Louise Aston Lydia So bitter ist ein ganzes Meer von Galle nicht, als eines stolzen Weibes Thräne, der eig'nen Schmach geweint! 1. Kapitel Erstes Kapitel »Das nenn' ich in der That ein eigenthümliches Spiel des Zufalls, Cornelia, daß ich Sie hier wiedertreffen muß!« – rief ein junger Mann in elegantem Reisekostüm auf der Promenade des deutschen Bades Pr---t einer nicht minder elegant, aber weniger geschmackvoll gekleideten Dame zu, deren ganze Erscheinung den Eindruck machte, als wollte sie den natürlichen Reiz der Jugend, welcher den Zügen ihres Gesichts bereits entflohen war, durch künstliche Mittel mit Gewalt an sich fesseln. »Des Zufalls, lieber Baron? des Glücks, wollen Sie sagen. – Wahrhaftig des Glücks, für mich wenigstens« – setzte sie mit halb aufrichtiger, halb ironischer Stimme hinzu, während ein eigenthümliches Lächeln um ihren farblosen, dünnen Mund spielte. Bekanntlich hat der Mensch vor den Thieren – den Affen etwa ausgenommen – unter vielen anderen Vorzügen hauptsächlich zwei, die ihn ganz besonders charakterisiren: das Lachen und das Weinen. Von diesen ist aber wiederum das Lachen eine Fähigkeit, die die meisten und mannichfaltigsten Modificationen besitzt, vom Grinsen des Kretins und des Affen bis zum feinen, viel deutigen und nichts sagenden Lächeln des Diplomaten, vom einfältig ehrlichen Ausbruch der derben Fröhlichkeit des Bauernsohns bis zum huldreichen Beifallslächeln eines erhabenen Mäcen. In allen diesen verschiedenen Arten und den unzähligen dazwischen liegenden helleren oder dunkleren, zarteren oder gröberen Schattirungen zeigt sich mehr als in irgend einer andern geistigen Funktion und Seelenäußerung des Menschen das treueste und markirteste Abbild seines individuellen Gepräges, nicht blos in intellektueller, als auch in sittlicher Beziehung. Corneliens Lachen hatte besonders das Eigenthümliche, daß die übrigen Züge außer dem Munde meistens ganz unberührt davon blieben. So zeigte sich auch jetzt auf ihrem Gesichte nicht die geringste Veränderung weder in Ausdruck noch in der Farbe. Der Baron von Landsfeld – so hieß der junge Mann – bot ihr lachend den Arm. »Seid wie lange sind Sie aus Venedig zurück, Cornelia? Ich erinnere mich, daß Sie bei unserem letzten Zusammentreffen dort die Absicht aussprachen, nach Palermo zu gehen.« Er warf einen schnellen, aber stechenden Blick auf sie. Wirklich schien es, als ob durch die unangenehme Empfindung, welche in Cornelien durch die Worte ihres Begleiters erregt wurde, die harten steinernen Züge ihres Gesichts einen noch schärferen Ausdruck annahmen. Sie mochte dies fühlen, denn sie bemühte sich augenscheinlich, den starren Ernst ihrer Mienen, unter dem sie die Bewegung ihres Innern zu verstecken pflegte, in ihr gewöhnliches Lächeln umzuschmelzen, welches aber diesmal sich zu einer unheimlichen Grimasse verzerrte. »Lassen wir das, Baron« – sagte sie freundlich. »Ueberhaupt möchte ich Ihnen einen Kontrakt vorschlagen für die Dauer unseres hiesigen Beisammenseins, im Falle Sie nämlich gesonnen sind, längere Zeit hier zu verweilen. Ich gebe Ihnen in voraus die Versicherung, daß für das kleine Opfer, welches Sie mir bringen müssen, Ihnen reichliche Entschädigung werden soll. Es giebt hier unglaublich viel Namen, resp. Menschen mit Eitelkeit und Pedanterie im Kopfe oder Wärme im Herzen, an denen Sie Ihr Müthchen kühlen können. Doch davon später. Was mich betrifft, so gestehe ich Ihnen offen, daß mir an Ihrer Gesellschaft viel, sehr viel gelegen ist, daß ich trotzdem aber entschlossen bin, sie zu entbehren, wenn Sie mir nicht das Versprechen geben – mich zu schonen.« – Die letzten Worte sprach Cornelia mit einem gewissen Zögern, indem sie zugleich die Stimme etwas sinken ließ. Der Baron ließ ihren Arm los und sah ihr mit unverkennbarem Erstaunen, aber auch mit unverhehlter Freude in's Gesicht. »Ist's möglich, Cornelia? Sie fangen an, Empfindung zu bekommen? Sie gestehen ein, daß auch Sie der Schonung bedürftig sind, daß Sie folglich verletzt werden können? Nun wahrhaftig, wenn das kein wunderbares Naturspiel ist, dann weiß ich nicht, ob es noch etwas Anderes sein kann, als ein eben so wunderbares Meisterstück – der Kunst.« »Sie irren sich in Beidem. Ich bin weder aufgelegt, sentimental zu werden, noch die Sentimentale zu spielen. Die einfache Thatsache ist die, daß ich einmal Vergnügen daran finde, aufrichtig zu sein – natürlich nur gegen Sie.« »Sehr verbunden,« sagte der Baron, indem er ihren Arm wieder in den seinigen legte. »Und womit habe ich diese unschätzbare Gunst verdient, wenn die Frage gestattet ist?« »Es ist weder eine Gunst, lieber Baron, noch wüßte ich, womit Sie sie verdient hätten, wäre es eine. Nein, nein. Sie sind in dieser Rücksicht, glaub' ich, nicht eitel genug, als daß ich Sie mit Erfolg täuschen könnte, vorausgesetzt, daß ich Zwecke durch Sie zu erreichen wünschte, deren Wichtigkeit mich für die Mühe eines solchen Täuschungsversuches entschädigte. Alles dies findet nicht statt; Sie haben also die Gewähr für meine Aufrichtigkeit. Sind Sie mit dieser Erklärung zufrieden?« »Allerdings, in so fern ich wohl mit Recht vermuthen darf, daß Sie mich in die weiteren und positiven Zwecke Ihrer Aufrichtigkeit zu mir nicht einweihen werden.« »Ich bewundere eben so wohl Ihren Scharfsinn, Baron, als Ihr Zartgefühl, und danke Ihnen, daß Sie mir eine abschlägige Antwort erspart haben.« »Gut« – erwiederte Landsfeld nach einer kurzen Pause, in der er über Etwas nachzusinnen schien – »ich nehme die Bedingung an; schon deshalb, weil auch ich Ihren nähern Umgang schmerzlich vermissen würde. Aber die Entschädigung – sprachen Sie nicht davon?« Cornelia lachte. »Wie plump gebehrdet Ihr Männer Euch doch, so bald Ihr zu heucheln versucht. So haben Sie an meinem Umgange also doch nicht genug? Sie sind so wenig galant, dafür noch eine besondere Belohnung zu verlangen, daß ich Ihnen Gelegenheit gebe, Ihre malitieuse Natur etwas zu humanisiren, indem ich Sie zu einem rücksichtsvollen Benehmen gegen mich zwinge? – Sie zucken die Achseln? Gut denn, aber ich wasche meine Hände in Unschuld. – Hm! was würden Sie zum Beispiel zu der Nachricht sagen –« fuhr Cornelia, den Zeigefinger auf die Kinnspitze legend und mit lauerndem Blicke von unten herauf den Baron fixirend, eine Mischung von feierlicher Langsamkeit und banaler Gleichgültigkeit im Ton fort – »was würden Sie dazu sagen, daß Alice von Rosen hier ist?« Cornelia fühlte es an dem leisen Zittern seines Arms, daß der abgeschossene Pfeil sein Ziel nicht verfehlte. In der That wäre selbst dem unbefangenen Zuschauer seine Bewegung nicht entgangen. Sein Gesicht überflog eine schnelle, fieberhafte Röthe. Doch im nächsten Augenblicke antwortete er mit großer Ruhe: »Ich würde sagen, daß es eine abscheuliche Lüge ist.« »Auch wenn ich Sie versichere –« »Eben deshalb« – erwiederte er mit einer Lebhaftigkeit, die ihm von neuem das Blut in's Gesicht trieb. »Fangen auch Sie an, Empfindung zu bekommen, Sie armer Freund« – sprach Cornelia in mitleidig ironischem Ton, während ihre Züge theils den Ausdruck tiefen Hasses, theils dämonischer Schadenfreude annahmen. »Ich habe meine Empfindung« – entgegnete der Baron in immer größerer Aufregung, obwohl er äußerlich gefaßt in die blaue Luft hineinstarrte – »noch nie hinter einer erbärmlichen Maske von Trockenheit und Kälte zu verstecken nöthig erachtet, gnädiges Fräulein, auch nicht nöthig gehabt , da sie nicht so rein aristokratisch ist, wie die Ihrige. – Doch wozu ärgern wir einander, Cornelia? Haben Sie den Kontrakt nur vorgeschlagen, um das wohlfeile Vergnügen zu haben, ihn zuerst brechen zu können? Sagten Sie nicht, ich sollte Sie schonen? Ha, ha! Thor, der ich war, in diese Falle zu gehen.« Er fing wieder an zu lachen. »Wir sind nun quitt, Baron, und bedürfen meines Erachtens jetzt keines Kontrakts mehr. Indeß täuschen Sie sich diesmal über meine Absicht, wie Sie sich nachher überzeugen werden. Jetzt aber will ich Ihnen erzählen, warum ich nicht nach Palermo gegangen; vielleicht wird das Ihr Blut so weit abkühlen, daß Sie im Stande sind, anderweitige und für Sie interessantere Mittheilungen anzuhören, ohne mir den Dank in Sottisen abzutragen. Seien Sie ruhig, ich schweige schon« – fügte sie beschwichtigend hinzu, als sie seine Stirn sich in drohende Falten legen sah – »und nun hören Sie: Sie wissen, daß ich kein Hehl aus dem eigentlichen Zweck meiner italienischen Reise machte. Zwei Jahre hatte ich bereits in Berlin geweilt, wo Schattenfrei bei der französischen Gesandtschaft angestellt war, und noch immer war es mir nicht gelungen, mit ihm zusammen zu kommen, geschweige ihn an mich von Neuem zu fesseln. Seine Frau, die übrigens, wie man so sagt, ein liebenswürdiges, gutmüthiges und harmloses Ding sein soll, war mir sehr im Wege. Ich zerbrach mir Tag und Nacht den Kopf über die Auffindung eines geeigneten Mittels, das ihn veranlassen könnte, mich zu besuchen –« »Man will wissen, daß Sie sich einmal doch im Theater trafen, ich glaube der ›Liebestrank‹ wurde gegeben« – sagte der Baron mit hervorgehobenem Accent. Cornelia warf einen stechenden Blick auf ihren Begleiter »Schweigen Sie, bis ich zu Ende bin. –« Der Baron lachte. »Das sind die Folgen davon, wenn man einen Kontrakt vorschlägt, und ihn zuerst bricht. Jetzt fahren Sie fort, ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.« Cornelia unterdrückte eine Antwort, die ihr auf der Zunge lag und erzählte weiter: »Nach vielen vergeblichen Versuchen hatte ich mein Vorhaben fast aufgegeben, als ich zufällig in einer Gesellschaft davon reden hörte, Schattenfrei werde zur Wiederherstellung seiner Gesundheit eine Reise nach Palermo machen. Ich forschte genauer nach. Richtig, in vierzehn Tagen wollte er abreisen und zwar allein, ohne seine Frau. Mein Plan war kurz gefaßt. Ich wollte ihm zuvorkommen, ihn in Venedig, das er doch ohne Zweifel passiren würde, erwarten und empfangen. In vier Tagen war ich reisefertig, – in einer Woche war ich in Venedig. Das Abenteuer, das ich mit dem jungen schwärmerischen Menschen dort hatte, kennen Sie, es half mir wenigstens die Zeit verkürzen. Endlich war meiner Berechnung nach der Zeitpunkt gekommen, an dem Schattenfrei eintreffen mußte. Alle Vorbereitungen waren getroffen. So bald er das Thor passiren würde, sollte ich davon benachrichtigt werden. Aber vergeblich harrte ich auf die frohe Botschaft. Zwei Tage waren schon über den Termin hinaus vergangen, da kamen Sie mit Frau von Rosen nach Venedig. Auch Sie wußten mir Nichts über den Erwarteten mitzutheilen. Meine Unruhe nahm von Stunde zu Stunde zu. Sie hielten mich und Alice damals für die innigsten Freundinnen.« – »Und Sie waren es nicht?« – fragte der Baron erstaunt. »Im gewissen Sinne allerdings, in so fern wir uns redlich in Rücksicht auf unsere besondern Pläne in die Hände arbeiteten. Außerdem aber haßten wir uns eben so redlich, verleumdeten uns nach Frauenweise und heuchelten einander die innigste Seelengemeinschaft vor.« – »Und warum das?« »Theils aus rein künstlerischem Vergnügen, theils auch, um uns in Uebung zu erhalten, damit wir uns vor Andern, besonders vor Ihnen, nicht durch ein unvorsichtiges Wort oder eine impertinente Miene kompromittirten.« »Vor mir?« »Freilich. Hören Sie nur weiter. Alicen lag viel daran, Sie auf eine kürzere oder längere Zeit aus Venedig zu entfernen.« »Wahrhaftig?« – fragte der Baron ironisch – »und wozu, wenn ich bitten darf?« »Einen Augenblick Geduld. Wie war das zu machen, ohne Ihren Verdacht zu erregen und ohne an Ihrer Weigerung zu scheitern. Alice zeigte sich also sehr bekümmert über meine Unruhe, die auf den höchsten Grad gestiegen war, als ich die Nachricht erhielt, Schattenfrei habe die Tour über Genua eingeschlagen, um von dort zur See nach Palermo zu gehen. Zugleich aber war die Nachricht zu wenig verbürgt, als daß ich auf's Gerathewohl Venedig verlassen konnte. In dieser Noth wandte sich die über meine verzweifelte Lage sehr betrübte Alice an Sie mit der Bitte, auf etwa acht Tage nach Genua zu gehen und mich, im Fall ›Schattenfrei‹ dort eintreffen sollte, sogleich davon zu benachrichtigen. Durch welche Gründe Alice Sie von der Nothwendigkeit ihres Zurückbleibens in Venedig überzeugte, weiß ich nicht.« »Sie fühlte die sittliche Verpflichtung, in diesem Falle die Liebe auf kurze Zeit der Freundschaft zu opfern – und wollte Sie in dieser angstvollen Stimmung nicht allein lassen.« Cornelia lachte höhnisch. – »Wie waren Sie damals blind, armer Baron. Im Grunde ihrer Seele war Alice über Nichts erfreuter, als über meine Angst, und sie hätte nicht einen Finger gerührt, mich davon zu befreien, hätte es nicht in ihrem Plan gelegen. – Sie reis'ten ab und kurz nach Ihnen machte Alice mit dem Herrn Berger, der ihr, unbemerkt von Ihnen, aber nicht von ihr, bis nach Venedig gefolgt war, einen Ausflug ins Tyroler Gebirge. Beim Abschiede bat sie mich, alle Briefe an Sie von Venedig aus zu befördern. So war jeder möglichen Entdeckung ihrer Entfernung vorgebeugt. Es vergingen abermals acht Tage. Schattenfrei kam immer noch nicht, Ihnen wurde in Genua die Zeit lang, Alicen wurde sie in Tyrol kurz: der Augenblick nahte, den wir zur Wiedervereinigung bestimmt hatten. Aber ich wartete vergeblich. Weder Sie, noch Alice kehrten zurück. Ueberdies erhielt ich einen Brief aus Deutschland, worin mir mitgetheilt wurde, daß Alice ›Schattenfrei‹ mit meiner Absicht, ihn in Venedig zu erwarten, bekannt gemacht und ihm den Rath gegeben, weder über Venedig noch über Genua nach Süd-Italien zu gehen, wenn er überhaupt es nicht vorzöge, anders wohin seine Schritte zu lenken, im Fall er ein Zusammentreffen mit mir vermeiden wolle. So war ich nun völlig im Unklaren. War er doch nach Palermo gegangen oder nicht? Sollte ich auf die Ungewißheit hin die weite und gefahrvolle Reise unternehmen, abgesehen davon, daß meine Kasse nicht zum Besten bestellt war? Ich faßte einen schnellen Entschluß und ging nach Deutschland zurück, mit der Absicht, ihm bei seiner Zurückkunft in den Weg zu treten. Daraus, daß Alice mir diesen hinterlistigen Streich aus Italien, oder wo es sonst sein mag, gespielt hatte, ersah ich jedoch mit einer Art von Genugthuung, daß Sie mein Leidensgefährte sein mußten, weil sie sonst in Betreff meiner mit mehr Vorsicht gehandelt hätte.« – Bei diesen Worten warf Cornelia einen forschenden Blick auf den Baron und fuhr dann fort: – »Es konnte ihr also nichts mehr daran gelegen sein, ob ich Ihnen die wahre Sachlage mittheilte; folglich mußte sie den Gedanken an eine Wiedervereinigung mit Ihnen schon aufgegeben haben, als sie an Schattenfrei schrieb. – Ich begab mich bald darauf nach Genua auf den Weg, um Sie aufzusuchen, fand Sie aber nicht mehr anwesend, da Sie zwei Tage vorher nach Venedig abgereiset waren. Wahrscheinlich hatten wir uns begegnet und ohne es zu wissen verfehlt.« Die Ironie, mit der die letzten Worte gesprochen wurden, ließen zweifeln, was der eigentliche Sinn derselben sein sollte. Mit dem Baron war während dieser Erzählung eine große Veränderung vorgegangen. Zwar schien in diesem Augenblicke keine bestimmte Leidenschaft seine Seele erfüllt zu haben, weder Haß noch Liebe, weder Verachtung noch Hohn zeigte sich in seinen Mienen, aber eine Todtenblässe hatte seinem Gesicht einen Ausdruck gegeben, der auf ein tiefes inneres Leiden schließen ließ. Eine Art geistiger Lähmung schien sich seiner bemächtigt zu haben, als er mit tonloser Stimme sprach: »Ich kam nach Venedig an demselben Tage, wie Schattenfrei. Ich suchte ihn auf, um ihn sogleich zu Ihnen zu führen; aber vergebens forschte ich nach Ihrer neuen Wohnung, denn ich konnte nicht auf den Gedanken gerathen, daß Sie Venedig verlassen hätten. Schattenfrei war erfreut, Sie in Venedig zu wissen, und bedauerte es ernstlich, daß er Sie nicht finden konnte.« »Wie Schade« – unterbrach ihn Cornelia in der früheren ironischen Weise. »Uebrigens beruhigen Sie sich wegen des hinterlistigen Streiches Seitens Alicens. Die Sache verhält sich anders. Sie hat mir selber geschrieben, daß sie einen Ihrer beiderseitigen Bekannten in Berlin zu dieser unschuldigen Mystifikation bereden wolle, um Ihnen dann durch das wirkliche Erscheinen Schattenfrei's eine desto größere Ueberraschung zu bereiten.« »Und Sie haben es natürlich für Wahrheit gehalten.« »Warum nicht? – Sie sollten glauben gemacht werden, Alice hätte jenen Brief geschrieben, was aber nicht der Fall war.« »Wäre es gewesen, wie Sie sagen, so können Sie sich darauf verlassen, daß es aus der Absicht geschehen ist, entweder mich in April zu schicken – oder aber zu einer Rückkehr nach Deutschland zu veranlassen, die ich nachher zu bereuen hätte, wenn ich die Wahrheit hörte.« »Sie scheinen in der That den Charakter Alicens gut zu kennen« sagte der Baron mit einer tiefen Bitterkeit – »und weiter haben Sie Nichts von ihr und – ihm gehört?« »Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, daß sie hier ist.« »Es ist wahr!« – rief er mit zitternder Stimme, indem seine Lippen bebten. »Wahr!« »Und er?« »Auch!« Mit leuchtenden Blicken sah er umher, als suche er den Gegenstand seiner Rache. Cornelia faßte ihn beim Arm. »Kommen Sie!« – sagte sie leise und bedeutungsvoll. Sie führte ihn bei diesen Worten in einen schmalen Seitenweg ein, der tiefer in die Mitte des Parks hineinführte. Schweigend und schnellen Schrittes gingen sie neben einander daher, ohne auf die sie umgebenden reizenden Anlagen auch nur einen flüchtigen Blick zu werfen. Ein klarer Bach, dessen Quelle nur einige Stunden weiter im Gebirge hinauf lag, durchströmte in mannichfachen Windungen den Park, auf beiden Ufern mit den herrlichsten Erlen- und Trauerweiden-Grup pen eingefaßt. Zuweilen schimmerten auch anmuthig geschwungene Brückenbogen mit durchbrochenem weißen Geländer durch das grüne Laubwerk, oder es klang das eintönige Rauschen einer kleinen bald natürlichen, bald künstlichen Cascade in das Ohr des einsamen Spaziergängers. Der größte Reiz aber bestand in der völligen Zwanglosigkeit und scheinbaren Unabsichtlichkeit, welche durch sämmtliche Anlagen herrschte. Unbefangenen Gemüthern, – das heißt solchen, die von der methodischen Entseelung, der wir durch die Civilisation unterworfen werden, mehr oder minder unberührt geblieben sind und die daher das Goldkorn ihrer innersten Menschenwürde noch nicht aus dem Schacht ihres Herzens heraufgeholt und nach Außen getrieben haben, damit es sich als werthloser Goldschaum um ihre Oberfläche legt, um von denen da draußen bewundert, betastet und – abgegriffen zu werden, – allen solchen unbefangenen Gemüthern muß der Anblick von Kunstanlagen, bei denen die Kunst gewöhnlich eben solchen entseelenden Einfluß ausübt, wie die Civilisation auf die Menschen, nothwendig ein peinliches, drückendes Gefühl erregen. Die abgezirkelten, mit gelbem Kies bestreuten Wege, die beschnittenen Hecken, die gespreizten Spaliere, Alles benimmt der freien Brust den Athem; denn der Geist fühlt sich gerade in der Freiheit, in der Unendlichkeit und Mannichfaltigkeit verwandt mit der Natur. Jede Beschränkung, jedes kleinliche, nach der engherzigen Anschauungsweise Zugeschnittene in ihr bedrückt auch den Menschengeist und macht den Schmerz der Natur zu seinem eigenen. Ganz anderer Art mochten die Gedanken der beiden schweigenden Wanderer sein, deren Blicke auf einen Punkt starrten, der stets zwei Schritte von den Spitzen ihrer Füße entfernt auf dem festgetretenen Boden ihnen voraus zu eilen schien. Der Baron von Landsfeld konnte im Sinne gewisser Frauen für einen schönen Mann gelten. Hoch und schlank gewachsen, prägte sich in seine ganze Gestalt das Bewußtsein von Mannhaftigkeit aus. Sein schöner Kopf, obwohl in diesem Augenblicke etwas gesenkt, als wenn die Gedanken drinnen durch ihre Last ihn gebeugt hätten, zeigte selbst in dieser Biegung des Nackens die Gewohnheit, ihn stolz und aufrecht zu tragen. Wenn sein Haar nicht mehr die Elasticität und Fülle der ersten Jugend besaß, so war es doch glänzend und von schöner dunkelbrauner Farbe. Dasselbe Gepräge von Energie lag auch auf der breiten hochgewölbten Stirn und auf der edel, fast zu scharf hervorspringenden Nase. Der zartgeformte und kleine Mund wurde fast ganz bedeckt von dem kräftigen und sorgfältig gepflegten Barte, unter dessen dunklen Wellen das Kinn völlig verschwand. Sein Auge war von eigenthümlichem Glanze und tiefer durchdringender Schärfe. Die Farbe war schwer zu bestimmen, da sie mit der größeren oder geringeren Stärke der augenblicklichen Empfindung zu wechseln schien. Im ruhigen Gespräch hätte man es für ein mattes aber glänzendes Grau gehalten. In solchen Augenblicken zeigte sein Gesicht einen fast gewöhnlichen Ausdruck. – Wenn dagegen in seiner Seele irgend eine Leidenschaft ihren Sitz aufgeschlagen hatte – und das war meistens der Fall – so erhielten seine Züge eine so charakteristische Umgestaltung, daß man in Zweifel über die Identität der Person gerathen konnte. Die kurz aber fest zusammengezogenen Augenbrauen drückten dann eine strenge Bestimmtheit aus und der halbgeöffnete Mund mit der aufgeworfenen Oberlippe, die scheinbar noch schärfer hervorspringenden Linien der Nase und vor Allem die unter den tiefer herabgezogenen Brauen groß und dunkel hervorstrahlenden Augen gaben dem bleichen Gesichte einen Ausdruck von leidenschaftlicher Kälte und energischer Entschlossenheit, deren bloßer Anblick einem Geiste von geringerer Intensität Furcht einflößen mußte. Der Baron trug gegenwärtig einen enganschließenden Reitüberrock von dunkelgrünem Tuch, der die muskulösen aber biegsamen Formen seines graziös gebaueten Körpers vortheilhaft hervortreten ließ. Seine weißen weiten Beinkleider fielen in natürlichen Falten bis auf den eleganten Stiefel herab, der eben so wie die eben bezeichneten Kleidungsstücke eine Abneigung gegen die Herrschaft der Mode bekundete, ohne indeß den Geschmack des Trägers irgend wie zu kompromittiren. Im Gegentheil zeigte sich auch bis in diese scheinbar unwesentliche Kleinigkeit hinein die in seinem ganzen Charakter begründete tiefe Opposition gegen jedwede Autorität, die in so fern aber ihre eigene Rechtfertigung in sich trug, als sie den Kampf gegen die Autorität nur auf Kosten des einfachen, künstlerischen Geschmacks zu führen schien. Dieser Zug seines Charakters, gegen die Willkühr der Menschensatzung, wie immer sie sich zeigte, zu opponiren und das Schöne und Natürliche dagegen geltend zu machen, stammte bei ihm jedoch nicht sowohl aus einem Enthusiasmus für die Idee überhaupt und für deren Rechte, als aus der selbstgefälligen Freude, daß seine eigene Erkenntniß und Anschauungsweise über die Begriffe der gewöhnlichen verkünstelten und kleinigkeitskrämerischen Welt dadurch erhaben sei, daß sie jedes Vorurtheil abgestreift. Aus dieser selbstsüchtigen Richtung seiner idealen Erkenntniß – weil es ihm weniger um die Schönheit und Wahrheit dessen, was sie in sich schloß, als um den eigenen Besitz desselben zu thun war, erklärte sich einerseits die ironische Verachtung, welche er gegen die Menschen im Allgemeinen hegte, anderseits der Skepticismus, mit dem er jede in der Welt ideale Erscheinung von vorn herein als Heuchelei oder Dummheit betrachtete. Vielleicht könnte hieraus geschlossen werden, daß er den Respekt, welchen er allen Uebrigen versagte, auf sich selbst beschränkte, weil er allein seiner Ueberzeugung nach die richtige Erkenntniß von der Unwirklichkeit der Idealität besaß. Allein in der That schöpfte er aus der Verachtung der Uebrigen noch keinen Grund zur Achtung seiner selbst. Er fühlte wohl, daß nur in dem Streben, die Idealität in sich selbst zu verwirklichen, etwas Achtungswerthes liegen könnte. Um dies aber zu versuchen, fehlte ihm die sittliche Kraft, und daher der Glaube an die Möglichkeit dieser Verwirklichung. Er war also nur in dem egoistischen Irrthum befangen, daß er von der Ueberzeugung ausging, diese Verwirklichung sei nicht ihm allein, sondern überhaupt unmöglich. So isolirt er durch diese Richtung seines Innern der Welt überhaupt gegenüber stand, so gab es doch einen Menschen, der mit ihm in diesem sittlichen Skepticismus sympathisirte und gerade gegen diesen fühlte er sonderbarer Weise noch größere, noch tiefere Verachtung, als gegen die gewöhnlichen Menschen. Aber diese Verachtung hatte ihren Grund nicht darin, daß er das, was er an sich selbst für unwürdig hielt, an Andern noch abscheulicher fand – sondern weil jener Andere ein Weib war; denn beim Weibe schließt die Verachtung der Idealität noch größere Würdelosigkeit in sich, als beim Mann. Außerdem fehlte ihr jede Spur von Enthusiasmus, der wenigstens beim Baron die Quelle seines Skepticismus gewesen war. Bei ihr war es reine Freude am Bösen – hämische Zerstörungssucht, die ihm verächtlicher noch war, als Gemeinheit, Trivialität und Selbsttäuschung. Dieses Weib war Cornelia. Cornelia von Hohenhausen hatte eine kleine, zartgebaute Gestalt. Ihre Bewegungen waren trotz der Magerkeit ihrer Arme, ihres Nackens und Halses doch weder eckig steif, noch kokett und manirirt, sondern so durchaus gefällig und graziös, daß man darüber bei längerm Umgange die natürlichen Unvollkommenheiten leicht vergessen konnte. Der Ausdruck in ihren Zügen war für gewöhnlich nicht besonders auffallend und charakteristisch. Es giebt jedoch eine Art von Gesichtern, deren charakteristische Merkmale weniger in den Hauptzügen, als in scheinbar unwichtigen Nebenlinien liegen, die, weil sie weniger in die Augen fallen, sich auch unbewachter und gleichsam unabhängiger vom Bewußtsein des Menschen selbst entwickeln und gestalten. Hauptsächlich ist dies bei geistig begabten aber unedlen Naturen der Fall; denn edle Naturen sind zu stolz für eine solche Ueberwachung der Mienen Seitens des Bewußtseins, und einfältige Menschen haben nicht die geistige Kraft und Stärke der Reflexion dazu. So sprach sich auch die dämonische Natur Corneliens nicht in dem allgemeinen Schnitt des Gesichts und in den einzelnen Hauptzügen aus, die vielmehr einen Charakter von Bonhommie und gutmüthiger Freundlichkeit an sich trugen, sondern in den fein zusammengekniffenen Augenwinkeln, in dem unsichern, mattglänzenden grauen Auge und in einer schmalen, langen Furche, die sich von beiden Seiten der Nase mit einer unanmuthigen Wendung um die Mundwinkel herum schlang, aber nur sichtbar wurde und dann dem Gesicht einen sonderlich unheimlichen Ausdruck verlieh, wenn sich der untere Theil des Gesichts zu einem Lächeln verzog. Ihr Mund war eher klein als groß zu nennen, aber sehr dünn, farblos und ohne schönen Schnitt, während die Nase so wie die Stirn keine unedle Bildung zeigte. Der unangenehme Eindruck, den die wirklich auffallende Magerkeit ihres Gesichts, Halses und Nackens in Jedem hervorbrachte, der an schönere Formen gewöhnt war, wurde noch durch die dunkle Schattirung ihres Teints erhöht, welche vielleicht mit der Farbe des Pergaments hätte verglichen werden können, wenn das Gelb des letzteren mehr Grau und weniger Glanz enthielte. Ihre Kleidung schien zwar im Gegensatz zu der des Barons jede auffallende Abweichung vom herrschenden Geschmack der Mode absichtlich zu vermeiden, ohne indeß sowohl in Rücksicht auf die Wahl der Stoffe, als auf deren Zusammenstellung, den reinen Geschmack und den feinen Sinn für elegante Einfachheit und ungezwungene Harmonie zu bekunden, worin jener eine eben so große Zartheit als Sicherheit besaß. Cornelia trug an diesem Tage ein Kleid von schwerer hellgrüner Seide, dessen weiter Ausschnitt dem Auge vollkommene Freiheit ließ, nach den Reminiscenzen früherer Fülle und Schönheit des Halses zu suchen. Ein italienischer Strohhut, mit einer Straußfeder geschmückt, – Cornelia trug nur diesen Putz – ein chinesischer Sonnenschirm und eine weiße Atlas-Mantille bildeten das übrige Kostüm. »Treten Sie leiser auf« – sagte Cornelia zum Baron, als sie eben in eine Kreisallee eintraten, die, wie man schon aus den hier und dort zwischen den Gipfeln der Bäume durchbrechenden breiteren Lichtstellen schließen konnte, einen freien Platz umgab. Nur auf einem schmalen Steige, der die eine Seite der dichten, aus jungen Buchen bestehenden Allee durchbrach, gelangte man in das Rondel selbst und überzeugte sich dann, daß das, was man für einen freien Platz gehalten hatte, ein kleiner Teich war, der von einem in seiner Mitte sich erhebenden Springbrunnen gespeißt wurde. Rings um das Bassin, dessen Ufer nur mit einer niedrigen Rosenhecke eingefaßt war, lief ein schmaler Fußweg. An der äußeren Wand der Buchenhecke standen quarreeartig geordnet vier gußeiserne, grün angestrichene Ruhebänke, von denen die einander gegenübergelegenen von dem breiten pyramidalartig gebaueten Springbrunnen maskirt wurden, so daß die auf der einen Bank sitzenden Personen von denen auf dem jenseitigen Ufer befindlichen nicht gesehen werden konnten. Cornelia bog vorsichtig ein paar Zweige auseinander und warf einen forschenden Blick in das Rondel. Sie schien mit dem Resultate ihrer Beobachtungen unzufrieden, denn sie wandte sich an den Baron mit den Worten: »Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen und geben Sie mir das Versprechen, kein Lebenszeichen von sich zu geben, was Sie auch sehen mögen.« Der Baron nickte mit dem Kopfe. Er hatte jetzt, wo der entscheidende Moment gekommen war, seine ganze Besonnenheit wieder erlangt. Mit übereinander geschlagenen Armen stand er an einen Baum gelehnt und wartete, bis Cornelia, die sich auf die andere Seite begeben hatte, zurück kehrte. Mit triumphirender Miene winkte sie ihm. »Allzugroße Vorsicht ist nicht nöthig« – sagte sie. »Das Geplätscher des Springbrunnens dämpft jedes Geräusch bis zur Unhörbarkeit. Doch vorher eine Frage: Was gedenken Sie zu thun?« »Sie werden es sehen, wenn ich gesehen habe Haben Sie indeß keine Furcht« – setzte der Baron mit leiser Stimme hinzu. – »Sie werden doch nicht glauben, daß mein Ehrgeiz dahin geht, vor Ihnen ein romantisches Spektakelstück aufzuführen? Verlieren wir keine Zeit mit unnützen Redensarten.« – Sie waren unterdeß ein Paar Schritte fortgegangen. »Hier« – sagte Cornelia, indem sie auf eine kleine Oeffnung zwischen den Blättern wies. Der Baron beugte sich vor. Auf der schräg gegenüber liegenden Bank saß, halb noch vom Wasserstaub des Springbrunnens verdeckt, ein junger Mann von sehr einnehmendem blühenden Aeußern, das echte Bild der jugendlichen Frische und Anmuth. Er starrte jetzt vor sich auf den Boden nieder, in dem sein Spazierstock allerlei Arabesken und Namenszüge eingrub. Neben ihm saß eine sehr bleiche, nicht mehr ganz jugendliche Dame, deren schöngeformter Kopf von einer Menge kurzer anmuthig geordneter Locken umgeben war, welche die einzelnen Züge um so weniger klar erkennen ließen, als sie sich auf ein Buch niederbeugte, aus dem sie dem jungen Manne etwas vorzulesen schien. Obgleich ihr Oberkörper in halb sitzender halb liegender Stellung bis an die Rücklehne der Bank zurückgebeugt war, konnte man doch die graziösen Formen ihrer Gestalt bemerken. Sie ließ jetzt das Buch sinken und sah den jungen Mann, der diese Bewegung nicht zu bemerken schien, eine Weile schweigend an. »Was phantasiren Sie da, Arthur?« – sagte sie mit sehr sanftem und wohllautenden Accent, indem sie auf seine Zeichnungen wies. Erschreckt wie aus einem Traume fuhr er empor, dann strich er sich über die Augen. »Ach, Alice« – entgegnete er mit einer Art von Wehmuth im Ton, »ich dachte eben darüber nach, wie so klein ich Dir erscheinen muß; wie es möglich sei, daß ich Dir, dem hochherzigen, die ganze Menschenwelt mit Liebe umfassenden Weibe mit meiner engherzigen Empfindung genügen kann. Ich fühle wohl, daß gerade in meiner Verehrung für Dich, in dem Kultus meines Herzens für Deine Größe mein größter Stolz, und in dem Bewußtsein, in Deinem schönen Körper Deine ganze schöne Seele zu umfassen, mein höchstes Glück liegen muß – und doch liegt zugleich mein größter Schmerz darin.« »Schmerz?« fragte Alice mit demselben sanften, halb melancholischen Ton, der ihr eigen zu sein schien. »Ja, Schmerz, rasender Schmerz« – rief der junge Mann aufspringend. »Begreifst Du nicht den Schmerz, welcher in dem Gedanken, ganz Liebe und Hingebung zu sein, in dem Gedanken, daß Du mein Gott, meine Welt, mein All bist, und Du –« »Nun? und ich?« – sagte Alice, ebenfalls sich erhebend. »Du bist wie ein Fürst in seinem Park, wo nur das Ganze, die Harmonie aller Einzelnen sein Wohlgefallen erregt, während er eine einzelne Blume ohne Kummer zertreten mag. Ich bin wie der Arme, der nur diese Blume hat, und sein Liebstes verliert, wenn sie ihm verloren geht. Glaube mir, Alice: dieser Gedanke verläßt mich nicht mehr. Wie eine Ahnung Deines Verlustes schwebt es gleich dem kleinen Sturmwölkchen am fernen Horizont meines Liebehimmels und selbst, wenn Du mich so innig an Dein liebeglühendes Herz drücktest, blieb jener Gedanke als bittere Hefe am Rande hängen und verbitterte mir so das schönste Glück, das Glück, Dich ganz zu besitzen.« Sie waren indeß Beide an das Bassin getreten. Arthurs Gesicht glühte, während er sprach; und Alice fütterte die Goldfische, welche schaarenweise auf die hingeworfenen Brocken zuschwammen. »Du bist ungenügsam, Freund« – sagte sie sanft – »und wenn ich so sagen dürfte, undankbar. Soll ich, um Dich von der Wahrheit meiner Liebe zu überzeugen, Dich an die Opfer erinnern, die ich Dir gebracht, an – –.« »Verzeih mir, Verzeihung Alice« – rief Arthur mit Thränen in den Augen, indem er Alicens Hand heftig an die Lippen preßte und dann an die Brust drückte. »Du hast Recht. Ich bin nicht werth, von Dir geliebt zu werden. Aber nimm hier mein Versprechen! Was Du mir giebst, will ich dankbar hinnehmen, als spendete es mir eine seegenbringende Göttin. Ich will nicht klagen, selbst dann nicht, wenn Du mich – nicht mehr liebst« – setzte er mit bewegter Stimme hinzu. »O mein Geliebter« – rief plötzlich Alice, indem sie beide Arme um seinen Hals schlang und seinen Kopf an ihren Busen preßte. »Ruhig, mein Arthur, ruhig« setzte sie nach einer Pause hinzu, indem sie den Glühenden sanft von sich abwehrte – »wir könnten belauscht werden – gieb mir den Arm. Wir wollen in den Kursaal gehen.« Indem sie ihren Arm in den seinigen legte, traten sie in die Allee ein. »Geben Sie mir den Arm, Cornelia,« sagte der Baron ruhig. Sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein, so daß sie nothwendig auf der andern Seite der Kreisallee, an dem Punkte, wo der schmale Ausgang war, zusammentreffen mußten. »Was Teufel, Alice, Du hier? und so gut versehen. – Ich wünsche guten Appetit, mein Herr!« Nach diesen, mit launigem Ton und unbefangenem Lachen begleiteten Worten, welche der Baron dem andern Paare schon auf sechs Schritt zurief, zog er mit ironischer Courtoisie den Hut und ging mit Cornelia gemächlich, und ohne weitere Notiz von jenen zu nehmen, voraus. »Sie sind ein grausamer und, was mehr ist, ein gefährlicher Mensch, Baron; die arme Alice! Wie blaß wurde sie bei Ihrem Anblick. Und der junge Seladon mit seinem Liebesschmerz – – haben Sie sein Gesicht gesehen? – hatte es nicht die frappanteste Aehnlichkeit mit einem Schulknaben, der bei ungerechter Strafe zwischen seinem Ehrgefühl und der angeborenen Pietät schwankt? – – Ich bin neugierig, ob er die Sache so ruhig nehmen wird. – – – Was gedenken Sie zu thun, Baron? – Aber mein Gott, so sprechen Sie doch! Warum antworten Sie denn nicht. Sind Sie etwa gerührt? Fühlen Sie Gewissensbisse ob Ihrer Barbarei?« – »Schweigen Sie, Cornelia, ich bitte Sie dringend. Was sollen jetzt diese Kindereien? Denken Sie daran, daß wir gehört und gesehen werden können, und daß wir schon in der nächsten Minute einer höflichen Anrede von Herrn Arthur entgegen sehen dürfen.« »Sie haben Recht. Lassen Sie uns von gleichgültigen Dingen sprechen. Blicken Sie einmal nach dieser Richtung hin. Sehen Sie dort in der Seitenallee die junge Dame, die eine ältere am Arme führt?« »Nun?« »Das ist die Braut Arthurs, der beiläufig gesagt ein sehr beliebter Lieder-Componist, Namens Berger, ist. Merken Sie sich das, verehrtester Freund, für vorkommende Fälle, und nun sehen Sie einmal dies junge Mädchen genauer an. Nicht war, eine leibhaftige Hebe?« Der Baron konnte als Kenner in dieser Beziehung gelten, und doch mußte er es sich selbst gestehen, eine so durchaus anmuthige Erscheinung war ihm noch niemals zu Gesicht gekommen. Die zarteste Weiblichkeit und gefühlstiefste und dennoch völlig ahnungslose Unschuld lag über den lieblichen Zügen dieses reizenden, halb kindlichen, halb jungfräulichen Gesichts ausgebreitet. Sie blickte, als der Baron mit Cornelia nahe gekommen war, unbefangen auf, schlug aber wie innerlich zusammenschaudernd vor dem bleichen, leidenschaftlichen Ausdruck des Ersteren schnell die Augen zu Boden, während eine tiefe Röthe ihr halbabgewandtes Gesicht und ihren Hals bedeckte. »Sie liebt ihn, glauben Sie?« fragte der Baron. »Wie es allgemein heißt und scheint, ja.« – erwiederte Cornelia. »Desto besser. – Wie heißt sie? – Ich will nur den Vornamen wissen.« »Lydia. – Warum wollen Sie nicht ihre Familie kennen lernen?« »Weil es überflüssig ist.« »Ueberflüssig? Ich sollte meinen, daß sie eine so anziehende Persönlichkeit hat, die schon der Annäherung werth ist?« »Eben darum.« »Ich verstehe Sie nicht?« »Ich brauche ihren Familiennamen nicht zu wissen, weil sie ihn nach einem Vierteljahre doch verlieren wird.« »Sie sprechen in Räthseln.« »Nun, zum Teufel! Sie wird dann meine Frau sein. Ich werde sie heirathen; rede ich jetzt deutlich genug?« Cornelia sperrte diesmal vor wirklichem Erstaunen die Augen weiter auf, als gewöhnlich. Indessen blieb ihr keine Zeit, ihrem Herzen Luft zu machen, da in demselben Augenblicke die Stimme des jungen Mannes, dessen Gespräch mit Alicen sie belauscht hatte, neben ihr sich vernehmen ließ. »Mein Herr, ich wünschte zu wissen, ob Sie die Absicht gehabt haben, die Dame, welche in meiner Begleitung war, oder mich selbst persönlich zu beleidigen.« »Haben Sie darin eine Beleidigung gefunden, so kann ich das weder Ihnen, noch jener Dame wehren. Uebrigens pflege ich meine Absichten für mich zu behalten.« »Sehr wohl, mein Herr.« – »Auf Wiedersehen, mein Herr,« sagte der Baron, sich artig verbeugend, und verließ mit Cornelia den Park. 2. Kapitel Zweites Kapitel Das Bad Pr – – – t, welches eine weniger zahlreiche, aber mehr ausgewählte Gesellschaft, als die meisten deutschen Bäder in seinem lieblichen Thale zu vereinigen pflegte, hatte eine überaus reizende Lage am obern Abhange des Gebirges, an dessen Fuß es sich gleich einer Perlenschnur hinschlang. Dieser Vergleich war um so passender, als die meisten der kleinen, durch Gärten getrennten Häuser weiß angestrichen waren, was dem aus der Ferne kommenden Reisenden einen gar erquicklich heitern Anblick gewährte. Es besaß nur eine Straße, die, der Böschung des Gebirges folgend, in mancherlei Windungen zwischen Gärten und Häusern hinlief, und etwas aufsteigend zu dem höher gelegenen eigentlichen Bade hinführte, welches aus zwei Brunnenhäusern und den dazu gehörenden Nebengebäuden bestand und durch den großen Park, welchen wir schon im vorigen Kapitel kennen gelernt, von dem noch höher hinauf bis zum Kamm des Gebirges sich erstreckenden Gebirgswalde getrennt wurde. Landsfeld hatte sich bald nach der oben erzählten Scene von Cornelien getrennt. Er ließ sie im Kursaal und begab sich in den Park zurück, um einen Ausgang nach der Seite der Gebirges zu suchen. Denn er liebte es, auf den unwegsamsten höchsten Abhängen der Berge umherzuklettern, nur von sich und seiner Gefahr begleitet, in dem Bewußtsein, ein Paar hundert oder tausend Fuß erhaben zu sein über dem Menschentroß da unten. Fand er aber gar durch Zufall eine Stelle, von der er auf das Ameisentreiben der Ebene, etwa einen hervorspringenden Felsblock, von dessen Spitze er in's Thal schauen konnte, oder eine tiefe Schlucht, die seinem Blick einen schmalen Durchgang gewährte, so konnte er Stunden lang dort sitzen und beobachten und sich freuen, wie sie doch wirklich so klein seien, diese Menschen, und nicht verdienten, daß man sich mit dem Einzelnen anders beschäftigte, als um ihn zu einem Mittel zu verwenden oder ein Experiment mit ihm anzustellen. Er vergaß dabei freilich, daß, wenn diese kleinen Menschen, die er mit einiger poetischer Steigerung mit Ameisen – zuweilen auch wohl, wenn er gerade übler Laune war, mit Mistkäfern verglich, ihn dort oben zufällig erblickten, er ohne Zweifel von ihnen für eine Krähe oder sonst ein kleines Gethier gehalten werden würde, worin sie sich immer noch gerechter und toleranter bewiesen als er. Langsam und gemächlich schlendernd nach Art anderer Spaziergänger – denn er wußte wohl, daß er in einem Bade durch Nichts so sehr die Aufmerksamkeit erregt hätte, als durch einen hastigen Gang – schlug Landsfeld die Richtung nach dem Rondel ein, was er, durch seinen vorzüglichen Ortssinn unterstützt, bald erreichte. Er schritt durch den kleinen Durchgang und blieb an der Bank stehen, auf dem das von ihm belauschte Paar gesessen hatte. Darauf setzte er sich selbst und versank in ein tiefes Nachsinnen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, über der er die Arme verschlungen hielt; sein Blick ruhte starr und theilnahmlos auf dem Bassin, aus dessen stets bewegter Oberfläche dann und wann ein Goldfisch seinen kleinen rothen Kopf neugierig oder um Luft zu schöpfen herausstreckte. Außer dem einförmigen Plätschern des Springbrunnens, dessen herabfallender Wasserstrahl durch eine schön gearbeitete marmorne Muschel aufgefangen wurde, von der das Wasser in eine zweite größere einfloß, um endlich von dem Bassin aufgenommen zu werden, hörte man keinen Laut. Die Sonne durchglänzte nur noch die höchsten Gipfel der Bäume, denn obwohl es noch nicht spät war, nahte der Abend diesem Thale doch früher als selbst den tiefer gelegenen Gegenden, weil das in Westen sich hineinziehende Gebirge die Strahlen der neigenden Sonne abschnitt. Eine Viertelstunde schon mochte Landsfeld in der bezeichneten Stellung gesessen haben, ohne daß irgend eine Bewegung verrieth, daß Leben in ihm sei, hätte nicht ein fast unmerkliches krampfhaftes Zucken der rechten Hand, die der linke Arm umfaßte, einen Beweis vom Gegentheil gegeben. »Auch dieß Weib« – murmelte er zwischen den Zähnen, indem er aufsprang. Er warf einen forschenden Blick umher, als fürchtete er beobachtet zu werden. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst, aber in seinen Augen brannte eine dunkle verzehrende Glut. Wie um die ihn störenden Gedanken zu verscheuchen, strich er sich das über die Stirn herabgefallene Haar aus dem Gesicht und richtete sich frei und hoch auf. Als er sich noch einmal nach dem eben verlassenen Sitz umwandte, als wollte er noch einen letzten Abschiedsblick auf ihn werfen, fiel ihm ein weißes Blatt in die Augen, welches wahrscheinlich zwischen den Fugen der Bank durchgefallen und beim Fortgehen von einer der hier früher anwesenden Personen vergessen worden war. Rasch nahm er es auf. Es war ein Billet, wie es schien von einer Damenhand geschrieben. Die Adresse fehlte. Landsfeld sah nach der Unterschrift. »Lydia« – sagte der Baron. »Das ist ein Wink des Schicksals. Nun bei Gott, der soll mir nicht umsonst gegeben sein.« Er schickte sich zu lesen an, als er plötzlich inne hielt, und, das Billet zu sich steckend, an einer Stelle, die dem kleinen Durchgange gegenüber lag, zwischen den Bäumen durchbrechend verschwand. Einen Augenblick später erschien an dem Durchgange der junge Mann, welchen wir unter dem Namen Arthur Berger kennen gelernt haben. Er schien etwas zu suchen, denn er bückte sich unter die Bank, die so eben der Baron verlassen hatte, ging dann noch mit zur Erde gerichteten Blicken um den Teich herum und verließ endlich auf demselben Wege das Rondel. Landsfeld trat aus seinem Versteck hervor. Ein triumphirendes Lächeln lag auf seinen Zügen. »Ich werde Dich lehren, Freund, in meinem Gehege zu jagen« sagte er, ihm nachsehend. »Unbegreiflich bleibt es mir doch, daß Alice mich um diesen blonden Schäfer aufgeben konnte. Aber sie sollen es Beide büßen« – setzte er mit einem Ausdruck innerlicher Wuth hinzu, der seinen Zügen einen wahrhaft unschönen Charakter verlieh. Mit schnellen Schritten verließ er jetzt den Platz und schlug durch den immer dichter werdenden Park, ohne die gebahnten Fußwege, die in großen Krümmungen einander durchkreuzten, zu berücksichtigen, die Richtung nach dem Gebirge ein. Bald hatte er die Grenze des Parks, die durch eine dichte Hecke und einen hinter demselben strömenden Arm des Bergstroms gebildet wurde, erreicht. Mit kräftiger Hand bog er die Dornsträucher auseinander, um sich einen Durchgang zu verschaffen, und stand am Ufer des Flüßchens, das hier ziemlich reißend und durch mehrtägigen Regen höher als gewöhnlich angeschwollen war. Er war deshalb gezwungen, einige hundert Schritte stromaufwärts zu gehen, wo ein mächtiger Baumstamm, der theils vom Alter, theils vom Sturm gefällt zu sein schein, sich wie eine natürliche Brücke über das unter ihm dahin rauschende Wasser gelegt hatte. Indeß war der Uebergang nicht leicht. Denn durch die Feuchtigkeit von der Borke entblößt, bot die nach Oben gekehrte Seite des Stammes nur eine halbrunde, schlüpfrig glatte Fläche dar, welche zu betreten mit nicht geringer Gefahr verbunden war, da bei dem geringsten Fehltritt ein Sturz in das, wenn auch nicht tiefe, doch mit einer Menge scharfer Felstrümmer besäete Flußbett unvermeidlich war. Landsfeld wurde jedoch von keinem Gefühl weniger beherrscht als von der Furcht. Im Gegentheil suchte er gerade solche Schwierigkeiten mit einer Art von Liebhaberei auf, theils weil er in ihrer Ueberwindung die Aufregung fand, die er zum Gefühl seiner Lebenskraft brauchte, theils auch darum, weil sein Selbstgefühl durch den Gedanken erhoben wurde, daß tausend Andere an seiner Stelle davor zurück schrecken würden. Denn das Gefühl der Superiorität war dasjenige, welches bei ihm der größten und kräftigsten Nahrung bedurfte. Hätte er bei solchen Gelegenheiten Zuschauer gehabt, so würde er ohne Zweifel von dem Versuch abgestanden sein, denn Nichts erschien ihm erbärmlicher als ein leichtsinniges Renommiren. Auch achtete er die Menschen, die mit ihm nicht wetteifern konnten, viel zu wenig, um ihren Beifall nicht widerwärtig, ja selbst demüthigend zu finden. Anders wäre es vielleicht gewesen, hätte er sich von Jemandem belauscht und bewundert gewußt, der im Glauben stand, von ihm nicht bemerkt zu werden. In solchem Falle nahm er den Triumph wohl mit, da keine Demüthigung damit verbunden war. Auch hätte er dann nach der That nie zugestanden, von dem Lauscher gewußt zu haben, vielmehr versichert, daß er sie gewiß unterlassen hätte, wenn er sich nicht allein geglaubt. Mit sicherem Fuß und festen Blick betrat er den schlüpfrigen Pfad und ging ruhig, ohne Zögern und ohne Schrecken hinüber. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stieg er nun bergan. Nach halbstündigem Steigen gelangte er auf einen schmalen, wohl nur von Hirten betretenen Fußsteig, der ihn in kurzer Zeit auf des Berges höchsten Punkt führte. Eine herrliche Aussicht bot sich hier seinen Blicken dar. Vor ihm lag in goldig blauen Duft gehüllt der Kamm des Gebirges, der von Norden nach Süden sich hinziehend in den Strahlen der eben von den höchsten Gipfeln verschwindenden Abendsonne erglühte. Mit gekreuzten Armen betrachtete Landsfeld das feierliche schöne Schauspiel des sinkenden Gestirns, das noch einen letzten Abschiedsblick und Kuß auf die allmählich zur Ruhe versinkende Erde zu werfen schien. Die Tage seiner Jugend dämmerten in seiner Erinnerung auf mit allen ihren reinen Freuden, mit allen schuldlosen Genüssen und harmlosen Spielen. Damals auch war er auf dem Gebirge seines Vaterlandes umhergeklettert, damals auch fühlte er dies innerliche Sehnen, auf den höchsten Spizzen zu stehen und herabzublicken auf die Thäler, wenn sich die Schatten auf sie lagerten, während die Gipfel und er selbst auf ihnen noch von der dunkelsten Glut der Sonne erleuchtet wurde. Damals auch kannte er keinen größeren Schmerz als den, daß er die höchsten, schneebedeckten Gipfel nicht erreichen konnte, die weit, weit hinter ihm noch lagen und ihm in ihren weißen Häuptern bald zu winken, bald zu höhnen schienen. Damals und heut! – Welche Bilder hatten sich seitdem durch seine Seele gedrängt, welche Reihe von Gedanken seinen Geist bestürmt! – Jene Bilder waren verblichen und verstümmelt, jene Gedanken hatten sich selbst verzehrt, oder waren von andern verzehrt worden, von scharfen, bittern, schmerzlichen Gedanken, die seine Brust ausgehöhlt und sein Herz verdorrt hatten. Aber die Erinnerung weckte die Leichen in seiner Brust und in seinem Herzen. Wie Schatten zogen sie vor seinem innern Gesicht her, die heitern Bilder, die ihn traurig und die düstern, die ihn bitter stimmten. Ein unendliches Gefühl des Alleinseins ergriff ihn; eine Seele wollte er haben, in die er sich ergießen, aus der er Hoffnung und Trost schöpfen könnte. Hoffnung, worauf? Trost, wofür? Noch war in Landsfeld die Sehnsucht nach dem lebendigen Ideal nicht untergegangen. Ja, in dieser Erinnerung an seine Jugend selbst konnte er die Gewähr dafür schöpfen. Aber er sagte zu sich: »Wohl ist die Erinnerung das ewig mit sich selbst ringende, ewig an sich selbst zweifelnde Bewußtsein des Ideals, aber gepaart mit der Ueberzeugung, daß seine Erreichung unmöglich sei. Denn warum wäre sie sonst schmerzlich, auch bei sogenannten guten Menschen? Sie ist nicht die Vorstellung eines wirklich gehabten Genusses, sondern das zwecklose Idealisiren desselben, das unwahre, selbsttrügerische Reinigen desselben von allem Materiellen, Unbequemen, Hinderlichen, Unangenehmen, – kurz Schlackenartigen, von dem jeder Genuß seinen Theil und jeder Schmerz den seinigen hat, denn kein Genuß ist ohne Sinnlichkeit und kein Schmerz ohne Egoismus. Darum stimmt uns eine Erinnerung nicht traurig, weil wir fühlen, daß es nichts Wirkliches ist, was wir verloren, auch nicht froh, weil wir fühlen, daß die Vergangenheit eine ewige ist, sondern wehmüthig: – Und was liegt mehr darin, als eine jämmerliche Inkonsequenz, die ohnedies sich durch ihre Sentimentalität lächerlich macht? – Mit der Hoffnung bin ich fertig« – fuhr er nach einer Pause, in der er unverwandt nach dem immer tiefer sich färbenden Gebirgskamm gesehen, als erwartete er noch ein Zeichen von dorther, das seine Hoffnung noch einmal belebte, fort – »und der Trost, der mir werden soll?« Er lächelte bitter – »den werde ich mir selber erringen. In der Trostlosigkeit der Andern werde ich meine Ruhe finden. – O Alice, du hast mich fürchterlich bestohlen.« Er wandte sich um. Eine Thräne, vielleicht von dem Strahl der jetzt völlig verschwundenen Abendsonne in sein Auge gelockt, zitterte in seiner Wimper. Mit Unmuth wischte er sie ab und sah hinab in das Thal. Das Bad lag vor ihm. Er schritt weiter auf dem Rücken des Berges, zur Rechten den Gebirgskamm, der nur noch wie eine graue Nebelmasse am Horizonte lag, zur Linken unter sich den Park und dahinter die weiße Häuserreihe des Bades, die sich bis zu dem Punkte hinzog, wo der Berg sich in's Thal hinabsenkte. Er stieg herab. Am letzten Hause, dessen Dach sich fast unter den hohen mächtigen Kastanienbäumen, die es umgaben, versteckte, blieb er einen Augenblick stehen. »Wir wollen sehen, Lydia, ob Du mir den Glauben an Weiblichkeit wirst wiedergeben können. Du wirst eine harte Probe zu bestehen haben, armes Kind. Aber ich kann sie Dir nicht ersparen Möge Dein guter Engel geben, daß Du fest bleibst, so will ich Dich verehren und zu Dir beten.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und nahte sich dem hellerleuchteten Fenster, das von außen mit einem Blumenbrett versehen war, worauf verschiedene Gewächse in zierlich weißen und rothen Töpfen standen. An dem hellen Scheine des Lichts schrieb er mit Bleifeder ein paar Worte auf das weiße Blatt, wickelte darin das Billet, welches er heute im Rondel gefunden hatte, hinein, und schob Beides zwischen zwei Blumentöpfe, überzeugt, daß die liebliche Bewohnerin des Hauses, wenn sie am andern Morgen ihre Lieblinge versorgen würde, es finden müßte. Noch einen Blick warf er in das Fenster und entfernte sich dann schnell, um sich nach seiner Wohnung zu begeben, die einige hundert Schritt tiefer in's Dorf hineinlag. »Es hat Jemand nach Ihnen gefragt, Herr Baron« – sagte sein Bedienter, indem er seinem Herrn den rothsammetnen Schlafrock reichte. »Ein Herr oder eine Dame?« »Ein Herr. Er würde wieder kommen, meinte er. Hier ist die Karte.« »Arthur Berger« sagte der Baron für sich. »Gut. Das Spiel hat begonnen. Jetzt heißt es geschickt die Karten mischen.« Von dem weiten Spaziergange ermüdet und den mancherlei Aufregungen ermattet, warf Landsfeld sich in die Ecke des Sophas, um durch einige Augenblicke der Ruhe die Klarheit und Ruhe des Geistes wieder zu erlangen, welche er zum Empfange des erwarteten Besuchs nöthig zu haben glaubte. »Karl« – sagte er zu seinem Bedienten, der eben beschäftigt war, einen brennenden Fidibus an die Cigarre zu halten, deren aromatischen Duft sein Herr mit sybaritischem Behagen einzog, indem er die Füße auf dem untergeschobenen Tabouret ausstreckte. »Was befehlen der Herr Baron?« »Du hast heute Abend und morgen früh Deine fünf Sinne zusammen zu nehmen.« »Sehr wohl, Herr Baron.« »Weder auf ein gutes Trinkgeld noch auf eine hübsche, schnippische Kammerzofe Jagd zu machen.« »O, Herr Baron.« – » A propos , Karl. Ich glaube bemerkt zu haben, daß Du Dir schon ein Liebchen angeschafft hast. Wie stehts damit?« »Seit gestern schon? Der Herr Baron scherzen?« Landsfeld fixirte ihn. »Also nicht? hm, das thut mir leid« – sagte er vor sich hinmurmelnd. »Das heißt, gnädiger Herr – ich könnte wohl sagen – ich wünschte vielleicht – hm, hm!!« – »Hast Du den Schnupfen?« »Nein. Ich wollte nur sagen, daß ich hier in der Nähe, da am Ende des Dorfes unten ein allerliebstes Kind –« »Allerliebstes Kind?« – fragte Landsfeld, sich halb aufrichtend. – »Bist Du des Teufels, Karl? Du unterstehst Dich? –« »Der Herr Baron befahlen doch« – erwiederte kleinlaut der erschreckte Diener, einen Schritt zurücktretend. »Du hast Recht,« sagte Landsfeld sich besinnend und in seine frühere bequeme Stellung zurücksinkend. »Fahr nur fort, – fahr fort in's Teufels Namen!« befahl er, als Jener zögerte. »Du brauchst keine Furcht zu haben. Also das allerliebste Kind –« »Ja sehen Sie, – gnädiger Herr, als ich da so herunterschlenderte, um – um –« »Um die Gegend etwas anzusehen,« half gutmüthig der Baron nach. »Richtig, um mir die Gegend etwas anzusehen, da war ich schon bis an's Ende des Dorfs gekommen – und wollte eben wieder umkehren –« Der Baron lachte. »Denn außer dem Dorfe gab es natürlich für Dich keine Gegend mehr, nicht?« »Nun gut. Also da kam aus dem letzten Häuschen, wissen Sie, links, wo die großen Kastanienbäume vor der Thüre stehen –« »Schon gut.« »kam eine junge Dame heraus, mit einer Gießkanne in der Hand. Aber sie mußte wohl kein Wasser drin haben, denn sie drehte sich wieder um und rief in's Haus hinein: Linchen, Linchen! – Schön, dachte ich bei mir, jetzt wirst du was zu sehen kriegen. Und richtig. Ein allerliebstes Kind.« »Wie sah denn die Dame aus?« »Ja, danach habe ich nicht gesehen. Aber Linchen –« »War noch eine andere Dame dabei?« »Ja, eine alte, wahrscheinlich die Mutter der jungen.« »Wahrscheinlich? woraus schließt Du das?« »Nun, sie nannte sie liebes Kind und Lydia. Es mag wohl ihr Vorname gewesen sein – ein kurioser Vorname – aber das –« »Ich glaube, es hat geschellt; sieh' einmal nach, Carl. – Ist es der Herr von vorhin, so wird er mir angenehm sein. – Noch Eins. Besorge zwei Flaschen Rothwein und drei Gläser.« »Sie wollen sagen: zwei Gläser.« »Thue, was ich Dir befohlen; und schnell.« Ein Paar Sekunden später trat Berger ein. Landsfeld sprang vom Sopha auf und ging ihm einige Schritte entgegen. »Ich habe bedauert,« sagte er mit freundlicher Urbanität im Ton und Wesen, »daß Sie mich schon einmal vergeblich aufgesucht. Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuchs verschafft?« Hätte die geringste Andeutung von Spott oder Ironie im Tone des Barons gelegen, so würde dieß absichtliche Ignoriren des heutigen Vorfalls ein Grund mehr für Berger gewesen sein, auf den frühern Geliebten Alicens erbittert zu sein. Als er diesen daher mit ruhiger, unbefangener Höflichkeit sich entgegen treten sah, wußte er Anfangs nicht sogleich die rechten Worte zu finden und gerieth fast in Verlegenheit. – Der Baron konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, welches durch die Leichtigkeit dieses neuen Triumphs seiner Geistessuperiorität unwillkührlich hervorgelockt wurde. Berger bemerkte es und erlangte dadurch seine verlorene Fassung wieder. Mit ernstem Ton wandte er sich an den Baron: »Mein Herr, Sie haben heute Morgen mich und noch mehr die Dame, deren Begleiter zu sein ich die Ehre hatte, beleidigt –« Landsfeld verbeugte sich schweigend. »Ich habe kein Recht, nach dem Grunde dieses Betragens zu fragen, obwohl ich gestehen muß, daß es mir um so auffallender war, als ich mich nicht erinnere, jemals das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft gehabt zu haben.« »Da bin ich glücklicher gewesen. Denn ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich, obwohl unbewußt, schon lange der Ehre theilhaftig war, von Ihnen gekannt zu sein.« Berger erröthete. »Ich irre wohl nicht, wenn ich bei Ihnen die Absicht, zu beleidigen, voraussetze?« Landsfeld verbeugte sich abermals, als ob ihm eben die größte Schmeichelei gesagt worden. »Sie sind bereit, mir Genugthuung zu geben?« Abermalige Verbeugung. »Bestimmen Sie gefälligst die Waffen.« »Erlauben Sie mir eine scheinbar indiskrete, aber, wie ich Sie auf mein Ehrenwort versichere, in der wohlmeinendsten Absicht gestellte Frage. – Sind Sie auf Säbel eingeschlagen?« »Nein, – weshalb?« »So wollen wir Pistolen wählen.« »Herr Baron, ich hoffe, daß Sie mit neuen Beleidigungen bis nach Tilgung der ersten warten werden Was soll diese Schonung und Großmuth bedeuten?« »Mein lieber Herr« – sprach der Baron mit herzlichem Ton – »Sie irren sich in mir. Ich will Ihnen die Gründe sagen, weshalb ich Pistolen vorziehe. Der Säbel ist meine Lieblingswaffe. Wählte ich ihn, so würden Sie den Mangel an Kunst in der Führung durch die Methode zu ersetzen suchen, die man Naturalisiren zu nennen pflegt. Sie würden blind darauf los schlagen. Unter solchen Umständen ist Hundert gegen Eins zu wetten, daß Einer von uns lebensgefährlich verwundet wird.« »Glauben Sie denn, daß wir ein Possenspiel aufführen wollen?« »Das nicht. Aber ich bekenne Ihnen aufrichtig, daß ich weder Lust habe, einen Stich in den Leib zu bekommen, noch Ihnen einen ähnlichen Liebesdienst zu erweisen.« Das Gespräch wurde durch das Eintreten des Dieners unterbrochen, der seinem Herrn einige Worte leise ins Ohr flüsterte. »Gut.« – sagte der Baron – »Ich lasse bitten, im Vorzimmer einige Augenblicke zu verziehen. – Sieh' zu, Carl,« fügte er leiser hinzu – »daß dieser Herr nichts bemerkt. Wenn er fort ist, werde ich rufen.« »Ich muß gestehen« – sagte Berger zum Baron – »daß Sie eine eigenthümliche Anschauung dieser Angelegenheit haben. Weshalb schlagen wir uns denn?« »Das frage ich Sie. Ich sehe keinen Grund dazu. Aber da Sie behaupten, von mir beleidigt zu sein, so bin ich bereit, Ihnen das Vergnügen zu machen, vorausgesetzt, daß wir es Beide nicht mit zu großen Opfern bezahlen.« »Sie sind ein merkwürdiger Mensch« – bemerkte Berger, der nicht wußte, was er dazu sagen sollte, da er sich vergeblich Mühe gegeben hatte, der Sache ein feierliches Ansehen zu geben, und sein ganzes Vorhaben jetzt fast lächerlich fand. Am liebsten wäre er ganz davon abgestanden, wenn er die Sache nicht noch zu verschlimmern gefürchtet hätte. Außerdem gab es noch einen Gedanken in seiner Seele, der ihn davon zurückhielt. Alice. Nicht als wenn er durch dieses Duell, selbst wenn es glücklich für ihn enden sollte, einem Wunsche von ihr zu genügen geglaubt hätte. Im Gegentheil hatte Alice alle Mittel ihrer Ueberredungskunst aufgeboten, um ihn davon abzubringen, und hatte zuletzt nur geschwiegen, als er sie fragte, ob sie den Gedanken ertragen könnte, ihren Geliebten öffentlich und vor ihren Augen entehrt und beschimpft zu sehen. Hauptsächlich und der vielleicht ihm selbst nicht ganz klar im Hintergrunde seines Bewußtseins schlummernde Grund aber war der Ehrgeiz, vor den Augen seiner Geliebten auch mit andern Waffen, als denen der Liebe, seine Mannhaftigkeit zu beweisen. – Einen Augenblick schwebte ihm zwar das Bild der harmlosen Lydia vor, aber so fest und tief war er bereits in den Liebesbanden Alicens verstrickt, daß die Erinnerung an die Wonne, welche er in ihren Armen gefunden, jenes vorwurfsvolle Bild schnell in ihm verwischte. »Gut« – sagte er nach einer Pause, während deren er von Landsfeld, der dem Gange seiner Gedanken gleichsam mit den Augen zu folgen schien, scharf beobachtet wurde – »ich nehme Ihren Vorschlag an. Auch steht mir ja ohnehin keine Wahl zu. Bestimmen Sie das Weitere.« »Dreißig Schritt Distance und zehn Schritt Barrière, wenn's Ihnen so recht ist. Wir wechseln Jeder zwei Schüsse, ob zugleich, ob nach einander, will ich Ihnen überlassen. Im letzteren Falle bleibt derjenige, welcher den Schuß gethan, stehen, während der Gegner das Recht hat, bis an die Barrière vorzuschreiten.« »Und die Sekundanten?« »Ich glaubte, da Sie Ihren eigenen Cartelträger abgaben, würden Sie auch in Verlegenheit um einen Sekundanten sein?« »In der That, ich wüßte nicht –« »Nun wohl. Was bedürfen wir der Zuschauer. Auch ich habe keinen Bekannten hier, der mir diesen Dienst leisten könnte. Aber was meinen Sie dazu, daß wir unsere beiden Damen, die ohnehin schon Zuschauer der Scene gewesen sind, welche unseren Kampf hervorgerufen hat, bäten, diese Funktion zu übernehmen. Daß sie sich darauf verstehen und ihre Sache gut machen werden, dafür bürge ich Ihnen.« – Der letzte Zusatz berührte Berger unangenehm, da er eine Anspielung auf die frühere genaue Bekanntschaft des Barons mit Alicen enthielt. Indeß gab er freudig seine Zustimmung, weil er dann unter den Augen Alicens kämpfen würde. »Nun bleibt noch die Zeit und der Ort zu bestimmen übrig.« »Morgen in der Frühe um 6 Uhr, wenn's Ihnen gelegen ist. Wozu langer Aufschub?« Berger eilte seiner Wohnung zu, um noch einen Brief an Lydia zu schreiben – und dann in die Arme Alicens. Einen Augenblick blieb Landsfeld, nachdem ihn Berger verlassen, regungslos auf derselben Stelle sitzen. Dann stürzte er schnell ein Glas Wein hinunter und sprang auf. Nach einigen raschen Gängen durch das Zimmer trat er vor den Spiegel und studirte einige Sekunden die Züge seines Gesichts. Das Resultat seiner Forschungen schien nicht allzugünstig zu sein. »Verdammte Bewegung« – murmelte er vor sich hin, »die ich noch immer nicht bemeistern kann. Was ist doch die menschliche Willenskraft für ein erbärmliches Ding, wenn sie trotz aller Uebung nicht einmal diesen Linien und Falten gebieten kann, daß sie eine beliebige Form und Wendung nehmen, gleichviel ob es im Innern stürmt oder Windstille ist. Und was bewegt mich so, was weckt in meiner Brust die schlummernde Windsbraut, daß sie die Blutwogen durch die Adern peitscht, als sollte die rothe Brandung alle Ufer durchbrechen? – Ein Weib – nur ein Weib! Richard, wie klein bist du. Fühlst du es nicht, daß es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist? Hüte dich vor dem Cothurn, Alicen gegenüber; sonst bist du verloren. – Und doch, zwanzig Kugeln will ich lieber mit dem blonden Schäfer über dem Schnupftuch wechseln, als einen Kampf der Verstellung mit Alicen wagen. Genug der Reflexionen. Es ist die höchste Zeit zum Handeln. – Carl!« – rief er mit lauter und ruhiger Stimme. – Die Thüre öffnete sich. Landsfeld war überrascht, als er statt seiner frühern Geliebten eine männliche Gestalt über die Schwelle schreiten sah. Ein zweiter schärferer Blick überzeugte ihn jedoch, daß er sich in seiner Erwartung nicht getäuscht habe. Es war Alice. Sie war in Männerkleidern, über die sie einen weiten, faltigen Mantel geworfen. Schweigend wies Landsfeld auf das Sopha. Sie ließ den Mantel fallen und stand vor ihm da in jener geschmackvoll phantastischen Tracht, die Landsfeld für sie in Venedig nach eigener Erfindung hatte fertigen lassen und in der sie so oft mit ihm Ausflüge auf die Lagunen gemacht. Eine dunkelblaue, kurze, mit goldenen Schnüren besetzte Sammetkasawaika, die, durch einen schmalen goldenen Gürtel gehalten, den schlanken Leib umschloß, reichte bis zu dem vollen biegsamen Hals hinauf, der von einem einfach, aber sehr fein gestickten Brüsseler Kragen umschlossen war, und sich glatt, aber ungezwungen über das blaue Kleid legte. Weite und faltenreiche weiße seidene Beinkleider fielen bis auf den zartgebauten Fuß herab, welcher in einem kleinen schwarzen Sammetstiefel steckte. Als sie die Wachsmaske abnahm, die ihr Gesicht bedeckte, wäre ein Maler vielleicht überrascht worden durch die Bemerkung, daß die Schönheit ihrer Züge keinesweges der Anmuth und antiken Grazie ihrer Formen entsprach, denn sie zeichneten sich weder durch Regelmäßigkeit, noch durch eine besonders auffallende geistige Harmonie aus. Zwar war Alles in diesem Gesicht klein und zart, aber zugleich von so eigenthümlichem Schnitt, daß dadurch, und durch die Mischung von Sanftheit und Energie in ihren strahlenden Augen, alle ihre Züge einen etwas unbestimmten, proteuischen Charakter annahmen. Wenn auch die erste jugendliche Frische dieses Gesicht bereits verlassen hatte, so war es doch von großer Weiße und Feinheit der Zeichnung und gewann durch die an beiden Seiten es beschattenden kurzen braunen Locken einen höchst interessanten Ausdruck. Sie legte die Maske auf den Tisch und folgte der Einladung des Barons, welcher ihr mit große Ruhe eine Cigarre bot und ein Glas Wein präsentirte. »Du hast mich erwartet, Richard?« – fragte sie mit dem ihr eigenthümlichen mollartigen Tone, indem sie die Cigarre in Brand setzte. »Woraus schließest Du das?« – sagte der Baron schnell, weil sein Selbstgefühl sich durch den scharfen Blick Alicens, welche seine Ruhe richtig zu beurtheilen verstand, verletzt sah. Sie wies auf die drei Gläser. Landsfeld biß sich auf die Lippen. »Ich habe Cornelien erwartet« – sagte er. »Ich wünsche guten Appetit, mein Herr« – lachte Alice, indem sie den Baron mit seinen eigenen Worten persiflirte. »Das war kein kluger Streich von Dir, Richard« – fuhr sie mit melancholischer Stimme fort – »den armen Berger so zu kränken; und inhuman ohnehin.« Landsfeld zuckte die Achseln. »Du kennst ja mein aufbrausendes Wesen, Alice. Du hättest mich nicht so früh aus Deiner Schule entlassen sollen, denn wo hätte ich die Humanität besser und praktischer lernen können, als bei Dir?« »Du bist bitter, Richard. Hast Du so wenig Erhabenheit der Seele, um dem guten Arthur sein kurzes Liebesglück nicht zu gönnen, und was mehr ist – so wenig Stolz, um in ihm einen wirklichen Nebenbuhler zu sehen? Du bist eifersüchtig, mein Freund, und das ist schmachvoll.« »Du bist hinterlistig, meine theure Freundin, und das ist mehr als schmachvoll, es ist –« »Sprich nicht aus, Richard, ich bitte Dich. Ich weiß ohnehin Alles, was Du mir sagen kannst, und erwiedere auf dies Alles nur Eins: Entweder warst Du ein blinder Thor, als Du mich liebtest, denn ich habe Dir meine Ansichten über die Autonomie der Liebe nie verhehlt, ja ich bin überzeugt, daß Du mich dieser Freiheit wegen selbst geliebt hast – oder Du bist ein eitler Egoist, der nur dann für allgemeine Ideen sich enthusiasmiren kann, so lange er sich als den Mittelpunkt dieses Universums weiß.« »Vielleicht bin ich Beides, Alice« – sagte der Baron mühsam lächelnd, da er sich getroffen fühlte. »Was gedenkst Du zu thun? Berger hat Dich gefordert?« sagte Alice nach einer Pause. »Wir werden uns morgen in der Frühe schlagen. Er wird Dich bitten, ihm zu sekundiren.« »Das wird nicht gehen. Denn ich habe Cornelien gefordert; wir duelliren uns um dieselbe Zeit.« Landsfeld schlug ein schallendes Gelächter auf. – »Das ist ja eine wundervolle Idee. Und Cornelia hat die Forderung angenommen, natürlich.« »Ich habe noch keine Antwort, aber ich zweifle nicht daran.« »O, sie muß. Ich will sogleich an sie schreiben.« »Du kannst sie ja morgen abholen, wenn's Zeit ist.« »Es ist wahr. Womit schlagt ihr euch?« »Auf Hieber. Es war dies eben auch ein Grund, weswegen ich so spät noch zu Dir komme. Kannst Du mir ein Paar besorgen?« »Leider besitze ich solche nicht, aber ein Paar kurze Stoßrappiere stehen zu Deiner Disposition.« »Gut, – doch – was gedenkst Du zu thun mit Berger?« »Es thut mir leid, Deine Unruhe nicht beschwichtigen zu können. Du wirst es morgen selbst sehen.« »In der That bin ich in Unruhe um ihn. Denn er ist ein Mensch von seltener Reinheit und Tiefe des Gemüths. Du solltest ihn näher kennen lernen, Richard. Ich wette, Du würdest ihn liebgewinnen.« »Möglich« – sagte der Baron kalt. »Kennst Du noch diesen Anzug?« – fragte Alice, indem ein plötzliches Feuer in ihren Augen aufloderte. »Wie oft hat Dich der blonde Schäfer darin bewundert?« gegenfragte Landsfeld, indem er seine Lippen zu einem sybaritischen Lächeln zwang, das jedoch nicht völlig frei von Bitterkeit war. »Nie« – erwiederte Alice melancholisch – »aber ich werde mich morgen darin schlagen.« Es lag eine solche Wahrheit in der tragischen Ruhe, mit der Alice diese Worte aussprach, daß selbst Landsfeld einen kurzen Schauer fühlte. – Alice legte sich in die Ecke zurück und schloß die Augen. Sie bot einen verführerischen Anblick dar. Er warf einen langen, glühenden Blick auf sie. Sein Herz pochte. Er hatte dies Weib übermenschlich geliebt, er war ein Gott in ihren Armen gewesen. Jetzt war nur noch die Wahl, ob er den Göttersitz, von dem sie ihn selbst um eines Andern Willen verstoßen – ihn verstoßen, wieder einnehmen oder ihn zertrümmern müsse. Es war ein Augenblick des gewaltigsten Kampfes, indem alle Mächte seiner Seele gleich Titanen gegen den Olymp seiner Energie anstürmten. – Seine Lippe zitterte, sein Auge glühte und eine fahle Blässe bedeckte sein Gesicht. Er stand auf. Alice öffnete die Augen, halb träumerisch, halb verlangend war ihr feuchter Blick auf Landsfeld gerichtet. – Aber der Kampf war in ihm bereits ausgekämpft. Seine Lippe zitterte nicht mehr und seine Züge hatten ihren gewöhnlichen Ausdruck und ihre natürliche Farbe wieder erlangt. Nur in seinen Augen loderte noch die Glut des innern Ringens nach. »Es ist spät, Alice« – sagte er mit großer Besonnenheit. »Ich habe noch zu thun. Und auch Du –.« Er vollendete nicht die Bitterkeit, welche auf seinen Lippen lag, als er Alicen erblassen und in einen Strom von Thränen ausbrechen sah. »So ist es wirklich aus?« – sagte sie nach einer Weile, indem sie sich erhob. »O Richard. Jetzt, wo mein Stolz sich zwischen uns gelagert hat, kann ich Dir sagen, daß es nur eines Wortes von Dir bedurft hätte, um jedes andern Glückes außer des von Dir mir gewährten zu entsagen. – Vielleicht aber ist's besser so.« – Sie warf den Mantel um und legte die Maske vor das Gesicht. »Auf Wiedersehen morgen früh, oder vielmehr heute früh, denn Mitternacht ist wohl längst vorüber. Lebe wohl, Richard.« Sie reichte ihm die Hand. »Laß uns ohne Groll scheiden. – Du hast mir sehr, sehr wehe gethan, aber ich schwöre es Dir bei Gott – nein, das ist eine Redensart – bei der Seele meines Kindes – das Du so oft auf Deinem Schooße gewiegt, ich werde Dich nie, nie hassen können. Denn Du bist der einzige Mann, den ich als Mann kennen gelernt. Lebe wohl.« Ehe noch Landsfeld ihren Abschiedsgruß erwiedern konnte, hatte sie bereits das Zimmer verlassen. Er öffnete das Fenster. Eben trat sie auf die Straße. Ihr faltenreicher schwarzer Mantel, unter dem zuweilen die weißen Beinkleider hervorblickten, flatterte noch lange im Scheine des hellen Mondlichtes und verschwand endlich den Blicken des Nachsehenden. Landsfeld trat vom Fenster zurück. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen quälenden Gedanken davon verscheuchen. Dann richtete er sich hoch auf. Ein Siegeslächeln schwebte auf seinen Lippen, aber ein reineres als jenes höhnische Lächeln triumphirender Schadenfreude, das seinen Mund verzerrte, als er das Billet Lydia's gefunden. »Ich will eine Entscheidung« – sagte er im lauten Selbstgespräch – »der letzte mögliche Beweis muß geprüft werden. Soll ich mich ewig mit der quälenden Ungewißheit foltern, ob es sich lohnt, an die Menschen zu glauben oder nicht? Soll ich immer wieder aus der Seelenruhe gleichgültiger Verachtung aufgestört werden durch die heuchlerische Hoffnung, es sei doch wohl ein Irrthum von mir, mit jeder Wahrheit in der Menschenbrust abschließen zu wollen? – Ich will Gewißheit haben, ich will ganz versöhnt sein mit den Menschen – und ich bin es, sobald ich Einen finde, von dessen Wahrheit ich so fest überzeugt bin, daß auch die Möglichkeit eines Zweifels undenkbar wird – oder ich will für immer das Recht haben, überall Schein zu sehen! – Darum, Alice, mußten wir uns trennen, Du giebst mir nur halben Glauben, bei Dir wird meine Sehnsucht nach der lautern und ungeschminkten Reinheit des weiblichen Herzens nur brennender und qualvoller. Aber Du kannst diesen Durst nicht löschen; und ich will nicht länger dürsten; wie der Wanderer in der Wüste suche ich nach der grünenden Oase – ich will nicht länger suchen. Noch einen Schritt will ich thun, noch einer Spur will ich folgen. Führt auch diese mich nur in die Irre, so will ich sagen: Es giebt keine Quelle der Wahrheit in dem Weibesherzen .« Er setzte sich, um ein Billet an Cornelien zuschreiben, worin er ihr sagte, daß sie sich um 5 Uhr früh bereit halten sollte. Er siegelte es und rief seinen Diener. »Carl, Du gehst sogleich nach dem Gasthof zum weißen Strauß, weckst den Portier, wenn er schon schläft, und giebst ihm dieses Billet mit der Weisung, es entweder gleich oder noch vor Sonnenaufgang an seine Adresse zu geben.« Dann schrieb Landsfeld noch einen andern Brief, an Lydia, worin er sie bat, sich um das etwaige Ausbleiben ihres Verlobten nicht zu ängstigen. Er gab als Grund das Duell an, da sie doch möglicher Weise durch einen Dritten davon hören könne, und dann ihre Unruhe noch größer sein würde; versicherte ihr aber auch zugleich auf sein Ehrenwort, daß er fest entschlossen sei, seinem Gegner kein Haar zu krümmen. Sie könne folglich ohne Sorge sein. Der Ton des Briefes ging in keiner Weise über die Forderungen conventioneller Höflichkeit hinaus. Ohne eine Andeutung über die Gründe des Duells zu geben, stellte Landsfeld das Motiv seiner Mittheilung auf kein persönliches Interesse für die Empfängerin, sondern stellte als solches einfach seine Pflicht als Mensch und Ehrenmann hin, und vermied es, über seine Betheiligung und seine Gesinnung in Rücksicht auf diesen vorliegenden Fall auch nur entfernt zu berühren. Als er mit dem Schreiben und der Schließung des Briefes fertig war, hatte sich auch bereits sein Diener des Auftrags an Cornelia entledigt. Er hatte die Letztere noch sprechen können, und das Billet selbst übergeben. »Sie würde zu jeder Stunde bereit sein, da sie sich gar nicht zur Ruhe begeben würde« – war ihre Antwort. »Jetzt kannst Du ein Paar Stunden schlafen. Um vier Uhr mußt Du bereit sein, mich auf einem Spaziergange zu begleiten. Gute Nacht.« 3. Kapitel Drittes Kapitel Schon lange bevor die Sonne am östlichen Horizont, der die in weißlich grauen Dunst eingehüllte Ebene begrenzte, ihre ersten Blitzstrahlen gegen die dichte Nebelmasse ausgesandt und ihr Nahen nur erst durch einen breiten, langen, aber schwachen Purpurstreifen, der zuweilen durch den, wie zum Widerstande sich scheinbar immer mehr verdichtenden Nebelflor verwischt wurde, glänzten die im Westen gelegenen Spitzen des Gebirges in dunkelrother Glut, die sich immer tiefer und tiefer senkte. Endlich erschien auch auf der entgegengesetzten Seite ein blutrother feuriger Streifen. Immer höher und höher sich erhebend, gestaltete er sich zuletzt zum leuchtenden Feuerball, welcher auf der scharf hervortretenden Linie des Horizonts tanzend zu schweben schien. Es war ein wundervoller Anblick, wie ihn nur der verstehen und nachempfinden kann, der ihn einmal in seiner ganzen Größe und Schönheit genossen hat. Jede Beschreibung ist matt und farblos gegen eine solche Wirklichkeit. Die zuckenden, sprühenden Strahlen der Sonne, welche wie feurige Pfeile des zürnenden Gottes durcheinander schießen, bis sie die kämpfenden Nebelmassen zerstreuen, die sich nun fliehend um die Gipfel der Bäume schaaren, als wollten sie im Schatten der Wälder ein schützendes Bollwerk gegen die Macht des Lichts suchen – die glühenden Bergspitzen und vor Allem der frische balsamische Duft, welcher wie ein phantastischer Traum der halb noch träumenden Erde auf Berg und Thal, auf Wald und Flur schwebt –: Wer vermag jemals alle die stillen Wonneschauer und die schweigende Begeisterung zu vergessen, die ihn bei der Feier dieses erhabenen Naturkultus durchbebte? Als die Strahlen des sich höher aufschwingenden Sonnenballs auf die Dächer des noch größtentheils im tiefen Schlaf ruhenden Dorfes fielen, und nur erst einzelne Badegäste, denen der Arzt einen frühen Spaziergang als Kur verschrieben hatte, gähnend und fröstelnd sich zu diesem unbequemen Geschäfte bereit machten, öffneten sich auch die grünen Läden des letzten weißen Häuschens, über dessen Dach die, uns aus der Beschreibung Carls schon bekannten mächtigen Kastanienbäume ihre schützenden Zweige ausstreckten. Das Fenster war jedoch mit zwei übereinanderstehenden Reihen von Blumentöpfen so bestellt, daß man Anfangs nichts von dem menschlichen Wesen bemerken konnte, das so früh den schönen Morgen begrüßen zu wollen schien, als eine niedliche, feine Hand und einen runden Arm von überraschender Zartheit und Weiße. Die Läden waren nun wohl geöffnet, allein sie mußten noch von beiden Seiten des Fensters befestigt werden. Dies schien auch die Besitzerin der kleinen Hand und des reizenden Arms für nothwendig zu erachten, denn sie öffnete auch den andern Fensterflügel und nahm die oberste Reihe der Blumentöpfe behutsam ab und schien einen nach dem andern auf einen neben dem Fenster stehenden Tisch zu setzen. Nach Beendigung dieses Geschäfts beugte sie etwas den Kopf vor, indem sie einen schnellen Blick über den Gartenzaun auf die nächste Umgebung und seitwärts auf die Straße warf, ob sie auch nicht von einem unbefugten Zuschauer belauscht werde. Durch die tiefe Stille ringsumher beruhigt, richtete sie nun ihre Blicke in die Ferne. War es die Glut des östlichen Himmels, an dem eben die Sonne in ihrer vollsten Pracht sich erhoben hatte, welche auf ihrem lieblich schönen Gesicht wiederstrahlte, oder war es die stille Wonne ihres Innern, die halb wehmüthige Freude über die unfaßbare und doch die ganze Menschenbrust erweiternde Schönheit der Natur: ihre Wangen rötheten sich tiefer, ihre Augen wurden glänzend und feucht und ihre Hände legten sich unwillkührlich, wie in lautloser, heiliger Andacht über dem schneller wogenden jungfräulichen Busen zusammen. Eine tiefe ruhige Sehnsucht lag auf ihren Zügen und in dem blauen Auge, das wie in schmerzlich inniger Empfindung nur halb aufgeschlagen in die Ferne blickte. Es war ein überaus lieblicher Anblick, ein Anblick, der dem zweifelsüchtigen Landsfeld gewiß den vollen Glauben an reine Weiblichkeit wiedergegeben hätte. Sie seufzte tief, ohne wohl zu wissen, warum. Denn was konnte dieses Kindesherz schon getroffen haben, daß es von Schmerz erfüllt war? Ein unbestimmtes Sehnen nur war es, was ihre Brust bewegte und zugleich erweiterte. Denn es war ihr, als müßte sie alles das Schöne, Herrliche und Große, was sich da draußen vor ihren Blicken entfaltete, hineinziehen in die Brust, oder als müßte sie selbst sich hinausstürzen und sich auflösen in die allgemeine Seligkeit der Natur. Ein innerlich tiefer, aber lautloser Jubel durchzog zugleich ihr ganzes Wesen – sie weinte, ob vor Schmerz oder vor Wonne, sie wußte es selbst nicht. Eine Thräne fiel auf ihren vollen, weißen Busen herab, der in ungestümen Wallungen sich unter dem lose befestigten Nachtkleide hervorgedrängt hatte, als wolle er sich in dem thaufeuchten Balsam der kühlen Morgenluft baden. Unwillkührlich erröthend, obschon sie sich allein und unbelauscht wußte, zog sie, zum schnellen Bewußtsein der Wirklichkeit erwachend, das Kleid über der Brust zusammen und bog sich, nachdem sie noch eine Thräne aus dem Auge getrocknet, über die Blumentöpfe hinaus, um die Laden zu befestigen. In diesem Augenblicke kam Landsfeld, in Begleitung Corneliens und des nachfolgenden Dieners, der die Waffen unter dem Mantel trug, um die Ecke. Lydia sprang schnell vom Fenster zurück, doch hatte bereits der scharfe Blick des Barons sie erreicht, was er indeß durch keine Bewegung verrieth. Vielmehr ging er ruhig und wie in ein eifriges Gespräch mit seiner Begleiterin versenkt, ohne einen zweiten Blick nach dem Fenster zu werfen, vor demselben vorüber. Lydia holte tief Athem, ihre Farbe, die einen Augenblick das Gesicht völlig verlassen hatte, kehrte allmählig wieder zurück. Ueber ihren eigenen Schreck lächelnd, trat sie wieder an das Fenster, indem sie jedoch vorher noch einen Blick in den Spiegel warf, um sich von der Ordnung ihrer Toilette zu überzeugen. In der That hatte sie zu einer so ängstlichen Flucht keine Veranlassung, denn das sehr reizende Morgenhäubchen, welche das kindlichreine Oval ihres Gesichts umschloß, war eben so untadelhaft, wie das lange faltige, blendend weiße Morgenkleid, das bis hoch über die Schulter hinaufreichte. – Nachdem sie noch die Vorsicht angewendet, das letztere unter dem Halse mit Hülfe einer Nadel zu einem festeren Anschluß zu zwingen, wobei sie abermals erröthend die Augen niederschlagen mußte, weil ihr einfiel, wie gering der Zeitraum war, welcher zwischen dem Erscheinen des vorhererwähnten Paares und dem Fall der Thräne, die sie aus ihrer Träumerei erweckt hatte, lag – trat sie abermals an das Fenster, um endlich einmal ihr Geschäft zu vollenden. Diesmal wurde sie von Niemandem beunruhigt. Nachdem die Laden befestigt waren, begann sie die in die Stube gestellten Töpfe wieder an ihren früheren Platz zu stellen, als sie zwischen den beiden mittelsten Töpfen der unteren Reihe ein zusammengewickeltes Blatt Papier bemerkte. Sie zog es neugierig hervor, und öffnete es. Da erblickte sie auf der Einlage ihre eigene Schrift. Als sie das Blatt entfaltete, erkannte sie ein Billet, das sie vor einigen Tagen an ihren Verlobten geschrieben. Um so neugieriger ergriff sie nun das andere Blättchen, in dem jenes eingeschlagen war, und las unter wachsendem Erstaunen folgende mit Bleifeder geschriebenen Worte: Unsere Freuden sind wie Stäub chen, die von den Rädern des Le benswagens fliegen, um sich einen Augenblick in der Sonne zu spiegeln . Eine ihr selbst unerklärliche Angst ergriff Lydia bei diesen Worten; es war ihr, als sei ein großes Unglück geschehen, und doch hatte sie keine Vorstellung davon, was es eigentlich sei, das sie so in Furcht setzte. Es lag in den Worten des Zettels – das fühlte sie wohl – etwas Düsteres, Unheil Andeutendes, das sie zur Resignation und Fassung aufforderte. Zuweilen schien ihr eine Art melancholischen Trostes darin zu liegen, für einen großen unbekannten Verlust, der ihr drohte, oder der sie gar schon betroffen hatte. – Eine unnennbare Unruhe ergriff sie. Sollte sie die mit Bleistift geschriebenen Worte mit dem Inhalt des Billets in Verbindung setzen, das sie an ihren Verlobten geschrieben? Oder hatte den Letzteren ein Unfall getroffen? Der Gedanke trieb alles Blut nach ihrem Herzen. Wieder und wieder las sie die räthselhaften Worte, ohne den tieferen Sinn, den sie darin vermuthete, zu begreifen. Sie eilte in das Nebenzimmer, um zu sehen, ob ihre Mutter, zu der sie ein unbedingtes, schrankenloses Vertrauen hatte, schon wach geworden. Diese wollte sie um Rath fragen. »Liebes Kind« – sagte die würdige und liebenswürdige Frau, nachdem sie mit Aufmerksamkeit beide Zettel durchlesen – »Du beunruhigst Dich, wie es mir scheint, mit Unrecht. Was sollte Berger widerfahren sein? Vielleicht haben die Worte, die Dir solche Angst machen, schon auf dem Zettel gestanden, ehe ihn der unbekannte Finder des Billets zum Umschlag für das Letztere gebraucht. Auch muß es wohl ein Bekannter sein, denn wer anders, als ein solcher, kennt Deinen Vornamen und Deine Wohnung? – Vielleicht ist es auch ein Scherz von irgend Jemand. Alles dies scheint mir der Wahrheit näher zu liegen, als Deine gänzlich unbegründete Ahnung von irgend einem Unglück. Beruhige Dich deshalb. – Heute Nachmittag wirst Du ja ohnehin Berger sehen, denn er versprach uns ja zu einem Spaziergang abzuholen. Theile ihm dann offen die Thatsache, aber auch nur diese, mit. Er wird Dir gewiß genügende Erklärung darüber geben können.« Die Ruhe, mit der die Mutter sprach, wirkte auf Lydia wohlthätig ein. Sie wurde ebenfalls ruhiger und begriff zuletzt nicht, wie sie sich einer so kindischen Furcht habe hingeben können. Bald war von der ganzen Unruhe weiter kein Gefühl in ihr zurückgeblieben, als das der Erwartung und Neugierde, wie sich bei Bergers Erscheinen die Sache aufklären würde. Sie eilte leichten Schrittes in den Garten hinter dem Hause hinab, um die Blumen zu tränken, ehe die Sonne zu hoch gestiegen. Mit einem halb wehmüthigen, halb freudigen Blicke sah ihre Mutter ihr nach. Sie war keineswegs so ruhig und unbesorgt, als sie es Lydien gegenüber geschienen hatte. Denn seit einigen Tagen war sie durch verschiedene Aeußerungen einiger Badegäste, die das Verhältniß Lydiens zu Berger nicht kannten, oder nicht zu kennen sich den Anschein gaben, aufmerksam auf das Betragen des Letzteren geworden. Es hatte ihr geschienen, als würde sein Name nicht selten in Verbindung mit dem einer vor einigen Tagen angekommenen Dame genannt, die durch ihre eigenthümliche Stellung in der Welt, da sie nur in Begleitung einer jungen Dienerin zu reisen schien, so wie durch die Freiheit und Selbstständigkeit ihres Benehmens allgemeines Aufsehen erregte. Sie hatte bisher ihre Vermuthungen und Befürchtungen vor Lydia verborgen, weil sie zuvor klar sehen wollte, ehe sie das harmlose Kind beunruhigen wollte. Es war zwar möglich, daß Berger auf seiner Reise nach Italien, die er seiner künstlerischen Ausbildung wegen unternommen, Frau von Rosen irgendwo kennen gelernt und nur die Bekanntschaft, die vielleicht ganz oberflächlicher Natur war, wieder aufgenommen hatte. Aber diese Vermuthungen lösten die Bedenken, welche der Mutter Lydiens aufgestiegen waren, nicht; vielmehr gewannen die letzteren durch den Umstand, daß Berger bisher noch mit keiner Sylbe seiner neuen Bekanntschaft erwähnt hatte, in ihr ein so großes Gewicht, daß sie zuletzt sogar auf den Verdacht fiel, das Zusammentreffen Bergers mit Frau von Rosen im hiesigen Bade sei nicht ganz einem glücklichen oder unglücklichen Zufalle zuzuschreiben. Unter diesen Umständen mußte auch der Vorfall, welcher ihrer Tochter einen so großen Schreck verursacht hatte, für sie eine ganz andere und wichtigere Bedeutung gewinnen, als sie Lydia gegenüber ihm beizulegen geschienen hatte. Schon mehrmals hatte sie den Vorsatz gefaßt, mit Berger offen über sein Betragen zu sprechen. Doch da sie bisher in dem Benehmen gegen Lydia im Grunde nichts auszusetzen gehabt hatte, vielmehr über seine achtungsvolle Zurückhaltung nur erfreut sein konnte, so war sie immer wieder von demselben zurückgekommen, da sie wohl wußte, wie nachtheilig ein solches Gespräch auf die Unbefangenheit und Klarheit des Verhältnisses wirken mußte, im Fall ihre Verdachtsgründe sich als nichtig ergeben sollten. Dieser letzte Vorfall aber gab eine genügende und sich durch sich selbst rechtfertigende Veranlassung, um an Berger eine Frage zur Erklärung desselben zu richten. So faßte sie denn in demselben Augenblicke, als sie nach Lesung der mit Bleifeder geschriebenen Worte Lydia zu beruhigen versuchte, den Entschluß, noch heute über alle ihre Bedenken und Zweifel in's Klare zu kommen; ein Entschluß, der, je länger sie darüber nachdachte, um so größere Festigkeit erlangte, als sie in jenen räthselhaften Worten, die an Lydia gerichtet zu sein schienen, nur eine Art Bestätigung ihrer Befürchtungen erblicken zu müssen glaubte. Indessen hatte Lydia ihre Beschäftigung im Garten beendet, und war im Begriff, ihren Vogel, dessen Bauer sie bereits zwischen den Blumentöpfen des nach dem Garten hinaussehenden Fensters aufgestellt hatte, mit Nahrung zu versehen, als ihre Mutter sie rief. »Ich glaube, es wird jetzt Zeit sein, daß wir uns ankleiden, liebes Kind. Die Stunde, da ich zur Quelle muß, naht heran, und im Fall Du nicht vorziehest, zurückzubleiben –« »Ach nein, laß mich mit Dir gehen, liebe Mutter. Du wirst so leicht müde, wenn Du keinen Begleiter hast, auf den Du Dich stützen kannst. Ich mag auch heute nicht allein zu Hause bleiben, mir ist so bange, ich weiß selber nicht warum.« »Furchtsames Kind, Du« – lächelte die Mutter, der im Grunde nicht minder bange zu Muthe war. Nach einer halben Stunde war die Toilette der Damen beendet. Arm in Arm traten sie aus dem Hause und begaben sich langsam nach der ziemlich entfernten Quelle. Da diese an dem entgegengesetzten Ende des Dorfs höher hinauf am Abhange des Berges gelegen war, so hätten sie das Dorf seiner ganzen Länge nach durchmessen müssen. Indeß führte hinter der rechts gelegenen Häuserreihe, am Ufer des Bachs, der nach seinem Austritt aus dem Park an dem Dorfe sich hinschlängelte, ein schmaler, nur höchstens für zwei Personen betretbarer Fußsteig, den die beiden Damen sonst wegen seiner Feuchtigkeit des Morgens zu vermeiden pflegten. Heute jedoch schien die Sonne so warm und erquicklich, daß sie unwillkührlich, statt die Straße hinabzugehen, um die Ecke des Hauses bogen, um den erwähnten Fußsteig zu gewinnen, auf dem sie in weit kürzerer Zeit die Quelle erreichen konnten. Still wanderten sie neben einander her, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Durch instinktartige Furcht davon abgehalten, vermieden sie es, über das heutige Ereigniß zu sprechen, obwohl sie Beide ahnen mochten, daß dies gerade der gemeinschaftliche Gegenstand ihres Nachdenkens und die Ursache ihres Schweigens war. Als sie über die Hälfte des Wegs zurückgelegt, hörten sie plötzlich in weiter Ferne einen Schuß fallen, der vom Gebirge herabzutönen schien. Ein schnelles, aber rasch unterdrücktes Zittern des Arms ihrer Mutter, der sich auf den ihrigen stützte, bewies Lydia, daß ihre Mutter durch den Schuß erschreckt worden war. Sie erblaßte. »Mein Gott, liebe Mutter –« »Still, mein Kind. Es war eine bloße Schwäche.« Ein zweiter Schuß fiel, aus derselben Richtung herüberschallend. Die innere Aufregung Lydiens nahm zu. Ihre Mutter hatte die Fassung völlig wieder erlangt, aber nicht ohne eine gewaltsame innere Anstrengung, die dem milden Ernst, welcher gewöhnlich auf ihren regelmäßigen und feinen Zügen lag, einen Charakter von Erhabenheit und Seelengröße verlieh. Nach einer längern Pause fiel ein dritter und unmittelbar darauf ein vierter Schuß. – Die Schritte der bei den Damen wurden schneller, als wollten sie dem unheimlichen Eindruck, den das Schießen auf sie hervorbrachte, entfliehen. Erhitzt und fast athemlos, ob mehr vor innerer Bewegung oder von der körperlichen Aufregung war schwer zu entscheiden, langten sie im Brunnenhäuschen an, um das sich bereits eine große Zahl von Trinkenden versammelt hatte. Das Geräusch und die gleichgültigen, zuweilen vom munteren Gelächter unterbrochenen Gespräche wirkten beruhigend auf ihre aufgeregten Gemüther. Lydia wurde von einigen jungen Mädchen, die ihr in der Residenz, wo sie mit ihrer Mutter die letzten beiden Winter nach dem Tode ihres Vaters, des Forstraths von Dornthal, zugebracht hatte, bekannt waren, umringt und vergaß bald unter Scherzen und Lachen ihre eben gehabte Angst. An die Forsträthin von Dornthal schloß sich ebenfalls ein Bekannter an, ein Freund ihres verstorbenen Mannes, der Hofrath Rupf, dessen geschäftiges, prunksilberartiges Wesen, gepaart mit einer grenzenlosen Bonhommie und unerschöpflichen Laune, ihn zum allgemeinen Liebling der Badegäste und besonders des weiblichen Theils derselben gemacht hatte, weil er sich nichts mehr angelegen sein ließ, als für das allgemeine Vergnügen und gemüthliche Zusammenleben der Badegesellschaft zu sorgen. Wenn man den langen, aber beweglichen Mann durch die bunten Reihen der jungen Mädchen hüpfen sah, um sich nach dem Befinden der Einen zu erkundigen, oder den Rath der Andern in Betreff der Arrangirung einer Partie einzuholen, so mußte die warme Sympathie auffallen, die ein so ernster und ruhiger Charakter, wie ihn Frau von Dornthal besaß, gegen den maitre de plaisir an den Tag legte. Auf der andern Seite war aber auch das Benehmen Rupf's gegen die Mutter Lydiens ein ganz verschiedenes von dem, was er gegen jede Andere annahm. So übertrieben höflich, fast an's Geckenhafte streifend, seine Courtoisie gegen die jungen Mädchen war, die ihre muthwilligsten Launen an ihm ausließen, so zurückhaltend innig und freundlich warm zeigte er sich gegen die Forsträthin. Diese wußte sein treues, biederes Herz, seine rührende Anhänglichkeit an ihren verstorbenen Gemahl, und Aufopferung seiner Interessen für sie selbst und ihre Angelegenheiten wohl zu schätzen. Sie verehrte ihn als ihren besten, wahrhaft ergebenen Freund und hatte ein unbeschränktes Vertrauen zu ihm. Mit Herzlichkeit erwiederte sie daher auch jetzt den Händedruck des Hofraths, der sich mit theilnehmender Besorgniß nach ihrem Befinden erkundigte. »Kommen Sie, lieber Freund« – sagte sie, ihren Arm in den seinigen legend. »Ich möchte Sie um Ihren Rath in einer Angelegenheit bitten, die mir große Sorge macht.« »Sprechen Sie, theuerste Räthin, sprechen Sie – mein Rath, meine Hülfe, das wissen Sie ja, kann Ihnen niemals entgehen, wenn ich sie zu geben im Stande bin.« Sie schlugen einen weniger betretenen Seitenweg ein. Die Forsträthin theilte ihm unverholen ihre ganze Besorgniß in Betreff Bergers mit, indem sie ihn zugleich bat, ihr Alles, was er aus glaubwürdiger Quelle, oder aus eigener Wahrnehmung über die Bekanntschaft zwischen Lydiens Verlobten mit Frau von Rosen wüßte, mitzutheilen. Eine halbe Stunde mochten sie im eifrigsten Gespräch begriffen gewesen sein, das nur durch einen öfter wiederholten Gang zum Brunnen unterbrochen wurde, als sie plötzlich durch ein lautes Geschrei aufmerksam gemacht wurden, das mitten aus dem Kreise der noch kurz zuvor heiter lachenden Mädchen hervorzuschallen schien. Voll trüber Ahnung und schon durch das Gespräch aufgeregt, eilte die Forsträthin nach der Stelle des Tumults. Die Mädchen waren um eine ihrer Gefährtinnen beschäftigt, die eben in Ohnmacht gefallen war. Es war Lydia. Ihr schöner Kopf ruhte bewegungslos in dem Schooße einer ihrer Freundinnen, die sich auf die Kniee niedergeworfen hatte. Ihr linker Arm war, wie vor innerm Schmerz, auf die Brust gepreßt und in der rechten Hand hielt sie krampfhaft ein zusammen geknittertes Stück Papier. Eine allgemeine Verwirrung herrschte in der Gesellschaft. Die Mutter Lydiens warf sich mit einem lauten Schrei auf ihre Tochter und wäre selbst bewußtlos hingesunken, wenn nicht die große Energie ihres Geistes sie aufrecht erhalten hätte. Der Hofrath eilte, ohne sich lange nach der Ursache dieses unglücklichen Zufalls zu erkundigen, sogleich fort, um einen Wagen zu holen, in dem Lydia nach Hause gebracht werden konnte. In den ersten Minuten war die Forsträthin nicht im Stande, weder eine Frage zu thun, noch ihrer Tochter eine wirksame Hülfe zu leisten. Glücklicherweise war der Badearzt in der Nähe. Seinen Bemühungen gelang es bald, Lydia zur Bewegung und zum Leben zurückzurufen. Aber sie verstand Nichts von dem, was um sie her vorging. Ihr Bewußtsein war mit einem dichten Schleier verdeckt, der wohl das Licht durchdringen, aber nicht die Form und das Wesen der Gegenstände erkennen läßt. Matt und willenlos ließ sie sich in den indeß herbeigekommenen Wagen heben, in den außer ihrer Mutter auch der Hofrath mit einstieg. Rasch fuhren sie in's Dorf hinab nach dem Häuschen unter den Kastanienbäumen. »Haben Sie Etwas über die Ursache von Lydiens Unwohlsein erfahren können?« – fragte der Hofrath, der zu derartigen Erkundigungen keine Zeit gehabt. »Es wurde nur von einem kleinen Knaben gesprochen, der auf Lydia zugegangen sei, als kenne er sie schon lange, und ihr einen Brief überreicht habe. Sie habe ihn sogleich mit sichtlicher Bewegung erbrochen und, nachdem sie einen Blick hineingeworfen, sei sie sofort bewußtlos niedergesunken.« »Vielleicht ist dieß der unselige Brief« – äußerte der Hofrath, auf das zerknitterte Papier in der rechten Hand Lydiens deutend. Rasch griff die Forsträthin danach, nachdem der Hofrath mit Mühe die zusammengepreßte Hand geöffnet und den Zettel herausgenommen hatte. »Gott sei Dank!« – athmete die geängstigte Mutter tief auf. Ein Thränenstrom, der ihrer bisher zurückgehaltenen Angst Luft machte, stürzte aus ihren Augen. »Lesen Sie« – setzte sie hinzu, dem Hofrath das Papier hinreichend, indem sie sich ermattet in die Wagenecke zurücklehnte. 4. Kapitel Viertes Kapitel Als Alice von Rosen nach dem früher geschilderten Gespräch mit dem Baron in jener Nacht in ihre Wohnung zurückgekehrt war, warf sie hastig die Männerkleidung von sich und rief ihrem Mädchen. »War Jemand hier, Marie?« – »Nein, gnädige Frau« – antwortete das junge Mädchen, indem sie ihrer Herrin das Nachtkleid überwarf. »Desto besser« – sagte Alice zu sich selbst. – »Bringe mir ein Glas recht kühles Wasser und eine Cigarre, dann kannst Du zu Bett gehen.« Als sie allein war, ging sie mit schnellen, aber ungleichen Schritten im Zimmer auf und nieder. Die düster brennende Lampe warf ein unsicheres Licht auf die Wand, an der der Schatten Alicens wie ein Nachtgespenst hin und niederfuhr. »Sollte ich mich diesmal getäuscht haben« – sprach sie vor sich hin. – »Sollte dieser Mann mir wirklich widerstehen können? Es darf nicht sein! – O, verschmäht, verschmäht von ihm! Jetzt fühl' ich, was es heißt, den Strom der Sehnsucht zur Umkehr nach der Quelle zu zwingen. – Er war kalt, kalt wie Eis. Er kann kein Herz haben, dieser Mann – Herz?« – Sie lächelte bitter. »Hab' ich denn ein Herz? – Aber Du täuschest Dich, Richard, wenn Du meinst, daß ich den Kampf schon aufgegeben.« – Sie richtete sich stolz auf bei diesen Worten. Ihre Augen blitzten und eine flammende Röthe bedeckte ihr Gesicht. – Nach einer Pause, in der sie einigemal durch das Zimmer geschritten war, blieb sie plötzlich stehen, als hätte ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregt. »Es ist Berger« – sagte sie langsam, indem eine Falte des Unmuths auf ihre Stirn sich lagerte. »Du wählst eine unpassende Zeit, lieber Freund.« Sie warf sich, wie in dumpfer Resignation, auf das Sopha und bedeckte die Stirn mit der Hand. Berger öffnete leise die Thür. Er sah blaß und niedergeschlagen aus. Erstaunt blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen, als Alice ihm nicht entgegen kam. »Bist Du krank, theure Alice?« – fragte er besorgt, indem er näher trat. »Dein Gesicht ist erhitzt, Dein Puls fliegt. Was fehlt Dir? sprich. O, sprich doch !« bat er ängstlich, indem er auf das zu ihren Füßen stehende Tabouret niederkniete und ihre Hand von der heißen Stirn halb mit Gewalt niederzog und sie mit Küssen bedeckte. »Es ist nichts, Arthur; beruhige Dich. Ein wenig Kopfschmerz – die Aufregung vom Morgen.« Sie machte eine Anstrengung, um die verlorene Besonnenheit wieder zu erlangen. – »Weißt Du, was ich in Deiner Abwesenheit gethan?« fragte sie plötzlich mit heiterem Ton. »Ich habe Cornelien gefordert.« Sie fing an zu lachen. »Du hast sie wirklich gefordert? Und darüber lachst Du?« »Warum soll ich nicht darüber lachen? Ich freue mich schon im Voraus auf einen Gang mit ihr. Uebrigens führt sie eine gute Klinge und ist fürchterlich erbittert auf mich. Ach, wenn wir nur erst auf der Mensur ständen« – fügte Alice mit der gewöhnlichen melancholischen Weichheit im Ton hinzu, den ihre Stimme gerade dann am meisten annahm, wenn der Inhalt ihrer Worte ganz entgegengesetzter Natur war. »Du bist ein Heldenweib, Alice!« – sagte Berger, mit einer Art von schwärmerischer Andacht zu ihr aufblickend. »So groß, so herrlich, wie nie ein Weib auf Erden war. Wie bin ich stolz auf Deine Liebe. Nicht wahr, Du liebst mich, Alice? O, sage es mir, daß Du mich liebst, denn ohne Deine Liebe bin ich nichts mehr. An sie glaube ich, denn sie ist meine Seligkeit, meine Ewigkeit, meine Religion. – Alice, ich liebe Dich unaussprechlich!« Er verbarg seinen Kopf in ihrem Schooße. Alice sah mit einer Mischung von Freude und Mitleid auf ihn herab, wie man auf ein gutes Kind herabsieht. Unmerklich schweiften ihre Gedanken zu Landsfeld; sie verglich seine Kälte und Zurückhaltung mit der tiefen Wärme und Hingebung Bergers. Wunderbar. Ein Gefühl von Haß und Verachtung durchzuckte ihre Seele, aber dieser Haß traf nicht den, der sie gekränkt, sondern den hingebenden, in Liebe für sie aufgehenden Schwärmer, der zu ihren Füßen lag. Als Berger wieder aufsah, fuhr er erschreckt empor über den Ausdruck von unheimlicher Kälte in ihren Zügen. Er erblaßte. »Laß mich« – sagte sie halb abgewandt und sich aufrichtend. »Ich bin erschöpft. – In einigen Stunden gehen wir auf die Berge. Du wirst mich abholen, Arthur, nicht wahr?« Sie zwang ihre Stimme zu einem freundlichen Accente. »Um fünf Uhr werde ich bereit sein. Und jetzt ist schon die zweite Stunde nach Mitternacht vorüber. Laß uns scheiden, Arthur, wir bedürfen Beide noch der Ruhe.« »Wir bedürfen Beide noch der Ruhe« – wiederholte er mit tonloser Stimme. »Du hast Recht, Alice. Ruhe! O, wer zur Ruhe käme! – Wohl« – sagte er dann mit stiller Resignation. »In drei Stunden werde ich bei Dir sein. Lebe wohl.« Er sprang auf und wollte forteilen. »Arthur!« – rief Alice, die über seinen tiefen Schmerz bekümmert war. Sie breitete die Arme nach ihm aus. Weinend stürzte er hinein. Sie drückte einen heißen Kuß auf seinen Mund. Da brach seine ganze bisher verhaltene Ruhe in lichte Flammen aus. Mit starkem Arm umfaßte er sie. Sein Athem glühte, sein Blut stürmte durch die Adern. Immer fester umschlangen sie seine Arme, immer glühender brannten seine Küsse auf ihren Wangen, auf ihrem Halse, auf ihrem Busen. »Arthur!« – zürnte sie, heftig gegen seine Leidenschaftlichkeit ankämpfend. »Bist Du so wenig Mann, so wenig Herr Deiner Gefühle, daß Du Dich nicht beherrschen kannst, wenn ich Dich um Schonung bitte. – Arthur, ich bitte Dich, laß ab – laß ab – zwinge mich nicht, Dich zu verachten.« Sie sprang auf und winkte ihm, wie zum Abschiede. – Er stürzte hinaus. 5. Kapitel Fünftes Kapitel Als der Baron nebst seiner Begleiterin die Spitze des Berges erreicht hatte, trafen sie das andere Paar, das, um nicht Lydiens Wohnung passiren zu müssen, von der entgegengesetzten Seite heraufgestiegen war, schon wartend. »Entschuldigen Sie unser längeres Verweilen« – sagte Landsfeld, nachdem er mit seinem Gegner eine stumme Begrüßung gewechselt. »Wir vermutheten nicht, daß Sie uns zuvorkommen würden. – Darf ich Sie bitten, mir zu folgen« – fuhr er fort. – »Wir müssen noch einige hundert Schritte weiter in den Wald hinein, wenn wir ungestört sein wollen.« Schweigend folgten ihm die Andern. Der Thau lag voll und glänzend auf dem buschigen Haidekraut, das sie durchwaten mußten, und drang durch die Schuhe und Strümpfe der beiden Damen. Landsfeld schien es nicht zu bemerken. Mit langen Schritten vorausgehend drang er immer tiefer in den Wald ein, bis sie endlich einen hellen, länglichschmalen Platz erreicht hatten, der den allgemeinen Beifall der Theilnehmer an diesem sonderbaren Spaziergange zu haben schien, da er völlig trocken und eben war. »Wir sind zur Stelle« – sagte Landsfeld. Er nahm dem nachfolgenden Diener die Waffen ab und legte sie vorsichtig auf einen umgestürzten Baumstamm, der den Platz der Länge nach durchschneidend, ihn in zwei fast gleich große Hälften theilte. »Du kannst jetzt gehen, Carl« – wandte er sich an diesen, indem er mit ihm einige Schritte bei Seite trat. »Hier ist ein Brief, den Du sogleich an seine Adresse abzugeben hast; aber mit Vorsicht, daß es nicht zu sehr auffällt.« »Und soll ich nicht wieder herkommen, Herr Baron?« – fragte der treue Mensch, seinen Herrn mit ängstlichen Blicken ansehend. »Wenn ich in einer halben Stunde nicht zu Hause bin, dann bittest Du den Brunnenarzt sich hierher zu bemühen und bestellst zugleich einen Wagen. Adieu, Carl, und daß Du nichts auf Deinen Kopf hinthust.« »Da ein doppelter Kampf stattfinden wird« – wandte sich Landsfeld an die Andern, »so bleibt uns noch zu bestimmen übrig, welche Partei den Anfang machen soll, die männliche oder die weibliche.« – »Wir wollen loosen« – bemerkte Cornelia. Diesem Vorschlag wurde allgemein beigestimmt. Landsfeld nahm zwei Grashalme von verschiedener Länge als Symbol der verschiedenen Waffenart und bat Alice zu ziehen. Sie that es mit fester Hand. Sie hatte den längern Halm gezogen. Der Baron nahm die Rappiere, trocknete sie ab und überreichte sie den modernen Amazonen. Sie warfen ihre Mäntel ab; Cornelia erschien in der feinsten Toilette, Alice, wie sie voraus gesagt, in der phantastischen Männerkleidung, in der sie die vergangne Nacht den Baron besucht hatte. Sie stellten sich einander gegenüber. Berger, der bisher stumm und scheinbar theilnahmlos dagestanden, trat seiner Geliebten zur Seite. »Ich werde das Zeichen geben« – sagte der Baron. »Wenn ich das Tuch schwinge, macht Fräulein von Hohenhausen den ersten Ausfall. – Auf die Mensur, meine Damen« – rief er kommandirend. Die beiden Gegnerinnen kreuzten die Rappiere. »Los« – rief der Baron das Schnupftuch schwingend. In demselben Augenblicke flog die Spitze von Alicens Rappier in die Höhe. Die Klinge ihrer Gegnerin streifte die linke Seite ihres goldenen Gürtels. »Deine Absicht war solid und gut, theure Freundin« – rief Alice, die blitzschnell ihre Waffe wieder gesenkt hatte. Die Lust des Kampfes brannte jetzt in ihren Augen, auf ihren Wangen. Corneliens Gesicht zeigte seine gewöhnliche Kälte. Nur in den halbgeschlossenen Augen, aus denen zuweilen eine unheimliche Glut hervorblitzte, und in dem fest zugekniffenen Munde lag eine starre Entschlossenheit. Mit großer Geschicklichkeit schlug sie einen auf ihre Brust gerichteten Stoß Alicens ab, wobei die Spitze ihres Rappiers sich in den Falten des Aermels ihrer Gegnerin verwickelte. Ehe sie das unvorhergesehene Hinderniß überwinden konnte, sah sie Alicens Rappier abermals nach ihrer Brust gerichtet. Da riß sie, ihre ganze Kraft anwendend, ihre Waffe an sich, mit einer Wendung, wodurch die verhängnißvolle Spitze von ihrer Brust abgeschlagen werden sollte. Wie durch einen Zauberschlag fuhren die beiden Gegnerinnen jetzt auseinander. In der That mußte der jetzt sich darbietende Anblick von der eigenthümlichsten Art sein, da er auf die beiden Zuschauer in doppelter Rücksicht ganz entgegengesetzte Wirkungen hervorbrachte. Der besonnene und seiner selbst so mächtige Landsfeld erbleichte sichtlich, während Berger in ein Gelächter ausbrach, das in diesem Augenblick ganz ungerechtfertigt schien. Durch die gewaltsame Art, mit der Cornelia ihr Rappier aus dem Aermel ihrer Gegnerin herausgerissen, hatte sie denselben von der Schulter an bis zum Knöchel aufgeschlitzt; zugleich aber bemerkte Landsfeld, daß der weiße Arm, welcher jetzt völlig entblößt war, einen langen blutigen Streifen zeigte. Berger, der, auf der andern Seite stehend, die Verwundung Alicens nicht bemerken konnte, hatte sein Auge auf Cornelien geheftet. In dem Augenblicke, als es ihr gelungen war, die Spitze ihres Rappiers frei zu machen, war die Waffe ihrer Gegnerin bereits einige Zoll tief in ihre rechte Brust gedrungen. Als sie daher durch die erwähnte Wendung die Klinge Alicens fortschlug, trennte ein langer Schnitt, der sich von rechts nach links über die ganze Brust der Unglücklichen erstreckte, ihr Kleid auf, aus dem nun zwar kein Strom warmen Blutes – – aber eine Menge Watte hervorquoll. Ein Schrei, als hätte sie Alicens Klinge im Herzen gefühlt, entfuhr ihrem Munde, indem sie zwei Schritte zurücksprang. Mit erneuter Wuth wollte sie jetzt von Neuem auf ihre Gegnerin sich werfen, als Landsfeld mit eigener Lebensgefahr zwischen die Kämpferinnen sprang. »Genug,« – rief er mit gebieterischer Stimme. »Jetzt kommt die Reihe an uns. Sie haben beiderseits Wunden empfangen und gegeben. Sie können befriedigt sein.« Halb mit Gewalt nahm er Cornelien das Rappier aus der Hand. »Fassen Sie sich, Cornelia, und verderben Sie mir solcher Lappalien wegen das Spiel nicht. Wer weiß, was noch in der Zukunft Schooße schlummert,« flüsterte Landsfeld seiner wüthenden Freundin zu, indem er einen besondern Nachdruck auf die letzten Worte legte. Er warf ihr den abgeworfenen Mantel um, und bat sie, sich ruhig auf den Baumstamm zu setzen. Berger hatte indeß, so gut es gehen wollte, die Wunde Alicens, welche durchaus unbedeutend war, da eigentlich nur die Haut geritzt war, mit einem leinenen Taschentuche verbunden. »Sehen Sie, meine Herrn« – sagte sie, als auch der Baron zu ihr trat, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – »sehen Sie dort die trauernde Maria auf den Trümmern Carthago's. Ist es nicht ein tragisches Schauspiel?« Sie zeigte auf Cornelien. »Spotte nicht, Alice« – sagte Berger, während Landsfeld die Pistolen aus dem Kästchen nahm. Er untersuchte die beiden Doppelläufe jedes Gewehrs noch einmal sorgfältig und setzte auf den Piston jedes derselben ein Kupferhütchen. Darauf maß er in der Mitte des Platzes eine Strecke von dreißig Schritten ab, deren äußerste Enden er durch einen langen Querstrich bezeichnete. Sodann theilte er diesen Zwischenraum in drei gleiche Theile, welche er auf dieselbe Weise bezeichnete. Nachdem er dies Geschäft beendet, kehrte er zu dem eben verlassenen Paare zurück. »Wählen Sie!« sagte er zu Berger, indem er ihm die Waffen verkehrt entgegen hielt. Statt einer Antwort begab sich Berger auf das eine Ende. Alice näherte sich dem Baron. Sie hielt den Arm in einer improvisirten Binde und sah sehr bleich und angegriffen aus. »Was gedenkst Du zu thun?« – fragte sie leise den Baron. »Ich habe Dir schon erklärt, daß Du es sehen wirst. Doch da Dir die Aufregung schaden könnte, so richte Deinen Blick auf jenen Knorren.« Er zeigte auf einen Baum im Rücken Bergers. »Das ist mein Ziel.« Berger sah anscheinend theilnahmlos auf die Beiden herüber. Aber in seinem Innern erwachte jetzt plötzlich wieder ein Verdacht, der ihn schon heute Nacht, als er Alicen verließ, durch die Seele gezogen war, ohne jedoch länger, als einen Augenblick, darin gehaftet zu haben. Dieß gab ihm mit einem Male die Sicherheit und Bestimmtheit zurück, welche ihn seit dem Gespräch mit dem Baron fast ganz verlassen hatte. »Ist's gefällig, Herr Baron?« – sagte er mit einer ruhigen Kälte, die Landsfeld auffiel. »Ich bin bereit, mein Herr« – antwortete dieser, auf seinen Platz eilend. Er stellte sich ihm so gegenüber, daß er den Knorren, auf welchen er Alicen aufmerksam gemacht hatte, über der linken Schulter Bergers, etwa fünf Zoll von seinem Ohr, erblicken konnte. Langsam, aber mit festen Schritten, näherte sich Berger dem zweiten Strich, während Landsfeld nur einen Schritt ihm entgegen trat. Fast in demselben Augenblicke richteten Beide ihre Waffen auf einander. Berger feuerte zuerst. Er war noch achtzehn Schritte von seinem Gegner entfernt. Der Baron stand unverrückt. Jetzt ging dieser bis zur äußersten Grenze vor. Nur zehn Schritte lagen zwischen ihnen. Berger kreuzte die Arme. Landsfeld drückte los. Alice blickte nach dem Knorren. Er war verschwunden. Nur einige Holzsplitter zeigten die Stelle, an der die Kugel in den Baum gedrungen war. Die beiden Kämpfer begaben sich auf ihre Plätze zurück. Abermals schritten sie langsam auf einander zu. Berger schien warten zu wollen, bis der Baron gefeuert hätte. Dieser aber wünschte gleichfalls den letzten Schuß zu haben. So hatten sich Beide der Grenze genähert. Endlich entschloß sich Berger zum Feuern. Landsfeld wankte einen Augenblick, faßte sich aber sogleich wieder. Sein rechter Arm hing schlaff herab, das Pistol war auf den Boden gefallen. Er ergriff es mit der linken Hand. Da er aber mit dieser jenes Kunststück nicht zu wiederholen wagte, aus Furcht, seinen Gegner zu treffen, was gänzlich außer seinem Plane lag, so schoß er es in die Luft ab und warf es dann von sich. Berger, der sich diese Schonung nicht erklären konnte, blieb erstaunt und verwirrt auf seinem Platze stehen. Alice eilte auf den erbleichenden Landsfeld zu und führte ihn zu dem umgestürzten Stamm. Er ließ sich darauf nieder. »Es ist nichts Bedeutendes« – sagte er – »wenn's nur nicht der rechte Arm wäre. Verdammter Zufall.« Er riß die Weste und das mit Blut befleckte Hemd auseinander. Die Kugel hatte die innere Seite des Arms gestreift und, wie es schien, eine Sehne zerschnitten. Die Wunde blutete stark. Alice, die ihrer eigenen Verwundung wegen ihm wenig Dienste leisten konnte, rief Berger. Aber jener schien, obwohl unverwundet, gänzlich unfähig, irgend wie hülfreiche Hand anzulegen. Wie im Traum trat er näher und blickte theilnahmlos auf den Sitzenden. Landsfeld stopfte sich sein Taschentuch unter den Arm und drückte es fest an, um eine Verblutung zu verhindern. »Wenn nur der Arzt bald käme« – sagte er. Cornelia hatte die ganze Zeit über, in ihren Mantel eingehüllt, lautlos dagesessen. Jetzt sprang sie plötzlich auf. »Ich werde ihn zur Eile antreiben!« – rief sie dem Baron zu, indem sie forteilte. »Ich begleite Sie, Fräulein!« – rief Berger ihr nach. »So kommen Sie schnell!« antwortete sie, ohne ihre Schritte zu hemmen. Sie verließen den Platz und eilten, so schnell sie konnten, den Berg herab. »Können Sie mir darüber Aufklärung geben, Fräulein von Hohenhausen,« – sagte Berger – »aus welchen Motiven der Baron mich beim zweiten Schusse hat schonen wollen?« – »Beim zweiten? – bei beiden, Verehrtester. Haben Sie nicht bemerkt, daß er nicht nach Ihnen, sondern nach dem hinter Ihnen stehenden Baume zielte?« »Und Alice wußte es, wahrscheinlich. – Daraus kann ich mir auch ihre Ruhe erklären. – Ich habe ihr also doch Unrecht gethan, als ich es für Theilnahmlosigkeit hielt.« »Er mag's ihr wohl heute Nacht gesagt haben« – bemerkte Cornelia, indem sie mit Freude die Wirkung dieser Worte beobachtete. »Heute Nacht?« – Der junge Mann erbleichte. – »Das ist nicht wahr« – sagte er drohenden Tones. »Sie müßten das besser wissen, meinen Sie« – fuhr Cornelia mit einer Mischung von verhaltener Wuth und cynischer Ironie im Ton fort. »Den Gegenbeweis, mein Herr, wenn ich bitten darf!« Berger zögerte einen Augenblick. Darauf sagte er ruhig: »Ich selbst bin bei ihr gewesen.« »Ich weiß es, mein Herr, um 2 Uhr. Doch müssen Sie am besten wissen, ob Sie Grund haben, damit zu renommiren. Das Rendezvous war kurz, so viel ich weiß.« »Martern Sie mich nicht!« – bat Berger. – »Sagen Sie es heraus: hat der Baron Alicen heute Nacht besucht?« »Nein!« – »Nun also!« Der junge Mann athmete tief auf. »Aber sie ist bei ihm gewesen« – schloß Cornelia. – Das war ein fürchterlicher Schlag. Berger schwankte. Jetzt konnte er sich den Widerstand Alicens erklären. Von innerem Schmerz fast vernichtet, stieg jetzt nicht mehr der leiseste Zweifel an der Wahrheit des eben Gehörten in ihm auf. »Kommen Sie! wir dürfen uns nicht aufhalten.« – Halb mit Gewalt zog sie seine Hände nieder, mit denen er die Augen bedeckt hatte. »Mein Gott! so ermannen Sie sich doch. Wollen Sie ein Zaubermittel, das Ihren Schmerz lindern und Ihnen die Kraft zurückgeben wird?« »O, für mich giebt es kein Heilmittel mehr!« stöhnte Berger. »Doch, doch« – versicherte sie. » Ein Wort wird Sie kuriren. Dieß Wort heißt« – sie näherte ihren Mund seinem Ohre, indem sie leise, aber mit energischem Accent sagte: »Rache!« Berger fuhr empor. Seine Augen rollten. Krampfhaft ergriff er den Arm Corneliens, so daß diese fast aufgeschrieen hätte vor Schmerz. »Sie haben Recht. – Rache! Rache!« – Er sprach dies Wort langsam und mit Nachdruck, als wolle er den Wohllaut jedes einzelnen Buchstaben genießen. – Mit beschleunigten Schritten eilten sie jetzt den Berg hinab. Da erblickten sie den Wagen, welcher eben gemächlich den Berg hinanfuhr. »Der Baron ist verwundet!« – rief Cornelia dem Diener Landsfelds zu, als sie den Wagen erreicht hatten, in dem sich der Arzt befand, der nun dem Kutscher befahl, die Pferde zu größerer Eile anzutreiben. Bald war der Wagen ihren Blicken entschwunden. Als sie in's Bad kamen, trennten sie sich. »Auf Wiedersehen!« – sagte Cornelia beziehungsvoll beim Abschiede, indem sie ihrem neuen Gefährten die Hand gab. »Vor allen Dingen lassen Sie sich zu keiner unüberlegten Handlung verleiten.« Berger eilte nach Hause, um sich zum Spaziergange mit Lydien umzukleiden. Jetzt, wo er sich von Alicen hintergangen glaubte, und so seine Leidenschaft zu ihr gleichsam in sich selbst zurückgeworfen wurde, fiel ihm mit einem Male das ganze Gewicht seines Unrechts gegen das liebe, harmlose Kind auf die Seele und drückte sie so noch mehr darnieder. Vielleicht war es dieses Uebermaß von innerer Qual, das ihm jede Energie, seinem Schmerz in gewaltsamen Ausbrüchen Luft zu machen, nahm. Eine trübe Ruhe lag auf seinen Zügen, als er in sein Zimmer trat. Die beiden Briefe, welche er an seine Mutter und an Lydia geschrieben, lagen vor ihm auf dem Tische. Er erbrach sie und las sie noch einmal durch, als kenne er ihren Inhalt noch gar nicht. Darauf warf er sich in dumpfer Verzweiflung auf einen Stuhl und starrte gedankenlos vor sich hin. Eine grauenvolle Stille herrschte in ihm und um ihn, so daß einen Augenblick die fixe Idee sich seiner bemächtigte, er sei gestorben und liege im Grabe. Eine Stunde mochte er so gesessen haben, als durch eine rein mechanische Verbindung seiner Ideen ihm der Gedanke an den Spaziergang mit Lydia wieder einfiel. Er stand auf und begann seine Toilette. Als er vor den Spiegel trat, wurde plötzlich durch den Anblick seiner mehr erschlafften als entstellten Züge sein Bewußtsein wieder erweckt und die Erinnerung an die letzten Scenen trat mit voller Gewalt und so furchtbarer Lebendigkeit vor seine Seele, daß seine Kniee fast unter ihm zusammenbrachen und seine Hand nach der Stuhllehne griff, um sich daran zu halten. »O, ich bin unsagbar unglücklich« – jammerte er, sein Gesicht mit den Händen bedeckend, während er in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach. – »Warum hast Du mir das gethan, Alice? Hast Du mich nur so hoch erhoben, um mir den Sturz in die Tiefe desto fühlbarer zu machen?« – Wenn ein geistiger Schmerz sich in Thränen auflöset, so wird die Seele milde gestimmt. Auch Berger fühlte bald den wohlthätigen Einfluß solcher Thränen auf seine Stimmung. Er wurde still und resignirt. Rasch beendete er jetzt seinen Anzug und schritt langsam dem Hause unter den Kastanienbäumen zu. Auch hier war unterdessen der Schmerz eingekehrt, aber ihm fehlte das bitterste, das qualvollste Element: das Bewußtsein der eigenen Schuld. Lydia lag auf dem Sopha ausgestreckt. Ihre Züge waren durch den plötzlichen Schreck blaß und angegriffen, aber ruhig. Als sie jenen Brief, der ihr auf der Promenade zugestellt wurde, erhielt, war sie zuerst durch die Gleichheit der Schriftzüge mit denen des Zettels, den sie heute Morgen zwischen den Blumen gefunden hatte, überrascht worden. Schnell hatte sie die Adresse abgerissen und, von böser Ahnung getrieben, einen durch die Angst unsicher gemachten Blick hineingeworfen. Sie sah nur, daß von ihrem Verlobten und einem Duell die Rede sei. Da fielen ihr die Schüsse ein, welche sie mit ihrer Mutter gehört hatte. Krampfhaft, als wollte sie ihren Raub bewahren, ballte sie den Zettel zusammen, denn sie fühlte plötzlich einen brennenden Stich im Herzen, der ihr das Bewußtsein raubte. In diesem Zustande hatte sie die Mutter getroffen. Als sie, zu Hause angelangt, das Bewußtsein völlig wieder erhalten hatte, hatte die Forsträthin nichts Eiligeres zu thun, als sie über ihren Irrthum aufzuklären, was sie durch die Vorlesung von Landsfeld's Brief bewirkte. Doch hatten alle diese verschiedenen Eindrücke ihre Seele so erschüttert, und ihre Körperkraft so erschöpft, daß sie zur gänzlichen Sammlung ihres Geistes nothwendig einige Stunden ungestörter Ruhe bedurfte. Indeß warteten ihre Mutter und der Hofrath vergeblich auf den Besuch des Badearztes, welcher ihnen, als sie nach Hause fuhren, versprochen hatte, in einer kleinen halben Stunde ihnen zu folgen, um sich nach dem Befinden des armen Kindes zu erkundigen, und vielleicht ein beruhigendes Mittel für sie zu verschreiben. Endlich kam er. Es war ein kleiner, runder Mann, dessen breites, gutmüthiges Gesicht, dem ein Paar kluge graue Augen und ein lebendiges Mienenspiel keinen uninteressanten Ausdruck verliehen, in diesem Augenblicke dunkelroth glühte. Mit kurzen hastigen Schritten trat er in das Zimmer und ging, ohne sich durch Grüße aufhalten zu lassen, sogleich auf das Sopha zu, ergriff Lydiens Hand, um ihren Puls zu fühlen, und sagte nach einer halben Minute, zu ihrer Mutter gewandt: »Vortrefflich. Hier ist Alles auf gutem Wege. – Indeß kann's immerhin nicht schaden, wenn wir dem Kinde ein kühlendes Tränkchen verordnen. Haben Sie Papier und Dinte, gnädige Frau?« – Er sah mit bezeichnendem Blicke auf die Thür des Nebenzimmers. Die Forsträthin verstand ihn. »Wollen Sie sich hier herein bemühen« – sagte sie, die Thüre öffnend. Der Hofrath stellte sich an's Fenster und trommelte mit dem Finger auf die Scheiben. »Sie werden mich entschuldigen, gnädige Frau« – sagte der Arzt – »daß ich nicht früher gekommen. – Ich bin dort oben gewesen.« Er wies mit dem Finger auf die Berge, welche sich auf dem blauen Hintergrunde des Himmels scharf abzeichneten. »Ich dachte es mir« – erwiederte die Forsträthin. – »Sprechen Sie, erzählen Sie! Wenn ich mir auch alle Einzelheiten nicht erklären kann, so bin ich doch über den Zusammenhang im Allgemeinen nicht mehr zweifelhaft.« »Sie wissen also, mit wem sich Berger geschlagen hat? – Mit dem Baron von Landsfeld« – fuhr er fort, als Jene mit dem Kopfe schüttelte. »Und der Grund?« – fragte die Forsträthin zögernd. »Wegen einer Frau von Rosen, die der Baron früher, glaub' ich, gekannt und in Berger's Gegenwart gestern auf der Promenade beleidigt hatte. Die nähern Umstände sind mir unbekannt.« »Also doch« – sagte Frau von Dornthal vor sich hin. »Fahren Sie fort.« »Das Wichtigste ist, daß Berger völlig unverwundet geblieben. Ja, aus einer Andeutung von Frau von Rosen –« »Sie war auch dort?« »Ein merkwürdiges Frauenzimmer« – brummte der Arzt, den Kopf hin und her wiegend. »Sie hat sich auch geschlagen, und zwar auf Stichwaffen.« »Sie scherzen« – bemerkte die Forsträthin mit halb erstaunter, halb ungläubiger Miene. »Nichts weniger, als das« – erwiederte er seufzend. »Sie hat eine lange Schramme über den Arm bekommen. Ein merkwürdiges Frauenzimmer, hm! Ein sehr merkwürdiges Frauenzimmer.« – »Aber mit wem hat sie sich duellirt? Mit dem Baron natürlich.« »Nein, mit einer anderen emancipirten Dame, – einem Fräulein von Hohenhausen. Aber, was ich sagen wollte – ja, aus einer Andeutung von Frau von Rosen schloß ich sogar, daß der Baron mit Willen fehlgeschossen.« »Das war mir nicht unbekannt« – erwiederte sie zum großen Erstaunen des Doctors. »Lesen Sie hier« – fuhr sie fort, ihm den Brief Landsfelds reichend. »Hm, hm« – sagte er, seinen Kopf wiegend – »ein merkwürdiger Mensch. Es wäre Schade um ihn gewesen.« »Wie?« – rief Frau von Dornthal erbleichend, indem sie ängstlich die Hand des Arztes faßte. – »Er ist verwundet?« Der Doctor wollte eben antworten, als der Hofrath an die Thüre klopfte. »Berger kommt eben die Straße herab,« sagte er, als er auf das »Herein« der Forsträthin eingetreten war. »Mein Gott!« – rief diese – »was ist da zu machen? Rathen Sie, helfen Sie mir! Lydia darf er nicht sehen.« »Ruhig, ruhig, gnädige Frau. Uebereilen Sie nichts. Wir kennen die tieferen Motive bei diesem ganzen Vorfall nicht hinlänglich, um von einer eigentlichen Schuld des jungen Mannes sprechen zu können. Ueberlassen Sie es mir, darüber in's Klare zu kommen. Ist es eine bloße jugendliche Verirrung, die ihn zu diesem extremen Schritte verleitet, so dürfen Sie nicht zu strenge gegen ihn sein; vorausgesetzt, daß Lydia an seinem Gefühle nicht irre, und in dem ihrigen nicht schwankend geworden. Wenn sie stark genug ist, um ihn jetzt sehen zu können, so möchte ich Sie bitten, einer solchen Zusammenkunft nichts in den Weg zu legen. Dabei wird die Wahrheit am ersten an's Licht kommen.« Nach diesen Worten begab sich der Doctor, ohne eine Antwort abzuwarten, zu Lydia. Die Andern folgten. In demselben Augenblicke klopfte es an die Thüre. Der Hofrath warf einen fragenden Blick auf den Doctor, der sich neben Lydia gesetzt hatte, welche sich indeß aufgerichtet. »Das ist Arthur,« sagte sie, indem eine flüchtige Röthe über ihre Wangen flog. »Es ist gut, daß er kommt. Ich habe Manches mit ihm zu reden.« Ein bittender Blick auf die Mutter sagte dieser, daß sie allein mit ihm zu sein wünschte. Auch der Doctor hatte den Blick verstanden. Er bot der Forsträthin, welche einen Augenblick zögerte, den Arm und führte sie in das andere Zimmer. Der Hofrath folgte. Der junge Mann öffnete die Thüre und blieb, von innerer Bewegung überwältigt, einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Lydia hatte sich erhoben. Im entscheidenden Augenblicke war ihre volle Besonnenheit zurückgekehrt. »Du hast Dich geschlagen, Arthur« – sagte sie, einen Sessel neben das Sopha stellend, indem sie ihn einlud, sich zu setzen. Jetzt erst sah sie die Verstörtheit in seinen Zügen. Wieder durchflog eine Ahnung von einem großen Unglücke, wovon sie sich keine Rechenschaft geben konnte, ihre Seele. »Sag' mir, Arthur,« bat sie mit sanftem Ton, indem sie seine Hand ergriff, die eiskalt war, » warum ?« »Du weißt also Alles?« – fragte er mit zu Boden geschlagenen Augen. »Nichts weiß ich, Arthur, und würde auch nichts haben wissen wollen, als was Du mir sagen konntest. Nicht wahr, Du wirst mir Alles erzählen, Alles aufklären? Ein Paar Worte werden genügen, um mich zu beruhigen.« »Lydia, ich bin dieses Vertrauens nicht werth. – Verzeihung,« stammelte er, indem er vor ihr auf die Kniee sank und die Hände Lydiens mit Thränen und Küssen bedeckte. »Was soll ich Dir verzeihen?« – sagte sie bebend, indem sie unmuthig ihre Hand zurück zog. Diese Sprache erschien in ihren Augen, wenn nicht als Zeichen eines Schuldbewußtseins, so doch der Unmännlichkeit. Er sprang auf. »Nein, Du kannst mir nicht verzeihen. Ich fühle es – Lebe wohl, Lydia.« – »Bleib' Arthur!« – rief das arme Mädchen, deren Angst zunahm. »Beruhige Dich doch! Was ist denn Grausiges geschehen, daß Du es mir nicht sagen kannst. – Hast Du ihn getödtet?« – fragte sie mit bebender Stimme. »O, hätte ich –« Er sprach nicht aus. Aber der Ausdruck von Unmuth, welcher plötzlich über sein Gesicht flog, ergänzte das Uebrige. – Lydia schauderte, denn sie dachte an den Edelmuth seines Gegners. Eine ungewohnte Kälte zog durch ihre Brust. Sie, die so warm und innig mit jedem Menschen empfand, fühlte mit einem Male die Möglichkeit, daß sie hassen könnte. Stolz und fremd war ihr Ton, als sie mit entschiedener Ruhe sagte: »Noch einmal, Arthur, frage ich Dich, ob Du mir den Grund sagen willst?« »Ich habe Dich hintergangen« – erwiederte er, wie von unsichtbaren Gewalten gezwungen, mit tonloser Stimme. »Ich habe Deine Liebe zu mir entheiligt.« Lydia fuhr mit der Hand nach dem Herzen. Einen Augenblick schwankte sie. » Unsere Freuden sind wie die Stäubchen, die von den Rädern des Lebenswagens fliegen, um sich einen Augenblick in der Sonne zu spiegeln « – sprach sie leise vor sich hin, indem eine Thräne in ihrem Auge glänzte. »Verzeihung, Lydia, Verzeihung!« – rief Berger mit flehender, gebrochener Stimme, indem er aber mals zu ihren Füßen sank und ihre Kniee umklammerte. Dies gab dem jungen Mädchen ihre ganze Kraft zurück. Sich losreißend und vom Sopha aufspringend, trat sie einen Schritt zurück. Eine dunkle Röthe bedeckte Stirn und Wangen; als sie, sich hoch aufrichtend, mit fester Stimme zu dem Unglücklichen sprach: »Mein Herr, wir haben hinfort Nichts mehr mit einander zu thun.« Berger wurde durch die Kälte in dem Ton Lydiens noch mehr, als durch die Worte vernichtet. Eine fahle Blässe überzog sein Gesicht. Vergeblich rang er nach Worten. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut wurde hörbar. Als könne er den Anblick Lydiens nicht mehr ertragen, stürzte er aus dem Zimmer. Die Forsträthin trat, besorgt über die plötzliche Stille, hinein. Der Hofrath und der Doctor folgten. Lydia war noch in derselben stolzen Stellung, den großen kalten Blick auf die Thüre gerichtet. Als sie aber den ersten Laut ihrer geliebten Mutter hörte, knickte sie zusammen. Ein Thränenstrom entstürzte ihren Augen. Stumm sank sie an die mütterliche Brust. »Veruhige Dich, mein theures, mein geliebtes Kind« – sagte diese, das junge Mädchen nach dem Sopha geleitend. Dem Jünger Aeskulaps, welcher das ganze Gespräch mit angehört, standen die Thränen in den Augen. »Ein merkwürdiges Mädchen« – bemerkte er, den Kopf schüttelnd, indem er näher trat. »Lassen Sie sie nur weinen« – fuhr er laut zur Forsträthin gewendet fort. »Das erleichtert ihre Brust. – Kommen Sie, Verehrtester, begleiten Sie mich zu meinem neuen Patienten. Ein merkwürdiger Mensch – der! – ein höchst merkwürdiger Mensch!« Er nahm den Hofrath ohne Weiteres beim Arm und wollte ihn mit sich fortführen. Lydia machte eine Bewegung, als wollte sie sprechen. Der Arzt wandte sich wieder zurück. »Ist er verwundet?« – fragte sie leise. Der Doctor verstand sie wohl. »Allerdings. Ich werde meine Noth mit ihm haben. – Das heißt« – verbesserte er sich, da er Lydiens Bewegung wahrnahm – »die Wunde ist nicht gefährlich, kaum eine Wunde zu nennen. Eine Schramme, weiter nichts, aber am rechten Arm, das ist freilich fatal. Aber wenn er sich hübsch ruhig hält, ein Paar Tage, nicht länger. – Nun, kommen Sie, Freund, ich versichere Sie, ein höchst merkwürdiger Mensch. Es thut mir wahrhaftig leid, daß die Kur so kurz sein wird. Ah, bah, wenn er aufhört, mein Patient zu sein, ist er unterdeß mein Freund geworden. Da wette ich Zehn gegen Eins.« Auf diese Weise schwatzte der Mann fort, bis Beide in's Zimmer des Barons traten. Sie fanden ihn auf dem Sopha sitzen, den verwundeten Arm in der Binde. »Nun?« – fragte Langhals, dies war, wie durch einen ironischen Zufall, der Name des kugelrunden Doctors – »wie stehts? Sind wir hübsch munter. – Merkwürdiges Mädchen! – Was sagen Sie dazu, Hofrath?« »Wer ist ein merkwürdiges Mädchen?« – fragte Landsfeld. »Wer wird's sein, als die kleine Lydia« – fuhr der redselige Doctor fort, der erfreut über die Frage des Barons war, weil sie ihm Gelegenheit zum Antworten gab. »Eine Freude war's, wie sie den winselnden Jungen zu ihren Füßen – hm, ja so. Sie haben Recht, Hofrath, das gehört nicht hieher.« Die plötzliche Unterbrechung hatte ihren Grund darin, daß der Hofrath, aus Furcht vor der Indiscretion des Doctors, ihn leise am Rockschoß gezupft hatte, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Indeß konnte er ihn doch nicht davon abhalten, das Resultat der Reflexionen und Bemerkungen, die er in Begriff gewesen war, von sich zu geben, mitzutheilen, was er mit den Worten that: »Na, der wagt auch nicht mehr, den Fuß auf ihre Schwelle zu setzen.« Ein Lächeln der Siegerfreude flog über das Gesicht des Barons. »Ich bitte Sie, meine Herren, der Frau von Dornthal nebst ihrer Fräulein Tochter meinen innigsten Kummer darüber mitzutheilen, ihnen so viel Sorge und Unruhe verursacht zu haben. Sobald ich es im Stande bin, werde ich mir die Freiheit nehmen, sie persönlich deshalb um Verzeihung zu bitten.« »Gut« – sagte Langhals. »Sie werden wissen, was Sie zu thun haben. Aber der Berger macht mir Sorgen« – wandte er sich zum Hofrath. »Ich dächte, wir suchten ihn auf. Er wird am Ende sonst des Teufels ganz und gar. – Nachmittag bin ich wieder hier, lieber Baron. Leben Sie wohl.« Arm in Arm schritten die beiden Freunde zur Thüre hinaus. Die kurze, runde Figur des Doctors nahm sich neben dem langen, hagern Hofrath so eigenthümlich aus, daß Landsfeld sich eines Lachens nicht erwehren konnte. 6. Kapitel Sechstes Kapitel Mehrere Tage waren seitdem verflossen, als eines Morgens der Doctor Langhals mit triumphirender Miene zum Baron kam. »Endlich habe ich sie so weit gebracht!« – rief er, sich die Hände reibend und im Zimmer auf und ab trippelnd – »aber es hat Mühe gekostet. – Doch ein prächtiges Mädchen, die Kleine. Was sagen Sie dazu, Baron?« »Wozu?« – fragte dieser zerstreut. Er hatte die Worte des Doctors, an dessen Art er sich schon gewöhnt hatte, ganz überhört. »Kleiden Sie sich an, das heißt, lassen Sie sich ankleiden, denn aus der Binde darf der Arm noch nicht heraus. Wir machen heute unsern ersten Spaziergang, denn wir sind genesen, vollkommen genesen. Nun, was denken Sie dazu, Verehrtester?« – »Ich denke, daß Sie heute etwas stark gefrühstückt haben!« »Fehlgeschossen, theuerster Freund, gänzlich fehlgeschossen. Im Gegentheil, ich bin so nüchtern wie ein Küchlein, das eben das Ei verläßt.« Bei diesen Worten schenkte er sich ein Glas Wein ein, das der Baron, der seine Schwachheit kannte, stets für ihn bereit hielt. »Aber eilen Sie, eilen Sie; sonst kommen wir zu spät. Die Damen waren schon im Begriff, nach Hause zurückzukehren.« »Die Damen?« – fragte Landsfeld mit schlecht verhehltem Interesse, indem er seinem Diener klingelte. »Nun freilich, die Forsträthin mit ihrer Tochter. Die verdammte Geschichte mit dem Berger muß dem armen Kinde doch sehr zu Herzen gegangen sein. Kein Wunder freilich. Sind mit einander aufgewachsen. Sie wissen wohl, daß die Eltern der beiden Leutchen in demselben Orte wohnten. Bergers Vater war Prediger. Als der starb, ging seine Mutter mit ihm nach Wien, um ihm Gelegenheit zu geben, sein wirklich bedeutendes musikalisches Talent auszubilden. Unterdeß war auch Lydiens Vater gestorben und die Forsträthin mit ihrer Tochter nach Berlin gezogen, wohin sich denn auch zuweilen der junge Berger begab. Dort hat er sich mit ihr vor einem Jahre verlobt. Bald nach der Verlobung begab er sich auf eine Reise nach Italien, wo er über ein halbes Jahr blieb, dann noch seiner Mutter einen Besuch abstattete und endlich hier wieder mit Dornthals zusammentraf. Wann und wo er zuerst Frau von Rosen kennen gelernt, habe ich nicht erfahren können. Wahrscheinlich in Italien.« »Nein. Schon in Berlin, vor seiner Verlobung« – berichtigte Landsfeld, der mit großem Interesse die Erzählung des Doctors anzuhören schien. »Und Sie glauben, daß Lydia noch immer –« »O« – unterbrach ihn Langhals – »im Gegentheil! Als ich ihr heute erzählte, daß ich einen Brief von Berger aus Wien erhalten –« »Was natürlich ein Scherz war« – bemerkte der Baron. »Herr, was denken Sie? Ich scherzen? und auf so profane Weise mit diesem herrlichen Mädchen!« »Nun, nun« – beschwichtigte Landsfeld den Aufgeregten, der wirklich diesmal böse war. »Es war nur ein Scherz von mir.« »Schöner Scherz!« brummte der Medikus grollend. »Nun gut. – Als ich ihr also das mittheile – was glauben Sie, daß sie sagte?« »Nun?« – fragte Landsfeld, dem es von Wichtigkeit war, die Gesinnungsweise und Denkart Lydiens kennen zu lernen. Da sagte sie, tief Athem schöpfend: »Gott sei Dank!« und setzte alsbald kalt hinzu: »Ich konnte es mir wohl denken. Er hatte nicht einmal dazu Kraft genug.« – Verstehen Sie etwas davon? Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen, was sie eigentlich damit gemeint haben mag. Doch ich sehe eben, daß Sie fertig sind. Nun, lassen Sie uns denn gehen. – Geben Sie mir den linken Arm.« Als sie auf der Promenade anlangten, richteten sich Aller Blicke neugierig auf den bleichen jungen Mann, dessen Duellgeschichte bereits allgemein bekannt war. Als sie in eine Seitenallee einbogen, standen sie plötzlich vor Lydia, ihrer Mutter und deren unzertrennlichem Begleiter, dem Hofrath. Vielleicht mochte es gerade in dem scheinbar Unvorbereiteten und Unerwarteten liegen, daß dies erste Zusammentreffen Lydiens mit dem Baron weniger peinlich war, als es Beide gefürchtet hatten. Zwar färbten sich ihre bleichen Wangen plötzlich mit einem zarten Roth, das auch nicht wieder verschwand. Aber ohne dies Zeichen einer innern Bewegung hätte man nicht vermuthet, daß durch das Erscheinen Landsfelds irgend eine Veränderung in ihr vorgegangen. Mit unbefangner Anmuth erwiederte sie die stumme, ernste Verbeugung des Barons, der sich sogleich, nachdem die Ceremonie der gegenseitigen Vorstellung durch den kleinen Doctor mit allem ihm möglichen Pathos beendet war, an die Forsträthin wandte. »Wir schulden Ihnen vielen Dank« – sagte diese, nachdem sie einige mehr gleichgültige, obwohl hier nicht blos conventionelle Fragen nach ihrem gegenseitigen Befinden gewechselt – »daß Sie auf Gefahr ihres eigenen Lebens den jungen Mann verschonten.« »Schlagen Sie mein Verdienst dabei nicht zu hoch an« – erwiederte er bescheiden. »Berger war von Leidenschaft verblendet – ich konnte vermuthen, daß er keine sichere Hand haben und wahrscheinlich fehlschießen würde. Die Kräfte waren also ungleich vertheilt. Außerdem wollte ich mein Bewußtsein nicht mit einer That beschweren, deren Erinnerung nur qualvoll sein kann. Ich haßte den jungen Mann nicht, obwohl mir, als ich unmittelbar nach dem Wortwechsel, der die Ursache des Duells war, Ihnen und Ihrer Fräulein Tochter begegnete, seine Verirrung unbegreiflich erschien. Denn ich kannte die Dame, welche ihn so bezaubert hatte.« »Sie kannten sie?« – fragte Frau von Dornthal in einem Ton, der wie eine Aufforderung zur weiteren Erklärung klang. Landsfeld warf einen forschenden Blick auf die ernsten Züge der Forsträthin. Dann verzog sich die eine Seite seines Mundes zu einem fast unmerklichen Lächeln. Denn er dachte an den Grund, den möglicherweise die Mutter Lydiens zu solcher Aufforderung haben konnte, vielleicht unbewußt hatte. »Schon seit mehreren Jahren« – erwiederte er mit ruhiger Unbefangenheit. »Zuerst lernte ich sie in Berlin kennen. Die Richtung, welche damals meine innere Entwicklung genommen, begünstigte den mächtigen Eindruck, den sie auf mich machte. Ich glaubte gefunden zu haben, wonach ich mich schon so lange gesehnt hatte, einen weiblichen Charakter, in dem sich die innerliche Freiheit des Menschengeistes mit der zarten Selbstbeschränkung edler Weiblichkeit zur lebendigsten Harmonie zusammenschlösse, und der Widerspruch zwischen der Ueberwindung aller Schranken des Vorurtheils und des Aberglaubens mit der energischen Aufrechthaltung sittlicher Würde gelöst hätte.« – Landsfeld schwieg. »Und Sie wurden in Ihrer Erwartung getäuscht?« – fragte mit sichtbar wachsendem Interesse die Forsträthin, die selber einen für die Idealität menschlicher Größe und Würde schwärmenden Sinn besaß. »Mein Bedürfniß, sie verwirklicht zu sehen, war zu groß, als daß ich nicht jeden sich allmählig geltend machenden Zweifel geflissentlich unterdrückt hätte. Ich bin beschämt, es Ihnen gestehen zu müssen, gnädige Frau, daß ich mich länger als ein Jahr in meiner Selbsttäuschung so unendlich glücklich fühlen konnte.« – Landsfeld gehörte zu jenen eigenthümlichen Charakteren, die sich in eine willkührlich erzeugte Vorstellung so hinein zu leben im Stande sind, daß sie den Mitteln, welche sie zur Aufrechterhaltung des Scheins in Anwendung bringen, gegen sich selbst eine Macht einräumen, deren Kraft und Wirkung der der Wahrheit völlig gleich ist. Als er jene Worte sagte, schlug er unwillkührlich die Augen zu Boden und eine flüchtige Röthe bedeckte seine Stirn. Es lag eine solche Wahrheit in dieser scheinbaren Bewegung, daß die Forsträthin seine Hand ergriff und mit Herzlichkeit drückte. Sie glaubte jetzt alles Uebrige zu verstehen, bis auf die Beleidigung der Dame, welche sie sich bisher nur aus einem unedlen Charakterzuge des Barons hatte erklären können. Sie begriff die Bitterkeit, welche nach einer solchen Enttäuschung die Brust eines Mannes, wie Landsfeld ihr erschien, erfüllen mußte, wenn sie auch einen derartigen Ausbruch derselben nicht billigen konnte. Sie wandelten eine Zeit lang schweigend neben einander her. Landsfeld schien in tiefe Gedanken verloren. Als wolle er sich mit Gewalt daraus emporraffen, sagte er plötzlich: »Ich habe mich noch wegen der unüberlegten Art und Weise zu rechtfertigen, gnädige Frau, mit der ich Ihre Fräulein Tochter auf die Ihnen Beiden bevorstehende Gemüthsbewegung vorbereiten wollte. Daß ich nur die Absicht hatte, Ihre Besorgniß wo möglich zu heben, werden Sie wohl aus der Ungeschicklichkeit, womit ich die Sache anfing, selbst erkannt haben. Jenes Billet, das ich den Abend vorher zwischen die Blumentöpfe steckte, hatte ich unter der Bank gefunden, auf welcher der junge Berger mit Frau von Rosen kurz vor meinem Zusammentreffen mit ihnen gesessen hatte. Ich weiß nicht, welches Gefühl mich damals zwang, jene Worte auf den Zettel zu schreiben, in den ich das Billet einwickelte. Es geschah, nachdem ich mich lange Zeit auf den Bergen umhergetrieben, in dem Augenblicke, als ich an Ihrem Hause vorbei kam. Erst als ich in meiner Wohnung angelangt war, fiel mir das Unpassende meiner Handlungsweise ein, und ich war eben im Begriff, wieder umzukehren und den Zettel zu zerreißen, als Berger zu mir kam, um mir in eigener Person seine Forderung zu überbringen. Da erschienen mir jene, durch den Augenblick hervorgerufenen Worte wie von einer höhern Ahnung eingegeben und ich beschloß, an dem, was ich gethan, Nichts zu ändern. Mit dem Briefe, den ich am folgenden Morgen an Fräulein Lydia abschickte, hatte es freilich eine andere Bewandtniß. Sie werden mir aus seinem Inhalt wohl keinen Vorwurf machen, hoffe ich, aber ohne Zweifel und mit Recht daraus , daß ich mich nicht an Sie wandte.« »In der That« – sagte die Forsträthin zögernd, der es peinlich war, diesen Punkt berührt zu sehen, welcher ihr damals einen noch größeren Beweis für die Taktlosigkeit des Barons abgegeben hatte, als seine Beleidigung gegen Frau von Rosen. »Lassen Sie mich mit einem Worte diese Sache aufklären. Ich wußte Ihren Namen noch nicht, gnädige Frau, da ich erst denselben Morgen angekommen. Berger ging erst gegen eilf Uhr Abends von mir. Erkundigungen konnte ich also nicht mehr erst einziehen. Am andern Morgen um fünf Uhr war das Zusammentreffen auf den Bergen angesetzt. Gesprächsweise erfuhr ich von Berger, den ich unmöglich direct da nach fragen konnte, den Vornamen Ihrer Fräulein Tochter. Sobald er mich verlassen, schrieb ich jenen Brief an Fräulein Lydia und gab ihn am andern Morgen meinem Diener mit dem Befehl, ihn auf der Promenade abzugeben.« »Lassen wir diese peinlichen Erörterungen, Herr Baron« – sagte die Forsträthin, welche durch die gegebene Erklärung befriedigt war, »für die ich Ihnen jedoch von Herzen dankbar bin. Ohnehin möchte ich eine Bitte an Sie richten, die Sie mir wohl nicht abschlagen, auch nicht, ich hoffe es, unrichtig verstehen werden, die nämlich, so wenig wie möglich diese überwundene Vergangenheit zu berühren, besonders« – setzte sie leiser hinzu – »im Gespräch mit meiner Tochter. Nicht wahr, Sie werden mir diesen Gefallen thun?« – »Gnädige Frau« – erwiederte Landsfeld mit ernster Miene – »es würde mich tief betrüben, sollten Sie das Gefühl, welches mich zu den obigen Aufklärungen gedrängt hat, mit einem Mangel an Discretion und Zartgefühl verwechseln. Auch ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch wäre diese erste Erörterung auch die letzte gewesen, da sie nur den Zweck hatte, mein Benehmen in Ihren Augen zu rechtfertigen.« »Es war nicht meine Absicht, Sie kränken zu wollen« – sagte die Forsträthin mit halb bittendem Tone. »Nicht ein Mißtrauen gegen Ihr Zartgefühl, Herr Baron, nur die Sorge gegen meine schon von so vielen Aufregungen angegriffene Tochter trieb mich zu jener Bitte, die ich indeß sicherlich unterdrückt haben würde, hätte ich vermuthen können, daß Sie darin etwas Kränkendes finden können.« Der Baron verbeugte sich, zum Zeichen, daß er hierdurch völlig zufrieden gestellt sei. Und in der That konnte er es auch in anderem Sinne sein. Denn dadurch, daß er die Mutter Lydiens zu einer Art von Entschuldigung gegen ihn gebracht hatte, war seine Stellung ihr gegenüber eine in jeder Beziehung selbstständige und freie geworden. Daß er diese ausgezeichnete Frau richtig beurtheilt hatte, bewies ihm die ganze Art und Weise, mit der sie ihn behandelte, jene von einem Dritten gar nicht wahrnehmbare Innigkeit im Tone, wie sie nur zwischen Charakteren möglich ist, deren gegenseitige Achtung aus einem innern, auf ideeller Sympathie gegründeten Verständniß stammt. Und doch ist gerade hier die Täuschung am leichtesten. Denn Derjenige, dessen Herz von idealer Schwärmerei erfüllt ist, und folglich an sich selbst und an die Wahrheit seiner Empfindung glaubt, ist gegen Trivialität und Schlauheit eben so sicher gewappnet, als gegen die ideellen Phantasiemenschen schutzlos; denn da er nicht den Unterschied zwischen der ideellen Wahrheit des Herzens und dem ideellen Schein der Phantasie verstehen kann, so begreift er auch nicht die Möglichkeit einer Täuschung durch den letzteren. Landsfeld hatte die Hoheit und Reinheit der Seele von Lydiens Mutter in ihrem ersten, forschend auf ihn gerichteten Blick gelesen und daraus sofort die Rolle erkannt, welche er ihr gegenüber zu spielen hatte. Die Täuschung war ihm über Erwarten gelungen, was auch großentheils daraus zu erklären war, daß allerdings ein Theil des Charakters, den er hier darstellte, in seinem eigenen Wesen begründet war, nur mit dem Unterschiede, daß er ihn zu einem bestimmten Zweck und durch willkührliche Mittel nach Außen kehrte. Lydia war unterdeß von ihren beiden Begleitern nach Möglichkeit unterhalten worden. Besonders bot der kugelrunde Doctor seine ganze Beredtsamkeit auf, um die trüben Gedanken, welche noch immer in ihren niedergeschlagenen Augen zu lesen waren, zu zerstreuen. Sie hatte hiervon den großen Vortheil, ihren Träumereien ungestört nachzuhängen, ohne durch offene Unaufmerksamkeit ihren redseligen Begleiter zu kränken. Denn wenn der Doctor über jede an ihn gerichtete Frage die größte Freude empfand, so war er doch selbstsüchtig genug, diese Freude selbst keinem Andern zu bereiten; was ihm jedoch merkwürdiger Weise als eine Liebenswürdigkeit ausgelegt wurde. Außerdem pflegte er jeden Witz, der seiner beweglichen Zunge entströmte, nicht blos nachher, wenn er schon heraus war, durch ein Lachen zu belohnen, sondern auf dieselbe Weise schon vorher anzukündigen, wodurch seine Zuhörer immer in den Stand gesetzt wurden, zu beurtheilen, was der Doctor für einen Witz halte, und folglich belacht haben wolle. Lydia lächelte auch manchmal, aber weniger über die Scherze des unterhaltsamen Jüngers Aeskulaps, als über die komische Ankündigung derselben, theils auch aus Gutmüthigkeit und angeborener Liebenswürdigkeit. Zuweilen erhob sie ihren Blick so weit, daß er den einige Schritte von ihr neben ihrer Mutter hinwandelnden Baron erreichte. Wenn sie auch nicht den Inhalt des Gesprächs verstehen konnte, so entnahm sie doch aus dem ernsten und eindringlichen Tone, mit dem dasselbe geführt wurde, daß die Unterhaltung keine blos conventionelle Bedeutung hatte und keinen gleichgültigen Gegenstand betraf. War es die Nichtbefriedigung des Interesses, das sie selber an dem Gespräch nahm, oder das peinliche Gefühl, selber Gegenstand einer von Anderen geführten Unterhaltung zu sein, oder war es vielleicht auch eine Art von Verletztheit über die scheinbare Nichtachtung des Barons, der sie gar nicht zu bemerken schien, oder endlich war es Alles dieses zusammen – was wohl das Wahrscheinlichste sein mochte –: genug, als der Baron stehen blieb, um sich von ihrer Mutter und den nachfolgenden Dreien zu verabschieden, konnte sie seine fast herzlichen, obwohl höflichen Abschiedsworte nur mit einer kurzen, kalten Verbeugung erwiedern. Landsfeld war ein zu feiner Menschenkenner, und verstand sich besonders auf das weibliche Herz zu gut, war vielleicht auch ein zu großer Egoist, als daß er diese Kälte nicht richtig zu seinen Gunsten gedeutet hätte. Wieder schwebte jenes leise Lächeln des Triumphs auf seinen Lippen, als er sich in Begleitung des Doctors mit raschen Schritten entfernte. »Ein merkwürdiger Mann« – sagte die Forsträthin, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, als sie am Arm ihrer Tochter den Rückweg nach Hause antrat. »Warum lachst Du?« – fuhr sie zu Lydia gewandt fort. »Ich dachte daran, daß der Doctor schon öfter denselben Ausspruch gethan« – erwiederte diese fast bitter. »Dasselbe sagte er aber auch über Andere.« – Diese Anspielung auf Frau von Rosen hatte besonders durch den Ton, mit dem sie gemacht wurde, etwas Verletzendes in sich, welches der Forsträthin wehe that. Sie schwieg jedoch, weil sie fürchtete, daß eine Vertheidigung des Barons das Vorurtheil, welches Lydia gegen ihn zu haben schien, nur verstärken möchte. Am folgenden Tage, als sie Beide die Seitenallee langsam auf und ab wandelten, sagte nach längerem Schweigen die Forsträthin: »Es ist nun Zeit, liebes Kind, daß wir uns bald zur Abreise fertig machen. Meine Kur geht mit dieser Woche zu Ende. Mich wundert, daß sich der Hofrath gar nicht sehen läßt, ich möchte gern mit ihm darüber sprechen. Vielleicht begleitet er uns.« Lydia erschrak über den Entschluß ihrer Mutter, doch, als wenn sie sich selber für diese Bewegung, die sie sich nicht erklären konnte, strafen wollte, sagte sie schnell: »Du hast Recht, liebe Mutter; es ist hohe Zeit, daß wir nach Hause kommen. Es verlangt mich sehr danach. Pr---t hat für mich auch keinen Reiz mehr, seit –« In diesem Augenblicke kam hastigen Schrittes der Doctor auf sie zu. »Wissen Sie schon, Verehrteste – ein merkwürdiger Mensch – der! – hm! Fataler Zufall!« – Lydia erschrak abermals, aber sie schwieg. »Was ist's? Wovon sprechen Sie?« – fragte die Forsträthin. Der Doctor lächelte über das ganze breite Gesicht, denn er hatte eine Frage zu beantworten und begann mit pathetischem Tone und in seiner gewöhnlichen abgebrochenen Weise zu erzählen, wie der Baron gestern Nachmittag trotz seines ausdrücklichen Verbots auf die Berge gestiegen und bis tief in die Nacht in den Wäldern umhergeirrt. Dadurch sei die nur leicht verharrschte Wunde so entzündet worden, daß die ganze Mühe, die er sich mit ihm gegeben, umsonst sei. Nun müsse er wieder die Stube hüten, was ihn in die unangenehmste Laune von der Welt gesetzt habe. »Fataler Zufall!« – schloß er seine Erzählung. »Das thut mir leid« – bemerkte die Forsträthin – »um so mehr, als wir nun wohl das Vergnügen entbehren werden, ihn noch einmal zu sehen.« – Lydia befand sich seit mehreren Tagen schon in einer Stimmung, die ihr selbst unheimlich und drückend war, da sie mit ihrer klaren und tiefen Natur in vollem Widerspruch stand. Sie war sich selbst ein Räthsel. Dies machte sie unruhig, und, was ihrem sonstigen Wesen ganz fremd war, launisch. Sie fühlte über Bergers Handlungsweise jetzt keinen Schmerz mehr, nur wenn sie in einsamen Stunden der vergangenen Zeit dachte, an ihre Heimath, an die süße Gewohnheit eines vertraulichen unbefangenen Umgangs mit dem jungen Mann, als sie mit ihrer Mutter nach Berlin übersiedelt war, an seine Lieder, die er für sie componirt – dann überfiel sie wohl ein Gefühl der Wehmuth, und ihre Thränen strömten die innere Trauer ihrer Seele aus. Doch bald überkam sie in solchen Augenblicken eine andere, bittere Empfindung; wie ein frostiger Hauch durchschauerte ihr Herz der Gedanke an die Zerrissenheit und Unwürdigkeit des früher Geliebten, und eine trostlose Kälte, eine Leere an Empfindung verdrängte die Wehmuth aus ihrer Brust. Daß sie ihn nicht mehr liebte, ja daß sie ihn vielleicht nie geliebt hatte, wurde ihr immer klarer, aber sie hatte noch nicht das Bewußtsein, das nur die Erfahrung giebt, was der Grund dieser Gereiztheit sei, nämlich, daß sie im Begriff sei, einer andern Liebe Raum in ihrem Busen zu geben. Vielleicht ahnte sie diese Veränderung in sich, wenigstens wehrte sie sich instinktmäßig dagegen, aber wenn ihr Jemand den Namen Landsfeld genannt hätte, so würde sie wahrscheinlich mit Entrüstung eine solche Vermuthung von sich abgewiesen haben. – Was war nun aber die Quelle dieser erwachenden Leidenschaft? Der Baron hatte eigentlich noch kein Wort mit ihr gesprochen, sie kaum beachtet, gewiß aber in keiner Weise sich ihr genähert. Welcher geheimnißvolle Einfluß konnte also seinerseits von ihm ausgeübt sein? War es die männliche, energische Kraft seines Geistes, die sich in seiner Handlungsweise gegen Berger ausgesprochen hatte? Dies hatte ihm wohl Lydiens Achtung erworben, aber wie wäre ihre Leidenschaft dadurch rege geworden. Oder war es die ritterliche Schönheit seiner Gestalt, die einen Eindruck auf ihre Sinne gemacht hätte? Dazu war Lydia noch zu unbefangen und harmlos. Ihre Sinnlichkeit war eine völlig geschlossene Knospe, der sich noch kein belebender Sonnenstrahl genaht. Was also war dieser räthselhafte Grund? Ein einziger Blick war es, der sie in ihrem mädchenhaften Far niente gestört, jener Blick, den Landsfeld auf sie geworfen, als er an dem ersten Tage nach der Scene in dem Rondel ihr begegnet hatte, und den sie nie wieder vergessen. Eine dämonische Gewalt mußte in diesem Blick gelegen haben, denn sie fühlte, wie er alles Blut ihr nach dem Herzen jagte, und es im nächsten Augenblicke mit reißender Schnelligkeit durch alle Adern trieb. Dieser eine Blick ruhte seitdem, ohne daß sie es ahnte, im tiefsten Winkel ihres Herzens, und tauchte nur dann auf, wenn irgend ein großes Ereigniß ihre Kraft in Anspruch nahm. Er hatte ihr den Muth zu jenem Gespräch mit Berger gegeben, er hatte sie in dem Kampfe der Trennung aufrecht erhalten, aus ihm schöpfte sie jetzt ihr ganzes inneres Leben, dessen Veränderung sie wohl fühlte, ohne über ihre geheimnißvolle Quelle im Klaren zu sein. – Jetzt, wo die durch die Stürme der vorigen Woche in Bewegung gesetzten Wellen sich allmählich geebnet hatten, fühlte sie eine unendliche Leere in ihrer innern Welt. Kalt und theilnahmlos, aber von steter Unruhe, deren Ursache sie vergeblich nachsann, hin und her getrieben, suchte sie sich durch mancherlei Beschäftigungen zu zerstreuen. Aber weder ihr Vogel, noch ihre Blumen, über die sie sich früher wie ein Kind hatte freuen können, waren im Stande, ihr ein Lächeln abzugewinnen. Mit Besorgniß blickte zuweilen die Mutter, der diese gänzliche Veränderung in ihrem Wesen nicht entging, auf ihre bleichen Wangen und getrübten Augen. Da sie dieselbe jedoch auf den Eindruck schob, den die peinliche und verletzende Art, in der sie sich von ihrem Jugendfreunde und Verlobten getrennt hatte, auf sie hervorgebracht, so vermied sie es, darüber zu sprechen, in der Hoffnung, daß die Zeit, wie überall, auch hier als der beste Arzt sich geltend machen würde. Eines Tages, es war der zweite vor ihrer Abreise, als sie eben von ihrer Morgenpromenade zurückgekehrt waren, klopfte es an der Thüre und Landsfeld trat herein. Sein Arm ruhte noch immer in der Binde und sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich. Auch Lydia erbleichte, und hatte kaum die Kraft, sich vom Stuhle zu erheben. Die Forsträthin lud ihn mit großer Herzlichkeit zum Sitzen ein. »So sind Sie also noch nicht fort?« – sagte er hastig, indem er tief Athem schöpfte. »Der Doctor Langhals sagte mir, Sie reisten heute ab. – Sie entschuldigen meinen Besuch« – setzte er alsbald mit einer so natürlichen Verwirrung über seine Hast hinzu, daß die Forsträthin unwillkührlich über den unbefangenen Ausdruck seiner Theilnahme, die sie darin zu erkennen glaubte, lächeln mußte. »Wir hatten allerdings die Absicht« – sagte sie – »aber theils Furcht für die noch immer angegriffene Gesundheit meiner Tochter –« »Sie sind unwohl, Fräulein?« – unterbrach sie Landsfeld, indem er sich mit einer Mischung von herzlicher Theilnahme und ernster Zurückhaltung an Lydia wandte. Es waren die ersten Worte, welche er an sie richtete. So allgemein ihr Inhalt war, so vielbedeutend klangen sie ihr durch den Ton, mit dem sie gesprochen wurden. Sie erröthete sanft, indem sie erwiederte, daß sie sich bereits kräftig genug fühle, um ohne Gefahr in zwei Tagen die Reise antreten zu können. »Ueberdies« – setzte sie mit etwas mehr Lebhaftigkeit hinzu – »glaube ich, daß die schädliche Nachwirkung von Gemüthsleiden durch den Wechsel des Orts an Stärke verliere. Man sagt ja immer, daß das Reisen zerstreue, und verordnet es sogar als Heilmittel bei Gemüthsleiden.« Das Letztere sprach sie mit einem Anflug von Bitterkeit im Tone, die jetzt fast immer die wenigen Gedanken begleitete, welche sie äußerte. Landsfeld war überrascht von dem hellen Glanz, welcher in diesem Augenblick aus ihrem tiefblauen Auge strahlte, und ihrem reizenden Gesicht einen eigenthümlich fesselnden Ausdruck von geistiger Tiefe verlieh. Er dachte sich dieses liebliche Wesen als seine Gattin – und fragte sich, ob er im Stande sein würde, fest zu bleiben in dem Entschlusse, dem Scheine der Wahrheit zu trotzen und zu zweifeln – bis zur letzten unbezweifelbaren Ueberzeugung. Er fühlte die ganze Gefahr des Kampfes, den er mit sich selbst kämpfen werde. Einen Moment schwankte er. Die Süßigkeit gläubiger vertrauender Hingebung zog mit allen Wonneschauern durch seine Brust. Aber er dachte an Alice. – – Er wollte ja Wahrheit, nichts als Wahrheit. – Mit fester Hand riß er die jungen Wurzeln des Vertrauens, das sich in seinem Herzen zu regen begann, heraus, und wiederholte seinen Schwur der Entsagung. – Es war, wie gesagt, nur ein Augenblick, wo er von diesen hin und her wogenden Empfindungen durchströmt wurde, aber ein entscheidender. Sein großer feuriger Blick bohrte sich tief in den Lydiens ein, als wollte er ihre tiefsten Tiefen ausmessen. Es war derselbe Blick, dessen Gewalt sie bei seinem ersten Begegnen gefühlt hatte. Ihr Busen hob sich über den ungestümen Schlägen ihres Herzens und eine tiefe Angst durchzitterte ihre Seele. Dieser Mann erschien ihr wie ein Dämon, welcher mit eherner Faust ihren Geist umklammern wollte, und sie fühlte klar, daß sie ihn entweder lieben oder hassen müßte, vielleicht Beides. Landsfeld bemerkte die Wirkung, welche er diesmal wider seinen Willen hervorgebracht. Er wandte seinen Blick von Lydia ab und bemerkte, sich mehr zur Forsträthin wendend, in ruhigerem Ton: »Ich habe mich oft über die Ansicht gewundert, daß man reisen müsse, um sich von seinem Schmerze zu zerstreuen. Aber ist der nicht glücklicher, welcher bleibt, wenn der Geliebte scheidet? gewiß, denn er hat zu Gefährten die mitfühlenden Plätze, die Denkmäler seiner Liebe. Unglücklicher der, welcher scheidet, um an fremdem Orte zu erwachen. Er hat nur sich und seinen Schmerz, in dem er sich ewig spiegelt, in den er, wenn fremde Mißtöne sein Herz zerreißen, zurückflieht, um ihn ewig wieder auf's Neue zu fühlen.« »Sie haben Recht« – erwiederte Frau von Dornthal – »wenn Sie von einer Trennung sprechen, die durch äußere Umstände oder durch die Gewalt eines Dritten herbeigeführt worden, ohne daß einer der Getrennten selbst daran Schuld ist.« Der Baron hatte geflissentlich jede Anspielung auf Berger vermieden, und Lydia wußte ihm Dank dafür. »Ich glaube« – fuhr er daher fort – »daß die Ursache des Schmerzes für die Wirkung mehr oder weniger gleichgültig ist. Denn die Erinnerung bleibt doch eine reine, oder ist sie nicht rein, so reinigt sie sich von selbst im reinen Herzen. Denn ein reines Herz ist ein Läuterungsfeuer, in dem sowohl der Schmerz, wie die Freude von allen Schlacken gereinigt werden.« »Jeder geistige Schmerz« – fragte Lydia – »wäre also nach Ihrer Ansicht etwas Edles?« »Gewiß« – erwiederte Landsfeld. »Wenigstens wird er es mit der Zeit. Er trägt sogar immer einen größeren Adel in sich, als die Freude, möge diese noch so schuldlos und rein sein. Wohl Jeder macht wenigstens einmal in seinem Leben die Erfahrung an sich, daß das schmerzliche Gefühl ein wahres Element unserer geistigen Existenz ist und mit dem Edelsten in unserer Natur harmonirt. Es liegt ein Genuß darin, sich in den Schmerz zu versenken, davon die tiefste Tiefe zu erschöpfen und die bitteren Tropfen mit wehmüthiger Wollust zu schlürfen. Der Schmerz ist das eigentlich geistige Element der Hoffnung oder Erinnerung. Und jeder ideelle, inmaterielle Genuß ist entweder Hoffnung oder Erinnerung. Der Schmerz ist das Flügelschlagen unserer Seele an die Stäbe des Kerkers, die Klage des gefesselten Prometheus, an dessen Leber der Adler frißt; die Rache des unendlichen Ideals an dem beschränkten Menschengeist.« Landsfeld hatte sich in einen Enthusiasmus hineingesprochen, der mehr eine Rückwirkung des überaus seelenvollen Ausdrucks in den Zügen der jüngern seiner Zuhörerinnen war, als aus seiner momentanen Stimmung hervorging. Mit ruhigerem Ton fuhr er fort: »Daher kommt es, daß wir weit mehr von den wehmüthigen Zügen eines schönen Gesichts, von der Rührung der Freude, der die Thränen an den Wimpern hangen, angezogen werden, als von dem fröhlichen Anblick eines heiter lachenden Profils. Deshalb dringt das melancholische Moll tief in unsere Empfindung und setzt die innersten geheimsten Saiten unseres Gefühls in nachhallende Schwingungen, während das hüpfende heiter versöhnende Dur nur die Oberfläche unserer Seele durchdringt und mehr unsern Geschmack, als unser Herz befriedigt. Ja, in ganzen Völkern zeigt sich dieser Drang nach dem Schmerzlichen, vorzüglich in der Musik; z.B. bei den Polen, Ungarn, wogegen den Franzosen und Engländern dieser Nationalzug ganz fremd ist. Woher nun dieser Drang nach dem Wehmüthigen, woher die Furcht vor der Versöhnung? Woher dieses Gefühl des Erhabenen, Edlen, Idealen im Schmerze und in der Wehmuth, welche Nicht ist, als der Genuß des Schmerzes. Nur der Mensch ist der Wehmuth fähig. Das Thier fühlt nur Freude oder Schmerz, im materiellen Sinne. Woher diese Lust an der geistigen Qual? Weil der Mensch nur diese ewig mit sich selbst ringende Natur hat. Habe ich also nicht Recht, wenn ich behaupte, daß der Schmerz ein wesentliches Element des wahrhaften Menschenseins ist? Darum ist er es, weil er etwas Göttliches ist, oder doch aus ihm stammt, nämlich aus dem unendlichen, nie ganz gestillten Drange nach der Freiheit des Geistes. Nie gestillt – darin liegt seine Quelle. Denn die Freiheit ist ein unerreichbares Ideal. Der Schmerz ist deshalb etwas Göttliches, weil er die Empfindung ist, daß wir nicht Götter sein können, und doch Götter sein wollen. – Er ist das › Mich dürstet ‹ des Gottes, den wir in uns haben, und den wir in uns selbst kreuzigen, weil wir ihn nicht verstehen.« Landsfeld sagte diese Worte mit dem Ausdruck einer tiefen Trauer auf seinem Gesicht, als fühle er den Schmerz der ganzen Menschheit selber in seinem Innern wühlen. Lydia war in eigenthümlicher Bewegung. Als wäre plötzlich ihre bisherige Welt aus ihren Angeln gehoben und eine andere, unendlichere an ihre Stelle gesetzt, so überwältigend drangen seine Worte in ihre Seele, so tief erschütterten sie sie bis in ihre letzten Wurzeln. Eine flammende Röthe zog, während Landsfeld sprach, wie der Morgenschein eines neuen Tages auf ihre Wangen herauf, als sie mit zitternden Lippen und feuchtem Auge an seinen schwärmerischen Blicken hing; und als er nun schwieg, und sein Auge, das bisher halb niedergeschlagen war, sich langsam nach dem Auge Lydiens erhob, da schlug sie die ihrigen zu Boden; aber ihr Erröthen wurde noch tiefer und flammender, als sie, ihre Bewegung bekämpfend, sagte: »Ihre Anschauungsweise, Herr Baron, ist mir zwar neu, doch glaube ich Sie vollkommen verstanden zu haben. Ich gebe Ihnen zu, daß der geistige Schmerz die Seele adelt, weil er selbst etwas Edles ist. Auch das glaube ich nicht falsch aufzufassen, was Sie unter der Idealität des Genusses begreifen. Wie Sie aber diese Idealität nur in der Erinnerung und in der Hoffnung, also immer doch in der Entbehrung, im Mangel finden, das verstehe ich nicht. Haben Sie nie Augenblicke gehabt, wo sie, von einer durchaus reinen, edlen Empfindung, oder einem schönen und großen Gedanken durchdrungen, sich gestehen mußten, daß die Gegenwart und ihr Bewußtsein auch ideelle Genüsse gewähren könne? – Ist dies aber so, so kann man dem Schmerz wohl nicht allein das Vorrecht zuerkennen, edler als Empfindungen anderer Art zu sein. Ich meine, daß es auch geistige Freuden giebt, die eben so reinen Ursprungs und eben so idealer Natur sind, als geistige Schmerzen.« Eben wollte Landsfeld antworten, als der Hofrath Rupf eintrat. »Es ist mir lieb, daß Sie kommen,« sagte die Forsträthin zu diesem – »ich möchte mit Ihnen über unsere Reise sprechen.« Sie führte ihn in's Nebenzimmer, indem sie den Baron wegen dieser Unterbrechung um Entschuldigung bat. »Ich vermuthe« – sagte dieser lächelnd zu Lydia, indem er das frühere Gespräch wieder aufnahm – »daß Sie in der Vertheidigung der Freude an den idealen Eindruck denken, den eine großartige oder schöne Naturerscheinung auf uns hervorbringt. Aber denken Sie zurück an die Art dieser Eindrücke? Ist es wirklich Freude gewesen, nur Freude, was Sie in solchen Augenblicken erfüllte? Hat kein Gefühl der eigenen Beschränktheit, keine Sehnsucht nach der unendlichen Freiheit diese Freude getrübt? Ich bezweifle es. Je tiefer sich der Blick in die Ferne verliert, je höher er in den ewigen Himmel aufsteigt, desto beklemmter wird die Brust, desto unendlicher die Sehnsucht, die Schranken der Gegenwart zu durchbrechen und sich in die absolute Tiefe zu versenken.« Lydia dachte an jenen Morgen, an dem sie mit so wehmüthigen Empfindungen den Sonnenaufgang betrachtet, und eine Thräne trat in ihr Auge. »Sie haben doch wohl Recht« – sagte sie fast traurig. – »Aber ist es nicht ein entmuthigender Gedanke, daß der Mensch nur durch das Opfer seiner Unbefangenheit und seines Frohsinns sich dem Ideale nähern kann, daß er also nur entweder in der Erinnerung oder in der Hoffnung leben darf, wenn er sich seines geistigen Wesens bewußt werden will?« »Ich denke nicht, daß diese Entbehrung so groß ist. Denn was liegt zwischen Erinnerung und Hoffnung? Dasselbe, was zwischen Vergangenheit und Zukunft: die Wirklichkeit, die Gegenwart. So sagt man, ohne zu bedenken, daß, wenn man anders unter Wirklichkeit und Gegenwart das Bewußtsein davon versteht, die Wirklichkeit nicht gegenwärtig und die Gegenwart nicht wirklich ist. Wie die Gegenwart der Punkt ist, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen, und der ewig fließt, so ist die Wirklichkeit der Punkt, in dem sich Erinnerung und Hoffnung berühren. Dieser Punkt ist aber in der That gleich Null. Alle Gefühle, die unsere Seele rührten, alle Empfindungen, die unsern Geist erhoben, beziehen sich entweder auf etwas hinter ihnen oder vor ihnen Liegendes. Und wollte er auch das Gegenwärtige sich zum Bewußtsein bringen, so wäre es doch schon etwas Vergangenes, ehe es in's Bewußtsein käme. So reproducirt jeder hüpfende Pulsschlag ein neues Gefühl und jeder belebende Athemzug ist die Quelle einer frischen Empfindung. Aber jedes dieser zitternden, rosigen Kinder des Herzens begeht in seiner Geburt einen Muttermord, um von seinem eigenen Kinde in der nächsten Sekunde erstickt zu werden.« – Es lag eine solche Trostlosigkeit in dem leisen und wehmüthigen Tone, mit dem Landsfeld diese Worte sprach, daß Lydia ihre Thränen nicht zurückhalten konnte. Wie erstaunt und erfreut war sie daher, als plötzlich Landsfelds Blicke zu leuchten begannen, und eine edle Begeisterung auf seinem Gesichte glänzte, als er folgendermaßen schloß: »Aber Eines giebt es, was nicht dem Wechsel erliegt, was weder mit der bloßen Wirklichkeit noch mit der Unwirklichkeit im Widerspruche steht, was man weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft zu suchen braucht: es ist das Bewußtsein dessen, was man will, das Gefühl dessen, was man glaubt, und das Vertrauen zu dem, was man liebt – und die Quelle von diesen dreien: Die Ueberzeugung von der Wahrheit des Guten und Schönen in sich selbst und in denen, die man liebt.« Er stand bei diesen Worten auf, faßte Lydiens Hand und drückte einen warmen, innigen Kuß darauf. Zitternd vor innerer Bewegung hatte sie nicht die Kraft, ihm ihre Hand zu entziehen. Er entfernte sich schnell, als fürchte er bei längerem Bleiben nicht Herr seiner Empfindung zu bleiben. Als Frau von Dornthal wieder eintrat, fiel ihr Lydia weinend um den Hals. »Was ist's? Was fehlt Dir, Lydia?« – fragte sie erschreckt. »O, Nichts, Nichts, theure Mutter. Aber laß uns bald abreisen.« »Beruhige Dich nur. Morgen gehen wir ganz bestimmt. – Der Baron ist schon fort?« »Er wollte Dich wohl nicht stören.« – Lydia erröthete über diese erste Unwahrheit gegen ihre Mutter. Denn sie glaubte recht wohl den eigentlichen Grund seines hastigen Abschiedes zu kennen. 7. Kapitel Siebentes Kapitel Ein feuchter Nordwestwind wehte die ersten gelben Blätter von den Platanen und Linden, welche in zwei Doppel-Reihen jene berühmte Straße Berlins, die vom Opernplatz bis zum Brandenburger Thor sich erstreckt, in eine dreifache Allee verwandeln. Nur wenige Fußgänger ließen sich in der großen Mittelallee erblicken, welche auch sonst meist nur von Spaziergängern und Obstverkäuferinnen betreten zu werden pflegt. Dagegen drängt es sich auf den an beiden Seiten der Häuser hinziehenden Trottoirs von geschäftig Eilenden aller Art, und die Wagen rasselten daneben. Vor einem der Schaufenster der vielen reich ausgestatteten Kunstläden unter den Linden hatten sich trotz des unfreundlichen Wetters eine Anzahl Neugieriger versammelt, die mit emporgerecktem Halse die neuen Kupferstiche bewunderten oder bekrittelten. Unter ihnen stand auch ein Mann mit bleichem, eingefallenem Gesicht, welches von einem niedrigen, breitkrämpigen Hute fast ganz beschattet wurde. Er war tief in einen kurzen schwarzen Mantel eingehüllt und starrte mit ausdruckslosem, kaltem Blick auf eine kleine Landschaft, die ziemlich unscheinbar von den Andern gar nicht bemerkt zu werden schien. »Das muß sie gemalt haben« – murmelte er vor sich hin. – »Ich kenne ihre Manier. Es ist das Haus unter den Kastanienbäumen mit der Aussicht auf die Berge. Kein Zweifel, daß sie es gemalt hat. So ist sie also wirklich wieder in Berlin. Ich muß suchen, ihre Wohnung zu erfahren.« Er sprach die letzten Worte ziemlich laut und wendete sich zum Weitergehen. »Wenn Sie Fräulein von Dornthal meinen, so kann ich Ihnen vielleicht dazu behülflich sein« – redete ihn plötzlich ein elegant gekleideter junger Mann mit höchst geistvollen und charakteristischen Zügen an. – Jener fuhr zurück, als hätte er auf eine Schlange getreten. Seine Hand griff krampfhaft unter die Falten des Mantels und ein Ausdruck unnennbarer sprachloser Wuth malte sich in seinem Gesicht. – Ein Paar Secunden starrte er so in die lächelnden Mienen und das ruhige Auge des Andern, der mit gekreuzten Armen vor ihm stand, um seine Antwort zu erwarten. Eben öffnete er die zitternden Lippen, aber als besänne er sich eines Bessern, hüllte er sich rasch noch tiefer in seinen Mantel und stürzte fort. »Armseliger Thor« – sagte Landsfeld, dem Forteilenden nachblickend, vor sich hin. »Wage es, den Löwen in seinem Lager aufzusuchen.« – Festen Schrittes ging er nach der entgegengesetzten Seite der Straße hinab. Als er das Opernhaus erreicht hatte, blieb er vor dem unter dem Portal ausgehängten Theaterzettel stehen, um zu sehen, was gegeben wurde. »Othello, der Mohr von Venedig.« Indem er diese Worte in halb fragendem, halb sinnendem Tone langsam vor sich hin sprach, klopfte ihn Jemand auf die Schulter. »Guten Abend, lieber Baron.« Es war ein hübscher, mit kleinen schwarzen Augen heiter in die Welt hineinschauender Mann, von ungefähr 40 Jahren. »Sie überlegen, wie ich sehe, ob Sie in's Theater gehen sollen. Nun, der Mühe lohnte sich's schon, besonders heute, wo die Rolle der Desdemona und des Mohren – da fällt mir ein, daß heute Salon bei Cornelien ist. Sie wissen, daß ich sonst nie hingehe. Aber wenn Sie von der Partie sind, möchte ich wohl einmal in den sauern Apfel beißen.« »Halten Sie einen solchen Charakter für möglich?« – fragte Landsfeld, der, die Worte des Andern überhörend, an Desdemona und Lydia dachte. »Freilich, es gehört einige Menschenkenntniß dazu, um diese seltsame Person ganz zu ergründen. Ich habe einen gewaltigen Respect vor ihr, obwohl oder vielmehr weil sie mir leider vorzugsweise gewogen ist.« »Von wem sprechen Sie denn eigentlich, Schattenfrei? Ich verstehe kein Wort davon.« »Nun von wem anders, als von Cornelien, zum Henker« – setzte er hinzu, als Jener ihn noch immer verwundert anschaute. »Werden Sie nicht auch heute Abend ihren Salon verherrlichen helfen?« – Landsfeld machte eine abwehrende Bewegung. »Schämen Sie sich, Sie fangen wohl auch an, den Sentimentalen zu spielen?« »Wer wird denn dort sein?« fragte Landsfeld, um doch Etwas zu sagen. Seine Gedanken waren noch bei Desdemona und Lydia. Schattenfrei nahm seinen Arm. »Ich werde Ihnen das unterwegs erzählen. Kommen Sie nur. Zuerst« – fuhr er fort, nachdem es ihm gelungen war, Landsfeld in Bewegung zu setzen – »Frau von Rosen – fällt Ihnen das auf? Sie ist ja die vertrauteste Freundin von Cornelien. Sodann Salomo nebst seinem Waffenträger; die Sängerin G----z mit ihrem Geliebten, dem Assessor Tieftrunk; der junge Berger; ferner –« »Berger?« – fragte Landsfeld, durch diesen Namen aus seiner Träumerei emporfahrend. »Wissen Sie das gewiß?« »Nun ich denke, das versteht sich von selbst, wenn Alice von Rosen da ist.« – »Weiter haben Sie zu Ihrer Vermuthung keinen Grund?« »Auch sagte er es mir selbst vor ungefähr einer halben Stunde, als ich ihm im Thiergarten begegnete.« – »Wahrhaftig?« – lachte Landsfeld höhnisch. »Nun vielleicht hat er seine Meinung bis dahin geändert« –. Er sah nach der Uhr. »Leben Sie wohl,« – fuhr er fort, sich halb mit Gewalt losreißend. – »Ich habe noch vorher einen nothwendigen Gang zu thun.« »So werde ich Sie doch aber sicher dort treffen?« »Ja. Aber ich bitte Sie, Nichts davon zu erwähnen. Vielleicht komme ich erst etwas spät.« »Der ist in kurioser Laune« – sagte Schattenfrei, dem Forteilenden nachblickend. »Er hat alle Anlage dazu, den Salon heut' zu einem der interessantesten Cirkel zu machen.« Sich die Hände vor Vergnügen reibend, stieg er in eine Droschke: »Lindenstraße Nr. 45« – sagte er zum Kutscher, indem er gemächlich die Marke in die Westentasche steckte. Landsfeld verfolgte indeß seinen Weg zu Fuß. So sehr er es in jeder andern Beziehung vermied, den Sonderling zu spielen, so konnte er sich doch nur schwer dazu entschließen, in einen Wagen zu steigen, wenn er eilig war. Denn ihm war nichts unerträglicher als körperliche Unthätigkeit, wenn sein Geist von dem Verlangen, irgend ein Ziel schnell zu erreichen, bewegt war. Kam es ihm dagegen weniger auf Schnelligkeit an, dann benutzte er schon ein Fuhrwerk. Am liebsten jedoch ritt er, schon deshalb, weil das Reiten die beiden Vortheile des Gehens und Fahrens, nämlich eigene Thätigkeit und Schnelligkeit, vereinigt. Nach einer starken Viertelstunde, während der er mit gleicher Eile durch mehrere Straßen und über verschiedene Plätze geschritten war, hatte er den Platz vor dem Potsdamer Thor erreicht, der in fünf verschiedene Straßen, einen halben Stern bildend, auseinander geht. Landsfeld schlug die mittelste ein, in der er nach wenigen Minuten vor einem kleinen Sommerhause stehen blieb, das sich durch einen eleganten leichten Balkon, so wie durch einen geschmackvoll angelegten kleinen Garten auszeichnete. Er öffnete die Gartenthür durch einen Schlüssel, den er bei sich trug und begab sich auf einem Seitenwege nach der Hinterfront, wo er an eins der niedrigen Parterrefenster anklopfte. Als es sich öffnete, erschien das gutmüthige Gesicht Carls, seines Bedienten. »Du mußt mir sogleich den Fuchs satteln, Carl, ich muß noch hinaus. Von neun Uhr an hältst Du Dich ebenfalls bereit. Du sollst mich dann noch in die Stadt begleiten.« Bei diesen Worten sprang der Baron aufs Pferd. Carl öffnete das Thor. Landsfeld schlug den Weg nach Schönberg ein. Obgleich er in scharfem Trabe ritt, so dunkelte es doch schon ein wenig, als er sein Ziel erreichte. Auf der Spitze des Hügels, von dem sich die lange Straße dieses reizenden Sommeraufenthalts herabzieht, stieg er vom Pferde und band es an den Gartenzaun des Hauses, dessen Perron er alsbald mit schnellen Schritten hinaufeilte. Eben wollte er die Klingel ziehen, welche sich neben der Glasthüre des Balkons befand, als sein Blick in das Innere des Zimmers fiel, und er, die schon ausgestreckte Hand zurückziehend, einige Augenblicke wie in tiefe Betrachtung versunken stehen blieb. An einem mit verschiedenen Zeichnenmaterialen bedeckten Tischchen, das ganz in der Nähe der Balkenthüre stand, saß, dem Baron halb den Rücken zugekehrt, ein junges Mädchen, das, wie es schien, eifrig mit Zeichnen beschäftigt gewesen war, denn eben legte sie den Zeichnenstift nieder, lehnte sich zurück an den Sessel und ließ den Kopf ein wenig auf die Brust sinken. Doch konnte er nicht erkennen, ob sie die Zeichnung auf diese Weise besser betrachten, oder ob sie sich ihren Gedanken überlassen wollte. »Könnte ich doch in ihr Herz sehen« – dachte Landsfeld. »Was gäb' ich darum, kennte ich den Gegenstand ihres Nachsinnens.« Er sah jetzt, daß die Balkonthüre nur angelehnt war. Er öffnete sie leise und trat hinein. Das junge Mädchen schien ihn nicht zu bemerken. »Du wirst Dir die Augen verderben, Lydia« – sagte er mit sanfter Stimme. Wie von freudigem Schreck erbebend, war sie beim Ton seiner Stimme aufgefahren. Abwechselnd erblassend und erröthend, vermochte sie noch nicht zu antworten. Plötzlich sprang sie vom Stuhle auf. »Du bist's, mein Richard?« – Sie flog an seinen Hals und preßte einen glühenden Kuß auf seinen Mund. Aber als schäme sie sich selbst wegen ihrer Leidenschaftlichkeit, fuhr sie, einen Schritt zurücktretend, mit vor Bewegung zitternder Stimme fort: »Wie kannst Du mich so erschrecken, Richard! Du weist ja, wie mich das angreift.« »Sei nicht böse, mein liebes Kind« – erwiederte er liebevoll, indem er sie an seine Brust zog und, die Locken, welche über ihr Gesicht gefallen waren, von der Stirn streichend, einen langen Kuß darauf drückte. Wie vor innerer Wonne schauernd, ließ sie ihren Kopf auf seiner Schulter ruhen. »Aber ich bitte Dich, Lydia« – fuhr er fort – »nicht mehr so spät zu zeichnen. Du mußt Deine Augen mehr schonen – für mich« – setzte er leise hinzu. »Versprich es mir!« »Ich verspreche es Dir, Richard. – Ich war so sehr einsam und wußte nicht, was ich anfangen sollte. Denn wenn ich spiele, werde ich immer traurig und möchte weinen.« Landsfeld zuckte mit der Hand. Er dachte an Berger, mit dem Lydia oft zusammen gespielt und gesungen. Er war zu stolz zur Eifersucht – wenigstens glaubte er es zu sein. – Aber in solchen Augenblicken tauchten alle Zweifel wieder in seiner Seele auf und machten ihn hart und ungerecht gegen die Geliebte. Ja er freute sich selbst über diese Härte, denn sie war ihm Bürge dafür, daß er seine Selbstständigkeit noch nicht eingebüßt. Seine Stimme hatte ihre Sanftheit ganz verloren, als er, Lydia zum Sopha führend, sagte: »Traurig? Warum bist Du traurig? Du hast Anlage zur Sentimentalität, glaube ich.« Nichts schärft den Instinkt der Beobachtung mehr, als wahrhafte, tiefe, leidenschaftliche Liebe. Lydia erschrak über die Veränderung im Wesen Landsfelds, aber sie zwang sich zu lächeln: »Du magst Recht haben, Richard, ich bin ein thörichtes Mädchen. Aber wenn ich erst immer mit Dir lebe, dann werden diese albernen Launen, die Dich ärgern, ganz verschwinden.« Landsfeld verstand entweder den Zwang, den Lydia sich anthat, um heiter zu scheinen und den er wohl herausfühlte, wirklich anders, oder er wollte ihn gegen seine bessere Ueberzeugung anders verstehen, weil sie doch möglicherweise einen andern Grund dazu haben konnte. Dem äußern Anschein nach, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, in der That aber, um jenem Grunde nachzuspüren, sagte er in gewöhnlichem Conversationstone: »Rathe einmal, wem ich heute begegnet bin? Ein alter Bekannter von uns, besonders von Dir.« – Sie sann vergebens nach. »Der junge Berger« – fuhr er in demselben Tone fort, indem er Lydien forschend ansah. »Berger!« – stammelte sie erschreckt, indem sie das Gesicht mit den Händen bedeckte. »Warum erschrickst Du darüber so?« – Lydia antwortete nicht, aber ein krampfhaftes Schluchzen, das sie vergebens zu unterdrücken sich bemühte, wühlte in ihrer Brust. »Antworte mir, Lydia« – bat er mit seinem frühern sanften Ton, indem er sie näher zu sich zog. »Was fürchtest Du von ihm?« »Ach, Richard« – sagte sie weinend – »Wenn ich nur wüßte, woher dieser fürchterliche Widerspruch in Dir. Du ahnst nicht die Qualen, welche mich verzehren, wenn Du so anders bist, als sonst, so fremd Deinem eigenen Wesen. Mir ist zuweilen, als zweifeltest Du an meiner Liebe. Mein Gott, Richard! Du weißt ja, daß ich nur Dir gehöre, Dein Geschöpf bin, denn Du hast mein ganzes Inneres wie durch ein Zauberwort umgeschaffen.« Wie selbst erschreckend vor dem, was sie jetzt sagen wollte, fuhr sie leise fort: »Manchmal glaube ich sogar, daß Du mich nicht liebst. Denn wie könntest Du sonst zweifeln an meiner Liebe? Richard, wäre das nicht schrecklich? – Aber nein, nein, verzeih mir, Geliebter. Ich glaube an Deine Liebe. Denn glaubte ich nicht mehr daran« – – Sie riß sich aus seinen Armen los und sprang auf. »Nun?« – fragte er, über ihre fast drohende Stellung erstaunt. »Dann würde ich an Nichts mehr glauben, denn ich müßte Dich verachten. Und dann, Richard, könnte ich nicht länger leben.« Sie sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe. Landsfeld war von der tiefen Wahrheit, welche in dieser Ruhe lag, tief erschüttert. Mit schwer verhaltener Leidenschaft ergriff er ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. – Mit einem seelenvollen Lächeln blickte sie auf ihn herab. Die Gewißheit seiner Liebe kehrte wie ein neuer Frühling in ihre Brust ein. »Du bist ein böser Mann, Richard,« sagte sie, sich wieder an seine Seite niederlassend. »Warum quälst Du mich so grausam?« – Er antwortete nicht. Mit einer Heftigkeit, die sie an ihm noch nicht gekannt, zog er sie an sich. Sie war zu glücklich, als daß sie seinen Küssen, deren Glut sie auf ihrem Nacken und auf ihrem Gesichte fühlte, zu wehren versucht hätte, aber sie zitterte in seinen Armen. »Richard,« – stammelte sie endlich mit leisem Vorwurf: »Dein Athem fiebert.« – Als er, seine Gefühle niederkämpfend, wieder ruhiger geworden war, fuhr sie fort: »Ist es wirklich wahr, daß Du Berger begegnet bist, Richard?« »Ja, es ist wahr. Ich traf ihn vor Deinem Bilde, das er aufmerksam zu studieren schien.« Er erzählte ihr sein Zusammentreffen mit ihm und fuhr dann fort: »Aengstige Dich nicht, theures Kind. Er ist viel zu feig, um wirklich Etwas zu wagen.« Lydia schien worüber nachzusinnen. Endlich sagte sie: »Erkläre mir, Richard, woher es kommt, daß der Gedanke an ihn mich immer wieder mit einer mir sonst ganz fremden Bitterkeit erfüllt, obwohl es mir doch schon damals, als ich Dich im Park erblickte, klar war, daß ich ihn nicht liebte, weil ich erst in jenem Augenblicke überhaupt zu ahnen begann, was Liebe sei. Also woher noch immer jenes Gefühl der Bitterkeit, wenn ich seinen Namen höre?« Sie sah bei diesen Worten offen und mit kindlichem Vertrauen zu ihm empor. »Vielleicht daher, daß er Dir durch seine Verirrung den Glauben an die idealen Träume der Jugendzeit geraubt.« »Ich weiß nicht, ob das der Grund ist. Vielleicht kommt es auch daher, weil mir sein ganzes Wesen zu wenig männlich und energisch erschien. Denn glaube mir, Richard,« fuhr sie mit wichtiger Miene fort, »ein liebendes Weib läßt sich von einem selbstständigen Mann lieber quälen, als von einem unselbstständigen liebkosen.« »Du bist eine kleine liebenswürdige Philosophin, Lydia« – lächelte Landsfeld gutmüthig, indem er einen sanften Kuß auf ihren Mund drückte, »aber ich glaube, es wird Zeit sein, daß Du Licht anzündest. Es ist dunkel.« »Mein Gott, wie konnt' ich das vergessen« – rief sie erschreckt, indem sie, schnell aufspringend, der Aufforderung Genüge leistete. »Du weißt noch nicht, Richard,« fuhr sie darauf von ihrer Mutter sprechend fort, »daß der Arzt die beste Hoffnung giebt. Sie ist heute wieder aufgestanden und ein wenig im Garten spazieren gegangen, so lange die Sonne schien. Jetzt ruht sie in ihrem Zimmer. Ich will gleich einmal nachsehen.« Sie hatte indeß die Lampe angezündet und schlich, leise die Thür zum Nebenzimmer öffnend und die Hand vor das Licht haltend, damit der Schein nicht so blendend sei, auf den Zehen hinein. – Bald kam sie zurück. »Sie schläft noch« – sagte sie flüsternd, indem sie die Lampe auf den Tisch vor dem Sopha stellte. »Ich will Dir nun auch zeigen, wie fleißig ich gewesen bin.« Mit diesen Worten trug sie aus ihrem Pult ein Paar Mappen herbei und öffnete sie. »Jetzt muß ich aufbrechen« – sagte Landsfeld, nachdem er eine geraume Zeit ihre Zeichnungen besehen, gelobt und getadelt hatte. »Schon?« – fragte Lydia kleinlaut. »Es ist noch nicht spät, denke ich.« »Es ist halb zehn Uhr, – Lydia. Hast Du« – fuhr er nach einer Pause fort, »mit Deiner Mutter gesprochen?« Sie erröthete leicht. »Sie will durchaus, daß es in nächster Woche sein soll; ihr Unwohlsein sei zu gering, um ein Hinderniß abzugeben, meint sie; und der Gedanke, daß sie dadurch unser Glück verzögere, mache sie nur noch kränker.« »Du hast eine vortreffliche Mutter, Lydia« – sagte Landsfeld. »Ach, ich weiß es, Richard. Sie ist unendlich gut; ich verdanke ihr und Dir Alles, was ich bin.« Als wolle sie ihre Rührung verbergen, fuhr sie, durch die Thränen lächelnd, fort: »Ich überlasse es Dir, Richard, den Tag zu bestimmen. Ich bin, Du weißt es ja, bereit zu Allem.« Sie umschlang seinen Hals. »So werde ich Dich Morgen abholen, mein Herz, um Dir unsere neue Wohnung zu zeigen.« »Ach, wie freue ich mich auf unsere Wohnung, Richard« – sagte sie, das Wort mit einem gewissen Pathos wiederholend. – »Leb' wohl, mein Richard. Leb' wohl.« Sie begleitete ihn noch bis zum Pferde, das ungeduldig den Boden mit den Hufen aufscharrte. Er schwang sich auf und sprengte im Galopp davon. Als er an seiner Wohnung anlangte, schloß sich ihm Carl an, der schon seit einer Stunde gewartet hatte. In schnellem Trabe ritten sie durch das Thor in die Stadt ein und hielten nach einer Viertelstunde vor einem großen Hause in der Lindenstraße still. »Führe die Pferde zum Hôtel d'Angleterre und bestelle das Zimmer Nr. 19., oder wenn das besetzt sein sollte, Nr. 20. für mich« – befahl er. »Wenn es geschehen, so benachrichtige mich davon.« Nach diesen Worten sprang er schnell die Treppe hinauf. Fräulein Cornelia von Hohenhausen empfing ihn im höchsten Staate und mit aufrichtiger Freude, da sie in einen Gedanken alle die Verwicklungen und Verwirrungen zusammenfaßte, welche das Erscheinen des Barons hervorbringen konnten. »Ich habe eben eine heftige Philippika gegen Sie gehalten, mein Verehrtester. Sie werden sich über die verlegenen und erstaunten Visagen wundern, die Ihnen sogleich entgegen treten werden.« Sie wandte sich an die Gesellschaft. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen einen meiner ältesten und vertrautesten Freunde vorstelle. Es ist der Baron von Landsfeld.« In der That malte sich ein allgemeines Erstaunen in den Gesichtern. »Wie falsch!« – »Diese Heuchelei übersteigt allen Glauben.« So flüsterte man einander zu, denn bei einem Gespräch, dessen Gegenstand Landsfeld gewesen war, hatte Niemand mehr Böses von ihm zu sagen gewußt, als gerade Cornelia. Der sogenannte Salon, in den Landsfeld hiermit wieder eingeführt war, bestand aus zwei aneinanderstoßenden elegant möblirten Zimmern, von denen das erstere größere durch ein Paar schöne Astrallampen sehr hell erleuchtet war, während das zweite vermittelst einer rothen Ampel in ein magisches Halbdunkel versetzt wurde. In Beiden hatten lebhafte Conversationen stattgefunden, die durch das Erscheinen des Barons ein paar Minuten unterbrochen, aber nicht gestört wurden. Landsfeld warf einen raschen Blick über die Gesellschaft und wandte sich dann an eine Gruppe, aus jüngeren und älteren Männern bestehend, die sich um den Ofen postirt hatten. »Und worin finden Sie die Unsittlichkeit, ich bitte Sie? Etwa darin, daß sie die Ehe nur als etwas Aeußerliches betrachtet, da sie einmal officiell dazu gezwungen ist?« – sagte ein Mann von etwa 35 Jahren mit interessanten, aber verlebten Zügen. »Gewiß« – antwortete sein Gegner, in dem Landsfeld seinen Freund Schattenfrey erkannte. »Ist nicht ein solches Verhältniß, bei dem der Mann nur eine Nebenrolle spielen darf, ein durchaus widerwärtiges und unästhetisches. Eben weil es unästhetisch ist, finde ich es unsittlich. Denn die Sittlichkeit des Weibes liegt mit in seiner Grazie. Verletzt es diese, so hilft ihm alle Keuschheit Nichts, bewahrt es sie, so kann es sich gar Manches erlauben, was man ihm fast mißdeuten würde.« »Unter der Bedingung, daß sie nach ihrem Instinkt handelt und in ihrer Empfindung Wahrheit ist« – fügte Landsfeld hinzu. »So wäre Ihr Ideal etwa eine Isabella oder Lola?« – fragte Jener. »Ob das mein Ideal wäre, ist gleichgültig« – sagte Landsfeld kalt. »Aber für sittlicher, als manche andere, über sie die Nase rümpfende, halte ich die Beiden allerdings. Ich möchte noch mehr behaupten« – fuhr er, seine Stimme erhebend, fort. – Denn er hatte in einer Fensternische des halb dunklen Nebenzimmers zwei Gestalten bemerkt, deren eine er als Cornelia erkannte, während die andere große Aehnlichkeit mit Berger zu haben schien. »Alle Gegensätze sind reiner und tadelloser, als die sogenannten Mittelstraßen, mit denen sich nur die Dummen oder die Heuchler begnügen können. So ist's beim Mann, so beim Weibe. Sich von solcher Halbheit zu emanzipiren, gleichviel in welches Extrem man dabei geht, darin besteht die wahre Emanzipation. Vergleichen wir zum Beispiel einen durchaus ehrenfesten Mann, der in seiner Ehrenhaftigkeit ehrlich und vor allen Dingen konsequent ist, mit seinem Gegensatz, einem Menschen, der die Ehre für ein bloßes Vorurtheil hält und nun aus Prinzip in seiner Unehrenhaftigkeit eben so ehrlich und konsequent ist, wie Jener in seiner Ehrenhaftigkeit, so sagt mir das Letztere doch nimmer noch mehr zu, als ein Mensch, der zur konsequenten Ehrlichkeit sowohl, so wie zur konsequenten Unehrlichkeit zu feig ist. Nichts ist erbärmlicher, als ein Mann, der von Gewissensbissen geplagt wird. Was sagen Sie dazu, Cornelia?« – Die Letztere war eben, durch den lauten Ton Landsfelds aufmerksam gemacht, aus der Fensternische, in der sie mit Berger gestanden, hervorgetreten. »Sie wissen, theurer Freund, daß wir in allen Dingen sympathisiren.« – Sie lachte. Landsfeld ebenfalls und fuhr fort: »In der weiblichen Natur findet dasselbe Verhältniß statt.« »Wollen Sie dies Verhältniß nicht durchführen?« – bemerkte die Sängerin G----z, eine feine Kokette, welche sehr glänzendes schwarzes Haar, sehr glänzende Augen, sehr schwellende Lippen und einen sehr schönen Wuchs hatte. »Von Herzen gern. Nur müssen Sie mir eine böse Angewohnheit zu gute halten, die nämlich, daß ich zuweilen stark individualisire.« »So wird Ihre Vergleichung desto pikanter werden« – erwiederte sie muthig. Landsfeld lächelte. »Es giebt manche Frauen, bei deren erstem Anblick man bewundernd ausruft: Es giebt nichts Schöneres, nichts Verführerisches. Aber eine Schönheit, die verführt, ist keine reine, ist eine Unnatur. Es liegt allerdings etwas Dämonisches, darum Unwiderstehliches in diesem prunklosen Glanz, in dieser flammenden, eleganten Einfachheit, in dieser frivolen Bescheidenheit und raffinirten Unschuld. Eine simple jugendliche Landdirne, deren Herz jungfräulich ist, und deren Gedanken keusch sind – und eine Priesterin der modernen Mylitta mit unverhülltem Busen und kurzem Rock –. Das sind Extreme, es ist wahr; aber jede zeigt wenigstens, was sie ist, sie verheimlichen nichts, die Eine, weil sie nichts zu verheimlichen hat, die Andere, weil sie nichts verheimlichen will. Denn auch das Verbrechen hat seinen Stolz. Es ist Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in Beiden. Engel und Teufel. Gut, aber wenn der Teufel – um christlich zu reden – seinen Huf und Schweif nicht in moderne Pantalons und Fracks verbirgt, sondern offen zur Schau trägt, so ist er ohne Gefahr, sollte man meinen. – Wenn nun aber das Aeußere nicht der Spiegel des Innern ist, wenn sich unter dem harmlosen lieblichen Bilde einer züchtigen Jungfräulichkeit die Verderbniß des Innern versteckt, wenn fromme Tauben-Augen Mühe haben, die unreine Begierde nicht in einem unvorsichtigen Strahl zu verrathen« – die Sängerin schlug vor dem Blicke Landsfelds die ihrigen zu Boden – »wo zarten frischen Lilienwangen die Vorstellung einer unkeuschen Umarmung zu einer reizenden Schamröthe verhelfen muß« – die Sängerin erröthete – »und auf dem rosigen Munde nur der Gedanke eines buhlerischen Kusses ein bezauberndes Lächeln hervorruft – das Herz aber kalt ist und besudelt – ein Engel von Außen, ein Teufel von Innen; und zwar ein Teufel unter der Hülle eines sanften fühlenden Kindes – – – – entschuldigen Sie, ich bin aus der Konstruktion gefallen, und schließe daher mit folgender Definition« – fügte er, seinen pathetischen Ton plötzlich in den gewöhnlichsten Conversationston umwandelnd, hinzu –: »Ein kokettes Weib, das seine Kunst versteht, ist weich anzufühlen wie eine Katze, die die Klauen einzieht, wenn man sie streichelt, aber nach Blut lechzt, wenn sie kosend zu schnurren scheint.« Landsfeld hatte durch diese Standrede sich vielleicht ein Paar Feinde mehr in der Welt erworben, aber er machte sich nichts daraus. Indessen war eine dampfende Bowle aufgetragen worden. Man sammelte sich um den ovalen Mahagonytisch, der vor dem mit dunkelgrünem Sammet überzogenen geschmackvollen Rockokosopha stand. In diesem Augenblicke wurde Landsfeld abgerufen. Es war Carl, der ihn von der Ausrichtung seines Auftrags unterrichten wollte. Als Carl ihm referirte, daß Nr. 19. schon bestellt gewesen sei, sagte Landsfeld zu sich: »Ich dachte es mir wohl, – aber Nr. 20.« – »Ist für Sie reservirt.« – Als der Baron wieder eintrat, war bereits die ganze Gesellschaft um den Tisch versammelt. Auch Berger hatte seine Fensternische verlassen, und neben Alicen Platz genommen. Der junge Musiker sah geisterhaft bleich aus. Seine frühere Frische der Farbe und jugendliche Fülle war fast ganz verschwunden. Landsfeld machte ihnen, als er bei ihren Plätzen vorbeikam, eine höfliche Verbeugung, die von Seiten Alicens durch ein unbefangen freundliches Nicken, von Seiten Bergers durch eine halb verlegene, halb zornige Wendung des Kopfes erwiedert wurde. Er rückte sich einen Stuhl neben das Sopha, dessen Ecke die Sängerin eingenommen hatte, weil es ihm stets großes Vergnügen machte, grade Diejenigen, welche er kurz zuvor absichtlich auf's tiefste gekränkt und gedemüthigt, mit der zuvorkommendsten Artigkeit zu behandeln, um sich an ihrer Verlegenheit zu weiden. Zugleich bot ihm dieser Platz den Vortheil dar, daß er das Gespräch zwischen Berger und Alicen, von denen er absichtlich halb abgewendet saß, hören konnte. »Herr Assessor Tieftrunk ist, wie ich mit Bedauern bemerkt habe, heute nicht hier« – sagte er mit einschmeichelndem Tone. »Oder kommt er vielleicht noch später?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen,« – erwiederte sie kalt, aber freundlich. – »Ich glaube jedoch nicht.« »Darf ich in diesem Falle um die Erlaubniß bitten, Sie nach Hause zu geleiten?« fragte er mit Herzlichkeit. Sie erröthete. »Sie sind zu gütig, Herr Baron. Ich habe mich bereits versagt.« Fast hätte sie hinzugesetzt »leider,« aber ein halber Blick auf Berger setzte ohnehin den Baron sogleich von der Lage der Sache in Kenntniß. Er beschloß einen neuen Sieg über seinen ehemaligen Gegner zu feiern. Doch gab es noch einen andern tiefer liegenden Grund, welcher ihn dazu bestimmte. Es hätte ihm in jedem andern Falle völlig gleichgültig sein können, ob Berger der Günstling dieser ihm gänzlich indifferenten Dame sei oder nicht. Aber daß Jener sie gerade heute nach Hause begleiten wollte, kam ihm deshalb höchst ungelegen; weil er darauf gerechnet hatte, heute Nacht den Plan, welchen Berger, wie er überzeugt war, mit Alicen gegen ihn oder Lydia angesponnen, zu ergründen. Aus früherer Zeit wußte er nämlich, daß Alice nach dem Schluß des Salons selten noch nach ihrer weitgelegenen Wohnung sich begab, sondern es vorzog, die Nacht in einem Zimmer des nächsten Gasthofs zuzubringen. Sie hatte zu diesem Zweck die Einrichtung getroffen, daß ihr an den Salontagen stets ein bestimmtes Zimmer – es war Nr. 19. – reservirt wurde. Landsfeld war diese Einrichtung sehr wohl bekannt, aber er war ungewiß, ob es jetzt noch dasselbe Zimmer sei. Deshalb gab er seinem Bedienten den Auftrag, gerade dies Zimmer für ihn zu bestellen und, im Falle es besetzt sei, das Nebenzimmer, aus dem, da es nur durch eine dünne Bretterwand von jenem geschieden war, man sehr deutlich verstehen konnte, was im erstern vorging und gesprochen wurde. Wenn nun aber Berger nicht Alicen begleitete, sondern die Sängerin, so war sein Plan vereitelt. Er mußte also vor allen Dingen dahin zu wirken suchen, daß die Sängerin Bergers Begleitung ausschlug. »Sie werden mich für verwegen halten« – fuhr er mit leiser Stimme, aber mit einer Intensität im Tone, die ihre Wirkung auf das erregbare Temperament der schönen Sängerin nicht verfehlte, fort, indem er seine Hand, an der ein feuriger Rubin strahlte, auf die Sophalehne legte – »wenn ich dennoch die Ueberzeugung ausspreche, daß Sie mich zu Ihrem Begleiter erwählen werden.« Es lag eine solche Sicherheit in dem, was er sagte, und zugleich eine solche Zartheit in dem, wie er es sagte, daß sie einen Augenblick in Verlegenheit gerieth. Vielleicht trug selbst der Umstand, daß er ihr zu trotzen gewagt, dazu bei, ihm seinen Sieg zu erleichtern. Eben öffnete sie die Lippen, um ihm zu antworten, als Alice, ihr bis zum Rande gefülltes Glas erhebend, die Gesellschaft folgendermaßen anredete: »Meine Herren und Damen! Es ist so vielfältig und auch heute in unserm Kreise schon öfters von dem wahren Wesen der Frauen-Emanzipation gesprochen worden, ohne daß man, wie es mir schien, eigentlich darüber klar gewesen, weder wozu die Emanzipation diene, noch wozu man darüber spricht. Erlauben Sie mir hierbei die Bemerkung, daß gerade der männliche Theil der Gesellschaft sich diese Sache am meisten zu Herzen zu nehmen scheint, das heißt, am meisten darüber spricht, vielleicht weil er am wenigsten davon begreift. Mich will es bedünken, als müsse der Anfang zur wahren Emanzipation damit gemacht werden, daß man sich vom Hin- und Herreden darüber emanzipirt. Zwar hat auch die Emanzipation des Worts ihr Recht und man muß dafür kämpfen, ich gebe es zu, aber die wahre Emanzipation ist die Emanzipation der That . – Meine Herren und Damen! Wir wollen keine Worthelden werden, hoffe ich; geistreich zu sprechen und frei zu denken, ist ein Kinderspiel gegen geistreiches Handeln und freies Thun . Giebt es nicht Manche auch unter uns, die hinter dem freien Wort die praktische Impotenz verstecken? Man schlage an seine Brust und frage sich, ob z.B. die Furcht vor der Polizei für uns Alle schon eine überwundene Kategorie ist? Man schlage zerknirscht an seine Brust und bekehre sich. Ich aber erhebe mein Glas und rufe mit gutem Gewissen: Die Emanzipation der That soll leben!« – Ein allgemeiner Jubel folgte diesen mit sanfter Stimme und jenem melancholischen Pathos, der Alice eigen war, vorgetragenen Worten. Nachdem der Sturm des Beifalls durch Leerung der Gläser etwas beschwichtigt war, fuhr sie in demselben Tone fort: »Ich hoffe, daß Sie mir nicht den Vorwurf machen werden, als sündige ich gegen mein eigenes Prinzip, indem ich jetzt doch über Emanzipation spreche. Es wäre eine Beleidigung, die ich nicht verdiene, denn ich habe, wie gesagt, ein gutes Gewissen. Meine Herren und Damen, ich glaube mir praktisch das Recht erworben zu haben, über Emanzipation zu sprechen. Oder sollte Jemand einen Zweifel dagegen erheben?« – Sie sah mit wahrhaft königlichem Stolz umher. Eine feierlich komische Stille herrschte im ganzen Kreise. »Gut« – fuhr sie fort – »ich sehe, daß Sie mich kennen. Lassen Sie sich denn sagen, was ich über Emanzipation des Weibes denke. Meine Rede wird kurz, aber inhaltsreich sein: ›Des Weibes Glück ist die Liebe, Aber das Glück der Liebe ist die Freiheit!‹ Das ist mein Wahlspruch, meine ganze Philosophie. Es würde mir ein Vergnügen machen, diesen Satz zu vertheidigen, wenn sich ein Angreifer fände.« Sie setzte sich. Nach einigen Sekunden, während welcher die bisher beobachtete Stille nicht unterbrochen wurde, erhob sich jener Mann mit interessanten Zügen, in dessen Gespräch mit Schattenfrey sich Landsfeld gemischt hatte. Landsfeld konnte beim hellen Schein der Lampen die Züge dieses Mannes deutlicher beobachten. Es war in Gesicht, von dem man sagen konnte, daß jeder Zug ein Abschiedsbrief ehemaligen Glaubens und jede Miene ein Trauerflor gestorbener Hoffnungen war. »Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie sagen, daß das Weib nur wahrhaft lieben kann, wenn und in so fern es frei ist, und nur dann wahrhaft frei ist, wenn es liebt.« »Ja; – doch unter der Bedingung, daß Sie unter der Freiheit nicht blos Freiheit, das heißt Unbeschränktheit in der Empfindung, sondern Freiheit überhaupt, sociale Freiheit begreifen.« »Was nennen Sie sociale Freiheit?« Alice dachte einen Augenblick nach: »Freiheit der Individualität« – sagte sie endlich. »Vergessen Sie nicht, daß wir von der Emanzipation der Frauen sprechen. Aber selbst ganz im Allgemeinen genommen, läßt sich diese Erklärung rechtfertigen. – Das wahrhaft Menschliche muß überall triumphiren. Daß es nicht so ist' liegt in der Verkehrtheit unserer socialen Verhältnisse.« »Vielleicht läßt sich jene Erklärung eben deshalb nicht auf Frauen-Emanzipation anwenden, weil sie zu allgemein ist. Denn mir scheint in der Forderung, die weibliche Individualität zu emanzipiren, ein Widerspruch zu liegen.« »So meinen Sie also, daß das Weib dazu verdammt ist, ewig in den Fesseln zu schmachten, die ihnen Willkühr und Herrschsucht der Männer angelegt.« »Nicht Herrschsucht der Männer, sondern die Natur« – erwiederte er ruhig. »Das sagen Sie, aber ich fordere einen Beweis. Ist das Weib etwa weniger Mensch als der Mann, bildet es etwa eine Zwischenstufe zwischen Mensch und Affe. Freilich, die Männer möchten es gern so darstellen.« »Der Mann hat seine Schranke, das Weib die seinige; und in beiden Fällen führt die Natur den Beweis am deutlichsten beim Weibe.« »Oh, ich ahne, was Sie sagen wollen. Aber ich finde darin keinen Beweis. Denn daß diese Schranke überwunden werden kann, zeigen Beispiele genug.« »Alle Schranken können, wenn auch nicht überwunden, so doch durchbrochen werden, auch die Schranken der Natur. Aber zeigt sich der Barbar als ein Meister des Kunstwerks, wenn er es zerschlägt?« »So beantworten Sie mir die Frage, woher es kommt, daß gerade die edelsten gebildetsten Frauen die sogenannte Pflicht des Weibes am meisten vernachlässigen? Nach ihrer Ansicht wäre ein recht kräftiges Landmädchen, wenn es ›die Pflichten der Gattin und Mutter‹ nur recht treu erfüllte, und den Kochlöffel und das Waschfaß zu regieren verstände, das höchste Ideal eines Weibes. Ich wünsche aufrichtig, daß dies Ihr Ideal Ihnen bald verwirklicht werde.« Ein allgemeines Gelächter belohnte sie für die argumentatio ad hominem , welche ihr einen vollkommenen Sieg errungen hatte. Denn Frauen können im Streite mit Männern nur dann siegen, wenn sie entweder auf ihr »Gefühl« sich berufen oder aber, wenn sie hierzu zu stolz sind, ihren Gegner lächerlich machen. Das Letztere ist jedenfalls das Sicherste, weil diese Waffe nicht gut gegen sie selbst gekehrt werden kann. Alice hatte ihren Gegner allerdings zum Schweigen gebracht; aber ein kaltes, bitteres Lächeln, woraus neben dem Bewußtsein seiner Ueberlegenheit noch die Ironie über die Art seiner Niederlage hervorleuchtete, schwebte auf seinen Lippen, als er, sich tief verbeugend, sprach: »Ich erkenne mich für überwunden.« »So werde ich Ihren Kampf fortsetzen« – sagte plötzlich Landsfeld, der, bisher mit der schönen Sängerin beschäftigt, der Unterhaltung gar keine Aufmerksamkeit gewidmet zu haben schien. »Und ich den Ihrigen« – nahm Berger, zu Alicen gewendet, das Wort. »Dann muß ich meinen Vorsatz aufgeben, denn mit ungleichen Waffen schlage ich mich nicht mehr « – erwiederte Landsfeld kalt. Berger erblaßte. »Wie verstehen Sie das, Herr Baron?« fragte er in leidenschaftlicher Aufregung? »Ich fürchte einen Kampf mit Ihnen.« – Er lächelte zweideutig. »Sie müssen das aus Erfahrung wissen. Ich bitte Sie, mich zu schonen, schon aus Gegengefälligkeit.« Berger schwieg, aber die ohnmächtige Wuth, welche, im Gegensatz zu Landsfelds kalter Ruhe, aus seinem krampfhaft verzogenen Gesicht sprach, hatte die ganze Gesellschaft hinlänglich über die tiefe Feindschaft, welche zwischen diesen beiden Männern herrschte, aufgeklärt, und eine allgemeine Verstimmung hervorgebracht. Man theilte sich wieder in Gruppen. »Sie sind ein fürchterlicher Mensch« – sagte die Sängerin, welche mit Erstaunen diesem kurzen Wortwechsel zugehört. »Was hat Ihnen der arme Mensch gethan, daß Sie ihn so demüthigen?« »Er hat es gewagt« erwiederte Landsfeld ausweichend, mit verführerischem Lächeln ihre Hand küssend – »seine Blicke auf Sie zu werfen. Das verdient noch weit härtere Züchtigung.« »Sie sind ein Heuchler« – sagte sie halb zornig, halb geschmeichelt. Berger war wieder zu Cornelien getreten. »Still« – sagte diese – »wir sprechen darüber weiter. Wollen Sie sie wirklich noch nach Hause begleiten?« »Ich weiß es nicht. Es ist ein göttliches Weib. – Aber dieser Mensch, ist er nicht mein böser Genius? Tritt er mir nicht überall in den Weg, wo ich im Begriff bin, mein Ziel zu erreichen? Auch Alice« – »Lassen wir das ruhen. Sie wissen, daß ich ihn Ihretwegen hasse, mehr als je. – Wann werden Sie zurück sein?« »Kann man das Glück nach Minuten berechnen? Ich weiß es nicht.« »Wenn Laura nun aber ihre Meinung geändert hätte? Wenn Landsfeld –« fragte sie leise. »So ermorde ich ihn in ihren Armen,« sagte er flüsternd, aber vor Wuth zitternd. »Das werden Sie nicht thun. Auch hülfe es uns nichts. Kennen Sie keine süßere Rache? denken Sie an Lydia?« – »Sie haben Recht. Ich werde mich bezwingen. – Betrachten Sie diese Koketterie, diese lüsternen Blicke« – fuhr er fort, mit dem Blicke auf Landsfeld deutend, der zwei Schritte weit von ihnen sich auf die Lehne des Sessels stützte, worauf Laura in verführerischer Stellung saß. »Jetzt ist der Augenblick gekommen« – flüsterte Landsfeld, indem er von ihrem Stuhle zurücktrat und sich zu einer andern Gruppe gesellte, die das Gespräch über Emanzipation fortsetzte, theils die Ansicht Alicens, theils die ihres Gegners vertheidigte. Die Sängerin wandte ihren schönen Kopf nach Berger um und winkte ihn zu sich. Er setzte sich neben sie. »Sie werden böse sein, Arthur« – sagte sie leise – »aber ich fordere vor Allem Vertrauen von Ihnen.« – Er schwieg. »Sie können mich heute nicht begleiten,« – fuhr sie, durch sein Schweigen in Verlegenheit und durch diese Verlegenheit in Zorn gesetzt, fort. Er wollte aufstehen. »Bleiben Sie. Sein Sie kein Thor, Berger. Ich habe wirklich einen triftigen Grund, den ich Ihnen morgen mittheilen werde.« »Ich zweifle nicht an der Triftigkeit Ihrer Gründe« – sagte er bitter. »Laura« – fuhr er nach einer Pause, seinen Ton verändernd, fort – »seien Sie barmherzig, haben Sie Mitleid mit mir! Sie werden mich zur Raserei bringen.« Sie zog den Shawl, der ihr von den Schultern gefallen war, fest zusammen. »Es hilft Ihnen nichts« – flüsterte Berger, der diese unwillkührliche Bewegung verstand. – »Ein Blick aus Ihrem Auge ist hinreichend, um mich in eine Hölle von Sehnsucht und Verlangen zu stürzen.« Er ergriff ihre Hand. »Laura, wollen Sie mich in dieser Hölle lassen? Sprechen Sie!« – Seine Stimme zitterte. – Sie schwankte einen Augenblick, aber ein ironisches Lächeln, das sie auf den Lippen Landsfelds, welcher, von Berger ungesehen, keinen Blick von ihr verwandte, sich zusammenziehen sah, machte ihrem Schwanken schnell ein Ende. Sie erröthete über ihre Schwäche. »Es kann nicht sein, Arthur, wirklich nicht. – Glaubst Du denn, daß es mich keine Ueberwindung kostet, zu entsagen?« Berger ließ in tiefer Muthlosigkeit den Kopf sinken. »Wohl« – sagte er, wie zu sich selbst sprechend – »es wäre auch zu viel Seligkeit gewesen. Ein Wahnsinniger nur konnte das für möglich halten.« Sie hatte wirkliches Mitleid mit ihm, aber die Wurzeln, welche das Mitleid in ihr trieb, verdrängten die, welche die Leidenschaft für den jungen Mann darin geschlagen hatten. Jetzt hatte sie nur noch ein Gefühl von peinlicher Befangenheit, und den Wunsch, dieser unangenehmen Scene bald ein Ende zu machen. Landsfeld ahnte ihre Stimmung. Mit großer Leichtigkeit und liebenswürdiger Courtoisie trat er heran und bot ihr seinen Arm. »Wenn's Ihnen jetzt gefällig ist, mein Fräulein, so gehen wir« – sagte er, ohne Berger eines Blickes zu würdigen. »Gern, lieber Baron. Ich werde mich sogleich fertig machen.« Sie stand auf und begab sich in das Nebenzimmer. Cornelia nahm ihre Stelle ein. »Nun, habe ich Recht gehabt?« fragte sie leise. Berger saß noch immer in der zusammengeknickten Stellung, als hätte er die Entfernung Laura's gar nicht bemerkt. Durch den Ton Corneliens aufgeschreckt, blickte er sie plötzlich wild an, und flüsterte ihr in's Ohr: »Und ich darf ihn wirklich nicht ermorden?« »Und Lydia?« – fragte sie in derselben Weise. »Sie haben Recht!« er stand auf und wollte forteilen, als Alice auf ihn zutrat mit der Frage, ob er sie begleiten wolle. »Ich habe Dir etwas Wichtiges mitzutheilen« – sagte sie. Er zeigte sich bereit. »So komm!« In wenigen Minuten hatte die ganze Gesellschaft den Salon verlassen, um sich nach Hause zu begeben. 8. Kapitel Achtes Kapitel In einem kleinen, aber mit orientalischer Pracht ausgestatteten Zimmer finden wir nach einer Stunde Landsfeld wieder. Er saß auf einem niedrigen Divan, an der Seite Laura's, die in reizendem, aber ziemlich ungeordneten Negligée darauf ausgestreckt lag, und spielte mit ihren seidenen Locken. Ihr voller und blendend weißer Arm ruhte unter ihrem Haupte, das in träumerischem Ermatten zurückgesunken war. »Sie sind schläfrig, Laura« – sagte Landsfeld. – »Es wird Zeit sein, daß ich Sie verlasse.« Sie öffnete die halbgeschlossenen Augen und lächelte. »Noch einen Kuß, mein Geliebter« – sagte sie leise, ihren linken Arm um seinen Hals legend. Er bog sich zu ihr nieder und küßte sie. »Dein Athem ist glühend wie das Wehen des Sirokko, Geliebter,« sagte sie, indem ein neuer Wonneschauer durch ihren Körper bebte. Er sprang empor und warf den Mantel um sich. Sie richtete sich ebenfalls auf. »Sagen Sie mir nur noch Eins, Baron. – Aber die Wahrheit. Trieb Sie nur die Lust dazu, über Berger einen Sieg davon zu tragen, daß Sie mir Ihre Begleitung anboten?« – Sie sah mit ihrem großen Auge tief in das seinige. Nach einer Pause erwiederte er: »Ich will aufrichtig sein, Laura. Anfangs allerdings. Aber es war nicht der einzige Grund. Ich hatte Sie gekränkt, absichtlich gekränkt, und dazu hatte ich kein Recht. Deshalb näherte ich mich Ihnen. Später aber war es weder das Erste, noch das Zweite, sondern Etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr gekannt: Wärme der Empfindung. Ich bin Ihnen dankbar dafür, Laura, daß Sie mich wieder mit der Liebe versöhnt haben.« Sie lächelte. »Es ist gut, daß Sie aufrichtig waren. Mehr hiefür, als für die Wärme, als deren Urheberin Sie mich darstellen wollen, will auch ich mich dankbar erweisen.« – Mit geheimnißvoller Stimme fuhr sie fort: »Nehmen Sie Lydia in Acht!« Er erschrak. Wie kam dieser Name in dieses Zimmer? »Es ist etwas im Werke gegen sie.« – »Wer?« – Seine Stimme bebte, als er dies Wort sprach. »Berger! und noch Jemand, den ich nicht kenne.« Landsfeld sann einen Augenblick nach. Dann küßte er herzlich ihre Hand und sagte mit einer Innigkeit, zu der ihn die schöne Sängerin durch ihre süßesten Liebkosungen nicht hatte bringen können: »Das vergesse ich Ihnen nie , Laura. – Leben Sie wohl.« Sinnend ruhte ihr Blick noch einige Minuten auf der Stelle, wo er gestanden. »Ich möchte das Mädchen kennen lernen, das einen solchen Mann so erfüllen kann« – sagte sie halblaut, indem sie aufstand, um sich zur Ruhe zu begeben. Landsfeld eilte nach dem Gasthofe. »Wenn es nur nicht zu spät sein wird« – dachte er. »Sollte Alice wirklich so niedrige Gesinnung haben? Ich kann es nicht glauben. So wenig Herz sie hat, so viel Edelmuth und hohen Sinn traue ich ihr zu. – Aber wer sollte es sonst sein? – Berger fürchte ich nicht. Doch diese Frauen führen selbst den Teufel an, wenn sie es darauf anlegen.« Während dieses Selbstgesprächs hatte er den Gasthof erreicht. Schnell ließ er sich den Schlüssel zu seinem Zimmer geben. Jede Begleitung zurückweisend, nahm er dem Kellner das Licht aus der Hand und ging allein die Treppe hinan. Er öffnete vorsichtig die Thüre von Nr. 20. und verriegelte sie eben so vorsichtig, nachdem er eingetreten war. Als er sich in großer Stille entkleidet, setzte er sich auf ein Sopha, das neben der Zwischenthüre stand. »Sollten sie ein anderes Zimmer gewählt haben?« fragte er sich, weil sich nicht das geringste Geräusch hören ließ. »Oder sollten sie mein Kommen gehört haben?« Nach einiger Zeit schien es, als ob in dem Nebenzimmer eine weibliche Stimme flüsterte. Landsfeld behielt ruhig seinen Platz. »Ich begreife Deine Verzweiflung vollkommen« – sagte die Stimme, »und finde sein Betragen grausam und unedel obendrein. Aber giebt Dir das ein Recht, auch grausam und unedel zu sein? Und gegen wen? Gegen ein Wesen, das an der ganzen Sache völlig schuldlos ist. Nein, Arthur, das ist Deiner unwürdig.« »Nenne mir ein anderes Mittel« – erwiederte eine dumpfklingende männliche Stimme – »so will ich es mit Freuden ergreifen. Wo ist dieser Mensch zu verwunden? Ich kenne keine Stelle als diese. Und dann, ist sie gegen mich nicht auch grausam gewesen? Hat sie mich nicht von sich gestoßen, als ich verzweifelnd zu ihren Füßen lag?« »Warum wirfst Du nicht alle Schuld auf mich?« – fragte sie traurig. »O, es ist mein Schicksal, überall den Saamen des Unheils und des Verderbens auszustreuen, wo ich beglücken wollte. Alle, denen ich bisher meine Liebe geschenkt, sind dadurch elend geworden. Auch an Deinem Unglück bin ich schuld.« Eine lange Pause trat ein. Dann sagte die männliche Stimme: »So willst Du also nicht die Hand dazu bieten?« »Nein!« – »So leb' wohl! – Doch noch Eins. Du wirst uns nicht verrathen?« »Uns?« – »Mich – wollt' ich sagen.« »Das hängt von den Umständen ab. Aber ich werde Euern oder Deinen Plan vereiteln.« – Er schlug ein lautes Gelächter auf: »Gieb Dir keine Mühe. Es wird Dir zu Nichts helfen. – Leb' wohl!« – Landsfeld hörte eine Thüre öffnen, schließen und von Innen verriegeln. Männliche Schritte erschallten auf dem Korridor – die Treppe hinab – die Hausthüre öffnete sich – dieselben Tritte tönten von der Straße herauf – dann ward's still. – Landsfeld erhob sich und öffnete einen Kleiderschrank, der an derselben Wand stand. Er war leer. Seinen Mantel fest um sich schlagend, so daß er nur die rechte Hand frei behielt, stieg er ganz in den Schrank hinein und tastete wie suchend an der Hinterwand desselben umher. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte. Denn wie durch ein Zauberwort öffnete sich plötzlich die Wand, welche eine verborgene Tapetenthüre war, und ließ Landsfeld einen Blick in das andere Zimmer thun. Es rührte sich nichts darin. Er öffnete sie so weit, daß sein Körper gerade hindurch konnte und schloß sie dann mit derselben Behutsamkeit von der andern Seite. Dieses ganze Experiment war so geräuschlos vollbracht worden, daß die Inhaberin des Zimmers, in welchem Landsfeld jetzt war, noch nichts davon merkte, als er schon vor ihr stand. Sie lag auf dem Sopha, den Kopf nach der anderen Seite gewandt und schien zu schlafen. »Alice« – sagte er sanft. Erschreckt hob sie den Kopf und sprang, als sie die verhüllte männliche Gestalt erblickte, mit einem Satz empor, indem sie einen raschen Griff in ihren Busen that. »Laß ihn stecken, Alice« – er meinte den Dolch, den Alice stets bei sich zu tragen pflegte – »hast Du den Ton meiner Stimme schon vergessen?« – »Du bist's, Richard! Wie bist Du hereingekommen?« »Das will ich Dir ein anderesmal erzählen. Jetzt hab' ich etwas Wichtigeres. Berger war bei Dir. Was beabsichtigt er?« »Wenn Du weißt, daß er bei mir war, so wirst Du auch wissen, was er mir davon gesagt hat.« – »Nein, ich bin erst vor wenigen Minuten zurückgekommen und habe nur das Ende Eures Gesprächs gehört. – Was beabsichtigt er? – Warum antwortest Du nicht?« – »Weil ich nicht will. Du täuschest Dich in mir, Richard, wenn Du glaubst, ich sei ein Weib, wie andere Weiber, und zu lenken, wie sie. Habe ich Verpflichtungen gegen Dich? Hast Du noch Ansprüche auf meine Erkenntlichkeit? – Ich sage Nichts.« – Darauf hatte Landsfeld nicht gerechnet; und doch war es ihm klar, daß er um jeden Preis das Geheimniß erfahren mußte; aber durch welche Mittel? Durch Furcht war Alice eben so wenig als durch Versprechungen zu gewinnen, und an seine Liebe würde sie nicht glauben. »Warum willst Du es mir nicht sagen, Alice?« fragte er endlich. »Ich habe keinen Grund für das Gegentheil, lieber Richard. – Es thut mir leid, daß ich weder einfältig noch gutmüthig genug dazu bin, mich als Mittel brauchen zu lassen; und etwas Anderes würde ich Dir nie sein können. Du achtest mich – ob mit Recht oder Unrecht, mag dahin gestellt sein – zu wenig, um mich Deines Vertrauens würdig zu halten. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, obschon es mir wehe thut, weil ich fühle, daß ich besser bin als Du glaubst. Mich aber zu den vielen Nullen zählen zu lassen, zu denen Du die Eins bildest, dazu, Richard, bin ich zu stolz. – Unterbrich mich nicht! Ich freue mich, daß einmal der Augenblick gekommen, wo ich mich offen hierüber gegen Dich aussprechen kann. Richard, ich halte Dich nicht blos für einen unglücklichen, sondern auch für einen thörichten Menschen, weil Du nach Liebe umherspähest, ohne zu bedenken, daß man selber der Liebe fähig sein muß, wenn man sich in der Liebe Anderer befriedigt fühlen will. Nur so viel Gefühl man selbst in ein Verhältniß hineinträgt, so viel Glück und Freude trägt es ein. Wärst Du nur Egoist, Richard, so wäre nichts dagegen zu sagen. Jeder schafft sich seine eigene Welt. Wolltest Du nur Liebe erwecken und Egoist bleiben, so würde auch dies noch passabel vernünftig sein. Aber Du willst nicht blos Egoist sein, und geliebt werden, sondern auch wahrhaft glücklich sein, durch diese Liebe: das, Richard, nimm es mir nicht übel, ist einfältig – denn es ist eine Unmöglichkeit.« Landsfeld war in tiefe Gedanken versunken, aber er antwortete Nichts. Alice fuhr fort: »Sieh, Richard, das ist der Grund, weshalb Du auch mich nicht verstanden hast. Dein Egoismus wurde durch meine Art zu lieben verletzt; Du begriffst nicht, daß mir die Persönlichkeit des Geliebten nur der zeitweilige Träger meines Liebeideals sein konnte. So glaubtest Du von mir hintergangen zu sein, als ich fand, daß Du dies Ideal nur nach einer Seite hin verwirklichtest, also die unbedingte ausschließliche Liebe, welche Du fordertest, nicht verdientest. Berger, wie er damals war, sein reines, kindliches Gemüth zog mich gerade durch den Gegensatz zu Dir an. Und dennoch hätte ich an Dir festgehalten, wärst Du nicht kleinlich genug gewesen, auf ihn eifersüchtig zu sein. Schon deshalb war es ein Akt der Humanität, ihn glücklich zu machen. – Daß ich es ohne Dein Wissen und Willen that, daran warst Du selbst schuld. Du zwangst mich dazu durch Deine despotische Eifersucht, denn – unbedingte Herrschaft kann ich meiner Natur nach keinem Manne einräumen . – Doch ich will darüber schweigen, denn die Zeiten sind vorbei. Jetzt lieb' ich weder Dich noch Berger mehr. Aber eben darum wirst Du begreifen, warum ich Keinen dem Andern aufopfern kann. – Ich bitte Dich aufrichtig, keine Bitte an mich zu verschwenden. Die Versagung würde Dich nur gegen mich erbittern, und das würde mir leid thun. Denn ich halte Dich noch immer hoch und werth.« Diese mit völlig leidenschaftsloser Freundlichkeit und ruhiger Herzlichkeit gesprochenen Worte machten einen tiefen Eindruck auf Landsfelds aufgeregtes Gemüth. Er fühlte sich hier zum erstenmale einem weiblichen Charakter gegenüber, der, an Selbstständigkeit und Festigkeit dem seinen so nahe verwandt, ihm ein unwillkührliches Gefühl der Achtung abzwang. Er glaubte merkwürdiger Weise diesmal an die Wahrheit dessen, was er so eben gehört, und grade diesmal wurde er, wenn auch nicht ganz, so doch theilweise getäuscht. Alice liebte ihn wirklich noch, und vielleicht glühender als je; aber mit jenem Scharfblick, der nur Frauen eigenthümlich ist, hatte sie den einzigen möglichen Weg, auf dem sie sein Vertrauen, und dadurch vielleicht seine Liebe wieder erwerben konnte, richtig erkannt und mit großer Selbstverläugnung eingeschlagen. Nur dadurch, daß sie eine völlig unbefangene, selbstständige Stellung ihm gegenüber einnahm, war es möglich – das fühlte sie – ihn zur Verlassung der seinigen, und zur Annäherung an sie zu bewegen. Sie wurde allerdings hierin durch ihren natürlichen Edelmuth, von dem er sich selbst durch Anhörung jenes Gesprächs überzeugt hatte, so wie durch den Zufall, der sie in den Besitz eines ihm wichtigen Geheimnisses gesetzt hatte, von dem sie übrigens weniger wußte, als er glaubte, bedeutend unterstützt; aber alle diese Vortheile hätten ihr nichts genützt, wäre sie schwach genug gewesen, ihm ihre vom Erlöschen noch sehr ferne Liebe zu ihm ahnen zu lassen. »Ich kann Dich nicht zwingen, Alice« – sagte er mit einer Art von Resignation, die diesem starken Menschen einen Ausdruck von Sanftmuth verlieh, welcher das Herz Alicens zu verdoppelten Schlägen trieb. »Doch noch habe ich selbst Kraft genug, um mein Heiligthum vor Entweihung zu schützen. Wehe dem, der es wagt, Lydia mit einem Worte zu verletzen. Wehe auch denen, die schwiegen, als sie reden konnten.« »Reden werd' ich nicht, Richard. Aber daß ich nicht handeln wollte, wenn's Zeit dazu ist, habe ich Keinem versprochen. – Jetzt lasse mich allein, der Morgen dämmert schon.« Sie reichte ihm die Hand, er drückte sie herzlich. Landsfeld eilte in den Hof hinab, bestieg sein Pferd, und trabte, gefolgt von seinem Bedienten, durch den grauen Herbstnebel, welcher sich dicht auf die noch menschenleeren Straßen gelagert hatte. 9. Kapitel Neuntes Kapitel Etwa acht Tage nach den oben erzählten Scenen standen zwei tiefverhüllte Gestalten an der langen Mauer, welche die eine Seite der Anhalt-Straße bildet und blickten aufmerksam nach der Bel-Etage eines der reizenden Häuser dieser schönen Straße hinüber. Ein dichter feiner Regen verdüsterte die Luft und schien selbst den hellerleuchteten Gaslaternen ihren flammenden Athem zu benehmen. Eben schlug es eilf Uhr; ein langanhaltendes immer stärker werdendes Pfeifen durchschnitt die Luft. Es war das Ankunfts-Signal des letzten Zuges der Anhaltischen Eisenbahn. Mit unverwandten Blicken schaueten die Beiden hinüber nach den Fenstern. Endlich sagte die kleinere, dem Anschein nach weibliche Gestalt: »Was nützt es, daß wir hier im Regen stehen und uns ennuyiren? Lassen Sie uns nach Hause gehen! Ich leide ohnehin an Rheumatismus.« Ein tiefer krampfhafter Seufzer war die Antwort. – Nach einer Pause erwiederte eine männliche Stimme: »Gehen Sie immer hin, Sie Glückliche, die Sie noch nicht verlernt haben sich zu langweilen.« Das tragische Pathos, mit dem diese Worte gesprochen wurden, mußte etwas Komisches enthalten, denn Jene lachte, als sie mit demselben pathetischen Accent erwiederte: »Sie Glücklicher, der Sie verlernt haben, sich zu langweilen« – und fuhr dann mit verändertem Tone fort: »Aber ernsthaft gesprochen: Sie sind ein Narr, daß Sie sich so selber quälen, nehmen Sie mir den Ausdruck nicht übel. – Apropos. Wie weit sind Sie mit Laura gekommen?« – Es lag ein solcher Ausdruck von boshafter Schadenfreude in der Art, wie diese Frage gethan wurde, daß der Andere zornig, aber mit leiser Stimme erwiederte: »Sie sind ein wahrer weiblicher Mephisto, Cornelia; Sie verstehen sich vortrefflich darauf, den moralischen Henkersknecht zu spielen.« – »Mäßigen Sie sich, theurer Freund, den ich gern meinen Faust nennen würde, wäre er nicht ungeschickt genug gewesen, sich sein Gretchen fortschnappen zu lassen.« – Sie lachte über ihren vortrefflichen Witz und wollte fortfahren, als er ihr in's Wort fiel: »Schweigen Sie und reizen Sie mich nicht zum Aeußersten! Ich bin gerade in der Stimmung, um Sie dahin zu schicken, wohin Sie eigentlich gehören: in die Hölle.« »Das werden Sie bleiben lassen, Berger,« erwiederte sie ruhig. »Wer würde dann den gutmüthigen Narren spielen, der seine Pfote hergiebt, Ihnen die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen?« »Es ist wahr!« – erwiederte er, ohne daran zu denken, welche arge Beleidigung er damit sagte. Als Erwiederung für seine Aufrichtigkeit setzte sie höhnisch hinzu: – »Aber nicht eher, mein Freund, nicht eher stecke ich die Pfote in's Feuer, als bis die Kartoffeln tüchtig gebraten und gar sind. Ha, ha!« »Weib!« – rief er zähneknirschend, indem er sie wüthend an der Schulter packte. – »Bringe mich nicht zum Rasen, sag' ich. Ich möchte bei Gott vergessen, daß – –« die Wuth erstickte seine Stimme. »Daß ich Dich noch gebrauchen kann« – ergänzte sie ruhig. »Meinten Sie nicht das? – Nun gut; ich will schweigen, unter der Bedingung, daß Sie diesen verdammt langweiligen Ort verlassen.« »Einen Augenblick noch« – bat er, indem er seine Aufregung bekämpfte. »Sehen Sie« – setzte er zitternd hinzu. »Die Lichter werden schon ausgelöscht.« – In der That nahm die Helligkeit drüben sichtbar ab. Endlich schien nur noch ein Licht in dem Zimmer zurückgelassen zu sein. Da trat ein Mann an's Fenster und blickte hinaus. »Er ist es« – flüsterte Berger, den Athem anhaltend. Jetzt wandte sich der Mann oben um, als spräche Jemand zu ihm. Gleich darauf wurde eine weibliche Gestalt sichtbar. Sie lehnte sich an ihn an, er drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. »Hölle und Teufel« – knirschte Berger halblaut. Der Mann am Fenster schien etwas gehört zu haben. Denn noch einmal lehnte er sich aus dem Fenster und blickte forschend auf die Straße. Aber der Nebel war zu dick, auch hatte sich Berger mit Cornelien hinter die Gaslaterne postirt, deren Schein ihn blenden mochte. Er zog den Kopf zurück und schloß das Fenster. Jetzt schien er, zu der jungen Dame gewendet, etwas zu sprechen. Denn plötzlich fiel sie ihm um den Hals und verbarg ihren Kopf an seiner Brust. – Gleich darauf verschwanden sie von dem Fenster und das Licht verlosch. Berger starrte noch immer zu dem Fenster empor, als sei er überzeugt, daß es sich noch einmal erhellen müsse. Aber er wartete vergeblich. – Wie aus einem schweren Traum erwachend, fuhr er sich über die Stirn und sagte mit gebrochener Stimme: »Sie hatten doch Unrecht, Cornelia, als Sie mich davon abhielten, ihn zu ermorden.« – »Morgen werden Sie das Vernünftige meines Raths selbst einsehen.« Sie ergriff ihn beim Arm und führte ihn fast willenlos fort. – – – – – – – – – – Es war der Hochzeitstag Landsfelds und Lydia's. Sie hatten ihn ganz in der Stille gefeiert, weil Lydiens Mutter noch zu schwach war, um das Geräusch und die Aufregung, welche eine große Gesellschaft stets mit sich bringt, ertragen zu können. Nur der Hofrath und eine Jugendfreundin der Forsträthin, welche zugleich als Zeugen der Trauungsceremonie beigewohnt hatten, waren bei diesem Feste zugegen gewesen, hatten sich jedoch bald nach zehn Uhr von der Forsträthin und dem jungen Paare verabschiedet. »Ich bin ermüdet, lieben Kinder« – sagte Frau von Dornthal, welche in einem bequemen Lehnsessel mehr lag als saß – »und werde mich zur Ruhe begeben.« Landsfeld, welcher fühlte, daß er in diesem Augenblick die beiden Frauen einander überlassen müsse, stand auf und ging in das Nebenzimmer, in welchem er die noch brennenden Lichter eines nach dem andern bis auf's letzte auslöschte und, dann an's Fenster tretend, auf die Straße hinabsah. Lydia folgte ihm nach einigen Minuten. »Die Mutter ist nach ihrem Zimmer gegangen« – sagte sie, sich an ihn schmiegend. – »Sie grüßt Dich herzlich.« »So laß uns auf die unseren gehen« – erwiederte er, sie umfassend. – »Komm, Geliebte, komm, jetzt gehören wir ganz einander an. Verstehst Du, Lydia, was das heißt?« – Statt aller Antwort umschlang sie weinend seinen Hals und lehnte ihre Stirn an seine Brust. Einen Augenblick betrachtete er sie aufmerksam, und leise den Kopf schüttelnd; dann führte er sie mit sich fort, indem er das letzte Licht auf dem Tische mit sich nahm. Das Schlafzimmer der Neuvermählten lag nach dem Garten heraus. Es war einfach aber höchst geschmackvoll und behaglich eingerichtet. Durch ein schmales Kabinet nach der einen Seite von dem Schlaf- und Arbeitszimmer Landsfelds, nach der andern von dem Speisesaal getrennt, aus dem eine Thür nach dem ebenfalls mit seinem Arbeitszimmer zusammenhängenden Wohnzimmer Lydiens, die andere nach den auf der anderen Seite liegenden Gemächern der Forsträthin. Um die Mutter nicht zu stören, gingen sie, statt direkt durch den Speisesaal, durch das Arbeitszimmer Landsfelds. »Geh', Geliebte« – sagte Landsfeld, sie mit Innigkeit umschlingend, nachdem sie das letztgenannte Zimmer betreten. – »Geh', laß Dich von Gertrud entkleiden.« – Gertrud war Lydiens Amme gewesen und jetzt als Wirthschafterin in den neuen Hausstand mit eingetreten. – »Bist Du nicht allzu müd', mein Herz, so komme ich noch auf ein paar Minuten mit Dir zu plaudern.« Wieder ruhte nach diesen mit unbefangener Herzlichkeit gesprochenen Worten sein forschender Blick auf dem Gesicht seiner jungen Gattin. Vielleicht hoffte er, daß sie ihm antworten werde, aber auch diesmal umarmte sie ihn nur unter schamhaftem Erröthen und eilte schnell zur Thüre hinaus. Er blickte ihr lange sinnend nach, als suche er den Grund von Etwas, das er sich nicht erklären könne. »Wer mir doch Gewißheit geben könnte« – sagte er vor sich hin. »Zwar erstaunte sie nicht über das, was ich ihr sagte, sie schien es ganz natürlich zu finden – aber warum erröthete sie denn? – Und endlich frage ich: Kann eine solche Unschuld, wie sie sie zu haben scheint – vielleicht nur scheint – möglich sein bei einem Mädchen von 19 Jahren? Ist es denkbar, daß der Zufall sie vor jedem zweideutigen Worte, vor jeder verschleierten Anspielung, vor jedem –« Bilde, wollte er sagen, aber er sprach das Wort nicht aus, sondern schloß mit einem bittern Lachen, da ihm einfiel, daß man sich durch dergleichen Fragen in der keuschen Residenz, dem züchtigen Berlin – nur lächerlich machen könnte. Und dennoch that er ihr durch diese Zweifel unrecht. Lydiens Phantasie war in der That völlig rein und fleckenlos. Noch hatte sie keine Ahnung – oder doch gewiß keine Vorstellung von einer andern als wie geistigen und gemüthlichen Gemeinschaft und Einigung der Gatten. Vielleicht war es nicht klug gehandelt von der Forsträthin, daß sie ihre erwachsene Tochter über die Ehe nie aufgeklärt hatte. Aber sie konnte es nicht über's Herz bringen, den Kindeshimmel dieses reinen Gemüths zu zerstören. Daß Lydia durch andere zufällige Anlässe zu einer Kenntniß in dieser Beziehung kommen könnte, ohne daß es von dem mütterlichen Auge wahrgenommen würde, hielt sie für unmöglich. Denn sie wußte, daß, wenn ein jungfräuliches Herz seine Reinheit so lange ungefährdet erhalten hat, es in dieser Reinheit selbst den besten Schild gegen jede Verunreinigung besitzt und daß übrigens, sollte doch ein unvorhergesehener Zufall eine ihr bisher fremde Vorstellung gleichsam gewaltsam hineinschleudern, seine Verwirrung und sein Schmerz zu tief und groß sein würde, als daß es ihn vor dem Scharfblick mütterlicher Liebe verbergen könnte. Die Bedenken, welche Landsfelds Zweifel gegen die Wahrheit von Lydiens weiblicher Unschuld rege erhielten, und welche nur bewiesen, daß er von der wahren Reinheit des weiblichen Gemüths keinen Begriff hatte, ließen sich sämmtlich durch die einfache Thatsache widerlegen, daß Lydiens Ohren und Augen über solche Anspielungen und Anschauungen entweder theilnahmlos fortglitten, weil sie sie nicht verstand, oder aber – waren sie zu deutlich und folglich zu kraß – sie von ihnen, ohne sich eigentlich des Grundes bewußt zu werden, nur einen unangenehmen, wiederwärtigen Eindruck erhielt, den sie so schnell wie möglich wieder los zu werden suchte. Beunruhigt oder gar erregt wurde sie nicht im Geringsten dadurch, höchstens wurde ihr Geschmack beleidigt. Aber jetzt war sie in einer ihr selbst unerklärlichen tiefen Bewegung. Der Gedanke, jener von den Mädchen eben so ersehnte als gefürchtete Augenblick, welcher die Grenze zwischen dem Jungfrauen- und Frauenleben bildet, sei jetzt gekommen, setzte sie vielleicht in desto größere Spannung, und ließ ihren Busen vielleicht um so ängstlicher auf- und abwogen, je weniger sie eine klare Vorstellung von seiner wahren Bedeutung hatte. »Ach, Gertrud« – sagte sie zu ihrer Amme, »sag' mir nur, warum mir so angst ist. – Fühl' einmal, wie mir das Herz schlägt.« Bei diesen Worten nahm sie die trockene, harte Hand Gertruds, welche sie bereits entkleidet hatte und eben im Begriff war, ihr das Nachtkleid überzuwerfen, und legte sie unter ihre linke jugendliche Brust. »Laß nur gut sein, Lydchen« – erwiederte Gertrud lächelnd, welche das Recht hatte, ihre junge Herrin noch als ihr Pflegekind zu behandeln. – »Laß nur gut sein. Ich kenne das, bin auch mal jung gewesen und habe gezittert und gebebt, als sie mir in der Kammer den Brautkranz aus dem Haare nahmen. Aber 's giebt sich halt mit der Zeit.« – Sie seufzte. »Aber sag' mir, Kindchen, warum willst Du denn noch aufbleiben, warum legst Dich nicht in's Bettchen?« – »Richard kommt ja noch zu mir; Gertrud!« – »Kommt er noch!« – erwiederte Gertrud, wie verwundert über diesen Grund, mit fast ironischem Tone. »Freilich, Gertrud. Er hat es mir ja versprochen« – sagte Lydia treuherzig. »Hat er wirklich?« – fragte Gertrud wie vorhin, indem sie den Kopf schüttelte. »Nun ja. Was fällt Dir dabei auf, Gertrud? – ist er nicht mein Mann?« – Sie erröthete, als sie mit schamhaftem Lächeln von ihrem »Manne« sprach. Die Alte schüttelte noch immer fort. »Du bist ja heut' ganz wunderlich, Gertrud. – Geh' nur – Richard wird gleich kommen.« Gertrud drückte sie mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Feierlichkeit an das Herz; – zündete dann die in einer Glocke von rosafarbenem Glase hängende Nachtlampe an und entfernte sich langsam und leise auftretend durch den Corridor nach ihrem Schlafzimmer neben dem Zimmer der Forsträthin. Lydia hatte sich in die Ecke des kleinen mit weißseidenem Zeuge überzogenen Sopha's geworfen, und saß, den schönen Kopf in die Hand gestützt, in Gedanken versunken da, als ein leises Pochen an der Thüre sie emporschreckte. »Er ist's« – sagte sie fast athemlos zu sich, indem sie beide Hände über den ungestüm wallenden Busen legte, als fürchte sie, die Bewegung möchte ihre Brust zersprengen. Sie hatte weder die Kraft, zu rufen, noch einen Schritt zu thun. Ein zweites stärkeres Klopfen gab ihr endlich ihre Kraft zurück. »Richard« – rief sie mit bebender Stimme. Landsfeld trat herein. Er war mit einem einfarbigen grünen sammetnen Morgenrock bekleidet, welcher durch eine dicke Seidenschnur von gleicher Farbe um den Leib gehalten, bis auf die feinen Morgenstiefel herabfiel. Sein Hals war frei und nur mit einem weißen Hemdkragen umgeben, der sich leicht und glatt über den Shawlkragen des Morgenrocks legte. »Du schliefst schon, Geliebte« – sagte er lächelnd, auf sie zu tretend, indem er einen langen aber sanften Kuß auf ihre Stirn drückte. »Ach nein, Richard, ich schlief nicht. Dein Klopfen – ich weiß nicht warum – nahm mir die Kraft – die Stimme versagte mir« – Er sah ihr tief, tief in das glänzende Auge, welches sie mit offner Liebe zu ihm aufgeschlagen hatte. »Komm', setze Dich zu mir,« – sagte er dann hastig, indem er sie zum Sopha führte. Er umschlang sie mit der einen Hand und zupfte mit der andern an den Bändern des zierlich gestickten Nachthäubchens, welches Lydiens Haar gefangen hielt. »Ich liebe das nicht« – flüsterte er kosend – »ist nicht die Natur überall schöner als die Kunst, besonders wenn diese dazu dienen soll, die erstere zu verhüllen.« Ohne ein Wort zu erwiedern, löste Lydia die Bänder und warf das Häubchen von sich. Voll und glänzend fielen wie ein dunkelgoldiger Strom die entfesselten Locken über ihre Schultern und ihren Nacken. »Wie weich und elastisch ist Dein Haar, Lydia!« – Er ließ es spielend durch die Finger gleiten. Weißt Du, wie schön Du bist? Sag' mir das, Lydia!« »Welche Frage, Richard! Wie schön man ist, das kann man wohl nicht wissen, sollte ich denken. Daß ich manchmal, wenn ich vor dem Spiegel gestanden, mich darauf angesehen, ob ich hübsch bin, will ich nicht läugnen – aber« – »Nun?« – »Aber ich that es doch immer im Gedanken an Dich. Ich dachte dann: kann er Dich wohl hübsch finden? Und dann freute ich mich; denn Richard, ich will es Dir nur gestehen, ich antwortete dann gewöhnlich ganz leise: Ja. – Meinst Du nun, daß ich eitel bin, Richard?« Es lag eine solche Kindlichkeit und Harmlosigkeit in dem, was Lydia sagte, daß ein Mann von so eisernem Willen und so titanischer Selbstüberwindung, wie Landsfeld, dazu gehörte, um dem einmal gefaßten Entschluß, das höchste Glück sich zu versagen, so lange treu zu bleiben, bis durch längere Beobachtung seine Ueberzeugung von der Wahrheit dieses weiblichen Herzens eine unerschütterliche Festigkeit erreicht hatte. Je mehr er gerade jetzt geneigt war, zu glauben, desto mehr fühlte er gegen sich die Verpflichtung, sich nicht eher diesem Glauben hinzugeben, als bis jede Möglichkeit von Zweifel verschwunden war. – Aber diese Entsagung wurde ihm schwerer, als er es geahnt hatte. Wäre Lydia ein Weib wie Laura gewesen, so würde er eine Art egoistischen Triumphs darin gefeiert haben, ihre Sehnsucht ungestillt zu lassen. Denn die Macht sinnlicher Reize, obwohl er selbst feurigen und leidenschaftlichen Temperaments war, konnte doch die Energie seines Geistes, seinen Stolz nicht erschüttern. Aber sie war keine solche Macht, die ihn nur zum Widerstande hätte reizen können. Ein seiner Reize selbst unbewußtes, sich vertrauensvoll an ihn schmiegendes Kind war es, was nicht des eigenen Genusses wegen, sondern aus Liebe zu ihm, sich ihm überließ, auf seinen leisesten Wunsch lauschte, um ihn, kaum ausgesprochen, erfüllen zu können. – Darauf war er nicht gefaßt. – Seine Stimme zitterte fast, als er auf ihre Frage erwiederte: »Ich glaube, daß Du ein gutes Kind bist, Lydia.« »So hältst Du mich also nicht für eitel?« – sagte sie heiter lächelnd, ohne Ahnung von dem Sturme, der in diesem Augenblick seine Brust durchwühlte. »Das freut mich, Richard. Denn ich glaube, daß Du das besser wissen mußt, als ich selbst.« Nachdenklich fuhr sie fort: »Man weiß wohl eigentlich selten, wie es im Grunde hier aussieht; meinst Du nicht auch, Richard?« – Sie legte den Zeigefinger auf dieselbe Stelle, auf der vorhin Gertruds Hand gelegen. So stürmisch es damals dort pochte, so ruhig war es jetzt. Landsfeld wußte nur noch zwei Mittel, um den künstlichen Damm, welchen er um seine Empfindung gezogen hatte, vor dem Durchbruch zu bewahren. Das eine war schleunige Flucht. Aber er schämte sich vor sich selber, als er daran dachte. »Ich will's wagen« – sagte er zu sich, das andere Mittel erwägend. »Das ist der ewige Widerspruch im Menschen« – sagte er ernst. »Die Gegenwart ist gerade das, wovon man am wenigsten weiß. Daher fürchtet man sich vor der Gefahr und selbst, nachdem sie schon verschwunden ist, in der Erinnerung weit mehr, als in dem Moment, wo man mitten darin ist. Wie mit der Furcht, so ist's auch mit der Hoffnung, mit der Erwartung überhaupt, sei's des Glücks und der Seligkeit, sei's des Schmerzes und der Trauer. Wie war Dir, Lydia, vor jenem Augenblicke, wo ich an Deine Thüre klopfte? Jetzt bist Du ruhig, warst Du es damals auch? – Bist Du es jetzt, da Du daran denkst?« »Es ist wahr, Richard« – sagte sie erglühend. »Welches Gefühl es war, welches es auch jetzt ist, ich weiß es nicht, ich kann es nicht beschreiben – unnennbar, – überwältigend – tief beseligend – angsterfüllend. – – – – Richard!« – Das letzte Wort sprach sie mit einem zugleich flehenden, zugleich hingebenden Tone. Landsfeld hielt mit der Rechten ihre Taille umschlungen. Mit der Linken zog er die Busennadel, welche ihr Nachtkleid über der Brust zusammenhielt, heraus. – »Bist Du nicht mein Weib?« – flüsterte er, sich fester an sie schmiegend, mit jenem Vibriren der Stimme, das sie nur in der tiefsten Leidenschaft anzunehmen im Stande ist. »Fühlst Du nicht selber Sehnsucht, mein zu sein, Lydia – ganz mein zu sein?« – Mit ängstlicher Erwartung blickte er ihr in das Auge, beobachtete er jede Muskel ihres Gesichts, während in seinem Innern der Kampf gegen die Macht der eigenen Leidenschaft fortwühlte. Ein feuchter Glanz schimmerte in ihren Blicken, aber es war nicht jenes verschwimmende, in eigener Gluth erstickende Feuer des Verlangens, nein, es war eine reine Thräne, die das ungewisse Bangen der Jungfräulichkeit, die Angst der mädchenhaften Schüchternheit ihr entpreßte. »Bin ich nicht ganz Dein« – sagte sie bebend – »Dein Weib? Kann ich es mehr sein, als ich es bin? Gehöre ich nicht ganz Dir, bist Du mir nicht Alles, mein Himmel, meine Seligkeit?« Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und preßte sein Haupt an ihren Busen. Landsfeld fühlte sein Wogen, er hörte die verdoppelten Schläge ihres Herzens, und er konnte zu sich sagen: »Ist das nur Liebe? Sollte kein sinnliches Verlangen in diesem ungestümen Pochen sprechen?« – Der Gedanke machte ihn kalt . Er glaubte das richtige Mittel gefunden zu haben. – Sanft löste er ihre Arme und schaute sie lange, lange an. »Nicht wahr, Lydia,« – sagte er – »Du gewährst mir Alles, warum ich Dich bitte – und gern?« »Alles, mein Geliebter, Du weißt es ja. Was hätte ich Dir zu versagen?« – »Und gern?« – fragte er dringend. Eine flüchtige Ahnung durchflog ihre Seele, daß sie noch mehr gewähren könnte, als was sie schon gewährt hatte. Unter tiefem Erröthen senkten sich ihre Blicke. – »Und gern?« – fragte er noch dringender. – »Und gern« – antwortete sie kaum hörbar, ohne recht zu wissen, was sie damit sagte. – Er erblaßte, ein Zweifel stieg wieder in ihm auf. Aber er wollte Ueberzeugung. Seine Hand zitterte, als er leise die ihrige faßte, womit sie die keusche Brust bedeckte, deren stürmische Wellen das entfesselte Nachtkleid fortgeschoben. Sie zögerte. Aber ein Blick aus seinem Auge, worin eine tiefe innige Bitte glänzte, zwang sie fast wider Willen zum Nachgeben. Sie nahm die Hand von ihrer Brust und deckte sie vor das Auge. Er beugte sich nieder und drückte einen langen, glühenden Kuß auf ihren Busen. Eine nie geahnte Seligkeit durchzuckte ihn. Er hätte weinen mögen vor unnennbarer Lust. Und was er nie sich geträumt, vielweniger erlebt: es mischte sich in dieses Gefühl, das ihn bis in seine innersten Tiefen erschütterte, keine unreine Empfindung, kein sinnliches Verlangen. Wie geläutert durch diesen Kuß, aber vor unsagbarer Wonne erbebend, blickte er empor. Eine edle Freude lag in seinen Zügen, denn ihm war, als sei er selbst wieder zum reinen Jünglinge geworden. Und Lydia? – Als sie seinen heißen Athem auf ihrem Busen fühlte, durchrieselte ein Fieberfrost ihren ganzen Körper. Sie war sich keines bestimmten Gefühls bewußt, sie fühlte auch seinen Kuß nicht mehr – nur eine Empfindung hatte sie, die eines anhaltenden, ihr ganzes Wesen erschütternden Schauers. Als er aufblickte, lag noch immer die Hand vor ihren Augen und zwischen den Fingern hindurch tropften einige brennende Thränen. Als er mit sanfter Gewalt ihre Hand von dem Gesichte herabzog, erschrak er über ihre Blässe. Mit einem halblauten Schrei sank sie an seine Brust. »Was ist Dir, Lydia?« – fragte er weich. – »Jetzt bin ich Dein« – antwortete sie endlich, unter Thränen zu ihm aufblickend. »Keine Macht der Erde, keine Gewalt des Himmels kann mich von Dir reißen, Richard! – O Richard, sag' mir, welche geheime Macht in Dir ist, die mich so Dir zu eigen machen kann? Geliebter, weißt Du, welchen Wunsch ich in diesem Augenblick habe?« »Nun?« – fragte er, ihre Locken aus dem Gesicht streichend, erwartungsvoll. Wieder that der Zweifel einen Griff nach seiner Brust. »Mit Dir, an Deiner Brust zu sterben« – sagte sie leise, indem sie schwärmerisch lächelnd zu ihm aufblickte. »Und weißt Du« – sagte er athemschöpfend – »welchen Wunsch ich habe?« »Vielleicht denselben?« – »Im Gegentheil: Mit Dir, an Deiner Brust zu leben« – erwiederte er, sie küssend. – »Jetzt aber« – setzte er schnell hinzu, als sie lächelnd die Augen niederschlug, als fürchte er in dem Kampfe, in dem er diesmal glücklich Sieger geblieben war, zu erliegen: »Jetzt wollen wir uns trennen. Vorher aber muß ich doch die Ordnung, die ich selber gestört, wieder herstellen.« Er versuchte, das Nachtkleid wieder mit der Nadel zusammenzustecken. »O – Du stichst mich ja, Unartiger« – rief sie, ihm auf den Finger klopfend. »Siehst Du, wie es blutet?« Sie öffnete jetzt selber mit rührender Unbefangenheit das Kleid. In der That quoll an der Stelle, worauf sein Mund so lange geruht, ein Purpurtropfen. »Laß ihn mich aufküssen« – bat er. Sie erlaubte es lächelnd, indem sie sein Haupt umschlang und einen Kuß darauf drückte. »Gute Nacht, Geliebter« – sagte sie endlich, ihn fortdrängend. Noch einen Blick warf er auf sie. Dann entfernte er sich schnell und eilte nach seinem Zimmer. 10. Kapitel Zehntes Kapitel Je tiefer das Gefühl durch eine Idee bewegt wird, desto energischer ist natürlich auch der Enthusiasmus, desto lebendiger das Interesse für dieselbe, aber auch desto leichter die Gefahr der Einseitigkeit im Urtheil über dieselbe. Denn Unpartheilichkeit im Urtheil ist selten ein Beweis von Energie und Interesse, wogegen Einseitigkeit häufig das Merkmal eines energischen, kraftvollen Charakters ist, und nur ein angeborener Takt des Gefühls kann einen solchen vor dem Extrem darin bewahren. Kälte und Klarheit des Urtheils stehen sehr häufig in Wechselbeziehung, daher gehört ein gewisser Fond von Egoismus dazu, alle Gegenstände, selbst diejenigen, welche uns selbst alteriren könnten, in der gehörigen Entfernung und Sehweite festzuhalten, damit sie nicht verhältnißmäßig zu große Dimensionen annehmen. Landsfeld war Egoist, aber sein Egoismus war von der Art, daß er den Enthusiasmus für die Idee nicht nur nicht schwächte, sondern daß er mit ihm völlig zusammenfloß. Alle Siegeszeichen, die er in dem Kampfe für die Idee erworben, hing er in dem Tempel auf, in welchem sein eigenes Ich als Gott thronte. Seine Schwärmerei für Lydia – denn es war noch bloße Schwärmerei, was ihn zu ihr hinzog, noch keine Liebe – hatte indessen seit jener ersten Nacht nach und nach einen so individuellen Charakter angenommen, daß er selbst fühlte, wie das Verhältniß, in dem er bisher das ideale Streben zu seinem Ich gesetzt hatte, auf dem Punkte stand, sich umzukehren, so daß nämlich in Kurzem er nicht mehr die Idee seinem egoistischen Selbstgefühl, sondern vielmehr dieses der Idee zum Opfer darbringen werde: kurz er war auf dem besten Wege, dem Glauben, dem Vertrauen hingebungsvoll seine Brust zu öffnen. Von Tage zu Tage wurde sein Benehmen gegen Lydia aufrichtiger, herzlicher und wärmer, obschon er es vermied, Scenen gleich der am Ende des vorigen Kapitels beschriebenen herbeizuführen. Ja, er ertappte sich jetzt auf dem Gefühl eines leisen Vorwurfs, wenn er, seinem Plane gemäß, zuweilen sein Auge beobachtend auf ihren reinen Zügen ruhen ließ, um nach irgend einer Nahrung für seine Zweifelsucht zu spähen. Lydia hing mit einer wahrhaft überirdischen Liebe an ihrem Gemahl. Die völlig inmaterielle Liebe, welche das Wesen dieses unnatürlichen Verhältnisses zwischen den beiden Gatten ausmachte, übte indeß einen Einfluß auf ihr Gemüth aus, der demjenigen auf Landsfelds Empfindung ganz entgegen gesetzt war. Während der Letztere durch Beschränkung seines Egoismus, welche eine natürliche Folge von Lydiens reiner Weiblichkeit war, zur Ruhe, zur Einheit mit sich selbst und zur Versöhnung mit der Welt zurückgebracht wurde, versetzte der feine Aether jener platonischen Seelengemeinschaft Lydia in einen Wechsel nervöser An-und Abspannung, der zuletzt nachtheilig auf ihre Gesundheit wirkte. Ihre Gesichtsfarbe wurde allmählich bleicher, der frische Glanz ihres schönen Auges schwächer: ihr ganzes Wesen erhielt den Ausdruck einer tiefen ihres eigenen Ursprungs unbewußten Schwermuth, die sich in unbewachten Augenblicken zuweilen sogar in Thränen Luft machte. Frau von Dornthal beunruhigte sich nicht allzusehr über diese Veränderung in Lydiens Wesen, da sie sie aus ganz natürlichen Gründen sich erklärte, und Lydia überdies, wenn sie von ihrer Mutter gefragt wurde, ob sie sich glücklich fühle, stets von Verehrung und Liebe für Landsfeld überströmte. Landsfeld hätte wohl am ersten durch Lydiens Verstimmung beunruhigt werden können, in so fern er darin einen Beweis gegen ihre weibliche Reinheit und vollkommene Unschuld hätte finden können. Allein er fühlte selber zu fein, um sich nicht sagen zu müssen, daß, wenn sein Zweifel sich im Geringsten gerechtfertigt halten dürfte, Lydiens Wesen ein ganz anderes hätte sein müssen. Denn es lag weder unwilliges Erstaunen darin, noch konnte er eine Spur von Stolz an ihr bemerken, wodurch er zu der Vermuthung hätte veranlaßt werden können, sie habe ein klares Bewußtsein, ja nur eine unbestimmte Ahnung über die Art seiner Vernachlässigung. Vielmehr blieb ihre mädchenhafte Zärtlichkeit und rührende zutrauensvolle Hingebung zu ihm nicht blos gleich, sondern nahm täglich an Tiefe und Leidenschaftlichkeit zu. Und fragte er sie zuweilen, ob sie sich unwohl fühle, daß sie so bleich und niedergeschlagen aussähe, so pflegte sie nur lächelnd und seufzend zu erwiedern: »Es muß wohl sein, weil ich Dich zu sehr liebe, Richard. Es ist mir manchmal, als ob diese Liebe von meinem Herzblut sich nähre.« – »Sollte man an Liebe sterben können, Richard?« – fragte sie einmal, statt auf seine Frage zu antworten. »So ist mir zuweilen.« Landsfeld machte ihr den Vorschlag, häufiger in Gesellschaften zu gehen. »Vielleicht wird Dich das etwas zerstreuen« meinte er. Da sie in Alles willigte, was er über sie bestimmte, so hatte sie auch hiergegen Nichts einzuwenden. Aber das Uebel nahm dadurch nur eher zu als ab. Selbst ihre Freundinnen aus der Pension, von denen einige ebenfalls verheirathet, und ein »Haus« machten, konnten in ihr die frühere Sympathie nicht wieder erwecken. Häufig ereignete es sich auch, daß sie Abends, wenn sie mit Landsfeld in ihrer Behausung wieder angelangt war, noch in sich gekehrter erschien als gewöhnlich. Wenn er sie dann fragte, was der Grund ihrer nachdenklichen Stimmung sei, so antwortete sie entweder ausweichend oder sie bekannte selber den Grund davon nicht zu wissen. »Was ist Dir begegnet, Lydia?« – sagte er, in ihr Schlafzimmer tretend, als sie einmal von der glänzenden Hochzeitsfeier einer ihrer Freundinnen zurückgekehrt waren. »Du bist heute wieder so einsylbig und niedergeschlagen.« »Ich weiß es nicht – und suchte eben selbst darüber klar zu werden. – Hilf mir, Richard. Ich verstehe mich selbst nicht mehr und die Andern noch weniger.« »Die Andern?« – »Ja, ich komme mir zuweilen recht albern vor. Ist denn die Welt eine andere geworden, oder habe ich mich nur so verändert?« – »Erkläre Dich deutlicher, Lydia. – Ich verstehe Dich nicht.« – »Das ist's ja eben, was mich drückt. Aber Du, Richard, solltest mich doch eigentlich verstehen.« – Sie blickte ihm fast bittend in's Auge. Er verstand sie recht gut, aber sie über sich selbst aufzuklären, wagte er kaum noch. Mit einer wahren Angst hatte er schon oft daran gedacht, wie er in der Schranke, die er willkührlich zwischen sich und Lydia gesetzt, sich eine Macht geschaffen, deren Besiegung ihn vielleicht noch größeren inneren Kampf bereiten würde, als ihm ihre Aufstellung gekostet hatte. War er vor drei Monaten – so lange waren sie jetzt verheirathet – in Verlegenheit um die Mittel gewesen, seiner eigenen Leidenschaftlichkeit zu widerstehen, so war er es jetzt vielleicht noch mehr um die Mittel, diesen Widerstand, der für ihn fast zu einem moralischen Zwange geworden war, auf geeignete Weise aufzuheben. Und gerade diese ganze Umkehrung der Verhältnisse hatte seiner allmählig erwachenden wahrhaften Liebe zu ihr eine Intensität gegeben, die ihm jene Schranke zu einer drückenden Fessel umschuf. Landsfeld war in der That unglücklicher noch als Lydia. »Sprich, mein theures Kind« – sagte er, sich wie an jenem ersten Abende an sie schmiegend – »sprich, ist Dir irgend etwas aufgefallen heute Abend, hast Du irgend etwas gesehen oder gehört, was Dir ein peinliches Gefühl erregt hätte, oder was Dir auch nur unklar geblieben wäre?« »Das ist's, Richard – ja, unklar geblieben ist mir Manches, schon früher, aber ich habe es immer meiner eigenen Unwissenheit zugeschrieben; und da es meistens Dinge betraf, die ich nicht gut – die ich möglicherweise ganz falsch verstanden – um die ich Dich nicht fragen wollte, aus –« »Nun? aus – –« »Aus Furcht, etwas Unpassendes zu sagen, Richard.« »Daran hast Du unrecht gehandelt, Lydia. – Wie kannst Du so etwas fürchten bei mir? Ich weiß ja, daß Du Vertrauen zu mir hast, nicht wahr?« – »Unbegrenztes, mein Richard.« »Nun, also –« »Heute zum Beispiel – ich sprach mit Theresen über unsere häusliche Einrichtung – Du erinnerst Dich wohl, daß sie ungefähr eben so lange verheirathet ist, als ich, etwas länger noch – da sie jetzt in Potsdam mit ihrem Manne wohnt, so hatte ich sie seitdem nicht gesehen – heute also fragte sie mich, ob – ob – –« sie verbarg ihren Kopf an seiner Brust. Landsfeld erschrak. »Es ist die höchste Zeit« – dachte er. – »Wenn eine indiskrete Freundin den Schleier lüftet, den ich selbst noch nicht gehoben, dann ist mein ganzes Werk vernichtet.« – »Warum solltest Du mir nicht sagen können, was eine Freundin zu Dir zu sagen wagte?« – fragte er laut. »Mißverstehe mich nicht, Richard; Therese meinte es gewiß nicht böse. – Sie fragte, ob – wir ein und dasselbe Zimmer bewohnten?« – Eine flammende Röthe überdeckte ihr Gesicht, als sie nach einem kurzen aber heftigen Kampfe diese Worte herausgebracht hatte. Landsfeld athmete etwas freier. »Und was weiter?« – fragte er mit einem Lächeln, das ihr neuen Muth gab. »Als ich ihr mein Mißfallen über das Unzarte ihres Benehmens zu erkennen gab, erwiederte sie: das wäre bloße Ziererei und ich thäte gerade so, als ob ich noch ein Mädchen wäre. Das kränkte mich, Richard, da ich nicht begreifen kann, warum eine Frau weniger Zartsinn haben sollte , als ein Mädchen; ich stand auf und verließ Theresen, um mich zu ihrer älteren Schwester zu setzen. – Aber diese war mir gefolgt und trug nun wie zu ihrer eigenen Rechtfertigung unser ganzes Gespräch mit einer mir räthselhaften Unbefangenheit ihrer Schwester vor. Letztere hörte aufmerksam zu und meinte dann, als ich die Wahrheit der Erzählung bestätigt hatte: entweder sei ich selbst ein kleiner Schelm, oder mein Herr Gemahl – wie sie sich ausdrückte – ein großer. – Was sagst Du dazu, Richard?« – »Sie mag wohl nicht ganz unrecht gehabt haben – doch lasse sie reden und kümmere Dich nicht darum« – setzte er schnell hinzu. – »Sie haben sich wohl nur einen Scherz machen wollen.« »Das dachte ich auch anfangs, aber – –« Lydiens Stimme drückte von Neuem eine so mädchenhafte Zaghaftigkeit aus, daß Landsfelds Besorgniß wieder rege wurde. »Noch mehr?« fragte er aufmerksam. Lydia wollte eben antworten, als sie plötzlich, nach dem Fenster zeigend, ausrief: »Mein Gott, was ist das? Sollte die Mutter kränker geworden sein? Was bedeutet das Licht auf dem Korridor?« »Bleibe hier, liebe Lydia« – sagte Landsfeld, sie sanft zurückdrängend, da sie das Zimmer verlassen wollte. »Du bist so leicht bekleidet. Ich werde selbst nachsehen.« Bei diesen Worten verließ er das Zimmer und ging leise den Korridor hinab. Am Ende desselben traf er Gertrud, welche eben im Begriff war, das Zimmer der Forsträthin zu öffnen. »Was giebt's, Gertrud?« fragte er. »Ach, gnädiger Herr – 's steht gar nicht gut mit der Frau Mutter, glaub' ich.« – »Still, Gertrud« – wir wollen dem Himmel nicht vorgreifen. Und vor allen Dingen lassen Sie meiner Frau nichts von Ihren Befürchtungen merken!« – »Behüte der Himmel, gnädiger Herr.« Landsfeld kehrte zu Lydia zurück, die in ängstlicher Spannung am Fenster seiner harrte. Nachdem er sie mit einigen Worten beruhigt hatte, drang er von Neuem in sie, ihre Mittheilungen fortzusetzen. Lydia war durch diesen Zwischenfall zu sehr aus ihrer früheren Stimmung gebracht, als daß sie seiner Bitte mit der nöthigen Unbefangenheit hätte genügen können. »Morgen« – sagte sie bittend. »Wie Du willst, liebes Kind. Morgen Abend dann; ich reite schon früh fort und werde nicht zu Tische kommen. Du weißt, daß ich morgen zur Jagd geladen bin.« – Er drückte einen warmen Kuß auf ihren Mund und eilte nach seinem Zimmer. Als Karl dem ihm gewordenen Auftrage gemäß gegen fünf Uhr an die Thüre seines Herrn klopfte, fand er denselben bereits angekleidet am Sekretair mit dem Siegeln eines Briefes beschäftigt. »Dies Billet« – sagte er – »giebst Du an Gertrud, um es meiner Frau zu überreichen, sobald sie aufgestanden.« »Sehr wohl, Herr Baron.« »Jetzt hole mir das Frühstück und dann mach' Dich selbst und die Pferde fertig.« Als der Diener das Zimmer verlassen, nahm Landsfeld das Licht vom Tische und begab sich mit leisen Schritten nach dem Schlafzimmer Lydiens. Behutsam öffnete er die Thüre und schloß sie eben so. Es rührte sich nichts. Dann stellte er das Licht auf die Console, und verdeckte es durch einen Lichtschirm, um seinen hellen Schein etwas zu dämpfen. Darauf trat er vor das Lager seiner Gattin, und versank in eine lange und stumme Betrachtung. Lydiens Schlaf schien nicht ruhig gewesen zu sein. Ihr linker Arm hing unbedeckt über die Bettlehne heraus, während der andere eine Hand breit unterhalb ihres Busens ruhte. Der kleine weiße Fuß von vollendeter Schönheit hatte die rothseidene Bettdecke von sich gestoßen. – – Landsfelds Blicke ruhten mit stiller Wehmuth auf diesen Reizen, ohne daß sich in ihm ein Verlangen irgend einer Art regte. Fast schmerzlich war der Ausdruck seines Gesichts, als er, in tiefes Sinnen verloren, vor dem Lager stand. Plötzlich wurde er aufmerksam. Lydia bewegte die Lippen. Er bog sich sanft über sie. »Richard« – sagte sie leise. – »Geliebter! warum fliehst Du mich?« – Vielleicht war es nur im Traume, ohne Bezug und deutungslos. Und dennoch veränderte sich der Ausdruck in Landsfelds Gesicht; ein freudiges Lächeln erheiterte seine düsteren Züge. »Diese Qual soll enden« – sagte er halblaut theils zu sich, theils zu Lydia. – »Ja, Lydia, ich werde Dich nicht mehr fliehen. Denn ich glaube an Dich mit voller Brust, in tiefster Seele. – Nein, unter diesem schönen Busen kann kein unreiner, kein falscher Gedanke geboren werden.« Er hatte wie in Selbstvergessenheit bei diesen Worten die Hand auf ihr Herz gelegt. Sie zuckte einen Augenblick zusammen. Dann zog ein lächelndes Erröthen über ihre Wangen und Lippen. »Ich wußte es ja« – sprach sie im Schlafe fort – »Du konntest mich nicht verlassen.« Landsfeld war niedergekniet und drückte einen Kuß auf ihr Herz. Dann stand er leise auf, hob die herabgefallene Decke vom Boden und breitete sie leicht über den schönen Körper der holden Schläferin. Auch den herabgesunkenen Arm legte er vorsichtig auf die Decke und verließ dann, nachdem er noch einen Kuß auf ihre Stirn gedrückt hatte, eben so behutsam, als er gekommen war, das Zimmer. – Rasch verzehrte er sein Frühstück und eilte, als ihn Carl benachrichtigte, daß Alles bereit sei, hinunter. Es war ein kalter, aber heller Dezembermorgen, obgleich die Sterne noch an dem tiefblauen Himmel funkelten. Landsfelds Schritte knarrten auf dem festgetretenen Schnee, welcher sich über Nacht mit einer leichten, frischen Flockenschicht bedeckt hatte. Er schwang sich auf's Pferd und ritt, gefolgt von seinem Diener, dem Anhaltischen Thore zu. »Hier ist ein Brief vom gnädigen Herrn, Lydchen« – sagte die alte Gertrud, als sie einige Stunden später in das Zimmer ihres geliebten Pflegekindes trat, die eben die Augen aufgeschlagen. »Gieb schnell« – sagte diese, mit der Hand sich über das vom Schlaf geröthete Gesicht fahrend – »was mag er mir schreiben? Er ist wohl schon lange fort, Gertrud?« – fragte sie, mit dem Eröffnen des Briefes beschäftigt. »Was schreibt er Dir denn, Lydchen?« fragte die neugierige Alte. »Daß er erst spät wiederkommen werde, wahrscheinlich erst morgen. Ich möchte mich deshalb nicht ängstigen und die Zeit benutzen, einige Besuche zu machen, die ich mir schon lange vorgenommen. Sonst nichts von Bedeutung. Was macht die Mutter, Gertrud? hat sie gut geschlafen? – Ich will gleich hinüber zu ihr. Wir wollen zusammen frühstücken.« Gegen Mittag, als Lydia mit ihrer Mutter plauderte, trat Gertrud wiederum mit einem Briefe in der Hand, der abermals an ihre junge Gebieterin gerichtet war, herein. »Er ist von Theresen« – sagte die letztere, zu ihrer Mutter gewendet. Sie durchflog das, wie es schien, eilig geschriebene Blatt und sagte dann: »Sie bittet mich, heute nach Potsdam zu kommen. Sie sei unwohl und sehne sich sehr nach mir. – Was soll ich thun, liebe Mutter? Das geht doch unmöglich; auch habe ich seit gestern alle Lust verloren, unser früheres Freundschaftsbündniß zu erneuern.« Auf die Frage der Forsträthin, was der Grund dieser plötzlichen Kälte sei, erwiederte Lydia ausweichend und im Allgemeinen, sie habe ihr gar nicht mehr gefallen; denn sie konnte sich aus einer ihr selbst unerklärlichen Scheu nicht überwinden, ihrer Mutter das Gespräch mitzutheilen, dessen Anfang sie sogar ihrem Gatten nur mit großer Selbstüberwindung erzählt hatte. »Glaubst Du denn, daß es Landsfeld nicht angenehm sein würde, wenn Du allein hinführest?« fragte die Forsträthin. »Du kannst ja Gertrud mitnehmen.« »O, ich fürchte mich nicht, liebe Mutter. Und Richard hat mich ja selbst zu Besuchen aufgefordert. Auch schreibt mir Therese, daß am Bahnhofe ihr Wagen mich erwarten werde, und daß sie darauf rechne, daß ich die Nacht bei ihr bleiben werde. Aber gerade das möchte ich nicht gern.« »Ich sehe wirklich keinen Grund, warum Du diese freundliche Bitte ablehnen willst, liebes Kind. Ich bin ganz wohl, wie Du siehest, Landsfeld kommt auch erst morgen.« – »Wahrscheinlich« – verbesserte Lydia. »Nun, das heißt wohl diesmal so viel als bestimmt . Es ist auch nicht gut möglich, daß er nach einer ermüdenden Jagd noch den weiten Ritt nach Hause macht, und nicht lieber auf dem Gute seines Freundes bleibt, der ihn eingeladen.« Lydia gab zuletzt der Ueberredungskunst der Mutter nach und fuhr in Begleitung Gertruds nach dem Potsdamer Eisenbahnhofe, ohne eine tief verschleierte und in einen Pelz gehüllte Dame zu bemerken, die ihr mit ängstlicher Sorgfalt auf dem Fuße folgte, und, nachdem der Zug in Potsdam angelangt war, schnell ausstieg und ohne erst zu suchen, auf eine der eleganten Equipagen zuging, welche auf dem Bahnhofe hielten. Sie pochte darauf dreimal an das herabgelassene Seitenfenster des Wagens, worauf es von Innen herabgelassen wurde. »Ist sie da?« – fragte eine männliche Stimme. »Ja, – aber nicht allein,« war die Antwort. »Steigen Sie schnell aus.« »Nicht allein? doch er nicht?« »Nein, ein altes Weib. – Ich sehe sie eben auf den Perron treten. Beeilen Sie sich!« Der Mann war indeß ausgestiegen und befahl dem Kutscher vor dem Perron vorzufahren, während er selbst, sich tief in den Mantel hüllend, zu Fuß nach der Stadt eilte. »Habe ich die Ehre zu Frau Baronin von Landsfeld zu reden?« – sagte die Verschleierte, welche selbst den Wagen bestiegen, zu Lydia, die sich nach allen Seiten umsah, um die versprochene Equipage ihrer Freundin zu suchen. »Allerdings« – erwiederte Lydia. – »Ist dies etwa der für mich bestimmte Wagen von Frau von Rebenstock?« »Ja wohl« – erwiederte die Erstere. »Frau von Rebenstock läßt sich entschuldigen, daß sie nicht selbst –« »Ich weiß, sie ist unwohl.« Arglos stieg sie mit Gertrud in den Wagen, dessen Seitenfenster indeß wieder aufgezogen waren. Die Wagenthüre wurde zugeworfen, und Lydia rollte an der Seite der Verschleierten auf dem unebenen Pflaster Potsdams rasch dahin. Anfangs war's ihr, als hätte sie die allerdings durch den Schleier unkenntlich gemachten Züge der ihr unbekannten Gesellschafterin Theresens – dafür glaubte sie sie halten zu müssen – schon einmal irgendwo gesehen. Da ihre Stimme ihr aber völlig fremd erschien, so glaubte sie, es sei eine Täuschung, deren sie sich durch eine indiskrete Frage nicht versichern wollte. »Frau von Rebenstock bewohnt also auch im Winter ihr Sommerhaus?« fragte sie, als der Wagen vor einem einzeln stehenden ziemlich eleganten Hause außerhalb des Thores hielt. »Sie liebt die Einsamkeit, gnädige Frau« – erwiederte die Gesellschafterin, indem sie Lydia beim Aussteigen behülflich war, ironisch, was Jener nicht entging. »Erlauben Sie, daß ich vorangehe« – fuhr sie fort, indem sie die Treppe hinauf eilte. »Wollen Sie die Güte haben, sich einen Augenblick in diesem Zimmer zu verweilen, bis ich Frau von Rebenstock Ihre Ankunft mitgetheilt.« Sie hatten indeß ein behaglich erwärmtes und sehr geschmackvoll möblirtes Zimmer betreten, dessen Fenster auf den Garten hinauslagen, welcher jetzt in seinem winterlichen Schmuck einen melancholischen Anblick gewährte. Lydia legte die warmen Oberkleider ab und fragte nach Gertrud. »Befehlen Sie, daß sie heraufkommen soll« – fragte die zuvorkommende Gesellschafterin, und entfernte sich nach empfangener bejahender Antwort. Bald darauf ließ sich ein leises Klopfen an der Thür vernehmen. Auf Lydiens »Herein« öffnete sich die Thüre, aber statt der erwarteten Pflegemutter erschien zu ihrem größten, sprachlosen Erstaunen – – Berger. 11. Kapitel Eilftes Kapitel »Ich habe der Gesellschaft eine kostbare Ueberraschung bereitet« – sagte der Major von Maienberg, in dessen Wäldern die Jagd stattfinden sollte, zu dem eben angekommenen Landsfeld. »Ich verlasse mich auf Deine Diskretion, wenn ich Dir das Geheimniß mittheile. – Frau von Rosen« setzte er leise hinzu – »wird an unserer Jagd Theil nehmen. – Sie hat zugesagt und mich wundert nur, daß sie noch nicht hier ist.« Landsfeld war es nicht unlieb, Alicen, die er lange nicht gesehen, – einmal wieder zu sprechen, und seine Freude, die er über dies »Geheimniß« zu erkennen gab, war diesmal aufrichtig. »Eure Liaison ist wohl ganz aufgehoben;« – fuhr Jener fort. »Du warst einmal verteufelt vernarrt in sie.« Landsfeld lachte. »Wir denken Beide an diese Kinderei nicht mehr.« »Nun, desto unbefangener wird Euer heutiges Zusammentreffen sein.« Indessen hatten sich die übrigen Theilnehmer an der Jagd nach und nach eingefunden. Nur Alice fehlte noch. Nachdem Herr von Maienberg zwei volle Stunden auf sie gewartet hatte, gab er, an ihrem Kommen überhaupt zweifelnd, das Zeichen zum Aufbruch. Als die Sonne ihren höchsten Standpunkt erreicht hatte, sammelten sich die Jäger zu einer kurzen Rast auf einem zuvor dazu bestimmten Platze und nahmen ein für die Umstände ziemlich glänzendes Frühstück ein. Nach einigen Minuten hörte man ein deutliches Pferdegetrappel, das sich dem Sammelplatz zu nähern schien. »Sie ist's« – flüsterte der Major Landsfeld in's Ohr. Er hatte sich nicht geirrt. Im schwarzen Amazonenkleide, den Hut keck in die Locken gedrückt, sprengte Alice, von einem Reitknecht gefolgt, auf die Gesellschaft zu. Ihr Gesicht glühte und alle ihre Bewegungen verriethen eine ihr sonst ungewöhnliche fieberhafte Hast. »Ist der Baron von Landsfeld hier?« war ihre erste Frage an Herrn von Maienberg, nachdem sie die erste Begrüßung seitens der Gesellschaft leicht und mit Grazie erwiedert hatte. »Sehen Sie dort an jenem Baume, Verehrteste. Er ist eben im Begriff aufzusteigen.« Alice trat rasch auf Landsfeld zu. »Ich habe Dir einst gesagt, daß ich handeln würde, wenn's Zeit ist, Richard. Die Zeit ist da.« »Was ist geschehen, sprich!« – fragte er, sich zur Ruhe zwingend. »Lydia wird oder ist vielleicht schon entführt.« »Entführt?« – fragte er in einem Tone, als verstünde er die Bedeutung des Worts gar nicht. »Ja, sie ist durch einen untergeschobenen Brief, der sie zu einer Freundin nach Potsdam einlud, fortgelockt worden.« Landsfeld schwieg, aber die fahle Blässe, welche sein Gesicht bedeckte, und das Zittern, welches durch seinen ganzen Körper bebte, kündeten hinlänglich seine innere Bewegung an. »Höre mich ruhig an, Richard« – fuhr Alice fort, »denn nur durch Ruhe ist hier Abhülfe möglich zu machen. Du warst gestern mit Deiner Frau auf der Hochzeit bei Krengs. Dort waren, außer Rebenstocks und andern Bekannten Deiner Frau, auch einige Freundinnen Corneliens, wovon die eine, zuvor instruirt, das Geschäft übernahm, jedes Gespräch Lydiens zu belauschen. So erfuhr Cornelie, daß Du heute auf der Jagd seiest. Schnell wurde in Theresens Namen ein Brief geschrieben, der Lydia nach Potsdam einlud. Sobald sie sich auf die Eisenbahn setzt, folgt ihr Cornelia; am Bahnhofe steht ein Wagen, den sie in der Eigenschaft einer Gesellschafterin der Frau von Rebenstock, als die für sie bestimmte Equipage ausgeben wird, und der sie in eine Wohnung führen wird, wo Berger sie erwartet.« Landsfeld stieß einen dumpfen Seufzer aus. »Noch ist nichts verloren, Richard. Jetzt ist es Mittag. Um zwei Uhr kannst Du zu Hause sein. Dann kommst Du noch zur rechten Zeit. Sollte sie jedoch schon fort sein, so komme gleich zurück, dann reiten wir zusammen nach Potsdam; ich habe eine Vermuthung, wo sie dort sein könnte, aber es ist zu weitläufig, jetzt alles Einzelne auseinanderzusetzen. Bist Du in vier Stunden nicht wieder hier, so nehme ich an, daß Du Deine Frau noch getroffen hast. Eile, eile so schnell Du kannst.« Aber Landsfeld gehorchte nicht. Stumm und mit gebeugtem Haupte stand er neben Alicen. Seine Kraft schien völlig gebrochen. »Richard« – rief Alice ängstlich – »hörst Du nicht. Deine Frau, Lydia, wird entführt, wenn Du zögerst.« Sie rüttelte ihn am Arme. »Berger« – rief sie ihm in's Ohr. Als hätte ein Blitz vor ihm in den Boden geschlagen, so fuhr Landsfeld bei diesem Namen in die Höhe. Mit einem Ruck riß er sein erschrecktes Pferd herum, drückte tief die Sporen in seine Weiche, daß es sich zuerst hoch bäumte und sprengte dann in rasender Carriere durch den Wald. Lange sah ihm Alice nach, ein tiefer Seufzer drängte sich aus ihrer Brust empor. Dann wandte sie ihr Pferd nach der entgegengesetzten Seite und ritt langsam auf der Spur, welche die Jagdgesellschaft auf dem Schnee zurückgelassen hatte, weiter. Nach drei Stunden schon war Landsfeld zurück. Dieser Zwischenfall wäre von der übrigen Gesellschaft gar nicht bemerkt worden, wenn nicht die furchtbare Veränderung in Landsfelds Zügen und sein schweißtriefendes Pferd Zeugniß abgelegt, daß ihm irgend etwas Bedeutendes zugestoßen sein mußte. »Was Teufel ist Dir begegnet?« – fragte der Major von Maienberg. »Nichts« – erwiederte er mit harter heiserer Stimme. Ein ander Mal werde ich Dir ausführlich Rede stehen. Jetzt gieb mir ein frisches Pferd. Das meinige hält sich kaum noch auf den Füßen. Nachdem Landsfeld die Pferde gewechselt, suchte er Alice auf. »Ich bin zu spät gekommen. Sie war bereits auf den Bahnhof gefahren, wo ich gerade zur rechten Zeit anlangte, um den Zug abfahren zu sehen. – Jetzt löse Dein Versprechen, Alice.« »Ich bin bereit« – erwiederte sie, ihre Reitgerte brauchend und ihr Pferd umwendend. In der ersten halben Stunde wechselten sie kein Wort. Nur das Schnauben der galloppirenden Rosse, so wie der regelmäßige Aufschlag ihrer Hufe auf den harten, nur mit einer dünnen Schneekruste bedeckten Boden unterbrachen die sonst lautlose Stille. »Wie erfuhrst Du es?« unterbrach endlich Landsfeld das Schweigen. »Berger war gestern Abend bei mir nebst einigen andern jungen Männern, die ich zum Thee eingeladen, als gegen Mitternacht Cornelie in's Zimmer trat und Berger einen so siegestrunkenen Blick zuwarf, daß ich Verdacht schöpfte, der späterhin noch dadurch verstärkt wurde, daß Beide in eine Fensternische traten und ein eifriges, aber leises Gespräch mit einander führten. Wie ich seinen Inhalt erfahren, Richard, darüber lasse mich schweigen; nur das Eine will ich Dir agen daß ich mich diesmal in mehr als einer Rücksicht gedemüthigt, vor Cornelien, vor Berger, am meisten – vor mir selbst.« Alice zitterte, als sie diese Worte sprach, und warf einen trüben Blick zu Landsfeld hinüber. – »Nur das Eine wußte Berger nicht, wohin Lydia durch Cornelie gebracht werden sollte. Indessen habe ich, wie schon gesagt, eine Vermuthung, die mich diesmal wahrscheinlich nicht täuschen wird. Cornelie hat nämlich eine Cousine in Potsdam, die dort ein einsames Landhaus besitzt, welches ohne Zweifel jetzt leer steht. Dorthin wird sie gebracht sein. Ist dies aber der Fall, dann müssen wir die größte Vorsicht anwenden.« »Rede nicht von Vorsicht und Klugheit, Alice. Jetzt habe ich nur noch Einen Gedanken, die Nichtswürdigen in meine Gewalt zu bekommen.« »Wenn's an der Zeit ist, magst Du handeln. Willst Du aber Alarm schlagen und Deine Frau zum Stadtgespräch machen?« »Wahr, wahr!« – erwiederte Landsfeld. »Du mußt mich allein gehen lassen. Mich werden sie nicht zurückweisen, theils weil ich einmal um das Geheimniß weiß, theils weil sie mich fürchten.« Landsfeld reichte Alicen die Hand. »Du bist anders, als ich gedacht habe,« sagte er mit herzlicher, aber gebrochener Stimme. »Verzeihe mir.« Eine Thräne glänzte in seinem Auge. Alicens Hand bebte in der seinigen. »Mich frierts« – sagte sie, sie zurückziehend – »laß uns eilen, die Sterne stehen schon am Himmel.« »O Gott,« rief Landsfeld, »wenn's nur nicht zu spät ist – das arme, arme Mädchen.« »Mädchen?« – fragte Alice erstaunt. »Von wem sprichst Du?« »Von meiner Frau« – gab er rasch zur Antwort. »Es ist die gerechte Strafe für meinen Unglauben! – Und doch – es wäre fürchterlich.« »Besinne Dich, Richard, Du sprichst im Fieber.« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist rein, und unentweiht wie ein ahnungsloses Kind.« Der Ausdruck der Wahrheit, welcher in diesen Worten lag, erschütterte Alicen auf's tiefste. »Und der Grund?« – fragte sie. Er lachte bitter. – »O, der triftigste – ich wollte den Grad ihrer Weiblichkeit kennen lernen .« Jetzt verstand ihn Alice vollkommen. Nach einer kurzen Pause sagte sie mit kaltem, ruhigem Ton: »Du bist ein Narr, Richard, ich habe es Dir schon einmal gesagt.« »Ich weiß es« – erwiederte er in derselben Weise, und schweigend ritten sie weiter. 12. Kapitel Zwölftes Kapitel Als Berger so unvermuthet in das Zimmer getreten war, blieb Lydia anfangs von Schreck gelähmt ruhig auf dem Sopha sitzen. Sie glaubte in einer heillosen Täuschung befangen zu sein und fuhr unwillkührlich mit der Hand über die Augen, um das vermeintliche Schattenbild ihrer Phantasie zu verscheuchen. Aber vergeblich. Als sie die Hand von den Augen nahm, fiel wiederum ihr Blick auf die unheimliche Gestalt ihres ehemaligen Verlobten. »Ich bin's wirklich, Lydia« – sagte Berger langsam, indem er einen Schritt auf sie zutrat. Lydia stieß beim ersten Laute seiner Stimme einen leisen Schrei aus; dann sagte sie mit fremdem und kaltem Tone: »Sie haben sich wohl in der Thüre, vielleicht gar im Hause geirrt, mein Herr.« »Nichts weniger. – Wie sollte ich auch irren können, ich habe Sie ja erwartet.« Lydia erbleichte, aber noch immer war sie über die eigentliche Lage, in der sie sich befand, vollkommen unbewußt. »Ich wüßte nicht, wie Sie mich hier sollten erwartet haben. – Ich muß Sie bitten, sich zu entfernen, da ich jeden Augenblick zu meiner Freundin gerufen zu werden hoffe.« Berger lachte. »Mein Herr, was soll das Alles bedeuten?« – sagte jetzt Lydia mit wirklicher Angst. »Wo ist Frau von Rebenstock? Ich will zu ihr.« »Bemühen Sie sich nicht.« – Er hielt eine Weile, während welcher er sich zugleich an ihrer Angst und ihrer Schönheit zu weiden schien, inne. Dann trat er noch einen Schritt vor und sagte mit hochmüthigem Tone: »Hier werden Sie keine Freundin, sondern nur einen Freund sehen, der Freund bin ich.« Lydia schloß die Augen, denn die ganze Umgebung schien sich plötzlich mit ihr im Kreise zu drehen. Als sie sie wieder öffnete, war Berger verschwunden. »War es doch nur ein Traum?« – fragte sie sich. Ihre Gedanken verwirrten sich immer mehr. Ihr war, als sei sie plötzlich in ein Labyrinth gerathen, in dem sie weder Aus- noch Eingang wüßte. So saß sie eine lange Zeit, den Kopf auf die Hand gestützt, am Fenster und starrte bewegungslos auf den Fleck, wo vorhin Berger gestanden. Dann sprang sie auf und eilte nach der Thüre. Aber wie erstarrt blieb ihre Hand auf der Klinke liegen, als sie die Thüre von der andern Seite verriegelt fand. Da tauchte zum erstenmale der furchtbare Gedanke an die Wahrheit in ihr auf. – Sie war hintergangen – durch Betrug hierher gelockt – verrathen, verlassen von Allen – schutz- und macht los. Ein kurzer, aber durchdringender Schrei entfuhr ihrer beklemmten Brust, dann sank sie leblos vor der Thüre zu Boden. Einige Minuten darauf trat Cornelia ein. »Bleiben Sie zurück, Berger« – sagte sie rückwärts sprechend, als sie Lydia erblickte, indem sie den linken Arm wie abwehrend nach hinten streckte. »Was ist mit ihr geschehen?« – fragte dieser – »ist sie entflohen?« »Nein, wenigstens ihr Körper nicht.« – Ein cynisches Lächeln begleitete diese Worte. »Lassen Sie mich hinein« – rief Berger, sie auf die Seite schiebend. »Himmel, sie ist todt!« – setzte er erbleichend hinzu, als auch er Lydiens ausgestreckten Körper vor sich sah. Cornelie knieete nieder und legte ihr Ohr an die linke Seite Lydiens. Berger harrte in tiefem, angstvollem Schweigen auf ihre Antwort. Endlich erhob Cornelia ihren Kopf und sagte: »Diesmal kommen Sie mit dem bloßen Schrecken davon. Sie ist nur in Ohnmacht gefallen, doch helfen Sie mir, es ist keine Zeit zu verlieren.« Berger richtete Lydia empor und umfaßte sie mit seinen Armen. Er zitterte heftig, als er durch die von Cornelien geöffnete Thüre schreitend sie eine Treppe höher in ein anderes Zimmer trug, wo er sie auf ein Sopha niederlegte. »Jetzt entfernen Sie sich, Berger.« Er warf noch einen Blick auf die bleichen Züge seiner ehemaligen Braut und entfernte sich schweigend. Cornelie schloß die Thüre hinter ihm ab, und lösete Lydiens Kleider. Die ideale Form dieses schönen Leibes, die seelenvolle Harmonie des Ganzen, welche ihr daraus wie lebendige Poesie entgegen leuchtete, übte einen wunderbaren Eindruck auf das verhärtete Gemüth Corneliens. Sie konnte ihr Auge von diesem Anblick nicht losreißen. Da störte ein leises Klopfen sie aus ihrem tiefen Sinnen auf. »Berger« – rief sie wie erwachend aus, indem sie unwillkührlich eine Bewegung machte, als wollte sie schützend zwischen ihn und sein Opfer treten. Aber schnell besann sie sich. »Was will ich denn? Freilich, freilich. Dieser Jammermensch verdient es nicht. – Aber ist meine Rache nicht desto größer? Jetzt sollen Sie erfahren, Herr Baron, was es heißt, um das Ziel seiner Hoffnungen betrogen werden.« Schnell warf sie einen Mantel über Lydia und öffnete die Thüre. Wie erstaunte sie, als anstatt Bergers ihr Alicens hohe Gestalt entgegen trat. Ohne einen Blick auf die erbleichende Cornelia zu werfen, trat Alice zu dem Lager Lydiens, welche eben die Augen aufschlug. Sie sah die beiden Frauen verwundert an. Beide Gesichter waren ihr nicht unbekannt, aber sie konnte sich nicht entsinnen, wo sie sie schon gesehen. »Wo bin ich?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Was ist mit mir geschehen?« »Beruhigen Sie sich« – nahm Alice das Wort. »Sie sind bei Freunden.« Das Wort »Freund« rief Lydia plötzlich die kurze Scene mit Berger zurück. Sie fuhr empor und sagte leise, mit scheuem Blick umhersehend: »Ist er fort?« – Als sie Niemand außer den beiden Damen erblickte, fiel sie wieder ermattet zurück und sagte fast lächelnd und die Augen vor Ermattung schließend: »Also war es doch nur ein Traum.« Berger, der das Gespräch gehört hatte, klopfte abermals. Alicens Herz schlug hörbar, während Cornelia nach der Thüre ging. Berger trat stürmisch herein. »Jetzt oder nie gilt es zu handeln« – sagte Alice zu sich, indem sie rasch ihren Dolch zog und den Schlüssel der Thüre, durch die Berger eingetreten war, umdrehte und abzog. Ehe es die andern Beiden verhindern konnten, hatte sie eben so schnell ein Fenster geöffnet und ein paar Worte hinausgerufen. Da begriff Berger, warum es sich handelte. Wie ein Tiger sprang er auf sie zu, aber ruhig hielt sie ihren Dolch ihm entgegen. Als die beiden Schuldigen die Schritte eines Mannes auf dem Korridor hörten, da überzog eine Leichenblässe ihre Gesichter. »Fort« – rief Alice mit gebietender Stimme, als Cornelia instinktartig auf die Thüre zueilte, während Berger, zitternd vor Wuth und Angst, mitten im Zimmer wie angebannt stehen blieb. Ruhig ging Alice auf die Thüre zu, öffnete und verschloß sie hinter sich, als sie das Zimmer verlassen. »Komm, Richard« – rief sie, seine Hand im Dunkeln ergreifend. »Doch halt – schwöre mir, ihn nicht zu tödten.« »Ich werde den Schwur nicht halten können« – erwiederte er dumpf. »Du wirst es, wenn Du willst. Schwöre!« »Ich schwöre es Dir.« »Gut.« Es war in der That die höchste Zeit. Gegen Alicens Erwartung wollte Berger die wenigen Augenblicke, aus einer Art von Verzweiflung und im Bewußtsein, daß die nächsten Minuten ihm den Tod bringen konnten, nützen. – Er trat vor Lydia und sah diese mit verwilderten Blicken an. »Was wollen Sie von mir?« – fragte sie erbebend. »Dich selbst. – Weißt Du nicht mehr, wie Du mich von Dir gestoßen, als ich zu Deinen Füßen um Verzeihung flehte, in einen Abgrund. Du hast mein Leben vergiftet. – So will ich das Deinige vergiften.« »Willst Du mich morden?« – Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Morden?« – sagte Berger lachend. »Nein. Ich will Dich nicht morden. Mein sollst Du sein, ganz mein!« »Mein sein, ganz mein« – wiederholte sie mechanisch; sie dachte an ihre Brautnacht und an die Worte, welche damals Richard zu ihr gesprochen. Wie damals die rosenfarbene Ampel, so warf jetzt der Mond ein magisches Licht durch das Zimmer. Ihre Sinne verwirrten sich. Convulsivisch hob sich ihr Busen, fieberhaft glänzte ihr Gesicht. Sie war dem Wahnsinn nahe. Als Berger sich über sie beugte – fühlte er eine starke Hand auf seine Schulter, welche ihn rücklings in eine Ecke schleuderte. »Verruchter« – schrie Landsfeld – »Du hast es gewagt –« Er konnte nicht mehr sprechen. Seine keuchende Brust rang vergeblich nach einem Laute. Endlich rief er mit donnernder Stimme: »Hinaus, wenn ich Dich nicht ermorden soll!« Berger gehorchte. Die Frauen folgten ihm. »Ich habe noch eine Schuld an Dich abzutragen, Arthur« sagte Alice, »deshalb magst Du gehen, obgleich ich das Versprechen gegeben, Dich nicht fortzulassen. Jetzt sind wir quitt. Lebe wohl.« Sie schloß ihm die Thüre zum Corridor auf. Er stürzte hinaus. Landsfeld war, nachdem Berger das Zimmer verlassen, schweigend und todesmüde vor dem Lager Lydiens niedergesunken, die beim ersten Laute seiner Stimme aus ihrer unnatürlichen Scheinohnmacht in wirkliche Bewußtlosigkeit zurückgefallen war. Nach einer langen Pause hob er den Kopf empor; ein unaussprechlicher Schmerz lag in seinen Zügen. Mit Mühe erhob er sich und setzte sich neben sie. »Lydia« – sagte er mit sanfter Stimme. »Geliebte, erwache!« Wie durch ein Zauberwort öffnete sie ihr Auge. Mit einem lauten Schrei sprang sie auf an seine Brust und umschlang ihn krampfhaft. »Ich wußte ja, Du konntest mich nicht verlassen, Richard« – sagte sie endlich mit einem wunderbaren Lächeln auf den bleichen Lippen. Ein langer tiefer Seufzer hob Landsfelds Brust. »So kam ich noch zur rechten Zeit« – sagte er zu sich selbst, indem er aufstand und die Thüre öffnete. »Alice! – Alice – ich danke Dir.« Ein Thränenstrom entstürzte seinen Augen. Alice zitterte. »Laß es gut sein, Richard. – – Führe mich jetzt zu ihr.« – Lydia reichte ihr weinend die Hand. »Wo ist Cornelia?« – fragte er. »Auf ihrem Zimmer, es ist das letzte am Corridor.« Als er die Thüre öffnete und ins Zimmer trat, wurde er durch den Anblick, der sich ihm darbot, in Verwunderung gesetzt. Cornelia saß auf dem Sopha, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, in dem sie aufmerksam zu lesen schien. »Ihr Plan ist diesmal gescheitert, verehrte Freundin« – sagte er mit der kalten Ironie, welche ihm gegen Cornelia geläufig war. »Diesmal« – erwiederte sie lakonisch. »Hätten Sie Lust, einige Jahre die innere Einrichtung eines jener wohlthätigen Staatsinstitute kennen zu lernen, die man im gewöhnlichen Leben Zucht-, respektive Spinnhäuser nennt?« »Für den Fall, daß Sie, verehrtester Freund, Sehnsucht danach haben, Ihre Frau Gemahlin an den Pranger der öffentlichen Meinung zu stellen, mit Vergnügen.« Landsfeld biß sich auf die Lippen. »Was hat Sie zu dieser That veranlaßt?« – fragte er ernst. »Zuerst die reine Idee selbst. Sie müssen gestehen, daß sie zu pikant ist, um nicht zur Ausführung zu reizen. Dann – doch wozu soll ich Sie mit meinen Gründen unterhalten?« »Es wäre mir doch interessant.« »Wenn ich Ihnen wirklich damit ein Vergnügen mache, von Herzen gern. Also, wenn Sie es denn wissen wollen« – sie stand auf und sagte, ihm starr in's Gesicht blickend, mit jenem Ausdruck der Wuth, den sie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Landsfeld im Bade gezeigt hatte, leise: »Rache!« »Gegen wen, wenn ich fragen darf?« – sagte er kalt. »Gegen Sie; oder halten Sie mich etwa für so bornirt, um jene Fabel zu glauben, die Sie mir in Pr--- t erzählten? so albern, um nicht zu wissen, daß Sie, Sie allein Schattenfrey von meinem Wege in Italien entfernten?« »Sie irren sich, verehrte Freundin« – erwiederte er mit derselben kalten Ruhe. »Ich war es nicht. Hab' ich nicht mit Schattenfrey Sie selbst in Venedig aufgesucht?« »Ja, als Sie wußten, daß ich es bereits verlassen.« »Sie sind in einem beklagenswerthen Irrthum, Cornelia.« »Beklagenswerth? für Sie, das geb' ich zu, und es freut mich, daß Sie das erkennen; aber für mich? daß ich nicht wüßte.« Er war im Begriff, noch etwas zu sagen; indeß besann er sich und wandte sich nach der Thüre. »Sie können das Haus verlassen, Cornelia.« »Ich weiß es, aber ich fühle keine Lust dazu. Dagegen aber muß ich Sie ersuchen, es so bald als möglich zu verlassen. Denn ich habe hier über meine Gesellschaft zu entscheiden.« »Das Weib besitzt eine göttliche Unverschämtheit« – sagte er halblaut und ging hinaus. Als er zu Lydia kam, fand er sie bereits völlig angekleidet neben Alicen auf dem Sopha sitzen. »Bist Du stark genug, mein theures Kind, um die Fahrt nach Hause zu ertragen?« »Zu Allem bin ich stark genug, nur nicht um länger hier zu bleiben.« »So will ich Alles in Bereitschaft setzen. Wo ist Gertrud?« »Ich weiß es nicht.« Alice ging hinaus und kam bald mit ihr zurück. Sei hatte ruhig wartend in einem der unteren Zimmer gesessen, verwundert, daß sich Niemand um sie bekümmerte. Sie wurde sogleich nach einem Wagen geschickt. In einer Stunde waren alle Vier in Berlin. Hier trennte sich Alice von ihnen, weil sie, wie sie sagte, zu angegriffen sei, um nicht der Ruhe zu bedürfen. Landsfeld führte Lydia sogleich in ihr Schlafzimmer, indem er Gertrud beauftragte, sie bei der Forsträthin zu entschuldigen. »Wie ist Dir, meine Lydia?« – fragte er liebevoll, indem er sich neben sie auf das Sopha setzte. »Richard, es war ein Augenblick, wo ich fühlte, daß ich dem Wahnsinn nahe sei. – Jetzt ist mir besser. Ich bin ruhig sogar, denn ich habe Dich wieder. Das Erlebte ist nur noch wie ein Traum, oder wie eine lange Vergangenheit in meinem Gedächtniß. Ich bin nur verwirrt und abgespannt, aber nicht unwohl. – Morgen wirst Du mir Manches erklären müssen, Richard; aber heute nicht – heute nicht mehr.« Landsfeld beobachtete sie mit ängstlichem Schweigen. Als Gertrud kam, stand er auf. »Gute Nacht, theure Lydia.« – Sie reichte ihm ihren Mund, auf den er einen herzlichen Kuß drückte. »Was soll ich ihr zur Erklärung sagen?« – fragte er sich, als er allein auf seinem Zimmer war, in dem er mit langen Schritten auf- und abging. »Sie wird mich nicht verstehen. – Sie muß Zeit haben, sich zu erholen.« Ein Klopfen störte ihn in seinen Reflexionen. Es war Gertrud. »Was giebt's?« – fragte er erschreckend über den Ausdruck von Angst in ihren Zügen. »Ist meine Frau unwohler geworden?« »O nein, gnädiger Herr. – Aber die gnädige Frau Mutter –« »Meine Schwiegermutter? – Was ist mit ihr?« »Sie wird vielleicht kaum den morgenden Tag erleben.« »Das wolle der Himmel nicht« – sagte Landsfeld ernst. »Ihre Angst wird wohl die Gefahr etwas übertreiben, Gertrud.« »Ach nein, gnädiger Herr« – erwiederte die Alte, sich die Thränen mit der Schürze trocknend. »Der Herr Doktor haben es auch gesagt. Er ist noch bei ihr. Sprechen Sie selbst mit ihm.« »Das würde das Maaß von Lydiens Leiden voll machen« – sagte Landsfeld laut zu sich selbst sprechend. »Bitten Sie den Herrn Doktor auf einige Augenblicke zu mir zu kommen« – sagte er zu ihr. »Ist wirklich Gefahr, lieber Freund« – sagte er zu diesem – »sprechen Sie ohne Hehl.« »Ja, es ist Gefahr und sehr große. Sie müssen sich auf Alles gefaßt machen. Eine Krisis, die ich schon lange befürchtet, ist eingetreten. Es kann sehr schnell zu Ende sein.« »Ich danke Ihnen. Gehen Sie, ich bitte dringend, zur Kranken zurück. Bieten Sie Alles auf, was in Ihren Kräften steht. Das Leben meiner Frau steht mit auf dem Spiele. Denken Sie daran. Ich werde Ihnen morgen erklären, was ich damit sagen will.« Es gehörte eine körperlich wie geistig so riesenkräftige Natur dazu, wie sie Landsfeld besaß, um den ungeheuren Anstrengungen der letzten 24 Stunden nicht schon erlegen zu sein. Aber jetzt war auch seine Kraft erschöpft. Bis zum Tode ermattet, war er nicht mehr im Stande, selbst die eigene kritische Lage, den ganzen Umfang der Gefahren, die sein ganzes Lebensglück in diesem Augenblick bedrohten, zu ermessen. Er sank unausgekleidet auf das Sopha, und verfiel in einen tiefen, todtähnlichen Schlaf, aus dem ihn erst gegen 6 Uhr ein lautes Pochen an seiner Thüre er weckte. Karl trat ein. – »Gnädiger Herr – erschrecken Sie nicht – es ist ein Unglück –« Landsfeld bedeckte sich das Gesicht mit den Händen. »Die gnädige Frau Mutter –« »Ist todt?« Karl antwortete nicht, aber er trat zu seinem Herrn und küßte seine Hand. »Sie müssen nicht den Muth verlieren, gnädiger Herr; wenn Sie ihn verlieren, wer sollte ihn dann noch behalten?« Diese einfachen Worte enthielten eine Wahrheit, die ihren Eindruck auf Landsfeld nicht verfehlte. Er drückte seinem treuen Diener die Hand und sprang auf. – Als er in Lydiens Schlafgemach und an ihr Lager trat, sah sie ihn mit großen Augen an, ohne etwas auf seinen Morgengruß zu erwiedern. Auf ihrem Gesicht flammte eine brennende Röthe. »Was ist Dir, Lydia?« – fragte er, von neuen Ahnungen erschreckt. »Nicht wahr« – erwiederte diese – »Therese wird sich freuen, wenn ich sie besuche. Warum soll ich auch nicht? Richard hat mich selbst dazu aufgefordert.« Sprachlos starrte Landsfeld auf die Phantasirende. Dann verließ er das Zimmer, um den Arzt aufzusuchen, als dieser ihm auf dem Corridor begegnete. »Sie wissen es schon, Herr Baron?« – fragte er. »Ich weiß es« – sagte Landsfeld tonlos. »Aber kommen Sie. Ich glaube meine Frau bedarf jetzt mehr, als irgend ein Anderer Ihrer Hülfe.« Sie traten zusammen an Lydiens Bett. Schweigend legte der Arzt den Finger auf ihren Puls. »Es ist ein nervöses Fieber« – sagte er endlich. »Vorläufig noch keine Gefahr, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten.« 13. Kapitel Dreizehntes Kapitel Wieder waren mehrere Monate vergangen. Lydia hatte indeß die langwierige Krankheit überstanden, welche durch die Nachricht von dem Tode ihrer Mutter, der ihr nicht verheimlicht werden konnte, eine gefährliche Höhe erreicht hatte. Der Winter hatte bereits den milden Lüften des erwachenden Frühlings weichen müssen. Draußen regte und bewegte sich Alles in neuer Frische und jugendlicher Kraft, während auf den Straßen Berlins die weiße reinliche Schneedecke mit ihrem Schlittengeläute und geputzten Pferden durch einen dicken Schlammüberzug, in dem sich nur bescheidene Droschken und klappernde Hundekarren hineinwagten, ersetzt worden war. Als Lydia sich stark genug fühlte, bezog Landsfeld auf Anrathen des Arztes mit seiner jungen Gemahlin das reizende Sommerhaus in Schönberg, das sie am Ende des vorigen Sommers mit ihrer Mutter bewohnt hatte. Die frische Luft, so wie der wohlthätige Einfluß, den die Natur besonders im beginnenden Frühlinge auf jedes kranke Gemüth und jeden leidenden Körper ausübt, stärkten auch Lydia sichtlich von Tage zu Tage. Zwar kostete es sie noch immer einen Kampf, wenn sie das früher von ihrer Mutter bewohnte Zimmer betrat, aber ihre Thränen flossen sanfter und ihr Schmerz verlor allmählig an Herbe und Schärfe. Landsfeld widmete sich ihr ganz. Seit er die tiefe Reinheit ihres Gemüths ganz kennen gelernt, weihte er ihr seine volle Liebe. Ueber jene Scene in Potsdam hatte er noch nicht mit ihr gesprochen, theils weil er glaubte, daß die Aufregung, in die sie dadurch nothwendigerweise gesetzt würde, bei ihrem noch nicht ganz befestigten Gesundheitszustande gefährlich sein könnte, theils weil er voraussah, daß die Erklärung jener Auftritte andere Erklärungen aus seinem eigenen Leben und über seine eigene Stellung zu ihr herbeiführen müßten, an die er jetzt nur mit einem innern Zagen dachte. Denn er fühlte wohl, daß dieser Punkt ein Wendepunkt in seinem Verhältniß zu Lydia, und folglich auch in ihrem beiderseitigen Leben werden mußte. Vielleicht hätte er noch länger geschwiegen, obwohl er fühlte, daß jede Verzögerung hierin die Schwierigkeit, diesen von ihn selbst geschürzten Knoten zu lösen, nur vergrößerte, ja am Ende eine friedliche Lösung desselben gar unmöglich machte, wenn nicht ein Umstand eingetreten wäre, der ihn halb wider Willen dazu zwang, den Versuch der Lösung zu wagen, wenn er der Gefahr eines gewaltsamen Zerreißens vorbeugen wollte. Gegen Ende des Maimonats war ihre Freundin Therese in Begleitung ihres Gemahls von Potsdam zum Besuche herübergekommen, um sich nach langer Trennung persönlich von dem Befinden ihrer Jugendfreundin zu überzeugen. Es war natürlich, daß Lydia jener unglücklichen Fahrt nach Potsdam gegen Niemand, am wenigsten aber gegen die schuldlose Theilnehmerin an jenem Complott, die leiseste Erwähnung gethan hatte, und auch fest entschlossen war, darüber zu schweigen. Indessen konnte sie die tiefe Aufregung, in die sie durch den Anblick Theresens gesetzt wurde, weil ihr plötzlich jene Scene lebendiger in die Erinnerung zurückkehrte, vor den Blicken der Freundin schwer verbergen. Therese deutete aber den halb traurigen, halb forschenden Blick, den Lydia auf sie warf, ganz anders. Sie erwartete in zwei Monaten ihre Niederkunft und glaubte daher den schmerzlichen Ausdruck im Auge Lydiens aus dem Umstande erklären zu müssen, daß sie selbst sich dieser Hoffnung noch nicht hingeben köne. Mit jener offnen, fast rücksichtslosen Herzlichkeit, die bei gutmüthigen Naturen nicht selten mit einem Mangel an Zartgefühl verbunden ist, suchte sie daher, sobald die beiden Frauen allein waren, das Gespräch auf diesen Gegenstand hinzulenken, um einen in ihrem Sinne wohlgemeinten Trost zu spenden. Da Lydia nicht blos von ganz anderen Gedanken erfüllt war, sondern auch jene Veränderung an ihrer Freundin, wie diese mit Bestimmtheit voraussetzte, gar nicht bemerkt hatte, so konnte sie anfangs ihre Andeutungen gar nicht verstehen, trotzdem, daß sie ziemlich unverholen und ungeschminkt waren. Lydiens Erstaunen rief Seitens Theresens eine nicht minder große Veränderung hervor, bis die Letztere endlich, nachdem alle ihre Mühe, sich deutlich zu machen, an der vollkommenen Unwissenheit Lydiens gescheitert war, begriff, daß das, was sie ehemals für bloße »Prüderie« – gehalten hatte, wirkliche baare Wahrheit war. Ihr Schreck, ja ihr Zorn gegen Landsfeld erreichte, als ihr über das eigentliche Verhältniß zwischen den Gatten kein Zweifel mehr übrig blieb, einen so hohen Grad, daß sie, jede Rücksicht vergessend, nicht nur in laute Vorwürfe gegen ihn ausbrach, die Lydia zuerst mit Befremdung anhörte, dann aber mit Entrüstung zurückwies, weil sie sich selbst in der Seele ihres Gemahls beleidigt und gekränkt fühlte, sondern auch, um ihre Heftigkeit selbst zu rechtfertigen, es unternahm, in kurzen, aber nicht mißzuverstehenden Worten den Schleier herabzureißen, der bisher Lydiens kindlichen Sinn bedeckt hatte. Aber Lydia war weit entfernt davon, Alles, was sie eben gehört, für Wahrheit zu halten, theils weil die Weise, in der es ihr vorgestellt wurde, ihr reines Gefühl zu sehr beleidigte, theils weil, wäre es ihr auch in anderer zarterer Weise dargelegt worden, sie nie hätte glauben können, daß Richard, ihr Richard, dem sie sich mit so grenzenlosem Vertrauen hingegeben, wirklich so hätte handeln können, wie es ihre indiskrete Freundin sie glauben machen wollte. Mit vor edlem Zorn hochroth gefärbten Wangen sprang sie von der Bank auf, auf der sie neben Theresen auf dem Balkon gesessen hatte. »Schweige, ich bitte Dich ernstlich und zum letzten Male« – rief sie. »Willst Du, daß unsere Freundschaft bestehen soll, so darf ich nie wieder ein derartiges Wort von Dir hören, Therese!« »Armes verblendetes Kind« – entgegnete diese, sie mitleidsvoll betrachtend. – »Doch ich will schweigen, wenn Du es verlangst. Denn Du hast vielleicht jetzt mehr als je meine Freundschaft nöthig. Aber –« In diesem Augenblicke kehrten die Männer aus dem Garten zurück. Als Landsfeld näher getreten war, bemerkte er die tiefe Verwirrung in Lydiens Zügen. Wie von einer Ahnung der Wahrheit durchbebt, erbleichte er. Ein zweiter Blick auf Therese sagte ihm deutlich, daß er sich nicht geirrt. Seine eigene Unvorsichtigkeit, die beiden Frauen allein zu lassen, und die indiskrete Schwatzhaftigkeit Theresens verwünschend, ging er auf Lydia zu, die ihn mit starren, fast zweifelnden Blicken ansah. »Was fehlt Dir, Lydia?« – fragte er, seine Angst niederkämpfend, indem er ihre Hand ergriff, die eiskalt war. »Laß uns hineingehen, Richard« – sagte sie zitternd. »Es wird schon kühl draußen.« Es konnte hierin eine indirekte Mahnung an ihre Gäste liegen, daß es Zeit sei, sich zu entfernen. Wenigstens wurden die Worte Lydiens so verstanden. Denn Therese brach augenblicklich auf, um nach Hause zurückzukehren. Als die beiden Gatten allein waren, herrschte eine lange Pause. Lydia rang vergeblich nach Worten, in denen sie ihr Gefühl hätte ausdrücken können; und Landsfeld wagte es nicht, diesem Gefühle, dessen Grund und Wesen er wohl kannte, Worte zu geben, aus Furcht, daß dadurch Lydiens Schmerz nur vergrößert werden würde, wenn sie sähe, wie gut sie verstanden werde. Denn wurde sie verstanden, so hatte auch ihre Freundin Recht und dann – sie schwindelte vor dem Abgrunde zurück, der bei dem Gedanken, Landsfeld könnte sich nicht aus Liebe mit ihr verbunden haben, vor ihren Füßen aufgähnte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, was wie ein Alp auf ihm lastete, sagte endlich Landsfeld: »Meine theure Lydia, ich glaube, es wird gut sein, wenn Du Dich bald zur Ruhe legst, Du scheinst sehr angegriffen. Ob es der ungewöhnlich lange Besuch war, der Dich so aufgeregt, oder ob Dich etwas Anderes beunruhigt hat, darüber wollen wir morgen sprechen.« Landsfeld stand bei diesen Worten auf und rief Gertrud, der Lydia auch sogleich fast willenlos in ihr Schlafgemach folgte. Landsfeld ging mit gesenktem Haupte auf und nieder. Bald wollte er Theresen nacheilen, um Sie zu fragen, was sie mit Lydia gesprochen, bald legte er die Hand auf den Griff der Thüre, die zu Lydiens Zimmer führte, um sie aus dieser tiefen Niedergeschlagenheit durch die Versicherung seiner unwandelbaren Liebe herauszureißen und in einer vollständigen innigen Versöhnung jeden Nebel, der sich am Horizonte ihrer gegenseitigen Liebe zu lagern drohte, zu verscheuchen, und die Morgenröthe der vollen ganzen Einheit wahrhafter Gattenliebe heraufzuführen. – Aber dann dachte er sich wieder, wie Lydiens zarte Organisation von langer Krankheit und vielfacher Gemüthsbewegung ohnehin in ihren Grundfesten erschüttert, den plötzlichen Ausbruch voller Leidenschaftlichkeit nicht würde ertragen können, und er trat von der Thüre zurück und schritt von Neuem, sinnend über das Benehmen, das er nunmehr zu beobachten habe, auf und nieder. Endlich glaubte er einen Mittelweg gefunden zu haben. Er konnte das Bewußtsein, kein beruhigendes Wort gesprochen zu haben, nicht aushalten. Ein solches wollte er, wie der Augenblick es ihm eingeben würde, noch sagen, und das Uebrige auf einen geeigneteren Zeitpunkt verschieben. Als er in Lydiens Zimmer trat, fand er sie, den Kopf in die Hand gestützt, nachdenklich auf dem Sopha sitzen. Schweigend setzte er sich neben sie und ergriff ihre Hand. »Nicht wahr?« – sagte er – »Du hast Vertrauen zu mir, Du glaubst an meine Liebe?« »Gewiß, gewiß – Richard« – rief sie, ihn umschlingend. »Den Glauben kann mir Niemand rauben, als Du selbst.« Beruhigter fuhr er fort: »Und hat ihn Dir Jemand zu rauben versucht, Lydia?« »Sage mir nur Eins, mein Richard – ich frage nur, um mit dem einen Worte, das Du mir sagen wirst, alle die Angst, die mich durchzittert, entschwinden zu machen. Richard, bin ich Deine Gattin, Dein Weib im vollsten Sinne des Worts?« »Wie kommst Du auf diese Frage?« – fragte er ausweichend. Sie schüttelte den Kopf, und verbarg das Gesicht in die Hände. Landsfeld wünschte der Wiederholung jener Frage zuvor zu kommen, da er begreiflicherweise sie weder bejahen, noch verneinen konnte, weil er in dem einen Falle die Schranke zu einer ewigen gemacht, im andern ihr mit einem Worte den Glauben an ihn zerstört hätte. Er umfaßte sie mit tiefer Innigkeit und preßte einen heißen Kuß auf ihre Lippen. »Lydia, konntest Du je an meiner Liebe zweifeln?« »Verzeih, verzeih, Richard!« »Als ich Dich kennen lernte, Lydia« – fuhr er fort, da er jetzt die Unmöglichkeit einsah, die Erklärung, welche er ihr nothwendigerweise einmal geben mußte, aufzuschieben, um jenen Zweifel ganz zu ersticken. – »Als ich Dich kennen lernte, hatte ich den Glauben an weibliche Reinheit und Liebe verloren. Ich war in meinen liebsten Hoffnungen getäuscht, in meinen theuersten Wünschen betrogen und alle meine Ideale hatten sich als leere Schattenbilder erwiesen. Da sah ich Dich – und – verzeih' mir, denn jene Zeit des Zweifels liegt jetzt hinter mir – wollte mich überreden, daß auch Du vielleicht nur ein Scheinideal seiest, das mich in neue Träume von Glück einzuwiegen mir erschienen war. Da schwur ich, Lydia, nicht eher an Dich zu glauben, nicht eher meiner bereits erwachten Neigung zu Dir mich ganz zu überlassen, als bis ich eine feste unumstößliche Ueberzeugung von der Wirklichkeit, von der Wahrheit Deiner idealen Erscheinung gewonnen hätte.« Er schwieg. Lydia hörte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, denn Landsfeld hatte sich über sein Inneres, über die Kämpfe, die früher darin getobt hatten, nie gegen sie so aufrichtig und klar geäußert. »Du warst wohl recht unglücklich damals, Richard« – sagte sie liebevoll. »Sehr unglücklich, ja, das war ich – ja, ich bin es theilweise noch. Denn – mißdeute mich nicht, – ich habe ein Unrecht gegen Dich, oder vielmehr gegen mich zu büßen; dies Unrecht war, daß ich mich gegen jene Ueberzeugung zu lange gesträubt habe, daß ich fast aus Furcht, mein Ideal wieder zu verlieren, dagegen angekämpft habe; dies Unrecht lastet auf meiner Seele und läßt mich noch heute mein Glück nicht vollständig genießen.« Das schwere Wort war gesprochen. Ob es verstanden war, das war eine andere Frage. Seine angstvollen Blicke ruhten auf dem Gesicht Lydiens, die über den Sinn seiner Rede nachzudenken schien. »Aber als Du nun jene Ueberzeugung erlangt hattest, Richard, da sträubtest Du Dich doch nicht mehr gegen sie? Wie hättest Du sonst Dich entschließen können, Dich mit mir zu verbinden, wenn nicht jene Ueberzeugung in Dir schon feste Wurzel geschlagen?« Diese, den eigentlichen Kern der Immoralität ihrer bisherigen Ehe berührende Reflexion, welche unmittelbar aus Lydiens reinem natürlichen Gefühl stammte, machte Landsfeld zittern. Gerade diesen Punkt war er zu verdecken bemüht gewesen, und nun wurde er mit Gewalt zur Entscheidung getrieben. Jetzt blieb ihr nur noch ein Ausweg, um zum Ziele zu kommen, und das war gerade jener, den er am meisten gescheut hatte: der Weg der Leidenschaft. »Lydia« – rief er, aus tiefster Brust aufathmend, indem er ihren Kopf zwischen seine Hände nahm und ihr lange und tief in das blaue Auge schaute. Seine Stimme versagte ihm fast, als er, halb vor Verzweiflung halb aus wirklicher, tiefer, überströmender Liebe, endlich in die Worte ausbrach: »Du weißt nicht, wie unendlich, wie unsagbar meine Liebe zu Dir ist.« Der zitternde Ton, mit dem diese Worte gesprochen wurden, setzte ihre Seele in eine Schwingung, der ihr ganzes Wesen zu folgen gezwungen war; sie stieß einen leisen aber tiefen Seufzer aus, in dem sich ihre ganze noch nicht überwundene Beklemmung verhauchte. Ihr schöner Kopf sank auf die Sophalehne herab und ein überaus seelenvolles Lächeln umspielte ihren reizenden Mund. Landsfeld beugte sich über sie und küßte ihre Augen, die sie geschlossen, als wolle sie einen entzückenden Traum, in den sie durch Landsfelds Wort und Blick versenkt war, festhalten. Ihre Wangen, noch kurz zuvor so bleich, färbten sich unter seinen Küssen tiefer und tiefer, die ein ungekanntes verzehrendes Feuer in ihrer Brust entzündeten. Landsfeld selbst war von seiner Empfindung übermannt; er fühlte es, daß der Augenblick kommen werde, in dem seine Willenskraft vor der Gewalt der Leidenschaft werde ohnmächtig zusammensinken. Zagend davor, und sich doch danach sehnend, schwankte er einige Minuten zwischen glühendem Verlangen und zitterndem Bangen hin und her, indem er, bald kühner werdend, Lydiens sich an ihn schmiegende Gestalt mit festen Banden umstrickte, bald, wie vor seiner eigenen Kühnheit erbebend, die sie umschlingenden Arme sinken ließ. Als er aber sah, daß in Lydiens Seele bereits ein Funke von der Glut, die wie ein Lavastrom durch seine Adern rollte, gefallen war, der, weiter und weiter glimmend, bald in leuchtende Flammen ausbrechen mußte, so setzte er, jede Bangigkeit und Unentschiedenheit vergessend, dem tosenden Strome seiner Leidenschaft keinen Damm mehr entgegen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – In diesem Augenblicke ging in Lydiens Innern eine ungeheure, ihr ganzes Wesen bis in die kleinsten Empfindungsfasern tief erschütternde Umwandlung vor, indem plötzlich die Erinnerung an jene furchtbare Scene mit Berger in ihr auftauchte. Ein Schauder durchrieselte wie Todesfrösteln ihre Glieder, als der Gedanke in ihr lebendig wurde, daß – Therese Recht gehabt habe. Ihr Herz durchzuckte der tiefe brennende Schmerz einer unendlichen Trostlosigkeit, die sie in einem Nu an den Rand der Verzweiflung schleuderte. »Er hat Dich nicht geliebt« – so tönte es wieder und immer wieder in ihrer Seele. »Du bist Ihm nichts gewesen als eine Puppe, mit der er gespielt, als ein Instrument, mit dem er kalte und berechnende Versuche angestellt.« Sie fühlte sich erniedrigt, gedemüthigt, bis im innersten Lebenskeime verwundet, und das unnennbare Weh' betrogner Liebe zog wie Ahnung des Todes durch ihre Brust. Hätte sie die physische Kraft gehabt, so würde sie den im Taumel schrankenloser Leidenschaft Fortgerissenen von sich gestoßen haben. Aber sie vermochte es nicht. Ihr weiblicher Zartsinn war empört über seine Angriffe, ihr edler Stolz krümmte sich wie ein ohnmächtiger Wurm unter der grausamen Hand, die den Schleier von dem Allerheiligsten ihrer Jungfräulichkeit zerriß: aber sie vermochte es nicht, ihm den geringsten Widerstand zu leisten. Wie der Ertrinkende im Todeskampfe vergeblich die Hände emporstreckt, so lange er noch Hoffnung auf Rettung hat, aber endlich eine verzweiflungsvolle Resignation sich seiner bemächtigt, wenn die Gewißheit, keinen Boden mehr unter seinen Füßen und keinen Strohhalm zum Anklammern zu haben, seinen Geist überwältigt und vernichtet, so kämpfte sich auch in Lydiens Seele der ungeheure Kampf zwischen der Vernichtung ihres eigenen Selbst und der Machtlosigkeit eines verzweiflungsvollen Widerstrebens gegen das blinde Verlangen ungezähmter Leidenschaft in ihr durch – bis zum Wahnsinn. Hätte sie widerstehen können, wäre ihr Stolz hinlänglich durch ihre physische Kraft unterstützt worden, um seine Empörung wenn auch nur durch den Versuch eines Widerstandes bethätigen zu können, dann würde ihre verrathene Liebe sie vielleicht einem frühen Tode zugeführt haben. Aber da Landsfeld, theils weil er selbst zu sehr durch eigene Leidenschaft verblendet war, theils weil Lydia seinem Ungestüm nicht den geringsten Widerstand entgegen setzte, besonders aber durch ihre anfängliche Hingebung getäuscht jene entsetzliche Umwälzung in ihr gar nicht bemerkte, vielmehr in ihrer jetzigen, an Apathie grenzenden Ermattung nur den Widerschein seines Entzückens zu sehen glaubte: Jetzt mußte ihre ganze geistige Existenz aus ihren Fugen gehen. Es war ein furchtbarer Augenblick. – Ein vierfacher Mord: – an ihrer Unschuld – ihrer Liebe – ihrem Stolze – ihrer Vernunft . Die vier Elemente ihrer innern Welt, sie zerfielen mit einem Schlage in Trümmer und der Genius ihrer reinen Seele löschte klagend die Fackel in seinen Thränen. Als Landsfeld aus seinem Rausche erwachend, den Kopf erhob und sein liebender Blick den ihrigen suchte, war er durch die fahle Blässe und ausdruckslose Schlaffheit ihrer Züge überrascht. Ihr Auge war weit geöffnet, aber ohne lebendigen Glanz, ohne jene Bestimmtheit der Richtung und Sehweite, welche man Blick nennt, starrte es empfindungs- und gedankenlos in ein leeres Nichts. – »Lydia« – sagte er sanft und innig. Sie hörte nicht – »Lydia« wiederholte er ängstlich flehend. – Vergebens. Dieser Ton, der sie einst aus der tiefen Bewußtlosigkeit geweckt, in welche sie Angst und Abscheu in den Armen Bergers versenkt hatte, er hatte seine Zauberkraft auf immer für sie verloren. Landsfeld sprang auf – sie rührte sich nicht. Da zuckte plötzlich der Gedanke ihres Todes durch seine Seele. »Ruhig« – sagte er leise zu sich selbst – »sie wird erwachen, sie muß erwachen – solch überteuflischer Gedanke kann in keiner Hölle erfunden werden.« Er stand vor ihr, den kalten, sinnenden Blick auf sie gerichtet. Es war einer jener Augenblicke, in denen der Gedanke an die Möglichkeit einer ungeheuren That jede Empfindung, jede Bewegung des Innern in der kalten Resignation absoluter Verzweiflung auslöscht. Er durfte nur die Hand auf das Herz legen, um sich davon zu überzeugen, ob sie lebe. Aber er that es nicht. Er klammerte sich an die in jeder Möglichkeit liegende Hoffnung vom Gegentheil an, denn er fühlte, daß er jetzt nicht die Kraft habe, diese Hoffnung vor seinen Augen in Nebel zerfließen zu sehen. »Schrecklich wär's« – fügte er mit furchtbarem Hohn gegen sich selbst nach einer Pause hinzu, »in dem Moment, wo das Glück beginnen soll, den Tod im Arm zu halten. Ich will Wahrheit« – schrie er, den Arm ausstreckend – sein Finger zuckte – mit abgewandtem Gesicht suchte er die Stelle des Herzens – – – Da erhob sich Lydia. Als hätte er einen Geist erblickt, so trat Landsfeld einen Schritt zurück, denn Lydia war aufgestanden und schritt, ohne Landsfeld anzublicken, auf die Thüre zu. – »Lydia« – rief er. Sie zuckte einen Augenblick zusammen, aber sie ging weiter. Da eilte er ihr nach und umschlang sie mit seinen Armen. Ein herzzerreißender dumpfer Schrei drang aus ihrer Brust und lös'te sich endlich, als Landsfeld sie noch heftiger umfaßte, in lautes Schluchzen auf. »Mutter, Mutter« – rief sie mit einer Stimme, die die höchste Angst ausdrückte – »Hülfe« – Gertrud, die den ängstlichen Hülferuf gehört hatte, eilte vor Schrecken bleich herzu. Mit übermenschlicher Kraft riß sich Lydia aus der Umschlingung Landsfelds und stürzte in die Arme ihrer alten Amme. »Mutter« – rief sie weinend, indem sie ihr Gesicht an Gertruds Brust versteckte – »rette, rette mich vor ihm!« Jetzt faßte Landsfeld sie mit starken Armen und trug sie auf ihr Lager zurück. Es wurde sofort ein Wagen nach der Stadt geschickt, um den Arzt herauszuholen. Eine Stunde wohl hatte Landsfeld am Bette Lydiens gesessen und jeder Bewegung, jedem Athemzuge der Unglücklichen gelauscht. Was in dieser Stunde in seiner Seele vorging, welche Angst, welche Ahnungen in ihm stürmten, kann man nicht in Worten ausdrücken. Kurz vor der Ankunft des Arztes war Lydia aus ihrer Ohnmacht erwacht. Mit aufmerksamen, aber wirren Blicken betrachtete sie den noch immer in derselben Stellung neben ihr Sitzenden, dann stieß sie abermals jenen dumpfen, erschütternden Schrei aus. Sie wollte aufspringen, und verlangte, als sie von Landsfeld mit Aufbietung aller seiner Kräfte daran verhindert wurde – immer wieder nach ihrer Mutter. Während eines solchen Kampfes war es, als der Arzt eintrat. Sobald sie ihn erblickt hatte, stürzte sie auf ihn zu, und rief ihm flüsternd und geheimnißvoll ins Ohr: » Er hat mich nie geliebt. – Ich bin entehrt .« Landsfeld verbarg sein bleiches Gesicht in die Hände, und sank verzweiflungsvoll auf einen Stuhl. Ein sanfter Druck auf der Schulter weckte ihn aus seiner Betäubung. »Sie armer Mann!« – sagte der Arzt, »Ihre Frau ist wahnsinnig.« – Lautlos stürzte Landsfeld zu Boden. 14. Kapitel Vierzehntes Kapitel Auf dem Balkon eines der geschmackvollen und eleganten Villen, welche das sanft aufsteigende, mit Reben bedeckte rechte Ufer der Elbe unterhalb Dresden schmücken, saß an einem milden Juniabend eine Dame von etwa acht und zwanzig Jahren, den gedankenvollen Blick auf die Zeilen eines Briefes gerichtet, den sie mit der rechten, sehr zarten und weißen Hand hielt, während die Linke nachlässig über die Balkonlehne hinabhing. Als sie das Ende des Briefes erreicht hatte, ließ sie die Hand auf den Schooß sinken. »Es konnte nicht anders kommen« – sagte sie halblaut. – »Und doch – wer kann's wissen, ob schon alle Hoffnung verloren. Sie oder Ich – vielleicht Beide.« Sie seufzte und rief darauf, den Brief zusammenfaltend, in die offene Salonthüre hinein: »Marie!« »Mein Gott, gnädige Frau, wie bleich sehen Sie aus! Was ist geschehen?« »Wann ist der Brief abgegeben?« – fragte die Dame, ohne auf die Aeußerungen des jungen Mädchens Rücksicht zu nehmen. »Schon heute Vormittag, als Sie eben fortgeritten waren.« »So kann ich ihn jeden Augenblick erwarten« – sagte Jene vor sich hin, indem eine flüchtige Röthe ihre Wangen färbte. Einige Minuten später öffnete ein Mann die Thüre des Gartens, auf den der Balkon hinausging und näherte sich mit langsamen Schritten dem Hause. Die Dame war aufgestanden, um den Nahenden zu bewillkommnen. Ihr Herz schlug fast hörbar, und eine tiefe Beklommenheit schien sich in den ängstlichen Blicken und dem schnellen Auf- und Abwogen ihres Busens kund zu geben. Endlich standen Beide einander gegenüber und betrachteten sich einige Sekunden mit großer Aufmerksamkeit. »Du hast Dich sehr verändert, Richard« – sagte die Dame sanft. Ein bitteres Lächeln flog über die abgezehrten und bis zur Unkenntlichkeit gealterten Züge Landsfelds. »Findest Du das? – Um so mehr freue ich mich darüber, wie gut Du Dich konservirt hast, Alice.« Nun lud sie ihn zum Sitzen ein. Nach einer langen Pause, während welcher Beide sich ihren Betrachtungen überlassen zu haben schienen, sagte endlich Landsfeld mit bebender Stimme: »Ich komme vom Sonnenstein –« »Wie befindet sie sich? – ist keine Aenderung in ihrem Zustande sichtbar?« »Keine – seit zwei Jahren, das heißt seit zwei maßlosen Ewigkeiten – keine!« »Hat sie Dich gesehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte den Abscheu, der sie bei meinem Anblick zu ergreifen pflegt, nicht mehr ertragen. – Aber – lassen wir ruhen, was begraben ist. Ich habe unsagbar gebüßt, und muß Ruhe haben – Ruhe. – Im Sturm des Oceans, wenn die Windsbraut die Elemente in einander jagte und ihr Geheul anstimmte zu der Vermählung des Himmels mit dem Meere: da war mir auf Augenblicke wohl – aber nur auf Augenblicke. Ich habe dem Tode in's Angesicht gesehen, aber die Erlösung fand ich nicht.« Er schwieg, dann, als besänne er sich plötzlich, weshalb er gekommen sei, fragte er: »Und Du sagst mir nichts von meinem, von – ihrem Kinde.« Stumm stand Alice auf und führte ihn, seine hand ergreifend, in das Haus hinein. Nachdem sie durch mehrere Zimmer geschritten, öffnete sie endlich durch den Druck einer verborgenen Feder eine Tapetenthür und sagte, in's Innere hineinweisend: »dort.« Es war ein kleines, überaus lieblich geschmücktes Gemach, welches durch die buntgemalten Fenster mit einem sanften warmen Schein erfüllt wurde. Gerade der Thüre gegenüber stand eine kostbar gearbeitete Wiege, und darin lag, von einer weißseidenen Decke bis zur Brust verhüllt, ein junges, sehr zartes Kind, die kleinen Händchen über der Brust gefaltet. – Landsfeld trat näher. Eine Thräne – seit zwei langen Jahren die erste – trat in sein Auge, als er sich über die Wiege beugte, um einen Kuß auf die weiße Stirn des schlafenden Engels zu drücken. Aber als hätte er eine Natter berührt, so fuhr er zurück. Sein Haar sträubte sich, seine Augen rollten fürchterlich, als wollten sie ihre Höhlen verlassen, seine Lippen stammelten unartikulirte Laute. »Richard« – sagte Alice, ihn mit Gewalt aus dem Zimmer ziehend – »es ist Alles, was Du jetzt von Deinem Glücke hast. Sei ein Mann, und fasse Dich. – Wohl ihm, daß es gestorben ist. Was wäre sein Leben gewesen, als eine Qual?« Sie hatte ihn bei diesen Worten in ein anderes Zimmer geführt. Mit fahlen Zügen und zitternden Lippen, den irren Blick auf einen Punkt gerichtet, hörte er die Worte Alicens, aber keine Veränderung in seinen Mienen bewies, daß er sie verstanden. Endlich sagte er mit leiser und gebrochener Stimme, indem er die Hände verzweiflungsvoll vor das Gesicht schlug: »Todt – todt – Alles gemordet – Alles.« Alice sah mit kummervollen Blicken auf den Verzweifelnden. Sie fühlte, daß er nie mehr glücklich werden könne, daß sein Leben ihm nur eine ewige Last sein werde. »Lasse es mich noch einmal sehen, Alice« – sagte er endlich – »nur einmal noch, ehe ich scheide.« Sie zauderte einen Augenblick – dann drückte sie auf's Neue an der Feder und die Thüre öffnete sich wie das erstemal. Landsfeld kniete an der Wiege nieder und blickte lange auf das todte Kind. Endlich stand er auf. Seine Züge waren ruhig, fast heiter, als er zu Alicen sprach: »Was würdest Du an meiner Stelle thun, Alice?« »Sterben« – sagte diese ruhig. »Das dachte ich auch – aber darf ich hier sterben?« – Er wies auf die Wiege. »Ja!« Alice wandte sich zum Gehen. »Alice« – rief er noch einmal. Er hatte ihr beide Hände entgegengestreckt. Da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Weinend stürzte sie in seine Arme und drückte einen langen – langen Scheidekuß auf seine kalten Lippen. Er wandte sich sanft aus ihren Armen und blickte sie flehentlich an. Sie stürzte hinaus und schloß die Thüre, neben der sie sich auf den Boden niederkauerte. Nach einigen Minuten erfolgte eine Explosion. Sie sprang empor und trat ein. Landsfeld lag über der Wiege ausgestreckt. Die Kugel war ihm mitten durch das Herz gegangen. Alice stürzte sich über ihn. »O, Richard« – stöhnte sie schluchzend. – » Ich, ich habe Dich allein und wahrhaft geliebt .« – Eine tiefe Ohnmacht lagerte sich wie ein Schleier über ihre Sinne. 15. Kapitel Fünfzehntes Kapitel – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Eine halbe Stunde lang herrschte in dem kleinen Zimmer eine Todtenstille. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Abermals war eine halbe Stunde verflossen, Alice saß, noch halb betäubt, in ihrem Wagen. Die Fahrt ging zum Sonnenstein. Sie verlangte den Arzt der Irrenanstalt zu sprechen, welcher Lydia in der Kur hatte. Nach einem langen Gespräch, während dessen der Irrenarzt, ein noch junger, sehr bleicher Mann, mit raschen Schritten das Zimmer auf- und abgeschritten war, trat eine Minutenlange Pause ein. »Sie können vielleicht Recht haben« – sagte endlich der Arzt, auf dessen Gesicht sich ein tiefer, innerer Kampf abzuspiegeln schien, zu Alicen. » Vielleicht ! – Aber wer giebt uns die Gewißheit?« Jetzt erhob sich auch Alice. Außer der Marmorweiße auf ihrer Stirn und Wange deutete keine Spur auf die vergangene furchtbare Scene, die sie kurz zuvor erlebt. Ihr Auge glänzte mit demselben Feuer wie vorher, und ihre Stimme hatte ihren gewöhnlichen melodischen sonoren Klang. »Und glauben Sie denn« – wandte sie sich zu dem Unentschlossenen – »daß dies Wagestück, wie Sie es nennen, wirklich so bedenkliche Folgen haben kann? Ich glaube es nicht. Gewiß wird der Anblick auf sie gar keinen oder einen wohlthätigen Eindruck hervorbringen.« »Wohlthätig? – Was kann wohlthätiger für die Arme sein, als der Mangel des Bewußtseins, und vollends jetzt? Indeß ist es möglich, daß, da sie den Lebenden nicht kannte, der Todte sie noch weniger erschüttern wird. Verweilen Sie hier einen Augenblick, ich werde sogleich zum Direktor der Anstalt gehen, um persönlich die Erlaubniß auszuwirken.« Als Alice allein war, ließ sie sich wieder auf den Sessel nieder und stützte das Haupt leidenschwer auf die Hand. Gedanken der widersprechendsten und vielfältigsten Art mußten sie durchkreuzen, denn bald rollte eine einzelne Thräne von den gesenkten Wimpern herab, bald strahlte ihr schönes Auge von tieferem, fast unheimlichem Feuer. Jetzt fuhr sie mit der Hand zum Herzen, als fühlte sie den großen Schmerz von Neuem, jetzt hob sich ihre Brust wie von kühnen Plänen geschwellt, um dann wieder von Verzweiflung niedergedrückt zu werden. Sobald sie jedoch die Schritte des Arztes vernahm, glätteten sich ihre Züge und die frühere Ruhe breitete sich wieder auf ihnen aus. Der Direktor hatte die Bitte gewährt. Rasch eilten sie Beide dem Flügel zu, in welchem Lydiens Gemach lag, wie alle Behausungen dieser Art halb Kerker, halb Krankenstube. Bei ihrem Eintreten fanden sie die Unglückliche auf dem Boden sitzend, den Schooß mit einer Menge von Blumen angefüllt, aus denen sie Kränze zu flechten versuchte. Eine beklemmende Empfindung bemeisterte sich Alicens, als sie auf Lydia zutrat und einen forschenden Blick auf ihre Züge warf. Es war keine sehr bemerkbare Veränderung darauf zu sehen. Nur als ihr glanzloser und scheuer Blick dem Auge Alicens begegnete, las diese darin die Vernichtung dessen, was den Menschen über das Thier erhebt – des Bewußtseins. Ein irres, halb verwundertes Lächeln glitt über ihre bleichen Lippen, als sie das fremde Gesicht erblickte, aber sie sagte Nichts. Fast wie ein Schwindel ergriff es Alicen, als sie dies Lächeln sah, unwillkührlich streckte sie die Hand nach dem Arzte aus, der sie sanft nach der Thüre führte, indem er ihr leise zuflüsterte: »Erwarten Sie mich unten. Ihre Bewegung könnte uns stören.« Nachdem Alice einige Minuten im Wagen zugebracht, erschien Lydia am Arme ihres Arztes, in der Ferne von einem Wärter gefolgt. Sie stiegen ein und rollten, nachdem der Wagen fest verschlossen war, auf der Straße nach Dresden hin. Während der ganzen Fahrt sprach Niemand von den Dreien ein Wort, aber als sie vor der Gitterpforte des Gartens hielten, ergriff Alice des Arztes Hand und sagte mit bebender Stimme: »Muth, Muth!« Langsam gingen sie den Fußsteg hinauf, den noch wenige Stunden zuvor Landsfeld betreten hatte und standen zitternd nach wenigen Schritten vor der Thüre, die die Lösung dieses furchtbaren Räthsels verschloß. Jetzt war durch eine merkwürdige Verwandlung, die plötzlich in Alicens Seele vorgegangen war, ihre ganze geistige Kraft zurückgekehrt. Mit sicherer Hand drückte sie die Feder, während sie mit der andern Lydiens Arm ergriff, um sie halb mit Gewalt in's Zimmer zu drängen. Eine geraume Zeit herrschte eine lautlose Stille. Alice und der Arzt standen bewegungslos auf der Schwelle, Lydia mitten im Zimmer dicht vor der Leiche Landsfelds, dessen Fuß fast den ihrigen berührte. Sein bleiches Gesicht, aus dem der Tod jede Falte des Grams verwischt hatte, war ihrem Blicke offen zugekehrt. In sprachloser Angst starrten die Beiden auf jede ihrer Bewegungen, und es schien Anfangs nicht, als ob die Befürchtungen des Arztes und die Hoffnungen Alicens sich verwirklichen wollten. In einem gegenüberhängenden Spiegel konnten sie genau den irren Blicken der Wahnsinnigen folgen, die zuerst wild im Zimmer umherschweiften und sich endlich auf den Todten senkten. Da fuhr es wie ein eisiger Schauer durch ihren Körper, aber kein Schrei, kein Laut drang aus ihrem Munde und wie gefesselt wurzelten ihre Füße auf dem Boden, doch in demselben Augenblicke erhielten auch ihre Blicke ihre bestimmte Richtung wieder, während sie immer fest und starr auf die Züge des Todten geheftet blieben. »Sehen Sie diesen Blick?« – sagte der Arzt zu Alicen. »Noch zwei Minuten und sie ist entweder todt oder bei Bewußtsein.« In der That konnte man fast von Sekunde zu Sekunde wahrnehmen, wie das erwachende Bewußtsein in das immer größer und klarer werdende Auge zurückkehrte. Ihr Mund öffnete sich allmählig, Ihr Kopf beugte sich immer weiter und weiter vor, als wollte sie die geschlossenen Augenlider mit dem Strahl ihres Blicks durchdringen – – dann plötzlich wurde ihr ganzer Körper wie durch eine unsichtbare Macht in die Höhe geschnellt – sie fuhr sich, wie aus einem grausigen Traume erwachend, über Stirn und Augen und stürzte mit einem furchtbaren herzzerreißenden Schrei » Richard « auf ihren Gatten nieder. – – – – – Einen Monat später fuhr ein schwer bepackter Reisewagen durch das Kärnthner Thor in Wien ein. Zwei Frauen in tiefe Trauer gekleidet sahen theilnahmlos aus demselben auf das fröhliche Treiben der Kaiserstadt. – Es waren Alice und Lydia auf dem Wege nach Italien.