Ida Boy-Ed Lehrling in der Welt Im Oktober 1870 fand unsere Trauung statt. Alles in der landläufigsten und ganz bürgerlichen Art, wie in tausend anderen wohlhabenden und angesehenen Familien auch, wenn der Sohn des einen stattlichen Hauses die Tochter eines noch stattlicheren heiratet. Und es war doch ein Abenteuer von der größten Waghalsigkeit, davon freilich niemand, auch ich nicht, auch nur das leiseste Gefühl hatte. Wenn ich gelegentlich von jungen Eheleuten höre, daß sie es miteinander schwer haben, denke ich: sie werden es später desto leichter miteinander haben. Glücklich die Liebenden oder Verheirateten, die sich zum rechten Verstehen durchkämpfen können. Aber es ist kein Kampf, in dessen verschiedenste Phasen ein Zuschauerkreis von Familienmitgliedern hineinsehen oder hineinreden darf. – Der Begriff Familie ist herrlich; aus der Familie wuchs der Staat, und diese Uranfänge jeder Gemeinschaft – die Familie um den Herd – sollte eine Art Ehrfurcht auslösen vor jedem jungen Herd, der erbaut wird. Er ist eine Ansiedlung für sich. In diesem ihren wichtigen und staatserhaltenden Tun soll man sie ungestört lassen. Rasch nacheinander hatte ich drei Kinder bekommen; zuerst die Tochter, dann zwei Söhne. Also drei Kinder? Und durch sie nicht restlos glücklich? Also eine schlechte Mutter? Hierzu möchte ich Kräftiges und Nüchternes sagen. Ich kenne keine schlechte Mutter kleiner Kinder. Das kleine Kind wendet sich an jeden Herzschlag, an jeden Nerv, an das ganze Leben des Weibes. Es gibt nichts Entmenschteres, als ein Weib, das hart oder gleichgültig oder gar gehässig gegen kleine Kinder ist. Der überwältigendste, erschütterndste Tiefsinn in der christlichen Religion ist die Anbetung des Kindes. Es ist kein Verdienst und keine besonders zu rühmende Pflichttreue, den Kleinen in ihren allerersten Lebensjahren eine hingebende Mutter zu sein, sondern es ist eine Naturaufgabe. Darauf kommt es an, den Kindern Mutter zu sein, wenn sich ihr Denken entwickelt und zum Verständnis des Lebens vordringen will, wenn der Charakter seine Schwierigkeiten offenbart, wenn die Aufnahme geistiger Nahrung bewacht und vorsichtig gelenkt werden soll. Es gibt kein Schema für das Verhältnis einer Mutter zu ihren Kindern, alles ist auch hier individuell. Man kann fordernden und sich in die Höhe reckenden jungen Geschöpfen, die der Reife zustreben, keine Führerin sein, wenn man selbst noch unreif ist. Was hat eine Frau, die ihre erste Mutterschaft mit neunzehn Jahren erlebt und in rascher Folge sich die Reihe vermehren sieht – was hat sie noch mit sich selbst zu tun! Die Liebe zu den Kindern ist ein Teil ihres Lebens – obgleich sie sicher in einer Stunde der Gefahr imstande wäre, ihr ganzes Leben für sie hinzugeben. Aber im Alltag, dem die dramatischen Höhepunkte fehlen, bleibt sich die Mutter bewußt, daß sie noch mehr ist als Mutter: ein Mensch, der die andere Seite seines Wesens nicht der Verkümmerung verfallen lassen darf. Nicht darf, aus dem tief verborgenen, nicht gleich klar zum Bewußtsein gelangenden Wissen heraus, daß sie erst die ganz echte, die wahrhaft reife Mutterschaft erlangen wird, wenn ihre Individualität von zerstörerischen Hemmungen nicht mehr benachteiligt wird. Wenn nun eine Mutter gar künstlerische, schöpferische Begabung in sich gären fühlt, wird in ihr das Pflichtgefühl gegen ihre Kinder mit dem Pflichtgefühl gegen ihr Talent in Kampf kommen. Dieser Kampf, so bitter er ist, muß durchlitten werden. Ich glaube, daß fast jede künstlerisch begabte Frau ihn zu bestehen hat; es sei denn, sie erfreue sich solcher Verhältnisse, wie Germaine v. Staël, deren Vater und deren Kinder ihr niemals Hindernisse waren, die sie mit dem bewunderndsten Verständnis durch alle Schwierigkeiten ihrer künstlerischen und weiblichen Erlebnisse begleiten. Oder ihr sei das letzte Glück zuteil geworden, als Führer neben sich einen ganz verstehenden und geistig gleichbürtigen Gatten zu haben. Um mich herum war alles klein. Ein Gespinnst von Jämmerlichkeiten hemmte mich. Keinen unbefangenen Schritt voran konnte ich tun, weiter hinein in die Erkenntnisse vom Leben. Mein Vater hatte wohl sicher bald eingesehen, daß ich nicht an warmer, freundlicher Stelle stand. Wenn ich klagte, sagte er mir aber: »Du kannst sie nicht zwingen, dich zu lieben, aber du kannst sie zwingen, dich zu achten.« Und dann zwang ich sie freilich, wenn auch nicht mit Vorsatz, sondern durch eine Eigenschaft, von der ich kein Rühmens machen darf, weil sie angeboren war, mir wie meinen Schwestern, wie ich sie durch das Gesetz der Natur meinen Kindern weitergegeben habe: die Arbeitsamkeit! Ich war im Hausstand und mit der Nadel rastlos tätig, obschon ich zwei Dienstboten und ein schönes Haus hatte. Ich habe von je an dieser deutschen Krankheit (wenn es eine ist) gelitten, die Tirpitz einmal meinem ältesten Sohn gegenüber »la rage de perfection« nannte. Jede angefangene Arbeit vollenden. Nichts halb liegen lassen. In Gedanken schon die nächste Aufgabe organisieren, wenn die gegenwärtige sich der Vollendung naht! Und beim Festessen an meinem siebzigsten Geburtstag sprach mein ältester Sohn aus: »Ich habe bei unserer Mutter nie fünf unbenutzte Minuten beobachtet«. Daher, aus diesem angeborenen Trieb und dem dazu erworbenen Wissen von der Betäubungskraft der Arbeit mein Wahlspruch: »Arbeit entsündigt den Geist.« Wenn ich nun am Tage ohne Rast den üblichen Frauenpflichten nachgegangen war, oft genug auf Kosten meiner Gesundheit, nahm ich mir späte Abendstunden und oft genug die nächtlichen zu meinen schriftstellerischen Versuchen. Mein Mann hatte keinerlei Interessen, und ich konnte auch keine in ihm erwecken. Er liebte mich ganz gewiß von Herzen, aber daß mit der Liebe auch geistige Gemeinsamkeit verbunden sein könne oder gar müsse, erschloß sich ihm nicht. Die schriftstellerischen Versuche blieben ihm nicht verborgen, er mokierte sich ein wenig darüber. Nun hätte es wohl nahegelegen, Vater in meine schriftstellerischen Bemühungen einzuweihen, seinen Rat und seine Protektion zu erbitten. Als er ein weniges von diesen Plänen erfuhr, war er ihnen aber ganz entgegen. Die Gründe waren: zärtliche Furcht, daß meiner schwere Enttäuschungen warten können, wie er sie selbst einmal erfahren. Spät, nach vielen Jahren erst, hielt ich ein Zeugnis in den Händen, das mir bestätigte, wie genau mich Vater erkannt und verstanden hatte. Es war ein Brief, der mir aus dem Nachlaß einer Persönlichkeit kam, mit der Vater korrespondiert hatte. Ich las darin mit andächtigem Erstaunen: »Das geistige Temperament meiner Tochter paßt ganz und gar nicht zur Art ihres Mannes, was nicht seine Schuld, sondern ein Schicksal ist. Er ist ein guter Mensch. Sie muß allein zusehen, wie sie mit all den Konflikten zurechtkommt. Ich kann nicht eingreifen«. Mein jüngster Sohn wurde geboren. Und wie ich dann so still dalag, erwog ich, wie ich nun das Leben weitertragen solle. Die nächsten Aufgaben waren, erst den kleinen Jungen zu seinem Recht kommen zu lassen und weiterarbeiten an meinem Talent, an das ich ja nun glaubte, und es war mir auch klar, daß man sich schriftstellerische Technik durch Übung und Selbstkritik anzueignen habe, daß man nicht wie Maler, Bildhauer und Musiker auf Akademien sein Material beherrschen lernen könne. Handlung, Gedanken, Leidenschaft in Form bringen, darauf kam es an. Man mußte die große Mühe nicht scheuen, lange still für sich, für den eigenen Papierkorb zu arbeiten. Und vor allen Dingen den Mut zum eigenen Ausdruck gewinnen, nicht die Sprache anderer Autoren zu schreiben, nicht ins »Klischee« verfallen, jene Art abgebrauchter und zusammengelesener Wendungen, die bewirken, daß der Leser den Satz von selbst vollenden kann und ihm ist, als habe er das schon gelesen. In dieser Zeit beglückte mich mein erster Erfolg. Ich hatte einen Roman an die Didaskalia geschickt, das altehrwürdige literarische Beiblatt des »Frankfurter Journals«. Er wurde angenommen! Dieser Roman hieß »Thaddeas Erbe«; ich besitze keinen Abdruck mehr davon. Natürlich bekam ich auch etwas Honorar, ich entsinne mich nicht mehr der Zahl, die nur klein gewesen sein kann. Aber nun glaubte ich, nun wähnte ich: mit meiner Arbeit kann ich mich auch selbst unterhalten. Ich entschloß mich, nach Berlin zu gehen und meinen ältesten Sohn mitzunehmen, der sechs Jahre alt war. Ich ging mit ihm zu meinem Bruder Cäsar, und ich wußte, daß meine drei anderen Kinder an meiner verwitweten Schwester Amalie, die derzeit für viele Monate bei uns im Hause lebte, eine Fürsorge haben würden, sie konnte auch meinem Mann Gelegenheit sein, sich auszusprechen. Für meinen Vater tat es mir sehr leid, denn ich war sein Liebling. Jedermann verwarf mich und meine Tat. Selbst mein Bruder Cäsar, seinerseits längst aus der Enge entronnen, hielt es noch für seine Pflicht, mich mit Schärfe zu tadeln. Niemand gab sich Mühe, diesen ganzen Komplex von seelischen, geistigen, moralischen, verkrüppelten, hochaufstrebenden – kurz einander völlig widerstrebenden Wesenszügen in liebevolle Teilnahme auseinandersondernd zu betrachten. Ich war ganz allein. Und in solcher innersten Einsamkeit traf ich, im Herbst 1878, mit meinem kleinen Sohn Karl in Berlin ein. Von da an war ich mit meinen persönlichen Erlebnissen aus der engbürgerlichen Umschrankung heraus in die weite Welt der Zeitströmungen gestellt. Lehrling in der Welt? Man bleibt einer bis zum letzten Versinken des Bewußtseins, das uns mit ihr verbindet. Es zu sein, ist die Bestätigung des Lebens überhaupt. Es werden zu dürfen demnach ein zukömmlicher Gewinn. Man kann nie Stufen erklimmen, wenn man von der untersten abgesperrt bleibt. Jede Individualität hat ihren besonderen Lehrgang nötig; sie wählt den für sie wichtigen, aber natürlich nicht mit klarem, selbstkritischem Bewußtsein, sondern von jener Macht getrieben, die man das Gären der Persönlichkeit nennen könnte. Sie will zu ihrem Ich! Nur durch den Kampf mit dem Leben kann sie zu diesem Ziele, das die Einheit des Wesens ist, gelangen. Es mag mir nötig gewesen sein, durch ungewöhnlichste Schwierigkeiten mich durchkämpfen zu müssen. Vor allen Dingen war ich von einer geradezu fanatischen Gutgläubigkeit besessen, die mich lange gehindert hat, sichere Menschenkenntnis zu gewinnen. Diese fanatische Gutgläubigkeit war es vor allem auch, die mich ohne Angst das Wagnis unternehmen ließ, in eine Welt mich hinein zu begeben, von deren Ansprüchen, Formen, Schwierigkeiten ich nicht die leisesten Kenntnisse hatte. In meiner Naivität, die sicher mancher Wohlwollende damals belächelt hat, fiel es mir gar nicht ein, daß meine Lage als junge Frau, die sich scheiden lassen wollte, sehr heikel erscheinen konnte. Ganz ahnungslos war ich auch darüber, daß ich für manchen Geschmack als schöne Frau galt. Ich war mir meiner Vorzüge nicht von fern bewußt; ich hatte nicht in einer Umwelt gelebt, wo man ein anerkennendes Wort oder gar eine Schmeichelei hörte. Es mag Mangel an Eitelkeit gewesen sein, er hat mir das Leben sehr erleichtert, aber mich auch hie und da um den richtigen Überblick über die Situation gebracht. Ganz spät erst, nach Jahren, zurückblickend, begriff ich, daß das bißchen vorteilhafte Äußerlichkeit, viel mehr als mein noch so unreifes Talent, mir Interessen gewonnen hatte. Meine äußere Lebenseinrichtung war rasch getroffen. Bruder Cäsar hatte eine Unterkunft besorgt in einer Pension. Aber sofort ging es an die Wohnungssuche. Die Wohnung, im Norden Berlins, fand sich rasch. Die Möbel kamen. Die Einrichtung war bald fertig. Ein paar hundert Mark, von meinem Nadelgeld gespart, trug ich im Täschchen auf der Brust. Alles ging glatt und schien so einfach; mein Junge war auf das lebendigste interessiert von allem, was er sah. In meiner kleinen Wohnung machte ich alle Arbeit selbst, kochte, scheuerte das Küchengeschirr und hatte binnen wenigen Tagen grobe Arbeitshände. Hierbei kam ich mir durchaus heldisch vor, als Märtyrerin für eine große Sache. Mit der ganzen Selbstgefälligkeit des unreifen Menschen genoß ich förmlich diese im Materiellen so schroff veränderte Lage als Beweis von Charakterstärke. Ich erduldete den Genuß eines Unglücks, dessen baldiger Umwandlung in Triumph man sich sicher fühlt. Solche Selbstbespiegelung ist aber eine seelische Hilfe, verhütet zu frühe Enttäuschungen und ist nachsichtig zu beurteilen, falls ihr nicht der Jammer der Enttäuschung folgt, der sie in Würdelosigkeit umkehrt. Dazu konnte es bei mir nicht kommen, weil ich von niemand etwas erhoffte als von der eigenen Arbeit. Ich war von der qualvollsten Ungeduld gedrängt, mein Talent erweisen zu können. Hat schon jemand einen Anfänger gesehen, der nicht die Einbildung oder wenigstens die Hoffnung hatte, Verleger und Schriftleiter würden alsbald – wenn sie nur erst von ihm wüßten – ihn förmlich umwerben? Erste Versuche, ja sogar erste Bücher werden vom Autor immer mit dem Wahn hinausbegleitet, daß alle Welt sich darum bekümmern werde. Er ahnt nicht, daß das, was ihm ein erschütterndes Ereignis ist, in der Hochflut der Druckerschwärze untergehen wird. Aber gepriesen sei der Anfängerwahn, in dieser wie in jeder Kunst! Niemand würde den Mut haben anzufangen, wenn er die Länge und Schwere des Weges vorher erkannte. Denn er führt niemals völlig zum Ziel. Auch beim letzten Werk, wenn der Erfolg längst anzuzeigen schien, man sei am Ziel, erleidet man die Qualen der Zweifel am Können. Sie wachsen mit jedem Werk. Davon hatte ich aber noch keine Ahnung. Ich glaubte an mich. Weil ich aus der Sphäre der Druckerschwärze eines Zeitungsverlags kam, wähnte ich mich mit ihr vertraut, auch da, wo sie von ganz anderer, größerer Bewegung durchströmt war als in meinem väterlichen Unternehmen. Und weil ich immer gesehen hatte, mit welcher Gewissenhaftigkeit, mit welchem Verantwortlichkeitsgefühl, mit welcher Hingabe in ihrem Bereich gearbeitet wurde, imponierte mir auch noch der kleinste Journalist. Er war ja ein Bevorzugter: er sah sich gedruckt! Von besonderer Auswahl im Verkehr wäre daher keine Rede gewesen, wenn mich ein gutes Geschick in dieser Hinsicht nicht vor Strandungen bewahrt haben würde. Bei dem Begrübeln, wie ich es wohl anzufangen habe, mit der Berliner Presse in Verbindung zu treten, entsann ich mich, daß mein Vater einer der ersten gewesen, der Rudolf Mosse bei dessen Etablierung einer Annoncenexpedition Vertrauen, d.h. Kredit geschenkt hatte. Davon war zu Hause die Rede gewesen, wenn der gewaltige Auf stieg des Hauses Mosse und später die Gründung des Berliner Tageblatts besprochen wurde. Ganz unbefangen ging ich zu Mosse, der ja schon ein großmächtiger Verleger geworden war, und mir fiel gar nicht die Möglichkeit ein, daß ich am Ende nicht angenommen werden könne. Aber ich wurde angenommen. Mosse hatte das einstige Entgegenkommen meines Vaters nicht vergessen! Ich legte meine Hoffnungen vor und sprach gläubig von meinem Talent. Mosse, den ich übrigens nach jener einzigen Unterredung niemals wiedergesehen habe, zeigte wahrhaft gütiges Interesse und rief seine beiden Chefredakteure in sein Zimmer, den politischen und den des Feuilletons. Der erstere war Dr. Arthur Levysohn, der andere Dr. Oscar Blumenthal. Mosse stellte mir die Herren vor und empfahl mich ihrer Förderung. Sie luden mich ein, ihnen Arbeiten einzusenden, welcher Art auch immer. Beachtung und liebevolle Prüfung, auch förderliche Kritik wurde zugesagt. Und viel mehr noch: Arthur Levysohn forderte mich auf, seiner Frau einen Besuch zu machen. Wie dankbar wird mein Gemüt bewegt, indem ich dieses Ehepaares gedenke! Ein glücklicher Zufall hatte auch gewollt, daß Arthur Levysohn meinen Namen schon kannte. Man denke! Eine Anfängerin! Und ein mächtiger Redakteur hat schon ihren Namen beachtet. Levysohn war nämlich nebenamtlich der politische Korrespondent einiger französischer und deutscher Zeitungen. Unter diesen befand sich das Frankfurter Journal, in dessen Beiblatt, der Didaskalia, ihm zufällig der Roman: »Thaddeas Erbe« aufgefallen war! Gefesselt hatte er ihn dann ganz gelesen. Aus diesem Zusammenhang ergab es sich bald, daß ich die Theaterberichterstattung aus Berlin für das Frankfurter Journal bekam. Das Honorar war äußerst bescheiden, aber es reichte zur Bezahlung der Theaterkarten und der Nebenkosten. Und welche Schulung für rasche Erfassung der dramatischen Werte und die sofortige stilistische Einkleidung des gewonnenen Urteils. Welcher Gewinn auch für die Erweiterung meiner Kenntnis vom Drama. Ich hatte in meinem Elternhaus von Kind an Theaterinteressen pflegen sehen und leidenschaftlich zu den meinen gemacht. Die Theaterkritik begann damals in den Mittelpunkt der allgemeinen Anteilnahme zu rücken. Die milden, abgewogenen, besonnenen Urteile Karl Frenzels in der National-Zeitung verblaßten vor den witzigen, bissigen Hinrichtungen, die Oscar Blumenthal im Berliner Tageblatt vornahm und die ihm den Spitznamen »der blutige Oscar« eintrug. Theodor Fontane schrieb auch über das Theater – ich meine in der Vossischen – und er unterzeichnete: Th. F., was der Witz als »Theaterfremdling« ausdeutete. Heute erkennt man, von welcher Bedeutung seine Kritiken waren! Ich schrieb kleine Novellen, Feuilletons über gesellschaftliche oder allgemein menschliche Fragen, Anschauungen, Glossen. Das Honorar betrug fast immer dreißig Mark. Nun muß man aber nicht denken, daß ich gerade alle paar Tage solche Feuilletons schreiben und anbringen konnte. Meine große Hoffnung war ein Roman, an dem ich arbeitete. – Die wohlgefällige Selbstbespielung als Heldin eines Kampfes verflüchtete sich rasch, denn er wurde schwer und mühsam und konnte seiner Natur nach nicht durch große Gesten und berauschende Aufwallungen über die Sorgen des Tages hinwegtragen. Zunächst wollte man Rückgabe meines Sohnes Karl, der sich bei mir befand. Mein Vater schrieb mir und riet in diesem Punkt zur Nachgiebigkeit. Nach dem Beweis einer solchen werde man leichter weiterkommen. Nun hatte ich in der Tat inzwischen begreifen müssen, daß es nicht gut anginge bei meiner Arbeit um den Lebensunterhalt, bei dem Mangel einer Bedienung, wirklich mütterlich und erzieherisch für das Kind zu sorgen. Also mußte ich Karl hergeben. Noch heute steht vor mir deutlich jene Stunde, wo ich mit meinem Bruder Cäsar zusammen den lieben Jungen in ein Abteil zweiter Klasse setzte, ihn der Aufsicht Mitreisender empfehlend, bis er in Büchen abgeholt werden würde. Wie betäubt sah ich dem Zug nach: nun erst hatte ich die Meinen ganz verlassen und sie mich – so fühlte ich diese Trennung: als Vollendung des unternommenen Schrittes. Nachdem ich mich von meinem Sohne Karl hatte trennen müssen, kam mir viel von der Zuversicht abhanden, in der ich bisher überzeugt war, Freiheit zugleich mit dem Besitz meiner Kinder zu erringen. Die Freiheit aber mit Trennung von meinen Kindern zu erkaufen, war niemals mein Wunsch gewesen. In ihr konnte ich nicht zur völligen Harmonie gelangen, wenn ich eine zerstörerische Sehnsucht nach meinen Kindern mit mir tragen müßte. Das Verlangen, besonders nach dem ältesten Kinde, der einzigen Tochter, war die ständige Unterströmung in meinen Empfindungen. Das Hin und Her zwischen Lübeck und mir endete schließlich mit der Vereinbarung, daß ich im Frühling 1880 zurückkehren würde. Wenn auch nicht so eigentlich in die Ehe, doch zu meinen Kindern und in meine häuslichen Pflichten. Nach der Abreise des kleinen Sohnes konnte ich mich gesammelter Arbeit an Romanen widmen. Aber indem ich ihn, ganz von Schaffensfreude fiebernd, voranbrachte, vermochte ich seltener feuilletonistische Kleinigkeiten zu schreiben. In meiner Geldbörse sah es oft öde aus. Dann ernährte ich mich auf fanatische Art: auf der Flamme von Zeitungspapieren kochte ich Kartoffeln in der Schale oder buk einen Eierkuchen, der zäh wie Leder wurde, den Morgenkaffee goß ich mir in einem Bunzlauer Töpfchen auf, und er blieb ohne Milch und Zucker die flüssige Zugabe zu den trockenen Semmeln. Aber auch das war gut so. Wer die brutale Not nicht kennt, die von der Hand in den Mund lebt, und nicht weiß, wie dem Menschen zumute ist, dem in solcher Lage dann die Hand oft leer ist – der kennt das Dasein nicht ganz. Einmal in dieser Zeit dumpfer Entbehrungen wurde ich schwer krank. Es wurde eine Depesche an meinen Bruder gesandt, und er kam voll Bestürzung. Er gab die Nachricht von meiner lebensgefährlichen Erkrankung – einer Bauchfellentzündung – an Vater und an meinen Mann, mit dem die vorher erwähnte Verständigung aber noch nicht zustande gekommen war. Vater fragte bei meinem Bruder an, ob er kommen solle. Ich bat: Nein! Mein Mann schwieg. Da lag ich nun, lange Tage einsam. Aber auch in diesem Elend zerbrach ich nicht. Eine tiefere Sittlichkeit, als die der Welt sichtbare, die nur Außenflächen der Geschehnisse kennt, hatte mich geleitet. Sobald ich mit matten Kräften außerhalb des Bettes leidlich herumschwanken konnte, versuchte ich wieder zu arbeiten. Obgleich mir die Mittel zu einer rechten Pflege fehlten, kam ich doch dank meines erstaunlichen Reorganisationsvermögens nach einigen Wochen wieder in Ordnung. In welchen Einsamkeiten hatte ich sie verbracht! Man kann ja nirgends einsamer sein als in einer Weltstadt. Aber der Einsame in der Weltstadt? Nicht jener, der sich feindlich oder übersättigt von ihr zurückzog, denn freigewählte Einsamkeit kann ein köstlicher Besitz sein, sondern der andere, der sich mit allen Nerven nach ihr sehnt. Das Leben rauscht vorbei, als gehöre man nicht zu ihm, sei nicht fähig oder berufen, mit seinem Strom zu schwimmen. Irgendwo ist die Welt glänzend, in ihr sprüht Geist und Freude. Man verzehrt sich vor Begierde nach ihr, nicht um sie zu genießen, sondern um sie zu studieren! Denn in ihrem tausendfältig farbigen Durcheinander verbergen sich alle die Stoffe, die der Dichter erkennen, ergründen und darstellen möchte. Und man steht vor ihren Toren, und der Einlaß zu ihr kann nur durch einen Erfolg kommen, der den Namen mit lauter Stimme hinausruft, so daß die Welt ihn hören muß und von der Suggestion ergriffen wird, der Träger dieses Erfolges gehöre ihr. Aber der Erfolg ist noch weit. – Auch wo es schien, als sei er plötzlich gekommen – dann und wann glaubt die Literaturgeschichte von solchen Fällen erzählen zu können –, ist immer lange stille Arbeit, viel verzweifelnder Unglaube am eigenen Talent, viel stumm gebliebene Qual vorhergegangen. Nun, eine junge Frau, in schwieriger unklarer Lage, materiell sehr in Not, gärend in Schaffensdrang, ganz unsicher in ihren geistigen Fundamenten, ernüchtert von allen törichten Vorstellungen, die sie über die Möglichkeit des Eintritts in die große Geselligkeit gehabt hatte – wie sollte diese nicht fast zerdrückt werden von der Einsamkeit. Der Frühling zeigte sich an. Ich ging manchmal spazieren. Im Norden Berlins! Wer sich jemals dort Eindrücke sammelte, weiß, was das heißt. Den Frühling konnte ein schweres Herz nicht finden. Ihn zu suchen, da wo er nahe der Weltstadt an Seen und in weiten Parks die Menschen bezauberte, war mir versagt. Die Zeit der Theaterpremieren war auch vorüber. In den Theatern hatte ich doch Menschen gesehen! Ich saß, unbekannt noch, zwischen ihnen. Es fehlte zu jener Zeit auch gänzlich das, was heute einer Frau den Aufenthalt in jeder Weltstadt erleichtert, die unternimmt, sich durch Talent und mit ernster Arbeit eine Stellung zu schaffen: es bestand noch keinerlei Art von Zusammenschluß der Frauen. Keine Klubs, keine Vereinigungen. Wenn ich an die Schwierigkeiten und Mühseligkeiten zurückdenke, die mir fast jeden Schritt zu einem Wagnis machten, dann begreife ich recht, von welcher moralischen und wirtschaftlichen Bedeutung diese Frauenklubs sind. Dürfen wir uns nicht ein wenig rühmen, wir alle, die wir Vorkämpferinnen auf dem Weg der Frau waren – unbewaffnete, unbewußte und unbewehrte Vorkämpferinnen, zwischen dem Gestrüpp von Vorurteilen hindurch mit keiner Hilfe als der eigenen zähen Kraft? Das Gefühl eines Stillstandes, einer Zeitvergeudung, die Angst vor einem »toten Rennen« gab mir endlich den Mut, bei Frau Doktor Levysohn einen Besuch zu machen; ich war im Winter zweimal dort im kleinen Kreis eingeladen und entzückt gewesen von dem Geist und Witz, der um den Tisch schwirrte. Sie empfing mich geradezu liebevoll. Mit großer Energie entschied sie, daß ich die Wohnung in Berlin N aufgeben und in die Nähe ziehen müsse. Das erleichtere den Verkehr und würde mich auch ganz von selbst bekannter machen, was mir nur nützen könne. Und wenn ich wieder einmal krank würde, dürfte ich nicht so gottverlassen bleiben. Dies war Herzensgüte ohnegleichen. Sie mochten mich leiden, und ich erwiderte diese Neigung mit aufrichtiger Freundschaft. Ich zog also baldmöglichst nach Berlin W in eine kleine Wohnung an der Apostelkirche. Von da an war es mit der Weltverlorenheit vorbei. Schon im Frühherbst begannen im Levysohnschen Heim jene Sonntagabende, die keineswegs das waren, was man sich unter »großer Welt« und glänzender Geselligkeit vorstellt. Sie gaben mehr als nur ein prunkendes Aneinandervorübergehen von namhaften Menschen. Sie waren eine fröhliche, geistvolle, zwanglose Vereinigung. Hohe Beamte, die irgendwie es wünschenswert finden mochten, mit dem einflußreichen Schriftleiter freundliche persönliche Berührung zu pflegen, Maler, Musiker und Schriftsteller von Ruf. Hier lernte ich Julius Wolff und seine Frau näher kennen; auch Adolph L'Arronge und Gattin, Stettenheim, den witzigen Schöpfer des Kriegsberichterstatters Wippchen; kurz, alles, was zu jener Zeit Ruf hatte. Ich kam aus einer Umwelt, in der es keinen Witz gab; selbst ohne Veranlagung zu ihm, aber mit rascher Aufnahmefähigkeit für diese blitzschnellen Wort- und Gedankenspielereien, bewunderte ich die geistreichen und geistesgegenwärtigen Keckheiten. Auch Paul Lindau erschien eines Abends, und es hieß, er sei gekommen, um mich kennenzulernen. Eine freundliche Gesinnung hat zwischen uns bestanden. An meinem Talent nahm er förderlich Anteil. Zwei Persönlichkeiten aus dem allsonntäglichen Kreise traten mir in wirklicher Kameradschaft näher. Bald verkehrte ich auch in Fritz Mauthners bescheidenem Heim; seine blonde junge Frau war eine vortreffliche Klavierspielerin. Mauthner wußte mit einer geistigen Feinheit, die ich erfühlte und von der ich begriff, daß sie mir Beschämungen ersparen sollte, auf die großen Lücken in meinem Wissen hinzuweisen. Und es fügte sich, daß der andere Kamerad, den ich gewann, der Mann war, mir zu helfen. Doktor Emil Schiff nahm die Stellung des Vertreters der »Neuen Freien Presse« in Berlin ein; das Wiener Blatt bedeutete die größte politische Macht unter allen Zeitungen in deutscher Sprache im benachbarten Kaiserreich wie für den ganzen Balkan, und auch die Regierung Deutschlands hatte mit ihm zu rechnen. Schiff war ein kleiner, kränklicher Mann von sehr ungünstigem Äußeren. Wissen, große Geistesgaben und herzliche Güte zeichneten ihn aus. Es ergab sich, daß wir einander beistehen konnten. Schreibmaschinen gab es noch nicht, und Schiff litt oft am Schreibkrampf. Dann konnte er mir seine Korrespondenzen für Wien diktieren; in vereinzelten Fällen kam es auch wohl vor, daß ich einen Theaterbericht oder sonst Unpolitisches anstatt seiner verfaßte, was er dann durchsah, vielleicht änderte, aber doch abschickte. Wir trieben zusammen Philosophie und Mathematik, für welche Wissenschaft ich einen erschreckenden Mangel an Begabung bewies. Er führte mich in Schopenhauer ein; Fechner, bei dem er gehört hatte, galt seine besondere Verehrung, und dessen »Vorschule der Ästhetik« und manche seiner kleinen Schriften lernte ich kennen. Von Kant lasen wir die »Kritik der praktischen Vernunft« und Stücke aus der Anthropologie. Mir erschloß sich der Kantische Freiheitsbegriff, und ich machte mir still für mich eine Art Formel zurecht, an die ich mich immer erinnerte, wenn es mir schwer wurde, mich in widrige Lagen zu fügen. Der ganze Kreis von Bekannten hatte seinen Spaß an dieser Kameradschaft, deren beide Teilhaber im Äußeren gar nicht verschiedener gedacht werden konnten. Aber das war, alle Umstände wohl bedacht, gerade gut so. Der geistige Gehalt wurde von allen gewürdigt. Ich wurde in dieser Zeit auch Mitarbeiterin am »Kleinen Journal«, ein etwas fragwürdiger Vorteil, denn die Honorare für kleine Plaudereien und »Anekdoten«, d.h. Miniaturnovelletten, die immer einige nette Pointen haben mußten, war jämmerlich. Bei irgendeiner Gelegenheit lernte ich Hülsen kennen – den alten, ernsten Herrn v. Hülsen. Es war große Heroinennot am Schauspielhaus. Man hielt es damals für eine Heroine mit der Forderung: hohe Gestalt, gebieterische Haltung usw. Hülsen sagte mir sofort: »Kommen Sie zu mir – ich brauche eine Heroine.« – »Exzellenz, ich habe gar kein Organ.« – »Kann sich entwickeln«, beharrte er, »viele Menschen glauben, sie haben keine Stimme, und können nur nicht sprechen; man sagte mir, daß Sie sehr intelligent seien; in einem Jahr bilden wir Sie aus.« – »Es geht nicht, Exzellenz. Ich habe zu Hause Kinder und im Frühling kehre ich zu ihnen zurück.« – »Ja – dann – allerdings ...« Dieser kleine Zwischenfall machte mir Spaß. – Bei den Erstaufführungen im Theater fühlte ich mich nun nicht mehr fremd. Sehr viele von den Kritikern und ständigen Besuchern lernte ich nach und nach kennen. Eines Tages, im Wallnertheater war es, lernte ich im Zwischenakt eine Persönlichkeit kennen, mit der ich nach Jahr und Tag in literarische Verbindung trat, die zu den wichtigsten meiner Laufbahn gehörte: Theodor Hermann Pantenius ließ sich mir vorstellen und saß einen ganzen Zwischenakt neben mir im entleerten Parkett. Er war mir durch seine Romane, vor allem das grandiose baltische Kulturbild »Die von Keller« bekannt. Sein Gespräch mit mir war ein tastendes Aushorchen über meine Pläne und Hoffnungen. Er war damals Schriftleiter des »Daheim«. Das, was bei dieser kurzen persönlichen Begegnung noch unausgesprochen blieb, wurde nach zwei, drei Jahren schriftlich erbeten: meine Mitarbeiterschaft an Velhagen und Klasings Monatsheften, in denen dann mehrere meiner Romane und fast alle meine Novellen erschienen sind; bis zu meinem 75. Lebensjahr hat diese mir immer tieferfreuliche und mich ehrende literarische Verbindung bestanden. Der Kommerzienrat Klasing, der geniale Verleger und gütig-gerechte Mann, teilte die günstigste Ansicht, die Pantenius und später auch dessen Kollege Hanns v. Zobeltitz von mir hatten. Doch ist dieser Bericht allzu vorauseilend. Vorerst heißt es noch bei dem Kampf ums Dasein in Berlin verweilen. Ich hatte eine Novelle vollendet und bildete mir ein, sie könne für »Nord und Süd«, Lindaus Monatshefte, passen. Er lehnte sie ab. Ich hatte einen Roman vollendet (er hieß »Männer der Zeit«) und brachte ihn nicht an. Welch eine Hilfe wäre es für mich gewesen, wenn ich bei meiner Rückkehr einen handgreiflichen Erfolg hätte vorweisen können! Daß ich mich in Berlin mit journalistischen Arbeiten kümmerlich vor dem Verhungern behauptet hatte, konnte von meinen »Richtern«, die zu Haus auf mich warteten, kaum eingeschätzt und gewiß nicht als »Sieg« beurteilt werden. Einige meiner Kollegen meinten damals, ich sei vor allen ein journalistisches Talent. Aber Doktor Levysohn sagte: Nebenbei auch! Hauptsache bleibt: Fabulieren und psychologische Divination. In allen Dingen des Lebens bin ich Pessimist. Nur in bezug auf mein Talent war ich es nie. Auch diese Rückschläge machten mich nicht feige. Weiter arbeiten! Neue Stoffe. Neue Aufgaben. Lernen, aufnehmen, Blicke schärfen, so lange ich noch draußen in der Welt war. Großes, schweres, unzerstörbares Gepäck mußte ich mitnehmen, wenn's zurück in die Enge ging. In den letzten Monaten meines Aufenthaltes in Berlin wurde immer häufiger und immer lauter ein Name genannt: Stöcker! Der Antisemitismus wachte auf. Seit 1848 hatte man ihn in Deutschland fast vergessen. Nun erhob er sich wieder aus seinem Schlummern, und der Hofprediger Stöcker rief ihn zu starkem Leben zurück. Und seltsam: darüber kam es mir erst zum Bewußtsein, daß ich mich in nahezu völlig jüdischer Gesellschaft bewegt hatte – außer Frau Doktor Levysohn und mir waren wohl manches Mal nur Juden zusammen gewesen innerhalb dieses Kreises: getaufte, freigeistige, strenggläubige. In Lübeck hatte man gar keine Gelegenheit, sich mit der »Judenfrage« zu beschäftigen. Mitte Mai hieß es dann aufbrechen. Ich beschloß, die Fahrt von Berlin nach Lübeck über Nacht zu machen. Am Morgen anzukommen schien mir aus einem unklaren Gefühl heraus leichter. Den letzten Abend in Berlin verbrachte ich mit Dr. Arthur Levysohn und Dr. Emil Schiff. Beide Männer konnten sich wohl vorstellen, wie mir zumute sein mochte. Der eine aus seinem unendlich glücklichen Eheleben heraus, das eines Mannes Gemüt vertieft und feinfühlig macht. Der andere, weil er selbst einen Verlust erlitt durch meine Abreise. Gute Kameradschaft im Beruf ist für jeden Arbeitenden und Kämpfenden ein freundlicher Besitz. In einer Weltstadt erhöht sich der ideale Wert solcher Gesellschaft – das Verlorensein in der Menge, das bitterer ist als Einsamkeit in der Natur, verwandelt sich in das beruhigende Gefühl vom Wissen der Verläßlichkeit eines ergebenen Menschen. Auf demselben Bahnhof, wo ich fünfviertel Jahre vorher meinen kleinen Sohn abfahren sah, im dumpfen Vorgefühl, daß diese Trennung doch wohl das Zeichen meines Unterliegens im Kampf um Freiheit sei – unter den staubig düsteren Wölbungen des Lehrter Bahnhofs wechselten wir den letzten Händedruck.