzenden Augen , sichtlich bemüht , ihm etwas deutlich zu machen , was sie da , wie einen Traum , mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien . " Wer soll das tun ? " fragte er langsam , von ihrem Gesichtsausdruck wie gebannt , und trat an den Tisch . " Sie sollen es ? " rief sie hell , " wer denn sonst ? Sie haben mir immer gesagt : mit den Phantastereien ist es nichts , aber das Leben ist schön und weit . Ich glaube es ja ! Aber nun weiß ich , wozu die Phantasiegeschichten gut sind , - denn zu etwas sind die auch gut . Dazu , daß man sich ausdenken kann , was noch am Leben fehlt , und es hinzutun . Am Leben und an den Menschen . Nicht wahr ? " Während sie sprach , ging Erik im Zimmer auf und ab . Ihm schien , als lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen , was er nur künstlich in sich selbst zurückgedrängt hatte . Es kam wieder und redete mit Kinderstimme zu ihm . Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch den Kopf . Alte und neue durcheinander . Sie hatten immer nach Gestaltung verlangt . Und er , enttäuscht durch die Verhältnisse , hatte versucht , sie von sich abzuschieben , - zu vergessen . Im vergangenen Winter hatte er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt , um sie zu vergessen . Ruth saß und folgte ihm mit den Augen . " Jetzt denkt er sich gewiß was aus ! " dachte sie . Mehrere Minuten vergingnen in Schweigen . Beide merkten nichts davon , daß die Luft im Zimmer dick und staubig war und ungezählte Mücken umherschwirrten . Dann blieb Erik stehen , nickte zu ihr hinüber und sagte heiter : " Danke dir , Mädel . Erinnerst du dich , daß du mir etwas schenken wolltest , was ich eigentlich nie bekommen habe ? Nun hast du mir aus deinen Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt . Zur guten Stunde . " Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm . " Ja , " sagte sie froh , " Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen und alle für sich behalten . In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges hinein . Sie sagten damals : , Nun sind alle deine Geschichten mein Eigentum , und ich kann damit machen , was ich will . ' Und nun werden Sie etwas Schöneres damit machen , als ich_es gekonnt habe . " Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und Erwartung und fügte dann bittend hinzu : " Aber ich muß zuhören dürfen , wenn Sie sich was ausdenken ! Darf ich zuhören ? Werden Sie mir_es erzählen ? " Erik blickte auf sie nieder . So kindlich kam sie ihm vor , als sie so in Strümpfen neben ihm stand . Da reichte sie ihm noch nicht bis zur Schulter . Wie am Morgen vor dem Schreibtisch beugte er sich zu ihr , nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende , glückliche , bittende Kinderaugen . " Wir werden es uns zusammen ausdenken ! " sagte er ,- Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt . Als Erik und Ruth nach Hause kamen , stand eine Equipage vor der Gartenpforte . Der Kutscher wendete den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich langsam im Schritt abkühlen . Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem behaglichen Gemach neben der Wohnstube . Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen Landhause , das etwa eine Stunde entfernt lag , herübergekommen . Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche , die sie der kranken Frau machte . Sie kam gern , wie sie auch gern empfangen wurde . Sie empfand es wohltnend an Klare-Bel , daß man deutlich fühlte : hier lag eine , der es wirkliches Vergnügen machte , einmal im Plauderton wieder etwas von der Welt draußen , von den Menschen und der Gesellschaft zu hören . Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben zurückgelangen , so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den ersten , beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig im Glanze dieser Zeit . Und da war es nun eigentümlich : wenn man zu so einer sprach , dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu Hause . Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel . Aber Warwara wußte , daß es auch anderen Bekannten gegenüber nicht geschah . Sie wußte : dies hier war wirklich eine Frau , die mit niemand intim zu sein vermochte als mit ihrem Mann . Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr , fesselte sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe . Als aber nun Ruth ins Zimmer trat , war sie enttäuscht . Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet . Vielleicht einen wilden , interessanten Jungen in Mädchenkostüm , vielleicht auch umgekehrt ein rührendes , liebliches Kind , das sich schüchtern zurückzog , - jedenfalls etwas ganz Eigenartiges . Nicht ein blasses , wohlerzogenes Ding , das sich für Warwaras im Salon geübten Blick von anderen so jungen Mädchen durch nichts unterschied , als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene , Formsichere und Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber . Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig : sie nahm diese ganz als eine von vielen und gab auch sich selbst so wie eine unter den vielen woraus die Gesellschaft besteht . Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte , wo sie erzogen worden sei . " Ich war an verschiedenen Orten , " sagte Ruth , " aber erzogen bin ich noch nicht . " Man wußte nicht , war es bescheiden , oder übermütig gemeint ? " Wenn die nicht durchtrieben ist ? " dachte Warwara bei sich und musterte sie schärfer . Bald trat Erik dazu und brachte eine heitere Unterhaltung in Gang . Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung , deren Anzeige erst vor kurzem eingetroffen war . Ein sensationeller Rückgang , denn die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in einen anderen veliebt . Erik , der es nicht über sich vermochte , die humoristische Seite dieser Tatsache unbeachtet zu lassen , lachte laut . Warwara sah sich nach Ruth um . Diese war hinausgegangen . " Zufällig ? oder ein Kunstgriff , um bei diesem Gespräch nicht hinausgeschickt zu werden ? " fragte sie sich , " oder ist sie wirklich so kindlich , daß sie das gar nicht interessiert ? " Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst geworden war , sagte er : " Ja , die armen Frauen ! Wenn sie sich binden , haben sie allen Grund zu beten : Lieber Gott , hilf , daß ich eine gute Frau werde . Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in der Tat im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe , - in der eigentlichen Gefühlstreue . Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge festhalten , aber das ist dann ein verkümmertes Leben . " " Sie meinen , der Mann bedürfe keines solchen Gebetes , " bemerkte Warwara , ohne ihre Ironie zu verbergen . Er sah sie ganz unbefangen an . " Nein , " sagte er , " ich glaube , der Mann ist in diesem Punkt , wie in so vielen anderen auch , durch seine Naur besser geschützt . Nicht gegen die Untreue der Sinne . Nicht gegen den Wechsel des Liebesgefühls . Aber gegen das bewußte innere Loslassen desjenigen Wesens , an das er sich gebunden , - nein : das er an sich gebunden hat . Das ist_es ! " " Das ist originell . Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des Pflichtbewußtseins , einen Edelmut des Mitleids , den wir , - die Frauen , - nicht - " " Ach nein , empören Sie sich nur nicht . Kein Pflichtbewußtsein , nur ein Glücksbewußtsein mehr , als ihr es habt . Keinen mitleidigen Edelmut , nur einen begehrlichen Hochmut , den ihr nicht besitzt . Der Mann , der für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt , genießt neben dem Liebesglück noch ein anderes , spezifisch männliches Glück : er legt seine Hand bewußt auf dies ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu : , Meine . Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei : lieben mögen , - verantworten wollen , - herrschen dürfen . " Warwara schüttelte sich . " Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz ! " sagte sie , " mir jedoch ist wahrlich die Vorstellung lieber , wonach die Frau des Mannes Königin ist . " " Sie sehen , - - ich sage noch mehr : sein Königreich , " versetzte er lächelnd , " daher gibt sie ihn eher preis , als er sie . Für sie gibt es eben ihm gegenüber Aufstand , Empörung , Revolution , - was alles ganz heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann . Für den Mann hingegen wäre das untreue Preisgeben seines eigensten Reiches etwas , was ihm wider die Scham ginge . " Warwara lachte ihm ins Gesicht . " Und das sind Sie , der für alle möglichen modernen Entwicklungskämpfe , und auch für die der Frauen so gern eintritt , " rief sie , " es ist eine schauderhafte Inkonsequenz , und ein Selbstbetrug oben drein ! Denn wenn Sie nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten , die nicht mehr so mittelalterlich denkt , und Sie sie nicht unterkriegten ? " " Das würde ich doch ! " sagte Erik . " Sonst würde ich mich vielleicht für sie begeistern , sie bewundern , fördern , als meinen Kampfgenossen achten , - aber lieben , - wie sollt ich das ? So wenig , wie wenn ich ein Weib , oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre . Ich kann mir vorstellen , daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer Sache Willen , die er über sich stellt . In der Liebe - nie ! Und ein Weib , das diesem Instinkt nicht entgegenkommt - wirkt nicht als Weib . " " Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen ? Nein , nur in eurem jahrhundertlang großgenährten Dünkel , " versetzte Warwara entrüstet und wandte sich zu Klare- Bel : " Was sagen Sie nur zu einem solchen Mann ? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen , wenn wir lieben ? " Klare-Bel antwortete etwas unsicher : " Ich glaube , das tun wir , nicht weil wir unter ihm stehen , sondern weil wir glücklich sein wollen . " Alle drei fingen an zu lachen . Warwara erhob sich , um nach Hause zu fahren . " Nun sollt ich hiervon eigentlich genug haben , " bemerkte sie gut gelaunt zu Erik , " aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule erfuhr ich , daß Sie diesmal beim feierlichen Schulschluß die übliche große Rede halten werden . Da komme ich hin . Damit Sie doch wissen : Eine sitzt da und verspottet Sie . Und hübsch klingen wird es sicher . Ich habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt . " Erik mußte lachen . " Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern , daß unsere schönsten Reden für Toaste genommen werden , " versetzte er , " und daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer , die wir außer den Schulkindern auftreiben können , die gelangweilten schönen Frauen unserer oberflächlichen Gesellschaft sind . " " Liebste , jetzt sind Sie Zeugin , daß ich mich zu rächen habe , " sagte Warwara gekränkt zu Klare-Bel , " ich möchte nur wissen , ob_es ihm nicht weh täte , wenn die schönen Frauen alle wegblieben . Ich glaube , dann würde dieser Barbar Sie auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft unter seine Schulkinder setzten , die ihn alle fürchten wie das Feuer . " " Das wird wohl nie geschehen , " meinte Klare-Bel etwas betrübt . " Doch doch ! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen . Wir werden jetzt auf Grund einer Konsultation mit dem Professor eine Behandlung meiner Frau durchfürhen , die Wunder verspricht , " sagte Erik zu Warwara und geleitete sie an ihren Wagen . Jonas war später nach Hause gekommen als Erik mit Ruth und kam seltsamerweise erst zum Vorschein , als der Besuch fortgefahren war und man sich schon zu Tisch setzte . Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den tropfenden Bäumen verbracht im Kampf mit einem großen Entschluß . Seine Ringelnatter war mit ihm , sie hing ihm melancholisch um den Hals , als wisse sie schon , daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe . Noch einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen , sie gestreichelt und zärtlich an sich gedrückt , noch einmal in ihrem kostbaren Besitze geschwelgt . Dann hatte er sie totgeschlagen . Um es zu tun , mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten . Er mußte sich vorstellen , daß er wie ein neuer Herkules sei , der die Hesione von einem Meerungeheuer erlöst , oder noch lieber wie Perseus , der sich seine Andromeda erobert . Aber diese Vorstellung verfing nicht recht . Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer , Ruth verkannte sie nur . Das Tier blickte ihn mit den schwarzen Äuglein so beweglich an , und er hatte es so lieb . Da ging ihm tröstend ein altes Märchen durch den Sinn , von einer Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf ; wer die totschlug , dem verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin . Er wußte nicht mehr , ob sich es genau so verhielt , aber es gefiel ihm . Und seine Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf . Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte , wandte er sich mit rotem Gesicht ins Haus . Es war ein ganz ungeheures Opfer , fand er , das sie da beide Ruth gebracht hatten , er und die Ringelnatter . Denn die Schlange blieb nun tot , und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut wie über ein Reitpferd . Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen , die er nicht leiden konnte . Es ärgerte ihn , daß sie heute in die Freistunde gelaufen war , denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen Spielgefährten , und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß . Noch saßen sie beim Mittag , als ein Eilbote kam und für Erik ein Telegramm überbrachte . Dieser erbrach es und überflog den Inhalt , dann schob er seinen Teller zurück und trat mit dem Papier ans Fenster . Man sah ihm an , daß es eine freudige und ihn bewegende Nachricht war , die er erhalten hatte . " Fast ein ganzer Brief ! An der Grenze aufgegeben , " sagte er , " denke dir , Bel , mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs . Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen . Oder noch länger ? Damals waren wir beide noch Studenten ! Erinnerst du dich seiner noch ? " " O ja , Erik ! Wie sollte ich den vergessen ! Denn mit ihm war es ja , daß du immer noch so große Zukunftspläne machtest . Ihr wolltet alles am liebsten auf den Kopf stellen . Ja , so jung wart ihr damals . Was ist denn Römer eigentlich geworden ? " " Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität . Schrieb mir noch manchmal in früheren Jahren . " Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber . Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es Ruth , als stiege plötzlich eine ganz fremde und ferne Vergangenheit zwischen ihnen auf . Eine Vergangenheit , wobei sie nicht zugegen gewesen war . Überhaupt noch nicht auf der Welt ! Er schien ihr ganz unmöglich . " Wird er hier herauskommen ? " fragte sie leise . " Das wird er leider nicht . Er reist nur durch . Sein Ziel ist Moskau . Dort ist irgend eine Ärzteversammlung . Morgen früh am Bahnhof werde ich Näheres erfahren . Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat ? " " Zu einer Ärzteversammlung ? " bezweifelte Klare-Bel . " Warum nicht ? Ich glaube , sie sind in ihrem geistigen Leben eng verwachsen . Römer heiratete sehr jung , die Frau machte seine ganze Sturm- und Drang- periode noch mit durch . Das gab ihrer ganzen Ehe den Charakter . " " Haben Sie keine Kinder ? " fragte Klare-Bel , die dieser Punkt besonders zu interessieren pflegte . " Ich glaube nicht . " " Keiner Kinder ! " wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns . Nichts war ihr an ihrem Leiden so hart erschienen , wie der Umstand , daß sie nicht wieder Mutter werden konnte . " Das ist doch eine traurige Ehe , so zu zwei . " " Soviel ich mich erinnere , haben sie nicht immer zu zwei gelebt . Sie haben wiederholt junge Mädchen , die an der Universität studierten , bei sich aufgenommen . " " An der Universität studierten ? Können junge Mädchen das dort ? " erkundigte sich Ruth erstaunt . Erik blickte sie mit einem Lächeln an . " Jawohl . Solche junge Mädchen wie du , " sagte er ; " es steht dem ja nichts im Wege , daß du eins der nächsten Hauskinder bei Römers wirst . Hast du Lust dazu ? " Er sagte es scherzend , aber der Blick , womit sie ihm antwortete , war so ernst , daß er ihm im Gedächtnis blieb . Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von alten Zeiten . Jonas fand , nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen , aber sie blieb sitzen und hörte zu . Draußen hatte es angefangen , stärker zu regnen ; Jonas lehnte in der Haustür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus . Als Ruth endlich vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat , bemerkte er : " Wenn wir doch wenigstens bei Regenwetter , Mann und Frau ' spielen wollten . Das paßt so gut fürs Haus . Denn wenn die Sonne scheint , tust du es doch nicht . Und dann ist es auch etwas , was du bei deinen albernen Mädchen nun einmal nicht haben kannst . " " O doch ! " versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der schmalen Holztreppe , die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte , " das haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt . " " Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein ohne einen wirklichen Jungen ! " meite Jonas verächtlich . " Und ich möchte doch so viel lieber dein Mann sein als der Mann in all den Räubergeschichten , wobei ich mich immer so anstrengen muß . " " Aber ich möchte nicht deine Frau sein , " sagte sie kaltherzig und saß und schlenkerte mit den Füßen , " und dann wäre das auch noch viel anstrengender für dich . Sei doch froh , daß du jedesmal bei allem die Hauptperson und der Held bist . " " Nein , das bist du eben immer ! " warf er ihr mißmutig vor . " Nein , Jonas , das ist bestimmt nicht wahr . Du bist es ganz allein . Warst du nicht erst gestern der Egmont ? Und neulich - " " Ja , im Anfang ! " unterbrach er sie gereizt , " aber wenn du mir alles immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst , dann bin ich es ja gar nicht in Wirklichkeit , sondern nur du . " " Ich kann doch nichts dafür , wenn du dumm bist . " Jonas schwieg gekränkt . Wenn sie wüßte , wem sie das sagte ; - wenn sie wüßte , daß er freiwillig darauf verzichtet hatte , ihr seine Überlegenheit zu zeigen , sie in Furcht zu versetzen , sie zum Bitten und Schmeicheln zu bewegen ! Denn hätten sie " Schlangenbändiger " gespielt , da wäre er doch wohl der Herr gewesen . Und sie war so dumm , ihm zu glauben , die Schlange sei wirklich entschlüpft . Jonas brannte die Zunge , Ruth von seinem Opfer zu erzählen . Aber er fand , das verbiete ihm sein Mannesstolz . Lieber noch wollte er sich die Zunge abbeißen , wenn die Schwatzlust zu groß wurde . " War ich Egmont , so hättest du mein Klärchen sein müssen , " sagte er ; " warst du es etwa ? " " Nein , natürlich nicht . Dazu kam ich ja gar nicht . Denn allein hättest du ihn doch nie herausgebracht . Und er ist doch das Wichtigste , wie du dir denken kannst . Das Klärchen kann man streichen . " " Ich habe aber keine Lust , mich zu deinem Hampelmann herzugeben ! Sei meine Frau ! " schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf . Ruth war vom Geländer herabgeglitten . Sie stellte sich an das niedrige Flurfenster , an dem der Regen herunterrieselte , und drückte ihr Gesicht platt gegen die Scheibe , so daß es sich satirhaft verzog . Wenn Jonas wütend wurde , dann überschlug sich jedesmal seine Stimme : sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief . Das brachte Ruth immer zum Lachen . Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus . " Lauf nur zu deinen albernen Mädchen ! " rief er grimmig , " ich bin ein Junge ! " Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau , wie er sie brauchte . Andromeda hatte sich bereit erklärt , ihrem Erretter als Sklavin durch alle Länder zu folgen . Ruth würde so etwas nie tun , es würde ihr gar nicht einfallen , - davon war er fest überzeugt . Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster des Wohnzimmers und fragte , ob er noch bis zum Abende einen Kameraden aufsuchen dürfe . Klare-Bel , die neben dem abgeräumten Tisch lag und in van Lenneps Novellen las , blickte bei seinen Worten auf . " Es ist nur gut , daß er noch an so was denkt , " bemerkte sie , als sein Kopf vom Fenster verschwunden war , " denn jetzt denkt er Tag und Nacht nur noch an das Mädchen , Erik . " " Strohfeuer ! " versetzte dieser . Er stand und schaute verträumt hinaus . Seine Gedanken weilten noch in der Vergangenheit . Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine willkommene Zerstreuung und freute sich darüber für ihn . Ihm war es mehr als das . " Findest du , es schadet nichts ? " fragte Klare-Bel besorgt . " Aber du meintest doch selbst , Jonas sei beim Lernen flüchtig und zerstreut geworden . " " Das ist er wohl ein wenig . Aber was ihm dadurch vielleicht an Schulweisheit abgeht , erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung , die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt . Das ersetzt ihm keine Schule . " " Er ist freilich noch wie ein Kind . Aber Jonas ist anhänglich . Wenn er nun sein Herz so ganz an sie hängt - ? " " Dann laß ihm die Erinnerung , Ruth begegnet zu sein . Er kann es an nichts Besseres hängen , Bel. " Sie schwieg darauf . Das holländische Novellenbuch entglitt ihren Händen . Sie faltete sie im Schoß . " Wie hoch er sie stellt ! " dachte sie im geheimen erschrocken . Es war ein stiller Tag , der nächste . Weil Erik nicht nach Hause kam . Wie ausgestorben schien das Haus , weil man dort seinen Schritt und seine Stimme nicht hörte . Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen , meinte Bel . Nachts ließe er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein . Jonas schlich übler Laune im Hause umher . Nach dem gestrigen Streit fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst darauf folgendem unzertrennlichem Beisammensein . Aber dafür war Ruth heute nicht zu haben . Den Streit hatte sie rein vergessen . Und auf alle seine Vorschläge , etwas Gemeinsames zu unternehmen , entgegnete sie nur ihr wohlbekanntes stereotypes : " Ich muß nachdenken . " Und Jonas wußte schon , daß sie dann für ihn so gut wie verloren war . Ruth dachte immerfort , unablässig über ein und dasselbe nach . Sie folgte in Gedanken Erik in die Stadt , an den Eisenbahnzug , der ihm den Freund bringen mußte , und versuchte , sich in das Wiedersehen hineinzuversetzen . Als ihm Klare-Bel am Morgen beim Weggehen zurief : " Adieu , Erik , amüsiere dich gut ! " da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt . Es kam ihr vor , als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor . Selbst sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert . Unter allem , hinter allem , was er in gewohnter Weise sprach oder tat , fühlte Ruth es heraus , daß eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich in ihm raunte und redete . Keine Erinnerungen aber , die amüsieren , - sondern solche , die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit , von der die Gegenwart verdunkelt wird . Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein . Klare-Bels Stuhl war auf die Terrasse geschoben worden , unten konnte sie nicht bleiben , weil Erik fehlte , um sie wieder hinaufzutragen . Ein warmer Sommerduft stieg von draußen auf ; Flieder und Goldregen waren am Verblühen , und auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen . Baumwipfel und Büsche drängten sich jetzt so dicht ineinander , daß es fast schon zu viel Laub und Schatten ums Haus gab . Der Sommer barg es ganz in seinem warmen Dunkel , und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie ein großer grüner Farbenklecks . Als auf der Terrasse der Abende getrunken wurde , fiel es Klare-Bel doch auf , daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß . " Es ist fast , als könnte sie es gar nicht mehr ertragen , daß sich Erik mit anderen Menschen beschäftigt als mit ihr ; am liebsten würde sie ihm keine Zerstreuung mehr gönnen , diese arge kleine Egoistin , " dachte sie und fragte laut : " Aber Kind , fehlt dir etwas ? was machst du nur für wunderliche Augen ? Ich glaube gar , am liebsten wärst du dort zusammen mit Erik ? " Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie schüchtern an . " Ich versuche es , dort zu sein ! " sagte sie zum unaussprechlichen Erstaunen Klare-Bels . Diese zog sich bald nach dem Abende in ihr kleines Gemach zurück , um sich zeitig zur Ruhe zu begeben , denn sie fühlte sich ein wenig leidend . Vielleicht griff sie die neue Behandlung an , die Erik seit kurzem mit ihr vornahm und die eine Reihe von Monaten hindurch fortgesetzt werden sollte . Er fing wirklich schon an , wieder neue Hoffnung zu schöpfen . Gone entfernte sich , nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet hatte , und Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein , umgeben von all den zierlichen und sauberen Sächelchen , die sie bei sich aufzustellen liebte . Sie lag und lächelte über sich selbst . War es nicht seit kurzem , als ob auch sie ganz leise - leise , heimlich die neue Hoffnung hätschele ? Ein klein wenig nur . Die Hoffnung , doch noch einmal wieder gesund zu werden , Erik entgegengehen zu können auf zwei gesunden Füßen . Es war ja gewiß nichts damit . Ein bloßer Wahn . Aber wenn er trog , dann würde Erik sie schon darüber hinwegtragen , wie über die vielen , vielen früheren Enttäuschungen . Denn das hatte er getan , - nicht gerade mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen , aber mit seiner unaufhörlichen Gegenwart , mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie . Und manchmal , da überkam sie ganz deutlich das Gefühl : es war gut so , denn er brauchte das ; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen Enttäuschungen . Seine starke Beeinflussung anderer schien es zu sein , wodurch er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte . So oft hatte sie es im täglichen Leben unter den Menschen seiner früheren Umgebung mit Verwunderung beobachtet , wie belebend es auf ihn wirkte , daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten . Das Alleinsein vertrug Erik wirklich schlecht . Die Zeit rückte vor , und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit offenen Augen . Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die Luft , ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend ; in der Ferne verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter , die von nächtlicher Arbeit heimkehrten . Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer herein . Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken , so daß sie über sich selbst erstaunen mußte . " Wer ist nun stark , " dachte sie , " wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf ? " Sie war sicherlich ein schwaches Wesen , froh , wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen wollte . Er aber , brauchte er denn nicht jemand um sich , den er führen konnte , um selber froh und des Weges sicher zu bleiben ? Brauchte Erik sie also nicht , wie sie ihn ? Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht , und inbrünstig streckte sich ihre Sehnsucht ihm entgegen - . Wie sie es vorausgesehen hatte , machte sich Erik erst Stunden später auf den Heimweg . Er hatte mit vielen anderen dem Freunde das Geleit bis zum Mokauer Bahnhof gegeben , und dann blieb man noch eine Weile zusammen , - ein ganzer Haufen von Menschen , von Fremden und Bekannten , mit denen der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde . Erik ließ sich nicht mehr die Zeit , zu Hause vorzufahren , um sich umzukleiden , er erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus . Der lange Gang von der Station aus tat ihm nach den verflossenen Stunden und Eindrücken wohl ; die freie Nachtluft erfrischte ihn . Kein Lufthauch regte sich , am fast taglichen Himmel stand blaß und glanzlos der Vollmond , einzelne Wolken ballten sich aufeinander , und von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder . Als er am Hause ankam , das unter den regungslosen Bäumen in der Nachthelle dalag , wich die noch erregte Stimmung langsam dem Gefühl ruhiger Freude , wieder daheim und bei den Seinen zu sein . Bei den Seinen ! Auch Ruth gehörte jetzt dazu . Gehörte ihm zu . Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf die Giebelstube , wo sie jetzt schlief und träumte . Da , als er fast geräuschlos die Haustür aufgeschlossen hatte , knarrte die schmale Holztreppe , die vom Flur nach oben führte , unter einem leichten Fuß . Völlig angekleidet , nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf , erschien Ruth auf dem untersten Treppenabsatz . " Aber Ruth , was fällt dir ein ? Wie konntest du aufbleiben ? Schnell ins Bett ! " sagte er . Er schalt , doch klang es sehr herzlich . Empfand er doch ihr liebes Gesicht wie einen Willkommgruß . " War_es schön ? " fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen überwachen Augen an , " sollt ich denn dabei schlafen ? Nein , das konnte ich nicht ! denn ich war auch da , - immer mit da . War es schön ? " Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest . Alle Eindrücke des Tages , alle Erinnerungen , die dadurch aufgewühlt worden waren , verflogen , er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr . Was bedeutete ihm alle Anregung , ja was aller so ersehnte Beifall oder Erflog , wonach er im Leben gegeizt und gerungen hatte , gegenüber dem zarten Lob , wie es aus Ruths kindlicher , gläubiger Hingebung an ihn redete ? Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles , was von einer Menge ausging und sich laut äußerte . Nur wessen Sinne zu stumpf geworden waren für so seinen Duft , der mochte nach schärferen Würzen suchen . Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf , und darüber vergaß er zu antworten . Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug , den weiten Mantel lose umgeworfen , regenbesprüht , und darüber das belebte Gesicht . Wie sie so einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht , während die ganze Welt um sie her in Schlummer lag , erschienen sie beide wie gesättigt mit Leben , und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen , - verwandt über Alter und Geschlecht hinaus , - ein Lebenverlangendes , Lebenforderndes . Es war dasselbe , was Erik so verwandt berührt und ergriffen hatte , als er Ruth im Schulhof zum erstenmal sah , mit dem Übermut in den Augen und den erhobenen Armen . Sie standen und schwiegen , und um sie her träumte die magische Helle , in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen . " Hätte ich nicht fortgehen sollen , Ruth ? " fragte er unwillkürlich und blickte sie mit einem Lächeln an . " Doch ! Aber mich mitnehmen ! " entgegnete sie , und im Klang ihrer Stimme verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung worin sie den Tag über umhergegangen war . Erik verstand sie nicht ganz , er nahm die nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher , als sie Ruth meinte , aber Blick , Ton und Haltung drückten es so deutlich aus , daß sie sich in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte , daß eine tiefe Rührung über ihn kam . Ihm schien , Ruth sehe wie verzaubert aus , - anders , lieblicher als sonst . Im Hause blieb es ganz still , und beide sprachen mit gesenkter Stimme . Nur durch die offen gebliebene Haustür zog es ganz leise wie ein geheimnisvolles Raunen und Rauschen , - ein Flüstern , das draußen durch das niedrige Gebüsch ging , - die erste Ankündigung des neuen Tages . " Es ist Zeit ! " sagte Erik aufschreckend , " lege dich schlafen . Gute Nacht ! Guten Morgen , Liebling ! " Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich - fest , so daß sie an seiner Brust lag , und küßte sie auf den Mund . Als er sie ebenso rasch wieder losließ , ergriff Ruth seine Hand und drückte ihre warmen Lippen darauf . Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf . Erik öffnete die Mitteltür im Flur , die in das Zimmer von Jonas führte . Er mußte hindurch gehen , um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer zu erreichen . Dabei wachte Jonas auf . " Na , Papa , war_es schön ? " fragte auch der und drehte sich schlaftrunken auf die andere Seite ; " hat es denn auch Champagner gegeben ? " Damit schlief er weiter . Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus . Ein farbloses , blasses , gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus , und der dämmernde Morgen fing an , sie mit herber Kälte zu erfüllen . Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am Boden hin , sondern hatte sich höher erhoben . Es bewegte die Zweige der wilden Akazien , die dicht vor dem Fenster standen , und schwoll dann machtvoll an , bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel durchklang , die noch kurz vorher lautlos gegen den hellen Nachthimmel gestarrt hatten . Wie ein Morgenchoral klang es , und - ganz leise , - versuchend , wie im Halbschlafe noch , fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein . Und bald darauf , gleich einem Aufjauchzen , ein langgezogener unermüdlicher Buchfinkentriller . Erik hatte sich zur Ruhe gelegt , aber mit wachen , lauschenden Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf , und es kam ihm vor wie eine geeignete Begleitung zu seinen Gedanken , die noch an Ruth hingen . Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung , eine Morgentraumstimmung , so schien ihm . Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie jetzt , daß sie ja unwiderruflich zueinander gehörten , daß sie im Grunde gleich geartet , gleichen Wesens seien . Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen : " Mich mitnehmen ! " Was er war , das wollte auch sie sein , denn nur in ihm erfaßte und ahnte sie sich selbst . Der gleiche Lebensdrang schlummerte stark und freudig in ihnen beiden . Nur daß in ihr aus unbewußtem , unberührtem Naturgrunde hervorbrach , was in ihm bewußter Entschluß , Verstand und Wille gewesen war . Und daß in ihr noch mit reiner Flamme brannte , was in ihm die Berührung mit dem Leben schon mit Schlacken und Asche vermengt hatte . Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen . Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich , und der Morgenwind schwieg still . Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den Himmel , durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen . In einem breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach . Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben . Im Sonnenschein war er eingeschlafen . Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich wieder auf den gestrigen Tag , noch auf die Nachtstunde . Irgend ein Traum , ein wunderbarer , von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte , hielt ihn noch fest in Bann . Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm zwingend die seltsame Frage : " Ist sie schön ? Ich weiß es nicht , ich glaube eher : nein . Aber sie sieht aus wie - Ruth . Es ist ja Ruth . " Und ihm schien , es könne nur eine solche geben . Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit . Und blitzähnlich wurde er vollständig wach . Wie ein Schicksal , groß und schwer , stand vor ihm die Erkenntnis seiner Liebe . Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht . Vielleicht weil es überhaupt seiner Natur wenig entsprach , über sich nachzudenken . Vielleicht aber auch , weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen Interesse am Menschen , nicht am Weibe entsprungen war . Plötzlich war das alles anders geworden . - Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch auf Erik , als er endlich zu ihnen hinaustrat . Klare-Bel bemerkte sofort etwas Verändertes , Verschlossenes in seinem Gesicht , und sie bewies es , indem sie keine Frage an ihn richtete und von Gleichgültigem zu reden begann . Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches von dem Zusammensein mit dem Freunde . Die Frau war wirklich auch dabei gewesen ; sie war eine Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau . Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen . Heiter , gütig , praktisch , - ein kluger und reifer Mensch , sagte er von ihr . Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohr zu . Sie fühlte sich sonderbar beunruhigt und fand im stillen , daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung reichlich überwacht und angegriffen aussähe . Um so frischer und heller sah Ruth aus . " Wie angesteckt von der Morgensonne , " dachte Erik , während sie sein Seitenblick streifte . Dabei konnte er ihr ansehen , wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber unterdrückte , daß er sich verschlafen habe . Sie hatte sich nicht verschlafen . Sie hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt . Aus der gemeinsamen Arbeit wurde es nun diesmal nichts . Hastiger als sonst stand Erik auf , um zu gehen . Die Zeit drängte , und Jonas war schon fort . Erik konnte es kaum erwarten , daß das Haus weit hinter ihm läge , und er wieder mit sich selbst allein bliebe . Aber dennoch war ihm weder zum Träumen noch zum Grübeln zumute . Nur nach einen verlangte es ihn dringend und ungeduldig , als hinge das Leben davon ab : voll und klar ins Auge zu fassen , was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor ihm stand . Nur nach einem verlangte es ihn : davor stillzustehn und den Blick darauf ruhen zu lassen fest und forschend , wie auf einem fremden Antlitz . Darüber entschwand alles andere , was ihn hätte beschäftigen und beunruhigen können , völlig aus seinem Gesichtsfeld . An allem , was bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt hatte , an allen inneren und äußeren Verhältnissen , in denen er lebte , sah er vorbei , - ganz gerade , ganz unverwandt auf den einenPunkt , ohne nach rechts oder links zu schauen . Für etwas anderes blieb kein Blick , kein Raum , es blieb nur eine dunkle , trotzige Nebenempfindung : über Hindernisse , und wären_es auch Menschen , geht_es hinweg . - Ehe sich Erik mit Klare-Bel verlobte , hatte sie ihm einmal eine Photographie geschenkt , worauf sie sich im Kreise ihrer ganzen Familie befand . Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen Rahmen und Glas ein Blatt Papier , in dem er eine Bels Gestalt genau entsprechende Öffnung ausgeschnitten hatte : so war er mit ihr allein . Ihre Sippe deckte er zu , weil sie ihm nicht gefiel . Erik war sich_es nur halb bewußt , daß er es jetzt ebenso gewalttätig machte : mit seiner eigenen Familie , mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen Umgebung , ja mit der gesamten Welt , die er in seinen Gedanken auslöschte , bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite , eine Welteneinsamkeit , wo nur Ruths Bild vor ihm stand . Sie und er , allein miteinander , und Auge in Auge . Aber je länger er auf sie hinschaute , desto stiller wurde sein Blick . Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an sein Bewußtsein heranbringen konnten , das ging von dem fröhlichen Kinderbilde selbst aus . Alles harte und leidenschaftliche Fordern in ihm wurde still . Was liebte er denn an ihr , wenn nicht eben dieses Kindliche , worin geheimnisvoll und verheißungsvoll noch die ganze Fülle der Möglichkeiten ruhte , - dieses Keimende , Werdende , Zukünftige , was noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte , - den zarten , bildsamen Stoff , wonach sich seine Hand nur deshalb herrisch ausgestreckt hatte , weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte ? Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein , das er Ruth einmal erzählt hatte . Es enthielt eine Wahrheit , es enthielt seine Liebe . Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine Gärtnerhoffnungen . Je länger sich aber Erik in das ihm vorschwebende Bild vertiefte , um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl . Er sprach nur noch mit geringer Ehrlichkeit zu sich selbst . Umwiderstehlich erhob sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren . Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer Wirklichkeitsfarbe ein , und immer höher ging der Schwung der Gedanken . Während Erik glaubte , es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm , der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte , damit es einst Wirklichkeit werde , schwelgte und berauschte sich der Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt . - Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht , die diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach . Anfangs überlegte sie ein Weilchen , ob sie die Absicht hege , ganz für sich allein fleißig zu sein . Nein , die hegte sie entschieden nicht . Am besten hätte es ihr gepaßt , Jonas jetzt da zu haben , aber der saß in der Schule und lernte , der Ärmste . So entschloß sie sich denn , zu Gone in die Küche hinunterzugehn . Denn lieber noch wollte sie mit den Händen tätig sein als mit den Gedanken , meinte sie , und sich irgendwie lebhaft betätigen mußte sie durchaus . War ihr doch froh , so vogelfroh , so gar nicht zum Stillsitzen und " Nachdenken " . Und dann war es auch ganz unterhaltend , mit Gonnes Eimern am Brunnen zu planschen . Gone konnte es glücklicherweise gut leiden , wenn ihr Ruth so ungebeten mitten in die Arbeit sprang . Da sie nichts von der landesüblichen Devotion besaß , so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth , daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ . Und Ruth nahm es auch nicht anders , und als entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer ungeschulten weichen Stimme russische Volkslieder zur Arbeit , und Gone hörte tiefernst zu . Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und zurückgestreiften Ärmeln singend und seelenvergnügt am Brunnen . Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste von dem , was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte ; die von seiner Phantasie verklärte Gestalt , um derentwillen er die wirkliche Ruth am tiefsten zu lieben glaubte , war wie versunken . Eine stürmische Zärtlichkeit erfüllte ihn , ein heißes Verlangen , sie an sich zu ziehen , die schlanken Wasserüberspriten Arme unter seiner Hand zu fühlen , die lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen von der Sonne schwach gebräunten Hals . Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen , machte Erik plötzlich halte , kehrte um und ging in sein Zimmer . Dort lagen noch Ruths Hefte und Bücher , die am Morgen vergebens auf ihn gewartet hatte , unordentlich auf dem Schreibtisch umher . Erik setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände . Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen , und er drückte die Zähne gegeneinander . - - - Mußte Ruth fort ? Er zwang sich , den Gedanken zu Ende zu denken . Ihn überschlich eine Ermattung , eine bleischwere Müdigkeit , die alles klare Denken umschleierte . Halb mechanisch blickte er über die Hefte ihn , die aufgeschlagen dalagen ; ohne zu lesen , folgte er den einzelnen Buchstaben , als enthielten sie eine erlösende Antwort . Es war eine rasche , in den Grundstrichen harte Schrift , deren Züge alle fest zusammenhingen . Noch keine ausgeschriebenen Rundungen , aber auch kein überflüssiger Schnörkel . Ihm fiel wie von ungefähr auf : in Ruths Handschrift lag im Grunde eine fremde Ruth . Nichts von ihrer Phantasie , - ihrem Überstömen . Etwas merkwürdig Logisches . Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften . Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth ? Die noch nicht erwacht war , die er noch nicht kannte ? Da lachten ihre Augen durch das Fenster . Ruths Kopf erschien zwischen den krausen Ranken und Blättern des wilden Kopfes , der am Fensterkreuz emporkletterte . " Soll ich arbeiten ? " fragte sie . " Nein . Wir wollen auch Ferien machen . Wenigstens für heute , " sagte er und stand auf ; " weißt du , was es in der Mädchenschule für eine Überraschung gab - in der letzten Stunde vor den Ferien ? Sie erhoben sich alle und trugen feierlich eine Bitte vor . Was es war , ließ sich nicht leicht herausbringen . Sie wußten selbst nicht genau . Sie wollten dasselbe , was du gewollt hast , sagten sie . Sie wüßten nur nicht zu bewerkstelligen . " Von Ruth kam nur ein Gelächter . Er hatte es schon in der Schule zu hören geglaubt . Ganz deutlich fühlte er aus dem unerwarteten " Massenerfolg " den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus . Aber gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit gerissen , ihn mit Wärme und Freude erfüllt . Aus dem Bilde der ganzen Klasse , aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden Mädchenköpfe schaute ihm , wie aus einem Bexierspiel , Ruths Gesicht entgegen : mit einem Schalkslächeln um den Mund , aber auch mit unbegrenzter Hingebung in den Augen . Ganz so , wie sie jetzt eben zwischen den Kopfenranken dastand . " Aber nun wird Ernst damit gemacht , " bemerkte er und lehnte sich aus Fenster , " im Herbst , wenn alle wieder zusammenkommen . Vielleicht in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause . Vielleicht mit Beteiligung Erwachsener . Ich weiß noch nicht , wie . " Sie sah ihn voll Interesse an . " Das ist gut ! " sagte sie eifrig und nickte , " je mehr , desto besser . Aber alle werden nicht kommen dürfen , und manche werden bald wieder fortbleiben . Daß die Braut da ist , nimmt vielen die Lust zu so etwas fort . " " Die Braut ? " " Ja . Denn da denken sie nun , so schön könnten sie es jetzt bald alle kriegen . Und dann hat ja all das andere keinen rechten Zweck mehr , meinen sie . Denn sie finden : Braut sein , das sei doch das Allerhöchste . Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten . " Erik blickte auf sie . " So ? Und was hast denn du dazu gemeint ? Hast du auch gefunden , daß es das Allerhöchste sei und daß dann all das andere keinen rechten Zweck mehr habe ? " " Ich ? Das kann ich ja gar nicht wissen . Wie soll ich wissen , wie es dann ist ? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen . Denn ich kann niemals Braut werden , " sagte Ruth . Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung . Er war so betroffen , daß er nicht gleich antworten konnte . Dann entgegnete er : " Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken ? Wo hast du diesen Einfall her ? Du bist ein Kind , das nichts davon voraussehen kann , wie sich sein zukünftiges Leben gestalten mag . Und deine Phantasie soll nicht damit spielen . Du sollst nicht damit spielen ! " wiederholte er mit plötzlichem , unmotiviertem Zorn . " Sage mir , wie du darauf gekommen bist . " " Es ist von selbst gekommen , " sagte sie einfach , " ich habe nicht damit gespielt . Es ist gekommen , weil ich wußte : um Braut zu werden , muß man einen lieb haben . Und das kann ich ja nicht mehr . So lieb kann ich in der ganzen Welt nie mehr jemand haben . " " Wie lieb , Ruth ? " Seine Stimme klang gedämpft und heiser . Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick . Noch nie meinte er eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick gesehen zu haben . " So lieb wie Sie , " sagte Ruth . Erik machte eine kurze Bewegung und , niederblickend , schob er die Hopfenranken zur Seite , die sich überall festnestelten und anklebten . Die linke Hand , die in der Seitentasche seiner Joppe lag , ballte sich zur Faust . Ruth betrachtete ihn unverwandt , aber sie verstand nicht den Ausduck , der über sein Gesicht ging . Da , als Erik fast furchtsam aufschaute und die fragenden Augen vor sich sah , durchzitterte es ihn . Ihm kam es vor , wie wenn dieser eine Blick und Augenblick über ihn entscheide . Er beugte sich etwas vor , ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine Augen . " Weißt du , Mädel , " sagte er halblaut , " wenn du groß bist , - denn jetzt bist du doch nur erst ein kleines Mädel , - aber wenn du längst eigene und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge und viele andere noch , - dann - dann sollst du noch einmal zu mir kommen und mir sagen können : daß du mich lieb behalten hast . Und daß du von mir - von mir dein Bestes hast . Dein Eigenleben und deine Entwicklung . Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der Menschen . Wer du dann bist , Ruth , das wissen wir beide nicht ; wer ich dann bin , das weiß ich ja wohl : ein alter Mann . Aber ein alter Mann , der dafür gelebt hat , daß du , Mädel , ihm bleiben darfst , was du ihm heute bist : sein Stolz , sein Werk , sein Kind und seine höchste Hoffnung . " Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer . Ruth stand noch draußen am Fenster . Sie hatte die Arme aufgestützt und blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach . An einem der nächsten Tage um die Mittagsstunde füllte eine bunte Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal . Eltern und Angehörige der Kinder , eine Flut von Neugierigen aus den oberen Gesellschaftsschichten und viele , die Erik reden hören wollten , von dem die Mädchen zu Hause so viel erzählten . Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen und ihren Kindern ; er erwähnte den Vorschlag , den ihm seine Klasse gemacht hatte , die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule hinaus zu erstrecken , und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken von der Notwendigkeit einer reicheren Weiterentwicklung für die Frau , als sie ihr die Gegenwart außerhalb der Schuljahre gewähre . Von der Möglichkeit , eine lebensvollere , geisteskräftigere Zukunft herauszuführen , sprach er ihnen , und von der Zukunft der Frau , die , erst geahnt und nur halbenthüllt , noch vor ihr liege , wovon sie aber Besitz ergreifen könne in allem , was ihr Wesen der inneren Entfaltung und Vollendung näherbringe . Und während er sprach , dachte er an Ruth , der er nicht erlaubt hatte , mitzukommen , denn im Grunde war sie es ja , von der er redete , zu der er redete . Sie war es ja , die in ihm die Lust wiederweckt hatte , zu den Menschen zu reden , und die Menschen für ihn suchte , wie man für einen Armen Brot sucht , damit er seinen Hunger stille . Und was er seinen Menschen gab , entnahm er ihr : denn das Höchste , was er von ihr erhoffte , das Schönste , was er sich in ihr träumte , legte er seinem Zukunftsbild unter , und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen Formen . Es war , wie wenn er von den gebannten Menschenaugen eine überlebensgroße Gestalt aufrichtete , durch deren Größe die individuellen Züge unerkennbar wurden . Zu groß , sicherlich , für das wirkliche Leben , aber von einer Fülle und Wärme der Farben , die unwillkürlich mit fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig einprägte . So stand denn Erik da und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe , und die tiefe Bewegung , die in ihm war , verlieh einem jeden seiner Worte eine eigentümliche Wucht . Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara , wie sie ihm vorhergesagt hatte . Sie blickte voll Interesse auf ihn . Ihr schien , als sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet , was sie mit ihrem seinen Instinkt schon immer dunkel und undeutlich geahnt hatte , wenn sie mit Erik zusammen gewesen war : daß er Gewalt über Menschenseelen besaß , und daß er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte . Es war also das , was sie zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß , - das , was sie koketter erscheinen ließ , als sie war . Ihr fiel die Szene in seiner Stadtwohnung ein . Ja , ein Heilige war Erik wohl sicher nicht . Aber selbst da hatte sie mit Schrecken empfunden , wie suchend und sehnend und ungeduldig er auf das Innerste ging . Auf das , worin sie ihn enttäuscht hätte . Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu . Als sie damals von seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr , hatte sich ihr fortwährend ein ganz abscheuliches Bild aufgedrängt . Sie konnte es nicht los werden . Immer sah sie ein Weib vor sich , das falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des Mannes , den ihre Gestalt fesselt , hüten muß . Hatte nicht ihre Koketterie ganz ähnliche Gründe ? Sie fürchtete die geistige und seelische Entblößung Und die Arbeit an sich selbst . Es war wirklich ein ganz abscheuliches Bild . Und zur größten Neugier ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag . Nach seinem Schluß trat Warwara im Treppenhause beiseite , um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten , dort bemerkte Erik sie und kam auf sie zu . Seine Augen leuchteten . Warwara war blaß . " Nun ? " fragte er lächelnd und ganz in seinem alten , leichten Ton ihr gegenüber , " fand der , Toast ' Gnade vor Ihren Augen ? Vielleicht war es wirklich einer . " " Wenn es einer war , so könnt ' ich wohl auf die eifersüchtig - nein , aber neidisch sein , deren Wohl Sie da ausgebracht haben , " versetzte sie , ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton , aber ihr Gesicht blieb ernst ; " unserWohl ist es nicht . Ich begreife jetzt , daß Sie anderswohin gehören wollen , als zu uns Gesellschaftsgelichter . " " Aber Warwara Michailowno ! " sagte er von ihrem Ausdruck frappiert , " warum nehmen Sie sich nicht aus ? " Sie schüttelte den Kopf . " Aus Selbsterkenntnis . Ich habe Sie heute verloren , " entgegnete sie und gab ihm die Hand , " also adieu , - nicht nur für heute . Ich verzichte auf Sie . Ich entlasse Sie . - Aber nun hören Sie : es ist doch der Schulrock , und nicht der Gesellschaftsrock , der Ihnen am besten steht . " Erik sah ihr nach , wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg . Aber als sie seinen Augen entschwunden war , vergaß er auch schon wieder , was ihm durch den Scherz hindurch heute an ihrem Wesen so aufgefallen war . Und sein Blick glitt von ihr fort über die anderen hin , die ihr folgten , über jung und alt , und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen mit dem Interesse , das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen Menschengesichtern stets in ihm hervorrief . Ja , nun begannen die Ferien und die langen nicht enden wollenden Sonnentage . Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern in die Schule . Einen anderen Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn - einen breiteren . Er wollte auch keinen in diesem Augenblick . Sein Ehrgeiz schwieg still . Zu Kindern reden lernen wollte er , und die Großen zu Kindern machen , bis auch sie empfänglich würden , gleich denen , die da noch wachsen . Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude . Er war ungeduldig , heimzukommen : er sah eine Bank im Garten , hinten am kleinen Gehölz , unter den überhängenden Birkenzweigen , und Ruth saß darauf und lauschte , während er ihr von allem erzählte , was " er sich ausgedacht " . Zusammen wollten sie sich es ja ausdenken , hatte er ihr versprochen . Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen , aus denen seine unbefriedigte Tatkraft ruhelos und vergeblich in die Weite gestrebt hatte . Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit und Aufgabe , - daheim fiel jetzt Innen und Außen , Ruhen und Wirken , Träumen und Schaffen in eins zusammen . In Ruth war etwas , das machte sein ganzes Wesen produktiv , erregte und vertiefte alle seine Kräfte , so daß leise von ihnen abglitt , was dem äußeren Ehrgeiz Angehörte . Als Erik die Gartenpforte öffnete , sah er auf dem Rasen , zwischen den Bäumen , ums Gehölz herum eine wilde Jagd . Er sah Ruth , Jonas - und noch einen . Einen mittelgroßen , etwas untersetzten Mann mit kurzem dunklem Vollbart und mit Brille . Der jagte sich mit Ruth und haschte vergeblich nach ihr . Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber . Er war Bernhard Römer . Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran . " Auf einen Tag und eine Nacht , wenn es recht ist ! " rief er , ein wenig außer Atem , und fuhr sich miet dem Taschentuch über das kurzgeschorene dichte braune Haar ; "- und die Ruth nehme ich gleich mit fort , - das heißt , wenn ich sie hasche . Dann soll ich sie kriegen , haben wir ausgemacht , " fügte er hinzu , während sie sich die Hände schüttelten , " das ist ja ein reizendes Ding . Sieht aber noch aus wie ein Kind . Vierzehnjährig . " " Sie ist zart , " sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf . " Zart ? Muskulatur wie eine stählerne Feder . - Es ist ungerecht , daß du sie hast . Wir brauchen ein Hauskind . Ihr habt ja den Jungen . " " Bist du schon so schnell zurückgereist ? Und deine Frau ? fragte Erik , ihn unterbrechend , und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel , die auf der Trerrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte . " Ich mußte zurück . Und meine Frau ? Ja , die wollte noch nicht zurück . Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig . Sei froh , daß dir Bel nicht fortlaufen kann . - Meine Frau , die reist also herum und besichtigt Suppenanstalten . " " Suppenanstalten ? " " Ja , ja . Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana . Für so etwas interessiert sie sich nun einmal . Von Rechts wegen sollte ich meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer Bauer werden , der das Feld pflügt . Aber ein so edler Mann und Ehemann bin ich nun doch nicht . " " Ich finde : sehr , " bemerkte Klare-Bel , " da Sie Ihrer Frau alles das erlauben . " " Erlauben ? " Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr . " Meine liebe gnädige Frau , ich will_es Ihnen nur gestehen : ich habe gar nichts zu erlauben . Wissen Sie warum ? Ich bewundre nämlich ein wenig meine unartige Frau . Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie Suppenanstalten eingerichtet . Natürlich nur sehr im kleinen , - sagen wir lieber : im winzigen . - Aber nun will ich dir was sagen , mein lieber Erik : wir haben einst so im größten , im allergrößten , herrliche Pläne gemacht zur Vervollkommnung des Lebens und der Menschen , - aber meine Frau , die führt sie im winzigkleinen aus . Nur sie . Das ist die Art , wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat , nachdem ich wohlbestallter und - wohlbeengter Professor geworden bin . Daß sie nur so wenig kann , hält sie von nichts zurück . Das eben ist Frauenhand und Frauenarbeit - mutig . Wir sind Stümper dagegen . " " Deine Frau ist sehr außergewöhnlich , " bemerkte Erik , " ich bin froh , sie kennen gelernt zu haben . Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu sehr im Hause ? Wie lange bleibt sie noch fort ? " " Bis zu den Ferien . Den deutschen Universitätsferien . Entbehren ? Ja , - doch in der Arbeitszeit , da Behelf ich mich schon mit der Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee . Denke mir halte dabei : es ist Arbeitszeit , Wochentag . Aber in den Ferien - meinen Ferien , - da muß ich Sonntag haben . Da muß ich - muß ich meine Frau um mich haben . " Klare-Bel sah ihn erfreut an . Sie freute sich über seine herzlichen Worte , Freute sich , ihn wiederzusehen . Kaum konnte sie es glauben , daß er es selbst sei , der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf , - sanfter als Erik , stiller , ein schwärmerischer Utopist mit einem kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel . Und während Erik ins Haus ging , vertieften sie sich von neuem in die alten Erinnerungen , wie sie es schon am Morgen miteinander getan hatten . Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden beide mit uneingestandener Wehmut , daß die Jugend Vergangenheit sei . Erik störte sie nicht . Er stand in seinem Zimmer . In erregter Stimmung . Ruth mit Römer , - nicht mit ihm : er konnte den Gedanken nicht verscheuchen . Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen . Ein seltenes Heim , - das seltenste : eine vollglückliche Ehe . Neben dem Mann die gleichaltrige Frau , in der , wie ein Stückchen seiner Jugend , das nicht sterben wollte , die Frische weiterlebte , die ihn vor dem Vertrocknen in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte . Daher seine ewigfrische Liebe zu ihr , daher für alles , was sie plante , das offene Herz und die offene Hand . Dort würde Ruth haben , war ihr nottat : in körperlicher , geistiger , praktischer Beziehung . Und indem sie ihnverlor , eine mütterliche Freundin gewinnen , der er sie blind anvertrauen konnte . Irgend etwas raunte Erik zu : " Gib sie hin . Dort wäre die selbstlosere Liebe . Schütze sie vor dir selbst . " Seine Augen verfinsterten sich , und um seinen Mund erschien eine harte Linie . Nun ja , er gestand sich es ein : daß er Ruth selbstlos dienen wollte , das war nur , um sie zu behalten . Er hatte außer ihr nichts zu verlieren , was ihn ganz erfüllte . Er kämpfte um das Schönste und um das Letzte , - das fühlte er . Und um das Höchste : um sich selbst . Man sagt oft : erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes führe manchen zur wahren menschlichen Größe , Lehre ihn erst , wahrhaftig tatkräftig den anderen zu dienen , auf andere zu wirken . Gewiß gab es solche milde Menschen in der Welt . Aber galt es von ihm ? Konnte er je zu ihnen gehören ? Laut schrie es in ihm : Nein ! Nein ! Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen . Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an . Glück brauchte er , um Mensch zu bleiben . Viel Glück , um gut zu bleiben . Er mußte es zu sich zwingen in irgend einer Form - und um jeden Preis . Um jeden ? Gab es nichts , was ihn veranlassen könnte , einst selbst die Axt an die Wurzel zu legen ? Bels Glück ? Nein ! Aber Ruths Glück . Er versuchte , gewaltsam den Gedanken fortzustoßen . Er setzte sich an den Schreibtisch und versuchte , ein paar Aufzeichnungen auszuführen , die er sich unterwegs für seine Winterpläne gemacht hatte . Er versuchte , sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen , die er an der Treppe im Vorbeigehen studiert , und worin er den Ausdruck der Freude und der Anregung gelesen hatte . Aber die Gedanken verschwammen , und die Gesichter verblaßten . Er sah nur noch ein Chaos fremder , gleichgültiger Physiognomien , - ohne Ausdruck , ohne Freude , ohne Blick . Unschöne , woran sein Auge vorüberglitt , - hübsche , worauf es teilnahmslos haften blieb . Kapitel Kurz und glühend , wie immer , war der russische Hochsommer vorübergeflogen , und früh , mitten im August , nistete sich leise der Herbst im Garten ein und erlosch mit seinen langen dunklen Abenden die Sonne . Der Rasen sah fahl und versengt aus , und längs den Kieswegen sammelten sich die ersten dürren Blätter . Grade da , wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes lag , konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten goldgelben Fleck hineinschauen , der täglich ein wenig zunahm . Und von Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter , drehte sich in der Luft ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder . Gleich daneben standen ein Tisch , roh aus ungeschälten Baumästen gezimmert , und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk von Weidenzweigen . Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und arbeiteten . Klare-Bel konnte nicht begreifen , wie sie das nur so ununterbrochen aushielten ; manchmal schienen ihr es allerdings nur Unterhaltungen und Gespräche zu sein , die sie führten , aber sie wußte , wie ernst sie es damit nahmen und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb , um seinen Unterricht vorzubereiten . Gern lag sie so und lauschte darauf , nicht auf die Worte , aber auf die Stimmen . Denn darüber täuschte sie sich nicht : nur in solchen Stunden klang Eriks Stimme noch gerade so froh wie früher . Und da war es wirklich gut , daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer in ihrer Nähe saß , wo sie ihn hören konnte . Oft dachte sie dann mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten Tag im Juni zurück , den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in der Stadt verbracht hatte . Seit dem darauffolgenden Morgen war er verändert . Und mit diesem Tage mußt es zusammenhängen . Aber den wahren Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit , namentlich seitdem sie den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen hatte . Denn seitdem begriff sie ganz gut , daß Erik vielleicht noch im stillen den alten Erinnerungen nachgehn mochte . Kehrten doch sogar ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück , wohin es keine Rückkehr gibt . Die Jugend ersteht nicht wieder auf . Wenn es doch eine Freude gäbe , - dachte sie ganz heimlich bei sich , - eine große , gewaltige Freude , die sie einmal über Eriks Leben bringen könnte , so daß er darüber alles vergäße ! Aber sie besaß nichts , - sie hatte immer nur so dagelegen mit leeren Händen und Opfer gekostet . Vor einigen Tagen hatte Erik ganz unerwartet den Professor herausgebracht , den er manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog . Sie war auf ihr Bett gelegt worden , und dann hatte Erik die vor Angst und Schmerz Zitternde ganz fest in seinen Armen gehalten , bis qualvolle Minuten überstanden waren . Er selbst war ganz blaß . Aber der Professor wollte wiederkommen . " Muß es sein , Erik ? " fragte sie zagend . " Es muß sein . Eine Änderung ist da , " antwortete er ausweichend . Änderung ! vielleicht Genesung ! Ja , nur eine große , gewaltige Freude konnte es noch geben : wenn sie selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat auf eigenen Füßen , - da mußte er wohl wieder froh werden . Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen Zweige , von denen sich langsam die Blätter lösten . Und ihre Gedanken verträumten sich . Als die Strahlen der Nachmittagsonne schräger sielen und die Schatten der Bäume anfingen , sich zu dehnen und zu strecken , verstummten die beiden am Tisch , und Ruth stand auf . Bei diesem Unterricht erschien es Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich , daß immer Ruth seinen Schluß angab . Erik wollte es so : nur sie selbst konnte genau wissen , wann ihre volle Frische und Empfänglichkeit nachließ . Er seinerseits konnte nur seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen , was er ihr gab , - und das tat er . Er sammelte alle Kräfte des Willens und Geistes und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt : er hielt Ruth wie ein Fürstenkind , das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt . Er blickte sie an , wie sie , sonngebräunt und mit vornübergewehtem Haar , neben ihm stand , in einer richtigen russischen Bauernbluse von grobem ungebleichtem Leinen , mit roter Stickerei auf den Achselstücken und Oberärmeln , - fast wie ein Kind aus dem Volk . Aber sein Fürstenkind war sie doch . Er hatte ein Heft herangezogen , ohne die Absicht , es durchzusehen ; nur mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin . Doch Ruth blieb neben ihm stehen , und nun beugte sie sich über ihn , um hineinzublicken . Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser . Und plötzlich herrschte er sie wegen eines geringfügigen Versehens , das er gefunden hatte , so heftig an , daß Klare-Bel erschrocken aufsah . Ruth zog Schultern und Augebrauen hoch und schüttelte entrüstet den Kopf . " Es ist nicht zu glauben . Wie kann man nur so kopflos sein , - nicht wahr ? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein ! " setzte sie mit unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort . Erik war verblüfft und mußte über sie lachen . Aber es berührte ihn wunderlich . Noch vor ein paar Monaten hätte etwas Derartiges sie scheu gemacht , - sie verscheucht . Jetzt weinte sie nicht mehr drüber , daß er sie ein dummes Kind nannte . Sie lachte . Lachte sich aus . - Ihre Augen sahen ihn so spottend an . Wen verspottete sie eigentlich ? Sich selbst , - daran war kein Zweifel . Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand , den sie nur noch von Erik aus beurteilte ; sie empfand , dachte und handelte nur noch wie aus seinem Wesen heraus . Was war diese Selbstentrückung , dieses Übermaß von Selbstvergessen im Grunde ? war das Liebe ? war es das , worauf er , nur halbbewußt und wider seinen Willen , - wartete ? Klare-Bel hatte mitgelacht . " Es wird dir noch sonderbar vorkommen , " sagte sie , " wenn du im Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst . Wenn du mit ihnen alles teilen mußt . Wirst du dann nicht eifersüchtig sein , wenn eins von den Mädchen mehr kann als du ? " " Warum ? " fragte Ruth , und der Schalk ging durch ihre Augen , " dann wollen wir die eine lieber haben als mich . Wir haben Raum für viele da . Je mehr es sind , desto besser . " Erik blickte auf . Am Ende würde wirklich eine Dritte im Bunde mit Begeisterung empfangen ? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah , konnte niemand wissen , was sie bei sich dachte . Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu , um sie vor Sonnenuntergang hineinzutragen . Jonas kam ihnen entgegen ; den ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen umhergetrieben , aber immer paßte er den Augenblick richtig ab , wo er Ruth in Beschlag nehmen konnte . Als Erik wieder aus dem Hause trat , sah er Ruth mit Jonas unter den Birken auf und ab gehen . Sie hielten sich lose umschlungen und stießen einander gegen den grasbewachsenen Wegrand , wo der Frühherbst das welke Laub angehäuft hatte . Es machte ihnen offenbar lebhaftes Vergnügen , mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln . Jonas hatte Ruths Hand gefaßt , die auf seiner Schulter lag , und von Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr sich mit ihrer Hand liebkosend über seine Wange . " Jonas ! " rief Erik den Knaben laut an . Der schrak auf bei dem Ton . " Was soll ich ? " fragte er und kam betreten näher . " An deine Ferienarbeiten sollst du ! " sagte Erik und schämte sich vor sich selbst . Ruth folgte Jonas ins Haus . Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach . Da war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach . Da war es wieder , - dies Kindliche , Kindische , dies Unausgewachsene und sonderbar Unreife , worüber er in Ruths Wesen nicht hinwegkam . Es nahm nicht ab , es nahm zu , - es steckte ganz tief irgendwo , im Kerne ihrer Natur . Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt , wie junges Laub in warmem Mairegen . Aber es war , als ob sich nun erst auch alle kindlichen Elemente mit entwickelten und zu immer vollerer Auslebung drängten , - und daneben andere , beinahe männliche , die er in ihr bis dahin nur geahnte hatte . So schnell gewöhnte sie sich daran , ihre Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische Richtung auf das Erkennen zu geben , als hätte sie nie in der Phantastik der Träume gelebt . Offenbar hatte das Unentwirrbare , Unklare und Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst zusammengehangen und fiel mit ihnen von ihr ab . Erik ging langsam ins Haus zurück , wo Jonas im Wohnzimmer mit resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien ; aber im stillen grübelte er darüber nach , wie er Ruth dem Vater am besten abspenstig machen könnte , um sie mehr für sich zu haben . Morgen war ein Sonntag , da konnte man viel unternehmen ; in diesen Ferienmonaten wurde schon früh gegessen , und so bekam man einen reichlich langen Nachmittag und Abend heraus . Aber Jonas fand es ungerecht , daß auf sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel und sich der Vater gerade die Wochentage genommen hatte . Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer . Sie mußte in ihre kleine Giebelstube hinaufgegangen sein . Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte , ob sich oben nichts rege . Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen Holztreppe . Wie ein Dieb erschien er sich selbst , als er da in der Halbdämmerung auf dem untersten Treppenabsatz zögerte . Nur langsam nahm er die ersten Stufen , dann rasch die nächsten . Wie lange , lange war er nicht mit Ruth allein gewesen , - ganz allein . - - Oben kopfte er kurz und laut an . Ruth antwortete mit heller Stimme . Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank , worin sich ihre Sachen befanden , und kramte darin . Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht viel mehr als am ersten Tage . Aber das Fensterbrett war mit Blumen gefüllt , mit gewöhnlichen Sommerblumen , wie sie die Straßenhändler auf einem Kopfbrett vorübertrugen , und darunter standen am Boden Töpfe mit Ablegern aus dem Garten . Und die Tapetenwand war mit Bleistiftzeichnungen bedeckt , die als Rahmen einen breiten Tintenrand erhalten hatten . Sie rührten alle von Jonas' Hand her und stellten alle irgend einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar . Erik sah auf den Tisch nieder , wo Nähzeug und Papiere unordentlich durcheinander lagen . Es fiel Ruth nicht ein , zu fragen , weshalb er heraufgekommen sei , aber in der leichten Verlegenheit , die er selbst empfand , suchte er nach einem Wort und zog eins der Papiere unter dem Nähzeug hervor . " Schreibst du hier Verse ? " fragte er überrascht . Sie wurde dunkelrot . " Nicht mehr so oft , " antwortete sie fast bestürzt , " und ich will ja auch gar nicht ! Aber manchmal , wenn - - manchmal muß ich es noch tun . " " So Verborgenes tun . Verborgen vor mir . Und ich habe geglaubt , daß kein Gedanke unausgesprochen , den ich nicht kenne , durch deinen Kopf geht . " Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten . " Nicht verborgen , " sagte sie leise , " es sind nur eben keine Gedanken . Und aussprechen kann man sie auch nicht . Und die kommen nun und drängen sich , und dann muß man Verse schreiben . " Erik lachte . " O weh , die armen Verse ! " bemerkte er . " Also solch einen stillen Winkel hast du dir noch in deinem Kopf reserviert , während es aussieht , als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest . Die ist wohl nur in den Staatsstuben , auf der Oberfläche . Dahinter liegt aber eine wunderschöne unergründliche Rumpelkammer . Was sollen wir mit der machen ? " Sie sah ihn ganz ernsthaft an . " Was Sie wollen , " versetzte sie treuherzig . " Würdest du denn fraglos tun , was ich will ? Auch im geheimsten , was du für dich treibst ? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer ? Immer ? " " Immer . " Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände . " Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte ? Und wenn es zufällig gerade dein liebster Winkel wäre ? und wenn es nun , irgendwann einmal , vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre , sondern dein glückliches geistiges Zuhause ? würdest du auch dann noch ebenso antworten : , Was Sie wollen ' ? " " Ja ! " sagte sie einfach . Erik machte eine Gebärde , wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte , dann aber ließ er sie frei , trat zurück und ans Fenster , neben dem ein kleiner Bücherbord an der Seitenwand hing . Ein paar Minuten vergingen . Ruth sah ihm zu , wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte , die in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr zu erkennen waren . Aber Erik wußte ungefähr , was sich hier alles auf das sonderbarste einträchtig zusammengefunden hatte . Eine lateinische Grammatik aus Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht , eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Übersetzung und ein zerrißener Band alter russischer Volkserzählungen , Überwegs " System der Logik " und die französische Übersetzung des Don Quichote mit den Illustrationen von Dore , und so fort . " Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben ? " fragte Ruth plötzlich vom Fenster her . " Weil ich es nie gekonnt habe . Bücher zu schreiben verstehe ich nicht , Ruth . Und mir schien wohl auch immer : Bücher sind tot , nur das gesprochene Wort lebt . Und ich fürchte , du wirst es auch nie können , nie verstehen , mein armes Mädel . " " Ich ? Ich will auch nicht . Ich möchte was anderes . " " Was möchtest du denn ? " " Ein Märchen erzählen . Ein einziges . Eins , worin alles drin ist . Aber nicht mit Worten . " " Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen , malen oder meißeln müssen , wenn du es mitteilen willst . " " Es muß noch auf bessere Weise gehen , " meinte Ruth . " Nicht , wenn es für alle sein soll . Sonst kann man es auch wohl einem lieben Menschen an den Augen ablesen . " " Das ist schon besser , " sagte sie an lehnte ihren Kopf gegen das Fensterkreuz zurück . Kurze Zeit schwiegen beide . Die Dämmerung sank tiefer . Auf den Steinfliesen der Terrasse unter ihnen blinkte es hell auf , im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet . Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse . Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter Ruths Rücken im Zickzack hin und her . Erik stand mit einem Male im Halbdunkel dicht neben ihr . Er hob die Hände und strich leise über ihr Haar hin , so daß sie sich in den weichen lockigen Wellen verloren , und dann blieben sie auf ihren Schultern liegen , und er beugte sich tief über Ruth . " Sage mir das nicht mehr , - was du vorhin sagtest : daß du immer und fraglos tun würdest , was ich will , " bemerkte er mit gesenkter Stimme , " du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen . - Ich könnte ja auch ein Unrecht von dir wollen . - Hast du daran nicht gedacht ? " Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf . Er umfaßte sie fester . " Und wenn es doch so wäre ? " fragte er fast heftig , " was würdest du tun ? " Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an . Sie schien sich den Fall ernsthaft zu überlegen . " Unrecht tun ! " sagte sie dann laut . Erik fuhr zusammen . Er murmelte etwas , was sie nicht verstand . Sie aber lachte über das ganze Gesicht . " Für mich ist immer das das Rechte , was Sie wollen , - niemals ein Unrechtes . Besser weiß ich es nicht . Ich brach es aber auch nicht besser zu wissen . " " Mein armes Kind , " sagte er leise . Sie richtete sich in seinem Arm hoch . Ein lauschender Ausdrck kam in ihr Gesicht . " Wer ? ich ? Warum sagen Sie das ? " fragte sie mit veränderter Stimme und machte sich langsam frei . " Was ist das ? Warum sagen Sie mir das alles ? Ich bin kein armes Kind . Ich bin ja Ihr Kind ! " Und als er nicht gleich antwortete , faßte sie ihn plötzlich an beiden Armen und schüttelte sie mit leidenschaftlicher Kraft . " Bin ich_es den nicht ? " fragte sie wild . " Warum soll ich nicht mehr tun , was Sie wollen ? Bin ich denn nicht Ihr Kind ? Nicht mehr ?! Dann wäre es besser , tot zu sein . " " Ruth ! " rief er erschüttert . Sie suchte sich zu fassen . Ihre Hände sanken von seinen Armen und schlangen sich ineinander . Dann hob sie den Kopf . " Ich will alles tun , - alles ! Recht oder Unrecht , Gutes udn Böses , - alles ! Ich will Gehorsam sein bis in den Tod . Stellen Sie mich auf die Probe . Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen , - Ihr Kind sein dürfen , - zu Ihnen sagen dürfen : ich will tun , was Sie wollen . Immer ! Immer ! Das muß ich - muß ich dürfen . - - Darf ich ? " Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände . Eine Gebärde unsäglicher Demut . Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus , und ihre Stimme klang wie Metall . Und nur zuletzt ein ganz weicher , kindlicher Ton : "- Darf ich ? " Erik wurde zumute , als schaue er plötzlich , erst in diesen vorüberblitzenden Sekunden , mit weitem Blick hinein in die verhüllte Tiefe , aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte . Zum ersten Male hinein in das Geheimnis ihres Wesens , - hinein in die stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler , vieler Jahre , aus der mit rückhaltloser Gewalt die lange gehemmte , lang aufgestaute Inbrunst hervorgebrochen war , als er in ihr Leben trat . Ihn lieben dürfen , das hieß : endlich - endlich Kind sein dürfen , gehorchen , sich hingeben , sich weggeben , - auf den Knien noch . Es hieß sammeln und ausstürzen dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes , das noch keine Kindheit gehabt hat . Und das doch gerade dessen - nur dessen bedurfte . Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an . " Bin ich noch immer arm , - ein armes Kind ? " schienen sie ihn unverwandt zu fragen . " Du bist nicht arm , - mein Kind bist du , - und darfst gehorchen , - mir folgen , - du sollst es immer dürfen , " sagte er heiser . Und er öffnete die Tür nach der Treppe , über der das Lampenlicht hell aus dem Flurraum heraufschien . - An jenem Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Tee in sein Arbeitszimmer zurück . Klare-Bel merkte recht wohl , daß er wieder die halbe Nacht aufblieb . Obgleich doch am anderen Tag der Unterricht ausfiel . Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch , ob Briefe in die Stadt mitzunehmen seien . " Willst du zur Stadt fahren ? gerade heute ? am Sonntag ? " fragte seine Frau unruhig . " Ja , Ich muß selbst zwei Briefe , die dringend sind , besorgen und einen notwendigen Besuch machen , " versetzte er . Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen . Der eine an Römer nach Heidelberg , der andere an dessen Frau nach Moskau . Beide doppelt frankiert . Sie wagte nicht , ihn zu fragen , was er denn an Frau Römer so viel zu schreiben habe ? Er machte ein so ablehnendes , verschloßenes Gesicht . Aber als er fortgegangen war , sann Klare-Bell den ganzen Vormittag traurig und besorgt diesem Gesicht nach . Dies Wortkarge , Verschloßene kannte sie als ein schlimmes Zeichen . Erik war offen und mitteilsam , wenn er froh war ; wenn er schwieg , so litt er . Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm geteilt . Dem Glücklichen , Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht ein wenig gedrückt , ein wenig überflüssig . Dagegen erschienen ihr immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge zu Eriks Innerem , die wohl auch sie hätte finden müssen , - um ihm nahe zu kommen , um ihm notwendig zu werden . Aber gerade , wenn er litt , wurde er am unzugänglichsten , - wurde er stets abweisend bis zur Schroffheit . Nur in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr . So war es also wohl nichts für sie : weder mit der Freude , die sie ihm so gern bringen wollte , - noch auch mit dem Kummer , den sie mit ihm getragen hätte . Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten . Ganz gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor , die soeben von Wiesbaden zurückgekehrt war , um nach kurzem Aufenthalt zu den Ihrigen nach Livland zu reisen , wohin sie ihr Mann begleiten sollte . " Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim , " sagte der Onkel zu Erik , den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst nach längerem zwanglosem Gespräch zu zwei in das Empfangszimmer zu seiner Frau geführt hatte . " Aber alles , was Sie mir da erzählt haben , eilt ja auch nicht von heute auf morgen , denke ich mir . Wenn Sie Ihre Absicht ausführen , Ruth ins Ausland zu senden , so ließe sich dabei der Zeitpunkt unserer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen , nicht wahr ? " " Nein ! " entgegnet Erik , " das , was ich von Ihnen erbitten wollte , war eben dies : mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen . Und für Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten , den ich im Auge habe . Auch wenn das ihre Abreise unberechenbar beschlennigen sollte . Ich weiß , daß ich Ihnen damit viel zumute . Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben , dann lassen Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden , so unbedingt wie damals , als ich sie Ihnen fortnahm . " " Ich weiß keinen Menschen auf der weiten Welt , zu dem ich mehr Vertrauen fassen könnte als zu Ihnen , " versetzte Ruths Onkel , dem bei Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand , " und was Ruth anbetrifft , so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt , als ob selbst so nahe Verwandte wie wir Ihnen ein Recht auf die Kleine abtreten müßten . Wenn Sie also so fest glauben , daß es gut an ihr gehandelt ist , dann handeln Sie so ! Ich meinerseits will , - wenn ich sie nicht wiedersehe , - ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen und unsere kleine Studentin in Heidelberg besuchen . " " Aber ich bitte dich ! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim ärgsten Namen ! " fiel die Tante ein , der die Nachgiebigkeit ihres Mannes unverantwortlich vorkam . " Ruth soll doch nicht wirklich studieren ? Ich meine mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren , wie es hier geschieht ? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein undenkbar . " " Einstweilen soll sie lernen , " antwortete Erik etwas ablehnend , " das weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen . " Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an . Wie konnte man so etwas der " Zeit " überlassen . Hätte er noch gesagt " der Vorsehung " . Wenn er für das Frauenstudium eintrat , dann war er auch ganz gewiß ein Atheist . Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen . " Ich sehe mit Verwunderung , daß mein Mann sehr forglos darüber denkt , " bemerkte sie , als Erik schon aufstand , um sich zu verabschieden , " aber um so mehr muß ich ein Wort hinzufügen . Du sprichst so ruhig von Rechtabtreten , Louis ! Aber ein Recht kannst du doch nie und nimmer abtreten . Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit . Das mag ja eine altmodische Ansicht sein . Aber ich möchte doch wissen , wie Herr Matthieux darüber denkt . " Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten Augen . Zum ersten Male gefiel sie ihm . Eben die Kampflust gefiel ihm . Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte , war sie doch ein besserer Wächter als er . " Wenn ich Sie recht verstehe , " sagte er , " so fürchten Sie , daß ich mit meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber übernehmen würde . Wenn es etwas gibt , was Sie von dieser Furcht befreien kann , so nennen Sie es mir . " Der Onkel sah fast verlegen aus , aber sie beachtete es nicht . Ich antworte Ihnen als gläubige Frau , " entgegnete sie , die stolz war auf baltische Überzeugungstreue , " mir bedeutet moralische Verantwortlichkeit : schuld sein wollen an einem Menschen , - schuld an dem , was an seinem inneren Menschen geschieht . Nicht zulassen , daß er Schaden daran nimmt . Wie sollte man das ohne Gott , ohne religiösen Glauben auf sich nehmen können ? Wenn Sie nun Ruth fortgeben , - können Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen ? " Über Eriks Züge ging ein Ausdruck , den sie nicht zu deuten wußte , der sie aber wider ihren Willen ergriff . " Nun verstehen wir uns , " sagte er mit unterdrückter Bewegung , " denn eben das soll mein Recht sein : ich will schuld sein an diesem Kinde ! " Sie fand , es klang arroganter als je . Es war nichts , was ihre religiösen Bedenken beruhigen konnte . Aber ihr war dennoch , als habe er " Gott " gesagt . Erik ging nach dem Bahnhof zu . Fast kein Mensch außer ihm in den leeren Straßen ; auch die letzten , die den Sommer in der heißen , ungesunden Sumpfluft der Stadt zubringen mußten , entrannen ihr am Sonntag . Nur hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Tür einer Kellerschenkte , oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über das schadhafte Holzpflaster , das stellenweise noch weit aufgerissen dalag und darauf wartete , daß seine alljährlichen Löcher in schöner Mosaikarbeit zugestopft würden . Verlorene Glockenklänge , die letzten von einer der zahllosen Kirchen , zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin , wie Grabgeläute über einer Totenstadt . Erik ging langsam , müden Schrittes heimwärts . " Nicht zulassen , daß sie Schaden nimmt , " wiederholte er die eben gehörten Worte . Ja , genau das wollte er doch . Noch war die Umpflanzung in einen neuen Boden möglich , wenn er seinen kleinen Baum behutsam mit allen feinsten Würzelchen dort eingrub . Nur so konnte er jetzt seine Gärtnerdienste an ihm tun , damit das Bäumchen nicht Schaden nehme an seiner Entwicklung , die noch in hart und fest geschloßenen Knospen vor sich ging , - undurchsichtig von allen Seiten . Denn manchmal , da wachte etwas Gewalttätiges in ihm auf , - im pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben , der sich am Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte , um zu sehen , ob eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft . Aber er fiel sich selbst in die gewalttätige Hand , er selbst riß sich Ruth aus der Hand . Verdirbt denn ein Vater sein Kind , ein Mann kein Weib , ein Künstler sein Werk ? Und ihm schien , seine Liebe zu Ruth sei alles dieses . Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet ; als er kam , wurde es einsilbig eingenommen . Klare-Bels Hoffnung , Erik werde erzählen , bei wem er den Besuch gemacht hatte , erfüllte sich nicht . Er wußte wohl , daß er nun davon sprechen mußte . Mit ihr und mit Ruth . Es war ihm das Schwerste . Das dachte er , als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers stand und wartend in den Hinteregarten hinausblickte , wo sich Ruth mit Jonas erging : " Nur nicht sprechen , - nur nicht grübeln , - handeln ! Sie auf den Arm nehmen und forttragen . Handeln ! Wer es wortlos dürfte ! " Und nun ging Jonas ins Haus . Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter . Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz , dem Steinrand des Springbrunnens . Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast im Grase . Als sie ihn kommen sah , warf sie ihren Zweig fort und lief ihm entgegen . Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch , zum verspäteten Essen , und nun schlich sich ihre Hand in die seine . Ohne recht zu bemerken , was er tat , steckte er sie mitsamt der seinen in die Seitentasche seiner Joppe . Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf , aber als sie den ernsten , beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah , verstummte sie ebenso plötzlich . Sie gingen einige Schritte auf das kleine Gehölz zu . " Heute war ich bei deinen Verwandten , Ruth , " sagte Erik , " sie waren beide da . Ich wollte sie einmal etwas danach ausfragen , was wir in den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben . Weißt du nicht ? Ich meine danach , ob du nicht einmal im Auslande tüchtig weiterlernen solltest . " Sie sah ihn erwartungsvoll an . Dies da interessierte sie sehr , und ein wenig beunruhigte sie es auch . Denn es handelte sich doch eigentlich erst um ein ganz allgemein gehaltenes , unbestimmtes Zukunftsbild , - nicht um etwas , was schon erwogen und besprochen werden mußte . " Nun ? und was meinten sie dazu ? " fragte Ruth gespannt , als er schwieg . "- Sie haben nichts dagegen einzuwenden , Ruth . Nichts Ernstliches . Da ist es denn Bernhard Römer gewesen , an den wir dafür gedacht haben . Dort wüsste ich dich im richtigen Hause geborgen . Es wäre fast so , als wenn ich selbst bei dir bleiben könnte . " Ihre Hand , die er noch umfaßt hielt , erkaltete in der seinen . " Ja , - aber - daß ist ja noch so lange hin ! " meinte Ruth ganz langsam , und dann immer schneller , in wachsender Unruhe : " Es ist doch noch lange hin ? Sehr lange ? Ich soll doch nicht - bald fortgehen ? Von hier - - fortgehen . " Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu , die unter den Birkenbäumen standen . " Komme zu mir , " sagte er sanft , " setze dich zu mir her , mein Liebling , und laß uns ruhig darüber sprechen . Ganz ruhig , - hörst du ? " Sie folgte ihm schweigend , aber ihre Augen hingen unverwandt mit tausend aufgestörten bangen Fragen an seinem ernsten Gesicht . " Sieh , Kind , " fuhr Erik fort , " wenn wir hier während unserer gemeinsamen Arbeit an deine Zukunft dachten , dann schwebte sie dir wie ein erwünschtes , lockendes Bild vor . Ich wollte , daß du dich später weiter entwickeltest , und du wolltest es auch . Ich dachte oft bei mir , wenn ich dir zusah : manches von dem , was ich einst selbst erstrebt habe , könntest du , in anderer Form , später einmal verwirklichen . Aber was so , als Zukunftsmöglichkeit , in der Ferne stand , wird doch näherrücken müssen , bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist . Und ich wünsche , daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst , mein Kind . " "- - Wie nahe - - ist es denn ? " fragte Ruth mißtrauisch , aber kaum war es ihr entschlüpft , als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre beiden Hände flach gegen die Ohren preßte . " Nicht ! " murmelte sie undeutlich , " ich will_es nicht wissen ! bitte , nicht ! bitte , bitte , nicht weitersprechen . " Einen Augenblick schloß er die Augen . Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang diese zu sich nieder . " Es hilft nichts , mein Kind , " sagte er fest , " es hilft nichts , sich vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen . Grade hiervon werden wir weitersprechen . Denn je mehr du noch davor zurückscheust , desto dringender , desto eher muß es geschehen . " Ruth war sehr blaß geworden . Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf . Vor etwas , was sie noch nicht fassen , nicht deutlich begreifen konnte , was aber vor ihr empordämmerte - unerwartet , unversehens , aus dem Nichts , - schattenhaft , gleich einem Riesengespenst . " Ich kann nicht ! " stieß sie hervor . " Es kann ja so nicht sein ! Ich will nicht , daß es so ist . Ich kann nicht ! " Er beugte sich über sie und suchte ihren Blick . " Wirklich nicht ? " fragte er ruhig ; " auch nicht , wenn du weißt : ich will es ? Auch nicht , wenn ich es selbst bin , der dich bei der Hand nimmt , dich vor etwas hinstellt , was dir schwer fällt , damit du lernst , es herankommen zu sehen , ohne davor fortzulaufen ? " Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter . " Ich fürchte mich , " sagte sie , wie ein Kind im Dunklen , "- irgend etwas Schreckliches ist da , - seit gestern ist es da - und kommt heran , immer näher , - ganz dicht heran , - ganz nahe . Wie ein Ungeheuer , das sich um mich ringelt . - Ist es etwas Schreckliches - - ? " " Nicht das , was du gestern fürchtetest , " sagte er leise , "- nur das , was du gestern selbst wolltest , selbst fordertest . Weißt du nicht , was du mir versprochen hast ? Gehorchen wolltest du - unbedingt . Ich sollte dich auf die Probe stellen . Wenn ich_es nun tue , Ruth , - ziehst du dein Versprechen zurück ? " " Nein ! " entgegnete sie rasch und richtete sich auf . Dagegen gab es keine Auflehnung . Nur Gehorsam . " Worin besteht die Probe ? " fragte sie entschlossen , " was soll ich tun ? " Er antwortete nicht gleich . Er hatte die Brauen zusammengezogen , und seine Zähne gruben sich in die Lippe , als litte er körperlichen Schmerz . Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend beieinander . Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ihnen ein rundliches gelbes Birkenblatt nach dem anderen in den Schoß . Mühsam schien die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten , und aus den Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner satter Ton die Stille um sie . Da antwortete Erik mit einer Stimmer , die fast rauh klang : " Du sollst dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen , wie du dich einmal in einer kleinen erwiesen hast . Du sollst tun , was du schon einmal getan hast , als dir das lange Herankommen , - Näherkommen von etwas Gefürchtetem bevorstand . Es war damals , als uns Jonas die Schlange ins Haus brachte . Sie flößte dir solchen Schrecken ein . Weißt du nicht mehr , was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand ? " " Nein ! " sagte sie stutzend und blickte auf , " was war das für ein Mittel ? " " Du sagtest : , Dann lieber gleich ! ' " Ruth sprang jäh van der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen ihn hin , als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte . Dann , ohne einen Laut der Erwiderung , brach sie vor ihm in die Knie , in das welke Augustlaub , das zu seinen Füßen lag . " Ruth ! " murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie , " mein Kind ! mein Liebling ! hörst du mich nicht ? " Aber sie hörte nicht mehr . Ihr Kopf fiel zurück . Sie hatte das Bewußtsein verloren . Inzwischen war Jonas in den Garten gelaufen , der vom Fenster aus beobachtet hatte , daß der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz hineingegangen war . Wie versteinert blieb er stehen , als er jetzt Erik zwischen den Bäumen hervortreten sah und Ruth mit geschloßenen Augen regungslos in seinen Armen . Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt , die linke hing schlaff herunter . " Gehe voraus ! " gebot Erik dem Knaben , " ohne Lärm . Halt mir die Türen offen . Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen . " Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken ; er rannte voraus , nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzusehen , und ins Haus hinein . Dort lief er , ohne die Mutter oder Gone zu alarmieren , die Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf . Als Erik mit Ruth in den Armen oben ankam , stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Tür , durch die man das schmale weiße Bett mit der zurückgeschlagenen Decke sehen konnte . Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht , er wäre so gern mit hineingegangen , um bei Ruth zu bleiben . Aber Erik ging schweigend an ihm vorbei und zog die Tür hinter sich zu . Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein : wie der Vater , Ruth an der Brust , so stumm an ihm vorüberschritt , während er zurückbleiben mußte . Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches , einen starren wortlosen Ernst , - so , wie wenn Ruth schon so gut wie tot wäre . Jonas überlief es kalt . Er klammerte sich an den Türgriff und lauschte mit zurückgehaltenem Atem . Anfangs unterschied er nichts . Dann hörte er Eriks Stimme , halblaut , kurz , sehr bestimmt im Ton . Sie wiederholte sich . Darauf eine Pause , - und plötzlich ein Klagelaut drinnen , ein einziger Laut , aber so scmerzlich , daß den Knaben Entsetzen faßte . Was tat man mit Ruth , mit seiner lieben Ruth ? Was tat ihr der Vater an ? Etwas Furchtbares mußte es sein . Etwas Furchtbares mußte heute im kleinen Gehölz vor sich gegangen sein . Und er durfte die Tür nicht aufstoßen , er wagte es nicht . Aber eine rasche wilde Empfindung , wie plötzlicher Haß , loderte unverstanden in ihm auf : daß er ein Knabe war , und er Vater ein Mann ! Daß er nicht eindringen durfte mit gleichem Recht , - mit Gewalt ! Aber ebenso rasch erlosch sie wieder . Ruth konnte nichts geschehen , wenn sie bei seinem Vater war . Jonas schlich sich hinunter , in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben der Wohnstube . Er konnte nicht allein sein . Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kannte eines Stuhles und brach in Tränen aus . " Ruth ist halbtot , Mama ! " sagte er außer sich , " ach Mama , sie stirbt ! Die Augen hat sie schon zugemacht . Und Papa , - ich weiß nicht , was Papa tut , aber ganz bestimmt tut er ihr weh . Sie darf aber nicht sterben ! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch die Blätter im Garten . " Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er selbst , und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf , ob nicht Erik bald herunterkäme . Aber es dauerte noch geraume Zeit , bis er kam . " Um Gottes Willen , was ist denn mit Ruth geschehen ? " rief sie ihm in großer Unruhe entgegen . " Sei nur ruhig , es war eine Ohnmacht , " versetzte Erik und gab Jonas einen Wink , hinauszugehn . Dann trat er an seine Frau heran und sagte : " Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen , auf die sie nicht genügend vorbereitet war . Jetzt mußt auch du es erfahren : Ruth geht schon in diesen Tagen fort . Nach Heidelberg , zu Römer ins Haus . " Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen Staunens an . " Ist das dein Ernst ? Du gibst Ruth aus der Hand ? Aber was willst du denn ohne Ruth machen ? Kannst du sie denn entbehren ? " " Das muß ich doch können , Bel. " Im beginnenden Zwielicht vermochte sie seine Züge nicht genau zu erforschen . Aber sie kamen ihr vor wie aus Stein gehauen . Und diesen Ausdruck kannte sie . " Erik ! " sagte sie ängstlich , " tu mir nichts so gewaltsam . Du siehst ja , daß es sie krank macht . - Warum siehst du so hart aus , Erik ? " " Hart ? " Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn ; " für mein Aussehen kann ich nicht . Aber ängstige dich über nichts . Ruth wird morgen gesund sein und auch gefaßt . Für ihre Haltung stehe ich ein . Aber sei gut und freundlich zu ihr . Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen . " " Verreisen ? Du reist fort , Erik ? Wohin ? " " Nach Moskau . " " Zu Frau Römer ? " fragte sie lebhaft . " Ja . Ihr soll sich Ruth anschließen . Und sie wird sich hier wahrscheinlich nicht mehr aufhalten . Ich muß daher alles mit ihr verabreden und besprechen . Mündlich . " Klare-Bel schwieg . Es wurde dämmerig im Zimmer , und draußen im Flurraum hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen . Da , ganz leise , fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt . " Erik ! " flüsterte sie , "- laß mich dich bitten : laß sie noch ein Weilchen bei uns . - - - Auch ich werde sie ja vermissen , Erik ! " " Du - - - Bel ? " " Ja . Denn sie hat dich so glücklich gemacht . " Er zog ihre Hand an sich und an den Mund und küßte sie voll Scham und Ehrfurcht . " Ich danke dir für diese Bitte . Ich danke dir , Bel . Aber es kann nicht sein . " Er zog sich zurück , um Ruths Onkel die definitive Entscheidung mitzuteilen . Dann packte er eine Handtasche , und eine Stunde später war er fort . Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau . In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik . Sie hatte bestimmt geglaubt , Ruth würde bis zum Spätherbst bei ihnen im Haus und dann , auch im Hause ihres Onkels , nach wie vor in engster Verbindung mit ihnen bleiben . Wie oft hatten sie darüber gescherzt , ob sie nicht später zusammen mit Jonas auf die Universität gehen solle ? Erik hatte kein Wort davon gesagt , daß seine Absichten wohl von Anfang an andere waren . Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus . Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein , Kritik an dieser Handlungsweise zu üben . Da er es so wollte , mußt es wohl gut sein . Gut für Ruth . Er liebte sie so sehr , er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben . Auch dabei , daß es so unerwartet über sie kam . Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hätte sie liebkost und getröstet . Sie nahm sich vor , es den nächsten Tag zu tun . Zum ersten Male fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für Ruth , - nicht nur das indirekte Interesse , das durch Erik hindurchging und alles auf ihn bezog . - Der Morgen war herbstlich und grau , die Terrasse noch feucht von den kalten Nebeln der Nacht . Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer einnehmen . Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein ; sie war blaß und ernst , aber gesund , wie es Erik gesagt hatte , und ganz gefaßt und still . Als sie , noch vor Jonas , hereinkam , streckte ihr Klare-Bel die Arme entgegen : " Komme zu mir , " sagte sie liebevoll , " sei nicht traurig , denke nicht an die Abreise . Noch bist du hier ! " Ruth sah auf , ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht verändert hätte , und schüttelte den Kopf . " Ich bin schon fort ! " entgegnete sie . Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr . Ihr schien , es liege etwas Schmerzlicheres darin als in Klagen und Tränen , - etwas , was schon die bloße Ankündigung der Trennung mit ganzer Wucht als Trennung empfinde und nicht mehr davon los könne . Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen . Und jetzt kam ihr Erik doch hart vor . Wie konnte er nur wollen , daß Ruth so von Haus zu Haus , von Hand zu Hand ginge . Unwillkürlich suchte sie nach Worten , die wahrhaft trösten könnten . Gab es keine solchen ? In ihrer Ratlosigkeit griff sie nach dem Höchsten , was sie gekannt hatte . " Wir wissen alle nicht , wo wir bleiben , und was mit uns geschieht , " sagte sie zögernd , " wir wissen es nie . Es steht in Gottes Hand . Aber wir sind auch nie allein , wo wir auch hingehen . Gott ist allgegenwärtig . " Ruth lächelte flüchtig . " Ja , " versetzte sie traurig , " was kann es helfen , daß Gott allgegenwärtig ist , wenn es die Menschen doch nicht sind ? die Menschen , von denen wir fortgehen . " Klare-Bel schwieg peinlich berührt . Sie gab es auf , Ruth trösten zu wollen . Wenn diese so etwas sagte , klang es kindisch und vermessen zugleich . Wer mochte darauf antworten ? Über Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort ; obgleich er ihr nicht davon gesprochen hatte , wunderte sie sich doch nicht drüber , ihn nicht zu sehen . Es mußte wohl so sein : war doch alles in Auflösung begriffen . Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung . Niemand teilte es ihm mit . Er hörte nur , daß Ruth wieder gesund sei , aber das glaubte er nicht . Wie konnte sie gesund sein , wenn sie doch so ganz verwandelt war seit gestern . Und nicht nur Ruth , alles schien ihm wie verwandelt . Gern hätte er sie gebeten , ihm zu sagen , was gestern geschehen sei , aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem fremdem Blick an ihm vorbei , daß er es nicht herausbrachte . So begnügte er sich damit , so oft er nur konnte , neben ihr zu sitzen , den Arm um ihre Stuhllehne gelegt , und dann von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu streicheln . Manchmal bückte er sich auch und küßte ihre Hand , ohne daß es Ruth beachtete . Daß Erik nicht zu Hause war , verstärkte in Jonas noch die Empfindung , daß er über Ruth zu wachen habe , wie ein getreuer Wächter . Am liebsten hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt und aus Todesgefahr errettet , - wenn er nur gewußt hätte , wovor und vor wem . Spät am Abend , als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war , patronillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf und ab , und es tat ihm leid , daß so absolut nichts passieren wollte . Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett , aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder . Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf einem hellen Lichtfleck abgezeichnet : bei ihr mußte jetzt , gegen Morgengrauen , noch Licht brennen . War sie krank ? unglücklich ? Er hielt es im Bett nicht aus . Im Nun war er in seinen Kleidern und stieg geräuschlos aus dem Fenster . Vor der Terrasse stand die alte Ulme ; sie bildete einen bequemen Sattel , dort , wo sie sich in zwei mächtige Äste gabelte . Wie eine Katze kletterte Jonas an dem bemoosten , von dem starken Niederschlag während der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf . Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein , der aus der Giebelstube fiel . Ruth saß auf dem Bett . Vollständig angekleidet , so wie sie hinaufgegangen war , saß sie noch da ; die Arme vor sich hingestreckt , die Hände auf den Knien gefaltet , kehrte sie Jonas fast voll ihr Gesicht zu . Den Kopf ein wenig erhoben , schaute sie weit hinweg über die dunklen Wipfel des Gartens . Sie blickte so geheimnisvoll , wie in eine unendliche , verklärte Ferne . Und um die festgeschloßenen Lippen lag ein stiller Ausdruck , - lag Ergebung . Jonas starrte mit weitgeöffneten Augen auf sie hin . Er war so im Bann des einen Bildes , daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm , was das flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete . Er sah nicht , daß der Tisch selbst abgeräumt war , die Stühle zusammengeschoben , - nicht , daß auf ihnen ein offener , halbgefüllter Koffer stand und daß die Wände ohne den Schmuck seiner Bleistiftskizzen kahl und leer auf Ruth niederblickten . Er sah sie nur , seine lustige Ruth , wie in dem Bilde einer betenden Heiligen , und alles , was in dem Erlebnis des vorigen Tages seine schwerfällige Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte , gewann erneute Gewalt über ihn . Ruth selbst wurde etwas Geheimnisvollem und Leidendem für ihn , aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen , das seine Schwärmerei wachrief . In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut vom Tage vorher , er sah sie auf dem Bett daliegen , den Vater über sie gebeugt , - und sein Herz schlug beklommen . Er vermochte nicht die Augen vom Fenster abzuwenden . Die Nacht war kalt , vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf . Schmal und blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel , und aus dem Gehölz klang ein verschlafenes Rabenkrächzen . Jonas fror , er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und drückte sich dichter gegen die breiten Äste , deren Feuchtigkeit ihn allmählich durchdrang . Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffel klatschend auf die Terrasse nieder . Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich , ob er hinuntersteigen solle , den verlorenen Schuh zu holen . Da bewegte sich Ruth . Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit geweckt . Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern . Ein Arm hob sich heraus und , unter dem von keinem Schnürleib bedeckten Hemde , die zarte Wölbung der Brust . Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still . Dann hob sie die entblößten Arme hoch über sich , stürzte vor ihrem Bett auf die Knie und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin , den Oberkörper langgestreckt , in den Kissen vergraben . So blieb sie regungslos liegen . Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an . Er hatte den Schuh , er hatte die Kälte vergessen . Vor seinen Augen flimmerte es . Weit vorgebeugt , die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige , um nicht zu fallen , starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett . Über ihm glomm langsam der Morgen herauf . - Als Gone am frühen Morgen beim Fegen der Terrasse den Pantoffel auflas , war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt , halb bewußtlos vor Kälte und Erregung . Er gab sich den nächsten Tag große Mühe , ein starkes Unwohlsein zu verbergen , konnte aber vor Heiserkeit kaum sprechen , und seine Augen glänzten im Fieber . Auf Klare-Bel besorgtes Drängen und Fragen bekannte er , die Nacht im Garten gesessen zu haben . Nach dem Essen warf er angekleidet auf sein Bett . Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück . Klare-Bel erwartete ihn erst mit Einbruch der Nacht . Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug benutzt . Ruth stand in seinem Arbeitszimmer , bemüht , ihre Papiere und Hefte unter den seinen herauszusuchen , um sie einzupacken . Was war nun seines , - was ihres ? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften von seiner Hand , - der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den Winter , seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben , niedergeschrieben von ihrer Hand . Da vernahm sie im Flur unerwartet einen raschen , festen Schritt . Die Tür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf , und Ruth an seine Brust . Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht . Von der einen Gewißheit hypnotisiert , daß sie fort mußte , nahm sie alles passiv hin . Um so mächtiger wirkte jedoch jetzt der plötzliche Anblick Eriks auf sie . In diesem einen Augenblick vergaß sie alles , - in diesem einen Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer , der bevorstand , - leugnete ihn , vernichtete ihn , - in diesem Augenblick wurde alles - alles gut . Sie vermochte nichts zu denken , als daß er da sei . Und daß sie bei ihm war . Fest , - fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken , fest barg sich an seiner Schulter ihr Gesicht . So stehen bleiben , - für immer so stehen bleiben , festgewurzelt für immer an dieser Stelle , hineingeschmiegt in die weiten , weichen Falten des geöffneten Reisemantels , - nichts fühlen , nichts vernehmen , als den starken dumpfen Herzschlag , der ihr entgegenpochte , - für das ganze Leben nichts - nichts mehr . Sie wechselten kein Wort . Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten ; stumm hielt er Ruth an der Brust , schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr Haar . Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern , um ihre Hüften und umschlossen sie mit so gewalttätigem Griff , daß es wie Schmerz und Ersticken über sie kam , - als müsse er sie nun zerbrechen . Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust , - sterben , - nicht fortgehen , - dachte sie , und es überflutete sie mit einem jauchzenden Glücksgefühl , wie sie es nie gekannt hatte . Erik sah sie lächeln . Er verlor die Besinnung . " Wahnsinn ! " schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf , " Wahnsinn ! Wahnsinn , sich zu lassen , wenn man sich liebt . " Eine Sekunde lang , - dann ließ er sie so jäh los , daß sie zurücktaumelte - Und : " Erik ! " rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer , " Erik , bist du wieder da ? " Er hängte den Mantel an den Ständer , dann öffnete er die Tür zur Wohnstube , wo sie lag . " Denke nur , Erik , Jonas ist inzwischen krank geworden , - so schwer erkältet , - hoffentlich ist es nicht so schlimm . Er hat - - , aber was ist dir ? " Er stand da wie ein Betäubter , das Blut in den Augen . " Nichts . Ein Schwindel , " murmelte er , setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf auf die Handflächen . " Das ist diese übertriebene Eile ! " klagte sie besorgt , "- daß es mit solcher Windeseile vor sich gehen soll . Wann ist es denn nun , daß sie reist , Erik ? " " Morgen , - um Mittag , " sagte er leise . " Mein Gott , so schnell ist es aber doch rein unmöglich ! Denke doch nur , was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt . Ruth braucht doch gewiß noch manches , was für sie beschafft werden muß . " " Es kann alles in Heidelberg beschafft werden . " " Nun ja , Erik . Aber wenn du wüßtest , wie tief es ihr geht . Wie blaß und elend sie ausgesehen hat , gestern und heute . Sie ist doch nur zart . " " Höre auf ! " sagte er zwischen den Zähnen . " Ach , Erik , ich widersprechen dir ja nicht ! Das tu ich ja niemals ! Sie tut mir nur so leid . So allein ist sie , und so liebebedürftig . Und nun : von Haus zu Haus , von Hand zu Hand . Und wenn sie nun erkrankt - " " Höre auf ! " unterbrach er sie außer sich und sprang auf , und warf den Stuhl zurück , daß er zu Boden schmetterte , " höre auf , Bel ! Es ist genug ! Ich will es so ! " Damit verließ es das Zimmer . Mit erschrocken Augen sah sie ihm nach . Erik war fast immer sanft gegen sie , obschon - oder vielleicht weil - ihr Wille gegen den seinen nie recht in Betracht kam . In einem so heftigen Ausbruch hatte sie ihn lange nicht mehr gesehen , - wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr . Kranke sind gute Lehrmeister ! Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe . Da war ihm der rasche Zorn noch nicht verraucht , da wurde er leicht heftig , wenn seine Frau nicht ganz dem entsprach , was er erwartet , was er mit ihr gewollt hatte . Seltsam : damals erschreckte sie es nicht , - nein , mehr noch , so wunderlich es auch sein mochte : sie liebte diesen Zorn . So deutlich fühlte sie , daß Eriks Liebe damit verknüpft war . Gegen einen ihm gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden . Mit dem Interesse an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen , ihn zu formen , zu gestalten , nach seinem Willen umzuprägen . Liebe und Härte fielen zusammen . Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen , da befanden sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen : die eine , im roten Sarafan , auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel dreinschlug , lachte über das ganze Gesicht ; die zweite , im blauen Sarafan , saß daneben am Weg auf einem Stein , sah neidisch zu und weinte sich die Augen aus , indes ihr Liebster mit einer anderen spazieren ging . Das war gewiß eine dumme Geschichte . Aber diese beiden Bauersfrauen konnte Klare- Bel gut verstehen . Niemals sollte sie sein Zorn schrecken : nur , daß er mit seinem Zorn seiner Liebe vergäße . - Der Tag schlich langsam zu Ende . Es war so still im Hause , als ob dort niemand anwesend sei . Erik hatte lange bei Jonas gesessen , ihn genau angesehen , alles Notwendige veranlaßt und den heftig Widerstrebenden gezwungen , sich ganz zu Bett zu legen . Es handelte sich um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber . Ruth stand auf dem Flur , gegen das Treppengeländer gelehnt . Sie wußte selbst nicht , warum sie dort stand . Wahrscheinlich weil sich alle Türen in den Flur öffneten . Und aus einer der Türen mußte doch endlich Erik kommen . Und wenn er kam , mußt er doch zu ihr treten . Sich nach ihr umwenden . Er mußte doch einsehen , daß es unmöglich sei , so fremd aneinander vorüberzugehn , wie er es heute abend tat . Sie wollte so wenig : nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte sie , - nur seine Hand fühlen einen Augenblick lang . Seitdem Erik sie an sich gerissen und dann von sich gestoßen hatte , war über sie eine ratlose Verzweiflung gekommen . Die äußere Trennung , die nahm sie ja hin , wie etwas Furchtbares , aber Unabwendbares , weil er es so forderte . Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von sich losriß , das konnte sie nicht ertragen . Ihn den Blick absichtlich fortwenden zu sehen - ohne ein Wort der Liebe für sie , ihn wie einen Fremden dastehen zu sehen , - das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen . Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus . Als er Ruth an der Treppe bemerkte , sagte er ihr gute Nacht . Sie machte eine Bewegung auf ihn zu , ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf . Aber er sah ihr nicht in die Augen . Er gab ihr nur flüchtig die Hand . Dann ging er an ihr vorüber zu Jonas hinein . Bald darauf siegte die Übermüdung über ihn ; wider Erwarten fiel er in einen schweren Schlummer . Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten seinen Schlaf , furchtbare Träume , die seinen Körper mit kaltem Schweiß bedeckten . Er sah Ruth vor sich , gealtert , verwelkt , mit gefurchten Zügen und gekniffenen Lippen , mit Lippen , wie sie eine leere , liebeleere Jugend gibt ; er sah sie in einem lächerlichen Bilde , wie in einer Theaterposse als tugendsame hysterische alte Jungfer , mit der unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick . Und da , als er in der Angst des Traumes seine Augen gewaltsam von der Fratze wandte , - fort , einem anderen Ruthbilde zu , - da wandelte es sich von ihm - zu nackter , entblößter Schönheit . Nacht sah er Ruth - und schamlos , fremden Männern preisgegeben , - einen weißen Körper , der nicht der ihre war , ein lachendes Antlitz , das nicht das ihre war , - und doch wußte er : es sei Ruth . Er erwachte mit einem stöhnenden Laut . Und noch aus dem Traume heraus hörte er küssen und lachen . Aber das leise Stöhnen wiederholte sich , als habe es ein Echo an den Wänden des Zimmers gefunden , und ein unterdrücktes Weinen schlug an Eriks Ohr . Er richtete sich auf und lauschte . Das Weinen kam aus Jonas' Bett , das neben der offenen Verbindungstür beider Stuben stand . Man konnte deutlich hören , daß er es in den Kissen zu ersticken suchte . Erik ermunterte sich völlig . Er machte Licht und näherte sich Jonas' Bett . Als ihn dieser kommen hörte , verkroch er sich nur noch tiefer in seine Decken . " Hast du Schmerzen ? " hörte er den Vater fragen , " bist du kränker geworden ? " " Ich bin nicht krank ! " murmelte Jonas , " es ist unnütz , mich mit Gewalt im Bette zu halten . Ich weiß doch alles ! Ich weiß jetzt alles ! Es hat nichts genützt , es vor mir zu verheimlichen ! Und was ich noch nicht wußte , das habe ich gehört ! Ich habe gehorcht und habe es gehört ! " Erik schwieg einen Augenblick betroffen . " Du sprichst im Fieber , " sagte er dann ; " was weißt du denn , was hast du gehört ? " " Daß sie fortgeht ! Daß sie morgen fortgeht ! " Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen . Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm besorgt die Hand auf die trocken brennende Stirn . Aber Jonas stieß die Hand zurück . " Nein , " sagte er fast keuchend , - " du willst es ja , - du bist ja - schuld , daß sie fortgeht . Vor dir schützen muß ich Ruth , - schützen , denn was weißt du , - wie ihr zumute ist . Du weißt nicht , hast nicht gesehen , - wie sie daliegt die Nächte - halb ausgekleidet an ihrem Bett , - wie gestern . " Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen , so daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß , um den Schmerz zu beherrschen . " Was hast du - gestern - gesehen ? " fragte Erik mit heiserer Stimme . Jonas setzte sich auf . " Sie kniete vor ihrem Bett , " sagte er traurig , " vielleicht weinte sie , - oder betete , - so geheimnisvolle Augen hatte sie , - und ich habe mit ihr gewacht - die ganze Nacht , heimlich , oben in der alten Ulme vor der Terrasse . Erik sprach kein Wort . Aber nach einer langen Pause hob er die Hand , und leise strich er Jonas über Stirn und Harr . Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen . Die sanfte , liebkosende Bewegung des Vaters , der ihn so selten liebkoste , empfand Jonas als ein wortloses Verstehn und Mitfühlen , das ihn um die letzte Fassung brachte . Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters . Und wie ein unaufhaltsamer Strom , fieberheiß , halb unverständlich brachen die Worte aus ihm hervor , überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln : " Papa , lieber Papa , hilf mir ! Ich kann es nicht aushalten , daß sie fortgehen ! Ich war böse auf dich , - nimm_es nicht übel , - hilf mir ! halte sie ! Papa ! sie bleibt da , wenn du_es nur willst . Früher war ich Mal eifersüchtig auf Ruth , ich glaubte , daß du sie mehr liebtest als mich . Aber es schadet nichts , wie sehr du sie auch liebst , Papa ! Denn ich liebe sie ja auch viel mehr als dich ! Mehr als dich ! Mehr als alles auf der Welt ! " Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest . " Nimm dich zusammen ! " sagte er halblaut , aber mit der eindringlichen Stimme , der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war , " du darfst hier nicht liegen und dich so haltlos gehen lassen . Selbst nicht im Fieber . Nimm dich zusammen . " Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen . Er atmete mühsam . Erik hatte sich auf die Kannte des Bettes gesetzt , ohne seine Hände loszulassen . " Lege dich nieder . Ganz ruhig . Unterdrücke die Unruhe . Komme , mein Junge ! strammer ! Und nun höre mich : ich will dir helfen , wenn du mir folgst , aber anders , als du denkst . Von Ruth mußt du dich jetzt trennen . Wir alle Müssens . Denn morgen schon reist sie fort , und bis dahin wirst du nicht aufstehen dürfen . " Jonas fuhr empor . " Papa ! das muß ich ! ich springe aus dem Bett ! Ihr haltet mich nicht ! Ich muß Ruth küssen , - ich muß sie küssen , - wenn sie geht ! " " Mit einem kranken , entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht küssen wollen , hoffe ich , " unterbrach ihn Erik in einem Ton , der jede Widerrede abschnitt , " und du wirst es nicht nur unterlassen , sondern auch alles tun , was ich von dir verlange . Dich vollkommen beherrschen , wenn sie von dir Abschied nimmt . Mit keinem Wort , keiner Heftigkeit , keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren . Alle Aufregung mit festem Willen niederzwingen . Das alles wirst du tun . Ich muß mich unbedingt auf dich verlassen können , wenn ich sie zu dir hereinführen soll . - Kann ich es ? " " Ja ! " stieß Jonas hervor , während ihm die Lippen noch zitterten . Er konnte nicht an gegen diesen Willen , der den seinen in Bann hielt . " Gut . Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen ersten großen Schmerz , " sagte Erik mit so weicher Stimme , daß es Jonas war , als spräche er mit den Lauten der Mutter zu ihm . " Wenn Ruth von dir gegangen ist , blicke nicht zurück auf sie , sondern vorwärts in dein Leben ; Sorge dafür , daß du dich tüchtig entwickelst , arbeite daran , daß du bald ein ganzer Mann wirst , - damit du ihr einst ein ganzer Freund sein kannst , wenn sie deiner bedarf . So kommst du in allem , was du tust , zu ihr zurück , - ihr nahe . Dulde es nicht , daß sie dich so ganz überflügelt und dich einst weit - weit hinter sich zurückläßt ! Jetzt kannst du zeigen , was du wert bist , - und ob du es wert warst , Ruth gehabt zu haben . " Jonas lag ganz still und lauschte . " Ja ! " sagte er begeistert , " das will ich ! ach Papa , das will ich ! " Und er hob den Kopf und küßte den Vater . Erik hielt seinen Kopf einen Augenblick lang an sich . " Wir werden nie mehr hiervon miteinander sprechen , " sagte er leise , - " nie mehr . Aber vergiß es nicht . Zwinge deine Gedanken auf die Arbeit , auf da , was vor dir liegt . Suche dich mit mehr Festigkeit zu beherrschen . Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen . Streng mit dir sein , meine Junge . Mache es mir nicht zu schwer . " " Papa , " versetzte Jonas so zutraulich , wie er sonst nur mit Klare-Bel zu sprechen verstand , " ich will mich nie wieder vor dir fürchten . Sei so streng du willst gegen mich . Du hilfst mir ja damit , nicht wahr ? Tüchtig zu werden . So fest und tüchtig wie kein anderer . Ausstechen muß ich jeden anderen ! Hilf mir schnell , ein ganzer Mann zu werden ! - Ein Mann für - für - ich meine : ein Freund für Ruth . " Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert ; Erik mußte ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen . Nun schwieg er und lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft . Erik war außerstande , sich wieder schlafen zu legen ; er kleidete sich vollständig an . Er fühlte sich frei , wie erfrischt von einem langen , gesunden Schlaf , wie gekühlt und gestählt durch ein erquickendes Bad . Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend , die noch auf seinen Träumen gelastet hatte , war verflogen . In der Einwirkung auf einen anderen , dessen Unruhe er bezwang , dessen innerste , widerstrebende Gedanken er bestimmte , - in dem kurzen Kapmf mit dem Knaben , der sich gegen ihn auflehnte und zugleich ihm vertraute , hatte er sich selbst zurückgefunden . Seine Kraft geweckt und gesammelt . Er wußte recht wohl , wie es damit stand : wenn er sich am schwächsten fühlte , dann erstarkte er an der Kunst , andere in überlegener Behandlung zur Stärke zu veranlassen ; an der gehobenen und mutigen Stimmung , die er von ihnen forderte und in ihnen hervorrief , - an seinen eigenen überzeugten , überredenden Worten , kletterte er selbst zu neuem Mute , zu neuer Zuversicht empor , wie auf einer langen Leiter , die sich mitten aus seiner eigenen Verzagtheit erhob , aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien , - bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen . Viele tausend solcher Leitern , festgehalten von den Händen einer Menschenmenge , die ihn umdrängte , an ihn glaubte , auf ihn angewiesen war , - und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen . Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen ! denn Stützen waren es , - wie sehr auch er selbst dabei als der Stützende erschien . Niemand ist absolut stark . Erik wußte recht wohl , wo seine Gefahr lag , wo auch in ihm der Schwächling steckte : da , wo er sich allein überlassen blieb . Draußen herrschte noch dunkle Nacht . Es schlug drei Uhr . Ihn litt es nicht im engen , warmen Zimmer . Er öffnete leise die Haustür und trat hinaus . Die Finsternis war so dicht , daß er nur langsam der Tiefe des Gartens zugehn konnte . Er empfand den aufsteigenden Nebel , ohne ihn zu sehen . Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des kleinen Gehölzes . Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein verlorener Stern . Das letzte Mondviertel , der schmale blasse Vorläufer der Morgenröte , war noch nicht sichtbar . Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen . Er vernahm absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter . Aber er fühlte , daß er nicht allein sei . " Ruth ! " murmelte er unwillkürlich . " Ja ! was soll ich ? " fragte sie schüchtern . Mit einem Schritt stand er neben der Bank , er tastete nach ihr . " Was du sollst ?! Im Bett sein ! " Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um . " Was tust du hier mitten in der Nacht ? Weißt du nicht , daß sich Jonas in dieser gefährlichen kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat ? " " Ja , ich weiß es . Aber mir schadet das nichts , " versetzte sie zaghaft , " das Fieber tut so gut , ich kenne es gut : da liegt man im Traum und hört auf zu denken . Und da dachte ich , ich könnt es auch so gut haben . " Jetzt fühlte sie seine Hand , die sich fest um ihr Handgelenk legte . " Was sagst du da ? " fragte er ganz langsam , " du suchtest das Fieber ? " " Nein , nein ! " rief sie flehentlich , " ich wollt es ja nur ein wenig , - ein ganz klein wenig nur , - nicht so , daß es die Abreise hindern sollte ! Ganz gewiß nicht ! " Ein Laut brach von seinen Lippen , wie wenn er verwundet würde . Sie konnte hören , daß seine Zähne leise übereinanderknirschten . Er beugte sich über sie . " Und das - das glaubtest du zu dürfen , " sagte er matt . " Ja , ich durfte es , denn ich will ja tun , was ich versprochen habe . Bin nicht ungehorsam . Nur so ganz allein bin ich . Niemand , der mir ein bißchen hilft . Da sollte mir das Fieber helfen . Ich darf tun , was ich will , - wenn es nichts aufschiebt , " versetzte sie finster . " So . Und wenn du nur rechtzeitig fortkommst , dann meinst du , - könntest du tun , was du willst ? Auch dich vielleicht irgendwo hinsetzen und krank werden , wenn dir das , hilft ' ? Du irrst dich , mein Kind . Ich lasse dich nicht los , indem ich dich fortlasse . Und aus der Ferne sollst du mir doppelt gehorchen . Dein Versprechen geht auf dein ganzes Leben . Du bist mein . - Bist du_es ? " " Ja ! " rief sie inbrünstig . " Stehe auf und gehe hinauf . " " Ich kann_es nicht so , - ich muß erst wissen , - wann reise ich ? " " Ich werde dir_es morgen sagen . Heute Nacht nicht . Du sollst dich hinlegen und zu schlafen versuchen An nichts denken als daran , daß du schlafen sollst . Wirst du das ? " Sie war schon aufgestanden . " Ja ! " murmelte sie , " morgen ! Ich muß morgen fragen , was ich will . " " Das sollst du . " Er gab ihr die Hand . " Gehe voraus . Gehe nur . Ich folge schon . Warte nicht im Hause auf mich . " " Gute Nacht ! " sagte sie Gehorsam und ging . " Mein Liebling ! gute Nacht ! " rief er ihr nach . Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen , wonach sie den ganzen Tag , die ganze Nacht gehungert hatte . " Verzeih mir ! Liebling , " sagte er reuig vor sich hin , während er ihr langsam folgte . Allein gelassen hatte er sie , allein stehen lassen in dem Augenblick , wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer bedurfte . Weil er sich selbst nicht traute , nicht vertraute - aus Furcht vor seinen Sinnen - und vor diesem unwissenden Kindersinn , der ihm mit einem Lächeln entgegenkam . Das war feige gewesen . Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in letzter Stunde seine Hand zurückziehen , nach der sie sehnsüchtig und gläubig griff , als nach der Hand des einzigen Menschen , den für sie die Erde trug . Nicht überlegen , nicht geizen , nicht einschränken das , was er ihr gab , und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte , - mit einer Zärtlichkeit , wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame , das nie geliebkoste Kind kennt . Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie umhüllen , sie umgeben , weich und schützend wie Mutterliebe , - aus einer so reichen , so Kraftsichern Fülle heraus , daß er sich aller Bedenken entschlagen konnte , - daß er sein Liebstes nur noch wie auf starken Armen hob und trug , - es einem schlummernden Kinde gleich in einem letzten Traum hinübertrug in die fremde , die kältere Welt . - Der Hausflur war schwach erhellt durch das Licht , das an der offenen Tür zu Eriks Zimmer stand . Ruth hängte seine Joppe über den Türgriff , und ohne sich nach Erik umzusehen , stieg sie hinauf . Er löschte das im Luftzuge flackernde , tropfende Licht und warf sich ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer , froh des Dunkels und der Einsamkeit . Seit der Stunde seiner Rückkehr gestern verlangte ihn unbewußt nach dieser Stille und Einsamkeit . In dem Augenblick , wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau hineintrat , in dem Augenblick , wo Ruth an seiner Brust lag und ihn Bels Stimme rief , war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen . Sie rief : " Erik , bist du Weider da ? " - Aber ihn durchgällte es wie : " Erik , gehst du fort von mir ? " Und als er sie wiedersah , sie daliegen sah in dem Zimmer , das er so gut kannte , genau so wie zwei Tage vorher , da kam es ihm vor , als läge eine lange , lange - jahrelange Reise dazwischen , während der er seine Frau nicht gesehen , nicht mit sich genommen , - ja vergessen hatte . Es war fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen . Und die Erregung , in der alle seine Nerven noch zitterten , ließ keine Selbstbesinnung zu . Aber jetzt - jetzt stellte er sich wieder dahin , auf dieselbe Stelle , Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme , und jetzt antwortete er ihr : " Es ist eine lange , lange Reise gewesen . Ich habe dich nicht wiedergesehen all diese Zeit hindurch , - dahin nicht mehr gesehen , wo du bist : dich vergessen . Nicht zufällig , nicht unabsichtlich , nicht im Rausch des Augenblicks . Nein , bewußt und gewollt . Mit allen Sinnen und Gedanken wollt ich nur einen Punkt vor Augen haben , ihn durchschauen , durchdringen , - in eine verhüllte Zukunft schauen und dringen . Unbeirrt von allem , was hindert und bindet . Frei , wie einer , der alles hinter sich geworfen hat und dasteht wie ein Bettler oder ein König , wollt ich meine Hände aufheben zu meinem Glück . Dann - einst - ist es an der Zeit , zurückzukehren zu den Fragen und Forderungen , den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens , aber nur um sich mit ihnen auseinanderzusetzen . Zu dir zurückzukehren , aber nur zum Kampf . Zum Kampf um mein Glück . " Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt : " Kampf - - - Glück . " Er öffnete , wie erwachend , die Augen . Es war hell um ihn . Die Nacht vorbei . Glutrot stand der Himmel , wie in Flammen . Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf . Purpurn , strahlenlos wie ein ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel . Und purpurner Glanz auf den Fenstern , auf dem Fußboden . Noch war im Hause niemand zu hören . Nur die Schwarzdrosseln schwatzten vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber , ob ihnen Gone wohl bald , beim Zubereiten des ersten Frühstücks , ein paar Krumen zuwerfen werde ? Erik stand auf , stand still angesichts der Morgenherrlichkeit . Er hatte Bel geliebt , - so sehr , wie , nach seiner Meinung bisher , der Mann überhaupt das Weib lieben konnte : nicht nur mit der Habgier der Sinne , nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis , das zufällig " Ehe " hieß , sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis , das kein Staat , kein Priester , das nur der eigene , bewußte Wille besiegelt . Es war so gewesen , wie er damals , in dem scherzenden Gespräch über die Ehe , zu Warwara gesagt hatte : kein Pflichtbewußtsein nur , sondern das dauernde Glücksbewußtsein , seinem Weibe , auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe , alles in allem zu sein . Daran hatten weder Krankenlager noch Altern , weder Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu ändern vermocht . Wenn er ihr je untreu gewesen war in einer heißen Aufwallung des begehrlichen Blutes - oder auch in einem bitteren Rückblick auf die zerstörten , für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend , dann lehnte er sich mit Kraft und Härte gegen sich selbst auf . Niemals hätte er es zugegeben , daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne als sein Wille , seine Bürgschaft . Und nun , wenn er alles sammelte was er an Scham und Selbstvertrauen , an Stolz und Herzensgüte besaß , - wenn er das alles sammelte und zusammenraffte , war es nicht genug , um Bel , die Wehrlose , gegen einen Kampf mit ihm zu schützen ? Oder wenn es denn in der Zukunft zu einem solchen Kampfe kam , gab es in seinem vergangenen Leben nichts , was stark genug , heilig genug , barmherzig genug war , um für Bel einzutreten und gegen ihn selbst zu siegen ? Erik schaute geradeaus , hinein in das rote Flammenmeer am Himmel . Er wollte , - er mußte ehrlich sein . Und er sagte sich : " Nein. " - - - ---------- Auf der Terrasse wurde der Morgentlisch gedeckt . Eriks Platz am Tisch blieb aber heute leer . Ganz früh hatte er sich Tee auf sein Zimmer bestellt , dann war er zu Jonas hineingegangen , um nach ihm zu sehen . Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten . Als sie kam , streckte er die Hand nach ihr aus . " Du schlechtes Mädel . Bist du gesund geblieben ? Laß mich sehen . " Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster . Aufmerksam betrachtete er sie . Ihre Augen waren dunkel umschattet . Aber sie blickten sicher , - fest . Es fiel ihm auf . Sie blickten beinahe kalt . Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück . " Weißt du auch noch , daß hier dein alter Platz ist ? Hier am Stuhl . Wo du zuerst herkamst . Wir haben ihn wohl fast vergessen , draußen im Garten und - bei den anderen . Monatelang . Aber der heutige Morgen gehört uns allein . Uns beiden . Und den wolltest du krank zubringen . " Sie antwortete nicht . Ganz leise nur beugte sie den Kopf gegen ihn vor , so daß seine Hand durch die Haarwellen hindurchglitt , und schwieg still . " Du bist ein dummes Kind , " sagte er , " sonst hättest du gewußt : wenn ich etwas von dir verlange , so sollst du es klar und still tun . Niemals in einem Fieberrausch . In keinem Sinn . Ich weiß , es ist tausendmal schwerer . Aber niemals sollst du dir_es erleichtern . Durch nichts . Nur war ich selbst diesmal nicht ohne Schuld , Ruth . Ich selbst war wie krank , - nicht wie ich sein sollte . Siehst du , nun beig ich dir es auch . - - - Ist es nun gut ? " Sie blickte ihn unverwandt an . Dann schüttelte sie den Kopf . " Eins fehlt noch , " sagte sie . Ihm kam ein Lächeln . " Noch etwas ? Was denn , mein anspruchsvoller Kindskopf ? " " Darf ich nicht anspruchsvoll sein ? " " Das darfst du . Halt deine Hände offen , Liebling , und laß dich beschenken . " Da glitt sie am Sessel nieder , auf ihren alten Platz zu seinen Knien , und hob ihr Gesicht auf zu ihm , - Trotz in den Augen . " Ich meine kein Geschenk . Ein Recht . " Erik stutzte . Er schaute forschend in ihre Augen mit dem fest auf ihn gerichteten rätselhaften Blick . " Nimm dir dein Recht , Ruth , " sagte er einfach . Sie flüsterte kaum hörbar : " Daß ich erfahre , warum . Das plötzliche Fortmüssen , - - - warum ? " Er legte ihr die Hand über die Augen . Eine lange Pause entstand . " Du hattest vorhin ganz recht : eins fehlt noch , " antwortete er dann , " zwischen uns fehlt eins . Weißt du , was es ist ? Daß zwischen dir und mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt , - daß wir im Alter so weit voneinander entfernt sind . Denke nur : du und noch einmal du , das gibt immer noch nicht : ich . Auf eine so große Entfernung hin ist es bisweilen schwer , manches miteinander zu teilen , - mitzuteilen . Aber nun sieh das Wunder : dieser Mangel , diese Lücke und Leere zwischen dir und mir , - sie eint uns gerade . Nur sie macht , daß ich dich leiten und dir befehlen kann . Sie macht , daß du da so vertrauensvoll knien kannst , wie eben jetzt , und mit deinen trotzigen Augen zu mir aufschauen . Sie macht , daß ich den Weg besser kenne als du . Denn ich habe den halben Weg schon zurückgelegt . - Oder könntest du das missen ? möchtest du lieber , ich stünde neben dir , von gleichem Wuchs wie du ? noch suchend , irrend , eines Wegweisers bedürftig , wie du ? " " Nein ! " sagte sie lebhaft , " das wäre wie zwei Kinder im Walde . " " Dann nimm es hin , daß ich dir nicht antworte . " Sie erwiderte nichts , aber er fühlte , daß ihr Herz wild zu schlagen begann . Sie gab nicht passiv nach , wie bis gestern noch . - Sie war gestern irre geworden . - Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft , - sich eingeredet haben , ihm gegenüber noch Kraft zu besetzten : Selbständigkeit . Im arglosen Schlummer erschüttert , mochten ihre Gefühle in Gärung gekommen sein , - mochte eine Welt von unverstandenen Empfindungen in ihr ringen . Die feine , ruhige , gerade Linie , in der sie sich vor Eriks Augen so kindlich weiterentwickelt hatte , wurde ihm undeutlich , wurde unruhig , - sie schien sich zu biegen , - eine Wendung zu machen : eine Wendung zu ihm hin - oder von ihm fort . Über Erik kam eine Spannung , die alle seine seelischen Fähigkeiten aufs äußerste schärfte , sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte und jede sinnliche Erregung vollkommen niederhielt . Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück . Ihre Lippen zitterten . " Sieh mir in die Augen , du Trotzkopf ! " sagte er , " was hat sich da in dir geregt ? Brich den letzten Trotz , - denn es war einer . Laß mich ihn brechen . Es schadet nichts , wenn es einen Augenblick schmerzt . Gib nach , laß es geschehen . Wirf dein Recht von dir , mache dich rechtlos . Um Kinderrecht zu haben : um folgen zu dürfen , ohne zu fragen . Um zu gehen , ohne ein Warum . " " Wann - gehen ? " fragte sie undeutlich . Er drückte ihren Kopf an sich . " Heute , " sagte er mit bedeckter Stimme , " jetzt . Jetzt gleich . Nein , nicht zusammenschrecken . Sei mein mutiges Kind . Wir haben nur noch diese Stunde , Ruth . Dann bringe ich dich in die Stadt . Zum Zuge , der ins Ausland fährt . Frau Römer wartet auf uns . " Sie hatte sich in seine Arme geworfen . Sie umfaßte ihn so fest , als solle nichts sie von da wegreißen . Doch wußte er : sie widerstrebte nicht länger . Sie gab nach , willenlos . Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes . Der Schreck davor , der sie überfiel . Gestern war sie doch an ihm irre geworden , - und morgen ? - - da besaß er keine Macht mehr über sie . Wußte nicht mehr , was in ihr vorging . Er sagte sehr sanft : " Du gehst nicht fort , weil ich dir weh tun will , sondern weil ich dich lieb habe . So lieb , daß ich dir weh tun kann . Gib dir dieser Liebe , Ruth , - ohne Rückhalt , ohne Zweifel , - gib dich ihr ganz . Danke täglich , daß ich zu dir sage - des Morgens mit deinem Erwachen , des Abends mit deinem Einschlummern : , Ich habe dich lieb . ' " Sie sah auf , ohne von ihm zu lassen , - mit grenzenlosem Dank in den Augen sah sie auf . Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund , - ein wenig zaghaft noch . " Da gehe ich ja nicht fort , - da nehme ich Sie ja mit , " sagte sie , fast schelmisch . Das Glück brach aus ihren Augen , - ja , der Schalk . Es berauschte ihn . Aber anders als gestern . Wohl hielt er sie im Arm , wohl kniete sie an seiner Brust , aber nicht seine Sinne wurden berauscht . Etwas unendlich viel Feineres , eine Wollust so fein , wie sie sich durch keine Sinne vermittelt , erfüllte ihn mit kraftvollem Genügen . Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen , sich nicht stärker aneignen , als in diesem Augenblick , wo er sie von sich löste , wo sie auf sein Geheiß von ihm ging , weil sie ihm lieb war . Einigung und Trennung , selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges Eingreifen , Schützen und Vergewaltigen , Dienen und Herrschen verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten , in einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens . " Ist es nun nicht gut , daß du mir gehorchen und vertrauen mußt ? daß wir nicht sind wie , zwei Kinder im Walde , die sich verlaufen ? Für die es schlimm wäre , wollte eines das andere aus den Augen verlieren , - verlassen . Mir kommst du aus den Augen , und doch nie von der Hand . Ich bin mit dir wie jemand , den du nicht neben dir stehen siehst , und doch um dich weißt , - über dir walten , wo du auch gehst und stehst . Wie jemand , den du nicht fragen kannst , und der zu manchem schweigt , - der aber doch alles weiß , was dir Not tut und gut tut wie - " " Wie Gott , " sagte Ruth keck . Das Wort lies wie ein Schauder über ihn hin . Aus Gespensterfurcht ? Nein . Aber wohl , weil er ahnte , was mit diesem Wort in ihr selbst aufwachen mochte an unbewußtem , Ungeheuerem Fordern und Bewundern und Erwarten . Sie sagte es gar nicht in Ekstase . Wie etwas Selbstverständliches . Wie ein Kind einen Kuß gibt . Aber er ahnte : nie , noch nie war sie der Liebe , der vollen Liebe , so nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis , - dem vermessensten . Nein , keine Gespensterfurcht ! vor nichts . Und er küßte sie aufs Haar . " Nicht wie Gott , Ruth . Und doch sei es für dich : wie dein Gott . " Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt , Ruths Koffer zu schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen . Gone half , das Letzte zu ordnen und zu besorgen . Am Gartengitter draußen stand ein leichtes Fuhrwerk , eine ländliche " Karfaschka " , die das Gepäck aufnehmen sollte . Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen . Als das Gepäck aufgeladen wurde , kam er mit ihr aus seinem Arbeitszimmer heraus . Klare-Bel blickte fast ungläubig auf . Weder er noch Ruth machten ein trauriges Gesicht . Und doch wußte sie : erst jetzt hatte er es Ruth dort im Zimmer mitgeteilt . " Wie er das nur zustande gebracht hat ? Er kann doch alles , was er will ! " dachte sie bewundernd . Das kleine Fuhrwerk rasselte davon , auf dem holperigen Landweg in beständiger Gefahr , eines seiner wackelnden Räder zu verlieren . Erik scherzte darüber , und Ruth hatte ihre Schelmengrübchen in den Wangen . Es war eine Heiterkeit , wie wenn an einem großen stummen , dunklen Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden Perlen überblitzt . Nur Gone stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen , verschämten Gesicht . Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen . Dann trat sie reisefertig , die graue Wollmütze auf dem Kopf , heraus . Jonas horchte angestrengt . Er hörte sie über den Flur gehen , - den letzten grüßenden Zuruf seiner Mutter , - die Türen gingen , - - dann eine Minute Pause , - - und nun fiel mit einem schwachen Knarren die Gartenpforte ins Schloß . - - Langsam , totenstill schlichen die Stunden hin , eine um die andere . Am frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück . Aber es blieb so still wie zuvor . Jonas hielt es nicht länger im Bett aus , er stand auf , und seinen nassen Umschlag um den Hals , einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden , stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters . Der Vater war nicht da . Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch . Er mußte machen , daß er fertig wurde , ehe ihn der Vater hier überraschte . Und seine Feder kratzte über das Papier . Er schrieb an Ruth : " Süße , liebe Ruth ! Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch , an dem Du arbeitetest . So ungeheuer gern wäre ich zum Bahnhof mitgegangen ! Weinen wollte ich aber nicht , ich bis ins Kissen . Als aber in der Ferne der Zug lospfiff ( vielleicht war es gar nicht Dein Zug ) , da habe ich trotzdem ein bißchen geweint . Ich dachte : nun fährt sie fort . Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben . Ich will Dir noch nicht sagen , was für einen . Ich will ihn lieber erst befolgen . Und solange ich ihn befolgen muß , was ziemlich lange dauern kann , werde ich Dir nicht schreiben . Aber dann schreibe ich Dir , daß Du meine Frau werden mußt . Im Spiel hast Du es niemals sein wollen , und das hat mich manchmal so schwer gekränkt . Aber das war dumm von mir . Denn erst muß ich ein ganzer Mann für Dich geworden sein . Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt . Jetzt muß ich schließen . Aber ich mußte es Dir gleich schreiben , damit Du es weißt . Vergiß mich nur nicht , wenn Du dort einen anderen Jungen findest . Am Ende sogar einen fertigen Studenten ? Dann würde ich mich ja hier so ganz umsonst anstrengen . Aber vielleicht findest Du keinen . Ich küsse Dich mit tausend Küssen . Dein Freund ( Dein zukünftiger Mann ) Jonas. Pst. Scr. : Ich weiß nicht , wo Papa jetzt ist , ich bin heimlich auf . Sonst würde er Dich sicher grüßen lassen . " Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube . Er stand am Fenster und weinte . Kapitel Unflüggem Vöglein gleich , dem bangt , Wo es flatternd eine Zuflucht fände , So bin ich , flüchtend nur , gelangt , Ein armes Kind , in deine Hände. Kam scheinbar wohl in trotzigem Sinn , - Doch nur von Einsamkeit getrieben , Und kniete schweigend bei dir hin Und wollte nichts , als Etwas lieben . Und wollte nichts , als kurze Zeit Gleich einem Kind mich wieder wissen , Nichts , als ein wenig Zärtlichkeit Ganz scheu , von ferne , mitgenießen . Nichts , als von kindlich tiefer Qual Auf einen Augenblick nur Resten , Nichts , als die Kindesbrust einmal In heißer Hingebung entlasten . Wie wurde mir wohl , da ich dich fand , Als müßte jeder Wunsch sich stillen , Seitdem du mich mit sanfter Hand Geborgen ganz in deinen Willen . Als würde plötzlich alles klar , Als müßten alle Wirren weichen , Seit über das verwehte Haar Mir deine lieben Hände streichen . Bis daß ein jeder Schmerz hinfort Versank vor zaubermächtigem Troste , Seit mit dem ersten Liebeswort Dein Blick mich zwang und mich liebkoste ; Bis ganz die Welt um uns versank - Und nichts von allem mehr geblieben , Als nur ein grenzenloser Dank - Und nur ein grenzenloses Lieben . Ruth hatte das nicht gedichtet . Erik hatte es gedichtet . Aber Ruth hatte es gestammelt . Umgezähltemal . Vielleicht auch in ungezählten Versen . Er wußte es nicht . Aber oben in der Giebelstube , unter fortgeworfenen Papieren und verwelkten Blumen , hatte das durchgerissene Blatt mit den gestammelten Versen gelegen . Und seitdem dichtete er diese Verse , er sah vor sich hin und dichtete an ihnen . Ruth hatte sie nicht gedichtet . Erik hatte es gatan . Aber so , - so würde sie sie in jedem Worte gedichtet haben - ein wenig später - im Rückblick . ---------- Sie saßen alle zusammen . Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube in einem großen , bequemen Lehnstuhl . Jonas am Eßtisch ; er hatte die Lampe dicht herangerückt , um besser sehen zu können , was er in sein Schulheft schrieb . Erik am Kamin , worin mächtige Holzkloben brannten ; von Zeit zu Zeit bückte er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter , der mit Tannenzapfen erfüllt war , ein paar von den braunen harzigen Zapfen in die Glut . Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen . An Stelle der leichten Sommergardinen schwere schützende Fenstervorhänge , am Kamin zwei Sessel aus der Stadtwohnung , unter denen ein mächtiger Bär seine Tatzen vorstreckte . Schon im Anfang des russischen März , noch ehe der Winter zu Ende ging , war dieses Jahr die Übersiedlung vor sich gegangen . Klare-Bels wegen . Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres , der sie langsam zur Genesung führte . In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen . An diesen Stöcken mußte sie täglich einige Schritte tun . " Laufen lernen , " wie Jonas lachend sagte , der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte . Und diese Schritte sollte sie in frischer Luft tun . Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen . Klare-Bel saß in halbliegender Stellung und sann vor sich hin ; die Handarbeit , die sie vorgehabt hatte , entglitt ihren Händen . Sie fühlte sich müde von ihren wenigen Schritten . Jonas , der war wie verrannt in seine Arbeit . Mit den schmalen Schultern , lang aufgeschossen , ein wenig weichen blonden Flaum an Kinn und Lippe , beugte er sich über die Bücher . Der Sicherheit halber hatte er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt . Das war unnötig . Und Erik blickte in die Glut - - " Bis ganz die Welt um uns versank - " Es war Gone , die endlich die Stille unterbrach . Sie brachte den Abende herein . Klare- Bel ließ sich hinter den Samowar rücken : ihre täglich neu genoßene Freude , wenigstens in solchen kleinen Dingen wieder Hausfrau zu sein . " Heute warst du gewiß froh , Erik , ein so langer Brief von Ruth , " bemerkte sie dabei , " man muß sagen : sie schreibt treulich , - regelmäßig . Aber manchmal einen Zettel , manchmal ein Buch ! " " Ich möchte wissen , warum du ihr noch nie geschrieben hast , Jonas ? " fragte der Vater . " Sie will oft von dir wissen . " Jonas wurde sehr rot . " Wovon soll man sich denn schreiben ? Ich habe genug zu tun , " murmelte er über seinem Teeglas . " Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts , " meinte Klare-Bel , " Ruth ist doch nicht unbegabt , nicht wahr ? Und sind ihre Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern , Erik ? " " Nun ja . Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat . " " Beschreiben ? was denn ? wie ein Berg aussieht , oder was für Wetter es ist , - ein Schneetreiben im Winter , kann sie das nicht seitenlang erzählen ? Aber ich finde , dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst . " Erik schwieg . Er fand es auch . Dies Entzücken an der Schilderung selbst des Geringsten , die Hingebung in der Wiedergabe dessen , was sie umgab und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde , - das alles lag neben einer spröden Wortkargheit , wo es ihre Gefühle betraf . Es war nicht Verschlossenheit , - es war Haß gegen das Wort , das ungenügende . Schlechte Verse kritzeln , singen , stammeln , die Augen aufheben , - ehe er das nicht wiedergesehen , nicht wiedergehört hatte , war Ruth für ihn wie begraben . Und wieder schwiegen sie . Der Thetisch wurde abgeräumt . Nur eine Schale mit Äpfeln blieb darauf stehen . Jonas machte Miene , seine Bücher und Hefte wieder auszubreiten . Erik hinderte ihn dran . " Genug ! " sagte er , " es ist ganz unmöglich , daß du mit deinen Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest . " " Ich bin es ja auch , Papa . Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch treiben . Einer von den Jungen hilft mir dabei in der Freistunde . " " Ich sehe nicht ein , zu welchem Zweck ? Schon im Herbst gehst du ins Ausland . Du wirst ja nicht hier studieren . Wozu also ? " " Es ist sehr nützlich , Papa . In Deutschland kann man jetzt mit russischen Stunden Geld verdienen . " Erik war unangenehm berührt . " Geld ? Mit Stundengeben ? Überlaße mir das doch . " " Erlaube mir_es , bitte . Tu ich nicht genug für die Schule ? " " Ja , aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden , Jonas ! Bleibst mir zu schmalbrüstig , mein Junge . Flaum am Kinn , aber kein Kraft in den Knochen . Nicht genug . " " Gesundheit ist der Güter höchstes nicht , " behauptete Jonas mit einem Ernst , der ihm drollig genug stand . " Aber der Übel größtes ist die Schuld , sie verscherzt zu haben , " ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf ; " wenn du öfters mit solchen Zitaten kommst , dann werde ich dich noch ganz von den leidigen Büchern fortnehmen . Zu einem Bauern in die Lehre geben . " Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer . Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit . Auch allerlei anderes , was drängte . Ihn drängte es nicht . Er schob es zurück . Darunter lagen Ruths alte Hefte , auch neue Arbeiten , sie schickte sie ihm alle . Ihren Studiengang leitete er vollkommen . Aber alles das war immer noch nicht " Ruth " . Er nahm eine Mappe von Schreibtisch , in der sämtliche Briefe aus Heidelberg lagen vom vorigen August bis zum heutigen April . Anfangs lauter Briefe von Frau Römer . Ruth konnte nicht schreiben , sie lag im Fieber . Ein schleichendes Fieber , fürchteten sie . Erik war zur Abreise vollständig fertig gewesen , er depeschierte bereits seine Ankunft . Da traf ein Telegramm ein , das ihn zurückhielt . Drei Tage später ein kurzer Brief von Frau Römer : " Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht . Die Trennung würde dasselbe noch einmal ergeben . Ruth muß es lernen , ohne Sie zu leben . Daher dürfen Sie unter keinen Umständen herkommen . Mein Mann meint es als Arzt , ich meine es aber auch - als Frau . Ich habe Ruth lieb wie mein Kind ; wollen Sie mir helfen , wie eine Mutter über ihr zu wachen , so halten Sie auf immer aus Ihren Briefen alles fern , - auch das Geringste , - was Sehnsucht wecken könnte . " Nach einer Woche schrieb Frau Römer : " Mit unserer Ruth geht es besser . Aber gestern hat sie uns sehr erschreckt . In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel , mit braunem Leder bezogen ; sie wollte ihn durchaus haben , als sie ihn bei mir sah , und sagte dabei bedauernd : , Wie schade , daß er nicht grün ist ! ' Diesen Sessel hatte sie gestern Nacht mitten ins Zimmer ihrem Bett gegenüber gerückt . Als mein Mann noch einmal leise hineintrat , um nach ihr zu sehen , sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht im Bett , - den Oberkörper weit vorgebeugt , die Augen starr auf den Sessel geheftet , das Gesicht verzückt . Als sie Mienen Mann sah , fiel sie in die Kissen zurück . , Ach , - nun ist er fort ! ' sagte sie traurig . Sie war in einer halben Ohnmacht , am ganzen Körper kalt . Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen . Mit den anderen Stühlen , geht es nicht , versichert sie . In aufrichtiger Freundschaft Irene Römer . " Bald darauf kam der erste , noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte Zettel von Ruth selbst . Wenige Zeilen nur , darunter ein Postskriptum : " Ich glaube , daß die Menschen zaubern könnten , wenn sie wollten . " In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von Eriks Hand , - ein vollständiges Briefkonzept , das anfing : " Mein Herzenskind ! Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes , speziell für Dich : , Du sollst nicht zaubern . ' In uralten Zeiten nahmen die Menschen , wenn ihre Götter die Wünsche einzelner nicht erfüllten , mitunter ihre Zuflucht zu allerhand bösen Geistern , die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln noch beschwören ließen . Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen getan haben : aus Kleinmut oder aus Hochmut , aus dem mangelnden Glauben , daß im Willen ihrer Götter auch wirklich eine weise , gute Macht über ihnen walte , - oder aus dem Trotz , der es müde geworden ist , zu gehorchen und zu vertrauen . Du machst es doch nicht ebenso , - gleichviel aus welchem dieser beiden Gründe ? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus eigener Machtvollkommenheit , was Dir vorenthalten bleiben soll ? Rufst doch nicht , wie damals , in der letzten Nacht , einen fremden , bösen Geist , das Fieber , um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu entführen , die keine ist ? Du sollst nicht zaubern . Sollst Dich der Wirklichkeit hingeben , die um Dich ist , - ganz , voll Glauben und voll Vertrauen , daß Du in ihr zu Hause bist - " Hier brach das Briefkonzept ab , die nächsten Zeilen waren ausgestrichen , - wiederholt , und wieder ausgestrichen . Sie waren ihm sichtlich schwer von der Hand gegangen . Aber die Konzepte mehrten sich , hinter jedem Briefe Ruths folgte eines ; Erik blätterte sie ungeduldig beiseite : daß sie da lagen , das besagte genug . Sein Blick verweilte nur länger , wenn er wieder auf die feine , charakteristische Handschrift Frau Römers traf . Er konnte nie das Gefühl ganz los werden , als ob er mit ihr - oder sie mit ihm ? - in einem geheimen , unbewußten Kampf stünde , und doch erquickten ihn diese Briefe . Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war , so war_es ein herrlicher . Einer , wie man ihn sich wünschen soll , um sich mit ihm zu messen . Um diese Frau wehte es wie helle , reine Luft , - man mußte sich wohl darin fühlen . Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen , was sie warm empfand . Während man las , glaubte man ihre Stimme zu vernehmen , eine heitere , entschlossene Stimme . Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren früheren Platz legen , als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel . Vor vielen Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigeren Inhaltes als die übrigen , - auch , gleich den übrigen , ohne Anrede und ohne anderen Abschluß als , " Ruth " . Aber auf der letzten Seite , da hatte sie sich verschrieben : da stand auf einmal " Du " , anstatt " Sie " . Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm beigefügte Zeitwort umkonjugiert . Aber am Rande der Seite war es treuherzig bekannt : " Ich habe , Du gesagt , ich wollte aber , Sie sagen . " Erik schaute nie in die Mappe hinein , ohne an dieser Stelle hängen zu bleiben , - und er schaute oft hinein . Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn . Mündlich würde sie sich schwerlich je versprochen haben . Sie bedurfte dessen nicht . Sie hatte " Du " zu ihm gesagt an jedem Tage , in jeder Stunde fast mit Blick und Ton und Miene . Jetzt erst wurde es zum verständlichen Wortlaut , unwiderstehlich : ein Ersatz für alle wortlose Nähe . Erik schob die Briefe von sich , er wollte arbeiten . Arbeiten , - nur nicht dieses unnatürliche , vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen und Gedanken , - dieses unsichere Tasten ins Blaue , in die Ferne , mit dem Verzicht darauf , zu handeln . Wie leicht war dagegen selbst die Zeit von der Trennung für ihn gewesen : innerste , angespannteste Aktivität bis zur letzten Sekunde , aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft : für Ruth . Nun der Rückschlag . Nachlassen , - gehen lassen . Es macht ihn fast krank . Und er arbeitete Stunde um Stunde , bis eines der blauen Schulhefte nach dem anderen mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war . Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück . Und wieder las er , mit immer neuen Kommentierungen , an der einzigen Silbe " Du " . - Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung . Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen . Noch zog sich am Rande der Kieswege , schmal und vergraut , eine durchlöcherte Schneekruste hin , aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die saftgrünen Hälmchen , und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen , geduldig wartend , längliche braune Knofpenzipfel . Der Wiesengrund hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel und Sonne wider , vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin umher . Erik hatte , wie jetzt fast immer , den ganzen Tag in der Stadt zu tun , neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten , den er , mit sich daran anschließenden Vorträgen , in diesem Winter durchführte , teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener , teils in einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule . Wer sich hier einfand , gehörte ebenfalls nicht mehr der Schule an , oder doch fast nicht mehr . Man konnte es den Gesprächen entnehmen , womit ihn seine Zuhörer meistens erwarteten . Es wurde nicht mehr von Phantasieereignissen gesprochen , sondern von Bällen und Gesellschaften und von Anbetern , die wohl nicht mehr in der bloßen Einbildung vorhanden waren . Von Schulangelegenheiten niemals , wenn nicht etwas ganz Sensationelles vorfiel , wie heute morgen , wo ein kleines Mädchen während des Frühgebets im großen Schulsaal umgefallen und liegen geblieben war , - ein Fall von Epilepsie . Es hieß , das bloße Ansehen wirke ansteckend , nichtsdestoweniger hatten die meisten , wie gebannt , auf die Zuckende hingestarrt , die , Schaum auf den Lippen , vor ihnen lag . Mitten in das Gespräch darüber kam , als die Späteste , und mit einem unterdrückten Gähnen , die hübsche Wjera mit den kecken dunklen Augen . Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden . " Bist du auch wieder da ? " rief Eriks fleißigste Schülerin sie an . " Ich möchte wissen , wozu ? Ob dir es wohl angenehm ist , daß er immer nur Spott für dich hat ? " " Und Lob für dich ; da zieh ' ich Miene Teil vor , " erwiderte sie mit Überzeugung . " Laß ihn nur spotten , das tut ihm gut , er ist bei schlechter Laune . Glaubst du , daß ihn dein Fleiß beglückt , mein geliebtes Gänschen ? " " Mehr als fleißig sein kann niemand , " bemerkte eine , die in Erwartung des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte . Wjera lachte boshaft : " Nun , er könnte noch allerlei anderes schmerzlich vermissen , - zum Beispiel Verstand . - - Lieber Gott , was kann es nützen , sich so anzustrengen ? " " Warum bleibst du denn nicht weg ? Du wolltest ja haben , was Ruth hatte , - du am meisten . " Wjera saß nachlässig hingegossen , die Arme längs der Banklehne ausgestreckt , und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel , den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte , und der immer umstanden war . " Ich glaube nicht dran , daß er mit uns so ist wie mit Ruth , " murmelte sie , " es wäre der reine Betrug . Entweder hat uns Ruth gefoppt , - oder wir sind - dumm . Glaubt ihr etwa , Ruth meinte das , als sie so außer sich vor Entzücken sagte : , O - - dahinter gibt es das ganze Leben ? ' Wir stehen noch vor der Mauer , - wie eine Hammelherde . " " Na , so gehe doch hinüber . " " Ich werde ' auch , " versetzte Wjera kurz , - " noch heute . Wollt ihr ? Mit einem Satz ! Aber daß ihr nicht schreit ! Ihr könnt ja nachspringen . " Im Nun drängten sie sich um sie , brennend vor Neugier . " Was wirst du tun ?! " Sie erwiderte nichts . Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und spitzte den Mund ein wenig . " Ein Kuß ?! " Sie schrien jetzt schon . Da trat Erik herein . Er bemerkte , daß sie zerstreut waren , beachtete es aber nicht . Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen : " Wie eine Hammelherde . " Er vermißte Ruth unter ihnen , nicht weil er sie liebte , er vermißte sie , weil sie ihn fortwährend angeeifert , fortwährend seine Geistesgegenwart verlangt hatte . Für sie mußte er auf der Höhe seiner selbst stehen , um niemals fehlzugreifen . Das war hier unnütz . Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging , ein Blatt Papier in der Hand , auf Erik zu . " Sollt ' es möglich sein ? " fragte er sarkastisch , indem er annahm , sie wolle ihm eine Arbeit vorlegen . " Es wäre das erste Mal . " Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich über ihn - so tief , daß er aufsah . Bei dieser Bewegung seines Kopfes berührten sich fast die beiden Gesichter . Da durchgällte ein Schrei die Klasse , einstimmig . Sie hatten_es nicht aushalten können . Aber gleich darauf folgte ein zweiter , ganz anders im Ton : Wjera war , kaum daß der Schrei erscholl , hintenübergestürzt . Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander , ob der erste Schrei vorhergegangen , ob er gefolgt war , - ob sie sich niedergebeugt hatte , weil sie im Stürzen war . - Er hatte auch von dem Fall im Schulsaal gehört , und jetzt ergriff die Mädchen die Erinnerung daran mit kopflosem Entsetzen . Die meisten sprangen auf , einige sprangen im plötzlichen Schreck auf die Bänke , - auf das Fensterbrett . Erik brach sich Bahn . Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme gehoben und trug sie hinaus . Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer zuging , kam Leben in sie . Der ganze weiche , geschmeidige Körper bewegte sich , als strebe er , erzitternd , sich an ihn zu schmiegen ; ihr Atem flog , wie um sich zu halten , schlang sie den Arm um seinen Nacken , und jetzt - jetzt fühlte sie deutlich , wie es ihn heiß überlief . Blitzschnell , ehe er es nur gewahr wurde , hatte sie ihren Mund auf seine Lippen gedrückt . Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt - hart , so plötzlich , daß sie fast zusammengestürzt wäre . Eine sinnlose Wut überfiel ihn . Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick , wo er Ruth , wie ein lebloses Kind , in sienen Armen auf ihr Bett getragen hatte . Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügeltür , die den Hallengang nach dem Treppenhaus zu abschloß . Er stieß die Tür auf . " Hinaus ! Ohne Wiederkehr ! " sagte er kurz . Sie errötete und erblaßte . Sie ging nur langsam hinunter , Stufe für Stufe , und hielt sich am Geländer . Was würden die anderen in der Klasse wohl denken , wenn sie gar nicht wieder kam ? Daß er ihr über die Mauer geholfen habe ? Ja , gründlich . Mit einem Satz . Und das Schlimmste ; sie hatte eine gehörige Beule weg , gerade vorn an der Stirn . - Erik gab sich bei der Rückkehr in seine Klasse Mühe , der Stimmung Herr zu werden , die ihn peinigte und niederschlug . Er hatte sich jedesmal gewundert , den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen und dennoch fest entschlossen , nichts zu lernen . Er hatte sich auch ein wenig gefreut . Weil sie ein kluges Ding war , voll Mutterwitz und Phantasie . Er wußte jetzt , von was für einer Art von Phantasie . Aber lag es nicht an ihm ? War es nicht an ihm , allen diesen jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben ? Auswüchse auszuschneiden , Fehlendes zu ergänzen , Schlummerndes zu wecken ? Er hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben , aber nicht mit seinem Herzen . Und kein noch so guter Wille vermochte sein mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen : das war die Frische und Fülle der Stimmung , deren immer bereites Interesse sich auch noch in das Geringste eingrub , suchend , lockend , verständnistief . Und er bedurfte dessen ganz besonders . Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen als Lehrer bestanden darin , daß er seine Persönlichkeit und seinen Unterricht nicht zu trennen wußte ; gelang es ihm nicht , sich selbst zu geben , so mißlang ihm alles . - Am Torweg des Schulgebendes wartete Jonas auf den Vater . Sie fuhren zusammen nach Hause aufs Land . Im Eisenbahnwagen sagte Jonas : " Mama spricht jetzt immer davon , daß sie bald verreisen muß . Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen ? " " Ich weiß noch nicht . Vielleicht wird es wünschenswert sein . In Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr . Dagegen spricht nur , daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann . Das müßtest du dann tun , Jonas . Und sie würde Gone mitnehmen . " " Wenn ich erst Medizin studiere , " bemerkte Jonas nach einer Pause , " dann wird mir es immer vor Augen stehen , das Wunderbare , daß es mit Mama besser geworden ist . Ich denke mir : Arzt sein , und ein einziger solcher Fall , - das muß für alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen machen . " " Du bist ein guter Kerl , Jonas . - Ich hätte übrigens nicht gedacht , daß du speziell , Medizin ' wählen würdest . Ich dachte Naturwissenschaften . " " Ja , ich selbst auch , - früher . Am liebsten Zoologie . Aber es ist eine so ungewisse Zukunft damit . Ein Arzt findet überall sein Brot . " " Das ist richtig . Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht sein . Es kam immer noch auf die Stärke der besonderen Neigung und Befähigung an . Wenigstens für dich . Das andere war dann meine Sache . " " Ich möchte aber so früh , als es geht , unabhängig werden , Papa. Selbständig . " " Ist es dir so unangenehm , dich von mir abhängig zu wissen , mein Junge ? Es ist nur dein gutes Recht . Noch lange . Ich will nicht , daß dir deine Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden . " Den Rest der Fahrt schwiegen sie . Jeder blickte , in seine eigenen Gedanken vertieft , zu einem anderen Fenster hinaus . Zu Hause , über dem Garten , dunkelte es schon . Aus dem Wohnzimmer blinkte Licht . Der späte Mittag , der jetzt in den Abend fiel , wartete auf sie . Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf den Tisch . Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht . " Aber Erik ! " sagte Klare-Bel vorwurfsvoll , während sie doch vor Freude errötete , " etwas so Kostbares und Überflüssiges ! Im russischen April ! " " Überflüssig ? " Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem geschliffenen Kelchglas . " Der Frühling ist doch nicht überflüssig . Und ich meinte : in einem Landhause müßt er wenigstens drinnen sein , wenn er schon nicht draußen ist . " Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen , sie schlug nieder , damit er es nicht sähe . Der Frühling war ja drinnen eingekehrt , ihr Frühling , worauf sie gewartet hatte , wie auf eine Lebensneuerung gerade für Erik . Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig geblieben . Nein , das war ungerecht . Ungerecht gegen ihn , dem sie ihre Genesung dankte : abbittend blickte sie Erik verstohlen an . Aber das mußte sie ja sehen : er ertrug kaum die Trennung , - die Trennung von Ruth . Solange ihn Bel glücklich gesehen hatte , war sie arglos und sorglos geblieben . Jetzt aber lag es auf ihr bei Tag und bei Nacht . " Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet ? " fragte sie nach einer Pause . " Ja . Aber noch nicht ganz , " erwiderte er . Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den Dustenden Dolden . " Da war doch , - ist der junge Russe noch immer da , den sie so gern haben ? " " Jurii ? Ja . In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar , glaube ich , eine kurze Zeit bei ihnen wohnen - draußen am Schloßberg . Sie wollten allerlei zusammen unternehmen . Römer hält viel von ihm . " Eine kleine Pause entstand . " Wie alt ist er eigentlich , Erik ? " " Ungefähr zweiundzwanzig , glaube ich . " " Und gänzlich unabhängig , nicht wahr ? Es handelt sich für ihn nicht um ein Brotstudium ? " " Nein . " Erik blickte auf , ein flüchtiges Lächeln um den Mund . Auf den jungen Russen eifersüchtig , - nein , das war er unter keinen Umständen . " Eine echt weibliche Kombination , Bel. Du dachtest schon an Brautkranz und Schleier , nicht wahr ? Aber dafür , daß Ruth rasch mit ihm vertraut geworden ist , liegt ein anderer Grund vor : er ist ihr nicht fremd . Er kennt ihren Onkel hier . Hat früher einmal mit seinen Eltern dort verkehrt , - mit ihr gespielt , als sie acht und er dreizehn Jahr alt war . " Sie lehnte den Kopf zurück . " Es ist nichts , " dachte sie , " es kann nicht sein . Sonst müßte - müßte er eifersüchtig sein . Trotz seines starken Selbstvertrauens . Jugend sucht Jugend . " Nach einiger Zeit sagte sie bittend : " Erik ! Du mußt nicht böse sein . Ich habe einen so großen Wunsch . " " Einen so schlimmen , Bel ? Nun , heraus damit . " " Ich wünsche so sehnlich , - ich möchte so sehr gern , nur ein einziges Mal - lesen , was du an Ruth schreibst . " Er antwortete nicht . Er stand auf und ging aus dem Zimmer . Gleich darauf kehrte er zurück , den fast beendeten Brief in der Hand . " Du kannst es jedesmal lesen , Bel , wenn du willst . " Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an , daß er den Blick nicht aushielt . Er sah hinweg . Es war ihm eine Pein , sie dasitzen zu sehen , - sie lesen zu sehen . Am liebsten wäre er hinaus gegangen . Er trat aus Fenster und schaute in die Dunkelheit . Aber das Fensterglas höhnte ihn . Was er wiedergab , war noch einmal das Zimmer mit der Lampe und den zarten Fliederwein auf dem Tisch und der lesenden Frau im Lehnstuhl . Klare-Bel ließ den Brief sinken . Sie sah betroffen aus . " Wie seltsam , Erik , " sagte sie , " - ich kann mir gar nicht vorstellen , daß du so an Ruth schreibst . " " Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben , als ich zu ihr gesprochen habe , " entgegnete er . " Es mag ja sein . Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu , was nur im Mündlichen liegt . Dein ganzes Wesen kam hinzu . Du bist ja so jung und frisch im Wesen , Erik . " " Nun - und ? " Er wandte sich um . Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso " entsetzlich nüchtern " , wie er die ihren . Nur aus einem anderen Grunde : sie konnte nicht ihr Inneres aussprechen , - und er durfte nicht . " Ja , - nun , - ich weiß nicht , wie ich_es beschreiben soll , Erik . Aber in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann mit langem weißem Bart und Haar , - ungefähr so , wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen . " Es durchzuckte ihn . Er mußte an Ruths Wort denken : " Wie Gott . " Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf . Was für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte , - im lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm , - das mochten wohl zwei ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein . Für ihn war_es ein Abzug am Vollen , Menschlichen ihrer Persönlichkeit , ihres innersten Wesens , das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen vermochte . Für sie war_es vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen Persönlichkeit , eine Verklärung dieser : er hatte ihr ja auch mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen , und gerade das idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten , - " ungefähr so , wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen . " Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen , sie könne an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben , wie er an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben , wie er an den ihren . Denn er hatte gefühlt : in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging daran vertrauensvoll ihren Weg . Gehorsam , - froh . Denn sie litt doch nicht ? Nein , das tat sie gewiß nicht . Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben , das sie unausgesetzt anregen , bereichern , entwickeln mußte , - sie beglücken und sie erfüllen . Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten in diesem Leben , - wie mit weit ausgebreiteten Armen . Nein , sie - sie litt nicht . Auch Klare-Bel war verstummt . Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken nach , und wieder wurde es ein schweigsames Abendessen . Wie sie da zu drei beieinander saßen , eng zusammen , in herzlicher Neigung verbunden , blieben sie doch einander so weltenfern entrückt , daß keiner von ihnen Teil hatte an der stummen Welt des anderen . Als Erik nach dem Essen sein Zimmer nicht wieder verließ , setzte sich Jonas , ohne Schularbeiten , zur Mutter . " Wenn Papa nicht da ist , muß ich ihn ersetzen , " versicherte er , " kann ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa ? Einen guten Kopf größer als du bin ich doch schon , meine kleine Mama . " Sie sah ihn mit einem tiefen , stillen Blick an , den er nicht verstand . Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin . " Mein lieber Junge . Ja , mir kannst du bald - viel sein . Wirst du es auch nicht vergessen , später , über all dem Studieren ? Du mußt mir viel , viel Freude machen , Jonas . " " Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen , Mama , " erklärte er treuherzig , " das werde ich ganz bestimmt . Denn ich werde etwas ganz Ausgezeichnetes werden . Das muß ich . " " Freust du dich sehr auf das ungebundene neue Leben draußen ? " " Auf draußen - ja . Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar nicht so schön . Ich finde es viel schöner so , wie es Papa gehabt hat . " " Wie denn , mein Kind ? " " Nun , doch so ganz gebunden , Mama . Mit dir zusammen . Das kann ich mir nämlich so wunderschön ausmalen . Fast als ob - . Eine Studentenstube , - ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein , und an den Wänden Bücher , und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen . In der Ecke ein schönes Skelett , und am Fenster viele Blumen . Da sitzt die Frau mit dem Nähzeug . Und bei den Büchern , da sitze ich , - ich meine : sitzt Papa . " " Ganz so war es wohl nicht . Nicht so eng . Für Blumen und Kochmaschinen und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr . Und wenn er bei den Büchern war , dann mußt er in seinem Zimmer allein sein . Da warst nur du bei mir . In einer kleinen Wiege . " " Eine kleine Wiege ? " Jonas wurde ziemlich rot . An dies Stück der Zimmereinrichtung hatte er noch gar nicht gedacht . Er sagte etwas befangen : " Nun ja . Aber wenn du auch nur nebenan gesessen hast , so war es doch das , was ihn fleißig machte . Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren , wenn man es für jemand tut , den man so über alles lieb hat . " " Das sage du Papa lieber nicht . Das würde ihm vielleicht mißfallen . So hat er_es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint . Er war so ganz anders , als du bist , Jonas . Aber unendlich gut und klug war er . Und als er anfangen mußte , sich ums Brot zu plagen , und es mich grämte , da lachte er mich so herzlich aus und sagte : , Laß gut sein , Bel , ich habe ein Mittel , ein Zaubermittel , um frisch zu bleiben , - mag es noch so viel Plage geben , - frisch für meine Ziele : das Mittel bist du , Bel Ja , so sagte er . " Jonas schwieg . Er wollte den Vater nicht vor der Mutter herabsetzen , aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen . " Man kann noch tausendmal mehr lieben ! " dachte er im stillen . Klare-Bels Gedanken aber träumten sich , schmerzlich und beglückt , in die Zeit ihrer Studentenehe zurück . Sie sah alles vor sich , als habe sie es eben erst verlassen , und durchwanderte jeden Winkel , der ihr Glück beherbergt hatte . Sie sah auch die Stube , wo er über seinen Arbeiten saß und sie ihn leise - ganz leise mußt es sein - umsorgte . Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr , wurde undeutlich wie vor Tränen . An Eriks Stelle saß ein anderer , - saß Jonas ; - und immer wieder , mit einem dumpfen Zukunftsgrauen , erblickte sie sich allein , - allein mit dem Sohn . Die Nacht lag Klare-Bel wach , und als sie gegen Morgen einschlummern wollte , schreckte sie der Gedanke auf , sie müsse über irgend etwas angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln . Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus , irgend einer der zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert . Erik setzte sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer , wo in der Nähe des Kaminfeuers ein Schreibtisch für ihn improvisiert worden war . Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar finsteren Wolken , hinter deren blauschwarzem Rande die Aprilsonne neckend bereits wieder hervorlachte . Hell und dunkel glitt es über das Zimmer hin . Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden . Heute morgen wollte sie ihn fragen . Sie hielt es nicht länger aus . Wie hatte sie nur denken können , seine Briefe würden ihn verraten ? Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen . Zu ihr konnte er nicht offen sprechen . Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton . Vor ihr verbarg er sich - befangen und mühsam . " Wo steckt eigentlich Jonas ? " fragte Erik , über seine Ausarbeitungen gebeugt . " Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren . Er wollte so gern seinen Freund besuchen . " " Hoffentlich doch nicht , um wieder zu arbeiten - mit dem Freunde ? " " Vielleicht . Laß ihn , Erik . Ist er nicht ausgezeichnet geworden ? " " Ja , Höchstens zu ausgezeichnet . Er hat viel vor sich gebracht , das muß man dem Jungen lassen . Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine Ausdauer betrifft , hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit übertroffen . " " Nicht nur das . Er ist dabei so verständig geworden . Ihm steckt kein Unsinn im Kopf . Keine Kindereien . " " Ja . Grade das mißfällt mir . Dafür ist er zu jung . Wenn er nur nicht eng wird . Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein . " " Ach Erik , wenn er nur brav wird . " " Das kann er immer noch . Zunächst soll sein Temperament heraus ! Heidelberg wird ihm gut tun , denke ich , und Römers Einfluß . Man muß dafür sorgen , daß er sich frei bewegen kann . Weder Zeit noch Geld darf ihm zu knapp zugemessen werden . " " Wie gut er ist ! " dachte Klare-Bel . " Ja , in solchen Dingen ist er immer unendlich gut gewesen . Würde sich plagen für den Jungen , damit der lernen kann , zu genießen . " Mehrere Minuten vergingen in Schweigen . Eriks Gedanken liefen voraus , dem Herbst entgegen , wo Jonas nach Heidelberg abgehen würde . Allerspätestens dann mußte er Ruth wiedersehen , sie sprechen . Vielleicht aber schon früher . Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste , daß er sie am Beginn der Sommerferien aus Deutschlang abholen konnte . " Erik ! " sagte eine Stimme neben ihm . Er sah zerstreut auf . Seine Frau stand am Schreibtisch - ohne ihre stützenden beiden Stöcke . Sie hatte sich ohne Hilfe erhoben und war durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen - allein . Sie hatte es heimlich geübt , mehrere Tage . Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen . Er blickte sie nur fragend an , ohne zu beachten , was ihn überraschen sollte . Er bemerkte es nicht . Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln . " Ich wollte dir nur zeigen , was ich kann , " sagte sie , mit einer gewaltsamen Anstrengung , es unbefangen zu sagen . Aber es mißlang . Sie erblaßte . Und plötzlich schwankte sie und glitt dem erschrocken Aufspringenden in den Arm . Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl , besorgt , über sie gebeugt . Jetzt war er ganz bei ihr . " Ist dir besser ? " fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen Polstersessel vom Kamin heran , " die Selbständigkeit bekommt dir schlecht , meine arme Bel . " Sie sah den Scherzenden mit einem langen , stillen Blick an . " Ich muß sie doch lernen , Erik ! " entgegnete sie doppelsinnig . Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen . Und so , mit geschloßenen Augen , während er ihre Hand festhielt und leise streichelte , sagte sie : " Siehst du , - ach Erik , es war ja gewiß recht kindisch . Aber siehst du , - hierauf habe ich mich ja schon so lange gefreut . Auf deine Freude , - wenn ich einmal so zu dir käme - ohne Stütze , auf eigenen Füßen . Es war so kindisch . Aber nun ist mir aller Mut abhanden gekommen , dich zu fragen , Erik . " " Wonach wolltest du mich fragen , Bel ? " Er sprach mit gepreßter Stimme , gedämpft , wie immer , wenn er eine Erregung niederhielt . " Ja , Erik , ich dachte : wenn du dich nun so freutest und mich in deine Arme schlössest , - nicht wie jetzt , weil ich fiel , sondern weil ich stand , aufrecht neben dir stand , - dann wollt ich dich fragen , - ganz leise wollt ich dich fragen , - ach Erik ! ich kann es nicht mehr ! " Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend , mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den festgeschloßenen Augen . Sein Herz schlug hart gegen die Brust . " Ich will dir es sagen , Bel ! " erwiderte er fest , ohne den Blick von ihr zu lassen . " Wenn es dich gequält hat , dann muß es sein . Hast du den Mut , es zu hören ? Willst du_es ? " Sie schlug die Augen auf , - hilflos , tränengeblendet , - hilflos wie ein gestelltes Wild vor dem Schuß . " Erik ! stieß sie flüsternd heraus , und das Entsetzen vor seiner Antwort vergrößerte ihre Augen , "-Erik , liebst du sie ? " Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände . " Ja , Bel , " sagte er laut . In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom das ganze Zimmer , daß sich Klare-Bels Lider unwillkürlich davor schlossen in einem abergläubischen Erschrecken , wie wenn der Himmel selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe . Blau lachte es herab , und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch zerronnenen Schneefederchen über dem Garten . So warm spielten die hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin , als sei er draußen vom Strauch geschnitten . " Dunkel , " bat Klare-Bel leise , "- ich möchte auf mein Bett , - mache_es dunkel . " Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem aufstoßenden kleinen Gemach auf ihr Bett , hinter dem er die Fenstervorhänge aus den Klammern löste und zuzog . Sie suchte nach seiner Hand . " Die Briefe , Erik , - wie du ihr geschrieben hast , - war es lauter Verstellung ? Oder hast du ihr , - hast du nicht auch anders geschrieben ? Niemals ? " " Ich habe ihr auch anders geschrieben , Bel. Ganz anders . Jedes einzige Mal , wo ein solcher Brief an sie abging . Aber es war nur für mich allein . Sie hat es nie gelesen . " " Du hast es nicht abgeschickt ? - Hast du diese Briefe noch , Erik ? " " Nein . Ich habe sie jedesmal , sobald sie geschrieben waren , vernichtet . " " Wozu hast du es dann nur getan , Erik ? " " Es half mir . " Fast hätte er hinzugefügt : " Ich liebe sie ja , Bel ! Ich liebe sie ! Ich mußte zu ihr sprechen . " Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise : " Und ich hatte keine Ahnung , - nein , keine Ahnung hatte ich , daß du sie um deswillen von dir gabst . Nun erst weiß ich_es . " Er richtete sich betroffen auf . Mißverstand sie ihn jetzt nicht ? Meinte sie nicht , er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen ? um Herr zu werden seiner Liebe ? Mußte er ihr die letzte , die tödlichste Kränkung zufügen : " Nicht an dich habe ich dabei gedacht . " Ja , einmal mußte auch das sein . Aber mußte es heute sein ? Alles heute ? Litt sie nicht genug , - maßlos ? Er vermochte es nicht . Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach , trat er von ihrem Bett zurück an die offene Tür des Wohnzimmers . Gräßlich war es , einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust . Das Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht , - mit einem nie gekannten wehen , elenden Gefühl umkrallte es ihn . Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen ; der Himmel hatte sich längst wieder verfinstert . Von neuem stäubte ein seiner Schneeschauer um das Fenster , - dasselbe Aprilspiel wie zuvor . Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut , und ein schwacher Duft , den er liebte wie keinen anderen , - ein Duft nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube . Unwillkürlich dachte man sich den kahlen , kalten Garten im Winterfrost und einen geputzten Christbaum in der Zimmerecke . Weihnachten , - - - auch in diesem Winter hatten sie den Baum geschmückt und sich um ihn geschart , aber zum ersten Male hatten sie sich wie drei arme Erwachsene gefühlte , die am Fest der Kinder leer ausgehen . Erik , der zu beschenken wußte wie nur ein Knecht Ruprecht , und sich zu freuen wie nur ein Kind , war karg , - war wortkarg geblieben . Es kam ihm selbst sonderbar vor , daß sich sein Mitleid an lauter solche kleine , kleinliche Rückerinnerungen heftete . Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen . Nicht daß sie jetzt dalag und litt , - aber daß sie so lange , - lange umsonst auf seine Freude gewartet , in seinen Zügen nach Freude gespäht hatte all diese Monate hindurch , - das erschütterte ihn so tief . Genesen war sie , - wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde , lichterblitzend , mit tausend neuen kleinen Freuden geschmückt . Und sie hatten sich nicht wie frohe Kinder darum geschart - - . Klare-Bel lag noch immer und schwieg . Er mochte nicht zu ihr hineingehen , er mochte nicht fortgehen . Noch immer ging er auf und ab wie ein Verurteilter . Endlich kam Jonas . Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch . Beim Eintreten in das Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch . " Wo ist denn Mama ? Mehr war nicht im Briefkasten in der Stadtwohnung . Zwei an dich . " " Mama ist nicht ganz wohl . Sie liegt auf ihrem Bett . " Während Jonas auf den Fußspitzen leise ans Bett trat , griff Erik nach den Briefen . Der eine von Frau Römer , der andere von Warwara . Ohne zu wissen , warum , erbrach er zuerst Warwaras kurzes Billett : die Bitte , den nächsten Tag bei ihr zu speisen , sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges Befinden und wünsche auch , ihm eine Mitteilung zu machen , etwa in einer Woche verreise sie bereits ins Ausland . Erik setzte sich ans Fenster und öffnete Frau Römers Brief . Ein längerer als sonst . Acht Seiten . " Lieber Freund ! Heute schreibe ich in einer besonderen Angelegenheit , die unsere Ruth betrifft . Aber erschrecken Sie nicht , denn erstens ist es nichts zum Erschrecken , und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit , sondern vorläufig nur eine Möglichkeit . Sie erraten wohl , daß sich_es um Jurii handelt . Ich wußte wohl von seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth , ohne sie besonders zu beachten . Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen Menschen . Jetzt aber glaube ich , daß er Ruth ernsthaft liebt und im Begriff steht , um sie zu werben . Dies ist nun von geringem Interesse für Sie , es sei denn , daß ihn Ruth wiederliebt . Dafür habe ich keinerlei stichhaltige Beweise . Aber das Wunderliche ist , daß man nie ganz ergründen kann , was in Ruth vorgeht , und wie sie in ihrem innersten Herzen denkt . Nie sah ich einen Menschen , der offener , nie einen , der verborgener gewesen wäre als sie . Offen : bewußt ; verschlossen : unbewußt . Es ist , als führe sie noch hinter allem anderen , was sichtbar wird , ein geheimes Eigenleben für sich , wovon sie selbst nicht recht weiß , woraus aber bei ihr dennoch alle entscheidenden Gefühle und Gedanken kommen . So könnte sie recht gut einmal sich selbst zur Überraschung handeln , - ihrer ganzen klaren , frischen , heiteren Unbefangenheit zur Überraschung , - und gerade damit ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen . - Aber nun zu Jurii . Ich kann über ihn nur Gutes ja Vortreffliches mitteilen . Ich kann es nur in die Worte fassen : hätte ich eine Tochter , - mir sollt es recht sein . Er ist brav , sympathisch , sehr begabt , ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen . Gänzlich unverdorben . Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge . Das ist viel auf einmal . Über Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das Beste bekannt . Seine große Jugend ist kein Fehler , da ihn Ruth mit ihm teilt und ihn die Zeit so gründlich heilt . Aber glauben Sie , bitte , trotzdem nicht , daß meine Wünsche Ruth vorauslaufen , - auf Kupplerfüßen laufen . Ich wünschte nur , Sie rechtzeitig vorzubereiten , damit Sie überlegen , wie Sie sich zur Sache stellen wollen . Denn gegen Ihren Willen , - nein , auch nur ohne Ihren vollen Willen , - würde ja wohl Ruth nie etwas tun - " Erik las nicht weiter . Er überflog die nächsten Seiten : sie handelten nicht mehr hiervon . Ruths Schweigsamkeit , - war sie doch gewollt , bewußt ? Abkehr von ihm , eine stille Wandlung ? Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht . Aber sie kamen wieder . Hell und dunkel , Licht und Schatten glitt es über seine Gedanken hin , wie draußen . " Aprilwetter - in mir ! um einen Knaben ! " murmelte er im Zorn über sich , " in Angst um eine Aprillaune , - in Angst , in den April geschickt worden zu sein ! " Er war so zornig , so ungerecht als möglich gegen sie , gegen sich selbst . Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen . Und Klare-Bel wollte ruhen , wollte allein sein . So schlich er sich in seine Stube . Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam , bemerkte Gone gegen ihn , die Frau habe sich zur Ruhe begeben , sie sei krank . Er ging zu ihr . Sie saß aufrecht im Bett ; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher . Im Nachtjäckchen , ihre kleine Haube auf dem wie zur Nacht glatt zurückgestrichenen blonden Haar , sah sie ihm verwirrt und angstvoll entgegen . Als fürchte sie sich vor ihm . Als schäme sie sich vor ihm . Er ertrug es nicht . Er beugte sich über sie , das Gesicht auf ihren Händen , und küßte diese . " Bel , - Bel , - verzeih mir . " Sie gab sich Mühe , zu lächeln , es war ein merkwürdiges , schwaches , kleines Lächeln , das dabei herauskam . Und nun wurde sie dunkelrot . " Ach Erik , - nicht so . Es ist mir zu - es ist mir so ungewohnt . Schrecklich ist mir_es . Sprich nicht so zu mir . " Er setzte sich neben sie , auf den Stuhl an ihrem Bett . " Lasest du , Bel ? " fragte er zerstreut , gepeinigt . " Ja , Erik . Du mußt nicht böse drüber sein . Es sind so alte Bücher , - die alten , weißt du ? Aber neulich fand ich einmal etwas , und das machte mich so glücklich . Das suchte ich mir heute auf . Es ist so schön zu lesen , Erik . " Sie sprach rasch , befangen , wie ein verlegenes Mädchen . Er blickte nieder auf die Bücher . Ein goldenes Kreuz auf dem einen . Und das andere : P.A. de Genestets " Laiengedichte " , - diese echt holländischen Lieder , worin sich Trotz und Glaube , Trost und Zweifel seltsam genug mischen . " Ich hatte sie so völlig vergessen , alle beide . Weiß selbst nicht , wie nur . - Wie gut , daß so etwas dableibt , ob man es auch vergißt . Sie waren so verkramt , und ganz staubig , als ich sie neulich fand . - Willst du mir die , Laiengedichte ' herreichen , Erik ? Ein Lesezeichen liegt drin . " Er schlug das Buch auf und reichte es ihr . Das Lesezeichen fiel dabei heraus . " Höre nur , - Erik , - nur einige Verse , magst du ? Auch du mußt es schön finden . Es heißt , Peinzensmoede ' . Es sollte wohl heißen : , Ich glaube , Herr , hilf meinem Unglauben ' . " Und sie las mit ihrer sanften Stimme : " Wo - wo sind die Priester , Die dich erklärten ? In Rätseln wandelt Der Mensch auf Erden . Geheimnis - das Leben , Geheimnis - der Tod , Die Schöpfung , sie Predigt Keinen liebreichen Gott . Natur nur umgibt dich , Die nicht auf dich hört , Gleichviel , ob sie wohltut , Oder ob sie zerstört . Und doch , - nisten Zweifel Mir auch in der Brust , - An dich , meinen Vater , Glaub ich unbewußt . Nicht weil deine Schöpfung Dein Lieben enthüllt , - Nein ! nein ! nur trotz allem , Dem Zweifel entquillt ! Trotz jeglichem Rätsel , Trotz jeglicher Not , Trotz Angst und Verderben , Trotz Schmerzen und Tod ! Ich schmachte , vom Schicksal Zu Tode getroffen , Meine Hoffnung ist Wehmut , Meine Wehmut ist Hoffen . Ich will es - will es glauben , Daß ich deine Hand Im Leben wohl spürte , Nur sie nicht erkannt ; - Will es glauben , was Kirche Und Priester mich lehrten : Daß niemand umsonst dich Gesucht hat auf Erden . " ««Frei nach dem Holländischen .»» Sie saß da und las , den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig gesenkt , die Hände auf der Bettdecke gefaltet . Die Röte der Befangenheit , der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht , rührend und vertrauensvoll sah sie aus , wie ein Kind , das seiner Mutter ein Gebet nachspricht . Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele , in all ihrer Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung , vor ihn hin - ohne jeden falschen Stolz . Sie kannte es nicht anders . Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es geistesabwesend . Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein verirrt : ein nackter Amor mit einem großen Rosenbukett . Während er aber stumm darauf hinschaute , sprach er in Gedanken mit Klare-Bel , unterbrach sie im Lesen , nahm ihr das Buch aus der Hand . Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch : " Dieser Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel , Bel ; , Peinzensmoede ' bedeutet ja : des Sinnens , des Grübelns müde . Wann hättest du das gekannt ? Ein vom Zufall der Erziehung dir lässig übergeworfenes Kleid , - ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von dir abgeglittenes Kleid : das war in deinem Leben der Glaube . " Und in Gedanken hörte er Klare-Bel : " Woran soll ich denn aber noch glauben , Erik ? An dich ? Doch nicht an dich ? Woher einen Halt nehmen ? Du warfst mein Halt ! Ach , der hält nicht ! Er biegt sich unter meiner Hand hinweg und läßt mich stürzen . Soll ich mir selbst ein Leid antun ? Dich ermorden ? Sie vergiften ? Ich bin keiner von den Menschen , über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen . Bin ich dadurch nicht nur hilfloser ? Meine tiefste Verzweiflung heißt Hilflosigkeit , - das Tasten nach einer Stütze : mein letzter klarer Gedanke . Warum verwehrst du es mir ? " " Weil ich diese Stütze hasse , - diesen Halt , der mich ersetzen soll . Nein , weil ich mich dessen schäme , - daß er mich ersetzen muß . Weil ich mit dir kein Mitleid mehr habe , - nur noch Zorn und Haß und Scham vor mir selbst . " - - - - - - - - - Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf , unsicher gemacht durch sein Schweigen . " Ist es nun nicht schön , Erik ? " fragte sie leise , beinahe bittend , "- mich macht es glücklich . " " Dann ist es schön , Bel ! " sagte er sanft . - Aber seine Stimmung war nicht sanft . Den ganzen Abend schlug er sich mit einer ihm fremden Pein herum . Schon am Vormittag , - als er seine Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte , sondern sich edler nehmen ließ , als er war , - und jetzt wieder , wo seine Lippen anders redeten als seine beschämten , zornigen Gedanken , - hatte er gegen seine innerste Natur gehandelt , sich passiv verhalten , die Dinge gehen lassen . Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids , - aus gerechter Überzeugung : ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war , durfte nicht in Betracht kommen gegenüber dem , was Klare-Bel durch ihm erleiden mußte . Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht , gegen seine eigenste Natur handeln zu müssen . Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung , um seine Gedanken von allem loszureißen , was ihn quälte , und auf seine Arbeit zu richten . Bald sah er Bel als Betschwester vor sich , bald Ruth als Braut ; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn . In beiden Fällen war er der entthronte König . " Einen neuen Gott die eine , - einen neuen Mann die andere , - es ist fast dasselbe ! " dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit seiner Gedanken . In einer Pause zwischen seinen Schulstunden , während der er in der Stadtwohnung vorsprach , zog er Frau Römers Brief aus seinem Taschenbuch . Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen , - nur durchflogen , - und jetzt kam ihm das Gefühl : es müsse wohl tun , diese Frau reden zu hören , bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen , was in einem Menschen aufgewühlt werden kann . Und er las weiter : " Es ist ja nicht notwendig , daß sich Ruth schon so jung bindet . Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten , - vielleicht nie . Nun sehen Sie , dies wäre nicht wünschenswert . Ich weiß nicht , wie Sie darüber denken . Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für die Ehe . Aber ich habe gut reden : ohne meinen Mann wäre ich wohl ein nichtsnutziges Ding geblieben , - mit etwas Interesse für Tand und einer großen Leere im Herzen . Ich glaube , Sie legen einen Hauptwert auf Ruths geistige Entwicklung . Ich auch . Aber dazu verhält sich ein frühes glückliches Liebesleben nicht als Gegensatz , sondern als die einzige gesunde , natürliche Grundlage auch für das Geistesstreben im Weibe . Nicht nur damit sie die Gehilfin des Mannes sei . Häufig langt es ja gar nicht zu mehr . Wo es aber langt , - desto besser . Von meinem Mann glaube ich bestimmt , daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes unterstützt hätte , zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden gewesen wäre . Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich . Liebe ist nicht selbstlos . Wohl aber um den ganzen frischen Duft , die ganze Fülle und Freude um sich zu haben , die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung ausstrahlt , der voll erblüht . Und daß zwei Blüten beieinander stehen wollen : das bedeutet ja wohl , Ehe ' - . " Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch . Etwas ganz anderes , als er gesucht , hatte er darin gefunden , - etwas ganz Unerwartetes : einen unbewußten Vorwurf . Seine Ehe mit Bel , das waren keine zwei selbständigen Blüten , die zusammenstanden : das war eine Blüte , die einen Tautropfen aufgesogen hatte , der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war . So würde es wohl Frau Römer ausdrücken . Römers standen eben von vornherein anders zueinander . Sie bewunderten sich gegenseitig , - eigentlich war es rührend . Man konnte nicht recht darüber lächeln : man mußte diese beiden Menschen achten . Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden . Als er sie fand , ein Jahr älter als er selbst , sinnbetörend schön , bereits fertig mit ihrer kurzen Entwicklung , - ein in gewisser Weise viel fettigerer Mensch als er , - was hätte er da wohl anders tun können , als dürstend in sich aufzusaugen , was sich , nach Selbstuntergang sehnsüchtig , ihm darbot ? Aber wenn man einen schwächeren Menschen so absolut in Besitz nimmt , so fühlt man die furchtbare Verpflichtung , ihn nicht wieder von sich zu lösen . Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf hinein zwischen Scham und Mitleid bei jedem leisesten Versuch , sich dieser Verpflichtung zu entziehen . Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein . - Auch - Ruths Meinung ? Ruth grübelte nicht über solche Fragen . Aber was täglich , stündlich auf sie wirkte , sie mächtiger beeinflussen mußte als alle Worte , alle Grübeleien , - das war Frau Römers Ehe . Eine heilig gehaltene , glückliche Ehe . Sobald ihn sein Unterricht freiließ , ging Erik zu Warwara . Mehr als er sich es selbst gestehen wollte , war es ihm recht , jetzt noch nicht nach Hause zu fahren . Als Erik gemeldet wurde , entfernte sich eine lange hagere Engländerin , Warwaras Gesellschafterin , aus dem Zimmer . " Sie sehen ganz besonders ernst aus , " bemerkte er bei der Begrüßung zu Warwara , " es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert ? ' Sie mußte hellauf lachen . " Etwas passiert , - ja . Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen . " "- Verlobt ?! - war das die Mitteilung ?! - Mit wem ? " Sie setzte sich in ihre Plauderecke . " Gleichviel mit wem . Ein Ihnen ganz Fremder . Im Auslande . Sie werden es auf einer schön gestochenen Verlobungskarte lesen . " " Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen , Warwara ? " " Wie meinen Sie das ? " " Ich meine natürlich , ob Sie das Geringste für den Mann fühlen , den sie heiraten wollen . " " Daran zweifeln Sie . " Er schweige . " Ich will_es Ihnen sagen . Dazu rief ich Sie ja her . Ich habe ihn gern . Sehr gern . Aber mir wird nicht heiß und kalt , wenn ich an ihn denke . " " Und das scheint Ihnen zu genügen . Es genügt nicht , Warwara . " " So will ich Ihnen noch mehr eingestehen . Was ich in der Ehe suche , - das Glück , das ich suche , - ist nicht der Mann . " " Sondern ? " Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch , mit dessen Pflanzen sie sich zu schaffen machte . " Das Kind . " Erik schwieg überrascht . Nach einer kurzen Pause sagte sie : " Es ist ein sehr vertrautes Geständnis . Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut , - mehr , als Sie wissen . Hab Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat gefragt . Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt . Wir hätten öfter , als wir getan haben , ernst Dinge miteinander teilen sollen . " " Das hätte mich sehr froh gemacht , Warwara . Schon das , was Sie da sagen , macht mich froh . Ich bedurfte gerade dessen . " " Nun , sehen Sie , das ist gut . So will ich es auch ruhig bekennen . Daß ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin , voll von allerlei Tand und Plunder . Und daß ich gern mehr sein möchte . Vielleicht dank Ihnen , - dank den stillen Unterhaltungen , die ich da mitunter mit Ihnen geführt habe . Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und Meister ersehnen und erwünschen , der aus mir noch das Beste machen kann , - das Beste , was in mir ist . " " Das alles erwarten Sie von einem Kinde ? " " Von der Mutterschaft , - ja . Von der Mutterliebe . Dem Mutterglück . Der Mutterpflicht . - Und dann , " sie wandte sich lebhaft zu ihm , " irgendwann einmal , wenn ich wirklich so glücklich sein soll , dann gebe ich mein Kind in Ihre Hand , damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen heranziehen helfen , sie Menschenlehrer . " " Hätten Sie das Vertrauen zu mir ? Ein so festes ? Einen ganz festen Glauben an mich ? Ich danke Ihnen , Warwara . " " Ja . Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu . Unter der einen Bedingung : daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben . " " Mit anderen Worten : keine Kraft zur Pflichttreue . " " Das weiß ich nicht . Ich glaube nur trotz allem , daß Sie im Grunde Gemütsmensch sind . Und das heißt doch nur : sehr lieben können - Menschen oder Ideen , - und da wo man sehr liebt , sich rückhaltlos verschenken können . Hingegen all das andere , was Sie bisweilen mit solchem Selbsvertrauen zu behaupten pflegen , - all die Sicherheit und Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle , - nein , - daran glaube ich auch für Sie nicht . " " Sie sind eine große Philosophin geworden , " bemerkte er halblaut . " Wie ? Sie geben mir es zu ? " fragte sie überrascht . " Welch ein fremder guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen ? Aber es ist wahr , warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen , wie abhängig wir alle vom Glück sind , - wir armen Weltkinder alle ? Von dem fruchtbaren Erdfleckchen , worauf auch für uns noch ein ganzes Glück , eine ganze Liebe und - dadurch allein ! - auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit wachsen kann . " " Und wenn wir dies Erdfleckchen , gerade dies , nicht bebauen dürfen ? " " Dann verdorren wir , - oder wir verschleudern uns . Wenigstens ich . Und Sie auch . " Ein Diener erschien in der Portierentür und bat zur Tafel . Warwara stand auf . " Geben Sie mir den Arm . So ernst ? Ich habe Sie doch nicht verletzt ? " " Nein . Sie haben ganz recht . Hatten recht , als Sie einmal vor langer - sehr langer Zeit zu mir sagten : , Wir haben eine gemeinsame Versuchung . ' Es erkennen , heißt hart werden - gegen alles , was uns hindert , uns fruchtbar auszuleben . " - Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch . Jonas fand : einander gegenüber , das sei zu feierlich . Es macht ihm Spaß , dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen , von allem das Beste . Er war bemüht , sie zu unterhalten . Klare-Bel hörte nicht recht hin , ihre Blicke hingen an einem Brief , den Jonas mitgebracht hatte . Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der Stadtwohnung dort eingelaufen . Von Ruth . Ganz außer der Zeit . Klare-Bel konnte eine schwache , törichte Hoffnung nicht unterdrücken , die mitten in Jonas ' harmloses Geplauder hineinredete . Als Erik bald nach dem Abende zu Hause eintraf , bemerkte er sofort den Brief , der für ihn bereit lag . Sein Blick streifte Jonas , - flüchtig nur , - aber Jonas stand sofort auf , um hinauszugehn . Der Vater wußte doch ganz gut , wie schwer ihm das fiel , - aber er sollte ihm nicht noch einmal , wie in jener Nacht vor Ruths Abreise , Mangel an Selbstbeherrschung vorwerfen . Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind , - auf den Wink ; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer : er führte ihn ja doch den Weg zu Ruth . Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik , während er den Brief erbrach . Eine einzige Sekunde , - die Seite umgerissen , - eine zweite , blitzschnell , - und er ballte das Papier in der Hand . Er war grau im Gesicht . " Erik ! was ist es ? - etwas Schlimmes , - für dich Schlimmes , - Erik ! " Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen . Er entfaltete das Papier wieder , nur die Hand ballte er . Vor seinen Gedanken schwirrten vier Worte : " Ich habe ihn lieb , " und am Schluß etwas wie " den Kuß gab ich ihm , " - mehr hatte er nicht gelesen . Er bis die Zähne aufeinander . Das zu lesen , jetzt , vor den Augen seiner Frau - Er las es , aufrecht stehend , hell beleuchtet , vor der Lampe . " Am Schloßberg . Dienstag . Ich soll Ihnen von Jurii schreiben , sagt Frau Römer . Ob ich ihn lieb habe . Ich habe ihn lieb . Und ich soll alles so erzählen , wie es gewesen ist . Es ist so gewesen : Um den Schloßberg stürmte und regnete es . Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen , weil ich mit Husten zu Bett gelegen hatte . Ich ging aber doch hin , um mir ein Buch für meine Arbeit zu holen . Unten fand ich Jurii , und er brachte mich nach Hause . Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken . Es war aber sehr glatt , und Jurii mußte immer nur achtgeben , daß ich nicht mit den Galoschen ins Rutschen kam . Da sagte Jurii zu mir : , Ich liebe Sie . Ich liebe Sie so sehr . Werden Sie , bitte , meine Frau . ' Das sagte er aber russisch , und darüber fing ich an zu lachen , denn wir sprechen ja immer deutlich . Da sagte er noch : , Ich weiß jetzt , daß Sie mich nicht wiederlieben . Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt . Sterben möchte ich . ' Darüber daß er sterben wollte , wurde ich ganz traurig , und er wurde es auch . Wir achteten nicht mehr auf den Schirm und auf die Galoschen , ich verlor einen , und der Regen lief uns in den Rücken . Frau Römer schalt sehr , als wir pudelnaß ankamen , steckte mich ins Bett ung kochte heißen Tee . Ich lag und weinte , denn ich wußte nicht , wie ich es anfangen sollte , damit wir wieder vergnügt sein könnten . An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan , und da lag jemand und tat dasselbe . Frau Römer kam herein und horchte , ob nebenan auch jemand weinte , und lächelte etwas und sagte , wir wären rechte Kinder . Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein Haar zurück ( das tut sie gerade so wie Sie ) und fragte : ob ich Jurii denn nicht ein wenig lieb hätte . Ich sagte : , Ja ' . Da sagte sie : , Ich meine es anders . Denke einmal nach , was dir das Schönste auf der ganzen Welt ist ? gehört Jurii dazu ? ' ich dachte nach und sagte , das Schönste auf der ganzen Welt sei ja , daß ichIhr Kind sei . Darauf sagte sie : , Vielleicht jetzt noch . Aber kannst du dir denn nicht denken , daß es später noch viel , viel schöner wäre , einem anderen zuliebe Braut zu sein ? ' Das konnte ich mir nicht denken . Da fragte sie nichts mehr . Sie küßte mich und ging fort . Heute ist Jurii fortgereist . Er will nicht mehr hier studieren . Ich stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchen öpfchen , die ich im Febrauar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe . Ich schnitt die aufgeblühten ab für Frau Römers Glas , damit sie wieder gut sein sollte . Da kam Jurii in mein Zimmer . Er wollte die Blumen haben und einen Kuß . Er sah so blaß und verweint aus . Ich gab ihm die Blumen . Und den Kuß gab ich ihm auch . So ist es gewesen . Ruth . " Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewandt . Sein Gesicht verriet alles , was im Brief stand . Allzu deutlich verriet es , daß sein Schreck grundlos gewesen war . Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem , was Ruth tat oder unterließ , - das war gräßlich . Das wollte sie nicht sehen . Sie hatte gemeint , das Schwerste sei gestern über sie gekommen . Aber nicht , es zu wissen , war das Schwerste , - nein , es mit wissenden Augen zu beobachten , täglich , stündlich , es bestätigt zu finden in solchen kleinen Vorgängen . Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen , - das war schwerer . Nicht nur schwerer , - unmöglich war es . Und dann , - wenn Ruth einen anderen abwies , - dann liebte wohl auch sie Erik . Und wenn sie ihn liebte , - dann erst war er für Bel verloren . Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten - für bel , auf Ruths Glück nie . Nicht , wenn er sie wirklich liebte . Wo die stärkere Liebe blüht , da wächst auch das stärkere Pflichtgefühlt : da sorgt man nur noch um das Glück des anderen . So empfand Klare-Bel . Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück . Gone hatte es ihr auf ihr Zimmer bringen müssen . Erik suchte sie sofort auf . Er war schon in aller Frühe aufgestanden und hatte , nach mehreren vergeblichen Versuchen , Ruth geschrieben . Aber diesmal gelang es ihm schlecht , - ein gequälter Ton klang durch . Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl , eine Felldecke über den Knien . Sie sah nicht krank aus . Vielmehr klar und gesammelt . " Du bist doch nicht leidend ? " fragte er dennoch , mit ehrlicher Sorge . " Ich bin nicht leidend , Erik . Aber ich mußte dich bei mir haben . Allein , - ganz allein , - ohne Jonas . " Und sie umfaßte sein Hand mit ihren beiden Händen . " Um dich zu bitten : laß mich jetzt abreisen ! Jetzt schon . Es sollte ja doch bald sein . Laß es jetzt sein ! " Er schwieg einen Augenblick . Diese Bitte war beredt . " Wenn du es durchaus willst , Bel . Dann soll es beeilt werden . Ich will jede Sorge dafür tragen . Ich bin jetzt gebunden . Aber Jonas soll dich hinbringen . " " Ach nein , Erik ! Laß mich allein hin . Nicht mit Jonas . Gone genügt . Ich bitte dich so sehr darum . Mit Jonas bin ich nicht allein . Er hat so feine Augen . Vor ihm will ich nicht - " Sie brach ab , aber der einzige Stolz , den sie besaß , ihr Mutterstolz , schrie in ihr : " Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen , in meinem Elend ! " " Nun gut . Auch das . Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen . Darauf bestehe ich , Bel. " " Ich danke dir . Und nun muß ich dir noch das andere sagen , Erik . " " Was denn ? " Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans Finster . Sie sprach so klar und so ruhig bewußt . Er kannte seine Bel vollkommen , - jede leiseste Regung in ihr kannte er , - und beeinflußte er . Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes , ihm Entrücktes aus , - etwas Fremdes . Er fühlte es , ohne sich es noch erklären zu können , wie einen Druck auf die Nerven . Ein ganz seltsames Gefühl : als sei noch ein Dritter im Zimmer . " Ich will es nur lieber schnell heraussagen , Erik . Das andere ist , daß auch du verreisen sollst , - so bald als möglich . Nicht erst zum Sommer , um mich abzuholen . Bald , - eher , - in den Ostertagen . Wo du zwei Wochen Zeit hast . Um sie wiederzusehen . Um dich zu überzeugen , ob wohl auch sie - - . Ganz gewiß , das mußt du tun . Denn sonst bist du zeitlebens unglücklich , Erik . Und das , - siehst du , - das könnt ich ja nicht aushalten . " Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen . Dunkelrot bis über die Stirn . Er warf den Kopf zurück gegen die Fensterscheibe . Das war es : eine neue Stütze besaß sie , die sie selbständig gehen und handeln lehrte ! Einen neuen Herrn : schon handelte sie auf sein Geheiß ! Wie hatte er nur an Kampf denken können - mit Bel ! Kampf ? Nein , ausrauben , ausplündern wollte er sie ! Aber sie ließ es nicht zu : sie beschenkte ihren Räuber , - freiwillig , überreich beschenkte sie ihn : " Nimm , du Armer , vom Glück Abhängiger , - ich kann_es entbehren , bin die Stärkere , - ich kann entsagen , - du - nicht . " Und glühend brannte in ihm die Scham empor , - glühende Scham , - und Auflehnung als einzige Antwort : " Tausendmal lieber ein Räuber als ein Beschenkter ! " Klare-Bel sah den Schweigenden , Wortlosen nicht an . So ganz ergriffen und benommen war sie von dem Schweren , was sie vorhatte , daß ihn ihre Blicke nicht suchten , nicht befragten , wie sonst wohl . " Heute Nacht lag ich immer und dachte : wenn es anders möglich wäre ! Aber das ist es ja : es ist nicht möglich . Du kannst nicht aufhören , an sie zu denken , und ich , - wie sollte ich - wie sollte ich nicht anfangen , sie zu hassen ? Und so versündigen wir uns aneinander , Erik . Das soll nicht sein . Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns . Es kann traurig werden , - sterbenstraurig . Aber nicht häßlich . Das soll es nicht . Ich ertrüg es nicht . " Ein halber Laut entfuhr ihm . Sie , - was wußte sie wohl von " Haß " . Von Häßlichem . Nein , nichts ! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen Staunen : in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich , nicht bitter und ungerecht , im Kampf und Zweifel , im Aufruhr und Schwanken der Seele . Sie dachte nichts Häßliches . " Und nund habe ich auch verstanden , - heute Nacht , - warum ich gesund geworden bin , " sagte Bel leiser , als er noch immer schwieg , " und warum wir doch dessen nicht froh werden konnten . Nicht froh , obgleich ich auf meinen Füßen stehen und gehen konnte . Gott sprach darin zu mir : , Gehe ! ' " " Bel ! " stieß er gequält heraus . Diese religiöse Exaltation war ihm entsetzlich . Aber Klare-Bel sagte ruhig , beinahe freundlich : " Ja , Erik . Und ich gehe . Gott selbst wollte es so . Er wollte es . Aber Jonas mußt du mir später lassen . Bei mir lassen . Jonas gehört mir mehr als dir . " Höchstes und Alltägliches ging durcheinandern . Erik fand : nun redete sie von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug ; " dies ist mehr mein , - dies mehr dein . " Er trat an ihr Bett . " Höre mich jetzt an , Bel. Du fassest keinen Entschluß - über nichts , - ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe . Offen . Offener als bisher . Denn du weißt nicht alles . " " Ach Erik , - sage nichts ! Es ist schrekclich , es zu hören ! - Nichts , - nein ! Nur eins - hätte ich von dir erbeten ! " Er ergriff die Hände , die sie gegen ihn vorstreckte , und hielt sie sanft fest . " Es muß sein , Bel. Du muß mich hören . " " Warte noch . Bitte , nicht ! Erik , - sage mir nur erst : - hast du - ihr schon geschrieben ? " " Ja , " versetzte er erstaunt . " Ich meine - den anderen Brief ? " " Ja , - auch den anderen . " " Und du hast ihn vernichtet . Nicht wahr , - das hast du doch ? " In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht . Unwillkürlich griff er an die Tasche seiner Joppe . Er knisterte leise unter seinen Fingern . " Erik ! - das ist das einzige , - was ich von dir erbitten wollte . " Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne zerknitterte Papier , - wieder stieg ihm eine Blutwelle ins Gesicht , - wieder die Röte der Scham , einer feinen , empfindlichen Scham . Nein , - nur das nicht ! Das konnte er nicht ! Vor Bels Augen das Innerste , Geheimste bloßlegen , - sein Heiligstes und sein Unheiligstes , - den Aufruhr der wildesten Stunde , - die Andacht der stillsten - . Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so . Sie hatte recht , - tausendmal hatte sie ein Recht darauf ! Und was sie daraus erfuhr , war , was sie erfahren mußte , - sich zu erfahren scheute . Und wenn es mehr war , als sein Bekenntnis hätte aussprechen können , - wenn er selbst es war mit allem , was in ihm tobte , gärte , schluchzte , kämpfte , - mit allem Häßlichen auch , und dem Aufschrei nach Glück , - dann war es gut so . Vor seinen Worten scheute sie sich , - vor der endgültigen Klarheit : und in dieses Dunkel griff sie verlangend , - vermessen . Wer ergründet wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier ! Er reicht ihr das zerdrückte Blatt , - zusammengeballt war es zu einer Kugel . " Du hast es gewollt . " Dann verließ er sie . Nebenan in Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt . Jonas hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen . Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere . " Nicht entsagen ! " war sein einziger deutlicher Gedanke . " Nicht entsagen ! nicht in der Versuchung des Mitleides , - nicht in der schlimmeren : der Versuchung der Scham . " Ihm war , als handle sich es gar nicht um einen einzelnen Menschen , noch weniger um ein Weib , - nein , um alles , was Mensch hieß , was ihm Mensch sein konnte , - um alles , was er noch berühren konnte , schaffend , wirkend , liebend , - - um sein eigenes Menschsein . Es konzentrierte sich jetzt in diesen zwei kindlichen , gläubigen Augen , die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten . Entsagen hieß in die Wüste gehen - nicht nur mit seiner Liebe , - auch mit seiner Tatkraft , - mit seiner Kraft überhaupt , - ins Unfruchtbare , in die tote Einsamkeit . Gab es eine Kraft auch für die Wüste ? Die in solcher Einsamkeit standhielt ? Ja in ihr vielleicht erst erstand ? Die nicht mehr eines anderen bedurfte , um startk und schön zu bleiben , - keiner Augen , die da glaubten und warteten und an sie appellierten ? Ja , vielleicht ! für Reflexionsmenschen , die sich selber über die Schulter gucken , sich in sich selbst bespieglen - spottend oder genießend ! Oder für Gefühlsmenschen , die in ihren eigenen Erregungen sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen , - auch sie ihr eigenes Publikum ! Kapitel Aber nicht für solche , die in sich selber unteilbar eins sind und daher auch hilflos in sich selber , - wenn sie sich nicht dadurch helfen können , daß sie handeln , aus sich heraus wirken - und sich selbst erkennen , widergespiegelt im Auge eines anderen . Aber Bel ? Warum konnte sie entsagen ? sie , die weder in Reflexionen noch in Gefühlen schwelgte , sie , die vielmehr naiv und nüchtern war und keineswegs ihr eigenes Publikum ? Aber so ging es auch : mit dem großen suggerierten Zuschauer , - mit dem da oben , der sah alles . Auch sie hatte ihren Spiegel , für den sie sich schön erhalten mußte , - das Gottesauge , den blauen Himmelspiegel ! Ein schwacher Laut , wie ein Stammeln oder Stöhnen , drang aus Klare-Bels kleinem Nebengemach . Es war , als wollte sie Erik in seinen bitteren Gedanken unterbrechen - widerlegen . Er trat zur offenen Tür . Bel hatte den Brief von sich geworfen , weit fort , auf den unteren Rand der Felldecke . Sie lag da , das Antlitz glutrot in den Händen vergraben . " Lieber Gott ! " betete sie , " großer , harmherziger Gott , der du im Himmel bist und in die Herzen der Menschen hineinsiehst : nimm mir meine Liebe aus mienem Herzen ! " - ---------- Warwara war sehr überrascht , als sie am nächsten Tage Erik auf der Straße traf und von der unmittelbar bevorstehenden Abreise seiner Frau hörte . Sie redete auf das lebhafteste zu , noch jene einzige Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu lassen . Aber es fruchtete nichts . Schon den folgenden Morgen konnte sie der Fortfahrenden , der sie baldigen Besuch im Bade versprach , einen mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken . Warwara war außer Erik die einzige , die Mutter und Sohn das Geleit gab , und sie fand , daß sich die Gatten nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten . Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete sich Erik nur kurz und hastig von ihr . Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause . Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen . Sie glaubte ihn eigentlich als Mann in seinem eigenen Heim befriedigt , aber als Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt . Und wenn sie , scherzend oder ernst , von " Versuchungen " für ihn sprach , so meinte sie damit gelegentliche Versuche , die hungernde Tatkraft durch Naschereien und Tändeleien zu betäuben . War jetzt so etwas im Spiel ? Jetzt , wo Erik so völlig zurückgezogen lebte - schon seit einem Jahr ? Wo er ganz aus der glänzenden , leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war , die ihn einst fesselte und die er gefesselt hatte ? War eine Frau im Spiel ? - Einige Tage später , an einem Sonntagvormittag , wollte Warwara eine notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen , um bei Erik vorzusprechen und zu erfahren , ob Jonas mit guten Nachrichten von der Grenze heimgekommen sei . Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte sie darüber , sich nicht allein zu finden . In der Ecke ihr gegenüber saß eine ganz junge Dame und blickte mit großen erwartungsvollen Augen zum Fenster hinaus . Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse . Wie immer , fielen ihr zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Äußerlichkeiten auf . Ein zarter , schmächtiger Wuchs ; das eng anliegende dunkelblaue Tuchkleid mit offenem Jackenteil , auf tiefrotem englischem Flanell abgefüttert , zeigte nur hoch am Half einen kleinen weißen Linnenstreifen . Ein schmaler Fuß guckte in ungeduldiger Bewegung unter dem Rock hervor . Aschblondes Haar , von einer starken Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten , drängte sich um Stirn und Schläfen etwas kraus aus einem weichen Barett von dunkelblauem Samt hervor . In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf , sie wußte nicht , an wen . Eine junge Engländerin ? So eindringlich blickte sie auf ihr Gegenüber , daß sich dieses ein wenig befremdet nach ihr umwandte . Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend ihren Blick . Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln . Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur . " Ruth ! " entfuhr es ihr . Sie verbesserte sich sofort , lachend . " Verzeihen Sie nur . Die Zudringlichkeit erst und jetzt . Aber ich suchte und suchte , und was ich fand , war , was mir im Gedächtnis geblieben ist . Ihr Vorname . " " Er genügt ja vollkommen , " sagte Ruth . " Ich nehme an , wir haben einen Weg ? " " Nein ! " versetzte Warwara mit raschem Takt , denn sie wollte nicht stören , " ich fahre nur zu einer Besichtigung meines reparaturbedürftigen Landhauses hinaus . Aber unsere Freunde erwarten Sie ? " Ruth errötete und schüttelte den Kopf . " Nein , ich bin sehr - ganz unerwartet von Heidelberg abgereist , " entgegnete sie mit auffallender Befangenheit . Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht . " Das ist sie , - die , Versuchung ' , " dachte sie , " sehr jung , aber ich argwöhnte schon damals hinter ihren geübten Formen : sehr durchtrieben . " " Da wird es Ihnen leid tun , eine Lücke zu finden , " bemerkte sie laut , " denn Sie wissen wohl noch gar nicht , daß Sie Klare-Bel nicht treffen ? Sie ist schon abgereist . " " Nein ! " rief Ruth betroffen , " das konnte ich ja noch nicht wissen ! Es hat doch keinen schlimmen Grund ? Ja , das tut mir leid ! " Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen , daß sich Warwara schämte . " Sie wußte wirklich nichts davon , es war nicht verabredet , was bin ich für ein häßlicher Mensch ! " sagte sie zu sich und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth . " Nein , kein schlimmer Grund . Klare-Bel ist so gesund , wie man es nie hätte erwarten dürfen , und nun geht es stetig bergauf . Im Anfang des Winters hat sie freilich noch viel aushalten müssen . Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz : , Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen , gesund werden zu wollen . ' Der Mann hat Eisen im Blut . Aber es hat ihn gehörig geschüttelt . Ich habe ihn ein paarmal gesehen : blaß wie ein Tuch . " Ruth lauschte stumm , ihre Hände feschlangen sich in ihrem Schoß , die Lippen öffneten sich halb , die Augen sagten immer nur : " Mehr ! " Als Warwara schwieg , atmete sie tief auf . " Er kann alles , was er will ! Und das wollte er so aus voller Seele , daß sie wieder gesund und glücklich sein sollte . Er hat dafür gelebt . Wie grenzenlos froh müssen sie jetzt sein ! Nun , wo er alles zum Guten geleitet hat ! Nun , wo es ist , wie er will : wo sie glücklich ist . " Sie sprach hingerissen , ihre Augen blitzten . Warwara betrachtete sie nachdenklich . Sie kam ihr gar nicht mehr , wie damals , so formell abgeschliffen und gewandt vor , sondern im Gegenteil wie ein Wesen , an dem alles Innenleben , und nichts mehr Form ist . Eine Seele , bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit , - - und Liebe ? Dann könnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und Freude sprechen . Keine Liebe ? Dann könnte sie nicht mit diesem Blick und diesem Ton sprechen . Der Zug hielt . Sie stiegen aus . Warwara bequemte sich dazu , eins der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu benutzen , die am Stationsgebäude bereit standen und deren Kutscher sie sofort umschrien . Ruth hatte einen anderen Weg . So trennten sie sich . Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um . " Es ist da etwas , was nicht ins Leben gehört , - Poesie . Poesie im Konflikt mit dem Leben , - was ergibt das wohl ? " dachte sie ; - " es ist , wie wenn man die erste Seite eins Romans aufgeschlagen hätte , - o pfui , nein ! - oder : die letzte eines Märchens . " Ruth ging langsam hin zwischen den kahlen Birken am Wegrande , nicht in Hast , ein paar Minuten früher anzukommen . Mit einem lauschenden Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein , als ob er in tausend Blüten um sie stünde . Noch war er nicht da , man sah ihn nicht , - und doch war er da , in der Luft , in alles erfüllender unsichtbarer Gegenwart . Man hörte ihn : in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang er von den blattlosen Zweigen . Der Himmel hatte sich schwach bedeckt , die Sonne schien nur in verhaltenem Glanze nieder , - Ton , Licht , Farbe wirkten gedämpft , verhüllt und wie eine Verheißung . Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte . Sie öffnete , durchschritt den Garten und stieg zaudernd , leise ein paar Stufen zur Terrasse hinauf . Vorsichtig nach vorn gebeugt spähte sie von der Seite her in das breite Fenster des Wohnzimmers , ob jemand darin anwesend sei . Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt , hinter den Tellern mit kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar . Jonas saß allein am Kamin . Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand , an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte , und ließ es an der roten Holzglut rösten . Wie er so dasaß , einen Arm nachlässig um die Stuhllehne geschlungen , in wartender Haltung , den Kopf mit den etwas zu fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt , erinnerte er stark an Erik . Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen , es glitt plötzlich von der Gabel und fiel hinein . Jonas sah verdutzt aus . Er wandte sich um und spießte ein neues auf ; diesmal gelang es besser . Dann spülte er ein Teetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und machte einen Aufguß . Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter den geöffneten Hahn des Samowars , und ein siedender Strahl verbrühte ihm die Hand . Jonas machte den Mund weit auf und fing an , auf einem Bein im Zimmer zu tanzen . Vom Fenster erklang helles Gelächter . Er blieb stehen , wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm niedergefahren wäre . Mit einem ungläubigen Ausdruck richteten sich seine Augen , als trauten sie sich selbst nicht , nach dem Fenster . Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschloßenen Scheibe , das ihn auslachte und das wie Ruth aussah ; er wußte nicht , ob er Ruth träumte oder Ruth sah . Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen , so daß es dabei fast in Splitter zersprungen wäre , und heraus streckten sich die Hände nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest . " Aber Jonas ! laß mich nur erst zur Tür hineinkommen ! " " Nein , - nicht ! " murmelte er , als könnte sie ihm doch noch wieder wie ein Traumbild plötzlich entschwinden , " nicht abwenden , ich lass dich nicht ! Zum Fenster herein ! Es muß gehen . Setze den Fuß auf die Rampe , - ganz fest , - hörst du ? Ich hebe dich . " Sie sah ihn an : das da sagte er nun ganz so wie Erik . Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt . Mit einem Satz stand sie im Zimmer . Er ließ sie los . Er trat zurück . Nun , wo sie vor ihm stand , nicht mehr hinter einer geschlossenen Scheibe , sanken ihm die Arme . Eine grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich . " Wie ist es nur möglich , daß du da bist , - von wo bist du nur gekommen ? " Er starrte sie an , als wäre er überzeugt , daß sie vom Himmel gefallen sei . " Mit dem Blitzzug . Gestern abend . - Und - dein Papa ? " " Er müßte hier sein . Aber jetzt vergißt er die Zeit . Stundenlange Gänge macht er , allein , - seit Mamas Abreise . " " O Jonas , - daß Mama gesund geworden ist , - nicht wahr ? Ist es nicht wie ein Wunder , - immer noch ? " " Ja . Und jetzt werde ich auch Arzt . Weißt du_es ? Für den Fall , daß du später einmal krank wirst . " Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen , übermütigen Augen . " Hoffentlich werde ich später einmal krank . - - Wie ist dir_es nur ergangen , Jonas ? Du schriebst nie . " Er sah rot und verwirrt aus . " Nie ? Mir ? Ja , ich mußte doch , - ich dachte ja , - - Du ! willst du nicht eine Tasse Tee haben ? " " Nein , danke , " sagte sie lachend , " aber die Hauptsache ist : bald kommst du nach Heidelberg , nicht wahr ? Wie herrlich , Jonas ! Da studieren wir zusammen . " " Ja , " versetzte er tief aufatmend , "- endlich ! - bald ! endlich ! endlich zusammen ! Ja , - siehst du : lang wäre es so nicht mehr gegangen . - - Hab gelebt wie im Grabe , " fuhr er mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit fort , "- muß in deiner Nähe sein , Ruth . - Bei dir . Ja , - du ! - ich liebe ja nur dich . Nur dich liebe ich , - - nimm mir es nicht übel , - aber ich liebe dich wirklich . Kann ja nichts , habe nichts , bin nichts , - muß mich eben erst durchbeißen , - aber bei dir sein will ich wenigstens , - jedem die Faust zeigen , der es auch will , - der dir nahe kommen will ! Jedem ! Hüten soll er sich ! Niederschlagen jeden - - " " Jonas ! Du rasest ! " Sie war aufgesprungen , blaß vor Schreck . Er kam zu sich , versuchte zu lächeln , einzulenken , - und plötzlich stürzte er vor ihr in die Knie , das Gesicht in den Falten ihres Kleides . " Ach Ruth ! sei nicht böse ! Du weißt nicht , - es war ja so schrecklich für mich - all die Zeit , - so stumm in mich hineingewürgt alles . Sieh mich an , sei nicht böse ! Nie wieder , - es kommt nie wieder , bis - . Ich weiß , - ich darf noch nicht . Aber einmal , - einmal mußt ich , - ich wäre erstickt sonst . Ach , liebe Ruth ! Ich bin ja so grenzenlos unglücklich , bis - bis du mein - mein - geworden bist ! " " Jonas ! " flüsterte sie , "- Jonas , ich bitte dich , - stehe auf , - laß mich los , - du bist wahnsinnig , Jonas ! Das kann ja nicht - " Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest , den sie aus seinen Fingern lösen wollte , - er umklammerte ihre Hand , ihre Hüfte . " Es kann nicht ?! " schrie er fast drohend , und als sie sich mit einer unerwarteten Bewegung freiwand , vergrub er wie besinnungslos seine Zähne in ihren Handrücken . Dunkel drang das Blut hervor . Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg . Er stand langsam auf , zur Besinnung gekommen . Er küßte ihre Hand . " Verzeih mir ! " sagte er leise und brach hilflos in Tränen aus . " Ruth ! - hast du mich denn gar nicht lieb ? Nicht ein kleines bißchen ? Was - was sind wir uns denn ? was - in Zukunft ? " Sie faßte ihn an beiden Schultern - angstvoll und liebevoll sah sie ihm ins verstörte Gesicht . " Jonas ! Jetzt - und in Zukunft - und immer - Geschwister ! " Er nahm ihre Hände von seinen Schultern , ging langsam die wenigen Schritte bis zur Tür , öffnete sie - und stürzte hinaus , über die Terrasse , die Stufen hinab , und verschwand im Garten . Totenstill wurde es plötzlich im Hause . Nur die Funken knisterten und lohten hell auf im Kamin . Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer Hand . Langsam errötete sie , immer tiefer , bis ihr das ganze Gesicht in Flammen stand . Was tat sie hier - allein - im Hause , - ein Eindringling , - der Jonas hinausgetrieben hatte ? Die Tür war weit offengeblieben . Als sagte sie : " Gehe wieder ! " Ruth sah sich um . Nein , niemand sagte es . Auch Klare-Bel nicht . Nur ihr großer Stuhl stand da , mit einem hohen Schemel davor , - leer . - - - Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete , saß in der Tiefe des Gartens , den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen , Ruth auf der Bank unter den überhängenden Birken . Erik blieb stehen , blickte schärfer hin und kam langsam näher . Sie bewegte sich nicht . Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht in den grauen Frühling hinein , so saß sie da , - in unsicheren Umrissen , - dann immer lebenswärmer , - immer beseelter vor seinen Augen , kein blasses Gedankenbild mehr . Wirklichkeit . Weich hob sich der blonde Kopf ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter , das die Sonne matt durchdrang in einem Schattenspiel von rosigvioletten Farben . Ruth überfiel es lähmend wie eine Schwäche , je näher ihr Erik kam , je näher die Wirklichkeit sie umfing , die unsäglich ersehnte . " Zu Hause ! jetzt erst : zu Hause ! " dachte sie wie im Traum , und ihre Hände hoben sich ihm entgegen . Dies seltsam Stille , dies Unfähige zu jedem Ausbruch , jeder lauten Bewegung , hielt auch Erik davon zurück , - als fürchte er zu verscheuchen , was er endlich wieder so beredt , so wortlos beredt und überzeugend vor sich sah : Blick , Ausdruck , Gebärde . Über Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen , schaukelte sich auf schwankendem Zweig und sang hell . Als Erik vor der Bank stand , flatterte es erschrocken auf und flog davon . Er hatte Ruths Hände ergriffen , er hielt sie fest in den seinen , er zog ihre Hände fest an sich . " Liebe - Liebling ! " murmelte er , den Blick auf ihrem Gesicht . " Ich - - der Brief , - er machte mir Angst , " sagte sie matt , " etwas Fremdes , - Zweifel war darin . Ich mußte fort . " Er hörte nur ihre Stimme , er mußte sie wieder hören . " Mit dem Rotkehlchen - hergeflogen ? " fragte er . Sie sah ihn an - etwas zaghaft , etwas übermütig . " Durchgebrannt ,' sagte sie . Er setzte sich neben sie , ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen . " Von Römers ?! " " Ich mußte . Sie ließen mich nicht . Römer half mir . Aber sie - sie blieb unerbittlich . Wie entsetzt war sie . , Nur jetzt nicht ! ' sagte sie immer . Da brannte ich durch . Noch bei Nacht , - heimlich . Telegraphierte unterwegs . Ich mußte kommen . - Durfte ich ? " Sie fragte er schüchtern , um seine nachträgliche Erlaubnis bange , wie ein Kind . Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knien gelegen , - aber das sagte sie nicht . Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem Gesicht zurück . Ganz wiedersehen mußte er sie . " Ob du durftest ? - Heimkommen , - ja ! Bei Tag und bei Nacht , heimlich und offen . Es war Zeit . Zwei Wochen später wäre ich gekommen - zu dir . Vergiß den Brief , - alle Briefe , - das Fremde , den Zweifel , - vergiß alles - alles . Sei nur bei mir . " Ja , da war es : das Gefühl der Geborgenheit , süß , zwingend , Heimatsgefühl , - nein , mehr als nur das , noch etwas anderes , - dies Unbedingte und Ausschließliche , was ihr keine Macht im Himmel und auf Erden gab : nur er ganz allein . " Was hast du an der Hand ? verletzt ? laß es mich sehen , " bemerkte er und wollte das Taschentuch lösen . Sie zuckte zurück . " Tut es os weh ? " " Nein . Nichts . Bitte nicht , " sagte sie hastig , und ein Schatten glitt über ihr Glück . Erik stand auf . " Komme hinein . Komme , Liebling . Zu Hause bist du erst in meinem Zimmer , - im alten Ledersessel , - nicht wahr ? Und hier ist es noch zu kalt für dich , zu windig . " Während sie auf das Haus zugingen , sagte Ruth : " Unterwegs erfuhr ich durch einen Zufall von der beschleunigten Badereise . Ist es nicht schlimm , daß sie noch in die Schulzeit fiel ? nicht in die Ferien ? Mir tut es so leid , daß ich nicht mehr rechtzeitig - " " Laß das , " unterbrach er sie halblaut , " - ich werde dir später alles erzählen , - später . " Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm . Etwas , was sie fremd berührte , klang aus seinem Ton . Es war nur ein einzelner durchklingender Ton , aber er gehörte nicht zu Erik . Er selbst kam ihr in diesem Augenblick fremd vor . Er sah unverändert aus , - ganz so wie vorher , - bis auf den Blick . Der Blick war verändert , unsicher . Erik ließ sie unvermerkt einen Schritt vorausgehen . Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg , folgten seine Augen aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt . Sie war ziemlich stark gewachsen , gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper schon weiblicher entwickelt . Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen , schmächtigen Formen ab . Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug , störte ihn . " Der Knoten nimmt dich mir fort , - den dulde ich nicht , " sagte er beim Eintreten in den Flur , und ehe sie es gewahr wurde , hatte er mit geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen . In dichten lockigen Wellen fiel es über die Schultern , wie einst . " " Ach nein , - nicht , - wo haben Sie die Nadel ? " fragte sie verdutzt und griff nach dem Rücken . " In meiner Joppentasche . - Aber wiederhole das noch einmal . Nun ? , Sie ? ' oder , Du ? ' Im Brief stand einmal , Du . Nur einmal ? Oder eigentlich - immer ? " fragte er leise . Sie errötete verwirrt . " Sie - - du - - ich - " Die Hand noch in ihrem Haar , bog er sanft , unwiderstehlich , ihren Kopf zurück , so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm aufheben mußte . Sie schloß unwillkürlich , erschauernd , die Augen und gab seiner Hand nach . Leidenschaftlich , tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen . " Mein - - - " flüsterte er . Und er beugte sich , und sine Lippen küßten ihren bebenden Mund . Ruth zuckte unmerklich . Er gab sie sofort frei und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer . " Hier wartet dein alter Platz auf dich , " sagte er und ging nach dem Fenster zu . Aber sie war nicht gefolgt . Dem Fenster gegenüber , am Ofen , blieb sie stehen , den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln gelehnt , die Hände auf dem Rücken verschränkt . Ganz versonnen sah sie hinauf zur Zimmerdecke , mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht . " Was ist dir ? " fragte er unruhig , "- Ruth ! - was ist dir ? " Es drängte ihn , sie in die Arme zu schließen , - sie wachzuküssen . " Du liebst mich , - du liebst mich ja ! Du weißt es noch nicht , aber ich weiß es für dich ! Weiß es gewiß , - fühle es , sehe es , daß sie da ist , - daß deine Liebe , die Liebe des Weibes , da ist ! " Aber er schwieg . Ja , sie war da , - und doch konnte er nicht so handeln , nicht so sprechen , ohne sie zu verscheuchen . Sie war da , - wie das Rotkehlchen auf dem schaukelnden Zweig , das aufflog bei seinem Nahen . Sie war da , - aber greifen konnte er sie nicht . Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus , dann setzte er sich in den alten Ledersessel am Fentser . " Du bist also doch nicht heimgekommen , Ruth , " sagte er , " nicht ganz zurückgekommen zu mir . Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir , - will mich nicht einlassen . Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner Seele . Nicht in alles . Ich bin dir fremd geworden . " Da löste sie sich vom Ofen und kam zu ihm , sie glitt nieder zu seinen Knien - ganz blaß . " Ja , " sagte sie außer sich , "- fremd , - etwas , Fremdes , - ich kann es nicht verstehen , und es quält mich . " " Was ist es ? Sage mir es . " " Ich kann nicht , " murmelte sie . " Doch doch ! Du kannst . Mußt es wieder lernen , - zu sprechen , oder auch nur zu stammeln , aus dem Innersten heraus , - noch aus dem Unklarsten , Unverstandensten - . Es ist nur Scheu . Überwinde sie . " " Es ist , - im Kuß war es , " sagte sie leise . " Hat es dich verletzt , - daß ich dich geküßt habe ? " " Mich ?! verletzt ? mich ?! nein ! - was liegt an mir ? " "- Für mich - alles , Ruth . - Aber warum quält dich es dann ? " Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen . "- Weil - es ist dasselbe , was im Brief war , nur in diesem einen , - als ob er gar nicht von Ihnen käme , - und dann : wie ich von Ihrer Frau sprach im Garten , - und dann : im Kuß , - da fühlte ich es ganz deutlich , das Fremde darin , und daß es - - " " Daß es - ? " " Daß es nicht sein soll , " flüsterte Ruth , " weil es ist , als ob nicht Sie es sind . Ein Fremder . Ein Schlechterer . " Er antwortete nicht . Als sie aufblickte , schüchtern , fragend , da hatte er die Augen geschlossen . Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme : " Du täuschest dich . Es ist nichts Fremdes , - nichts Schlechtes . Ich bin es selbst , - und in dir selbst ist es , - du erkennst es nur nicht - mit deinen Kinderaugen . " Er strich ihr über das Haar hin und sah hinweg über sie , die den Kopf unter seiner Hand gebeugt hielt . " Weißt du noch , - als du das erste Mal hier warst , - was wir da an dieser Stelle miteinander sprachen und was ich dir versprach ? Ich wollte dich aus der Welt der Phantasie , wo du träumtest , in die Welt des wirklichen Lebens führen . Daß ist damals geschehen , Ruth , und du bist das Kind nicht mehr , das träumt , sondern ein voll erwachender Mensch , der lebt , - lebt mit allen seinen jungen Kräften . Aber weißt du , wodurch das gelang ? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe bestimmen und entwickeln können ? Nur weil es einen einzigen Punkt gab , wohin sich alle vertriebenen Traumgeister , alle verstummten Märchen , alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten . Dieser Punkt war dein Verhältnis zu mir . Da ging dein Blick noch nicht auf die Wirklichkeit , sondern über jede Wirklichkeit weit hinaus auf alles , was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist . Da lebtest und gehorchtest du nicht einem Menschen , sondern einem in deinem Inneren über alle Menschen emporgehobenen Bilde . Aber diese ganze Traumschönheit , Ruth , worin dein Verhältnis zu mir noch steht , - sie ist doch nur eine glänzende , strahlende Form , eine kindliche Umhüllung , - nicht das Wesentliche daran . In ihr schläft , wie in einem Märchen , die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet drauf , daß sie erwachen darf . Erwachen aus dem Traum zum Leben , wie dein ganzes übriges Wesen . " Er brach ab . Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf , bemüht , seinen Worten genau zu folgen . " Deine schönen Märchengeschichten , " fuhr er nach einer kurzen Pause fort , " habe ' ich dir zerschlagen müssen , wiel sie diene volles Leben aufhielten . Das schmerzte nicht sehr , denn die saßen ja nur in deinem Kopf . Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß , die mit deinem ganzen Herzen verwachsen ist , - und dir damit Schmerz zufüge , - wirst du dein Vertrauen behalten , Ruth , - deine Liebe - zu mir ? " Sie versuchte aufzustehn , ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich . Er hielt sie zurück . " Höre mich , Ruth . Wenn ich dir nun sagen würde : der Brief , daß der dir fremd klang , war , weil ich selbst in Zweifel und Zweispalt und Angst war ; - daß ich dich küßte , war , weil ich nach Glück durstig war und mein Glück nicht länger entbehren kann ; - daß ich es nicht ertrug , dich von meiner Frau sprechen zu hören , war , weil - ich keine Frau mehr habe , - weil sie sich von mir trennen wird . " " Nein ! " sagte Ruth atemlos , " das würde ich nicht glauben . Nicht glauben , auch wenn Sie es mir - - . Nie und nimmer kann das sein . Kann nicht . Denn sie - sie war ja so glücklich - bei Ihnen . " " Sie !? " antwortete er schwer , "- ja , Ruth , - sie war es wohl - früher . Nicht ihretwegen muß es sein . Meinetwegen . Deinetwegen . " Ruth hatte sich langsam erhoben . Auf ihrem Gesicht prägte sich ein grenzenloses Befremden aus , - Zweifel , Unglaube , ja Entsetzen prägten sich darauf aus . Ihr war , als müsse sie nach einem Entfernten , - nach Erik rufen , - ihn zu ihrer Hilfe rufen gegen einen Unverstandenen , Unbekannten . Aber er - er war es ja gerade , der da vor ihr stand- . Erik sah den Wechsel in ihren Zügen , die Selbstbeherrschung veließ ihn . Er fühlte nur noch Angst , - die Angst , sie zu verlieren . " Ruth ! " rief er , " verzeih , daß du vor mir gekniet hast . Ich will es tun vor dir . Nur sei mein ! Nicht nur mein Kind mehr , - du bist kein Kind mehr , - ein Weib , - mein Weib ! " In diesem Augenblick wurde die Tür vom Flur aus aufgerissen . Jonas erschien auf der Schwelle . Er trat nicht ein . Er warf die Tür wieder ins Schloß . Man hörte ihn sich entfernen . " Jonas ! " murmelte Ruth halb bewußtlos , "- wir müssen , - er hat gehört , - wir müssen nach Jonas sehen . " Während sie es sagte , ertönte ein dumpfer Fall . Erik sprang auf . Ruth war schon bei der Tür . Sie öffnete sie . Im Flur lag Jonas am Boden , - lang hingestreckt . Mit dem Kopf war er im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen . Über seine linke Schläfe träufelte Blut . Ruth stieß die Mitteltür auf . Sie half Erik , ihn in das anstoßende Zimmer auf sein Bett zu bringen . In den nächsten Minuten sprachen sie kein Wort . Sie waren stumm um ihn beschäftigt . " Die Wunde ist gering , " sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut , - und dann , über ihn gebeugt . " Er kommt zu sich . " Ruth fuhr zusammen . Sie trat vom Bett zurück , ihre Augen richteten sich auf Jonas mit einem Ausdruck von Grauen , daß er sie erkennen , - daß er sie sehen könnte . Sie machte Erik ein stummes Zeichen und ging leise in sein Arbeitszimmer zurück . Dort blieb sie verwirrt stehen . Hier ? Hier konnte sie noch weniger bleiben . Wo denn ? Nirgends konnte sie bleiben , - nirgends . Im ganzen Hause nicht . Sie mußte also fort . Fort , ehe ' Erik kam . Fort , ehe Jonas kam . Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Tür zu , durch die sie soeben aus den Schlafzimmern eingetreten war . Nein , - wohin ? Dorthin durfte sie nicht ! Abschiednehmen ? von wem ? Ohne Abschied mußte sie fort . Heimlich . Unbemerkt . - Für immer ? Sie trat in den Flur hinaus , - wie hinausgetrieben von ihren eigenen verwirrten Gedanken . Dort blieb sie von neuem zaudernd stehen . Auf dem Boden , wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war , sah man ein paar kleine hellrote Fleck . Darüber , am Ständer , hing Eriks Mantel . Der weite dunkle Reisemantel , den er damals trug , - als sie fort sollte - und er heimkehrte - und sie ihm an die Brust fiel - - Ruth stand und starrte den Mantel an . Mit klopfendem Herzen und verhaltenem Atem . Und plötzlich , da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit sich fort - wild , glühend , unerträglich , - das Trennungsweh . Mit den Händen faßte sie in den Mantel , sie vergrub ihr Gesicht in seinen losen weichen Falten , mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen Duft in sich ein , der sie an Erik erinnerte , mit bebenden Lippen küßte sie den Saum . Damals - wenn er ihr befohlen hätte , ihm zu folgen , wohin es sei , wozu es sei , - bis in den Tod , bis in das Verbrechen hinein , - hätte sie es nicht blind getan ? Sie drückte die Zähne zusammen ; sie stöhnte , und ihr war , als müßte sie gleich laut schreien . O Gott , auch jetzt , - wenn er ihr befohlen hätte , ihm zu folgen , wohin es sei , wozu es sei , - sie hätte es blind getan ! Blind gehorchend , - gegen allen Augenschein , gegen alles eigene Wissen und Verstehn ! Mit ihr durfte er tun , was er wollte . Was ihr auch durch ihn geschehen mochte , - was lag an ihr ? Er aber mußte für sie da oben bleiben , wo sie ihn gesehen hatte , - sein Leben und sein Haus mußten bleiben , was sie gewesen waren , - an ihm lag alles ! War es sonst noch Erik ? Sie sah ihn vor sich wie in weiter Ferne , wie er im vergangenen Mai im Mittagssonnenschein dastand , lichtüberstrahlt , die kranke Frau in seinen starken Armen . So hatte ihn Ruth zuerst mit ihr gesehen , - so ihn geliebt und angebetet , daß selbst das Mitleid darüber verflog . " Du allzu leichte Last ! " scherzte er , und Klare-Bel lachte dazu und schlang vertrauend die Hände um seinen Nacken . Aber nun - nun riß er ihr die Hände vom Nacken , und das glückliche vertrauende Lachen verstummte , - und sie , die sich an ihm festgehalten hatte , ließ er fallen , - er öffnete die Arme und ließ sie , die Hilflose , zu Boden fallen , - denn eine Last war sie , eine allzu schwere Last für seine Kraft . Frei haben mußte er die Arme , die sich ausbreiteten nach Ruth . ---------- Ruth richtete sich auf , sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube . Auf dem Schreibtisch lag ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter . Sie beugte sich darüber und fing an zu schreiben . " Ich muß fortgehen ! " schrie es in ihr . Aber Eriks Bleistift formte die Buchstaben ganz anders . So kam heraus : " Ich gehe nicht fort . Ich gehe und bleibe Ihr Kind . " Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine fremde Schrift . Das wollte sie also tun ? Ja , das wollte sie . Er hatte ja heute gesagt , das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen , in ihrer Einbildung , daß sie sich als sein Kind gefühlt habe , - so ganz als sein Kind . Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden . Wenn sie selbst es verwirklichte . Es in ihrem ganzen künftigen Leben verwirklichte . Wenn sie ganz das wurde , was er sie gelehrt , was er mit ihr gewollt hatte , als er sie zu sich nahm . Ein Stück von ihm , ein Werk von ihm . Sie hatte ja alles von ihm , - nur von ihm allein . Sie kannte alle seine Gedanken , alle seine besten . Die sollten lebendig werden , nicht nur geträumt : gelebt . Von ihr für ihn . Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl . Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zumute , sondern elend und hilflos . Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen : sich auf den Boden zu werfen und zu weinen . Erik herbeizuweinen . Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme , - seinen eindringlichen , kurz überredenden Ton : " Den eigenen Willen festhalten ! Haltung ! Sich selbst gehorchen , - hörst du ? " Das war doch sonderbar . Klarer , sicherer , wesenhafter denn je stand er bei ihr : Erik gegen Erik . Leise schlich sie sich aus dem Hause . Unten erst , an der Gartenpforte , blieb sie stehen und blickte zurück . Nein , dafür konnte er nichts , - Erik konnte nichts dafür , daß er anders war , und das Leben anders war , als sie es sich ausgedacht hatte . Im wirklichen Leben gab es nun einmal gar nicht ihre Phantasiegeschichten . Die mußte man erst hinzutun . Und hatte sie alles das nicht nur geträumt , - das ganze verflossene Jahr ? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelgesang , da mochte es ihr wohl scheinen , als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai , wo sie bange und allein , arm und einsam , hier an der Pforte lehnte un dein den Garten sah . Damals meinte sie : von hier ginge der Frühling aus , der ganze wurderschöne , der draußen blühte . Und da träumte sie sich ein Märchen , das " allerschönste von allen " . Ja , das allerschönste von allen . So schön , daß sie es nie wieder vergessen konnte . Nein , niemals . So schön , daß sie es nie hergeben konnte für etwas anderes , was ihr das Leben bot . Niemals . So schön , daß es nichts mehr geben konnte , - im ganzen Leben nichts , - was sie nicht immer daran messen , immer damit vergleichen , - und zu gering befinden würde . ---------- Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus . Ohne es selbst zu wissen , hob sie ihre Hand und strich leise , liebkosend über die kahlen harten Fliederzweige hin , die den Zaun in dichtem Buschwerk umwuchsen . Dann ging sie , ohne sich noch einmal umzuwenden , mit gesenktem Kopf den Landweg zwischen den Birken zur Station zurück , und ihr langes loses Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde . Erik stand noch bei Jonas am Bett . Jonas hatte die Augen aufgeschlagen , den Vater neben sich erblickt , war zusammengezuckt und hatte von neuem die Augen geschlossen . Kein Wort fiel zwischen ihnen . Erik begriff nun den ganzen Zusammenhäng , begriff vieles , wofür ihm wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen , wenn er dafür Gedanken übrig gehabt hätte . Der atemlose Fleiß von Jonas , seine Begierde nach Selbständigkeit , sei es auch im engsten Leben , - dieser Anstrich von Philistrosität , diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und Torheit wurden Erik jetzt verständlich . Nicht Mangel an Temperament , an Jugendfeuer , war das gewesen , - sondern eiserne Ausdauer , Selbstbeherrschung . Kinderei oder nicht , - es lag Kraft darin . Er achtete seinen Jungen . Aber der - - achtete ihn nicht . Jetzt , in dieser Stunde , nicht . Ein ganz neues Verhältnis zu seinem Sohn , ein ganz neuer Kampf erwartete jetzt Erik , und er mußte von nun an seine volle Kraft zusammennehmen , um darin zu siegen . Ein leises Knarren der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken . Bei dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck . Er öffnete die Tür zu sienem Arbeitszimmer . Ruth war nicht darin . Er ging über den Flur ins Wohnzimmer . Ruth war nicht da . Erik stieg in den Garten hinunter . Eine furchtbare Beklemmung drückte ihn die Brust zusammen . " Ruth ! " reif er laut und erkannte seine eigene Stimme nicht . Alles blieb still . Es blieb still , wie weit er auch hineinging , bis an die Bank vor dem Gehölz . Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang . Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken : ganz regungslos saß es da , mit erhobenem Köpfchen , ganz selbstvergessen , - und sang und sang in den grauen Frühling hinein .