Ein Tagebuchblatt 1885. Wie lang ist's her? Erst sieben Jahre! Und doch klingt's schon: »Es war einmal!« Der Wiege näher als der Bahre, Ging ich tagtäglich ins Pennal. Ich war ein träumerischer Junge, Las Cicero und Wilhelm Hauff Und trug das Herz auf meiner Zunge Und spießte Schmetterlinge auf. Auch lief ich, Katzengold zu suchen, Oft tagelang im Wald umher Und schwärmte unter hohen Buchen Von einstger Nimmerwiederkehr. Betäubend dufteten die Kressen, Grüngolden floß das Licht herein – Es war ein seeliges Vergessen, Vergessen und Vergessensein. Der Lenzwind ließ die Aeste knarren, Vom Dorf herüber klang die Uhr, Ich lag begraben unter Farren Und stammelte: »Natur! Natur! In alten Büchern steht geschrieben, Du bist ein Weib, ein schönes Weib; Ich bin ein Mensch und muß Dich lieben, Denn diese Erde ist Dein Leib! Weh jenem bleichen Nazarener! Er stieß Dich kalt von Deinem Thron! Ich aber bin so gut wie Jener Der Gottheit eingeborner Sohn! Ich will nicht mönchisch Dich zergeißeln – Her, Deinen Freudenthränenwein? Ich will Dein Bild in Feuer meißeln Und Vollmensch wie ein Grieche sein! Doch Du, um die in ew'gem Schwunge Die Welt sich dreht, o Poesie, O lege Gold auf meine Zunge Und in mein Herz gieß Melodie! In ew'ge Lieder laß mich weben, Wie Du das Herz mir süß erhellt, Und wie so köstlich doch dies Leben Und wie so wunderschön die Welt! Noch gährt's von Blinden und von Tauben Und mehr als ein Herz ward zum Stein, Ich aber lehre sie wieder glauben, Ich will der neue Johannes sein! In Deine Wunder will ich wiegen Die Sehnsucht ihres kranken Seins, In Deine Arme will ich sie schmiegen, Denn ich, Du, sie ... o wir alle sind Eins!« So lag ich träumend einst im Walde, Wenn tiefblau rings der Himmel hing, Bis draußen hinter grüner Halde Die Sonne blutroth unterging. Dann schritt ich heimwärts, und mit Singen Begrüß' ich meines Vaters Haus Und schaute, wenn die Sterne gingen, Noch lange in die Nacht hinaus. Und jetzt? – Die heimathlichen Thäler, Die seine Jugend grün umrauscht, Hat längst der lyrische Pennäler Für eine Weltstadt eingetauscht. Er sieht mit Schauder, wie das Laster Sich dort juwelenfunkelnd bläht, Das Elend aber tritt das Pflaster Von morgens früh bis abends spät! Er hört, wie nachts in den Fabriken Der Proletar nach Freiheit schreit, Indeß ein Volk von Domestiken Dem nackten Recht ins Antlitz speit! Er fühlt wie wilde, wilde Flammen Ihm heiß und roth das Hirn durchlohn, Und beißt die Zähne fest zusammen Und murmelt Hohn, Hohn, dreimal Hohn! Er sieht, er hört, er fühlt den Jammer Und wandelt tags von Haus zu Haus Und grollt dann nachts in seiner Kammer Sein Herz in wilde Lieder aus. Er hat es längst, schon längst vergessen, Wie wohl im Lenz die Sonne thut, Und wie's im Wald, umblüht von Kressen, Sich einst so schön, so schön geruht! Nur manchmal, manchmal noch durchziehen Sein Herz, das nach Erlösung schreit, Die grünen Waldhornmelodieen Der längst verrauschten Kinderzeit. Dann stöhnt er auf, und seine Hände Preßt er verzweifelt vors Gesicht Und rings die weißgetünchten Wände Erzittern, wenn er schluchzend spricht: »O Poesie, Du Heiligschöne, Von Thränen ist mein Herz durchnäßt, Weil Du den treusten Deiner Söhne In Nacht und Noth verkümmern läßt! Ich war ein Kind und sprach: ›O schütte Dein Füllhorn golden in mein Lied Und laß mich knien in einer Hütte, Auf die der Stern der Liebe sieht. Ja, laß auf einem weißen Zelter Mich fliegen in den Sonnenschein, Laß aus des Lebens Freudenkelter Mein Herzblut sprühn als Liederwein!‹ Du schwebtest segnend durch die Lüfte, Ich hab Dir selig nachgeblickt, Und Lenzgoldlicht und Blüthendüfte Hast Du mir lächelnd zugenickt. Und doch, und doch! Du hast gelogen! Dein Lächeln war ein schönes Gift! Du hast mich um mich selbst betrogen! Dein Herz ist schwarz wie Deine Schrift! Du gabst mir einen wilden Rappen, Umschnürtest meine Brust mit Erz Und unter Thränen in mein Wappen Hast Du gestickt ein blutend Herz!«