49. Uber Cap. IV. v. 12. Meine schwester, du bist ein verschlossner garten, ein verschlossner quell, ein versigelter Brunn. Dein gewächs ist wie des Paradises granat-äpffel mit der frucht köstlicher dinge. Im Thon: Ich habe funden, den ich liebe. 1. Verborgnes licht, geheimes leben Der Göttlichen vollkommenheit, Wer kennet deine reinigkeit? Wem hast du dich zu eigen geben? Ja niemand weiß von deinem Namen Noch mercket deiner weißheit spur, Wiewol dein unbefleckter samen Liegt in der menschlichen natur. 2. Wer geht in den verschlossnen garten? Nur der wie du verschlossen ist: Denn wem du wie ein brunnen bist Entdeckt, muß deiner treulich warten. Bey deinen freunden bleibst du stehen Als jungfrau voller heiligkeit: Wo aber sie zu andern gehen, Entziehst du deine herrlichkeit. 3. Du gehst zwar jeder seel entgegen, Erscheinst in ihrem tieffsten grund, Und bist so nah in ihrem mund, Daß sich ihr fluß nicht darff bewegen, Noch weit aus ihrer heimat reysen. Sie finden dich in ihrer Thür Des hertzens ruhen und beweisen, Wie sehnlich du sie ziehst zu dir. 4. Doch kennen sie die treue stimme Das locken und bestraffen nicht, Das im gewissen stets geschicht, Sie von natur und bitterm grimme Von blind- und thorheit zu erlösen. Du bleibst den meisten unerkannt, Das thier, das niemals klug gewesen, Nimt lieber erd und koth zur hand. 5. Ach edler schatz, du kannst kaum finden Ein eintzig Hertz, das dir gehorcht Das vor die rechte ruhe sorgt, Und sucht mit dir sich zu verbinden. Geh aber nun mit starcken schritten Aus dem verborgnen licht heraus, Und laß dich unsre noth erbitten Zu wohnen in dem wüsten haus. 6. Und wie du in dir selbst verschlossen, Verriegelt und versigelt bist, Daß, was gemein und unrein ist, Die wahrheit niemals hat genossen: So leg in uns auch solche kräffte Der stille und verborgenheit, Jungfräulich-züchtiger geschäffte Bey tieffester verschwiegenheit. 7. Laß augen, ohren händ und füsse An deiner zucht gebunden seyn, Daß auch nicht unter gutem schein Das hertz von etwas fremdes wisse, Als von gemeinschafft mit den quellen, Die rein und crystallinisch sind: Damit dein hertz mich von den wellen Der falschheit nicht getrübet find. 8. Ach nimm mich mit in deinen garten, Der als ein Paradis ausgrünt, Und mir mit neuen früchten dient: Nur Thau von oben zu erwarten, Und krafft der sonne samt den regen, Sonst sey er um und um verzäunt: Kein freund soll seine frucht drein legen, Und hätt ers noch so gut gemeint. 9. So halt ich mich zu dir, mein leben, Und du bleibst meine jungfrau braut. Wer sich einmahl mit dir vertraut, Bleibt an der creatur nicht kleben. O siegle, schließ und wach und hege Dein eigenthum, dein liebstes Guth, Daß sich mein Geist in dir nur rege Und stehe stets auff seiner huth. 10. Ach sperr des innern menschens garten Vor den subtilsten feinden zu, Die seine blüthe, frucht und ruh Zu rauben tag und nacht auffwarten. Wenn ich geheim mit dir umgehe, So weiß ich, daß ich sicher bin, Und weiter nirgends hin mehr gehe: Nach der gewißheit steht mein sinn.