Fünfte Klage 1 Entweihe sie nicht, die Gesangkraft! Als sie vom Himmel herniederfuhr, Säuselten Namen ihr nach: Botinn Allvaters, Seelenerhöherinn, Herzenschmelzerinn, Tugendbelohnerinn! Sänger! entweihe sie nicht! Dieß lehrten dich nicht die Barden der Vorzeit. Sie sangen umstanden von Knaben. Was trugen vom Liede die Knaben? Entschluß, Bieder und tapfer, so wie die Väter, zu werden. Sie sangen umsessen von Mädchen. Was trugen vom Liede die Mädchen? Entschluß, Häuslich und treue, so wie die Mütter, zu werden. Aber entmanntest du dich, Von bangen, unwilligen Saiten Thierbrunst empörende Klänge zu reißen; Sprudelte giftiger Unflath Von geilheittrunkenen Lippen Ueber dein üppiges Harfenspiel ab, Daß sich dem Knaben die Wange verfärbte, Daß sich das Mädchen im Schleier barg; O dann, Entweiher der hohen Gesangkraft! O dann blicke nicht auf, wo sie herniederfuhr! Athme nicht auf: Was frommet es dir? Du sogst vom Schlamme der Pfütze. Rein ist es oben. Warum Hauchtest du Nebel in's Reine? Und sängest du schöner, als einer der Barden Die Wunder Allvaters, und Gräber hinüber Verherrlichter Liebenden Wiederumarmen, Und Lehren der Weisheit, und Preise der Tugend – Schweig! Blicke nicht auf! Athme nicht auf! Du sogst vom Schlamme der Pfütze. Noch starb in manchem unbewahrten Ohre Der letzte deiner schnöden Klänge nicht, Noch sprüht von deinen Liedern loh gefächelt In manchem Busen wilde Glut. Und jetzo lehrtest du die Weisheit? Und jetzo priesest du die Tugend? Auf eben diesen Saiten? Aus eben diesem Munde? Schweig, feiler Heuchler! Deine Lehre Verführet, und dein Preis ist Schändung; Denn unentschieden, unentschieden ist dein Herz! Da steht ein ehrenwerther Barde Die Brust voll Gottheit, und voll Liebe Zum Glücke seiner Miterschaff'nen, Mit treuen Sorgen an der Stirne, Mit Eiferthränen in dem Auge, Mit edlem Feuer auf den Wangen Im Kreise seines Volkes auf. Allvaters Rechte verkündet sein Lied, Erhebet den Adel der Tugend, Den glänzenden Lohn der Pflichtenerfüllung. Er schleußt. Und jetzo wandelt's leise Durch der Hörer Menge fort: Schön! Doch wann beginnt er uns von Wollust Eben ein so schönes Lied zu thauen? Auch in seinem Harfenspiele Wohnet ungezweifelt Wollust Wäre denn von and'ren Harfen Sie, die seine, nur verschieden? Wär' er nicht, wie der und jener Sänger, Der uns jetzo feurig von Allvater, Jetzo feurig von der Wollust sang? Sined! hülle dich ein! Geuß Nacht der Klagen her um dich Ueber deines Volkes Weisen, Die so schön nicht leben, wie sie lehren, Die aus einem Munde Tugenden und Lüste preisen! Klage, Sined! über deines Volkes Schaden, Das von solchen zweigezüngten Sängern Irrgeleitet göttliche Gesangkraft Nur für feile Laune, Nur für spielende Verstellung hält. Aber heilet deine Klage diesen Schaden? Schweig, und hülle dich ein! Zu breit, zu rasch ist der Strom. Ihn dämmet, o Barde! dein Lied nicht. Nur Erdegötter könnten ihn dämmen. Fußnoten 1 Ueber den Mißbrauch der Dichtkunst.