Fëdor Michajlovič Dostoevskij Verbrechen und Strafe (Prestuplenie i nakazanie) Erster Band Erster Teil 1. I Anfang Juli, in der heißesten Jahreszeit, am Spätnachmittag trat ein junger Mann aus seiner Kammer, die er als Aftermieter in der S-schen Gasse bewohnte, auf die Straße und begab sich langsam, gleichsam unentschlossen zu der K–schen Brücke. Es gelang ihm, eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe zu vermeiden. Seine Kammer befand sich dicht unter dem Dache eines hohen, vierstöckigen Hauses und sah mehr einem Schrank als einer Wohnung ähnlich. Seine Wirtin aber, bei der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung mietete, hauste eine Treppe tiefer in eigener Wohnung, und wenn er ausging, mußte er jedesmal an der Küche der Wirtin mit der immer weit offenstehenden Tür vorbeikommen. Jedesmal, wenn der junge Mann an der Küche vorbeiging, überkam ihn ein krankhaftes, feiges Gefühl, dessen er sich schämte und vor dem er das Gesicht verzog. Er schuldete seiner Wirtin viel Geld und fürchtete, ihr zu begegnen. Er war gar nicht so feige und eingeschüchtert, sogar im Gegenteil; doch seit einiger Zeit befand er sich in einem Zustande von Reizbarkeit und Spannung, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich dermaßen in sich selbst vertieft und von allen Menschen zurückgezogen, daß er jede Begegnung, nicht nur die mit seiner Wirtin, fürchtete. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese bedrängte Lage machte ihm in der letzten Zeit wenig Schmerzen. Seinem Tagewerk ging er in der letzten Zeit nicht mehr nach und wollte ihm auch gar nicht nachgehen. Im Grunde hatte er vor keiner Wirtin Angst, was sie gegen ihn auch im Schilde führen mochte. Doch auf der Treppe stehen zu bleiben, jedes Geschwätz über diese alltäglichen Kleinlichkeiten, um die er sich absolut nicht kümmerte, alle diese zudringlichen Vorstellungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen anzuhören und sich dabei selbst herauszuwinden, zu entschuldigen und zu lügen – nein, es ist schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und, von niemand gesehen, zu verschwinden. Diesmal mußte er übrigens selbst, als er schon auf der Straße war, über seine Angst vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin staunen. »So eine Sache will ich unternehmen und habe dabei Angst vor solchem Unsinn!« sagte er sich mit einem seltsamen Lächeln. »Hm ... ja ... alles hat der Mensch in seiner Hand, und alles läßt er sich entgehen aus bloßer Feigheit ... das ist ein Axiom ... Es ist interessant, was die Menschen mehr als alles fürchten! Einen neuen Schritt, ihr eigenes neues Wort fürchten sie am meisten ... Übrigens schwatze ich zu viel. Darum tue ich auch nichts, weil ich nur schwatze. Vielleicht ist es auch so: ich schwatze, weil ich nichts tue. Dieses Schwatzen habe ich mir im letzten Monat angewöhnt, als ich tagelang in meinem Loche lag und an ... des Kaisers Bart dachte. Nun, warum gehe ich jetzt? Bin ich denn dazu fähig? Ist denn das ernst gemeint? Gar nicht ernst. Eine Phantasie, um mich selbst zu unterhalten; Spielerei? Ja, vielleicht, es ist wirklich nur eine Spielerei!« Draußen war es furchtbar heiß, dazu auch schwül; ein Gedränge; überall Kalk, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener eigentümliche sommerliche Gestank, welchen jeder Petersburger kennt, der nicht in der Lage ist, aufs Land zu gehen, – dies alles erschütterte auf einmal die auch ohnehin schon zerrütteten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank, der aus den Kneipen drang, die in diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und die vielen Betrunkenen, denen er, obwohl es ein Wochentag war, auf Schritt und Tritt begegnete, vervollständigten das abstoßende, traurige Bild. Über die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes glitt der Ausdruck eines tiefen Ekels. Übrigens war er ungewöhnlich hübsch, über das Mittelmaß groß, schlank und geschmeidig und hatte schöne dunkle Augen und dunkelblondes Haar. Bald versank er in tiefe Nachdenklichkeit, eigentlich sogar in eine Ohnmacht, und bemerkte im Gehen nichts von allem, was ihn umgab, und wollte es auch gar nicht bemerken. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin: das kam von seiner Angewohnheit, Monologe zu halten, wie er es sich eben selbst eingestanden hatte. Zugleich war er sich auch dessen bewußt, daß seine Gedanken zuweilen durcheinandergerieten und daß er sehr schwach war: seit zwei Tagen schon hatte er fast nichts gegessen. Seine Kleidung war so zerfetzt, daß auch mancher an alles gewöhnte Mensch sich genieren würde, in diesem Aufzuge bei Tage auf die Straße zu treten. In diesem Stadtteile konnte man übrigens kaum jemand durch solche Kleidung verblüffen. Die Nähe des Heumarktes, die Menge von gewissen Lokalen und die in diesen Straßen und Gassen im Zentrum Petersburgs zusammengedrängte dichte Handwerker- und Arbeiterbevölkerung belebten zuweilen das Straßenbild mit solchen Subjekten, daß es sogar sonderbar wäre, über manche Figur zu staunen. In der Seele des jungen Mannes hatte sich aber schon so viel boshafte Verachtung aufgespeichert, daß er sich, trotz seiner zuweilen noch sehr jugendlichen Empfindlichkeit, seiner zerlumpten Kleidung am allerwenigsten schämte. Anders war es bei den Begegnungen mit manchen seiner Bekannten oder mit seinen früheren Kollegen, denen er überhaupt sehr ungern begegnete ... Als aber ein Betrunkener, den man gerade, Gott weiß warum und wohin, in einem großen, leeren, mit einem riesenhaften Lastpferd bespannten Leiterwagen vorüberführte, ihm plötzlich zurief: »He, du Deutscher mit dem Hute!« und, auf ihn mit der Hand weisend, aus vollem Halse zu schreien begann, blieb der junge Mann plötzlich stehen und griff krampfhaft nach seinem Hut. Es war ein hoher, runder Zimmermannscher Hut, vollkommen abgetragen, ganz rot vor Alter, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und mit einem häßlichen Knick auf einer Seite. Es war aber keine Scham, was er empfand, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sogar an Schreck grenzte. »Das wußte ich ja!« murmelte er verlegen: »Das dachte ich mir auch! Das ist schon das Allerschlimmste! So eine Dummheit, so eine ganz gemeine Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist viel zu auffallend ... Er ist lächerlich und darum auffallend ... Zu meinen Lumpen gehört unbedingt eine Mütze, und wenn auch so flach wie ein Pfannkuchen, und nicht dieses Scheusal. Kein Mensch trägt so einen Hut, man wird ihn schon aus einer Entfernung von einer Werst sehen und sich merken ... man wird ihn sich merken, und da hat man schon ein Indizium. Man muß dabei möglichst wenig auffallen ... Kleinigkeiten, solche Kleinigkeiten sind das Wichtigste! ... Solche Kleinigkeiten richten jedes Unternehmen zugrunde ...« Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es vom Tore seines Hauses waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er ganz im Banne seiner Träume war. Damals wollte er noch selbst nicht an diese seine Träume glauben und stachelte sich nur durch ihre häßliche, doch verführerische Kühnheit auf. Doch jetzt, nach einem Monat sah er die Dinge anders an und hatte sich, trotz aller aufstachelnden Monologe über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit, schon gewöhnt, seinen »häßlichen« Traum für ein wirkliches Unternehmen zu halten, obwohl er sich auch noch nicht recht traute. Er ging jetzt sogar, eine Probe seines Unternehmens zu machen, und seine Erregung wuchs mit jedem Schritt. Mit ersterbendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem riesengroßen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal und mit der andern auf die *sche Straße hinausging. Dieses Haus bestand aus lauter kleinen Wohnungen und war von allerlei Gewerbetreibenden, Schneidern, Schlossern, Köchinnen, deutschen Handwerkern, alleinstehenden Mädchen, kleinen Beamten usw. bewohnt. Die Aus- und Eingehenden huschten nur so durch die beiden Torwege und die beiden Höfe. Drei oder vier Hausknechte versahen hier den Dienst. Der junge Mann war sehr froh, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte sofort direkt aus dem Torwege unbemerkt die Treppe nach rechts hinauf. Die Treppe war finster und eng, eine richtige »Hintertreppe«, doch er kannte sie schon, hatte alles genau studiert, und die Örtlichkeit gefiel ihm nicht schlecht; in dieser Dunkelheit würde ihm auch ein neugieriges Auge ungefährlich sein. – Wenn ich schon jetzt so fürchte, wie wird es dann werden, wenn ich mal vor der Sache selbst stehe? – dachte er sich unwillkürlich, als er den dritten Stock erreichte. Hier versperrten ihm einige Träger – verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen, den Weg. Er wußte schon von früher, daß in dieser Wohnung ein deutscher Beamter mit Familie wohnte: – Dieser Deutsche zieht aus, also bleibt im dritten Stock für einige Zeit nur die Wohnung der Alten allein bewohnt. Das ist gut ... für jeden Fall ... – dachte er sich wieder und läutete bei der Alten an. Die Glocke klimperte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Kupfer gemacht. In ähnlichen kleinen Wohnungen in Häusern dieser Art sind fast immer solche Glocken. Er hatte den Klang dieser Glocke schon fast vergessen, und nun brachte ihm dieses eigentümliche Klimpern etwas in Erinnerung, gab ihm eine klare Vorstellung von etwas ... Er fuhr zusammen – seine Nerven waren diesmal gar zu schwach. Etwas später ging die Tür ein klein wenig auf: die Bewohnerin blickte den Besucher durch den ganz schmalen Spalt mit sichtbarem Argwohn an, und man sah aus dem Dunkeln nur ihre Augen hervorleuchten. Da sie aber draußen auf der Treppe viele Leute gewahrte, faßte sie Mut und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand geteilt war; dahinter befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm da und sah ihn fragend an. Es war eine sehr kleine, ausgemergelte alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit stechenden, bösen Augen, kleiner spitzer Nase und bloßem Kopf. Ihre semmelblonden, nur wenig ergrauten Haare waren ausgiebig mit Öl eingefettet. Um ihren dünnen, langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, hatte sie allerlei Flanell-Lumpen gewickelt, und über ihre Schultern hing, trotz der Hitze, eine zerfetzte und vergilbte Pelzjacke. Die Alte ächzte und hustete jeden Augenblick. Der junge Mann hatte sie wohl irgendwie eigentümlich angeblickt, denn in ihren Augen erschien wieder der frühere Argwohn. »Ich bin der Student Raskolnikow, war schon einmal bei Ihnen vor einem Monat«, beeilte sich der junge Mann mit einer halben Verbeugung zu stammeln: es fiel ihm ein, daß er freundlicher sein müsse. »Ich weiß noch, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte, jedes Wort betonend, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesicht zu wenden. »Also, heute ... komme ich wieder in einer ähnlichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verlegen und über das Mißtrauen der Alten erstaunt. – Vielleicht ist sie übrigens immer so, und ich habe es damals nur nicht bemerkt – sagte er sich mit einem unbehaglichen Gefühl. Die Alte schwieg eine Weile, wie nachdenklich, trat dann zur Seite, zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer und sagte, indem sie dem Gast den Vorantritt ließ: »Treten Sie nur ein, Väterchen.« Das kleine Zimmer, mit den gelben Tapeten, Geranien und Mullvorhängen an den Fenstern, in das der junge Mann kam, war in diesem Augenblick grell von der untergehenden Sonne erleuchtet. – Also wird die Sonne auch dann ebenso leuchten! – ging es Raskolnikow unwillkürlich durch den Kopf, und er überflog mit einem schnellen Blick das ganze Zimmer, um alles zu studieren und sich nach Möglichkeit zu merken. Aber im Zimmer gab es nichts Besonderes. Die sehr alten Möbel aus gelbem Holz bestanden aus einem Sofa mit sehr großer, geschwungener hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tisch vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern, mehreren Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen gelbgerahmten Bildern, die deutsche junge Mädchen mit Vögeln in den Händen darstellten, – das war das ganze Meublement. In einer Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, die Möbel und der Fußboden waren sehr blank gescheuert; alles glänzte. – Das ist wohl Lisawetas Arbeit – dachte sich der junge Mann. Kein Stäubchen war in der ganzen Wohnung zu finden. – Bei bösen und alten Witwen pflegt es so rein zu sein – dachte Raskolnikow weiter und schielte neugierig nach dem Kattunvorhang vor der Tür zum zweiten winzigen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen und in das er noch niemals hineingeblickt hatte. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern. »Was wünschen Sie?« sagte die Alte streng, als sie ins Zimmer trat und sich wieder gerade vor ihn hinstellte, um ihm ins Gesicht zu blicken. »Ich habe ein Pfand mitgebracht, hier!« Und er zog aus der Tasche eine alte flache silberne Uhr. Auf der Rückseite war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl. »Der Termin für das letzte Pfand ist schon um. Vorgestern ist gerade der Monat abgelaufen.« »Ich will Ihnen die Zinsen für den zweiten Monat bezahlen, gedulden Sie sich noch ein wenig.« »Es ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Pfand jetzt gleich zu verkaufen.« »Wieviel geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?« »Immer bringst du mir solche Kleinigkeiten, Väterchen, die Uhr ist fast nichts wert. Für den Ring habe ich Ihnen das letzte Mal zwei Rubelscheine gegeben, aber man kann einen solchen bei einem Juwelier für anderthalb Rubel kaufen.« »Geben Sie mir doch vier Rubel, ich werde sie einlösen, die Uhr habe ich vom Vater. Ich bekomme bald Geld.« »Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wollen.« »Anderthalb Rubel!« schrie der junge Mann auf. »Wie Sie wollen.« Und die Alte reichte ihm seine Uhr. Der junge Mann nahm sie und wurde so böse, daß er gleich weggehen wollte; er überlegte sich aber gleich, daß er sonst nirgends hingehen konnte und daß er auch noch aus einem anderen Grunde gekommen war. »Geben Sie's her!« sagte er grob. Die Alte steckte die Hand in die Tasche nach den Schlüsseln und ging ins andere Zimmer hinter den Vorhang. Als der junge Mann mitten im Zimmer allein geblieben war, lauschte er neugierig und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode aufschloß. – Wahrscheinlich ist es die oberste Schublade – überlegte er sich. – Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche ... Alle Schlüssel sind an einem Stahlring vereinigt ... Darunter ist ein Schlüssel, der dreimal so groß ist als die anderen, mit einem zackigen Bart, – der ist natürlich nicht von der Kommode ... Also hat sie noch irgendeine Schatulle oder Truhe ... Das ist sehr interessant. Truhen haben oft solche Schlüssel ... Übrigens, wie gemein ist dies alles ... Die Alte kam zurück. »Hier, Väterchen: wenn ich Ihnen zehn Kopeken pro Rubel im Monat berechne, so schulden Sie mir für die anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken für den Monat im voraus. Für die zwei früheren Rubel schulden Sie mir nach der gleichen Rechnung zwanzig Kopeken im voraus. Im ganzen also fünfunddreißig. Für Ihre Uhr bekommen Sie jetzt im ganzen einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier ist das Geld.« »Wie! Ich bekomme also nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?« »Sehr richtig!« Der junge Mann wollte nicht streiten und nahm das Geld. Er blickte die Alte an und beeilte sich nicht, wegzugehen, als wollte er noch irgend etwas sagen oder tun; doch was, – das wußte er anscheinend selbst nicht ... »Vielleicht bringe ich Ihnen, Aljona Iwanowna, noch einen Gegenstand ... einen silbernen ... einen guten ... ein Zigarettenetui ... sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme ...« Er wurde verlegen und verstummte. »Nun, dann werden wir darüber reden, Väterchen.« »Leben Sie wohl ... Sie sitzen aber immer allein zu Hause, Ihre Schwester ist nicht da?« fragte er so ungezwungen, wie er nur konnte, während er ins Vorzimmer trat. »Was geht sie Sie an, Väterchen?« »Es ist nichts Besonderes, ich habe nur so gefragt. Sie aber machen sich gleich Gedanken ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!« Raskolnikow verließ ihre Wohnung völlig verwirrt. Seine Verwirrung wurde immer größer. Während er die Treppe hinunterging, blieb er sogar einigemal wie durch etwas erschüttert stehen. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus: »Mein Gott! Wie abscheulich! Und werde ich denn, werde ich denn ... nein, eine Unmöglichkeit!« fügte er entschlossen hinzu. »Konnte mir denn so ein Wahnsinn einfallen? Zu welchem Schmutz ist aber mein Herz fähig! Vor allen Dingen ist es schmutzig, ekelhaft, häßlich, häßlich! ... Und ich habe einen ganzen Monat ...« Er konnte aber seine Erregung weder durch Worte noch durch Ausrufe ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Ekels, das sein Herz, schon als er zu der Alten ging, zu bedrücken und zu trüben angefangen hatte, erreichte jetzt ein solches Maß und kam ihm so deutlich zum Bewußtsein, daß er gar nicht wußte, wohin sich vor dieser Qual zu retten. Er ging über das Trottoir wie ein Betrunkener, ohne die Vorübergehenden zu bemerken, zuweilen mit ihnen zusammenstoßend, und kam erst in der nächsten Straße zur Besinnung. Er sah sich um und stellte fest, daß er sich vor einer Schenke befand, zu der vom Trottoir eine Treppe wie in einen Keller führte. Aus der Tür traten eben zwei Betrunkene; sich gegenseitig stützend und beschimpfend, traten sie auf die Straße. Ohne lange nachzudenken, stieg Raskolnikow schnell hinab. Bisher war er noch nie in einer Schenke gewesen, doch jetzt schwindelte ihm der Kopf, und ein brennender Durst peinigte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche damit erklärte, daß er nichts im Magen hatte. Er setzte sich in eine dunkle und schmutzige Ecke, an einen klebrigen Tisch, ließ sich Bier geben und trank mit Gier das erste Glas. Sofort fühlte er eine Erleichterung, und seine Gedanken klärten sich. – Das alles ist Unsinn – sagte er sich voller Zuversicht –, und ich brauche nicht den Mut zu verlieren! Es ist einfach eine körperliche Zerrüttung. Ein einziges Glas Bier, ein Stück Zwieback, – und im Nu ist der Geist wieder stark, die Gedanken sind klar und die Absichten bestimmt! Pfui, wie nichtig und lächerlich ist doch das alles! ... Aber trotz dieses verächtlichen Ausspuckens sah er schon so lustig aus, als hätte er sich plötzlich von einer fürchterlichen Last befreit, und blickte die Anwesenden wohlwollend an. Doch selbst in diesem Augenblick hatte er das dunkle Gefühl, daß auch diese Empfänglichkeit für das Bessere krankhaft sei. In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen versammelt. Nach den beiden Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte eine ganze Gesellschaft von fünf Mann mit einer Dirne und einer Ziehharmonika die Schenke verlassen. Als sie gegangen waren, wurde es gleich still und geräumig. Es waren noch geblieben: ein etwas angeheiterter Mann, der hinter einer Flasche Bier saß, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; sein Freund, ein dicker, großer Mann, in einem langen Überrock, mit grauem Bart, der ordentlich betrunken war, auf einer Bank duselte und ab und zu plötzlich wie im Schlafe mit den Fingern zu schnalzen anfing, wobei er die Arme spreizte, mit dem Oberkörper, ohne von der Bank aufzustehen, wackelte und dazu irgendeinen Unsinn sang, wobei er sich auf den Text zu besinnen versuchte, der beiläufig so lautete: »Hab ein Jahr mein Weib geliebt, Ha-ab ein Ja-ahr mein Weib geliebt ...« Oder er erwachte plötzlich und begann: »Durch die Stadt bin ich gegangen. Hab die erste eingefangen ...« Niemand teilte aber sein Glück; sein schweigsamer Freund sah allen diesen Ausdrücken sogar feindselig und argwöhnisch zu. Es war noch ein Mann da, der wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Er saß abseits allein vor seiner Flasche, trank ab und zu einen Schluck und blickte um sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein. 2. II Raskolnikow war an den Aufenthalt unter vielen Menschen nicht gewöhnt und mied, besonders in der letzten Zeit, jede Gesellschaft. Jetzt aber fühlte er sich zu den Menschen hingezogen. In ihm ging anscheinend eine Veränderung vor, und gleichzeitig fühlte er ein starkes Bedürfnis nach Gesellschaft. Er war nach diesem Monat gespannter Qual und düsterer Erregung so sehr müde, daß er wenigstens eine Minute lang in einer anderen Welt aufatmen wollte, ganz gleich, in was für einer Welt, – und er blieb, trotz des ganzen Schmutzes der Umgebung, mit Vergnügen in der Schenke. Der Besitzer des Lokals befand sich in einem anderen Zimmer, kam aber oft in das Hauptzimmer, in das er einige Stufen hinabstieg, wobei sich immer erst seine eleganten Schmierstiefeln mit rotem Besatz zeigten. Er trug einen ärmellosen Rock und eine furchtbar fettige, schwarze Atlasweste, hatte keine Halsbinde an, und sein Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; es war auch noch ein anderer, etwas jüngerer Junge da, der den Gästen das Verlangte brachte. Auf dem Schenktische lagen kleingehackte Gurken, schwarzer Zwieback und in Stücke geschnittene Fische; dies alles roch sehr schlecht. Die Luft war so dumpf, daß es beinahe unerträglich war, in dem Raume zu sitzen, und alles war dermaßen von Branntweingeruch durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf Minuten betrunken werden konnte. Zuweilen begegnen wir sogar uns völlig unbekannten Menschen, für die wir uns gleich auf den ersten Blick, ganz plötzlich, noch ehe wir mit ihnen ein Wort gesprochen haben, zu interessieren anfangen. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow der Gast, welcher abseits saß und wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich später einige Male dieses ersten Eindrucks und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte unausgesetzt den Beamten an, natürlich auch aus dem Grunde, weil jener ihn ebenfalls unverwandt ansah und mit ihm sogar wohl ein Gespräch beginnen wollte. Die übrigen Leute, die sich in der Schenke befanden, den Wirt nicht ausgenommen, sah der Beamte mit gewohnten Blicken gelangweilt an, zugleich mit einem Anfluge einer gewissen hochmütigen Geringschätzung, wie Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er doch gar nicht sprechen konnte. Es war ein Mann von über fünfzig Jahren, von mittlerer Größe und gedrungenem Körper, mit graumelierten Haaren und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, sogar grünlichen Gesicht und angeschwollenen Lidern, unter denen kleine, doch begeisterte, rötliche Schlitzäuglein hervorlugten. Es war aber etwas Seltsames an ihm; aus seinen Augen leuchtete sogar etwas wie Begeisterung – vielleicht auch Geist und Verstand –, aber zugleich lag in ihnen auch etwas wie Wahnsinn. Er war mit einem alten, vollkommen zerrissenen Frack ohne Knöpfe bekleidet. Ein einziger Knopf war noch irgendwie erhalten, und mit diesem knöpfte er den Frack zu, da er offenbar den Anstand nicht ganz aufgeben wollte. Unter der Nankingweste steckte ein zerknittertes, verschmiertes und beflecktes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart glattrasiert, doch schon vor längerer Zeit, so daß überall bläuliche Stoppeln hervortraten. Auch in seinen Manieren lag etwas Solides und Beamtenartiges. Aber er war in großer Unruhe, er zerzauste sich die Haare und stützte zuweilen den Kopf wie vor Schmerz in beide Hände, wobei er die durchgewetzten Ellenbogen auf den begossenen, klebrigen Tisch legte. Schließlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und sicher: »Darf ich es wagen, mein sehr verehrter Herr, mich an Sie mit einem anständigen Gespräch zu wenden? Denn obwohl Ihr Aussehen unbedeutend ist, erkennt meine Erfahrung in Ihnen einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe die Bildung, die sich mit herzlichen Gefühlen paart, stets geschätzt, und außerdem stehe ich im Range eines Titularrates. Marmeladow – so ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gewesen sind?« »Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, etwas erstaunt, wie über den eigentümlichen, hochtrabenden Stil dieser Ansprache, so auch darüber, daß der Mann sich so unvermittelt an ihn wandte. Obwohl er erst eben den Wunsch nach irgendeiner Gemeinschaft mit Menschen gehabt hatte, empfand er bei den ersten, wirklich an ihn gerichteten Worten seine gewohnte, unangenehme und gereizte Scheu vor jeder fremden Person, die mit ihm in Berührung kam oder bloß in Berührung kommen wollte. »Also Student, oder gewesener Student!« rief der Beamte aus. »Das dachte ich mir auch! Es ist die Erfahrung, geehrter Herr, die langjährige Erfahrung!« Wie um sich selbst zu loben, führte er den Finger an die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich sonstwie mit den Wissenschaften abgegeben! Aber gestatten Sie ...« Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm etwas schräg gegenüber. Er war angetrunken, sprach aber beredt und gewandt und kam nur hie und da aus dem Konzept oder zog die Sätze allzusehr in die Länge. Er fiel über Raskolnikow mit einer gewissen Gier her, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand gesprochen. »Verehrter Herr«, begann er fast feierlich. »Armut ist kein Laster, das steht fest. Ich weiß auch, daß der Trunk keine Tugend ist, und das steht noch mehr fest. Doch die äußerste Armut, mein Herr, ist wohl ein Laster. In der gewöhnlichen Armut bewahrt man noch den Adel der angeborenen Gefühle; aber in der äußersten Armut – niemals. Für eine solche Armut wird man aus der menschlichen Gesellschaft nicht mal mit einem Stocke gejagt, sondern mit dem Besen hinausgefegt, damit es beleidigender sei; und das ist auch gerecht, denn in der äußersten Armut bin ich als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Davon kommt auch das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat der Herr Lebesjatnikow meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist doch etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie das? Gestatten Sie die Frage, und wenn auch aus purer Neugier. Haben Sie schon auf der Newa in den Heubarken übernachtet?« »Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit,« antwortete Raskolnikow. »Was ist denn das?« »Nun, ich komme von dort, schon die fünfte Nacht ...« Er schenkte sich ein Gläschen ein, trank es aus und wurde nachdenklich. An seinen Kleidern und selbst in den Haaren sah man hie und da hängengebliebene Heuhalme. Es war sehr wahrscheinlich, daß er sich seit den fünf Tagen weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Besonders schmutzig waren seine fettigen, roten Hände mit den schwarzen Nägeln. Sein Gespräch schien eine allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die beiden Jungen hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den »lustigen Kerl« zu hören, er setzte sich abseits und gähnte träge, doch selbstbewußt. Marmeladow war hier offenbar bekannt. Auch seine Neigung für hochtrabende Redensarten hatte er sich wohl durch die Gewohnheit, in den Schenken mit Unbekannten zu sprechen, angeeignet. Diese Gewohnheit wird bei vielen Trinkern zu einem Bedürfnis, besonders bei solchen, die zu Hause streng behandelt werden und sich alles gefallen lassen müssen. Darum bemühen sie sich immer, in der Gesellschaft von Betrunkenen eine Rechtfertigung und, wenn möglich, auch Achtung zu gewinnen. »Ein komischer Kerl«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du aber nicht, warum sind Sie nicht im Dienst, wenn Sie Beamter sind?« »Warum ich nicht im Dienste bin, verehrter Herr?« fiel ihm Marmeladow ins Wort, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend, als hätte dieser die Frage gestellt. »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn nicht das Herz weh, daß ich mich müßig herumtreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte, tat mir das nicht weh? Gestatten Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert ... hm ... nun, jemand hoffnungslos um eine Anleihe zu bitten?« »Das ist mir schon passiert ... das heißt, was verstehen Sie unter hoffnungslos?« »Das heißt völlig hoffnungslos, schon im voraus davon überzeugt, daß nichts daraus wird. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz sicher, daß dieser Herr, dieser äußerst wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen für nichts in der Welt Geld geben wird, denn ich frage Sie, warum soll er mir welches geben? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Aus Mitleid? Herr Lebesjatnikow, der die neuen Ideen verfolgt, hat neulich erklärt, daß das Mitleid in unserer Zeit von der Wissenschaft verboten sei und daß man sich in England, wo es die politische Ökonomie gibt, schon danach richte. Warum also, frage ich Sie, soll er geben? Und nun, trotzdem Sie im voraus wissen, daß er nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und ...« »Warum soll man denn hingehen?« warf Raskolnikow ein. »Wenn man aber sonst keinen Menschen und keinen Ort weiß, um hinzugehen? Jeder Mensch muß doch einmal irgendwo hingehen können! Denn es gibt Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß? Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit einem gelben Paß ausging, so ging ich auch ... (denn meine Tochter lebt mit einem gelben Paß ...)« fügte er in Klammern hinzu und blickte den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Jungen hinter dem Schenktische zu lachen anfingen und auch der Wirt selbst lächelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln bringt mich nicht in Verlegenheit, denn alles ist allen bekannt, und alles Verborgene wird offenbar; ich trage es auch nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Sollen sie nur! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, ich will es stärker und eindringlicher aussprechen: nicht können Sie, sondern wagen Sie, wenn Sie mich jetzt anblicken, positiv zu erklären, daß ich kein Schwein bin?« Der junge Mann erwiderte kein Wort. »Nun«, fuhr der Redner solid und sogar mit gehobenem Selbstbewußtsein fort, nachdem er abgewartet hatte, daß das Kichern im Zimmer verstumme. »Nun, mag ich ein Schwein, mag sie eine Dame sein. Ich habe die Gestalt eines Tieres, aber Katerina Iwanowna, meine Gattin, ist eine gebildete Person und eine geborene Stabsoffizierstochter. Mag ich ein Schuft sein, mag sie von Großmut und von Gefühlen, die durch die Erziehung veredelt sind, erfüllt sein. Und doch ... oh, wenn sie mit mir doch Mitleid hätte! Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr, jeder Mensch müßte doch einen Ort haben, wo man mit ihm Mitleid hätte! Katerina Iwanowna ist aber wohl eine großmütige, doch ungerechte Dame. Und obwohl ich auch selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren herumzerrt, es doch nur aus herzlichem Mitleid tut, denn sie zerrt mich, ich wiederhole es ohne Scham, an den Haaren herum, junger Mann!« – (versicherte er mit unterstrichener Würde, als er wieder ein Kichern hörte) »aber, mein Gott, hätte sie doch nur ein einziges Mal ... Doch nein! Nein! Das ist umsonst! Ich brauche davon gar nicht zu reden! ... Denn was ich mir ersehne, wurde mir schon mehr als einmal zuteil, ich wurde schon mehr als einmal bemitleidet, doch ... das ist schon einmal eine Eigenschaft von mir, ich aber bin ein geborenes Vieh!« »Und ob!« bemerkte gähnend der Wirt. Marmeladow schlug energisch mit der Faust auf den Tisch. »Das ist mal eine Eigenschaft von mir! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich auch ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, was doch einiger maßen natürlich wäre, aber die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Auch ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, das sie mal früher geschenkt bekommen hat, es war ihr Eigentum und nicht meines; wir wohnen aber in einem kalten Loch, und sie hat sich im letzten Winter erkältet und zu husten angefangen, jetzt schon mit Blut. Wir haben aber drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna arbeitet von früh bis spät, wäscht und scheuert, hält auch die Kinder rein, denn sie ist von Kind auf an Reinlichkeit gewöhnt; dabei hat sie aber eine schwache Brust, die zur Schwindsucht neigt, und ich fühle das! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich trinke, um so mehr fühle ich es. Darum trinke ich auch, weil ich im Trunke Mitleid und Gefühle suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden möchte!« Und er legte seinen Kopf wie in Verzweiflung auf den Tisch. »Junger Mann,« fuhr er fort, sich wieder aufrichtend, »in Ihrem Gesicht lese ich einen gewissen Gram. Gleich, als Sie eintraten, las ich ihn, und darum wandte ich mich auch an Sie. Denn ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte nicht, um den müßigen Menschen, die schon alles auch ohnehin wissen, ein schändliches Schauspiel zu liefern, sondern, weil ich einen gefühlvollen und gebildeten Menschen suche. Sie sollen also wissen, daß meine Gattin in einem vornehmen adligen Gouvernementspensionat erzogen worden ist und bei der Abschiedsfeier mit dem Schal vor dem Gouverneur und sonstigen Persönlichkeiten getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein lobendes Attest erhielt. Die Medaille ... ja, die Medaille haben wir längst verkauft ... hm ... das lobende Attest hat sie aber auch jetzt noch im Koffer liegen und hat es erst vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl sie sich mit dieser Wirtin ständig herumzankt, wollte sie dennoch vor jemand prahlen und von den vergangenen glücklichen Tagen berichten. Ich verurteile sie nicht, ich verurteile sie nicht, weil ihr nur dieses Letzte in den Erinnerungen geblieben, alles andere aber zugrunde gegangen ist! Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie scheuert selbst den Fußboden und lebt von Schwarzbrot, wird aber eine Mißachtung ihrer Person nicht dulden. Darum wollte sie sich auch Herrn Lebesjatnikows Grobheit nicht gefallen lassen, und als er sie verprügelte, wurde sie weniger der Schläge als der verletzten Gefühle wegen krank. Ich heiratete sie als Witwe mit drei Kindern, eines kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhause geflohen. Ihren Mann liebte sie über die Maßen, er gab sich aber dem Kartenspiel hin, kam vors Gericht und starb. In der allerletzten Zeit hatte er sie auch geschlagen; sie ließ es sich zwar nicht gefallen, was mir ganz sicher und aus Urkunden bekannt ist, gedenkt seiner aber auch jetzt noch mit Tränen und stellt ihn mir als Muster hin, und ich bin froh, ich bin froh, weil sie wenigstens in der Phantasie glaubt, daß sie einst glücklich gewesen sei ... Er ließ sie als Witwe, mit drei kleinen Kindern, in einem fernen und wilden Landkreise, in dem ich mich damals aufhielt, zurück, in einer so hoffnungslosen Armut, die ich, obwohl ich schon manches gesehen habe, gar nicht beschreiben kann. Auch ihre Verwandten hatten sie verstoßen. Sie war aber stolz, viel zu stolz ... Und dann bot ich ihr, sehr geehrter Herr, der ich auch ein Witwer war und eine vierzehnjährige Tochter von meiner ersten Frau hatte, meine Hand an, da ich solche Qual nicht mitansehen konnte. Auf welche Stufe von Not sie herabgesunken war, können Sie daraus ersehen, daß sie, die gebildet und wohlerzogen war und aus einer bekannten Familie stammte, sich bereit erklärte, mich zu heiraten. Ja, sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend heiratete sie mich! Denn sie konnte sonst nirgends hin. Verstehen Sie es, verstehen Sie es, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgends mehr hin kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht ... Und ich erfüllte meine Pflichten ein ganzes Jahr fromm und heilig und rührte dieses (er wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit stellte ich sie nicht zufrieden; und da verlor ich auch noch meine Stelle, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern wegen einer Änderung im Etat; und nun erst griff ich danach! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir, nach Irrfahrten und vielen Schicksalsschlägen, endlich in diese großartige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Residenzstadt geraten sind. Und hier bekam ich einen Posten ... Ich bekam ihn und verlor ihn gleich wieder. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich ihn aus eigener Schuld, denn ich hatte den Strich erreicht ... Jetzt bewohnen wir ein halbes Zimmer bei der Wirtin Amalie Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Viele andere Leute wohnen dort außer uns ... Es geht dort furchtbar zu, ein wahres Sodom ... hm! ... ja ... Indessen ist meine Tochter aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, meine Tochter, als sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles auszustehen hatte, das verschweige ich. Denn Katerina Iwanowna ist zwar von großmütigen Gefühlen erfüllt, aber eine hitzige und gereizte Dame, sehr streng, und läßt einen gar nicht zu Worte kommen ... Jawohl! Nun, ich will davon lieber nicht sprechen! Eine Erziehung hat meine Ssonja, wie Sie sich wohl denken können, nicht genossen. Vor vier Jahren versuchte ich einmal, sie in Geographie und Weltgeschichte zu unterrichten; da ich aber in diesen Dingen nicht gut beschlagen bin und auch keine ordentlichen Lehrbücher hatte, denn die Bücher, die vorhanden waren ... hm! sie sind jetzt nicht mehr da, diese Bücher, – so endigte damit der ganze Unterricht. Beim Cyrus von Persien blieben wir stehen. Später, als sie schon erwachsen war, las sie einige Romane, und vor kurzem bekam sie durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow das Buch ›Physiologie‹ von Lewes – kennen Sie es? – sie las es mit großem Interesse und teilte auch uns einige Bruchstücke daraus mit: das ist ihre ganze Bildung. Nun wende ich mich an Sie, verehrter Herr, mit einer privaten Frage: wieviel kann nach Ihrer Meinung ein armes, doch ehrliches junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie verdient keine fünfzehn Kopeken im Tag, verehrter Herr, wenn sie ehrlich ist und über keine besonderen Talente verfügt, und auch das nur, wenn sie unermüdlich arbeitet! Und da hat ihr noch der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – haben Sie von ihm nichts gehört? – nicht nur das Geld für das Nähen von einem halben Dutzend holländischer Hemden bis heute nicht bezahlt, sondern sie auch noch unter Beleidigungen hinausgeworfen, indem er mit den Füßen trampelte und sie mit einem unanständigen Worte beschimpfte, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und schief genäht sei. Meine Kinder sind aber hungrig ... Und Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer auf und ab und hat rote Flecken auf den Wangen, was bei dieser Krankheit immer der Fall ist. ›Du lebst,‹ sagte sie, ›du Müßiggängerin, bei uns, ißt und trinkst und hast es warm‹; was ist das aber für ein Essen und Trinken, wenn selbst die kleinen Kinder oft drei Tage lang keine Brotrinde zu sehen bekommen! Ich aber lag damals ... ach, was soll ich viel reden! – ich lag betrunken da und hörte meine Ssonja sagen (sie ist sonst schweigsam und hat ein so sanftes Stimmchen ... blond ist sie, das Gesichtchen immer bleich und mager), ich hörte sie sagen: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich auf eine solche Sache eingehen?‹ Darja Franzewna, ein übles und der Polizei gut bekanntes Frauenzimmer hat sich aber schon an die dreimal durch die Wirtin erkundigt. ›Warum nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna zum Spott: ›Was sollst du es hüten? So eine Kostbarkeit!‹ Sie dürfen sie aber nicht anklagen, mein Herr, nein, nicht anklagen! Dies war nicht bei gesundem Verstand gesagt worden, sondern in Erregung aller Gefühle und angesichts der kranken und weinenden Kinder, die nichts gegessen haben, und auch mehr in beleidigender Absicht, als im genauen Sinne des Wortes ... Denn Katerina Iwanowna hat mal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, und sei es auch nur aus Hunger, fängt sie sie gleich zu schlagen an. So sehe ich, wie Ssonjetschka so gegen sechs Uhr abends aufsteht, ihr Tüchlein umnimmt, das Mäntelchen anzieht und die Wohnung verläßt und in der neunten Stunde wieder heimkommt. Sie kam heim, ging gleich auf Katerina Iwanowna zu und legte vor ihr schweigend dreißig Rubel auf den Tisch. Kein Wörtchen sprach sie dabei, sah sie nicht mal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames Drap-de-dames-Tuch), bedeckte damit ganz den Kopf und das Gesicht und legte sich aufs Bett mit dem Gesicht zu der Wand, bloß die Schultern und der ganze Körper zitterten. Ich aber lag noch im gleichen Zustande wie früher ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, auch ohne ein Wort zu sagen, an Ssonetschkas Bettchen herantrat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete und ihr die Füße küßte und nicht aufstehen wollte, und dann schliefen sie beide zusammen ein, umschlungen ... beide ... beide ... jawohl ... und ich ... ich lag betrunken da.« Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein Gläschen ein, trank es aus und räusperte sich. »Seit jener Zeit, mein Herr,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit jener Zeit wurde meine Tochter, Ssonja Ssemjonowna, infolge eines unglücklichen Umstandes und auf Anzeige übelwollender Menschen, wozu Darja Franzewna besonders viel beitrug, weil man ihr angeblich nicht die gebührende Achtung erwiesen hatte, – gezwungen, einen gelben Paß zu nehmen und konnte infolgedessen nicht mehr bei uns bleiben. Denn auch unsere Wirtin, Amalie Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher hatte sie aber die Darja Franzewna bei ihren Bemühungen unterstützt), und auch der Herr Lebesjatnikow ... hm! ... Nun, der Ssonja wegen kam es eben zu dieser Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna. Anfangs hatte er sich selbst um Ssonetschka beworben, plötzlich stieg er aber aufs hohe Roß: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mensch, in der gleichen Wohnung mit so einer leben?‹ Katerina Iwanowna wollte es sich aber nicht bieten lassen und trat für Ssonja ein ... So kam die Geschichte ... Ssonjetschka besucht uns aber meistens in der Abenddämmerung, sie hilft Katerina Iwanowna und unterstützt uns nach Kräften mit Geldmitteln ... Sie wohnt beim Schneider Kapernaumow, mietete bei ihm ein Zimmer; dieser Kapernaumow ist aber lahm und stottert, und auch seine ganze zahlreiche Familie stottert. Auch seine Frau stottert. Sie wohnen alle in einem Zimmer, Ssonja hat aber ihr eigenes Zimmer mit einem Alkoven ... Hm! ... ja ... Es sind bettelarme Menschen und stottern alle ... ja ... Also ich stand damals am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob beide Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? Nun, dann kennen Sie einen göttlichen Mann nicht! Er ist ein Stück Wachs ... Wachs vor dem Antlitz des Herrn; er schmilzt wie Wachs! ... Es traten ihm sogar einige Tränen in die Augen, als er mich anzuhören geruhte. ›Nun,‹ sagte er, ›Marmeladow, du hast schon einmal meine Hoffnungen getäuscht ... Ich stelle dich aber wieder an, auf meine persönliche Verantwortung‹, so sagte er mir. ›Merk es dir und geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken natürlich, denn in Wirklichkeit hätte er es mir gar nicht erlaubt, denn er ist doch ein hoher Würdenträger und von der neuen politischen und gebildeten Gesinnung; ich kam nach Hause, und als ich erklärte, daß ich wieder einen Posten habe und Gehalt bekommen werde – mein Gott, was gab es da ...« Marmeladow hielt wieder in großer Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße ein ganzer Trupp schon ohnehin betrunkener Säufer, und vor dem Eingange ertönten die Klänge eines von ihnen gemieteten Leierkastens und die gleichsam gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das einen Gassenhauer sang. Es gab großen Lärm. Der Wirt und die Bedienung widmeten sich den neuen Gästen. Marmeladow schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr in seiner Erzählung fort. Er schien sehr schwach, doch je mehr er trank, um so redseliger wurde er. Die Erinnerungen an den Erfolg, den er neulich im Dienste gehabt hatte, belebten ihn gleichsam und spiegelten sich sogar in seinem Gesichte wie ein Leuchten. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu. »Das war aber, mein Herr, vor fünf Wochen ... Ja ... Kaum hatten beide, Katerina Iwanowna und Ssonjetschka, es erfahren, da war es mir, mein Gott! – wie wenn ich ins Himmelreich geraten wäre. Früher konnte ich wie ein Vieh daliegen und bekam nichts als Schimpfworte zu hören. Aber jetzt: sie gehen auf den Fußspitzen und rufen die Kinder zur Ruhe. ›Ssemjon Sacharytsch ist im Dienste müde geworden und ruht aus ... Pst!‹ Kaffee gaben sie mir, wenn ich morgens in den Dienst gehe, und kochten Sahne für mich! Richtige Sahne kauften sie für mich, hören Sie?! Und wo sie nur die elf Rubel fünfzig Kopeken für eine anständige Equipierung hergenommen haben? Das weiß ich wirklich nicht! Stiefel, ein prachtvolles Kattunvorhemd, ein Uniformfrack – dies alles richteten sie in vorzüglicher Qualität für elf Rubel fünfzig Kopeken her. Wie ich am ersten Tage des Morgens vom Dienste herkomme, sehe ich: Katerina Iwanowna hat zwei Gerichte gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir früher keinen Begriff hatten. Sie hat nichts anzuziehen, aber wirklich gar nichts, diesmal aber putzte sie sich aus, als wollte sie Besuche machen; und dabei hatte sie nichts Besonderes an, sie verstand es nur, aus nichts alles zu machen: sie frisiert sich, tut einen sauberen Kragen und Manschetten an, und gleich ist sie ein ganz anderer Mensch, jünger und hübscher. Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur Geld beigesteuert, doch sie selbst, sagt sie, kann uns jetzt noch nicht besuchen, höchstens in der Abenddämmerung, daß es niemand sieht. Hören Sie es, hören Sie es? Wie ich am Nachmittag komme und etwas schlafen will, was denken Sie sich wohl? – Katerina Iwanowna konnte es sich doch nicht versagen: vor einer Woche noch hatte sie mit der Wirtin Amalie Fjodorowna einen großen Krach gehabt, aber diesmal lud sie sie zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saß sie mit ihr und flüsterte fortwährend: ›Ssemjon Sacharowitsch‹, sagte sie, ›ist jetzt im Dienste und bekommt Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, ließ alle warten und führte Ssemjon Sacharytsch an allen vorbei zu sich ins Zimmer.‹ Hören Sie, hören Sie? ›Ich erinnere mich,‹ sagte er, ›Ssemjon Sacharytsch, Ihrer Verdienste. Sie haben zwar diese leichtsinnige Schwäche, da Sie mir es aber versprechen und auch weil es ohne Sie bei uns nicht gut ging (hören Sie, hören Sie!), so verlasse ich mich jetzt‹, sagt er, ›auf Ihr Ehrenwort‹ – ich muß Ihnen sagen, das hat sie alles erfunden, doch nicht aus Leichtsinn, um damit zu prahlen. Nein, sie glaubt es alles selbst und erfreut sich an ihrer eigenen Erfindung, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, bei Gott, ich verurteile es nicht! Als ich aber vor sechs Tagen mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel und vierzig Kopeken heimbrachte und ihr vollzählig ablieferte, nannte sie mich Schätzchen: ›Mein Schätzchen!‹ sagte sie mir. Und das unter vier Augen, verstehen Sie? Nun, bin ich denn schön, und was bin ich für ein Gatte? Doch nein, sie kniff mich in die Backe und sagte: ›Du, mein Schätzchen!‹« Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, doch sein Kinn begann plötzlich heftig zu zittern. Er beherrschte sich aber. Diese Schenke, sein liederliches Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken und die Schnapsflasche, zugleich aber diese krankhafte Liebe zur Frau und Familie hatten seinen Zuhörer ganz wirr gemacht. Raskolnikow hörte ihm gespannt, doch mit schmerzvollem Gefühl zu. Er ärgerte sich, daß er hier eingekehrt war. »Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder zusammengenommen hatte. »Oh, mein Herr, vielleicht kommt Ihnen das alles lächerlich vor, wie den andern, und ich belästige Sie nur mit der Dummheit dieser elenden Einzelheiten meines Lebens, aber mir ist es wirklich nicht zum Lachen! Denn ich kann das alles fühlen! ... Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und des ganzen Abends gab ich mich auch selbst flüchtigen Träumen hin: wie ich wohl alles einrichten und den Kindern Kleider kaufen werde, wie ich ihr selbst die Ruhe gebe und meine einzige Tochter aus der Schmach in den Schoß der Familie zurückbringe ... Und vieles, vieles andere ... Das durfte ich wohl, mein Herr! Und nun, mein Herr (Marmeladow fuhr plötzlich zusammen, hob den Kopf und blickte seinen Zuhörer aufmerksam an), nun, am nächsten Tage nach diesen Träumen – es werden genau fünf Tage her sein –, gegen Abend, stahl ich auf listige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von ihrem Koffer, nahm alles, was vom mitgebrachten Gehalt noch übrig blieb, wieviel es war, weiß ich nicht mehr, und nun, sehen Sie mich an, jetzt ist es alle! Den fünften Tag bin ich von zu Hause weg, sie suchen mich dort, und auch die Stelle ist hin, und mein Uniformfrack liegt in der Schenke bei der Egyptischen Brücke, und im Tausch dafür habe ich diese Bekleidung erhalten ... und alles ist zu Ende!« Marmeladow schlug sich mit der Faust vor die Stirn, preßte die Zähne zusammen und stemmte den Ellenbogen fest gegen den Tisch. Doch nach einer Minute schon war sein Gesicht wieder verändert, er blickte Raskolnikow mit gespielter Verschmitztheit und Frechheit an, lachte und sagte: »Und heute war ich bei Ssonja, habe sie um Geld zu Schnaps, zur Stärkung nach dem letzten Rausch, gebeten! He-he-he!« »Hat sie's gegeben?« schrie jemand von den Neuangekommenen abseits; er schrie es und fing aus vollem Halse zu lachen an. »Hier diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken gab sie mir, mit eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, das hab' ich selbst gesehen ... Sie sagte nichts, sah mich nur schweigend an ... So klagt und weint man über die Menschen nicht hier auf Erden ... sondern dort ... und ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort des Vorwurfs! Und das tut viel mehr weh, viel mehr weh, wenn man keinen Vorwurf zu hören bekommt! ... Dreißig Kopeken, jawohl. Sie braucht aber das Geld selbst, wie? Was glauben Sie, mein lieber Herr? Sie muß jetzt doch auf Reinlichkeit sehen! Diese Reinlichkeit, diese besondere Reinlichkeit kostet aber Geld, verstehen Sie? Nun, dann muß sie auch mal Pomade kaufen, anders geht es ja nicht; gestärkte Unterröcke muß sie haben, so ein elegantes Schuhchen, um ihr Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen will. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Reinlichkeit bedeutet? Nun, und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken weg genommen, um mich zu stärken! Und nun trinke ich! Und habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer wird mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Wie? Tue ich Ihnen jetzt leid, mein Herr, oder nicht? Sag', mein Herr, tue ich dir leid, oder nicht? He-he-he-he!« Er wollte sich wieder einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer. »Was soll man mit dir Mitleid haben?« rief der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand. Man hörte Lachen und sogar Schimpfen. Alle, die Marmeladow zugehört hatten, und auch solche, die ihm nicht zugehört hatten, lachten und schimpften beim bloßen Anblick des verabschiedeten Beamten. »Mitleid haben?! Was soll man mit mir Mitleid haben?!« schrie plötzlich Marmeladow, so laut er konnte, mit vorgestrecktem Arm aufstehend, in sichtbarer Begeisterung, als hätte er auf diese Worte nur gewartet. »Was man mit mir Mitleid haben soll, fragst du? Ja! Man soll auch kein Mitleid mit mir haben! Man muß mich kreuzigen, ans Kreuz schlagen, und nicht bemitleiden! Doch kreuzige, Richter, kreuzige ihn, und nachdem du ihn gekreuzigt hast, hab' mit ihm Mitleid! Und dann komme ich selbst zu dir, um mich kreuzigen zu lassen, denn ich suche keine Freude, sondern Schmerz und Tränen! ... Glaubst du vielleicht, du Schnapsverkäufer, daß diese Flasche mir süß war? Trauer, Trauer suchte ich auf ihrem Grunde, Trauer und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; bemitleiden wird uns aber der, der mit allen Mitleid hatte, der alle und alles verstand. Er ist der Einzige, er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich einer bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und fremden kleinen Kindern zuliebe verkauft hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem abscheulichen Trunkenbold, ohne vor seiner Tierheit zurückzuschrecken, Mitleid gehabt hat?‹ Und er wird sagen: ›Komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Ich habe dir einmal vergeben ... Vergeben werden dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebet hast ...‹ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben, ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Das fühlte ich, als ich neulich bei ihr war, in meinem Herzen! Und er wird alle richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen ... Und wenn er mit allen fertig sein wird, da wird an uns der Ruf ergehen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommt, ihr Trunkenen, kommt, ihr Schwachen, kommt, ihr Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne uns zu schämen, vortreten und uns vor ihn hinstellen. Und er wird sagen: ›Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres und mit seinem Siegel Gezeichnete! Kommt aber auch ihr!‹ Und die Weisen werden sprechen, und die Klugen werden sagen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird antworten: ›Darum, ihr Weisen, darum, ihr Klugen, weil keiner von ihnen sich für dessen würdig hielt ...‹ Und er wird seine Hände gegen uns ausstrecken, und wir werden niederfallen ... und weinen ... und alles verstehen! Dann werden wir es verstehen! Und alle werden es verstehen ... auch Katerina Iwanowna wird es verstehen! Herr, dein Reich komme!« Und er ließ sich, erschöpft und entkräftet, auf die Bank sinken, ohne jemand anzusehen, als hätte er alles, was ihn umgab, vergessen und wäre in Gedanken versunken. Seine Worte machten einigen Eindruck; für eine Weile wurde es still, doch bald ertönte wieder das Lachen und Schimpfen. »Klug gesprochen!« »Hat sich verrannt!« »Ein netter Beamter!« Und so weiter, und so weiter ... »Kommen Sie, Herr,« sagte Marmeladow, den Kopf hebend und sich an Raskolnikow wendend, »begleiten Sie mich nach Hause ... Es ist das Koselsche Haus, im Hofe ... Es ist Zeit ... zu Katerina Iwanowna ...« Raskolnikow wollte schon längst weggehen; auch hatte er schon selbst daran gedacht, Marmeladow zu helfen. Dieser zeigte sich viel schwächer auf den Beinen als im Reden und stützte sich fest auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je mehr sie sich dem Hause näherten, um so mehr bemächtigten sich des Betrunkenen Verwirrung und Angst. »Ich fürchte jetzt nicht Katerina Iwanowna,« stammelte er erregt, »und auch nicht, daß sie mir die Haare raufen wird. Was sind Haare! ... Die Haare sind Unsinn! ... Das sage ich! Es ist sogar besser, wenn sie sie mir zu raufen anfängt, das fürchte ich nicht ... ich ... fürchte ihre Augen ... ja ... die Augen ... Die roten Flecken an den Wangen fürchte ich auch ... dann fürchte ich noch ihren Atem ... Hast du mal gesehen, wie man bei diesem Leiden atmet ... wenn man erregt ist? Auch das Weinen der Kinder fürchte ich ... Denn, wenn Ssonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, so weiß ich gar nicht! Ich weiß nicht! Die Schläge aber fürchte ich nicht ... Wisse, mein Herr, daß diese Schläge mir keinen Schmerz, sondern einen Genuß bedeuten ... Denn ohne dies kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser so. Soll sie mich nur schlagen und ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist schon das Haus. Das Koselsche Haus. Kosel ist Schlosser. Ein reicher Deutscher ... Führe mich!« Sie gingen durch den Hof und stiegen in den dritten Stock. Auf der Treppe wurde es immer dunkler. Es war fast elf Uhr, und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine richtige Nacht gibt, war es oben auf der Treppe sehr dunkel. Eine kleine verrauchte Tür ganz oben am Ende der Treppe stand offen. Ein Lichtstumpf beleuchtete ein furchtbar armes Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; aus dem Flur war alles zu sehen. Alles lag hier durcheinander, besonders verschiedene Kinderlumpen. Die hinterste Ecke war durch ein zerrissenes Laken abgeteilt. Hinter diesem stand wohl das Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein wachstuchüberzogenes, zerrissenes Sofa, vor dem ein alter ungestrichener und ungedeckter Küchentisch aus Fichtenholz stand. Am Rande des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter ein kleiner Talglichtstumpf. Marmeladow wohnte also doch in einem eigenen Zimmer, und nicht in einem »halben«; es war aber ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den anderen Räumen oder Käfigen, in die die Wohnung der Amalie Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort wurde gelärmt und geschrien. Man lachte. Man spielte wohl auch Karten und trank Tee. Zuweilen tönten von dort recht unschickliche Worte herüber. Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine furchtbar abgemagerte Frau, schlank und recht groß mit noch schönem dunkelblondem Haar und tatsächlich mit roten Flecken an den Wangen. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gedrückt, mit vertrockneten Lippen, und atmete nervös und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, doch der Blick war scharf und unbeweglich, und ihr schwindsüchtiges und erregtes Gesicht, auf dem der Widerschein des ausgehenden Lichtes zitterte, machte einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow hielt sie für dreißig Jahre alt, und sie paßte auch gar nicht zu Marmeladow ... Die Eintretenden hatte sie weder gehört noch gesehen; sie war wie geistesabwesend und schien nichts zu hören und zu sehen. Im Zimmer war es dumpf, sie hatte aber das Fenster nicht geöffnet; von der Treppe her stank es, doch die Tür zur Treppe stand offen; aus den inneren Räumen drangen durch die offene Tür Wolken von Tabakrauch herein, sie hustete, machte aber diese Tür nicht zu. Das jüngste Mädchen, etwa sechs Jahre alt, schlief auf dem Fußboden zusammengekauert, den Kopf ans Sofa gelehnt. Ein Junge, ein Jahr älter als sie, zitterte in einer Ecke am ganzen Leibe und weinte. Offenbar hatte er eben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, an die neun Jahre alt, hochaufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, stand im bloßen, fadenscheinigen und zerrissenen Hemdchen, ein altes Mäntelchen aus Drap-de-dames, das wohl vor zwei Jahren gemacht worden war, weil es ihr jetzt nicht mal bis zu den Knien reichte, über die bloßen Schultern geworfen, in der Ecke neben dem kleinen Bruder und umschlang mit ihrem langen, wie ein Streichholz dürren Arm seinen Hals. Sie schien ihn beruhigen zu wollen; sie flüsterte ihm etwas zu und hielt ihn auf jede Weise zurück, damit er nicht wieder zu weinen anfange, und verfolgte zugleich ängstlich mit ihren auffallend großen dunklen Augen, die in dem ausgemergelten und erschrockenen Gesichtchen noch größer aussahen, die Mutter. Marmeladow kniete, ohne in das Zimmer zu treten, in der Tür nieder und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen; sie kam für einen Augenblick zur Besinnung und schien sich zu fragen: wozu ist er hergekommen? Aber sie sagte sich wohl gleich darauf, daß er in ein anderes Zimmer wolle, da das ihrige doch ein Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich dies überlegt hatte, schenkte sie ihm keine weitere Beachtung und ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; plötzlich erblickte sie ihren auf der Schwelle knienden Mann und schrie auf. »Ah!« schrie sie wütend. »Du bist zurückgekommen! Zuchthäusler! Verbrecher! ... Und wo ist das Geld?! Was hast du in der Tasche? Zeig' es her! Das sind auch nicht deine Kleider! Wo sind deine Kleider? Wo ist das Geld? Sprich! ...« Und sie fing ihn zu durchsuchen an. Marmeladow streckte sofort gehorsam und demütig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Geld war keine Kopeke mehr da. »Wo ist denn das Geld?« schrie sie. »O Gott, hat er denn alles vertrunken?! Zwölf Rubel waren ja im Koffer übrig geblieben! ...« Und plötzlich packte sie ihn wie rasend an den Haaren und schleppte ihn ins Zimmer. Marmeladow erleichterte ihr selbst die Mühe, indem er ihr demütig auf den Knien nachrutschte. »Und das ist mir ein Genuß! Und das ist mir kein Schmerz, sondern ein Ge-nuß, sehr ge-ehr-ter Herr!« schrie er, während sie ihn an den Haaren herumzerrte und er sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden anschlug. Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, erwachte und fing zu weinen an. Der Junge in der Ecke hielt es nicht länger aus: er fing zu zittern an, schrie auf und stürzte in furchtbarer Angst, beinahe in einem Krampfe, zu seiner Schwester hin. Das älteste Mädchen fuhr wie aus dem Schlafe auf und zitterte wie Espenlaub. »Vertrunken! Alles, alles vertrunken!« schrie die arme Frau in ihrer Verzweiflung. »Auch die Kleider sind hin! Und die sind hungrig, hungrig! (sie zeigte händeringend auf die Kinder). O, dieses verfluchte Leben! Und Sie, Sie schämen sich nicht?« wandte sie sich plötzlich zu Raskolnikow: »Aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Auch du hast mit ihm getrunken?! Hinaus!« Der junge Mann beeilte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauszugehen. Da ging auch noch die Innentür sperrweit auf, und aus ihr blickten mehrere Neugierige herein. Freche, lachende Gesichter, mit Zigaretten und Pfeifen zwischen den Zähnen und Kappen auf dem Kopfe, drängten sich in die Tür. Man sah Gestalten in offenen Schlafröcken, in sommerlicher Kleidung, die beinahe unanständig war, manche mit Karten in der Hand. Sie unterhielten sich besonders gut und lachten, wenn der an den Haaren herumgezerrte Marmeladow schrie, daß dies ihm ein Genuß sei. Manche traten sogar ins Zimmer; schließlich erklang ein unheildrohendes Kreischen: es war Amalie Lippewechsel, die sich einen Weg durch die Zuschauer bahnte, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertsten Male durch den von Schimpfworten begleiteten Befehl, die Wohnung morgen zu räumen, zu erschrecken. Beim Weggehen fand Raskolnikow noch Zeit, die Hand in die Tasche zu stecken und einige von den Kupfermünzen, die er in der Schenke auf den Rubel herausbekommen hatte, ohne zu zählen, zusammenzuraffen und auf die Fensterbank zu legen. Später, auf der Treppe, besann er sich und wollte umkehren. »Was habe ich eben für eine Dummheit gemacht,« sagte er sich, »sie haben ja ihre Ssonja, und ich brauche mein Geld selber.« – Als er aber eingesehen hatte, daß er das Geld nicht mehr zurückholen konnte und daß er es sowieso nicht mehr zurücknehmen würde, machte er eine unbestimmte Gebärde mit der Hand und ging nach Hause. – »Ssonja braucht ja auch Pomade« – fuhr er fort, durch die Straße gehend und giftig lächelnd. – »Diese Reinlichkeit kostet doch Geld ... Hm! Ssonjetschka wird vielleicht heute selbst Bankerott machen, denn es ist immerhin ein Risiko, diese Jagd auf den reichen Mann ... eine Art Goldgräberei ... So würden sie vielleicht morgen ohne mein Geld auf dem Trocknen sitzen ... Ja, die Ssonja, alle Achtung! Was für einen Brunnen haben sie sich gegraben! Und sie schöpfen aus ihm! Sie schöpfen doch aus ihm! Und sie haben sich daran gewöhnt. Sie haben ein wenig geweint und haben sich dann gewöhnt. An alles gewöhnt sich der Mensch, dieser Schuft!« Er wurde nachdenklich. »Nun, und wenn ich gelogen habe,« rief er plötzlich aus, »wenn der Mensch wirklich kein Schuft ist, der Mensch im allgemeinen, das heißt das ganze Menschengeschlecht, so ist alles übrige nur ein Vorurteil, eine Angst, die man sich selbst gemacht hat, und es gibt keine Schranken, und so muß es auch sein! ...« 3. III Er erwachte am anderen Tage nach einem unruhigen Schlafe sehr spät, der Schlaf hatte ihn aber nicht gestärkt. Er erwachte in einer galligen, reizbaren, bösen Stimmung und sah sich voll Haß in seiner Kammer um. Es war ein Loch von etwa sechs Schritt Länge, das mit seinen gelben, staubigen und überall von den Wänden abstehenden Tapeten den jämmerlichsten Eindruck machte; es war dabei so niedrig, daß es jedem einigermaßen großen Menschen ganz unheimlich wurde, vor Angst, er würde gleich mit dem Kopf an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen durchaus dem Zimmer: es gab da drei alte, nicht ganz heile Stühle, einen gestrichenen Tisch in der Ecke, auf dem einige Hefte und Bücher lagen; schon der Staub, mit dem sie bedeckt waren, ließ darauf schließen, daß sie schon lange von keiner Menschenhand berührt worden waren; und schließlich ein großes plumpes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers einnahm und einst mit Kattun bezogen gewesen, jetzt aber ganz zerfetzt war und Raskolnikow als Bett diente. Oft schlief er darauf, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgetragenen Studentenmantel als Bettdecke und einem einzigen kleinen Kissen unter dem Kopfe, worunter er alles, was er an sauberer Wäsche besaß, stopfte, damit es höher sei. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen. Es würde einem Menschen schwer fallen, noch tiefer zu sinken und noch mehr zu verkommen; Raskolnikow war das aber in seiner jetzigen Gemütsverfassung nur angenehm. Er hatte sich von allen Menschen vollkommen zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Dienstmagd, die ihn zu bedienen hatte und zuweilen in sein Zimmer hineinschaute, reizte seine Galle und brachte ihn zu Krämpfen. So geht es manchen Monomanen, die sich allzu stark auf etwas konzentriert haben. Seine Wirtin hatte schon seit zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu geben, und es war ihm bisher noch gar nicht eingefallen, zu ihr zu gehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, obwohl er ohne Mittagessen saß. Nastasja, die Köchin und einzige Dienstmagd der Wirtin, war über diese Gemütsverfassung des Zimmerherrn zum Teil sogar froh und hatte ganz aufgehört, bei ihm aufzuräumen und den Boden zu kehren; nur ab und zu, so einmal in der Woche, griff sie, wie aus Versehen, nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt geweckt hatte. »Steh auf, was schläfst du!« schrie sie über seinem Kopfe, »es ist bald zehn. Ich habe dir Tee gebracht; willst du Tee? Bist wohl hungrig!?« Der Zimmerherr öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja. »Ist der Tee von der Wirtin, wie?« fragte er, indem er sich langsam und mit krankhaftem Ausdruck vom Sofa erhob. »Ach was, von der Wirtin!« Sie stellte vor ihn ihre eigene, gesprungene Teekanne mit dem schon einmal aufgebrühten Tee hin und legte zwei Stückchen gelben Zucker dazu. »Hier, Nastasja, nimm das, bitte«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht (er hatte in den Kleidern geschlafen) und eine Handvoll Kupfergeld hervorgeholt hatte. »Geh und kaufe mir eine Semmel. Bring auch etwas Wurst aus dem Wurstladen mit, doch von der billigen.« »Die Semmel bringe ich dir sofort, willst du aber vielleicht statt der Wurst Kohlsuppe? Es ist eine gute Kohlsuppe von gestern. Ich hatte sie gestern für dich zurückgestellt, du kamst aber spät heim. Eine gute Kohlsuppe.« Als die Kohlsuppe vor ihm stand und er sie zu löffeln begann, setzte sich Nastasja neben ihn aufs Sofa und fing zu schwatzen an. Sie stammte vom Lande und war sehr geschwätzig. »Praskowja Pawlowna will sich über dich bei der Polizei beschweren«, sagte sie. Er verzog schmerzvoll das Gesicht. »Bei der Polizei? Was will sie denn?« »Du zahlst nichts und ziehst nicht aus. Kannst dir wohl denken, was sie will.« »Zum Teufel, das hat mir noch gefehlt«, murmelte er, mit den Zähnen knirschend. »Nein, das ist mir jetzt ... sehr ungelegen ... Eine dumme Gans ist sie«, fügte er laut hinzu. »Ich will heute zu ihr gehen und mit ihr reden.« »Sie ist wohl eine dumme Gans wie ich, aber warum liegst du, Kluger, wie ein Sack da, warum sieht man dich nichts tun? Früher, sagst du, hast du Kindern Stunden gegeben; warum tust du aber jetzt nichts?« »Ich tue ...« versetzte Raskolnikow unwillig und düster. »Was tust du denn?« »Eine Arbeit ...« »Was für eine Arbeit?« »Ich denke«, antwortete er nach einem Schweigen ernst. Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und wenn man sie zum Lachen brachte, lachte sie lautlos, sich schüttelnd und am ganzen Leibe bebend, bis es ihr übel wurde. »Hast du dir schon viel Geld erdacht?« brachte sie endlich hervor. »Ohne Stiefel kann man keine Stunden geben. Ich spucke auch darauf.« »Spuck nicht in den Brunnen.« »Das Stundengeben bringt nur Kupfergeld ein. Was kann man mit den paar Kopeken anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antwortete er seinen eigenen Gedanken. »Du willst aber wohl das ganze Kapital auf einmal haben?« Er sah sie sonderbar an. »Ja, das ganze Kapital«, antwortete er mit fester Stimme nach einer Pause. »Platz doch nicht gleich damit heraus, sonst machst du einem Angst; es ist gar zu schrecklich. Soll ich dir die Semmel holen oder nicht?« »Wie du willst.« »Ja, ich hab's vergessen! Gestern, als du fort warst, kam ein Brief für dich.« »Ein Brief?! Für mich?! Von wem?!« »Von wem, das weiß ich nicht. Drei Kopeken habe ich dem Briefträger aus eigenem Geld geben müssen. Wirst du sie mir zurückgeben?« »Bring ihn doch um Gottes willen her!« schrie Raskolnikow ganz aufgeregt. »Mein Gott!« Nach einer Minute erschien der Brief. »Also wirklich von der Mutter aus dem R-schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn in die Hand nahm. Lange schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt preßte ihm auch noch etwas anderes das Herz zusammen. »Nastasja, geh fort, um Gottes willen; da hast du deine drei Kopeken, geh aber um Gottes willen schnell fort!« Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Anwesenheit öffnen: er wollte mit dem Briefe allein bleiben. Als Nastasja gegangen war, führte er den Brief schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann studierte er lange die Handschrift der Adresse, die ihm so gut bekannte und liebe, feine, schräge Schrift der Mutter, die ihn einst im Lesen und Schreiben unterrichtet hatte. Er zögerte; er schien sogar etwas zu fürchten. Endlich öffnete er ihn: der Brief war lang, ganze zwei Lot schwer; zwei große Briefbogen waren eng beschrieben. »Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es sind schon über zwei Monate her, daß ich mit Dir nicht mehr brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst gelitten und konnte manche Nacht vor lauter Denken nicht einschlafen. Du wirst mir sicher aus diesem ungewollten Schweigen einen Vorwurf machen. Du weißt doch, wie ich Dich liebe; Du bist unser Einziger, Du bist für mich und Dunja unser alles, unsere ganze Hoffnung und Zuversicht. Was habe ich nicht alles gelitten, als ich erfuhr, daß Du schon vor einigen Monaten die Universität aus Mangel an Mitteln verlassen hast und daß das Stundengeben und die übrigen Einkünfte aufgehört haben! Wie hätte ich Dir auch bei meiner Pension von hundertzwanzig Rubeln im Jahre helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, habe ich, wie Du selbst weißt, von unserem Kaufmann Wasilij Iwanowitsch Wachruschin auf meine Pension hin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war einst mit Deinem Vater befreundet. Indem ich ihn aber ermächtigte, die Pension für mich zu empfangen, mußte ich warten, bis die ganze Schuld gedeckt war; dies ist soeben erst eingetreten, und darum konnte ich Dir die ganze Zeit nichts schicken. Aber jetzt, Gott sei Dank, kann ich Dir wohl wieder schicken; wir können uns jetzt überhaupt mit einer Besserung unserer Finanzen rühmen, und das beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Erstens – wirst Du es wohl erraten, lieber Rodja, – daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten mit mir wohnt und daß wir uns auch in Zukunft nicht mehr trennen werden? Gott sei Dank, ihre Martern haben ein Ende genommen, ich will es Dir aber alles der Reihe nach erzählen, damit Du weißt, wie sich alles zutrug und was wir vor Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, Du hättest gehört, daß Dunja im Hause der Herrschaften Swidrigailow viele Grobheiten zu leiden habe, und von mir genaue Erklärungen verlangtest, was konnte ich Dir damals antworten? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so wärest Du imstande, alles liegen zu lassen und, sei es auch zu Fuß, zu uns zu kommen, denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle, und Du würdest die Beleidigung Deiner Schwester nicht dulden. Ich war auch selbst verzweifelt, aber was konnte ich tun? Ich kannte damals auch selbst nicht die ganze Wahrheit. Die größte Schwierigkeit bestand aber darin, daß Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre die Gouvernantenstelle annahm, sich ganze hundert Rubel als Vorschuß auszahlen ließ, unter der Bedingung, daß das Geld ihr monatlich vom Gehalt abgezogen werde; sie konnte also die Stelle nicht aufgeben, bevor die ganze Schuld abgetragen war. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie hauptsächlich darum genommen, um Dir die sechzig Rubel schicken zu können, die Du damals so dringend gebraucht und die Du von uns im vorigen Jahre auch wirklich erhalten hast. Wir haben Dich damals betrogen, wir schrieben Dir, es sei von dem Gelde, das Dunjetschka sich früher erspart hätte; es war aber nicht so, jetzt teile ich Dir die ganze Wahrheit mit, weil alles sich plötzlich nach Gottes Fügung zum Besten gewendet hat, und damit Du weißt, wie sehr Dich Dunja liebt und was für ein kostbares Herz sie hat. Herr Swidrigailow hatte sie zuerst wirklich sehr grob behandelt und sich ihr gegenüber allerlei Unhöflichkeiten und Sticheleien bei Tisch erlaubt ... Ich will mich aber auf diese traurigen Einzelheiten nicht einlassen, um Dich jetzt, wo alles vorbei ist, nicht aufzuregen. Kurz, trotz des gutmütigen und vornehmen Verhaltens Marfa Petrownas, der Gattin des Herrn Swidrigailow, wie auch der ganzen Familie, hatte es Dunjetschka sehr schwer, besonders wenn Herr Swidrigailow nach seiner alten Regimentsangewohnheit unter dem Einfluß des Gottes Bacchus stand. Aber was stellte sich später heraus? Denke Dir nur: dieser Wahnsinnige hatte schon früher eine Leidenschaft zu Dunja gefaßt, verbarg sie aber immer unter der Maske von Grobheit und Verachtung. Vielleicht schämte er sich auch und entsetzte sich, als er, der doch ein bejahrter Mann und Familienvater ist, sich auf solchen leichtsinnigen Hoffnungen ertappte, und ließ darum seine Wut unwillkürlich an Dunja aus. Vielleicht wollte er auch unter dem Deckmantel seines groben Benehmens und Spottes die Wahrheit vor den andern verbergen. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus und erfrechte sich, Dunja einen offenen und gemeinen Antrag zu machen unter der Versprechung, sie reich zu belohnen und auch alles im Stich zu lassen und mit ihr auf ein anderes Gut oder sogar ins Ausland zu ziehen. Du kannst Dir wohl alle ihre Leiden vorstellen! Sie konnte aber ihre Stellung nicht sofort aufgeben, und zwar nicht nur wegen der Geldangelegenheit, sondern auch aus Rücksicht auf Marfa Petrowna, die dadurch Verdacht schöpfen könnte, was zu einem Zerwürfnis in der Familie hätte führen können. Und auch für Dunjetschka wäre es ein Skandal; ohne einen solchen wäre es doch nicht abgelaufen. Es waren auch noch viele andere Gründe da, so daß Dunja gar nicht rechnen durfte, früher als in sechs Wochen aus diesem schrecklichen Hause herauszukommen. Du kennst natürlich Dunja und weißt, wie klug und charakterfest sie ist. Dunjetschka kann vieles ertragen und im äußersten Falle noch soviel Mut aufbringen, um nicht ihre Kraft zu verlieren. Sie hat mir nichts darüber geschrieben, um mich nicht aufzuregen; wir tauschten aber oft Briefe. Die Lösung kam sehr unerwartet. Marfa Petrowna belauschte einmal zufällig ihren Mann, wie er Dunjetschka im Garten anflehte; sie faßte aber alles falsch auf, schob die ganze Schuld auf Dunja und glaubte, sie hätte angefangen. Es kam gleich im Garten zu einer fürchterlichen Szene: Marfa Petrowna schlug sogar Dunja, wollte auf nichts hören, schrie eine ganze Stunde und gab zuletzt den Befehl, Dunja sofort zu mir in die Stadt zu bringen, in einem einfachen Bauernwagen, in den man alle ihre Sachen – Wäsche und Kleider, alles, wie es gerade lag, unverpackt und nicht zusammengelegt – hineinwarf. Da kam aber gerade ein Guß, und Dunja mußte, beleidigt und geächtet, unter strömendem Regen ganze siebzehn Werst mit dem Bauer im offenen Wagen fahren. Nun überlege Dir, was konnte ich Dir in meinem Antwortbrief auf den Deinigen, den ich vor zwei Monaten erhalten habe, schreiben? Ich war selbst verzweifelt; Dir die Wahrheit zu schreiben, wagte ich nicht, weil Du unglücklich, erbittert und empört geworden wärest; und was hättest Du auch in der Sache tun können? Du hättest Dich vielleicht zugrunderichten können, und auch Dunjetschka wollte es mir nicht erlauben; aber einen Brief mit Dummheiten füllen, wo ich im Herzen solchen Kummer hatte, das konnte ich nicht. Einen ganzen Monat lang erzählte man sich in unserer ganzen Stadt allerlei Klatsch über diese Geschichte, und es kam so weit, daß ich mit Dunja vor Tuscheln und verächtlichen Blicken nicht mal in die Kirche gehen konnte; die Leute sprachen sogar ganz laut in unsrer Gegenwart. Alle Bekannten sagten sich von uns los, alle hörten sogar auf, uns zu grüßen, und ich erfuhr aus sicherer Quelle, daß die Ladenkommis und einige Kanzlisten uns eine gemeine Beleidigung durch das Beschmieren unseres Haustores mit Teer antun wollten, so daß die Wirtsleute verlangten, daß wir die Wohnung räumen. Schuld an alledem hatte Marfa Petrowna, die es fertigbrachte, Dunja in allen Häusern zu verleumden und anzuschwärzen. Sie kennt hier alle Leute und kam in diesem Monat jeden Augenblick in die Stadt; und da sie ein wenig geschwätzig ist und gern über ihre Familienangelegenheiten spricht, mit besonderer Vorliebe aber jedem, der es hören will, über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so hat sie diese Geschichte in kürzester Zeit nicht nur in der Stadt, sondern auch im ganzen Landkreise ausposaunt. Ich wurde ganz krank, Dunjetschka war aber fester als ich, und Du hättest nur sehen sollen, wie sie alles trug und auch mich noch tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Doch dank der Barmherzigkeit Gottes wurden unsere Qualen abgekürzt: Herr Swidrigailow besann sich, bereute und legte, wohl aus Mitleid mit Dunja, Marfa Petrowna volle und überzeugende Beweise für die Unschuld Dunjetschkas vor, und zwar einen Brief, den Dunja, noch bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und einzuhändigen gezwungen war, um alle persönlichen Erklärungen und geheimen Zusammenkünfte, die er von ihr verlangte, abzulehnen, – und dieser Brief war nach Dunjetschkas Abreise in den Händen des Herrn Swidrigailow geblieben. In diesem Briefe warf sie ihm mit der glühendsten und tiefsten Entrüstung sein gemeines Benehmen gegen Marfa Petrowna vor – und erklärte ihm, wie niedrig es von ihm, einem Vater und Gatten sei, ein ohnehin schon unglückliches, wehrloses Mädchen so zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Wort, lieber Rodja, der Brief war so edel und rührend geschrieben, daß ich beim Lesen weinte und ihn auch jetzt nicht ohne Tränen lesen kann. Zur Rechtfertigung Dunjas kamen jetzt auch noch die Aussagen der Dienstboten hinzu, die viel mehr gesehen hatten und wußten, als es Herr Swidrigailow annahm, wie es auch immer zu gehen pflegt. Marfa Petrowna war ganz bestürzt und ›von neuem erschlagen‹, wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der Unschuld Dunjetschkas überzeugt. Gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhr sie direkt in die Domkirche und erflehte sich von der Mutter Gottes kniefällig und unter Tränen die Kraft, diese neue Prüfung zu ertragen und ihre Pflicht zu erfüllen. Direkt aus der Kirche, ohne jemand anderen zu besuchen, kam sie zu uns, erzählte uns alles, weinte bitterlich, umarmte Dunja voller Reue und bat sie um Verzeihung. Am selben Morgen begab sie sich unverzüglich, direkt von uns in alle Häuser der Stadt und stellte überall in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, unter Tränen, Dunjetschkas Unschuld fest und sprach vom Adel ihrer Gefühle und ihres Betragens. Und noch mehr als das: sie zeigte allen den eigenhändigen Brief Dunjetschkas an Herrn Swidrigailow, las ihn vor und ließ von ihm sogar Abschriften anfertigen (was ich sogar für überflüssig halte). So mußte sie einige Tage hintereinander alle Menschen in der Stadt aufsuchen, so daß manche sich sogar gekränkt fühlten, weil sie erst nach den anderen kamen; auf diese Weise wurde eine Reihenfolge festgesetzt, so daß man sie in jedem Hause schon im voraus erwartete, und alle Menschen wußten, daß Marfa Petrowna an dem und dem Tage dort und dort den Brief vorlesen würde; zu jeder Vorlesung versammelten sich immer neue Leute, und auch solche, die den Brief schon einige Male wie bei sich, so auch bei ihren Bekannten gehört hatten. Ich meine, daß hierbei vieles, sehr vieles überflüssig war. Aber Marfa Petrowna ist einmal so. Jedenfalls stellte sie die Ehre Dunjetschkas vollkommen wieder her, und die ganze Gemeinheit dieser Sache fiel als unverwischbare Schmach auf ihren Mann, als den Hauptschuldigen, so daß er mir sogar leid tut; man hat diesen Wahnsinnigen doch zu streng bestraft. Dunja bekam sofort mehrere Aufforderungen, in verschiedenen Häusern Unterricht zu geben, doch sie schlug es ab. Alle begannen ihr überhaupt eine besondere Achtung zu zeigen. Dies alles trug hauptsächlich zu dem unerwarteten Ereignis bei, durch das sich jetzt unser ganzes Schicksal sozusagen wendet. Wisse nun, lieber Rodja, daß ein Freier um Dunja angehalten und daß sie ihm bereits ihr Jawort gegeben hat: dies beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Obwohl diese Sache auch ohne Deinen Ratschlag zustande gekommen ist, wirst Du wohl weder mir noch Deiner Schwester Vorwürfe machen, denn Du kannst aus der Sache selbst ersehen, daß es uns unmöglich war, zu warten und die Entscheidung bis zum Eintreffen Deiner Antwort hinauszuschieben. Auch hättest Du das alles von Petersburg aus gar nicht beurteilen können. Es kam aber so. Er ist schon Hofrat, heißt Pjotr Petrowitsch Luschin und ist ein entfernter Verwandter von Marfa Petrowna, die die ganze Sache lebhaft gefördert hat. Es fing damit an, daß er durch sie den Wunsch äußerte, unsere Bekanntschaft zu machen; dann wurde er, wie es sich ziemt, empfangen, trank bei uns Kaffee und schickte schon am nächsten Tag einen Brief, in dem er sehr höflich seinen Antrag darlegte und um eine schnelle und bestimmte Antwort ersuchte. Er ist ein vielbeschäftigter Mensch und hat die Absicht, so fort nach Petersburg zu reisen, und will keinen Augenblick verlieren. Natürlich waren wir zuerst sehr bestürzt, denn es war allzu schnell und unerwartet gekommen. Wir überlegten uns die Sache gemeinsam den ganzen Tag. Er ist ein zuverlässiger, gut versorgter Mann, bekleidet zwei Stellungen und besitzt schon ein eigenes Kapital. Allerdings ist er schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von recht angenehmem Außern und kann noch Frauen gefallen; er ist auch überhaupt ein höchst solider und anständiger Mann, nur ein wenig düster und vielleicht auch hochmütig. Es mag sein, daß das nur auf den ersten Blick so vorkommt. Ich bitte Dich schon jetzt, lieber Rodja, ihn, wenn Du ihn in Petersburg siehst, was sehr bald geschehen wird, nicht so voreilig und zu hitzig zu beurteilen, wie es Dir eigen ist, wenn Dir auf den ersten Blick etwas an ihm mißfällt. Ich sage das für jeden Fall, obwohl ich überzeugt bin, daß er auf Dich einen angenehmen Eindruck machen wird. Außerdem muß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und mit der größten Vorsicht herantreten, um nicht in Fehler oder Vorurteile zu verfallen, die später sehr schwer zu korrigieren und zu beseitigen sind. Pjotr Petrowitsch ist aber, wenigstens nach vielen Anzeichen zu schließen, ein höchst ehrenwerter Mann. Gleich bei seinem ersten Besuch erklärte er uns, daß er ein nüchterner Mensch sei, doch in vielen Dingen, wie er sich selbst ausdrückte, ›die Überzeugungen unserer jüngsten Generation‹ teile und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sagte noch vieles andere, denn er scheint etwas ehrgeizig zu sein und es zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja fast kein Fehler. Ich habe davon natürlich wenig verstanden, aber Dunja erklärte mir, daß er zwar nicht übermäßig gebildet, doch klug und anscheinend auch gut sei. Du kennst doch den Charakter Deiner Schwester, Rodja. Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, wenn auch etwas zu hitzig, was ich an ihr genau studiert habe. Natürlich liegt hier weder auf seiner noch auf ihrer Seite eine besondere Liebe vor, aber Dunja ist nicht nur ein kluges Mädchen, sondern auch ein edles Wesen, ein Engel, und wird es für ihre Pflicht halten, das Glück eines Mannes auszumachen, der auch seinerseits für ihr Glück sorgt; das letztere zu bezweifeln, haben wir zunächst keine zwingenden Gründe, obwohl die Sache, offen gestanden, doch etwas zu schnell zustandegekommen ist. Außerdem ist er ein klug berechnender Mann und wird natürlich selbst einsehen, daß sein eigenes Eheglück um so gesicherter sein wird, je glücklicher Dunjetschka mit ihm ist. Was aber irgendwelche Unebenheiten im Charakter, irgendwelche alte Angewohnheiten und sogar gewisse Gegensätze in den Ansichten (die sich ja auch in den glücklichsten Ehen nicht vermeiden lassen) betrifft, so hat mir Dunjetschka gesagt, daß sie sich darin auf sich selbst verläßt; daß kein Grund zur Beunruhigung vorliege und daß sie vieles tragen könne, unter der Bedingung, daß das Verhältnis auch in Zukunft ebenso ehrlich und gerecht bleibe. Das Außere eines Menschen ist aber oft trügerisch. Mir erschien er zum Beispiel im ersten Augenblick etwas schroff; das kann aber auch darauf beruhen, daß er gerade und offenherzig ist, und das ist auch sicher der Fall. Zum Beispiel schon bei seinem zweiten Besuche, als er das Jawort hatte, äußerte er sich im Gespräch, daß er sich schon früher, ehe er noch Dunja kennengelernt, vorgenommen hätte, ein ehrliches Mädchen, doch ohne Mitgift, zu heiraten, und zwar unbedingt eines, das schon in einer Notlage gewesen sei: er erklärte es damit, daß ein Mann, nach seiner Meinung, seiner Frau durch nichts verpflichtet sein müsse und daß es viel besser sei, wenn die Frau den Mann für ihren Wohltäter halte. Ich bemerke, daß er sich etwas weicher und liebenswürdiger ausdrückte, als ich es Dir hier schreibe, denn ich habe seine genauen Ausdrücke vergessen und erinnere mich nur des Sinnes; außerdem sagte er dies durch aus nicht mit Absicht, sondern ließ es nur in der Hitze des Gesprächs wohl ganz zufällig fallen, so daß er sich später bemühte, es zu vertuschen und zu mildern; und doch kam mir dies etwas schroff vor, und ich teilte diese Bedenken später auch Dunja mit. Aber Dunja antwortete mir sogar geärgert: ›Worte sind noch keine Taten‹, und hat natürlich recht. Vor ihrem Entschluß hatte Dunjetschka eine ganze Nacht nicht geschlafen und war, in der Meinung, daß ich schon schlafe, vom Bett aufgestanden und die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gegangen; schließlich kniete sie nieder und betete lange und heiß vor dem Heiligenbilde; am anderen Morgen erklärte sie mir aber, daß sie sich entschlossen habe. Ich habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch jetzt nach Petersburg reist. Er hat dort viel zu tun und will in Petersburg ein öffentliches Bureau für Rechtsangelegenheiten eröffnen. Er beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit der Führung von Zivilklagen und Prozessen und hat erst dieser Tage einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Darum muß er auch nach Petersburg, weil er dort vor dem Senat einen wichtigen Prozeß zu führen hat. So kann er auch Dir sehr nützlich sein, lieber Rodja, sogar in jeder Beziehung, und für mich und Dunja steht es schon fest, daß Du vom heutigen Tage an Deine zukünftige Karriere ganz bestimmt beginnen wirst und Deine Zukunft für gesichert ansehen darfst. Oh, wenn dies doch in Erfüllung ginge! Das wäre so ein Gewinn, daß man es nur für eine Gnade des Allerhalters ansehen dürfte. Dunja träumt überhaupt nur davon. Wir haben schon riskiert, einige Worte darüber Pjotr Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich sehr vorsichtig und sagte, daß er, da er ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, es natürlich vorziehen würde, das Gehalt einem Verwandten und nicht einem Fremden zu zahlen, wenn dieser Verwandte sich nur für den Posten eigne (Du solltest Dich nicht eignen!); zugleich äußerte er aber auch Bedenken, ob Deine Studien an der Universität Dir genug Zeit für die Arbeit in seinem Bureau übrig lassen würden. Damit endete auch das erste Gespräch; Dunja will jetzt an nichts anderes denken. Seit einigen Tagen ist sie wie im Fieber und hat schon ein ganzes Projekt ausgeheckt, daß Du in Zukunft Gehilfe und sogar Kompagnon von Pjotr Petrowitsch in seinen Rechtsangelegenheiten werden könntest, um so mehr, als Du Jus studierst. Ich bin mit ihr vollkommen einverstanden, Rodja, und teile alle ihre Pläne und Hoffnungen, da ich sie für durchaus erfüllbar halte; und trotz der jetzigen, wohl verständlichen Zurückhaltung Pjotr Petrowitschs (weil er Dich noch gar nicht kennt) ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten Einfluß auf ihren künftigen Mann durchsetzen wird; ja, davon ist sie fest überzeugt. Wir nahmen uns natürlich sehr in acht, Pjotr Petrowitsch auch nur etwas von unseren Hoffnungen und davon, daß Du sein Kompagnon werden sollst, zu verraten. Er ist ein nüchterner Mensch und könnte es vielleicht etwas trocken aufnehmen, da ihm dies alles als ein leerer Traum erschienen wäre. Ebenso haben wir, weder ich noch Dunja, auch nur ein Sterbenswörtchen von unserer festen Zuversicht fallen lassen, daß er uns helfen werde, Dich mit Geld zu unterstützen, solange Du noch auf der Universität bist; wir sprachen nicht davon, erstens, weil er mit der Zeit ganz von selbst kommt und weil er es uns doch sicher selbst, ohne viele Worte, anbieten wird (kann er denn Dunjetschka etwas abschlagen?), um so mehr, als Du seine rechte Hand im Bureau werden kannst und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, sondern als ein verdientes Gehalt bekommen kannst. So will es Dunjetschka einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Zweitens haben wir mit ihm darüber nicht gesprochen, weil ich durchaus möchte, daß Du bei der bevorstehenden Begegnung auf dem gleichen Fuße mit ihm stehen sollst. Als Dunja zu ihm mit Entzücken über Dich sprach, antwortete er, daß man jeden Menschen zuerst persönlich und aus nächster Nähe sehen müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich selbst vorbehalte, nachdem er Dich einmal kennengelernt, seine Meinung über Dich zu bilden. Weißt Du was, mein teuerer Rodja, mir scheint aus gewissen Erwägungen, (die sich übrigens gar nicht auf Pjotr Petrowitsch beziehen, sondern aus meinen eigenen, persönlichen Erwägungen, vielleicht sogar aus einer Altweiberlaune) – mir scheint, daß ich vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Hochzeit allein, so wie jetzt, lebe, und nicht mit ihnen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er so vornehm und zartfühlend sein wird, mich selbst einzuladen und aufzufordern, mich von meiner Tochter nicht zu trennen; wenn er darüber noch nicht gesprochen hat, so doch natürlich nur darum, weil es sich auch ohne Worte ganz von selbst versteht; ich werde aber die Einladung nicht annehmen. Ich habe in meinem Leben mehr als einmal gesehen, daß die Schwiegermütter den Männern nicht sehr sympathisch sind, ich aber will nicht nur keinem Menschen zur Last fallen, sondern auch vollkommen frei und unabhängig sein, solange ich noch ein Stück Brot und solche Kinder habe wie Dich und Dunjetschka. Wenn es geht, werde ich mich in Euerer Nähe niederlassen, denn das Angenehmste habe ich für den Schluß des Briefes aufgespart, Rodja: erfahre nun, mein lieber Freund, daß wir uns alle drei vielleicht sehr bald nach der fast dreijährigen Trennung wiedersehen und umarmen werden! Es ist schon fest beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg reisen; wann, weiß ich noch nicht, jedenfalls aber sehr, sehr bald, vielleicht sogar in einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Pjotr Petrowitschs ab, der uns, sobald er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben wird. Aus verschiedenen Gründen will er die Eheformalitäten möglichst beschleunigen und die Hochzeit womöglich in der Fastnachtswoche feiern, und wenn das infolge der kurzen Frist nicht mehr geht, dann gleich nach Mariä Himmelfahrt. Oh, mit welchem Glück werde ich Dich an mein Herz drücken! Dunja ist vor Freude, Dich wiederzusehen, ganz aufgeregt und hat einmal im Scherz gesagt, daß sie schon deswegen den Pjotr Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein Engel! Sie schreibt Dir diesmal nicht, bittet mich aber, Dir zu schreiben, daß sie mit Dir so viel zu sprechen hat, so viel, daß sie sich jetzt scheut, nach einer Feder zu greifen, – weil man in einigen Zeilen gar nichts sagen, sondern sich nur aufregen kann; sie läßt Dich herzlich umarmen und unzähligemal küssen. Obwohl wir uns vielleicht sehr bald sehen werden, werde ich Dir dieser Tage Geld, soviel ich kann, schicken. Jetzt, wo alle erfahren haben, daß Dunjetschka Pjotr Petrowitsch heiratet, ist auch mein Kredit gestiegen, und ich weiß auch ganz bestimmt, daß Afanassij Iwanowitsch mir jetzt auf meine Pension hin eine größere Summe vorstrecken wird, vielleicht sogar fünfundsiebzig Rubel, so daß ich Dir vielleicht fünfundzwanzig oder sogar dreißig Rubel schicken werde. Gern würde ich Dir noch mehr schicken, aber ich fürchte die Reisekosten; obwohl Pjotr Petrowitsch so gut war, einen Teil der Kosten unserer Reise nach Petersburg auf sich zu nehmen, – er hat uns nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und den großen Koffer auf eigene Rechnung (irgendwie durch Bekannte) zu befördern, müssen wir aber doch auch mit dem Aufenthalt in Petersburg rechnen, wo man doch wenigstens in den ersten Tagen nicht ohne einen Pfennig Geld dasitzen darf. Ich habe übrigens schon alles mit Dunjetschka genau berechnet, und es kam dabei heraus, daß die Reise selbst nicht viel kosten wird. Bis zur Bahnstation sind es nur neunzig Werst, und wir haben uns schon für jeden Fall mit einem bekannten Bauern, der Fuhrmann ist, geeinigt; in der Eisenbahn fahren wir aber glücklich in der dritten Klasse. So ist es möglich, daß es mir gelingt, Dir nicht fünfundzwanzig, sondern ganz sicher dreißig Rubel zu schicken. Doch genug davon; zwei Bogen habe ich vollgeschrieben, und es bleibt kein Platz mehr übrig. Da hast Du unsere ganze Geschichte; nun, es hat sich ja eine Menge von Ereignissen angesammelt! Ich umarme Dich, mein teuerer Rodja, bis zu unserem baldigen Wiedersehen und schicke Dir meinen mütterlichen Segen. Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und wisse, daß sie Dich grenzenlos, mehr als sich selbst liebt. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, Du bist unsere ganze Hoffnung und unsere ganze Zuversicht. Wenn Du bloß glücklich bist, so sind wir auch glücklich. Betest Du noch zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst Du an die Güte unseres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, ob Dich nicht schon der neueste moderne Unglaube angesteckt hat. Wenn dem so ist, so bete ich für Dich. Denke doch, Liebster, daran, wie Du in Deiner Kindheit, als Dein Vater noch lebte, auf meinen Knien Deine Gebete stammeltest und wie glücklich wir damals waren! Lebe wohl, oder besser: Auf Wiedersehen ! Ich umarme Dich fest und küsse Dich unzählige Male. Bis zum Grabe Deine Pulcheria Raskolnikowa.« Fast die ganze Zeit, als Raskolnikow diesen Brief las, gleich von Anfang an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er ihn aber zu Ende gelesen hatte, war es bleich, von einem Krampfe verzerrt, und ein schweres, galliges, böses Lächeln spielte um seine Lippen. Er ließ seinen Kopf auf das magere und abgenutzte Kissen fallen und dachte lange, lange nach. Mächtig schlug sein Herz, und mächtig regten sich seine Gedanken. Schließlich wurde es ihm in dieser gelben Kammer, die einem Schrank oder einem Koffer glich, zu dumpf und zu eng. Seine Blicke und Gedanken verlangten nach Freiheit und Raum. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen; er hatte das ganz vergessen, er schlug die Richtung nach der Wassiljewski-Insel durch den W–schen Prospekt ein, als eile er in einer wichtigen Angelegenheit hin; er ging aber, wie immer, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hinflüsternd und sogar laut mit sich selbst sprechend, wodurch er die Vorübergehenden in Erstaunen setzte. Viele hielten ihn für betrunken. 4. IV Der Brief der Mutter hatte ihn müdegequält. Doch über den wichtigsten Punkt, den Kardinalpunkt, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, selbst als er den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte. Die Hauptsache war in seinem Kopfe beschlossen, und zwar unumstößlich beschlossen: »Aus der Heirat wird nichts, solange ich lebe, und zum Teufel mit dem Herrn Luschin!« »Denn die Sache ist ja ganz klar«, murmelte er vor sich hin, grinsend und über den Erfolg seines Entschlusses im voraus triumphierend. – »Nein, Mama, nein, Dunja, ihr werdet mich nicht anführen! ... Und sie entschuldigen sich noch, daß sie mich nicht um Rat gefragt und die Sache ohne mich entschieden haben! Das will ich meinen! Sie glauben, daß es nicht mehr zu zerreißen ist; wir wollen sehen, ob es geht, oder nicht geht! Was für eine kapitale Ausrede: ›Pjotr Petrowitsch ist so beschäftigt, so furchtbar beschäftigt, daß er nicht anders als mit der Post, beinahe mit der Eisenbahn heiraten kann!‹ Nein, Dunjetschka, ich sehe alles und weiß, worüber du mit mir so viel zu sprechen hast; ich weiß auch, worüber du dachtest, als du die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gingst und vor dem Bilde der Mutter Gottes von Kasan betetest, das in Mamas Schlafzimmer steht. Der Gang nach Golgatha ist wohl schwer. Hm! ... Es ist also schon endgültig beschlossen: einen tüchtigen Geschäftsmann und Rationalisten belieben Sie zu heiraten, Awdotja Romanowna, der sein Kapital besitzt (der schon sein eigenes Kapital besitzt: das klingt solider und eindrucksvoller), der zwei Stellungen bekleidet, die Überzeugungen der jüngsten Generation teilt (wie Mama schreibt) und auch gut zu sein scheint, heiraten! Großartig! ... Großartig! ... Es ist immerhin interessant, warum Mama mir das über ›die jüngste Generation‹ geschrieben hat: bloß zur Charakteristik der Person, oder mit einer weiteren Absicht: mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? O diese Schlauen! Interessant wäre es, auch noch diesen Umstand aufzuklären: wie weit ging ihre gegenseitige Aufrichtigkeit an jenem Tage, in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit? Wurde alles in Worte gekleidet, oder hatte eine jede erraten, was die andere denkt und auf dem Herzen hat, so daß man es gar nicht laut auszusprechen brauchte und es sogar überflüssig wäre, ein Wort zu viel zu sagen? Wahrscheinlich verhielt es sich zum Teil so; das ist aus dem Brief zu ersehen: der Mama kam er ein wenig schroff vor, und die naive Mama kam sofort zu Dunja mit ihren Wahrnehmungen. Jene aber wurde natürlich böse und antwortete ihr ›geärgert‹. Das will ich meinen! Wer wird nicht böse auffahren, wenn die Sache auch ohne die naiven Fragen verständlich ist und wenn alles fest beschlossen ist, so daß man nicht mehr zu reden braucht! Und warum schreibt sie mir das: ›Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie dich liebt‹? Hat sie nicht heimlich Gewissensbisse, daß sie sich entschlossen hat, die Tochter dem Sohne zum Opfer zu bringen? ›Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Alles!‹ – O Mama! ...« Er schäumte immer mehr vor Wut, und wäre ihm jetzt Herr Luschin begegnet, er hätte ihn wohl erschlagen! »Hm! ... Es ist wahr« – fuhr er fort, den Wirbel der Gedanken, die in seinem Kopfe schwirrten, verfolgend –, »es ist wahr, daß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und vorsichtig herantreten muß: aber Herr Luschin ist mir klar. Die Hauptsache: ›Ein tüchtiger und anscheinend guter Mensch‹; das ist doch kein Spaß: das Gepäck hat er auf sich genommen und befördert den großen Koffer auf eigene Kosten! Und der sollte nicht gut sein! Sie aber, die Braut und die Mutter mieten einen Bauern und fahren in einem mit Bastmatten gedeckten Wagen (ich bin ja selbst mit den dortigen Fuhrwerken gefahren)! Das macht doch nichts! Es sind ja nur neunzig Werst, ›und weiter fahren wir glücklich in der dritten Klasse‹ – an die tausend Werst. Ist auch durchaus vernünftig: ein jeder strecke sich nach seiner Decke; aber Sie, Herr Luschin, was denken Sie sich? Sie ist doch Ihre Braut! ... Und sollte es Ihnen unbekannt sein, daß die Mutter für diese Reise ihre Pension verpfändet? Natürlich, es ist ein Kompaniegeschäft, ein Unternehmen mit gleichen Einlagen und gleichen Vorteilen, darum müssen auch die Auslagen geteilt werden; Brot und Salz sind gemeinsam, den Tabak hat jeder für sich, wie es im Sprichworte heißt. Der tüchtige Geschäftsmann hat sie aber ein wenig beschummelt; das Gepäck kostet viel weniger als ihre Reise, vielleicht kostet es ihm überhaupt nichts. Sehen denn die beiden nichts, oder wollen sie es nicht sehen? Sie sind doch zufrieden, zufrieden! Und wenn man bedenkt, daß das nur die Blüten sind und die eigentliche Frucht erst nachkommt! Was ist dabei das wichtigste? Es ist nicht der Geiz, nicht die Knauserei, sondern der Ton des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton nach der Hochzeit, eine Prophezeiung ... Ja, und die Mama, warum ist sie auf einmal so verschwenderisch? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei Rubeln oder mit zwei ›Banknoten‹, wie jene sagt ... die Alte ... hm! ... Wovon hofft sie später in Petersburg zu leben? Sie ist ja schon irgendwie dahinter gekommen, daß sie mit Dunja, selbst in der ersten Zeit nach der Verheiratung nicht leben können wird! Der liebe Mensch hat wohl auch hier irgendeine Bemerkung fallen lassen , hat einen Willen geäußert, obwohl Mama es mit beiden Händen zurückweist: ›Ich nehme die Einladung nicht an.‹ Was denkt sie sich, worauf hofft sie noch: auf die hundertzwanzig Rubel Pension mit Abzug der Schuld an Afanassij Iwanowitsch? Sie strickt warme Tüchlein, stickt Manschetten, ruiniert sich ihre alten Augen. Diese Tüchlein bringen ihr doch nur zwanzig Rubel im Jahre zu den hundertzwanzig Rubeln ein, das ist mir bekannt. Folglich hoffen sie doch auf die edle Gesinnung des Herrn Luschin: ›Er wird es selbst vorschlagen, wird mich darum bitten.‹ Ja, Schnecken! Und so geht es immer diesen Schillerschen schönen Seelen: bis zum letzten Augenblick schmücken sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Augenblick erhoffen sie das Beste und nicht das Schlimmste; und obwohl sie die Kehrseite der Medaille ahnen, werden sie nie die Dinge mit ihrem wahren Namen nennen; sie schrecken vor dem bloßen Gedanken zurück; sie wehren sich mit beiden Händen gegen die Wahrheit, so lange, bis der mit Pfauenfedern geschmückte Mensch sie eigenhändig hereinlegt. Es wäre auch interessant, zu wissen, ob der Herr Luschin Orden hat; ich möchte wetten, daß er einen Annenorden im Knopfloch hat und ihn zu den Diners bei Kaufleuten und Staatslieferanten anlegt. Vielleicht wird er ihn auch bei seiner Hochzeit tragen! Übrigens, hol' ihn der Teufel! ... Nun, Mama ist einmal so, aber was denkt sich bloß Dunja? Liebe Dunjetschka, ich kenne Sie ja! Sie waren ja schon fast zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letztenmal sahen: Ihren Charakter habe ich schon damals erfaßt. Da schreibt Mama, daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Das habe ich gewußt. Das habe ich schon vor zweiundeinhalb Jahren gewußt und habe zweiundeinhalb Jahre lang daran gedacht, nämlich daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Wenn Sie den Herrn Swidrigailow mit allen Folgen ertragen kann, so kann sie wohl wirklich vieles ertragen. Nun hat sie sich zugleich mit Mama eingeredet, daß man auch den Herrn Luschin ertragen könne, der die Theorie von den Vorzügen der Frauen predigt, die man aus den ärmsten Kreisen nimmt und die ihre Männer als ihre Wohltäter ansehen sollen, – der davon fast bei der ersten Zusammenkunft spricht. Nun, geben wir zu, daß er sich ›versprochen‹ hat, obwohl er ein nüchterner Mensch ist (also ist es wohl möglich, daß er sich gar nicht versprochen hat, sondern eben die Absicht hatte, alles sofort aufzuklären). Aber Dunja, Dunja! Der Mensch ist ihr doch klar, und sie wird mit dem Menschen leben müssen. Sie wird eher von Brot und Wasser leben, aber ihre Seele wird sie nicht verkaufen, wird ihre sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz Schleswig-Holstein wird sie sie nicht hergeben, geschweige denn für Herrn Luschin. Nein, Dunja war ganz anders, soweit ich sie kannte, und ... und sie hat sich natürlich auch jetzt nicht verändert! ... Was ist da noch zu reden! Schwer sind die Swidrigailows zu tragen! Schwer ist es, sich für zweihundert Rubel sein ganzes Leben lang in allen Gouvernements als Gouvernante herumzutreiben, aber ich weiß, daß meine Schwester lieber unter die Neger zu einem Plantagenbesitzer oder unter die Letten zu einem Ostseedeutschen gehen wird, als daß sie ihren Geist und ihr sittliches Gefühl durch die Verbindung mit einem Menschen beschmutzt, den sie nicht achtet und mit dem sie nichts anfangen kann, – für alle Ewigkeit, bloß aus persönlichem Vorteil! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie niemals darauf eingehen, die legitime Mätresse des Herrn Luschin zu sein! Warum geht sie aber jetzt darauf ein? Wo ist der Haken, wo ist die Lösung? Die Sache ist ja klar: ihrer selbst, ihres Komforts wegen, selbst wenn es um ihr Leben ginge, wird sie sich nicht verkaufen; aber für einen anderen verkauft sie sich! Für einen geliebten, vergötterten Menschen wird sie sich verkaufen. Das ist eben der ganze: Witz für den Bruder, für die Mutter wird sie sich verkaufen! Alles wird sie verkaufen! Jawohl, bei einer solchen Gelegenheit werden wir auch unser sittliches Gefühl unterdrücken, unsere Freiheit, unsere Ruhe, selbst unser Gewissen, alles auf den Markt tragen. Soll nur das Leben zugrunde gehen! Wenn nur die von uns geliebten Wesen glücklich sind! Und noch mehr als das: wir werden unsere eigene Kasuistik erfinden, werden von den Jesuiten lernen und für eine Zeitlang uns selbst beruhigen und überzeugen, daß es so nötig sei und einem guten Zwecke diene. So sind wir eben, und alles ist so klar wie der Tag. Es ist klar, daß hier niemand anderes als Rodion Romanowitsch Raskolnikow im Spiele ist und sogar im Vordergrunde steht. Ja, natürlich, man kann ihn glücklich machen, man kann ihm seine Universitätsstudien bezahlen, ihn zum Kompagnon am Bureau machen und sein Schicksal sicherstellen; vielleicht wird er mit der Zeit ein reicher, allgemein geachteter Mensch sein, wird vielleicht auch als berühmter Mann sein Leben beschließen. Und die Mutter? Ja, hier handelt es sich doch um Rodja, um den teuren Rodja, den Erstgeborenen! Wie soll man nicht einem solchen Erstgeborenen selbst eine solche Tochter zum Opfer bringen! O ihr lieben und ungerechten Herzen! Herr Gott, wir werden vielleicht auch vor dem Lose Ssonjetschkas nicht zurückschrecken! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige Ssonjetschka, solange die Welt steht! Das Opfer, haben Sie das Opfer genau ermessen? Wirklich? Geht es nicht über Ihre Kraft? Ist es zum Nutzen? Ist es vernünftig? Wissen Sie denn auch, Dunjetschka, daß Ssonjetschkas Los durchaus nicht schlechter ist als Ihr Los mit Herrn Luschin? ›Von Liebe ist hier nicht die Rede‹, schreibt Mama. ›Wenn aber nicht nur von Liebe und Achtung nicht die Rede ist, sondern, im Gegenteil, Abscheu, Verachtung und Ekel vorhanden sind, was dann? Dann geht es wieder darauf hinaus, daß man auf die Reinlichkeit sehen muß ‹. Ist es vielleicht nicht so? Wissen Sie, wissen Sie, wissen Sie, was diese Reinlichkeit bedeutet? Wissen Sie, daß die Luschinsche Reinlichkeit dasselbe ist wie die Reinlichkeit Ssonjetschkas, vielleicht noch ärger, gemeiner, weil Sie, Dunjetschka, immerhin auf einen erhöhten Komfort rechnen, während es sich dort einfach um den Hungertod handelt! ›Teuer, teuer kommt diese Reinlichkeit zu stehen, Dunjetschka!‹ Nun, und wenn es einmal über Ihre Kraft geht und Sie bereuen? Wieviel Gram, Trauer, Flüche und heimliche Tränen wird es da geben, denn Sie sind doch nicht die Marfa Petrowna! Und was soll dann mit der Mutter geschehen? Sie ist ja auch jetzt schon unruhig und quält sich; aber später, wenn sie alles klar sieht? Und was wird mit mir geschehen? ... Was haben Sie sich tatsächlich von mir gedacht? Ich will nicht Ihr Opfer, Dunjetschka, ich will es nicht, Mama! Es wird nicht geschehen, solange ich lebe, es darf nicht geschehen! Ich nehme es nicht an!« Er kam plötzlich zur Besinnung und blieb stehen. »Es soll nicht geschehen? Und was willst du tun, damit es nicht geschieht? Wirst du es verbieten? Was für ein Recht hast du dazu? Was kannst du ihnen deinerseits versprechen, um dieses Recht zu beanspruchen? Dein ganzes Schicksal, deine ganze Zukunft ihnen zu weihen, wenn du die Studien absolviert und einen Posten bekommen hast ? Das haben wir schon gehört, das ist das ›B‹, wo ist aber das ›A‹, was soll ich jetzt tun? Man muß doch jetzt gleich etwas unternehmen, verstehst du das? Was tust du aber jetzt? Du beutest sie doch nur aus. Sie bekommen ihr Geld doch nur als Vorschuß auf ihre Pension oder auf das Gehalt von einem Herrn Swidrigailow! Wie willst du sie denn vor den Swidrigailows, vor Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der du ihr Schicksal in deiner Hand hast? Nach zehn Jahren? Nach zehn Jahren wird aber deine Mutter vor dem Tücherstricken, vielleicht auch vor Tränen erblindet sein; wird am Fasten zugrunde gehen; und die Schwester? Nun, denk dir mal aus, was mit deiner Schwester nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren geschehen kann! Weißt du es?« So quälte und reizte er sich mit diesen Fragen, sogar mit einer gewissen Wollust. Alle diese Fragen waren übrigens nicht neu und plötzlich, sondern alt und in Schmerzen gereift. Seit langem hatten sie ihn zu martern angefangen und ihm sein Herz zerrissen. Sein jetziger Gram war in ihm schon längst entstanden; er war gewachsen, hatte sich angesammelt, war in der letzten Zeit zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die Gestalt einer schrecklichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die sein Herz und seinen Geist zerquälte und gebieterisch nach Lösung verlangte. Der Brief der Mutter hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Es war ihm klar, daß er jetzt weder passiv trauern und leiden noch sich mit den Erörterungen, daß diese Fragen unlösbar seien, zermartern durfte, sondern unbedingt sofort und schnell etwas unternehmen mußte. Um jeden Preis mußte er sich zu etwas entschließen, ganz gleich wozu – oder ... »Oder sich ganz vom Leben lossagen!« rief er plötzlich wie rasend. – »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal hinnehmen, in sich alles ersticken, auf jedes Recht, zu handeln, zu leben und zu lieben, verzichten! ...« »Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr, was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?« Plötzlich fiel ihm die gestrige Frage Marmeladows ein. »Denn jeder Mensch muß doch irgendwo hingehen können ...« Plötzlich fuhr er zusammen: ein Gedanke, ein gestriger Gedanke durchzuckte ihn wieder. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihn dieser Gedanke durchzuckte. Er wußte ja, er ahnte , daß der Gedanke ihn unbedingt »durchzucken« würde, und er erwartete ihn; der Gedanke war ja auch gar nicht von gestern. Der Unterschied bestand aber darin, daß der Gedanke vor einem Monat, selbst noch gestern ein bloßer Traum war, doch jetzt ... ihm nicht als Traum erschien, sondern in einer neuen, drohenden und ihm völlig unbekannten Gestalt ... und das kam ihm plötzlich zum Bewußtsein ... Er fühlte einen heftigen Schmerz im Kopf, und es wurde ihm finster vor den Augen. Er sah sich schnell um, er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er ging aber gerade durch den K–schen Boulevard. Etwa hundert Schritte vor ihm stand eine Bank. Er ging, so schnell er konnte, auf sie zu; doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Als er sich nach einer Bank umschaute, sah er etwa zwanzig Schritte vor sich ein weibliches Wesen gehen, schenkte ihm aber zuerst ebensowenig Beachtung wie allen Gegenständen, die an ihm vorbeihuschten. Es passierte ihm oft, daß er z.B. nach Hause ging und zuletzt gar nicht mehr wußte, welchen Weg er gegangen war; er war es schon gewöhnt. Doch an der Person, die vor ihm ging, war etwas so Seltsames, gleich auf den ersten Blick in die Augen Fallendes, daß er seine Aufmerksamkeit allmählich auf sie lenkte, – zuerst unwillkürlich und sogar ärgerlich, dann aber immer intensiver. Plötzlich kam ihm der Wunsch, sich klar zu machen, was an dieser Person so seltsam war? Erstens war sie wohl noch ein blutjunges Ding, sie ging in der Hitze mit bloßem Kopf, ohne Schirm und ohne Handschuhe und bewegte komisch die Hände. Sie hatte ein Kleidchen aus leichtem Seidenstoff an; es saß aber sehr merkwürdig, war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, wo der Rock anfängt, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herab. Ein kleines Tüchlein war um den bloßen Hals geworfen, doch es saß irgendwie schief. Außerdem ging das Mädchen mit unsicheren Schritten, stolpernd und sogar schwankend. Diese Begegnung erregte endlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Er holte das Mädchen vor der Bank ein; als sie aber die Bank erreichte, ließ sie sich sofort in eine Ecke fallen, warf den Kopf in die Lehne zurück und schloß die Augen, anscheinend in äußerster Erschöpfung. Als er sie näher betrachtete, sah er gleich, daß sie gänzlich betrunken war. Der Anblick war seltsam und erschütternd. Er glaubte sogar, daß er sich getäuscht habe. Er sah vor sich ein außerordentlich jugendliches Gesichtchen von sechzehn, vielleicht auch nur von fünfzehn Jahren, doch auffallend gerötet und gleichsam geschwollen. Das Mädchen schien nicht bei vollem Bewußtsein; es hatte ein Bein über das andere geschlagen und zeigte davon viel mehr, als anständig war; anscheinend wußte es kaum, daß es sich auf der Straße befand. Raskolnikow setzte sich nicht, wollte auch nicht weggehen, sondern stand ratlos vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst immer menschenleer, doch jetzt um die zweite Nachmittagstunde und bei dieser Hitze war fast kein Mensch da. Aber etwas abseits, etwa fünfzehn Schritte von der Bank, am Rande des Boulevards, war ein Herr stehen geblieben, dem man es ansah, daß er sich dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten nähern wollte. Auch er hatte sie wohl schon aus der Ferne erblickt und einzuholen versucht, aber Raskolnikow war ihm in den Weg gekommen. Er warf ihm boshafte Blicke zu, bemühte sich übrigens, daß er es nicht merke, und wartete ungeduldig, daß der zerlumpte Kerl weggehe, damit er an die Reihe komme. Der Sachverhalt war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, feist, wohlbeleibt, frisch wie Milch und Blut, mit rosigen Lippen und kleinem Schnurrbart und sehr elegant gekleidet. Raskolnikow ärgerte sich furchtbar; er spürte plötzlich Lust, diesen dicken Gecken irgendwie zu beleidigen. Er verließ für eine Weile das Mädchen und ging auf den Herrn zu. »He, Sie, Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« schrie er, die Fäuste ballend, während ein Lächeln seine Lippen verzerrte, auf die vor Wut Schaum getreten war. »Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, mit hochmütigem Erstaunen, die Stirne runzelnd. »Packen Sie sich, heißt das!« »Wie unterstehst du dich, Kanaille! ...« Und er holte mit seiner Gerte aus. Raskolnikow stürzte sich mit den Fäusten auf ihn hin, ohne zu bedenken, daß der kräftige Herr auch mit zwei solchen, wie er, fertig werden könnte. Doch in diesem Augenblick packte ihn jemand fest von hinten, und zwischen ihnen erschien ein Schutzmann. »Lassen Sie es, meine Herren, Sie dürfen sich an einem öffentlichen Platze nicht herumschlagen. Was wollen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikow, als er seine zerlumpte Kleidung bemerkte. Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem klugen Blick. »Sie brauche ich eben«, rief er, ihn bei der Hand packend. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolnikow ... Das dürfen Sie auch erfahren«, wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...« Er packte den Schutzmann bei der Hand und schleppte ihn zur Bank ... »Hier, schauen Sie, ganz betrunken ist sie, soeben ging sie durch den Boulevard; wer weiß, was sie ist, sie sieht aber nicht so aus, als ob es ihr Gewerbe wäre. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt ... zum erstenmal ... verstehen Sie? ... und hat sie dann laufen lassen. Schauen Sie nur, wie ihr Kleid zerrissen ist und wie es sitzt; man hat es ihr angezogen, nicht sie selbst, ungeschickte Männerhände haben es ihr angezogen. Das sieht man. Jetzt aber schauen Sie bitte her: dieser Geck, den ich eben schlagen wollte, – ich kenne ihn nicht und sehe ihn zum erstenmal; er hat sie auch soeben bemerkt, wie sie betrunken und bewußtlos ging, und hat furchtbar große Lust, sich an sie heranzumachen, sie abzufangen und, da sie in diesem Zustande ist, – irgendwohin zu verschleppen ... Es ist sicher so; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht täusche. Ich habe selbst gesehen, wie er sie beobachtete und verfolgte, ich kam ihm aber zuvor, und er wartete immer, daß ich weggehe. Da ist er eben ein wenig zurückgegangen, steht da und tut, als wolle er sich eine Zigarette drehen ... Wie machen wir es bloß, daß er sie nicht kriegt? Wie bringen wir sie nur nach Hause, – denken Sie mal nach!« Der Schutzmann hatte sofort alles begriffen. Was der dicke Herr wollte, war ihm klar; nun blieb noch das Mädchen. Der alte Soldat beugte sich über sie, um sie genauer zu betrachten, und seine Züge nahmen den Ausdruck aufrichtigen Mitleides an. »Ach, wie die einem leid tut!« sagte er kopfschüttelnd. »Sie ist ja noch ein Kind. Man hat sie verführt, das ist mal sicher. Hören Sie, Fräulein,« begann er sie zu rufen, »wo wohnen Sie denn?« Das Mädchen öffnete die müden, verschlafenen Augen, blickte die Fragenden stumpf an und machte eine abwehrende Handbewegung. »Hören Sie mal,« sagte Raskolnikow, »hier, nehmen Sie dies ... (er suchte in der Tasche und holte zwanzig Kopeken hervor; soviel hatte er noch), nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, daß er sie nach Hause bringt. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!« »Fräulein, Sie, Fräulein!« begann der Schutzmann von neuem, nachdem er das Geld eingesteckt hatte. »Ich will gleich eine Droschke nehmen und Sie selbst nach Hause bringen. Wohin befehlen Sie? Wie? Wo geruhen Sie zu wohnen?« »Fort! ... Die lassen einen nicht in Ruhe!« murmelte das Mädchen und winkte wieder mit der Hand ab. »Ach, ach, wie häßlich! Sie sollten sich doch schämen, Fräulein! Diese Schande!« Er schüttelte wieder mißbilligend, mitleidig und entrüstet den Kopf. »Eine schwierige Sache!« wandte er sich an Raskolnikow und musterte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen. Er kam ihm wohl merkwürdig vor: ist so zerlumpt, hat aber Geld hergegeben! »Haben Sie das Fräulein weit von hier gefunden?« fragte er ihn. »Ich sage Ihnen ja: sie ging schwankend vor mir her, hier auf diesem Boulevard. Wie sie die Bank erreichte, da fiel sie auch gleich hin.« »Ach, welch eine Schande macht sich jetzt in der Welt breit, mein Gott! Ein so unerfahrenes Ding und schon betrunken! Man hat sie verführt, das steht fest! Auch das Kleidchen ist zerrissen ... Wie liederlich und zuchtlos sind jetzt die Leute! Vielleicht ist sie auch aus anständiger Familie, die aber verarmt ist ... Heute gibt es viele von dieser Art. Dem Aussehen nach ist sie was Besseres, ganz wie ein Fräulein ...« Und er beugte sich wieder über sie. Vielleicht hatte er auch selbst solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie Fräuleins, wie was Besseres«, mit Gewohnheiten von wohlerzogenen jungen Mädchen und nachgeäfften modischen Manieren ... »Die Hauptsache ist, daß man sie vor diesem Schuft da rettet«, sagte Raskolnikow besorgt. »Warum soll auch er ihr noch Schande antun! Man sieht ihm ja an, was er gerne möchte. Sie sehen, daß er gar nicht weggehen will!« Raskolnikow sprach laut und zeigte mit der Hand auf den Mann. Jener hörte es und wollte wieder auffahren, überlegte es sich aber und beschränkte sich auf einen verächtlichen Blick. Dann ging er noch an die zehn Schritte weiter und blieb wieder stehen. »Das kann man wohl machen, daß er sie nicht kriegt«, antwortete der Unteroffizier nachdenklich. »Wenn sie mir nur sagen wollte, wohin ich sie bringen soll, sonst ... Fräulein, Sie, Fräulein!« Er beugte sich wieder über sie. Jene machte plötzlich ihre Augen weit auf, blickte aufmerksam um sich, als hätte sie etwas verstanden, erhob sich von der Bank und ging in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war. »Pfui, diese Schamlosen, sie lassen einen gar nicht in Ruhe!« sagte sie, mit der gleichen abwehrenden Handbewegung. Sie ging sehr schnell, doch wie früher schwankend. Der Geck folgte ihr, aber durch eine andere Allee, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der Schutzmann energisch und folgte den beiden. »Ach, wie sich jetzt die üblen Sitten breit machen!« wiederholte er laut und seufzte. Raskolnikow fühlte sich plötzlich wie von einer Schlange gebissen: in einem Nu war er verändert. »Sie, hören Sie, he!« rief er dem Schutzmann nach. Jener wandte sich um. »Lassen Sie es! Was geht es Sie an? Geben Sie's auf! Soll er sich nur amüsieren (er zeigte auf den Gecken). Was geht Sie das an?« Der Schutzmann verstand ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikow lachte. »Ach!« sagte der Schutzmann, winkte mit der Hand und folgte dem Gecken und dem Mädchen. Er hielt Raskolnikow wohl für einen Verrückten oder für etwas noch Schlimmeres. »Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen«, sagte Raskolnikow böse, als er allein geblieben war. »Soll er auch von dem anderen etwas nehmen und ihm das Mädchen überlassen; damit wird es auch enden ... Was habe ich mich auch mit meiner Hilfe hineinmischen brauchen? Kann ich denn helfen? Habe ich überhaupt ein Recht, zu helfen? Sollen sie doch einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht mich das an? Und wie wagte ich es, ihm diese zwanzig Kopeken zu geben? Gehören sie denn mir?« Trotz dieser seltsamen Worte wurde es ihm sehr schwer zumute. Er setzte sich auf die verlassene Bank. Seine Gedanken waren zerstreut ... Es fiel ihm überhaupt schwer, jetzt an irgend etwas zu denken. Er wollte sich vollkommen vergessen, alles vergessen, später erwachen und alles von neuem beginnen ... »Das arme Mädchen!« sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. »Sie wird zu sich kommen, wird etwas weinen, dann wird es die Mutter erfahren ... Zuerst wird sie sie schlagen, dann ordentlich mit Ruten züchtigen und dann vielleicht mit Schande aus dem Hause jagen ... Und wenn sie sie nicht aus dem Hause jagt, so erfährt es irgendeine Darja Franzowna, und mein Mädchen fängt an, sich auf den Straßen herumzutreiben ... Dann kommt sie bald ins Krankenhaus (so geht es immer denen, die bei sehr achtbaren Müttern leben und hinter ihren Rücken auf Abenteuer ausgehen), und dann ... dann kommt wieder das Krankenhaus ... Schnaps ... Kneipen ... und wieder das Krankenhaus ... nach zwei oder drei Jahren ist sie ein Krüppel, sie hat also im ganzen neunzehn oder achtzehn Jahre zu leben ... Habe ich denn nicht auch solche gesehen? Und wie kamen sie dazu? Alle auf diesem selben Wege ... Pfui! Sollen sie nur! Man sagt, das sei ganz in Ordnung, man sagt, so ein Prozentsatz müsse jedes Jahr ... wohl zum Teufel gehen, um die anderen zu erfrischen und sie nicht zu stören! Ein Prozentsatz? Was sie doch für nette Wörtchen haben: so beruhigend und so wissenschaftlich. Es heißt einmal: Prozentsatz, also braucht man keine weiteren Sorgen zu haben. Wäre es ein anderes Wort, dann ... dann wäre es vielleicht beunruhigend ... Und was, wenn auch Dunjetschka mal in einen Prozentsatz gerät? ... Und wenn nicht in diesen, so in einen andern ... Wohin gehe ich aber?« fragte er sich plötzlich. »Seltsam. Ich wollte doch irgendwohin. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, ging ich aus dem Hause ... Auf die Wasiljewskij-Insel zu Rasumichin wollte ich, jetzt weiß ich es. Wozu aber? Wie kam mir gerade jetzt der Gedanke, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig.« Er staunte über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen früheren Universitätskollegen. Es ist zu bemerken, daß Raskolnikow, als er auf der Universität war, fast keine Freunde hatte, allen aus dem Wege ging, niemand besuchte und auch ungern jemand bei sich empfing. Bald wandten sich auch die anderen von ihm ab. Er nahm keinen Anteil an den allgemeinen Versammlungen, Gesprächen oder Unterhaltungen. Er arbeitete mit großem Fleiß, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, doch niemand liebte ihn. Er war sehr arm und zugleich hochmütig, stolz und verschlossen, als trüge er ein Geheimnis in sich. Manchen seiner Kollegen kam es vor, daß er auf sie alle, wie auf Kinder, von oben herabsehe, als hätte er sie alle wie in der Entwicklung, so auch im Wissen und in den Überzeugungen überholt und als betrachtete er ihre Überzeugungen und Interessen als etwas Minderwertiges. Dem Rasumichin hatte er sich aber aus irgendeinem Grunde etwas näher angeschlossen, oder genauer gesagt, er war ihm gegenüber mitteilsamer und aufrichtiger. Es war übrigens auch unmöglich, sich zu Rasumichin irgendwie anders zu verhalten. Rasumichin war ein ungewöhnlich lustiger und mitteilsamer Bursche, von einer Güte, die an Einfalt grenzte. Unter dieser Einfalt steckte aber auch viel Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden fühlten das und liebten ihn. Er war gar nicht dumm, wenn er auch zuweilen einen einfältigen Eindruck machte. Sein Außeres war sehr eindrucksvoll: er war groß, hager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Zuweilen machte er Skandal und galt als stark. Eines Nachts hatte er in lustiger Gesellschaft mit einem Hiebe einen hünenhaften Hüter der öffentlichen Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unendlich viel, konnte sich aber auch des Trinkens enthalten; manchmal stellte er Dinge an, die ans Unerlaubte grenzten, er konnte aber auch nichts anstellen. Rasumichin war auch in der Beziehung bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg entmutigte und keine noch so widrigen Verhältnisse zu erdrücken vermochten. Er war imstande, selbst auf einem Dache zu wohnen, höllischen Hunger und jede Kälte zu leiden. Er war sehr arm und verschaffte sich selbst seinen Unterhalt durch irgendwelche Arbeiten. Er kannte eine Menge Quellen, um aus ihnen zu schöpfen, natürlich durch ehrliche Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter seine Kammer nicht und behauptete, daß es so angenehmer sei, weil man in der Kälte besser schlafen könne. Zurzeit war er gezwungen, die Universität zu verlassen, doch nur vorübergehend, und bemühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu bessern, um das Studium fortsetzen zu können. Raskolnikow hatte ihn seit vier Monaten nicht besucht, und Rasumichin kannte Raskolnikows Wohnung nicht. Vor zwei Monaten waren sie sich einmal zufällig auf der Straße begegnet, Raskolnikow hatte sich aber abgewandt und war auf die andere Straßenseite hinübergegangen, damit jener ihn nicht sehe. Rasumichin hatte ihn zwar gesehen, ging aber vorbei, weil er den Freund nicht belästigen wollte. 5. V »In der Tat, ich hatte doch vor kurzem die Absicht, Rasumichin zu bitten, daß er mir eine Arbeit oder Stunden verschaffe ...« erinnerte sich Raskolnikow, »womit kann er mir aber jetzt helfen? Angenommen, daß er mir Stunden vermittelt, angenommen, daß er mit mir die letzte Kopeke teilt, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir sogar ein Paar Stiefel kaufen und meinen Anzug instandsetzen lassen kann ... hm ... Nun, und weiter? Was fange ich mit den Fünfkopekenstücken an? Brauche ich denn jetzt das? Es ist einfach lächerlich, daß ich zu Rasumichin wollte ...« Die Frage, warum er zu Rasumichin aufgebrochen war, beunruhigte ihn mehr, als er sich dessen bewußt war; mit Unruhe suchte er in dieser anscheinend so gewöhnlichen Handlung einen unheilkündenden Sinn. »Wie, will ich denn alles durch Rasumichin allein in Ordnung bringen, habe ich denn in Rasumichin den letzten Ausweg gefunden?« fragte er sich erstaunt. Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz von selbst und unerwartet, kam ihm nach langen Überlegungen ein sehr seltsamer Gedanke. »Hm ... zu Rasumichin«, sagte er sich plötzlich ganz ruhig, als sei es sein endgültiger Entschluß, »zu Rasumichin werde ich natürlich gehen, doch ... nicht jetzt ... Ich will zu ihm ... am anderen Tage nach dem gehen, wenn es schon vorbei ist und wenn alles sich gewendet hat ...« Plötzlich kam er zur Besinnung. » Nach dem «, rief er aus, von der Bank aufspringend: »Ja, wird denn das überhaupt sein? Wird es denn wirklich sein?« Er verließ die Bank und ging, oder rannte vielmehr fort; er wollte schon nach Hause zurückkehren, doch dieser Gedanke, nach Hause zu gehen, erschien ihm plötzlich widerlich: dort, in der Ecke, in jenem schrecklichen Schrank war das schon seit mehr als einem Monat gereift. Er ging nicht nach Hause, sondern aufs Geratewohl und ohne Ziel. Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er fühlte sogar Schüttelfrost; trotz dieser Hitze war es ihm kalt. Er begann, mit Anstrengung, beinahe unbewußt, aus irgendeiner inneren Notwendigkeit heraus, alle Gegenstände, denen er begegnete, zu betrachten, als suche er angestrengt nach Zerstreuung; dies wollte ihm aber nicht recht gelingen, und er versank jeden Augenblick wieder in seine Gedanken. Und wenn er zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so vergaß er sofort alles, was er sich eben gedacht hatte, selbst den Weg, den er gegangen war. Auf diese Weise durchschritt er die ganze Wassiljewskij-Insel, kam zur Kleinen Newa heraus, passierte die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das Grün und die frische Natur erfreuten anfangs seine müden Augen, die an den Staub, Kalk und an die großen, erdrückenden und beengenden Häuser der Stadt gewöhnt waren. Hier gab es weder die Schwüle, noch den Gestank, noch die Kneipen. Bald gingen aber diese neuen angenehmen Empfindungen in krankhafte und aufreizende über. Zuweilen blieb er vor einem im Grün liegenden, reichgeschmückten Landhause stehen, blickte durch den Zaun und sah in der Ferne auf den Balkonen und Terrassen ausgeputzte Frauen sitzen und im Garten Kinder herumlaufen. Besonders interessierten ihn die Blumen; auf ihnen verweilten seine Blicke am längsten. Er begegnete auch prunkvollen Equipagen, Reitern und Amazonen; er begleitete sie interessiert mit den Augen und vergaß sie, noch ehe sie seinen Blicken entschwanden. Einmal blieb er stehen und zählte sein Geld nach; er hatte noch an die dreißig Kopeken. »Zwanzig bekam der Schutzmann, drei – Nastasja für den Brief, also habe ich den Marmeladows gestern siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken gegeben«, sagte er sich, nachdem er aus irgendeinem Grunde diese Berechnung angestellt hatte, vergaß aber gleich, wozu er das Geld aus der Tasche hervorgeholt hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er an einer Speiseanstalt, einer Art Garküche vorbeiging, und er fühlte plötzlich Hunger. Er kehrte ein, trank ein Glas Schnaps und nahm dazu eine gefüllte Pastete. Diese aß er später im Gehen zu Ende. Er hatte seit sehr langer Zeit keinen Schnaps getrunken, und die Wirkung trat sofort ein, obwohl er nur ein einziges Glas getrunken hatte. Seine Füße wurden schwer, und er wollte schlafen. Er schlug den Weg nach Hause ein, als er aber schon die Petrowskij-Insel erreicht hatte, blieb er völlig erschöpft stehen, bog vom Wege ins Gebüsch ab, fiel ins Gras nieder und schlief sofort ein. Bei krankhaften Zuständen pflegen die Träume äußerst lebhaft und überzeugend zu sein und der Wirklichkeit täuschend ähnlich zu sehen. Dabei entsteht oft ein ganz ungeheuerliches Bild, aber alle Umstände und der ganze Vorstellungsprozeß sind dabei so natürlich und glaubhaft und enthalten so viele unerwartete, feine und in wunderbarem künstlerischem Gleichgewicht zu dem ganzen Bilde stehende Einzelheiten, wie sie dem Träumenden im wachen Zustande nie einfallen könnten, selbst wenn er ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew wäre. Solche krankhaften Träume prägen sich immer tief ins Gedächtnis ein und haben eine starke Wirkung auf einen kranken und bereits erregten Organismus. Raskolnikow sah einen schrecklichen Traum. Er sah sich in seine Jugend, in seine kleine Heimatstadt versetzt. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertag abends mit seinem Vater in der Vorstadt spazieren. Der Tag ist schwül, es dämmert, die Landschaft ist genau so, wie er sie in seiner Erinnerung bewahrt hat, sie ist sogar viel deutlicher gezeichnet als in der Erinnerung. Das ganze Städtchen ist leicht zu überblicken, in der Umgebung ist kein Strauch oder Baum zu sehen, nur am fernen Horizonte sieht man etwas Dunkles – ein Wäldchen. Einige Schritte hinter dem letzten Gemüsegarten des Städtchens steht eine Branntweinschenke. Sie machte auf ihn, sooft er mit seinem Vater vorüberging, den unangenehmsten Eindruck, sie flößte ihm sogar Schrecken ein. Eine johlende Menge stand immer um die Schenke herum, man schrie, lachte und sang mit heiseren, trunkenen Stimmen, und immer gab es da Schlägereien. Man begegnete hier schrecklich versoffenen Individuen, und er schmiegte sich jedesmal zitternd an seinen Vater. Dicht an der Schenke geht eine Fahrstraße vorbei, sie ist staubig, und der Staub ist immer schwarz. Die Straße schlängelt sich etwa dreihundert Schritte von der Schenke entfernt um den städtischen Friedhof. Auf dem Friedhof steht eine Kirche aus Backstein mit einer grünen Kuppel. Diese Kirche pflegte er mit seinen Eltern zweimal jährlich zu den Seelenmessen für seine Großmutter zu besuchen, die vor vielen Jahren gestorben war und die er nicht gekannt hatte. Sie nahmen dann jedesmal in einer weißen Serviette eine weiße Schüssel mit dem Totengericht mit; es bestand aus süßem Reisbrei, in den Rosinen in Form eines Kreuzes hineingedrückt waren. Er liebte diese Kirche und die alten Heiligenbilder, die zum großen Teil keine Beschläge hatten, und den alten Priester mit dem zitternden Kopf. Neben dem Grabstein der Großmutter war das kleine Grab seines Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war und den er gleichfalls nicht gekannt hatte; es wurde ihm aber gesagt, er hätte einmal einen kleinen Bruder gehabt, und er bekreuzte sich jedesmal voll Andacht und küßte das Grab. Und da träumte ihm, er gehe mit seinem Vater diese Straße zum Friedhof an der Schenke vorbei. Er hat den Arm des Vaters umklammert und blickt ängstlich zu der Schenke hinüber. Sie interessiert ihn heute mehr als sonst; es scheint da ein Volksfest zu sein, es wimmelt von geputzten Weibern, Bauern und allem möglichen Gesindel. Alle sind betrunken und alle singen; vor der Schenke steht ein Wagen. Es ist einer von jenen großen Leiterwagen, die gewöhnlich mit schweren Lastgäulen bespannt werden und zum Transport von Schnapsfässern und anderen Waren dienen. Er liebte es, solchen langmähnigen und dickbeinigen Lastgäulen zuzuschauen, wie sie ruhig und sicher ganze Berge schleppen und sich dabei gar nicht abmühen, als spürten sie die schwere Last überhaupt nicht. Aber jetzt ist diesem schweren Wagen ein kleines schwaches hellbraunes Bauernpferd vorgespannt, eines von denen, die, wie er es oft gesehen hatte, mit einem Wagen Heu oder Brennholz stecken bleiben, besonders, wenn der Wagen in Kot gerät; in solchen Fällen pflegen die Bauern das Pferd erbarmungslos zu peitschen, die Peitschenhiebe fallen oft auf die Schnauze und auf die Augen; sooft er eine solche Szene beobachtet hatte, waren ihm Tränen in die Augen getreten, und die Mutter hatte ihn vom Fenster wegführen müssen. In die Menge kommt plötzlich Bewegung: aus der Schenke tritt ein Trupp gänzlich besoffener, riesengroßer, schreiender und singender Bauern, sie tragen rote und blaue Kittel, ihre Filzmäntel sind lose um die Schultern geworfen, und sie halten Balalaikas in der Hand. »Setzt euch alle, alle!« schreit ein junger Bauer mit fleischigem Hals und ziegelrotem Gesicht. »Ich fahre euch alle! Setzt euch nur!« Ringsum erschallt Gelächter, man ruft ihm zu: »So eine Schindmähre soll uns schleppen?!« »Bist du verrückt, Mikolka? Ein solches Pferd in diesen Wagen zu spannen!« »Die Stute ist ja mindestens zwanzig Jahre alt!« »Setzt euch nur, ich fahre euch alle!« schreit Mikolka, in den Wagen springend und die Zügel ergreifend. »Matwej ist vorhin mit dem braunen Hengst fortgefahren, und diese Mähre da ärgert mich nur, ich möchte sie gerne totschlagen, sie frißt ihr Futter ganz umsonst. Ich sage, setzt euch! Ich werde Galopp fahren! Ja, im Galopp!« Und mit diesen Worten ergreift er die Peitsche und bereitet sich auf den Genuß vor, die Stute zu schlagen. »Setzt euch nur! Warum denn nicht?« johlt man in der Menge. »Ihr hört doch: er wird im Galopp fahren.« »Die Braune ist wohl seit zehn Jahren nicht Galopp gelaufen.« »Wird schon laufen!« »Kein Erbarmen! Nehmt alle eure Peitschen her!« »Hallo, haut los!« Alle besteigen Mikolkas Wagen, man lacht und reißt Witze. Sechs Mann stehen schon auf dem Wagen, es ist aber noch Platz da. Man nimmt auch ein dickes rotbackiges Weib mit. Sie trägt ein grellrotes Kattunkleid, und ihr Kopfputz ist mit Glasperlen bestickt; sie knackt Nüsse und grinst. Auch die Zuschauer lachen: wie sollte man da nicht lachen: diese Schindmähre soll den schweren Wagen ziehen! Zwei Burschen im Wagen ergreifen ihre Peitschen, um Mikolka zu helfen. Das Pferd zieht mit allen Kräften an, es wird aber kein Galopp, es vermag den schweren Wagen selbst im Schritt nicht von der Stelle zu bringen, es keucht, schwankt und duckt sich unter den niederprasselnden Schlägen der drei Peitschen. Die Leute im Wagen und auf der Straße lachen wie toll. Mikolka gerät in Wut und schlägt immer wahnsinniger los, als wollte er wirklich das Pferd in Galopp bringen. »Brüder, laßt auch mich herauf!« ruft ein Bursche aus der Zuschauermenge, der gleichfalls Appetit bekommen hat. »Setzt euch nur! Setzt euch alle!« schreit Mikolka. »Sie wird euch alle ziehen. Ich peitsche sie tot!« Und es regnet wieder Peitschenhiebe; in seiner Raserei weiß er nicht mehr, womit er schlagen soll. »Papa, Papa!« schreit der Knabe. »Papa, was tun die Leute? Papa, sie schlagen das arme Pferdchen!« »Gehen wir, gehen wir,« sagt der Vater, »die Betrunkenen treiben ihre Possen. Sieh nicht hin!« Er will ihn wegführen, der Knabe reißt sich aber von ihm los und läuft ganz außer sich zum Pferd. Dem armen Tier geht es schon sehr schlecht: es ringt um Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe um. »Peitscht sie tot!« schreit Mikolka. »Jetzt ist mir alles gleich. Ich schlage sie tot!« »Bist du denn kein Christenmensch?« ruft ein alter Bauer. »Du Teufel!« »Hat man es denn schon je gesehen, daß ein solches Pferd eine solche Last schleppen soll?« sagt ein anderer. »Du wirst es noch umbringen!« schreit ein dritter. »Ruhig! Es ist mein Gut! Was ich will, das tu ich. Setzt euch noch herauf! Alle! Ich will, daß sie Galopp läuft!« Plötzlich ertönt schallendes Gelächter: die Stute hält es nicht länger aus und beginnt in ihrer Wehrlosigkeit auszuschlagen. Selbst der alte Bauer lacht mit; es ist in der Tat zu lächerlich: eine solche Schindmähre wagt es noch, auszuschlagen! Zwei Burschen nehmen je eine Peitsche und laufen zu dem Pferd, um es von den Seiten zu schlagen, der eine rechts, der andere links. »Schlagt sie auf die Schnauze, auf die Augen!« schreit Mikolka. »Auf die Augen!« »Singt doch, Brüder!« schreit jemand im Wagen, und sofort ertönt ein ausgelassenes Lied, Schellen rasseln, beim Refrain wird gepfiffen. Das junge Weib knackt Nüsse und grinst. ... Der Knabe läuft neben dem Pferde her, er sieht, wie es auf die Augen, mitten auf die Augen geschlagen wird! Er weint. Sein Herz zuckt zusammen. Tränen laufen ihm aus den Augen. Ein Peitschenhieb trifft sein Gesicht, doch er fühlt ihn nicht; er ringt die Hände, er schreit, er wendet sich zu dem alten Bauer, der den Kopf schüttelt und das Ganze zu verurteilen scheint. Eine Frau nimmt ihn bei der Hand, um ihn wegzuführen, aber er reißt sich los und rennt wieder zu dem Pferd. Dieses ist schon halbtot und schlägt wieder aus. »Daß dich der Teufel!« schreit Mikolka voller Wut; er wirft die Peitsche weg und holt aus dem Innern des Wagens eine lange dicke Deichselstange, er ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie über der Stute. »Er bringt sie um!« rufen die Zuschauer. »Er schlägt sie tot!« »Es ist mein Gut!« Mikolka läßt die schwere Stange mit aller Wucht auf das Pferd niedersausen. Ein dumpfer Schlag ertönt. »Peitscht sie, peitscht! Was steht ihr da?« klingt es aus der Menge. Mikolka holt zu einem neuen Schlage aus, und die Stange saust wieder auf den Rücken der unglücklichen Stute nieder. Sie setzt sich auf die Hinterbeine, erhebt sich wieder und macht den letzten Versuch, den Wagen vorwärts zu ziehen, doch die Hiebe der sechs Peitschen prasseln auf sie von neuem, und die Deichsel saust zum dritten-, dann zum viertenmal nieder. Mikolka ist ganz wild, weil es ihm nicht gelungen ist, die Stute gleich beim ersten Schlag zu töten. »Die ist zäh!« ertönt es in der Menge. »Gleich fällt sie um, Brüder, gleich ist sie hin!« sagt ein Kenner. »Nehmt doch eine Axt! Macht rascher ein Ende!« schlägt ein dritter vor. »Daß dich die Mücken fressen!« brüllt Mikolka. Dann wirft er die Deichsel fort und nimmt eine schwere eiserne Brechstange. »Vorsicht!« und er läßt das Eisen mit voller Wucht auf seine arme Stute niedersausen. Das Tier taumelt, duckt sich und macht Anstalten, wieder zu ziehen, aber die Brechstange prallt ihr wieder auf den Rücken. Das Pferd stürzt, als hätte man ihm zugleich alle vier Beine entzweigeschlagen. »Macht ein Ende!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen. Einige betrunkene Burschen mit roten Gesichtern ergreifen, was sie gerade finden – Peitschen, Stöcke und eine Deichsel – und eilen zu der verendenden Stute. Mikolka pflanzt sich an der Seite auf und bearbeitet mit seiner Eisenstange den Rücken. Die Stute reckt ihren Kopf, seufzt schwer auf und verendet. »Nun hat er ihr den Garaus gemacht!« sagt jemand. »Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!« »Es ist mein Gut!« schreit Mikolka. Er hat noch immer die Eisenstange in der Hand, seine Augen sind blutunterlaufen. Es scheint ihm leid zu tun, daß er nun nichts zum Schlagen hat. »Du bist wirklich kein Christenmensch!« tönt es in der Menge. Der arme Knabe ist ganz außer sich. Er bahnt sich schreiend den Weg zu der Stute, er umarmt ihren toten, blutigen Kopf, küßt ihre Augen und Nüstern ... Dann springt er auf und stürzt sich, seine schwachen Hände zu Fäusten ballend, auf Mikolka. Aber in diesem Augenblick erwischt ihn endlich der Vater, er nimmt ihn auf die Arme und trägt ihn fort. »Papa! Warum ... haben sie ... das arme Pferdchen getötet ...« Er schluchzt, und die Worte dringen wie Schreie aus seiner Brust. »Es sind Betrunkene ... die machen sich einen Spaß ... uns geht es ja nichts an ... gehen wir!« sagt der Vater. Er umarmt den Vater. Er spürt eine schwere Last auf der Brust ... er will Atem holen, aufschreien und – erwacht. Er ist in Schweiß gebadet, seine Haare triefen von Schweiß, er atmet schwer und richtet sich entsetzt auf. »Gott sei Dank! Es war nur ein Traum!« sprach er zu sich. Dann setzte er sich unter dem Baume hin und holte tief Atem. »Was ist das nun eigentlich? Fiebere ich? So ein gräßlicher Traum!« Sein Körper war wie zerschlagen. In seiner Seele war es dunkel und öde. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände. »Mein Gott!« rief er aus, »werde ich nun wirklich ein Beil nehmen, werde ihr den Schädel einschlagen ... werde im warmen klebrigen Blut herumtasten. Kästen aufbrechen, stehlen und zittern und mich dann, mit Blut besudelt, zu verbergen suchen ... mit dem Beile ... Mein Gott, wird es so kommen?« Er zitterte wie Espenlaub, als er dies sprach. »Was ist nur mit mir?« fuhr er mit Erstaunen fort. »Ich habe ja gewußt, daß ich es nicht ertragen kann; warum habe ich mich bis jetzt so gequält? Gestern, ja gestern, als ich zu ihr ging, um die ... Probe zu machen, war es mir ja ganz klar, daß ich es nicht über mich bringe ... Was ist nur jetzt mit mir? Wie konnte ich noch zweifeln? Als ich gestern die Treppe hinunterging, hab' ich mir ja selbst gesagt, daß es häßlich, schlecht, gemein ist ... Mir wurde ja beim bloßen Gedanken im wachen Zustand so schlecht, und ich war wie gelähmt vor Angst. Nein, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht! Wenn in meinen Berechnungen auch gar keine Fehler enthalten sind, wenn auch alles, was ich mir in den letzten vier Wochen zurechtgelegt habe, so klar wie die Sonne, so logisch wie die Mathematik ist ... Mein Gott! Ich werde mich doch nie entschließen können! Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen ... Was habe ich mir nur bisher gedacht?! ...« Er erhob sich, blickte erstaunt um sich, als begreife er nicht, wie er hergeraten sei. Dann schlug er den Weg zu der T–schen Brücke ein. Er war blaß, seine Augen brannten, er fühlte eine große Müdigkeit in allen Gliedern, doch er atmete viel leichter als früher. Er fühlte, daß er die schwere Last, die ihn so lange bedrückte, von sich geworfen habe, und dies gab ihm tiefen Frieden und Erleichterung. »O Herr!« betete er. »Zeige mir den Weg, den ich gehen soll, ich will mich aber von jenem verfluchten ... Wahn lossagen!« Er ging über die Brücke und betrachtete ruhig und friedevoll die Newa und das leuchtende Abendrot. Trotz seiner Schwäche spürte er nichts von Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür auf seinem Herzen, das während der letzten Woche reif geworden war, plötzlich geplatzt ... Freiheit ... Freiheit! Er fühlte sich frei von jenem Zauber, von Verführung und Versuchung. Als er später an diese Tage und Ereignisse zurückdachte und sie Minute für Minute, Punkt für Punkt durchnahm, wunderte er sich jedesmal über einen Umstand, der zwar an sich durchaus nicht merkwürdig war, den er aber als einen Fingerzeig des Schicksals auffaßte. Er fragte sich nämlich, warum er damals, trotz seiner Müdigkeit und Abspannung nicht den kürzesten Weg nach Hause genommen, sondern einen völlig überflüssigen Umweg über den Heumarkt gemacht hatte. Der Umweg war allerdings nicht groß, aber doch ganz sinnlos und unnötig. Es passierte ihm zwar oft, daß er heimging, ohne auf den Weg zu achten. Er fragte sich aber, warum die wichtige, entscheidende und höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte gerade mit jener Stimmung, mit jenen Umständen und mit jenem Augenblick seines Lebens zusammenfiel, in denen diese Begegnung einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Schicksal haben mußte? Als hätte dieser Augenblick auf ihn gelauert ... Es war gegen neun Uhr, als er über den Platz ging. Alle Händler, die in Läden, auf Tischen und im Herumziehen ihre Geschäfte betrieben, machten Feierabend, räumten ihre Waren fort und gingen, ebenso wie die Käufer, nach Hause. In der Nähe der Garküchen, in den schmutzigen und stinkenden Höfen und besonders bei den Schenken drängten sich noch viele Händler und Trödler. Raskolnikow bevorzugte bei seinen Spaziergängen gerade diese Gegend und die anstoßenden Gassen. Seine schäbige Kleidung fiel hier niemand auf, und hier konnte er in jedem Aufzug erscheinen, ohne Anstoß zu erregen. An der Ecke der K–Gasse trieb ein Kleinbürgerpaar an zwei Tischen Handel mit Garn, Bändern, billigen Tüchern und ähnlichem Kram. Sie waren gleichfalls im Begriff, Feierabend zu machen, da kam aber zu ihrem Verkaufsstand eine Bekannte und hielt sie auf. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna, oder kurzweg Lisaweta, wie sie von allen genannt wurde, eine jüngere Schwester der alten Aljona Iwanowna, der Kollegienregistratorswitwe und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um ihr eine Uhr zum Pfand anzubieten und dabei seine Probe zu machen ... Er kannte Lisaweta seit längerer Zeit sehr genau, und auch sie kannte ihn flüchtig. Es war eine lange, plumpe, schüchterne alte Jungfer, beinahe eine Idiotin; sie war etwa fünfunddreißig und wurde von ihrer Schwester wie eine Sklavin behandelt; sie arbeitete für sie Tag und Nacht, hatte vor ihr den größten Respekt und bekam von ihr zuweilen Schläge. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel in der Hand vor dem Händlerehepaar und hörte aufmerksam zu. Diese redeten auf sie mit besonderem Eifer ein. Als Raskolnikow sie erkannte, bemächtigte sich seiner ein tiefes Erstaunen, obwohl an der Begegnung eigentlich nichts Wunderbares war. »Entscheiden Sie, Lisaweta Iwanowna, doch selbst über die Sache«, sprach der Kleinbürger. »Kommen Sie morgen so gegen sieben, und dann treffen Sie auch die Leute.« »Morgen?« fragte nachdenklich und gedehnt Lisaweta. Sie konnte sich wohl nicht entschließen. »Wie Sie die Aljona Iwanowna eingeschüchtert hat!« sagte die Frau, ein geriebenes Weib. »Wenn ich Sie so anschaue, kommen Sie mir wie ein kleines Kind vor. Sie ist nicht einmal eine richtige Schwester von Ihnen, nur eine Stiefschwester, und doch hat sie Sie so unter dem Pantoffel.« »Sagen Sie doch der Aljona Iwanowna diesmal überhaupt nichts!« unterbrach der Händler seine Frau. »So rate ich Ihnen. Kommen Sie einfach her, ohne ihr ein Wort zu sagen. Das Geschäft ist doch glänzend. Ihre Schwester wird es hinterdrein schon selbst einsehen.« »Soll ich wirklich kommen?« »Morgen um sieben. Dann kommen auch die Leute her. Sie können dann alles persönlich abschließen.« »Es wird auch Tee geben«, bemerkte die Frau. »Gut. Ich werde kommen«, sagte endlich Lisaweta. Sie war noch immer unschlüssig und verließ zögernd den Verkaufsstand. Dies war alles, was Raskolnikow im Vorbeigehen hörte. Er ging leise und unbemerkt vorbei und gab sich Mühe, jedes Wort aufzufangen. Sein Erstaunen von vorhin ging allmählich in Grauen über; es überlief ihn kalt: er hatte ja soeben erfahren, daß Lisaweta, die Schwester und einzige Hausgenossin der alten Wucherin, morgen um sieben Uhr abends fortgehen und daß die Alte um diese Zeit ganz allein bleiben werde . Er hatte nur noch wenige Schritte bis zu seiner Wohnung. Er betrat sein Zimmer in der Stimmung eines zum Tode Verurteilten. Er überlegte sich nichts mehr und war dazu auch nicht imstande. Aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er, daß er von nun an weder über die Freiheit seiner Vernunft noch über seinen Willen verfügte und daß nun alles endgültig besiegelt sei. Wenn er auch viele Jahre auf eine geeignete Gelegenheit gelauert hätte, so hätte er selbst bei einem endgültig gefaßten Entschluß kaum einen größeren Erfolg auf dem Wege zur Ausführung seines Entschlusses erzielen können als diesen, den er soeben erreicht hatte. Jedenfalls wäre es sehr schwierig gewesen, am Vorabend des entscheidenden Tages mit größerer Sicherheit und mit geringerem Risiko, ganz ohne alle gefährlichen Umfragen, festzustellen, daß die Alte, gegen die er ein Attentat plante, zur betreffenden Stunde ganz mutterseelenallein zu Hause sein würde. 6. VI Raskolnikow erfuhr später durch Zufall, wozu die Händler Lisaweta zu sich bestellt hatten. Es war eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Eine zugereiste verarmte Familie wollte verschiedene Kleidungsstücke verkaufen. Da der Verkauf auf offenem Markt unvorteilhaft gewesen wäre, so suchte man eine Trödlerin. Lisaweta Iwanowna betrieb gerade solche Geschäfte und Kommissionen. Sie hatte eine große Kundschaft, denn sie war ehrlich und pflegte immer feste Preise zu machen. Sonst war sie ja sehr wortkarg und, wie schon gesagt, schüchtern und scheu. Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch. Spuren von Aberglauben bewahrte er auch in seinem späteren Leben. Und die ganze Sache erschien ihm sehr seltsam und geheimnisvoll, als hätte das Schicksal selbst diese Zufälligkeiten angeordnet. Im letzten Winter hatte ihm ein Student namens Pokorew vor seiner Abreise nach Charkow die Adresse der alten Aljona Iwanowna gegeben, für den Fall, wenn er etwas versetzen wolle. Lange Zeit machte er keinen Gebrauch von dieser Adresse, denn er konnte mit Stundengeben einigermaßen auskommen. Vor etwa sechs Wochen war ihm die Adresse wieder eingefallen, er hatte zwei Gegenstände zum Versetzen: eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen – ein Abschiedsgeschenk von seiner Schwester. Er entschloß sich, den Ring zu versetzen; er ging zu der Alten, die ihm gleich beim ersten Blick einen unüberwindbaren Ekel einflößte, bekam von ihr zwei »Banknoten« und kehrte auf dem Heimwege in ein billiges Restaurant ein. Er bestellte sich Tee und versank in Gedanken. Aus seinem Gehirne schälte sich, wie ein Küchlein aus einem Ei, eine seltsame Idee aus, die ihn vollkommen fesselte. Am Nebentisch saßen ein Student, den er nicht kannte, und ein junger Offizier. Sie hatten soeben Billard gespielt und tranken Tee. Plötzlich hörte er, wie der Student dem Offizier die Adresse der alten Wucherin und Kollegienregistratorswitwe Aljona Iwanowna mitteilte. Dies fiel Raskolnikow sofort auf: er kam ja soeben von der Alten, und da hörte er gleich von ihr sprechen. Es war ja selbstverständlich reiner Zufall, aber er stand noch ganz unter dem sehr ungewöhnlichen Eindruck, den die Alte auf ihn gemacht hatte; der Student schien aber diesen Eindruck absichtlich verstärken zu wollen, denn er erzählte seinem Freund auch allerlei Details über Aljona Iwanowna. »Sie ist ja sehr nett,« erzählte der Student, »man bekommt von ihr immer Geld; sie ist reich wie ein Jude und kann jederzeit selbst fünftausend Rubel beschaffen, und dabei lehnt sie auch ein Pfand von einem Rubel nie ab. Viele von den Kollegen haben mit ihr zu tun. Sie ist aber ein Luder.« Und dann erzählte er, wie böse und eigensinnig sie sei; wenn man nur einen Tag im Verzug wäre, sei das Pfand unrettbar verloren. Sie beleihe die Gegenstände nur mit einem Viertel ihres Wertes, nehme aber fünf bis sieben Prozent Monatszinsen. Der Student erzählte noch vieles, und unter anderem auch von der Schwester der Alten; die Alte sei zwar klein und schwächlich, und doch schlage sie die Lisaweta jeden Augenblick, behandele sie wie eine Sklavin, während Lisaweta mindestens zweimal so groß wie sie sei ... »Die ist auch ein Unikum!« rief der Student lachend aus. Und nun sprachen sie von Lisaweta. Dem Studenten schien seine Erzählung besonderes Vergnügen zu bereiten, und er lachte jeden Augenblick auf; der Offizier hörte mit großem Interesse zu und beauftragte ihn, ihm die Lisaweta zu schicken: er wolle ihr Wäsche zum Ausbessern geben. Raskolnikow hörte schweigend zu und erfuhr alles: Lisaweta sei die jüngere und eine Stiefschwester der Alten (von verschiedenen Müttern); sie zähle etwa fünfunddreißig Jahre, arbeite Tag und Nacht und sei zugleich Waschfrau und Köchin bei ihrer Schwester, dabei finde sie noch Zeit, Näharbeit anzunehmen und sich als Taglöhnerin zu verdingen; alles, was sie dabei verdiene, liefere sie der Alten ab. Ohne Erlaubnis der Alten nehme sie keine Bestellung oder Arbeit an. Die Alte habe schon ihr Testament gemacht, nach welchem, wie es auch der Lisaweta bekannt sei, ihr nur einige Stühle und sonstiger Hausrat zufielen, während das ganze Geld für ein Kloster im N–schen Gouvernement zu ewigen Seelenmessen bestimmt sei. Lisaweta sei eine Kleinbürgerin und von äußerst lächerlicher äußerer Erscheinung; sie sei ungeheuer lang, habe lange krumme Beine, trage immer abgetretene Schuhe aus Bockleder und halte sich sonst sehr sauber. Worüber aber der Student besonders lachte, war, daß Lisaweta sich meistens in gesegneten Umständen befand ... »Du sagst ja, sie sei ein Scheusal?« bemerkte der Offizier. »Ja, sie hat eine so dunkle Hautfarbe, sieht wie ein verkleideter Soldat aus, aber eigentlich ist sie gar kein Scheusal. Ihr Gesicht und ihre Augen drücken große Güte aus. Wirklich! Darum gefällt sie auch vielen. Sie ist so still, sanft, dienstfertig, gefügig, ja, zu allem gefügig. Ihr Lächeln ist sogar direkt schön.« »Ich glaube gar, sie gefällt auch dir?« Der Offizier lachte. »Ihrer Originalität wegen. Aber ich will dir etwas sagen. Ich hätte die verfluchte Alte gern ermordet und beraubt; ich schwöre dir, ohne mein Gewissen irgendwie zu belasten.« Der Offizier lachte laut auf. Raskolnikow zuckte zusammen: das Ganze kam ihm so seltsam vor! »Erlaube mal,« sagte der Student erregt, »ich will dir eine ernste Frage vorlegen. Ich habe ja natürlich gescherzt, aber denke dir nur; einerseits die dumme, nichtsnutzige, sinnlose, böse und kranke Alte, die jeden Augenblick sterben kann ... Verstehst du mich?« »Ja, ich verstehe«, sagte der Offizier. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Studenten. »Höre nur weiter. Andererseits gehen Tausende junger, lebensfähiger Existenzen hilflos zugrunde. Und so ist es überall! Mit dem Geld der Alten, das für ein Kloster bestimmt ist, könnte man Hunderte und Tausende guter Werke verrichten! Man könnte Hunderte, Tausende von Existenzen auf den richtigen Weg bringen! Unzählige Familien vor Armut, Verfall, Verderben, Unzucht, Geschlechtskrankheiten erretten! Und alles mit ihrem Geld. Wenn ich sie nun töte und ihr Geld nehme, um mich dann dem Dienste der Menschheit, der Allgemeinheit zu widmen, – glaubst du denn nicht, daß das kleine Vergehen – mit den Tausenden von guten Werken ganz aufgewogen wird? Mit einem Leben werden tausend vor Verfall und Auflösung gerettete Leben erkauft. Ein Tod und hundert Leben – das ist ja ein Rechenexempel! Und was bedeutet denn auf der großen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen und bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger, denn die Alte ist schädlich; sie schädigt auch das Leben einer anderen; sie hat neulich die Lisaweta aus Bosheit in den Finger gebissen. Der Finger mußte beinahe amputiert werden!« »Ja, sie hat kein Recht auf das Leben,« bemerkte der Offizier, »aber so will es wohl die Natur.« »Aber Freund! Die Natur soll man verbessern und korrigieren, sonst müßte man ja in Vorurteilen versinken. Wir hätten dann keinen einzigen großen Menschen. Man sagt: Pflicht, Gewissen; ich habe ja nichts gegen Pflicht und Gewissen einzuwenden, – aber wie verstehen wir sie? Warte, ich will noch eine Frage stellen. Höre!« »Nein, warte du; ich will dich fragen. Höre!« »Nun?« »Du redest und predigst jetzt, aber sage mir: bist du imstande, die Alte selbst umzubringen, oder nicht?« »Natürlich nicht! Ich sage ja nur, was die Gerechtigkeit verlangt ... Sonst ist es ja nicht meine Sache ...« »Da will ich dir folgendes sagen: wenn du dich selbst nicht entschließt, so darfst du hier nicht von Gerechtigkeit sprechen! ... Komm, spielen wir noch eine Partie!« Raskolnikow war äußerst aufgeregt. Es waren zwar nur ganz gewöhnliche und ganz private Gedanken junger Menschen, wie er sie in anderen Worten und über andere Stoffe schon oft gehört hatte. Warum mußte er aber dies Gespräch gerade in diesem Augenblick anhören, als auch in seinem Kopf die ganz gleichen Gedanken keimten? Warum geriet er gerade in dem Augenblick, als in ihm dieser Keim aufging, auf dieses Gespräch? ... Dieses Zusammentreffen kam ihm immer seltsam vor. Dieses unbedeutende Restaurantgespräch hatte im folgenden einen entscheidenden Einfluß auf ihn: darin schien wirklich eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig zu liegen ... * * * Vom Heumarkte zurückgekehrt, stürzte er sich auf sein Sofa und saß eine ganze Stunde lang regungslos da. Inzwischen war der Abend angebrochen; er hatte keine Kerze, auch fühlte er kein Bedürfnis, Licht zu machen. Er konnte sich später nie genau erinnern, ob er in dieser Stunde überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich fühlte er einen neuen Fieberanfall, und da fiel es ihm ein, daß er sich auf dem Sofa auch hinlegen könnte. Bald überfiel ihn ein schwerer, bleierner, bedrückender Schlaf. Er schlief ungewöhnlich lange, ohne zu träumen. Der Dienstmagd Nastasja, die am nächsten Morgen um zehn Uhr in sein Zimmer kam, gelang es nur mit Mühe, ihn zu wecken. Sie brachte ihm Tee und Brot. Der Tee war wie immer vom zweiten Aufguß, und sie brachte ihn in ihrer eigenen Kanne. »Wie er nur so schlafen kann!« rief sie empört aus. »Nichts als schlafen!« Er erhob sich mit großer Anstrengung. Sein Kopf schmerzte; er stand ganz auf, machte einige Schritte durch seine Kammer, fiel aber gleich wieder aufs Sofa. »Wieder schlafen!« rief Nastasja aus. »Bist du denn krank?« Er gab keine Antwort. »Willst du Tee?« »Später«, brachte er mit Mühe heraus; er schloß wieder die Augen und kehrte sich zur Wand. »Er ist vielleicht wirklich krank«, sagte sie und ging weg. Sie kam um zwei Uhr wieder und brachte ihm Suppe. Er lag noch immer. Der Tee stand unberührt. Nastasja fühlte sich dadurch verletzt und begann ihn wie wütend zu rütteln. »Was schnarchst du noch!« schrie sie und blickte ihn dabei wie angeekelt an. Er erhob sich und setzte sich, erwiderte aber kein Wort und sah immer zu Boden. »Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja. Sie bekam wieder keine Antwort. »Du solltest wenigstens etwas ins Freie gehen!« sagte sie nach einer Pause. »Dann bekommst du Luft. Wirst du etwas essen?« »Später«, sagte er mit schwacher Stimme. »Geh!« Und er winkte ihr ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, sah ihn voll Mitleid an und ging. Nach einigen Minuten öffnete er die Augen, starrte lange den Tee und die Suppe an, ergriff darauf den Löffel und das Brot und begann zu essen. Er nahm nur drei oder vier Löffel zu sich, ganz automatisch und ohne Appetit. Der Kopf schmerzte etwas weniger. Nach dem Essen streckte er sich wieder auf dem Sofa aus, aber er schlief nicht mehr ein. Er lag unbeweglich, den Kopf in das Kissen vergraben. Er phantasierte, und seine Phantasien waren sehr eigenartig; er sah sich in Afrika, in einer ägyptischen Oase. Die Karawane hielt Rast, die Kamele lagen ruhig da. Palmen standen im Kreise umher. Alle aßen zu Mittag, er aber trank Wasser aus einem Bach, der gleich an seiner Seite rauschte. Das kühle, wunderbar blaue Wasser lief über bunte Steine und goldig schimmernden Sand ... Plötzlich hörte er ganz deut lich eine Uhr schlagen. Er zuckte zusammen, kam zu sich, hob den Kopf, schaute zum Fenster hinaus, um nach der Zeit zu sehen, sprang dann rasch vom Sofa auf, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt. Er ging auf den Fußspitzen zur Tür, machte sie leise auf und horchte zur Stiege hinunter. Er hatte heftiges Herzklopfen. Aber auf der Stiege war es so still, als schlafe das ganze Haus ... Es kam ihm so dumm und sonderbar vor, daß er imstande gewesen war, die ganze Zeit durchzuschlafen, und daß er noch gar keine Vorbereitungen getroffen hatte ... Vielleicht hatte es schon sechs geschlagen ... An Stelle der Schläfrigkeit trat jetzt eine fieberhafte, unruhige Geschäftigkeit. Er hatte übrigens nicht viel vorzubereiten. Er spannte seine ganze Denkkraft an, um ja nichts zu vergessen; sein Herz pochte wie wild, und sein Atem ging schwer. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und sie an seinen Mantel nähen; das war bald getan. Er langte unter sein Kopfkissen und holte aus der Wäsche, mit der es gefüllt war, ein ganz zerrissenes ungewaschenes Hemd hervor. Er riß davon einen Streifen, etwa zwei Zoll breit und vierzehn Zoll lang ab. Diesen Streifen legte er zusammen, zog seinen weiten Sommermantel, der aus einem sehr festen Baumwollstoff gefertigt war, aus und begann den Streifen mit beiden Enden auf die Innenseite des Mantels unter der linken Achsel anzunähen. Seine Hände zitterten während der Arbeit, doch war von den Nähten nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er längst zurechtgelegt, sie lagen in Papier eingewickelt in seiner Tischlade. Diese Schlinge war seine eigene höchst geistreiche Erfindung: sie war für das Beil bestimmt. Er konnte das Beil ja nicht offen auf der Straße tragen. Hätte er es einfach unter dem Mantel verborgen, so hätte er es ja mit einer Hand halten müssen, was aufgefallen wäre. Wenn er nun das Beil mit der Schneide in diese Schlinge hängte, so konnte er es ganz unauffällig unter dem Arm tragen. Die Hand konnte er in die Manteltasche stecken und so den Griff des Beiles festhalten, damit dieser nicht hin und her pendele. Der Mantel war sehr weit, und man konnte unmöglich erraten, daß seine Hand den Beilgriff hielt. Diese Erfindung hatte er bereits vor vierzehn Tagen gemacht. Als er damit fertig war, langte er mit der Hand in den schmalen Spalt zwischen seinem »türkischen« Sofa und dem Fußboden, suchte in der linken Ecke und holte das längst vorbereitete und versteckte Pfand heraus. Dieses »Pfand« bestand aus einem glatt gehobelten Holzbrettchen in der Größe eines gewöhnlichen silbernen Zigarettenetuis. Das Brettchen hatte er bei einem seiner Spaziergänge zufällig auf einem Hof in der Nähe einer Werkstatt gefunden. Später fügte er noch eine dünne Eisenplatte hinzu, die er wohl auch zufällig gefunden hatte. Die Eisenplatte war etwas kleiner als das Brettchen; er legte beide übereinander und band sie kreuzweise mit einem Faden zusammen; das Ganze wickelte er dann elegant in ein sauberes Papier und schnürte das Paket noch einmal zusammen, und zwar sehr kompliziert, damit die Alte einige Zeit zum Aufschnüren brauchte und er dabei einen günstigen Augenblick abwarten konnte. Die Eisenplatte diente zur Vergrößerung des Gewichts, damit die Alte nicht gleich sähe, daß der »Gegenstand« aus Holz sei. Das Ganze lag schon einige Zeit bereit. Als er das Pfand herausholte, hörte er jemand im Hof schreien: »Es hat ja längst sechs geschlagen!« »Längst! Mein Gott!« Er stürzte zur Tür, horchte, nahm den Hut und begann unhörbar wie eine Katze die siebzehn Stufen hinabzugehen. Jetzt galt es noch, aus der Küche das Beil zu stehlen. Er hatte schon längst beschlossen, die Tat mit einem Beil auszuführen. Er besaß noch ein zusammenklappbares Gärtnermesser; er wollte sich aber nicht auf dies Messer und besonders auf seine Kräfte verlassen und wählte daher endgültig ein Beil. Wir wollen hier auf eine Eigentümlichkeit aller seiner endgültigen Entschlüsse hinweisen: je endgültiger sie wurden, um so dümmer und sinnloser erschienen sie ihm. Trotz seiner qualvollen inneren Kämpfe konnte er auch nicht einen Augenblick an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, alles bis zum allerletzten Detail durchzudenken und endgültig zu beschließen, wenn er gar keine Zweifel mehr gehabt hätte, so hätte er sich schließlich doch von allem losgesagt wie von einer Dummheit, Ungeheuerlichkeit und Unmöglichkeit. Es gab aber noch eine große Menge von Zweifeln und ungeklärten Details. Die Beschaffung eines Beils machte ihm gar keine Schwierigkeiten, denn nichts war leichter als das. Nastasja ging jeden Augenblick, besonders in den Abendstunden aus; sie steckte bei den Nachbarn oder beim Krämer, die Küchentür ließ sie weit offenstehen. Die Wirtin zankte mit ihr immer darüber. Er brauchte also nur leise in die Küche zu gehen, das Beil zu nehmen und es eine Stunde später (wenn alles geschehen war) wieder hinzubringen. Es waren allerdings auch da Zweifel: wenn z.B. in einer Stunde, wenn er das Beil wiederbringen will, Nastasja zufällig in der Küche ist. Dann muß er natürlich an der Küche vorbeigehen und abwarten, bis Nastasja wieder fort ist. Wenn sie aber inzwischen das Beil sucht, es nicht findet und zu schimpfen beginnt, – so ist gleich ein Verdacht oder wenigstens ein Verdachtsmoment vorhanden. Das waren nur Kleinigkeiten, über die er noch gar nicht nachgedacht hatte, auch hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Er dachte nur an die Hauptsache und schob alles andere hinaus. Das Wichtigste schien ihm absolut unausführbar. Er konnte sich z.B. gar nicht vorstellen, daß er einmal zu denken aufhören und sich auf den Weg machen sollte ... Auch seine Probe (d.h. den Besuch bei der Alten mit der Absicht, den Ort auszukundschaften) hatte er nur probiert , d.h. nicht mit vollem Ernst unternommen; er hatte sich gesagt, ich will einmal hingehen und probieren, statt noch länger zu grübeln – und er hatte es ja auch nicht ausgehalten; er hatte ausgespuckt und war, wütend über sich selbst, davongelaufen. Und doch schien es ihm, daß er mit der Analyse der Sache vom Standpunkte der Moral aus gänzlich fertig sei: seine Kasuistik war nun so scharf wie ein Rasiermesser, und er kannte keine ernstlichen Einwände mehr. Doch zuletzt glaubte er sich selbst nicht mehr und suchte hartnäckig und sklavisch nach Einwänden, als ob er dazu von jemand gezwungen oder gestoßen worden wäre. Der letzte Tag, der so unerwartet angebrochen war und alles entschieden hatte, wirkte auf ihn rein mechanisch: als ob jemand seine Hand ergriffen und ihn mit sich fortgerissen hätte, blind, mit ungewöhnlicher Kraft, ohne Einwände und Gegenwehr. Als wäre er mit einem Rockzipfel in das Rad einer Maschine geraten, das ihn nun mit sich fortriß. Anfangs – es war übrigens vor längerer Zeit – interessierte ihn die Frage, warum die meisten Verbrechen so leicht aufgedeckt wurden und warum die Spuren der Verbrecher so leicht zu finden wären. Allmählich kam er zu verschiedenartigen, sehr interessanten Schlußfolgerungen: der Grund liege nicht so sehr in der physischen Unmöglichkeit, alle Spuren der Tat zu verwischen, wie im Täter selbst; dieser erfahre im Augenblick der Tat eine sonderbare Abschwächung des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein ungewöhnlicher Leichtsinn träte, und zwar gerade in dem Augenblick, da Vernunft und Vorsicht besonders notwendig seien. Er glaubte, daß diese Vernunfts- und Willensschwäche sich wie eine Krankheit ganz allmählich entwickele, unmittelbar vor der Tat ihren Höhepunkt erreiche, in diesem Stadium auch während der Tat und einige Zeit nach derselben – je nach Veranlagung des Täters – verbleibe und schließlich, wie jede Krankheit, weiche. Er fühlte jedoch nicht die Kraft, über die Frage, ob die Krankheit das Verbrechen zur Folge habe, oder ob das Verbrechen die Krankheit mit sich bringe, zu entscheiden. Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, gewann er auch die Überzeugung, daß er für seine Person vor solchen krankhaften Zuständen gefeit sei und daß er seinen Willen, seine Vernunft während der Ausführung seines Vorhabens bewahren werde, denn das, was er vorhatte, sei ja »kein Verbrechen«. Wir wollen den ganzen Denkprozeß, durch den er zu die ser letzten Folgerung gelangte, nicht untersuchen; wir sind auch sonst den Ereignissen zu weit vorausgeeilt ... Wir wollen nur erwähnen, daß alle rein praktischen Schwierigkeiten für ihn eine untergeordnete Bedeutung hatten. »Wenn man sie nur unter der Gewalt seines ganzen Willens und seiner ganzen Vernunft behält, so werden alle diese Schwierigkeiten sofort überwunden sein, sobald man das Unternehmen mit allen Details vor sich sieht ...« Er kam aber noch immer nicht zum entscheidenden Schritt. Seinen endgültigen Beschlüssen traute er nicht, und als die Stunde geschlagen hatte, entwickelte sich alles gar nicht so, wie er es sich zurechtgelegt hatte, sondern ganz automatisch und beinahe unerwartet. Ein Umstand verblüffte ihn, noch ehe er die Stiege hinuntergegangen war. Als er an der Küchentür, die wie immer weit offenstand, vorbeiging, schielte er hinein, um sich zu überzeugen, ob in Nastasjas Abwesenheit nicht die Wirtin selbst in die Küche gekommen sei; und wenn die Küche leer war, ob die Tür zum Zimmer der Wirtin ordentlich zugemacht sei, damit sie nicht hörte, wie er das Beil holte, und nicht in die Küche hinausguckte. Wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Nastasja ausnahmsweise nicht nur zu Hause und in der Küche war, sondern auch arbeitete! Sie stand vor einem Waschkorb und hängte auf eine Leine Wäsche zum Trocknen auf. Als sie ihn bemerkte, hielt sie in ihrer Arbeit inne, wandte sich zu ihm und verfolgte ihn mit den Augen. Er sah weg und ging vorüber, als hätte er nichts gemerkt. Die Sache war aber verloren: er hatte kein Beil! Er war sehr bestürzt. »Wie konnte ich nur so bestimmt darauf rechnen,« sagte er sich, während er das Tor passierte, »daß sie gerade in diesem Augenblick nicht zu Hause sein würde! Wie kam ich nur auf diesen Fehler?« Er war zerknirscht und tief erniedrigt. Er wollte über sich selbst lachen; stumpfer, tierischer Haß erfüllte ihn. Unten im Torweg blieb er nachdenklich stehen. Es war ihm unerträglich, jetzt zum Schein einen Spaziergang zu machen, aber noch unerträglicher – nach Hause zurückzukehren. »So ein günstiger Zufall ist nun für immer verloren!« murmelte er, während er im Torweg automatisch vor der offenen Kammer des Hausknechts stehen blieb. Plötzlich zuckte er zusammen: unter der Bank in der finsteren Kammer, etwa zwei Schritte vor ihm, sah er etwas aufblitzen ... Er blickte um sich: kein Mensch war zu sehen. Er ging unhörbar die zwei Stufen zur Kammer hinunter und rief mit schwacher Stimme nach dem Hausknecht. »Es stimmt! Er ist nicht zu Hause. Er wird irgendwo in der Nähe sein, denn die Tür steht weit offen.« – Er stürzte sich blitzschnell auf das Beil (denn es war ein Beil) und zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzklötzen lag, hervor, er befestigte es in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ, von niemand bemerkt, die Kammer. »Hilft nicht die Vernunft, so hilft der Teufel« sagte er sich mit einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich. Er ging langsam und gesetzt seinen Weg, ohne Eile, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Passanten sah er gar nicht an und gab sich die größte Mühe, möglichst wenig aufzufallen. Da fiel ihm sein Hut ein. – »Mein Gott! Ich hatte ja noch vorgestern Geld, warum habe ich mir nicht statt des Hutes eine Mütze gekauft?« Er fluchte. Er schielte in einen Laden hinein und sah auf die Wanduhr: es war zehn Minuten über sieben. Er mußte sich beeilen und dabei noch einen Umweg machen, um an das Haus von einer anderen Seite heranzukommen ... Als er sich früher diesen Gang vorstellte, glaubte er, daß er sich sehr fürchten werde. Jetzt spürte er aber nichts von Furcht. Er beschäftigte sich sogar mit einigen ganz nebensächlichen Gedanken, allerdings nur kurze Zeit. Als er beim Jussupow-Park vorbeiging, dachte er daran, wie gut es doch wäre, wenn man auf allen Plätzen der Stadt so große Springbrunnen errichten würde, die die Luft so köstlich erfrischen. Dann dachte er, wie nützlich es für die Stadt wäre, wenn man den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und ihn mit dem Michailowschen Schloßpark verbinden würde. Dann hielt er sich bei der Frage auf, warum die Bewohner der großen Städte ohne besondere Notwendigkeit und eigentlich mehr instinktiv sich gerade in solchen Stadtteilen niederlassen, in denen es weder Gärten noch Springbrunnen gibt und die von Unrat und Schmutz starren. Dann fielen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte ein, und er kam für einen Augenblick zu sich. »Was für ein Blödsinn! Lieber will ich an gar nichts denken.« »So klammern sich wohl alle, die zum Schafott geführt werden, mit ihren Gedanken an die Gegenstände, denen sie begegnen«, ging es ihm durch den Kopf, aber nur für einen Augenblick, rasch wie ein Blitz, und er beeilte sich selbst, diesen Gedanken niederzudrücken ... Da ist ja auch schon das Haus und das Tor. Eine Uhr schlug irgendwo einmal. »Was ist das? Schon halb acht? Unmöglich! Die Uhr geht vor.« Im Tor lief alles glücklicherweise glatt ab. Zufällig wurde unmittelbar vor ihm ein großer Heuwagen in den Hof gefahren, der ihn, während er das Tor passierte, ganz verdeckte. Kaum fuhr der Wagen durch das Tor, so schwenkte Raskolnikow blitzschnell nach rechts ab. Von der anderen Seite des Wagens klangen mehrere Stimmen durcheinander, man schrie und zankte sich; ihn merkte aber niemand. Von den vielen Fenstern, die in den quadratischen Hof gingen, standen mehrere offen; er hatte aber nicht die Kraft, hinaufzublicken. Die Stiege zur Wohnung der Alten war gleich in der Nähe der Einfahrt. Nun war er schon auf der Stiege. Er holte Atem, drückte seine Hand auf das wild pochende Herz, betastete und richtete den Beilgriff und begann nun langsam und vorsichtig horchend die Treppe hinaufzusteigen. Das Stiegenhaus war ganz leer. Alle Wohnungstüren waren zu, und er begegnete niemand. Im zweiten Stock stand die Tür einer leeren Wohnung weit offen, und in der Wohnung arbeiteten Anstreicher; diese sahen ihn aber gar nicht an. Er blieb eine Weile stehen, überlegte und ging schließlich weiter. – »Es wäre allerdings besser, wenn die Anstreicher nicht da wären, aber es liegen ja noch zwei Stockwerke dazwischen.« Da ist schon der vierte Stock und die Wohnung der Alten. Die Wohnung gegenüber steht leer. Die Wohnung im dritten Stock, unter der Wohnung der Alten, scheint auch unbewohnt zu sein: die Visitenkarte, die früher an die Tür genagelt war, fehlte; die Partei war wohl ausgezogen. Er keuchte. »Soll ich nicht umkehren?« ging es ihm blitzartig durch den Kopf. Er gab sich keine Antwort darauf und begann an der Wohnungstür der Alten zu horchen, alles still! Dann horchte er noch auf die Stiege hinunter: er horchte lange und aufmerksam ... Dann blickte er noch zum letztenmal hinab, raffte sich auf, betastete noch einmal das Beil. »Bin ich nicht zu blaß, sehe ich nicht zu aufgeregt aus? Sie ist ja argwöhnisch ... Sollte ich nicht noch ein wenig warten, damit sich das Herz beruhigt? ...« Das Herz wollte sich aber nicht beruhigen. Es schien sogar immer wilder zu pochen ... Er hielt es nicht aus, führte die Hand langsam an den Glockenzug und läutete. Nach einer halben Minute läutete er wieder, diesmal stärker. In der Wohnung regte sich nichts. Es hatte keinen Sinn, wieder zu läuten, es würde sich auch nicht gut ausnehmen. Die Alte war natürlich zu Hause, aber sie war mißtrauisch und ganz allein in der Wohnung. Er kannte ihre Gewohnheiten und drückte noch einmal sein Ohr fest an die Tür. Waren seine Sinne so sehr geschärft (was eigentlich wenig wahrscheinlich war), oder war es wirklich wahrzunehmen, jedenfalls glaubte er das leise Geräusch einer Hand, die auf die Türklinke gelegt wurde und das Rascheln eines Kleides an der Türe zu hören. Jemand stand unsichtbar an der Tür und horchte, wie er, vielleicht gleichfalls das Ohr an die Tür gelegt, hinaus ... Er machte absichtlich eine Bewegung und murmelte etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu er wecken, daß er hier lauere; dann läutete er zum drittenmal, solid und nicht zu laut, und ganz ohne Ungeduld. Dieser Augenblick prägte sich für immer grell und klar seinem Gedächtnisse ein. Er konnte später nie begreifen, wie er mit solcher List und Vorsicht hatte handeln können, während seine Vernunft im Verlöschen war und er selbst seinen Körper nicht mehr fühlte ... Einen Augenblick später hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. 7. VII Die Tür ging auf und ließ, wie bei seinem ersten Besuch, nur einen schmalen Spalt offen. Zwei scharfe mißtrauische Augen richteten sich auf ihn aus der Dunkelheit. Raskolnikow verlor die Selbstbeherrschung und machte einen Fehler. Er fürchtete, daß die Alte vor ihm Angst bekäme und daß seine Gestalt ihr wenig Vertrauen einflöße. Damit sie die Tür nicht wieder zuschlüge, ergriff er die Türklinke und zog sie zu sich. Die Alte machte keine Gegenbewegung, sie ließ jedoch auch ihre Klinke nicht aus der Hand, so daß er sie mit der Tür beinahe auf den Flur hinauszog. Als er sie mitten in der Tür stehen und ihm so den Eingang versperren sah, ging er auf sie zu. Sie taumelte erschrocken zurück und schien etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts und sah ihn nur durchdringend an. »Guten Abend, Aljona Iwanowna«, begann er möglichst ungezwungen. Aber er verlor die Gewalt über seine Stimme, und sie begann zu zittern. »Ich habe Ihnen da ... einen Gegenstand gebracht ... Wollen wir lieber hineingehen ... zum Licht ...« Er schob sie zur Seite und ging ohne Aufforderung in die Wohnung. Sie lief ihm nach; ihre Zunge löste sich. »Mein Gott! Was wollen Sie da? ... Wer sind Sie? Was wünschen Sie?« »Erlauben Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich ja! ... Raskolnikow ... da habe ich Ihnen das Pfand gebracht, wie neulich versprochen ...« Mit diesen Worten reichte er ihr den Gegenstand. Die Alte warf einen Blick auf das Paket und blickte dann den ungebetenen Gast wieder durchdringend an. Sie betrachtete ihn aufmerksam, feindselig und mißtrauisch. So verging eine Minute; da schien ihm, daß sie lächelte, als hätte sie alles erraten. Er fühlte, wie er den Boden unter sich verlor und von einem namenlosen Entsetzen ergriffen wurde. Wenn sie ihn noch eine halbe Minute so angestarrt hätte, ohne ein Wort zu sprechen, wäre er davongelaufen. »Was starren Sie mich so an? Erkennen Sie mich nicht?« sagte er mit verhaltener Wut. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es, wenn nicht, – gehe ich zu einer andern. Ich habe keine Zeit.« Er sagte dies ganz automatisch ohne Überlegung. Die Alte kam zu sich, und sein energischer Ton schien sie zu ermutigen. »Was denn, Väterchen, so plötzlich ... Was ist's denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfand. »Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe Ihnen davon erzählt.« Sie streckte ihre Hand aus. »Warum sind Sie denn so blaß? Auch zittern Ihre Hände! Haben Sie ein Bad genommen?« »Ich habe Fieber«, sagte er kurz. »Man muß schon blaß aussehen ... wenn man nichts zu essen hat«, fügte er mit schwacher Stimme hinzu. Seine Kräfte verließen ihn wieder. Seine Antwort erschien ihr glaubwürdig; die Alte nahm das Pfand in die Hand. »Was ist es denn?« fragte sie wieder, Raskolnikow aufmerksam musternd und das Pfand mit der Hand auf sein Gewicht prüfend. »Ein Pfand ... Ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Schauen Sie nach.« »Es scheint doch nicht Silber zu sein ... Wie er das nur verschnürt hat!« Sie machte sich nun an der Verschnürung zu schaffen und wandte sich zum Fenster (trotz der drückenden Luft waren alle Fenster zu), ihm für einige Augenblicke den Rücken kehrend. Er knöpfte seinen Mantel auf, nahm das Beil aus der Schlinge und hielt es mit der Rechten unter dem Mantel bereit. Seine Hände waren wie gelähmt; er spürte, wie sie mit jedem Augenblick starrer und hölzerner wurden. Er fürchtete, das Beil fallen zu lassen ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf. »Wie er das nur verpackt hat!« rief die Alte geärgert und wandte sich halb zu ihm. Er durfte keinen Augenblick mehr verlieren. Er zog das Beil hervor, hob es mit beiden Händen hoch und ließ es dann ganz ohne Anstrengung halb mechanisch mit dem Rücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Es kostete ihn gar keinen Kraftaufwand. Kaum hatte er aber das Beil einmal fallen gelassen, als er auch Kräfte in sich spürte. Die Alte war, wie immer, barhäuptig. Ihr helles, leicht ergrautes dünnes Haar war stark eingefettet und zu einem dünnen Zopf geflochten, der mit einem zerbrochenen Hornkamm im Nacken festgesteckt war. Der Schlag traf sie direkt auf den Scheitel, denn sie war klein gewachsen. Sie schrie schwach auf und setzte sich plötzlich auf den Boden; sie hatte noch die Kraft, beide Hände zum Kopf zu heben. In der einen Hand hielt sie noch immer das Pfand. Da schlug er sie zum zweiten- und zum drittenmal immer mit dem Beilrücken und immer auf den Scheitel. Das Blut lief wie aus einem umgefallenen Glas, und der Körper fiel auf den Rücken. Er trat etwas zurück, ließ dem Körper Zeit, ganz umzusinken, und beugte sich dann über ihr Gesicht; sie war tot. Die Augen traten so stark aus ihren Höhlen hervor, als ob sie herausspringen wollten; die Stirn und das ganze Gesicht waren runzlig und vom Todeskampf entstellt. Er legte das Beil auf den Fußboden neben der Toten nieder und steckte seine Hand in ihre rechte Tasche, aus der sie bei seinem vorigen Besuch ihre Schlüssel hervorgeholt hatte; er gab sich die größte Mühe, um sich nicht mit dem Blut zu beschmieren. Er war bei vollem Bewußtsein, hatte weder Kopfschwindel noch Schwächeanfälle, aber seine Hände zitterten noch. Er war sogar, wie er sich später erinnerte, sehr aufmerksam und vorsichtig und gab sich immer Mühe, Blutflecken zu vermeiden ... Bald hatte er die Schlüssel in den Händen, es war das ihm bekannte Schlüsselbund auf einem Stahlreifen. Er eilte sofort in die Schlafkammer. Es war ein ganz kleiner Raum mit einem großen Heiligenschrein. An der anderen Wand stand ein großes, sehr sauberes Bett mit einer aus Seidenflecken zusammengesetzten wattierten Decke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Im Augenblick, als er sich an der Kommode zu schaffen machte und das Rasseln der Schlüssel hörte, ging ein krampfartiges Zucken durch seinen Körper. Er wollte schon wieder alles im Stich lassen und davonlaufen. Es war nur ein kurzer Augenblick; auch war es schon zu spät, umzukehren. Er lächelte über diesen Gedanken, da kam ihm aber gleich ein anderer: wenn nun die Alte noch lebt und zu sich kommt! Er ließ das Schlüsselbund bei der Kommode, eilte zur Leiche, erhob das Beil, ließ es aber nicht niederfallen. Er zweifelte nicht, daß sie tot sei. Er sah sie sich genauer an und bemerkte, daß der Schädel gespalten und sogar etwas verrenkt war. Er wollte ihn betasten, zog aber die Hand gleich wieder zurück; er konnte es ja auch so sehen. Das Blut hatte inzwischen eine große Lache gebildet. Plötzlich bemerkte er auf ihrem Hals eine Schnur. Er zog an ihr, doch sie war zu fest und riß nicht, auch war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte, die Schnur herunterzuzerren, es gelang ihm aber nicht, denn er stieß auf einen Widerstand. In seiner Ungeduld griff er wieder zum Beil, um die Schnur direkt auf dem Körper entzweizuhauen, aber er wagte nicht, es zu tun. Er arbeitete noch einige Minuten, und endlich gelang es ihm, die Schnur zu zerschneiden, ohne den Körper mit dem Beil zu berühren; er beschmierte sich dabei seine Hände und auch das Beil mit dem Blut. Er hatte sich nicht geirrt: da war ein Beutel. An der Schnur hingen zwei Kreuze – eins aus Zypressenholz und eins aus Messing, ein kleines Heiligenbild aus Email und ein kleiner schmieriger Geldbeutel aus Sämischleder mit Stahlbügel und Ring. Der Beutel war ganz vollgestopft. Raskolnikow steckte ihn ein, ohne ihn näher zu untersuchen; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann ging er mit dem Beil in die Schlafkammer. Er hatte große Eile. Er nahm wieder die Schlüssel vor, es gelang ihm aber nicht, die richtigen zu finden und die Kommode aufzusperren. Seine Hände zitterten eigentlich nicht, er verwechselte aber immer die Schlüssel, und selbst wenn er sah, daß er den unrichtigen hatte, fuhr er doch fort, mit ihm am Schloß zu hantieren. Dann überlegte er sich, daß der große Schlüssel mit dem zackigen Bart, der neben dem kleineren hing, wohl kaum zu der Kommode, sondern zu irgendeiner Truhe gehörte, in der vielleicht alles verwahrt war. Er verließ die Kommode und kroch unter das Bett, denn er wußte, daß alte Frauen ihre Truhen gewöhnlich unter dem Bett verwahren. Es stimmte: er fand eine ziemlich große Truhe, über einen Arschin breit, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Saffian ausgeschlagen und kleinen Stahlnägeln geschmückt. Der zackige Schlüssel paßte sofort. Oben lag unter einem weißen Tuch ein roter Mantel mit Hasenpelzbesatz; dann kam ein Seidenkleid, dann ein Schal; darunter schienen lauter Lumpen zu liegen. Zuerst machte er sich daran, seine blutbefleckten Finger an dem roten Mantel abzuwischen. »Der Mantel ist ja rot, und das Blut wird nicht zu sehen sein.« So überlegte er, und plötzlich kam er zu sich und erschrak: »Mein Gott! Werde ich nicht verrückt?« Kaum rührte er an den Lumpen, als aus dem Mantel eine goldene Uhr hinausglitt. Nun untersuchte er alles sorgfältig: zwischen den Lumpen lagen wirklich viele Goldsachen – Armbänder, Ketten, Ohrringe, Nadeln usw. – wohl lauter verfallene und auch nicht verfallene Pfänder. Einzelne Gegenstände steckten in Etuis, die anderen waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, doch sauber und ordentlich verschnürt. Er begann sofort seine Hosen-und Manteltaschen zu füllen. Er wählte nicht und untersuchte die Pakete und Etuis nicht näher. Doch gelang es ihm nicht, viel einzustecken. Er hörte plötzlich im Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er blieb regungslos und hielt den Atem an. Alles blieb still, folglich war es eine Halluzination. Aber plötzlich hörte er einen heiseren Schrei oder ein kurzes Aufstöhnen. Dann war zwei oder drei Minuten lang wieder alles still. Er hockte neben dem Koffer und wartete mit angehaltenem Atem. Plötzlich sprang er auf, ergriff das Beil und lief ins Zimmer. Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand; sie betrachtete ihre ermordete Schwester, war weiß wie Kreide und schien nicht die Kraft zu haben, zu schreien. Als sie ihn gewahrte, begann sie wie Espenlaub zu zittern, ein Beben lief durch ihre Gesichtszüge, sie hob einen Arm, öffnete den Mund, doch sie schrie nicht auf; sie wich langsam in die Ecke zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen; sie schien keine Luft zum Aufschreien zu haben. Er stürzte sich auf sie mit dem Beil: ihr Mund verzog sich wie bei einem sehr kleinen Kinde, das, durch etwas erschreckt, den schreckeneinflößenden Gegenstand anstarrt und Anstalten macht, zu schreien. Die unglückliche Lisaweta war schon von früher her dermaßen eingeschüchtert, scheu und einfältig, daß sie nicht einmal versuchte, ihr Gesicht mit den Händen zu schützen, obwohl dies die einzige notwendige und natürliche Bewegung in diesem Augenblick gewesen wäre, denn das Beil war direkt über ihrem Gesichte erhoben. Sie hob nur etwas ihren linken Arm und streckte ihn ihm entgegen, als ob sie ihn abwehren wollte. Das Beil traf sie mit der Schneide auf die Stirn und spaltete ihren Schädel fast bis zum Scheitel. Sie fiel schwer hin. Raskolnikow verlor die Fassung: er ergriff ihr Bündel, das er gleich wieder fortwarf, und lief ins Vorzimmer. Nach dieser zweiten, ganz unerwarteten Mordtat wurde er noch mehr von Entsetzen gepackt. Er wollte möglichst schnell entkommen. Hätte er in diesem Augenblick die Fähigkeit gehabt, klar zu sehen und zu denken, hätte er die Schwierigkeit, Ungeheuerlichkeit und Unsinnigkeit seiner verzweifelten Lage erfaßt und eingesehen, wieviel Schwierigkeiten, vielleicht auch Mordtaten er noch zu überwinden und zu verüben haben würde, um aus dieser Wohnung weglaufen und nach Hause kommen zu können, – so hätte er vielleicht jetzt alles aufgegeben und sich der Polizei gestellt, und zwar nicht so sehr aus Furcht für sich selbst wie aus Entsetzen und Abscheu vor seiner Tat. Dieser Abscheu verstärkte sich in ihm von Minute zu Minute. Um nichts in der Welt wäre er jetzt zu der Truhe und zum Tatort zurückgekehrt. Eine seltsame Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemächtigte sich seiner; zeitweise vergaß er sich oder vielmehr die Hauptsache ganz und klammerte sich an Kleinigkeiten. Als er in die Küche hineinsah und dort einen halb mit Wasser gefüllten Eimer bemerkte, fiel es ihm übrigens ein, seine Hände und das Beil zu waschen. Die Hände waren blutig und klebrig. Er legte das Beil mit der Schneide ins Wasser, fand dann auf dem Fensterbrett ein Stückchen Seife, das auf einer zerschlagenen Untertasse lag und wusch sich direkt im Eimer die Hände. Als er mit den Händen fertig war, zog er das Beil aus dem Wasser und wusch das Eisen und dann, etwa drei Minuten lang, den Holzgriff. Dann wischte er alles mit den Wäschestücken, die in der Küche an einer Leine zum Trocknen aufgehängt waren, ab. Darauf ging er mit dem Beil zum Fenster und unterzog es einer eingehenden Untersuchung: von Blut war keine Spur mehr zu sehen, der Griff war nur noch etwas feucht. Er befestigte es wieder in der Schlinge. Dann untersuchte er noch, soweit es das spärliche Licht in der halbfinsteren Küche erlaubte, seinen Mantel, Hose und Stiefel. Bei der oberflächlichen Betrachtung war nichts zu merken, nur auf den Stiefeln waren einige Flecke. Er befeuchtete einen Lappen und wischte die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß seine Untersuchung nur flüchtig war und daß er leicht etwas Auffälliges übersehen haben konnte. Er blieb nachdenklich mitten im Zimmer stehen. Ein quälender, dunkler Gedanke tauchte in ihm auf: daß er wahnsinnig werde, daß er in diesem Augenblick weder richtig denken noch sich verteidigen könne und daß alles, was er jetzt tue, möglicherweise ganz verkehrt sei ... »Mein Gott! Ich muß fort ins Vorzimmer!« Hier sah er aber etwas, was ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, wie er es noch nie im Leben empfunden hatte. Er stand da, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Wohnungstür, die Tür aus dem Vorzimmer auf die Treppe, die Tür, an der er vorhin gelautet und gelauert hatte, – war nicht versperrt und ließ einen handbreiten Spalt frei; Schloß und Riegel waren die ganze Zeit über offen gewesen! Die Alte hatte, wohl aus Vorsicht, hinter ihm nicht abgesperrt. Aber mein Gott! Er hatte ja auch Lisaweta gesehen und konnte sich doch denken, daß sie irgendwie hereingekommen war! Sie hatte ja nicht durch die Wand eintreten können! Er stürzte zur Tür und verriegelte sie. »Nein! Es ist wieder nicht das Richtige! Ich muß ja fort, fort ...« Er riegelte wieder auf, öffnete die Tür und horchte hinunter. Er horchte so eine lange Weile. Irgendwo weit unten, vermutlich im Torweg, klangen zwei kreischende Stimmen, man schimpfte und zankte sich. »Was wollen die? ...« Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einemmal alles still: sie waren wohl fort. Er machte die Tür ganz auf und wollte schon hinuntergehen, als unten im dritten Stock eine Tür aufgerissen wurde und jemand, eine Melodie summend, die Stiege hinunterzugehen begann. »Wie die Leute immer lärmen!« ging es ihm durch den Kopf. Er schloß die Tür und wartete ab. Endlich war alles wieder still. Als er aber den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, hörte er unten neue Schritte. Diese Schritte tönten weit unten ganz am Anfang der Stiege, er hatte aber gleich beim ersten Schritt, wie er sich später genau erinnerte, den Verdacht, daß da jemand hierher , in den dritten Stock, zur Alten hinaufwollte. Warum? Klangen denn die Schritte irgendwie eigentümlich und bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige, langsame Schritte. Da ist er schon im ersten Stock, nun steigt er höher, die Schritte werden immer hörbarer. Er hörte auch schon den keuchenden Atem des Unbekannten. Nun ist er bereits im zweiten Stock. Er kommt her! Und plötzlich fühlte er, wie alle seine Glieder hölzern wurden. Er hatte das Gefühl, das man im Traume hat, wenn man sich von einem Mörder verfolgt sieht, fliehen will und dabei nicht vom Platz kommt und nicht einmal eine Hand zu rühren vermag. Endlich, als der Gast sich bereits dem dritten Stock näherte, raffte er sich auf, sprang in das Vorzimmer zurück und schloß die Tür. Dann riegelte er vorsichtig und unhörbar zu. Hier half ihm der Instinkt. Als er damit fertig war, postierte er sich mit verhaltenem Atem dicht an der Tür. Die beiden standen sich jetzt genau so gegenüber, mit der Tür dazwischen, wie Raskolnikow vorhin der Alten gegenüber gestanden hatte. Der Gast holte einige Male schwer Atem. Er ist wohl groß und dick, kombinierte Raskolnikow; er hielt das Beil fest umklammert. Das war wirklich wie im Traum. Der Gast ergriff den Glockenzug und läutete stark. Beim ersten Ton der Klingel glaubte er ein Geräusch im Zimmer zu vernehmen. Einige Sekunden lang horchte er auch ernsthaft hinüber. Der Unbekannte läutete wieder, wartete einige Augenblicke und begann dann ungeduldig an der Türklinke zu zerren. Raskolnikow sah entsetzt, wie der Riegel dabei wackelte, und erwartete mit Angst, daß der Verschluß aufginge. Dies konnte leicht geschehen, denn der Gast riß mit aller Kraft an der Klinke. Er wollte anfangs den Riegel mit der Hand festhalten, aber dann fiel ihm ein, daß der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder. »Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?« Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt. In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört. »Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!« »Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow. »Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?« »Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!« »Ach so ...« »Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.« »Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!« »Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann. »Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!« »Soll man nicht den Hausknecht fragen?« »Was denn?« »Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?« »Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke. »Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!« »Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?« »Nun?« »Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?« »Nun?« »Verstehen Sie noch immer nicht? Folglich ist eine von den beiden zu Hause. Wären sie ausgegangen, so hätten sie die Tür von außen mit einem Schlüssel abgesperrt und nicht von innen zugeriegelt! Sie hören doch, wie der Riegel klirrt! Um aber die Tür von innen zu verriegeln, muß man zu Hause sein, nicht wahr? Folglich sind sie zu Hause und sperren nicht auf!« »Wirklich!« rief Koch erstaunt aus. »Was treiben die aber da?« Und er zerrte wieder mit aller Kraft an der Klinke. »Warten Sie!« sagte der junge Mann. »Ziehen Sie nicht! Wir haben ja geläutet und geklopft, sie sperren aber nicht auf. Folglich liegen beide in Ohnmacht, oder ...« »Was denn?« »Wir wollen den Hausknecht holen, damit er sie weckt.« »Gut!« Beide begannen die Treppe hinabzusteigen. »Warten Sie! Bleiben Sie hier, und ich gehe allein zum Hausknecht.« »Warum soll ich dableiben?« »Man kann nie wissen ...« »Sie haben vielleicht recht ...« »Ich will ja Untersuchungsrichter werden. Hier ist aber offenbar, offenbar etwas nicht in Ordnung!« Mit diesen Worten rannte er hinunter. Koch, der allein zurückblieb, rührte noch am Glockenzug. Die Klingel ertönte einmal. Dann faßte er langsam und nachdenklich die Klinke, drückte sie nieder und ließ sie los, um sich zu überzeugen, daß die Tür nur verriegelt sei. Dann beugte er sich keuchend zum Schlüsselloch, um hineinzusehen. Im Schloß steckte aber von innen der Schlüssel, folglich konnte er nichts sehen. Raskolnikow stand mit dem Beil in der Hand. Er fieberte und war bereit, wenn sie hereinkämen, Widerstand zu leisten. Während sie vor der Tür sprachen und klopften, kam ihm einige Male der Wunsch, schneller ein Ende zu machen und sie von seinem Posten aus anzurufen. Er wollte sogar schimpfen und sie necken, solange die Tür nicht aufgerissen war. »Daß nur alles schneller ein Ende nimmt!« ging es ihm durch den Kopf. »Daß ihn der Teufel ...« Es vergingen mehrere Minuten, niemand kam herauf. Koch wurde ungeduldig: »Daß ihn der Teufel!« schrie er plötzlich aus, gab seinen Posten auf und stieg ungeduldig, mit großem Lärm eilig die Treppe hinunter. Seine Schritte waren bald verhallt. »Mein Gott, was soll ich tun?« Raskolnikow riegelte auf, öffnete etwas die Tür und ging plötzlich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, hinaus. Er schloß hinter sich die Tür und begann die Treppe hinunterzugehen. Als er drei Treppen hinter sich hatte, hörte er unten lärmen. Was tun? Er konnte sich nirgend verstecken. Er wollte zuerst wieder hinaufgehen. »Teufel! Haltet ihn!« Aus einer Wohnung ganz unten stürzte jemand wie verrückt heraus und lief – es war mehr ein Fallen – hinunter. Dabei schrie er wie besessen: »Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Daß dich der Teufel!« Das Schreien ging in Winseln über. Die letzten Töne klangen schon im Hof. Dann wurde alles still. In diesem Augenblick kamen aber mehrere Männer, die laut und eifrig sprachen, die Treppe hinauf. Es waren ihrer drei oder vier, Raskolnikow erkannte die Stimme des Jüngeren. »Das sind sie!« Verzweifelt und auf alles gefaßt ging er ihnen entgegen. Wenn sie ihn stellen – ist alles verloren; stellen sie ihn nicht, so ist auch alles verloren, denn sie werden ihn sich merken. Sie kamen immer näher, nun war nur noch eine Treppe zwischen ihm und ihnen; plötzlich – Rettung! – einige Stufen unter ihm steht die leere Wohnung offen; es ist jene Wohnung im ersten Stock, in der früher die Anstreicher arbeiteten, die jetzt – wie auf Bestellung – weggegangen sind. Den Lärm von vorhin machten wohl die Anstreicher, als sie die Wohnung verließen. Der Fußboden ist frisch gestrichen, mitten im Zimmer steht ein Kübel, liegt ein Topfscherben mit Farbe und ein Pinsel. Er schlich rasch in die offene Wohnung und verbarg sich hinter der Wand; es war auch die höchste Zeit, denn sie waren bereits an der Tür. Dann gingen sie, immer noch laut sprechend, zum vierten Stock hinauf. Er wartete ab, verließ auf den Fußspitzen die Wohnung und lief die Treppe hinunter. Auf der Treppe war kein Mensch! Auch im Torweg niemand! Er ging rasch durch das Tor und schwenkte nach links ab. Er wußte ganz genau, daß sie sich in diesem Augenblick schon in der Wohnung befanden, daß sie erstaunt waren, die Wohnung offen zu finden, während sie früher versperrt war, daß sie nun die Leichen entdeckt hatten und daß sie in höchstens einer Minute einsahen, daß der Mörder eben noch da war und sich nun irgendwo versteckt hatte; sie würden vielleicht darauf kommen, daß er sich in der leeren Wohnung versteckt gehalten hatte, während sie hinaufgingen. Er wagte aber nicht, schneller zu gehen, obwohl die nächste Straßenecke höchstens hundert Schritte entfernt war. – Soll ich nicht in irgendeinen Torweg abschwenken oder auf einer unbekannten Straße abwarten? Nein, es ist gefährlich! Oder das Beil wegschmeißen? Oder eine Droschke nehmen? Es ist gefährlich ... Da war auch schon die Quergasse, er erreichte sie mehr tot als lebendig. Hier war er beinahe außer Gefahr; er sah es ein, denn hier konnte er schwerlich Verdacht erregen: auch war die Straße sehr belebt, und er verschwand vollkommen in der Menge. Alle inneren Qualen hatten ihn so schwach gemacht, daß er sich nur mit Mühe fortbewegte. Der Schweiß lief in Strömen, sein Hals war ganz durchnäßt. »Wie der besoffen ist!« rief ihm jemand zu, als er an den Kanal trat. Er ging wie im Traume, und mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Als er aber an den Kanal kam, erschrak er, weil da weniger Menschen waren und er daher mehr auffiel, und er versuchte wieder auf die Straße zu gelangen. Trotz seiner großen Schwäche machte er den Umweg, um aus einer anderen Richtung nach Hause zu kommen. Als er sein Tor passierte, war er nicht bei vollem Bewußtsein; das Beil fiel ihm erst dann ein, als er eine Treppe hinaufgestiegen war. Er hatte noch eine schwierige Aufgabe vor sich: er mußte das Beil zurücktragen und es unbemerkt auf den alten Platz legen. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu überlegen, daß es durchaus nicht notwendig war, das Beil zurückzutragen, und daß er es später einmal auf irgendeinem fremden Hof fallen lassen konnte. Aber alles lief glücklich ab. Die Tür zur Hausknechtskammer war zu, aber nicht versperrt, der Hausknecht war also höchstwahrscheinlich zu Hause. Raskolnikow hatte aber jede Fähigkeit zu denken verloren; er ging direkt auf die Tür los und öffnete sie. Wenn ihn der Hausknecht gefragt hätte, was er wollte, so hätte er ihm wohl gleich das Beil gereicht. Der Hausknecht war aber wieder nicht da, Raskolnikow legte das Beil auf den alten Platz unter die Bank und verdeckte es mit einem Holzklotz. Auf dem Wege über die Stiege und in sein Zimmer traf er keinen Menschen; die Tür zum Zimmer der Wirtin war zu. Sobald er in sein Zimmer kam, fiel er sofort, so wie er war, auf sein Sofa nieder. Er schlief nicht, war aber bewußtlos. Wäre jetzt jemand in sein Zimmer getreten, so hätte er aufgeschrien. Fetzen und Bruchstücke von Gedanken zogen ihm durch den Kopf; es gelang ihm aber nicht, so sehr er sich auch anstrengte, bei irgendeinem dieser Gedanken stehen zu bleiben ... Zweiter Teil 1. I So lag er sehr lange. Ab und zu kam er gleichsam zu sich und merkte in diesen Augenblicken, daß es schon längst Nacht war, und doch fiel ihm nicht ein, aufzustehen. Endlich sah er, daß es so hell war, wie am Tage. Er lag auf dem Sofa, rücklings, noch starr von seiner Ohnmacht. Ein fürchterliches, verzweifeltes Geschrei drang von der Straße zu ihm herauf; er hörte es übrigens jede Nacht gegen drei Uhr unter seinem Fenster. Dieses Geschrei hatte ihn auch jetzt geweckt. – Ah! Da kommen schon die Betrunkenen aus den Schenken, – dachte er sich: – also ist es bald drei! – Er setzte sich auf, und da fiel ihm alles ein! Plötzlich, in einem Augenblick fiel ihm alles ein! Im ersten Augenblick glaubte er, er würde verrückt werden. Eine furchtbare Kälte ergriff ihn; die Kälte kam aber vom Fieber, das schon längst, als er noch schlief, angefangen hatte. Und jetzt erfaßte ihn ein Schüttelfrost, daß ihm beinahe die Zähne heraussprangen und alles in ihm bebte. Er öffnete die Tür und lauschte hinaus: im Hause schlief alles. Mit Erstaunen betrachtete er sich und alles, was ihn umgab, und konnte es nicht begreifen: wie konnte er nur gestern, als er heimgekommen, die Tür nicht zuhaken und sich auf das Sofa nicht nur in den Kleidern, sondern auch mit dem Hute werfen; der Hut war herabgerollt und lag auf dem Fußboden, neben dem Kissen. – Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er sich gedacht? Daß ich betrunken bin, aber ... – Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell, und er beeilte sich, seine ganze Kleidung vom Kopfe bis zu den Füßen zu untersuchen, ob keine Spuren da seien. So ging es aber nicht; zitternd vor Schüttelfrost, fing er an, alles auszuziehen und sorgfältig von allen Seiten zu besehen. Er drehte alles um, bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Untersuchung an die dreimal. Es war aber anscheinend nichts zu sehen, auch nicht die geringste Spur; nur ganz unten an der Hose, wo diese ausgefranst war, waren an den Fransen noch Spuren eingetrockneten Blutes geblieben. Er griff nach seinem großen Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Sonst war anscheinend nichts zu sehen. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Beutel und alle die Sachen, die er aus der Truhe der Alten genommen hatte, noch immer in seinen Taschen lagen. Es war ihm bisher gar nicht eingefallen, sie herauszunehmen und zu verstecken! Auch jetzt eben, als er seine Kleider untersuchte, hatte er an diese Sachen gar nicht gedacht! Was ging denn mit ihm vor? Augenblicklich begann er sie herauszunehmen und auf den Tisch zu werfen. Nachdem er alles hervorgeholt und selbst die Taschen herausgekehrt hatte, um sich zu überzeugen, ob nicht doch etwas zurückgeblieben sei, trug er diesen ganzen Haufen in die Ecke. Unten in dieser Ecke war die von der Wand abstehende Tapete zerrissen, und er begann sofort alles in das Loch unter der Tapete zu stecken: »Alles hat Platz gefunden! Alles bin ich los und auch den Beutel!« dachte er sich erfreut. Er stand auf und blickte stumpf in die Ecke auf die Tapete, die über dem Loch noch mehr abstand. »Mein Gott,« flüsterte er in Verzweiflung, »was ist mit mir los? Ist denn das versteckt? Versteckt man denn so?« Allerdings hatte er mit den Gegenständen nicht gerechnet; er hatte geglaubt, daß er nur Geld finden würde, und darum keinen Platz vorher vorbereitet. »Aber jetzt, jetzt, worüber freue ich mich denn?« dachte er. »Versteckt man denn so? Wirklich, mein Verstand läßt mich im Stich!« Erschöpft setzte er sich aufs Sofa und wurde wieder von einem unerträglichen Schüttelfrost gepackt. Mechanisch zog er den neben ihm auf dem Stuhl liegenden früheren Studentenmantel, der warm gefüttert, doch völlig zerlumpt war, zu sich heran, bedeckte sich mit ihm und fiel wieder in einen Schlaf mit schweren Fieberträumen. Die Sinne verließen ihn. Doch schon nach höchstens fünf Minuten sprang er von neuem auf und stürzte sich in größter Erregung wieder zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich bloß einschlafen, wo noch nichts getan ist! Richtig: die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgetrennt! Ich hatte es vergessen, eine so wichtige Sache vergessen! Ein so wichtiges Indizium!« Er riß die Schlinge mit einem Ruck ab und begann sie eilig in Stücke zu reißen und diese unter das Kissen in die Wäsche zu stopfen. »Zerrissene Leinwandfetzen werden keinen Verdacht erregen; ich glaube, ich glaube, es stimmt!« wiederholte er, während er mitten im Zimmer stand und mit schmerzvoll gespannter Aufmerksamkeit von neuem um sich, auf den Fußboden und überallhin blickte, ob er nicht noch etwas vergessen hätte. Die Überzeugung, daß alles, selbst das Gedächtnis, selbst die einfachste Überlegung ihn verließen, begann ihn unerträglich zu quälen. »Was, fängt es denn schon an, beginnt denn schon die Strafe? Ja, so ist es, so ist es!« Und in der Tat, die Fransen, die er von der Hose abgeschnitten hatte, lagen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, damit sie jeder Eintretende sofort sehe! »Was ist denn mit mir los?!« rief er wieder, wie verloren. Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: daß vielleicht auch seine ganzen Kleider blutig seien, daß vielleicht viele Blutflecken da seien, die er bloß nicht sehe, nicht bemerke, weil seine Sinne geschwächt und gleichsam zersplittert seien ... sein Verstand verdüstert sei ... Plötzlich erinnerte er sich, daß auch an dem Beutel Blut war. »Ach! Also muß auch in meiner Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel in die Tasche steckte!« Augenblicklich kehrte er die Tasche heraus, und, in der Tat, auf dem Futter der Tasche waren noch Blutflecken! »Also hat mich die Vernunft noch nicht ganz verlassen, also kann ich noch überlegen, habe noch ein Gedächtnis, wenn ich von selbst darauf kam!« sagte er sich triumphierend und atmete freudig aus voller Brust auf. »Es war nur ein fieberhafter Schwächeanfall, ein kurzer Fiebertraum.« Er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Strumpf, der aus dem Stiefel hervorlugte, glaubte er Spuren zu sehen. Er zog den Stiefel aus. »In der Tat, Spuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut durchtränkt!« Wahrscheinlich war er damals aus Versehen in die Pfütze getreten ... »Was soll ich jetzt damit anfangen? Wo soll ich diesen Strumpf, die Fransen und die Tasche hintun?« Er raffte alles in eine Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den Ofen? Aber im Ofen wird man doch zu allererst suchen. Verbrennen? Womit soll ich es verbrennen? Ich habe nicht mal Streichhölzer. Nein, besser wäre es, auszugehen und alles fortzuwerfen!« wiederholte er. »Ja! Das Beste ist Fortwerfen!« wiederholte er, sich wieder auf das Sofa setzend: »Und zwar sofort, augenblicklich, ohne Zeit zu verlieren ...« Statt dessen fiel sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder durchschauerte ihn eisige Kälte, wieder zog er seinen Mantel über sich. Lange, mehrere Stunden hintereinander durchzuckte ihn im Schlafe der Gedanke: »Sofort, ohne aufzuschieben, weggehen und alles wegwerfen, damit ich es ein für allemal los bin!« Er versuchte einige Male vom Sofa aufzustehen, konnte es aber nicht mehr. Endgültig geweckt wurde er durch ein starkes Klopfen an der Tür. »Mach doch auf, lebst du oder nicht? Immer schläft er!« schrie Nastasja, mit der Faust an die Tür schlagend. »Ganze Tage schläft er wie ein Hund! Ist auch ein Hund! Mach doch auf! Ist ja bald elf.« »Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, versetzte eine Männerstimme. »Gott, das ist doch die Stimme des Hausknechts ... Was will er bloß?« Er sprang auf und setzte sich aufs Sofa. Das Herz pochte so stark, daß es sogar wehtat. »Wie wäre dann die Tür zugehakt?« entgegnete Nastasja. »Sieh mal an, er hat angefangen sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn selbst stiehlt? Mach doch auf, du kluger Kopf, mach auf!« »Was wollen die? Warum ist der Hausknecht dabei? Sie wissen alles. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Ist ja alles eins ...« Er stand halb auf, beugte sich vor und nahm den Haken ab. Seine Kammer war gerade so groß, daß er den Türhaken abnehmen konnte, ohne von seinem Lager aufzustehen. Es stimmte: vor ihm standen der Hausknecht und Nastasja. Nastasja sah ihn etwas eigentümlich an. Er warf einen herausfordernden und verzweifelten Blick auf den Hausknecht. Jener reichte ihm schweigend ein graues, doppelt gefaltetes und mit Flaschenlack versiegeltes Papier. »Eine Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, als er ihm das Papier einhändigte. »Aus welchem Bureau? ...« »Sie sollen auf die Polizei kommen, ins Bureau. Man weiß doch, was es für ein Bureau ist.« »Auf die Polizei?! ... Wozu? ...« »Woher soll ich das wissen? Wenn man vorgeladen wird, muß man hingehen.« Er blickte ihn aufmerksam an, sah sich im Zimmer um und wandte sich zum Gehen. »Ich glaube, er ist ganz krank!« bemerkte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte für einen Augenblick den Kopf um. »Seit gestern liegt er im Fieber«, fügte sie hinzu. Er gab keine Antwort und hielt das Papier in den Händen, ohne es zu öffnen. »Bleib nur liegen,« fuhr Nastasja etwas milder fort, als sie sah, daß er die Füße vom Sofa herabließ. »Wenn du krank bist, so brauchst du nicht zu gehen: es brennt nicht. Was hast du in den Händen?« Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er noch die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen des herausgerissenen Taschenfutters. So hatte er mit diesen Dingen in der Hand geschlafen. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich, daß er, auch als er im Fieber lag und ab und zu zum Bewußtsein kam, dies alles fest in der Hand zusammendrückte und dann wieder einschlief. »Sieh nur an, was er für Lumpen angesammelt hat! Und er schläft mit ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit ...« Nastasja fing zu lachen an. Es war ein krankhaftes, nervöses Lachen. Sofort stopfte er alles unter den Mantel und heftete auf sie seinen gespannten Blick. Obwohl er in diesem Augenblick kaum klar denken konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen anders behandeln würde, wenn man zu ihm käme, um ihn zu verhaften. – Aber ... die Polizei? – »Solltest doch etwas Tee trinken! Willst du? Ich bringe dir welchen; ist noch übriggeblieben ...« »Nein ... ich gehe; ich gehe gleich hin«, murmelte er, aufstehend. »Wirst wohl die Treppe nicht hinuntergehen können?« »Ich gehe ...« »Wie du willst.« Sie ging mit dem Hausknecht hinaus. Er stürzte sofort zum Fenster, um den Strumpf und die Fransen zu untersuchen. »Flecken sind wohl da, aber kaum zu sehen; alles ist schmutzig geworden, abgerieben und hat schon die Farbe verändert. Wer es nicht vorher weiß, der wird nichts bemerken. Also kann auch Nastasja aus der Ferne nichts gesehen haben, Gott sei Dank!« Jetzt erst entfaltete er zitternd die Vorladung und begann zu lesen; lange las er das Papier, bis er es endlich begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung vom Revier, heute um halb zehn ins Bureau des Revieraufsehers zu kommen. »Wann hat man so was gesehen? Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute!« dachte er in schmerzvoller Verwirrung. »Mein Gott, wäre das doch schneller zu Ende!« Er wollte schon niederknien, um zu beten, fing aber zu lachen an, nicht über das Gebet, sondern über sich selbst. Dann begann er, sich eilig anzukleiden. »Wenn ich zugrundegehe, so gehe ich eben zugrunde! Ich muß aber den Strumpfanziehen!« fiel es ihm plötzlich ein: »Er wird vom Staub noch schmieriger werden, und dann verschwinden alle Spuren.« Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich wieder angeekelt und entsetzt herunterriß. Er riß ihn herunter, überlegte sich aber gleich, daß er keinen anderen hatte, zog ihn wieder an und begann wieder zu lachen. »Alles ist Konvention, alles ist relativ, das sind ja bloß leere Formen!« ging es ihm flüchtig durch den Kopf, streifte nur die äußerste Oberfläche seines Hirns, doch er zitterte am ganzen Leibe. »Nun hab ich ihn doch angezogen! Schließlich hab ich es doch getan!« Sein Lachen ging aber sogleich in Verzweiflung über. »Nein, das geht über meine Kraft ...« dachte er sich. Seine Füße zitterten. »Das kommt von der Angst«, murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber. »Das ist eine List! Sie wollen mich mit List einfangen und plötzlich überrumpeln!« fuhr er fort, als er auf die Treppe hinausging. »Es ist schlimm, daß ich im Fieber bin ... ich kann leicht irgendeine Dummheit sagen ...« Auf der Treppe erinnerte er sich, daß er alle Sachen im Loche hinter der Tapete liegengelassen hatte. »Vielleicht werden sie aber gerade jetzt, wo ich weg bin, eine Haussuchung machen«, ging es ihm plötzlich durch den Sinn, und er blieb stehen. Seiner bemächtigten sich aber eine solche Verzweiflung und ein solcher, man darf wohl sagen, Zynismus des Unterganges, daß er gleichgültig mit der Hand winkte und seinen Weg fortsetzte. »Wenn es doch nur schneller zu Ende wäre! ...« Draußen war es unerträglich heiß; an allen diesen Tagen hatte es keinen Tropfen geregnet. Wieder der Staub, die Ziegelsteine und Kalk, wieder der Gestank aus den Läden und Schenken, wieder jeden Augenblick Betrunkene, finnische Hausierer und schlafende Droschkenkutscher. Die Sonne leuchtete ihm grell in die Augen, so daß sie ihm schmerzten, und der Kopf schwindelte ihm, – das gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, wenn er plötzlich bei grellem Sonnenlichte auf die Straße tritt. Als er die gestrige Straße erreichte, blickte er mit qualvoller Unruhe um die Ecke, auf jenes Haus ... und sah sofort wieder weg. »Wenn sie mich fragen, so werde ich es vielleicht sagen«, dachte er sich, als er sich dem Polizeibureau näherte. Das Bureau lag eine Viertelwerst von seiner Wohnung entfernt. Es war kürzlich umgezogen und befand sich im dritten Stock eines neuen Hauses. In den alten Räumen war er einmal flüchtig gewesen, doch vor sehr langer Zeit. Als er in den Torweg trat, erblickte er rechts eine Treppe, die gerade ein Mann mit einem Buche in der Hand herunter kam. »Ein Hausknecht; also ist hier auch das Polizeibureau!« sagte er sich und stieg die Treppe aufs Geratewohl hinauf. Er wollte sich bei niemand und nach nichts erkundigen. »Ich trete ein, knie nieder und erzähle alles ...« dachte er sich, während er zum dritten Stock hinaufstieg. Die Treppe war schmal, steil, mit Schmutzwasserpfützen auf jeder Stufe. Alle Küchen von allen Wohnungen in allen vier Stockwerken gingen auf diese Treppe hinaus und standen den ganzen Tag offen. Daher war die Luft im Treppenhause furchtbar dumpf. Hinauf und hinunter kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unterm Arm, Boten und allerlei Volk beiderlei Geschlechts. Auch die Tür zu dem Polizeibureau stand weit auf. Er trat ein und blieb im Vorzimmer stehen. Hier standen und warteten allerlei einfache Menschen. Auch hier war es außerordentlich dumpf, außerdem roch es zum Übelwerden nach frischer, noch nicht ausgetrockneter, mit verdorbenem Öl zubereiteter Farbe, mit der die Böden neu gestrichen waren. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, entschloß er sich, weiter vorzugehen, in das nächste Zimmer. Es waren lauter winzige und niedrige Zimmerchen. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Im zweiten Zimmer saßen bei der Arbeit einige Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem Außern nach recht merkwürdige Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen. »Was willst du?« Er zeigte die Vorladung vom Bureau. »Sind Sie Student?« fragte jener mit einem Blick auf die Vorladung. »Ja, gewesener Student.« Der Schreiber musterte ihn, übrigens ganz ohne Neugier. Es war ein besonders zerzauster Mensch, der so unbeweglich blickte, als sei er von einer fixen Idee besessen. »Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist alles gleich,« dachte sich Raskolnikow. »Gehen Sie hin zum Sekretär,« sagte der Schreiber und deutete mit dem Finger auf das allerletzte Zimmer. Er trat in dieses Zimmer (das vierte vom Eingang), das eng und voller Menschen war; das Publikum war hier etwas besser gekleidet, als in den anderen Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine, in Trauer, ärmlich gekleidet, saß vor dem Tisch, dem Sekretär gegenüber, und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr volle, puterrote Person mit Flecken im Gesicht, sehr pompös gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse an der Brust, stand abseits und schien auf etwas zu warten. Raskolnikow schob dem Sekretär seine Vorladung hin. Jener blickte sie flüchtig an, sagte: »Warten Sie!« und wandte sich wieder der Dame in Trauer zu. Er atmete erleichtert auf. »Es ist sicher nicht das!« Allmählich faßte er Mut und ermahnte sich selbst, sich zu beherrschen und zu sich zu kommen. »Eine einzige Dummheit, irgendeine lächerliche Unvorsichtigkeit, und ich kann mich verraten! Hm! ... schade, daß hier so wenig Luft ist,« fügte er hinzu, »so schwül ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... und der Verstand auch ...« Er fühlte, daß in seinem Innern alles durcheinandergeraten war. Er fürchtete, sich nicht beherrschen zu können. Er bemühte sich, sich an etwas festzuklammern, an etwas zu denken, an etwas vollkommen Abseitsliegendes, allein das gelang ihm nicht. Der Sekretär interessierte ihn übrigens außerordentlich: er wollte gern in seinem Gesicht etwas lesen, ihn durchschauen. Es war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit dunklem Teint und beweglichem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, nach der Mode und etwas geckenhaft gekleidet, mit einem bis zum Nacken durchgezogenen Scheitel, frisiert und pomadisiert, mit einer Menge von Ringen an den weißen, sorgfältig mittels Bürste gereinigten Fingern und mit goldenen Kettchen auf der Weste. An einen anwesenden Ausländer richtete er sogar ein paar französische Worte, und zwar gar nicht schlecht. »Luisa Iwanowna, warum setzen Sie sich nicht?« wandte er sich nebenbei an die pompöse puterrote Dame, die noch immer stand, als wagte sie es nicht, sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl dicht neben ihr stand. »Ich danke«, sagte jene leise auf deutsch und ließ sich auf den Stuhl nieder, wobei ihre seidenen Röcke rauschten. Ihr hellblaues, mit weißen Spitzen garniertes Kleid bauschte sich wie ein Luftballon um ihren Stuhl auf und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein Geruch von Parfüm verbreitete sich im Zimmer. Die Dame genierte sich wohl, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm roch, obwohl sie zugleich ängstlich und frech, doch mit sichtlicher Unruhe lächelte. Die Dame in Trauer war endlich fertig und machte Anstalten, aufzustehen. Plötzlich trat mit einigem Geräusch recht schneidig und bei jedem Schritte eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ins Zimmer; er warf seine Mütze mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel. Als die pompöse Dame ihn erblickte, sprang sie auf und begann mit besonderer Begeisterung zu knicksen; der Offizier schenkte ihr aber nicht die geringste Beachtung, sie aber wagte es nicht mehr, sich in seiner Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, ein Mann mit einem horizontal nach beiden Seiten abstehenden rötlichen Schnurrbart und außerordentlichen Gesichtszügen, die übrigens außer einer gewissen Frechheit nichts ausdrückten. Er blickte Raskolnikow von der Seite mit einer gewissen Entrüstung an: sein Anzug war gar zu schäbig, während seine Haltung, trotzdem er sichtlich heruntergekommen war, diesem Aufzuge gar nicht entsprach: Raskolnikow blickte ihn unvorsichtigerweise zu lange an, so daß jener sich sogar verletzt fühlte. »Was willst du?« schrie er ihn an und war wohl nicht wenig erstaunt, als der zerlumpte Kerl gar nicht daran dachte, vor seinem blitzeschleudernden Blicke zu verschwinden. »Ich bin vorgeladen ... schriftlich ...« brachte Raskolnikow mit Mühe hervor. »Es ist die Geldforderung an den Studenten «, mischte sich eilig der Sekretär hinein, seinen Blick von den Akten losreißend. »Hier!« Er warf Raskolnikow ein Heft zu und zeigte ihm die Stelle. »Lesen Sie es!« »Eine Geldforderung? Was für eine Geldforderung?« dachte sich Raskolnikow. »Es ist also sicher was anderes!« Er fuhr vor Freude zusammen. Er fühlte sich plötzlich unsagbar erleichtert. Die ganze Last war ihm vom Herzen gefallen. »Und welche Stunde ist in Ihrer Vorladung angegeben, verehrter Herr?« schrie der Leutnant, der sich, man wußte nicht warum, immer mehr verletzt fühlte. »Man bestellt Sie für neun, jetzt ist es aber beinahe zwölf!« »Man hat es mir erst vor einer Viertelstunde gebracht«, antwortete Raskolnikow laut und über die Schulter hinweg. Auch er war plötzlich und für sich selbst unerwartet böse geworden und fand darin sogar einen gewissen Genuß. »Es genügt wohl schon, daß ich krank, im Fieber hergekommen bin.« »Schreien Sie bitte nicht!« »Ich schreie nicht, ich spreche ruhig; Sie schreien mich aber an; doch ich bin Student und werde es nicht dulden, daß man mich anschreit.« Der Gehilfe geriet in solche Wut, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte und nur so um sich spritzte. Er sprang von seinem Platze auf. »Wollen Sie den Mu-und halten! Sie befinden sich in einem Amtsbureau. Sie dürfen sich keine Grrrobheiten erlauben, Herr!« »Auch Sie befinden sich in einem Amtsbureau,« schrie Raskolnikow auf. »Sie schreien nicht nur, Sie rauchen auch noch eine Zigarette und benehmen sich also respektlos gegen uns alle.« Als er es sagte, empfand er einen unbeschreiblichen Genuß. Der Sekretär sah die beiden lächelnd an. Der hitzige Leutnant war sichtlich bestürzt. »Das ist nicht Ihre Sache!« schrie er schließlich unnatürlich laut. »Geben Sie lieber die Erklärung ab, die man von Ihnen verlangt. Zeigen Sie es ihm, Alexander Grigorjewitsch. Es laufen Klagen gegen Sie ein! Sie zahlen Ihre Schulden nicht! Das ist mir mal ein netter Vogel!« Raskolnikow hörte aber nicht mehr zu und griff gierig nach dem Papier, um endlich die Lösung zu finden. Er las es einmal und ein zweites Mal und begriff nichts. »Was ist es denn?« fragte er den Sekretär. »Man verlangt von Ihnen die Bezahlung eines Schuldscheins, es ist eine Geldforderung. Sie müssen sie entweder mit allen Kosten, Strafgeldern usw. bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie es bezahlen können, und sich zugleich verpflichten, vor der Bezahlung die Hauptstadt nicht zu verlassen und Ihr Eigentum weder zu verkaufen noch auf die Seite zu tun. Der Gläubiger ist aber berechtigt, Ihr Eigentum zu veräußern und mit Ihnen nach den Gesetzen zu verfahren.« »Ja, aber ... ich schulde doch keinem Menschen etwas!« »Das ist nicht unsere Sache. Uns wurde ein verfallener und gesetzlich protestierter Schuldschein über hundertundfünfzehn Rubel, den Sie auf den Namen der Kollegienassessorswitwe Sarnizyna vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnizyna an den Hofrat Tschebarow durch Kauf übergegangen ist, zwecks Eintreibung übergeben, und wir fordern Sie auf, die Erklärung abzugeben.« »Sie ist doch meine Wirtin!« »Was macht das, daß sie Ihre Wirtin ist?« Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem, mitleidigem Lächeln an, zugleich auch mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, wie einen Neuling, der zum erstenmal ins Feuer kommt, als wollte er ihm sagen: »Nun, wie fühlst du dich jetzt?« Doch was ging ihn jetzt der Schuldschein und die Eintreibung an? Verdiente denn diese Sache auch die geringste Unruhe, auch die geringste Beachtung? Er stand da, las, hörte zu, gab Antworten, stellte sogar selbst Fragen, machte aber alles mechanisch. Der Triumph des Selbsterhaltungstriebes, die Errettung vor der bedrückenden Gefahr – das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes Wesen, ohne daß er in die Zukunft blickte, analysierte, ohne daß er die Zukunft zu enträtseln versuchte, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick einer vollständigen, unmittelbaren, rein animalischen Freude. Doch in diesem selben Augenblick ereignete sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, der durch die Unehrerbietigkeit Raskolnikows noch immer erschüttert war, vor Empörung glühte und offenbar sein gekränktes Ehrgefühl wiederherstellen wollte, stürzte sich mit einem richtigen Donnerwetter auf die unglückliche pompöse Dame, die ihn während der ganzen Zeit, seit er das Lokal betreten, mit dem dümmsten Lächeln angesehen hatte. »Ach du, so eine und so eine!« schrie er plötzlich aus vollem Halse (die Dame in Trauer war schon weggegangen). »Was hat es bei dir in der vorigen Nacht schon wieder gegeben? Wieder eine Schande, ein Skandal in der ganzen Straße? Wieder eine Schlägerei und eine Sauferei? Du willst wohl ins Gefängnis? Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe dich schon zehnmal gewarnt, daß ich es das elftemal nicht dulden werde! Und du fängst wieder an, du so eine und so eine!« Raskolnikow entfiel sogar das Papier, und er blickte ganz bestürzt die pompöse Dame an, die man so ungeniert behandelte; bald begriff er jedoch den Sachverhalt, und die ganze Geschichte fing an, ihm zu gefallen. Er hörte mit Vergnügen zu und spürte sogar Lust, zu lachen, zu lachen, zu lachen. Alle seine Nerven zitterten förmlich. »Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär sich vorsichtig einzumischen, hielt aber inne und wartete, denn der Leutnant ließ sich bei solchen Wutausbrüchen nur auf die Weise besänftigen, daß man ihm die Hände festhielt, was er aus eigener Erfahrung wußte. Was aber die pompöse Dame betrifft, so fing sie zuerst vor den Donnern und Blitzen zu zittern an; doch seltsam! – je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter fielen, um so freundlicher blickte sie, um so bezaubernder wurde ihr Lächeln, das dem wütenden Leutnant galt. Sie trippelte auf einem Fleck, knickste ununterbrochen und wartete ungeduldig, daß er endlich auch sie zu Worte kommen lasse, was sie schließlich auch erlebte. »Gar kein Lärm und Schlägerei bei mir, Herr Kapitän«, schnatterte sie plötzlich drauf los, auf russisch, doch mit einem starken deutschen Akzent; es klang, wie wenn man Erbsen ausgeschüttet hätte: »Und gar kein, gar kein Skandal, aber der Herr war betrunken, und ich werde alles erzählen, Herr Kapitän, aber ich nicht schuld ... ich habe anständiges Haus, Herr Kapitän, und anständige Manieren, Herr Kapitän, und ich wollte immer, immer keinen Skandal haben. Der Herr kam aber betrunken und verlangte dann wieder drei Flaschen, und dann hob einen Fuß und spielte mit Fuß Klavier, und das ist gar nicht schön in vornehmes Haus, und er hat Klavier kaputt gemacht, und das ist keine Manier, und ich ihm das gesagt. Aber er nahm Flasche und fing an alle mit Flaschen hinten zu stoßen. Ich bald Hausknecht gerufen und Karl gekommen, da hat er Karl Auge geschlagen, und auch Henriette Auge geschlagen, und hat mich fünfmal Backe geschlagen. Und das ist nicht schön in anständiges Haus, Herr Kapitän, und ich habe geschrien, aber er hat Fenster zu dem Kanal aufgemacht und hat geschrien wie kleines Schwein, und das ist Schande. Wie kann man aus dem Fenster auf die Straße wie kleines Schwein schreien? Pfui, pfui, pfui! Und Karl schleppte ihn am Frack von hinten vom Fenster und hat ihm, das ist wahr, Herr Kapitän, seinen Rock zerrissen. Und da hat er geschrien, daß man ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen muß. Und ich fünf Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Das ist nicht anständiger Gast, Herr Kapitän, und macht jeden Skandal! Er sagt: in allen Zeitungen eine große Satire über Sie gedruckt werden, weil ich in allen Zeitungen über Sie schreiben kann.« »Ist also auch einer von den Schriftstellern?« »Jawohl, Herr Kapitän, was ist das für ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn er in anständiges Haus ...« »Nun, nun, genug! Ich habe dir schon gesagt, ich habe dir schon gesagt ...« »Ilja Petrowitsch!« begann der Sekretär wieder bedeutungsvoll. Der Leutnant warf ihm einen schnellen Blick zu: der Sekretär nickte leicht mit dem Kopf. »... Also das ist mein letztes Wort, verehrteste Lawisa Iwanowna, zum allerletzten Mal«, fuhr der Leutnant fort: »Wenn es in deinem anständigen Hause nur noch ein einziges Mal Skandal gibt, so werde ich dich beim Schlafittchen nehmen, wie es in der Dichtersprache heißt. Hast du es gehört? Also hat sich ein Literat, ein Schriftsteller in einem anständigen Hause fünf Rubel für einen zerrissenen Frack bezahlen lassen? So sind sie alle, diese Herren Schriftsteller!« Er warf Raskolnikow einen verächtlichen Blick zu. »Vorgestern gab es in einem Wirtshause die gleiche Geschichte: so einer aß zu Mittag, wollte aber nicht bezahlen und sagte: ›Ich schreibe über euch eine Satire.‹ Ein anderer hat in der vorigen Woche auf einem Dampfschiffe eine ehrbare Staatsratsfamilie mit den gemeinsten Worten beschimpft. Einen anderen hat man dieser Tage aus einer Konditorei an die Luft gesetzt. So sind sie alle diese Schriftsteller, Literaten, Studenten, Apostel ... Pfui! Du aber scher dich zum Teufel! Ich werde mal selbst bei dir nachschauen ... dann nimm dich in acht! Hast du es gehört?« Luisa Iwanowna begann mit beschleunigter Freundlichkeit nach allen Seiten hin zu knicksen und zog sich, immer knicksend, zur Tür zurück: doch in der Tür stieß sie von hinten mit einem stattlichen Offizier zusammen, der ein offenes frisches Gesicht und einen wunderbaren, dichten, blonden Backenbart hatte. Es war Nikodim Fomitsch, der Revieraufseher in eigener Person. Luisa Iwanowna beeilte sich, bei nahe bis zum Boden zu knicksen, und flog mit schnellen Schritten, hüpfend aus dem Bureau hinaus. »Wieder ein Ungewitter, wieder Donner und Blitz, Sturm und Orkan!« wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Unruhe versetzt, wieder sind Sie in Wut geraten! Ich habe es schon auf der Treppe gehört!« »Ach, was!« versetzte Ilja Petrowitsch mit nobler Nonchalance (er sagte sogar nicht »was« sondern: »wa-«), indem er mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch ging; dabei zuckte er bei jedem Schritt höchst malerisch die Achseln, so daß jede Schulter die Bewegung des entsprechenden Fußes mitmachte. »Sehen Sie nur den da an: dieser Herr Schriftsteller, ich wollte sagen, das heißt, gewesener Student, zahlt seine Schulden nicht, hat Wechsel ausgestellt, will die Wohnung nicht räumen, fortwährend beklagt man sich über ihn, und dabei rümpft er die Nase, als ich mir erlaubte, mir in seiner Gegenwart eine Zigarette anzustecken! Die Leute begehen selbst allerlei Gemeinheiten; da sehen Sie sich aber den Herrn an: da steht er in seiner ganzen Schönheit!« »Armut ist keine Schande, Freundchen, was fängt man aber mit dir an! Ich weiß es, du bist wie Schießpulver und kannst keine Beleidigung ertragen. Wahrscheinlich haben Sie sich durch ihn irgendwie verletzt gefühlt und sich nicht beherrschen können«, fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich freundlich an Raskolnikow wendend. »Aber das hätten Sie nicht tun sollen: er ist der e-del-ste Mensch, aber wie Schießpulver, wie Schießpulver! Er braust auf, schäumt, verbrennt und fertig! Und alles ist vorbei! Zuletzt bleibt nur das Gold seines Herzens! Auch im Regiment nannte man ihn ›Leutnant Schießpulver‹ ...« »Und was war das für ein Rrregiment!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr zufrieden, daß man seinen Ehrgeiz so angenehm kitzelte, doch immer noch schmollend. Raskolnikow spürte plötzlich Lust, ihnen allen etwas ungemein Angenehmes zu sagen. »Erlauben Sie mal, Herr Hauptmann«, begann er recht ungezwungen, sich plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend. »Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage ... Ich bin sogar bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, niedergedrückt (er gebrauchte diesen Ausdruck: ›niedergedrückt‹) durch Armut. Ich bin augenblicklich nicht mehr Student, weil ich meinen Unterhalt nicht bezahlen kann, ich werde aber Geld bekommen ... Ich habe eine Mutter und eine Schwester im *–schen Gouvernement. Sie werden mir Geld schicken, und dann werde ich bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute Frau, sie ist aber so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren habe und seit vier Monaten nicht mehr zahle, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr gibt ... aber ich kann unmöglich verstehen, was das für ein Wechsel ist! Jetzt verlangt sie von mir Zahlung, aber was kann ich ihr bezahlen, urteilen Sie doch selbst! ...« »Das ist aber nicht unsere Sache ...« bemerkte wieder der Sekretär. »Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber lassen Sie mich Ihnen alles erklären«, fiel ihm Raskolnikow wieder ins Wort, sich nicht an den Sekretär, sondern immer noch an Nikodim Fomitsch wendend; dabei bemühte er sich aus aller Kraft, sich auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obwohl jener so tat, als suche er etwas in den Akten und schenke ihm keine Beachtung. »Erlauben Sie mir auch meinerseits zu erklären, daß ich bei ihr schon seit ungefähr drei Jahren wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz, und früher, früher ... warum soll ich es übrigens nicht gestehen, – ich hatte ihr ganz zu Anfang das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, durchaus freies Versprechen ... Das Mädchen war ... sie gefiel mir sogar sehr gut ... obwohl ich nicht verliebt war ... mit einem Worte, meine Jugend, das heißt, ich will sagen, daß meine Wirtin mir damals einen großen Kredit einräumte, und ich führte zum Teil so ein Leben ... Ich war sehr leichtsinnig ...« »Man verlangt von Ihnen keine Intimitäten, sehr verehrter Herr, außerdem haben wir keine Zeit«, versuchte ihn Ilja Petrowitsch roh und triumphierend zu unterbrechen; Raskolnikow fiel ihm aber leidenschaftlich ins Wort, obwohl es ihm gar nicht leicht war, zu sprechen. »Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir doch, zum Teil alles zu erzählen ... wie die Sache war und ... auch meinerseits ... ich gebe übrigens zu, daß es überflüssig ist, davon zu erzählen ... aber vor einem Jahr ist das Mädchen an Typhus gestorben; ich aber blieb Zimmerherr, und meine Wirtin sagte mir, als sie in die neue Wohnung zog ... sagte mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen vertraue und alles ... ob ich ihr aber nicht einen Schuldschein über die hundertfünfzehn Rubel ausstellen wolle, die ich ihr noch schuldete. Erlauben Sie: sie sagte mir ausdrücklich, daß, wenn ich ihr dieses Papier gebe, sie mir jeden Kredit einräumen würde und daß sie niemals, niemals, – das sind ihre eigenen Worte – von diesem Papier Gebrauch machen werde, bis ich es selbst bezahle ... Und jetzt, wo ich die Stunden verloren und nichts zu essen habe, will sie den Betrag eintreiben lassen. Was soll ich dazu sagen?« »Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, verehrter Herr«, schnitt Ilja Petrowitsch frech ab. »Sie müssen die Erklärung abgeben und die Verpflichtung unterschreiben; aber daß Sie geruht haben, verliebt zu sein, und alle diese tragischen Stellen gehen uns nichts an.« »Nun, du, das ist schon ... grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an den Tisch setzte und gleichfalls Papiere zu unterschreiben begann. Er schämte sich irgendwie. »Schreiben Sie also«, sagte der Sekretär zu Raskolnikow. »Was soll ich schreiben?« fragte jener besonders grob. »Ich werde es Ihnen diktieren.« Raskolnikow schien es, als hätte der Sekretär angefangen, ihn nach seiner Beichte geringschätziger und verächtlicher zu behandeln; doch seltsam: ihm war es plötzlich ganz gleich, was die andern von ihm hielten, und diese Veränderung vollzog sich in ihm augenblicklich, in einem Nu. Wenn er nur ein wenig nachgedacht hätte, so wäre er erstaunt, wie er es fertiggebracht hatte, mit ihnen vor einer Minute so zu sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen aufzudrängen. Und woher waren diese Gefühle gekommen? Jetzt aber, selbst wenn das Zimmer plötzlich nicht voller Revieraufseher, sondern voll seiner besten Freunde wäre, so hätte er wohl auch für sie kein einziges menschliches Wort finden können – so leer war plötzlich sein Herz geworden. Das finstere Gefühl einer qualvollen, unendlichen Vereinsamung regte sich plötzlich bewußt in seiner Seele. Es war nicht die Erniedrigung durch die Herzensergüsse vor Ilja Petrowitsch und auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants über ihn, was diese Veränderung in seinem Herzen verursacht hatte. Ach, was ging ihn seine eigene Erniedrigung, was gingen ihn alle die Ehrbegriffe, Leutnants, Luisa Iwanownas, Wechselforderungen, Bureaus usw. an! Hätte man ihn jetzt zum Feuertode verurteilt, so hätte er sich auch dann nicht gerührt, hätte auch kaum das Urteil aufmerksam angehört. Mit ihm geschah etwas ihm völlig Unbekanntes, etwas Neues, Plötzliches, Niedagewesenes. Er begriff nicht – er empfand es deutlich, mit der ganzen Kraft seines Empfindens, daß es ihm unmöglich war, sich nicht nur mit Gefühlsausbrüchen, sondern womit es auch sei, an diese Menschen im Polizeibureau zu wenden; und wenn es auch seine leiblichen Brüder und keine Polizeileutnants wären – selbst dann hätte es keinen Sinn, sich an sie, unter welchen Lebensumständen es auch sei, zu wenden; bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie diese seltsame und erschreckende Empfindung gehabt. Und was das Qualvollste war, – es war mehr eine Empfindung als eine Erkenntnis, als eine Einsicht; eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er bisher im Leben gehabt hatte. Der Sekretär begann ihm den Text der in solchen Fällen üblichen Erklärung zu diktieren, d.h.: zahlen kann ich nicht, verpflichte mich, dann und dann (später einmal) zu bezahlen; werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen noch verschenken usw. »Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand«, bemerkte der Sekretär, Raskolnikow neugierig anblickend. »Sind Sie krank?« »Ja ... der Kopf schwindelt mir ... fahren Sie fort!« »Das ist alles. Unterschreiben Sie nur.« Der Sekretär nahm ihm das Papier ab und machte sich an eine andere Arbeit. Raskolnikow gab die Feder zurück, aber statt aufzustehen und wegzugehen, legte er beide Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Es war ihm, als wenn man ihm einen Nagel in den Scheitel hineintriebe. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn: sofort aufstehen, auf Nikodim Fomitsch zugehen und ihm alles Gestrige erzählen, alles bis zur letzten Einzelheit; dann mit ihm zusammen in seine Wohnung gehen und ihm die Sachen in der Ecke, im Loch zeigen. Der Drang dazu war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. »Soll ich es mir nicht noch eine Minute überlegen?« ging es ihm durch den Kopf. »Nein, besser ohne nachzudenken, und die Sache ist erledigt!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Nikodim Fomitsch erzählte etwas mit großem Feuer Ilja Petrowitsch, und folgende Worte erreichten sein Ohr: »Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens sind zu viel Widersprüche da; urteilen Sie doch selbst: wozu brauchten Sie den Hausknecht zu rufen, wenn es ihr Werk ist? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder war es eine List? Nein, das wäre schon zu schlau! Schließlich wurde der Student Pestrjakow im selben Augenblick, als er eintrat, dicht vor dem Tore von den beiden Hausknechten und von der Kleinbürgerin gesehen; er ging mit drei Freunden, von denen er sich vor dem Tore trennte, und erkundigte sich in Gegenwart dieser Freunde bei den Hausknechten nach der Wohnung. Nun, wird ein Mensch nach der Wohnung fragen, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Was aber Koch betrifft, so hat er, bevor er zu der Alten hinaufging, eine halbe Stunde unten beim Silberschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht zu der Alten hinaufgegangen. Überlegen Sie es sich jetzt ...« »Aber erlauben Sie, wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben und daß die Tür verschlossen war, als sie aber nach drei Minuten mit dem Hausknecht kamen, war die Tür plötzlich offen?« »Das ist eben der Witz: der Mörder hatte sich unbedingt in der Wohnung eingeschlossen, und man hätte ihn dort ganz gewiß erwischt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte und nicht selbst nach dem Hausknecht gegangen wäre. Er aber ging gerade in der Zwischenzeit die Treppe hinunter und schlüpfte irgendwie an ihnen vorbei. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ›Wäre ich dort geblieben,‹ sagt er, ›so wäre er herausgesprungen und hätte mich mit einer Axt erschlagen.‹ Er will sogar einen russischen Dankgottesdienst abhalten lassen, ha-ha!..« »Den Mörder hat aber niemand gesehen?« »Wie konnte man ihn auch sehen? Das Haus ist eine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platz aus zuhörte. »Die Sache ist klar, die Sache ist klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch mit großem Eifer. »Nein, die Sache ist sehr unklar«, entgegnete Ilja Petrowitsch. Raskolnikow hob seinen Hut auf und ging zur Tür, aber er erreichte die Tür nicht ... Als er zu sich kam, sah er sich auf einem Stuhle sitzen: von rechts stützte ihn irgendein Mann, links stand ein anderer Mann mit einem gelben, mit gelbem Wasser gefüllten Glase in der Hand; Nikodim Fomitsch stand vor ihm und sah ihn unverwandt an. Er erhob sich vom Stuhl. »Was haben Sie, sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf. »Schon beim Unterschreiben konnte der Herr kaum die Feder bewegen«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte und die Akten vornahm. »Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platz, gleichfalls in Akten blätternd. Auch er hatte selbstverständlich den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, hatte sich aber sofort zurückgezogen, als jener zu sich kam. »Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort. »Sind Sie gestern ausgegangen?« »Ja.« »Obwohl Sie krank waren?« »Ja.« »Um wieviel Uhr?« »Gegen acht abends.« »Und wohin, wenn ich fragen darf?« »Über die Straße.« »Kurz und bündig.« Raskolnikow gab seine Antworten scharf und kurz, so bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor den Blicken Ilja Petrowitschs zu senken. »Er steht kaum auf den Beinen, und du ...« bemerkte Nikodim Fomitsch. »Macht gar nichts!« sagte Ilja Petrowitsch in einem eigentümlichen Tone. Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, blickte aber den Sekretär an, der ihn gleichfalls sehr aufmerksam ansah, und sagte nichts. Plötzlich waren alle verstummt. Es war sehr sonderbar. »Nun, schön,« schloß Ilja Petrowitsch, »wir wollen Sie nicht aufhalten.« Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Weggehen plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch tönte ... Auf der Straße kam er ganz zu sich. »Eine Haussuchung, jetzt gleich kommt die Haussuchung!« wiederholte er vor sich hin und beeilte sich, sein Haus zu erreichen. »Diese Räuber! Sie verdächtigen mich!« Die frühere Angst packte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen. 2. II »Was, wenn die Haussuchung schon gewesen ist? Wenn ich sie bei mir antreffe?« Da ist aber schon sein Zimmer. Nichts und niemand; niemand hat hereingeblickt. Selbst Nastasja hat nichts angerührt ... Aber, Gott! Wie konnte er bloß vorhin alle diese Sachen in diesem Loche zurücklassen? Er stürzte in die Ecke, steckte die Hand unter die Tapete und begann die Sachen hervorzuholen und sie sich in die Taschen zu stopfen. Es waren im ganzen, wie er jetzt sah, acht Stück: zwei kleine Schächtelchen mit Ohrringen oder ähnlichen Dingen, – er hatte sie nicht genau untersucht; dann vier kleine Etuis aus Safian. Eine Uhrkette war einfach in Zeitungspapier eingewickelt. Dann war noch ein Gegenstand in Zeitungspapier, wohl ein Orden ... Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Mantel und in die noch übriggebliebene rechte Hosentasche, wobei er sich Mühe gab, die Sachen so zu verteilen, daß man von außen nichts sehen konnte. Den Beutel nahm er mit den übrigen Sachen mit. Dann ging er aus dem Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offenstehen. Er ging schnell und sicher, obwohl er sich am ganzen Leibe zerschlagen fühlte, aber sein Bewußtsein war klar. Er fürchtete, daß man ihn verfolgen würde, daß vielleicht schon nach einer Viertelstunde der Befehl ergehen würde, ihn zu beobachten; also mußte er um jeden Preis, noch solange er Zeit hatte, alle Spuren verwischen. Er mußte es erledigen, solange er noch etwas Kraft und Überlegung hatte ... Wohin sollte er aber gehen? Das war schon längst beschlossen: »Alles in den Kanal werfen, und die Sache ist erledigt.« Das hatte er noch nachts im Fieber beschlossen, in den Augenblicken – er konnte sich ihrer noch erinnern –, als er einige Male aufzustehen und fortzugehen versuchte: »Schneller, schneller, alles fortwerfen!« Es zeigte sich aber, daß es sehr schwer war, die Sachen fortzuwerfen. Er ging schon seit einer halben Stunde, vielleicht auch länger, am Kai des Katharinenkanals auf und ab und blickte auf die zum Kanal hinabführenden Stufen, sooft er an solchen vorüberging. Er durfte aber nicht mal daran denken, seinen Plan auszuführen: entweder lagen dicht vor den Stufen Flöße, auf denen Wäscherinnen ihre Arbeit verrichteten, oder Kähne, überall wimmelte es von Menschen, und von allen Seiten konnte man es sehen und ihn sich merken; es ist doch verdächtig, daß ein Mensch absichtlich hinabgegangen und stehengeblieben ist und etwas ins Wasser wirft. Und wenn die Etuis nicht untergehen, sondern weiterschwimmen? Natürlich wird es so sein. Ein jeder wird es sehen. Schon ohnehin schauen ihn die Leute so aufmerksam an, als ob sie sich nur für ihn allein interessierten. »Warum ist das so, oder kommt es mir nur so vor?« dachte er. Endlich fiel es ihm ein, daß es vielleicht besser wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort sind weniger Menschen, dort ließe es sich weniger auffällig und jedenfalls bequemer machen, und, was wohl das wichtigste ist, das wäre weit weg von hier. Und plötzlich staunte er: eine halbe Stunde war er voller banger Unruhe an dieser gefährlichen Stelle herumgegangen und hatte an diese Möglichkeit gar nicht gedacht. Eine volle halbe Stunde hatte er für dieses unsinnige Beginnen geopfert, nur weil es einmal im Traume, im Fieber so beschlossen war! Er wurde immer zerstreuter und vergeßlicher, und er wußte das. Er mußte sich unbedingt beeilen! Er ging zur Newa durch den W–schen Prospekt; unterwegs kam ihm aber plötzlich ein neuer Gedanke! »Warum zur Newa? Warum ins Wasser? Wäre es nicht besser, irgendwohin sehr weit hinzugehen, vielleicht wieder auf die Inseln und dort alles im Walde unter einem Busche zu verscharren und sich vielleicht auch den Baum zu merken?« Obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu überlegen, erschien ihm dieser Gedanke fehlerlos. Aber es war ihm auch nicht beschieden, auf die Inseln zu kommen, es geschah etwas anderes: als er vom W–schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er plötzlich linker Hand den Eingang in einen von lauter blinden Mauern eingeschlossenen Hof. Rechts, gleich vom Eingange zog sich tief in den Hof hinein die blinde, ungetünchte Mauer eines dreistöckigen Nachbarhauses. Links, parallel zu der blinden Mauer, zog sich, gleichfalls beim Tore beginnend, etwa zwanzig Schritte in die Tiefe des Hofes hinein, ein Bretterzaun, der dann nach links abbog. Es war ein leerer eingezäunter Platz, wo allerlei Materialien lagen. Weiter, in der Tiefe des Hofes, sah hinter dem Zaune die Ecke eines niedrigen, verrauchten, gemauerten Schuppens hervor, offenbar der Teil einer Werkstätte. Hier befand sich wohl eine Wagnerei oder eine Schlosserei oder etwas ähnliches; überall, fast beim Tore beginnend, lag schwarzer Kohlenstaub. »Hier könnte ich es wegwerfen und dann fortgehen!« kam es ihm in den Sinn. Da er im Hofe keinen Menschen bemerkte, schlüpfte er in das Tor und erblickte sofort dicht beim Tore eine am Zaune angebrachte Rinne (solche Rinnen werden oft in den Höfen angebracht, wo es viele Arbeiter, Angestellte, Fuhrleute usw. gibt); über der Rinne war am Zaune mit Kreide höchst unorthographisch der übliche Witz geschrieben: »Hier ist es verboten, stehen zu bleiben.« Das hatte auch den Vorteil, daß es keinen Verdacht erregte: er ist einfach hereingegangen und ist stehengeblieben. »Alles auf einmal in einen Haufen werfen und fortgehen!« Als er sich noch einmal umgesehen und die Hand schon in die Tasche gesteckt hatte, erblickte er plötzlich dicht an der Außenmauer, zwischen dem Tor und der Rinne, wo der Zwischenraum höchstens einen Arschin breit war, einen großen unbehauenen Stein, der etwa eineinhalb Pud schwer sein mochte und direkt an der Straßenmauer lag. Hinter dieser Mauer lagen die Straße und der Bürgersteig, und er konnte die vielen Leute vorbeigehen hören, die es hier immer gab; doch hinter dem Tore konnte ihn niemand bemerken, höchstens wenn jemand von der Straße hereinkäme, was übrigens leicht passieren konnte, und darum mußte er sich beeilen. Er beugte sich zum Stein, packte ihn oben fest mit beiden Händen, nahm alle seine Kräfte zusammen und drehte den Stein um. Unter dem Steine bildete sich eine kleine Vertiefung: er begann sofort alle Gegenstände aus seiner Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam ganz oben zu liegen, und doch blieb in der Vertiefung noch Platz. Darauf packte er wieder den Stein, drehte ihn mit einem Ruck um, so daß er wieder an den alten Platz zu liegen kam und vielleicht nur ein wenig in die Höhe geschoben schien. Er scharrte aber etwas Erde zusammen und drückte sie mit dem Fuße am Rande fest. Nun war nichts mehr zu sehen. Dann verließ er den Hof und ging auf den Platz zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick eine starke, beinahe unerträgliche Freude, wie vorhin im Polizeibureau. »Alle Spuren sind verwischt! Wem wird jetzt einfallen, unter diesem Stein zu suchen? Er liegt hier vielleicht seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebenso lange liegen. Und wenn man es auch findet: wer wird auf mich kommen? Alles ist erledigt! Es gibt keine Indizien!« Und er fing zu lachen an. Ja, er erinnerte sich später, daß er in ein nervöses, vibrierendes, lautloses, langes Lachen ausgebrochen war und so lange gelacht hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K–schen Boulevard erreichte, wo er vorgestern jenem Mädchen begegnet war, verging ihm das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Sinn. Es kam ihm sogar vor, daß es ihm ekelhaft sein müsse, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das Mädchen gegangen war, gesessen und nachgedacht hatte; daß es ihm auch schrecklich sein würde, jenem Schutzmann zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben hatte. »Hol ihn der Teufel!« Er ging und blickte zerstreut und gehässig um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen Punkt, den Hauptpunkt – und er fühlte selbst, daß es wirklich der Hauptpunkt sei und daß er jetzt, gerade jetzt, vor diesem Hauptpunkte stehe – und das sogar zum erstenmal seit diesen zwei Monaten. »Hol alles der Teufel!« sagte er sich plötzlich in einem Anfalle unerschöpflicher, Wut. »Nun, wenn es begonnen hat, so hat es eben begonnen, mag der Teufel das neue Leben holen! Mein Gott, wie dumm ist doch das alles! ... Und wieviel habe ich zusammengelogen, wie gemein habe ich mich heute benommen! Wie häßlich habe ich vorhin vor dem niederträchtigen Ilja Petrowitsch scharwenzelt und mich erniedrigt! Übrigens ist alles Unsinn ... Ich spucke auf sie alle und auch auf das, daß ich scharwenzelt und mich erniedrigt habe! Das ist es nicht, das ist es gar nicht!« Plötzlich blieb er stehen; eine neue, völlig unerwartete und äußerst einfache Frage brachte ihn auf einmal aus der Fassung und verblüffte ihn bitter: »Wenn du diese ganze Sache wirklich bewußt und nicht wie ein Narr gemacht hast, wenn du wirklich ein bestimmtes und festes Ziel gehabt hast, warum hast du bisher nicht mal in den Beutel hineingeschaut und weißt nicht, was dir zugefallen ist und weswegen du alle Qualen auf dich genommen und dich mit vollem Bewußtsein zu einer so gemeinen, häßlichen und niedrigen Tat entschlossen hast? Du wolltest doch eben den Beutel mit den anderen Sachen, die du gleichfalls nicht gesehen hast, ins Wasser werfen ... Wie ist es nun?« Ja, es ist so; alles ist so. Er hatte es übrigens auch vorher gewußt, und die Frage war für ihn gar nicht neu; und als es damals in der Nacht beschlossen wurde, alles ins Wasser zu werfen, so war es ohne jedes Schwanken und ohne Widerspruch beschlossen worden, vielmehr so, als hätte es so sein müssen, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er hatte das alles gewußt und alles verstanden; vielleicht schon gestern war es so beschlossen, im gleichen Augenblick, als er über der Truhe hockte und aus ihr die Etuis herausholte ... Es ist doch so! ... »Es kommt daher, weil ich sehr krank bin,« entschied er plötzlich finster, »ich habe mich selbst zermartert, und ich weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Wenn ich gesund werde, werde ich mich nicht mehr martern ... Wenn ich aber nicht gesund werde? Mein Gott, wie habe ich das alles satt!« Er ging, ohne stehen zu bleiben. Er wollte so furchtbar gern sich irgendwie zerstreuen, wußte aber nicht, was zu tun, was zu unternehmen. Eine neue, unüberwindliche Empfindung bemächtigte sich seiner von Augenblick zu Augenblick stärker; es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel vor allem, was ihm begegnete und ihn umgab, ein hartnäckiger, boshafter, gehässiger Widerwille. Alle Menschen, denen er begegnete, waren ihm ekelhaft – ekelhaft waren ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Er wäre imstande, jeden von ihnen anzuspeien oder zu beißen, der ihn angesprochen hätte ... Er blieb plötzlich stehen, als er den Kai der Kleinen Newa auf der Wassiljewskij-Insel dicht bei der Brücke erreicht hatte. »Hier wohnt er, in diesem Hause«, sagte er sich. »Was, bin ich gar zu Rasumichin gekommen?! Wieder dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist doch immerhin interessant: ob ich mit Absicht hergekommen bin oder mich nur zufällig verirrt habe? Ich habe doch sowieso damals ... vorgestern ... gesagt, daß ich ihn ... am andern Tage nach dem aufsuchen werde; nun, ich werde zu ihm hinaufschauen! Als ob ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen dürfte ...« Er stieg zu Rasumichin in den vierten Stock hinauf. Jener war daheim, in seiner Kammer; er war gerade mit Schreiben beschäftigt und hatte ihm selbst geöffnet. An die vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin trug zu Hause einen vollkommen zerfetzten Schlafrock und Pantoffeln auf den bloßen Füßen und war zerzaust, unrasiert und ungewaschen. Sein Gesicht drückte großes Erstaunen aus. »Was hast du?« rief er aus, indem er seinen Freund vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Dann verstummte er und stieß einen Pfiff aus. »Steht es denn wirklich so schlecht? Du hast unsereins übertroffen, mein Bester«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Setz dich doch, du bist wohl müde!« Und als jener sich in sein wachstuchüberzogenes türkisches Sofa fallen ließ, das in einem noch schlimmeren Zustande war als das seinige, merkte Rasumichin plötzlich, daß sein Gast krank war. »Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?« Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand. »Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...« »Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete. »Nein, ich phantasiere nicht ...« Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er er stickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war. »Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür. »Warte doch, warte, du komischer Mensch!« »Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los. »Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...« »Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!« »Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubel: da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteil: gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?« Raskolnikow nahm schweigend die deutschen Textseiten, nahm auch die drei Rubel und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Rasumichin sah ihm erstaunt nach. Als Raskolnikow schon bei der Ersten Linie war, kehrte er um, stieg wieder zu Rasumichin hinauf, legte ihm die deutschen Seiten und die drei Rubel auf den Tisch und ging, wieder ohne ein Wort zu sagen, hinaus. »Hast du das Delirium, oder was?!« brüllte Rasumichin, der schließlich rasend wurde. »Was spielst du Komödie! Selbst mich hast du ganz konfus gemacht ... Was bist du dann hergekommen, der Teufel noch einmal?« »Ich brauche ... keine Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging. »Was brauchst du denn, zum Teufel?« schrie ihm Rasumichin von oben nach. Jener ging stumm hinunter. »He, du! Wo wohnst du?« Eine Antwort erfolgte nicht. »Dann hol dich der Teufel!« Raskolnikow trat aber schon auf die Straße. Auf der Nikolaibrücke mußte er infolge eines für ihn recht unangenehmen Zwischenfalles noch einmal zur Besinnung kommen. Der Kutscher einer Equipage versetzte ihm einen heftigen Peitschenhieb auf den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angeschrien hatte. Der Peitschenhieb erboste ihn so, daß er zum Brückengeländer sprang (er ging, er wußte selbst nicht warum, in der Mitte der Brücke, wo gefahren wird, und nicht auf dem Bürgersteig) und zornig mit den Zähnen knirschte und klapperte. Ringsherum erklang natürlich Lachen. »Ganz recht geschehen!« »Ist wohl ein Spitzbube!« »Man kennt es ja: stellt sich betrunken und läuft absichtlich unter die Räder, und unsereins muß dafür auf kommen.« »Davon leben sie, Verehrtester, davon leben sie ...« Doch in dem Augenblick, als er am Geländer stand und, sich den Rücken reibend, ganz dumm und gehässig der davonrollenden Equipage nachsah, fühlte er plötzlich, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: eine ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und in Bocklederschuhen und neben ihr ein junges Mädchen mit Hut und grünem Schirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm's, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und die beiden Frauen gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn gut für einen Bettler, für einen echten Kupfergeldsammler von der Straße halten, die zwanzig Kopeken hatte er aber dem Peitschenhieb zu verdanken, der sie mitleidig gestimmt hatte. Er drückte das Zwanzigkopekenstück fest in der Hand zusammen, ging an die zehn Schritte weiter und wandte sich mit dem Gesicht zur Newa, in der Richtung zum Palais. Kein Wölkchen stand am Himmel, und das Wasser war fast blau, was auf der Newa so selten vorkommt. Die Kuppel der Kathedrale, die von keinem Punkt so gut zu sehen ist wie von dieser Brücke, etwa zwanzig Schritte vor der Kapelle, leuchtete und strahlte, und durch die reine Luft konnte man jede ihrer Verzierungen deutlich unterscheiden. Der Schmerz vom Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb vergessen; ihn beschäftigte ausschließlich ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke. Er stand da und blickte lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle war ihm besonders gut bekannt. Als er noch zur Universität ging, so geschah es vielleicht hundertmal, daß er, meistens auf dem Heimwege, an dieser Stelle stehenblieb, aufmerksam dieses prachtvolle Panorama betrachtete und jedesmal über einen unklaren und unerklärlichen Eindruck staunte. Das prachtvolle Panorama wehte ihn immer mit einer unerklärlichen Kälte an; das prunkvolle Bild war für ihn von einem stummen und dumpfen Geiste erfüllt ... Jedesmal staunte er über diesen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die Lösung, da er dem Eindruck nicht traute, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich plötzlich deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es kam ihm vor, als hätte er sich ihrer nicht ganz zufällig erinnert. Schon dies allein erschien ihm befremdend und erstaunlich, daß er auf der gleichen Stelle stehenblieb wie einst, als hätte er sich tatsächlich eingebildet, daß er imstande sei, auch jetzt ebenso zu denken wie einst und sich für die gleichen Themen und Bilder zu interessieren, für die er sich ... noch vor so kurzer Zeit interessiert hatte. Das kam ihm beinahe komisch vor, zugleich preßte es ihm die Brust zusammen. Er glaubte, unten in der Tiefe, irgendwo kaum sichtbar unter seinen Füßen diese ganze Vergangenheit zu sehen, die früheren Gedanken, die früheren Aufgaben, die früheren Probleme, die früheren Eindrücke, das frühere Panorama, und sich selbst; und alles, alles ... Es war ihm, als fliege er irgendwo hinauf und als verschwinde alles vor seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Handbewegung fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück. Er öffnete die Hand, sah die Münze aufmerksam an, schwang den Arm und warf sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien es, als hätte er sich in diesem Augenblick selbst mit einer Schere von allen und von allem abgeschnitten. Er kam erst gegen Abend heim, also war er wohl an die sechs Stunden herumgegangen. Auf welchem Wege er zurückgegangen war, wußte er nicht mehr. Er zog sich aus, legte sich, wie ein abgehetztes Pferd am ganzen Leibe zitternd, aufs Sofa, zog den Mantel über sich und schlief sofort ein. Er kam zur Besinnung in völliger Dämmerung, von einem furchtbaren Schrei geweckt. Gott, was war das für ein Schrei! Solche unnatürlichen Laute, solches Heulen, Jammern, Zähneknirschen, Schluchzen, solche Schläge und Schimpfworte hatte er noch nie erlebt und nie gehört. Er konnte sich eine solche Roheit, eine solche Raserei nicht mal vorstellen. Von Entsetzen gepackt, erhob er sich und setzte sich auf seinem Lager auf; jeden Augenblick erstarb er vor schmerzvollem Grauen. Doch die Schläge, das Jammern und Fluchen wurden immer stärker und stärker. Und plötzlich erkannte er zu seinem größten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, kreischte und jammerte, brachte die Worte in solcher Hast heraus, daß man nichts verstehen konnte, sie flehte um etwas, – natürlich, daß man sie zu schlagen aufhöre, denn sie wurde auf der Treppe von jemand erbarmungslos geschlagen. Die Stimme des Schlagenden war vor Wut und Raserei so schrecklich, daß sie nur noch röchelte, aber auch der Schlagende sagte etwas, ebenso hastig, unverständlich und sich überstürzend. Plötzlich erbebte Raskolnikow wie Espenlaub: er erkannte die Stimme; es war die Stimme von Ilja Petrowitsch. Ilja Petrowitsch ist hier und schlägt seine Wirtin! Er tritt sie mit den Füßen, schlägt sie mit dem Kopf gegen die Stufen – das ist klar, das kann man an den Lauten, den Schreien, den Schlägen erkennen! Geht die Welt unter? Es war zu hören, wie sich die Leute aus allen Stockwerken auf der Treppe versammelten, man hörte Stimmen und Ausrufe, sie gingen hinauf, klopften, schlugen die Türen zu, liefen zusammen. »Aber wofür, wofür, wie kann man das nur!« wiederholte er vor sich hin, ernsthaft davon überzeugt, daß er den Verstand verloren hätte. Aber nein, er hört es zu deutlich! ... Also wird man wohl gleich auch zu ihm kom men, wenn es sich wirklich so verhält, – denn das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Mein Gott! – Er wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht heben ... das wäre ja auch nutzlos! Die Angst legte sich um seine Seele wie Eis, sie zermarterte ihn, sie ließ ihn vor Kälte erstarren ... Endlich schien dieser ganze Lärm, der mindestens zehn Minuten gedauert hatte, allmählich aufzuhören. Die Wirtin stöhnte und ächzte. Ilja Petrowitsch drohte und fluchte noch immer ... Endlich schien auch er ruhiger zu werden; nun ist er nicht mehr zu hören. »Ist er denn wirklich fortgegangen? Mein Gott!« Ja, da entfernt sich, noch immer stöhnend und weinend, die Wirtin ... da fällt auch schon ihre Tür ins Schloß ... Da zieht sich auch schon die Menge von der Treppe in ihre Wohnungen zurück, – die Leute jammern, streiten, wechseln Bemerkungen, die Stimmen bald zum Geschrei erhebend, bald zum Flüstertone dämpfend. Es waren ihrer wohl viele gewesen; fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein Gott, ist denn das möglich! Und wozu, wozu war er hergekommen?« Raskolnikow fiel entkräftet auf das Sofa, konnte aber die Augen nicht mehr schließen; so lag er etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, von einem so grenzenlosen Schrecken gepackt, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Plötzlich wurde sein Zimmer von einem grellen Schein erleuchtet: Nastasja kam mit einer Kerze und einem Teller Suppe zu ihm herein. Nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet und festgestellt hatte, daß er nicht schlief, stellte sie die Kerze auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: Brot, Salz, einen Teller und Löffel ... »Hast wohl seit gestern nichts gegessen. Hast dich den ganzen Tag herumgetrieben, im Fieber und Schüttelfrost.« »Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?« Sie sah ihn unverwandt an. »Wer hat die Wirtin geschlagen?« »Soeben ... vor einer halben Stunde, Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geprügelt? Und ... warum war er hergekommen?« Nastasja betrachtete ihn schweigend mit gerunzelter Stirn und sah ihn lange so an. Dies wurde ihm unangenehm, es erschreckte ihn sogar. »Nastasja, was schweigst du?« fragte er schließlich ängstlich mit schwacher Stimme. »Das ist das Blut«, antwortete sie endlich leise wie vor sich hin. »Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und zur Wand rückend. Nastasja sah ihn noch immer schweigend an. »Niemand hat die Wirtin geschlagen«, sagte sie wieder streng und bestimmt. Er sah sie an und atmete kaum. »Ich habe es selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich habe gesessen«, sagte er noch ängstlicher. »Ich habe lang zugehört ... Der Gehilfe des Revieraufsehers war hier ... Alle Leute aus allen Wohnungen waren auf der Treppe zusammengelaufen ...« »Niemand war hier. Es ist das Blut, das aus dir schreit. Wenn es keinen Ausweg hat und gerinnt, so kommt einem mancherlei vor ... Wirst du essen, wie?« Er gab keine Antwort. Nastasja stand noch immer vor ihm, sah ihn unverwandt an und ging nicht. »Gib mir zu trinken ... Nastasjuschka.« Sie ging hinunter und brachte nach zwei Minuten Wasser in einem weißen tönernen Becher; was weiter kam, erinnerte er sich nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch, wie er einen Schluck kalten Wassers getrunken und den Inhalt des Bechers auf die Brust verschüttet hatte. Dann wurde er bewußtlos. 3. III Man kann jedoch nicht sagen, daß er während seiner ganzen Krankheit bewußtlos geblieben wäre: es war ein fieberhafter Zustand mit Delirien und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammele sich um ihn eine Menge von Menschen, die ihn nehmen und irgendwohin forttragen wollten; als stritten und zankten sie sich seinetwegen. Bald sah er sich allein im Zimmer; alle sind weggegangen und fürchten sich vor ihm und öffnen nur zuweilen die Tür, um nach ihm zu sehen; sie drohen ihm, vereinbaren etwas unter sich, lachen und necken ihn. Er erkannte oft Nastasja in seiner Nähe; er unterschied auch noch einen anderen Menschen, der ihm bekannt vorkam, wer es aber war, darauf konnte er unmöglich kommen; er litt darunter und weinte sogar. Zuweilen schien es ihm, daß er schon seit einem Monat liege: zuweilen aber, es sei noch immer der gleiche Tag. Aber jenes hatte er vollkommen vergessen; dafür war er sich fortwährend bewußt, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen, – er zermarterte sich und quälte sich, indem er sich dessen zu erinnern bemühte, er stöhnte, ihn packte Raserei oder eine schreckliche, unerträgliche Angst. Dann wollte er aufstehen, wollte weglaufen, doch jemand hielt ihn jedesmal mit Gewalt zurück, und er fiel wieder in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit. Endlich kam er aber ganz zu sich. Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde pflegte die Sonne an heiteren Tagen immer einen langen Streifen auf seiner rechten Wand zu malen und die Ecke an der Tür zu beleuchten. Vor seinem Bette standen Nastasja und noch ein Mensch, der ihn sehr neugierig betrachtete und den er gar nicht kannte. Es war ein junger Bursche in einem langen Rock, mit kleinem Bärtchen, dem Aussehen nach ein Kontordiener. Durch die halbgeöffnete Tür blickte die Wirtin herein. Raskolnikow erhob sich. »Wer ist das, Nastasja?« fragte er, auf den Burschen zeigend. »Schau, er ist zu sich gekommen!« sagte sie. »Der Herr sind zu sich gekommen«, wiederholte der Kontordiener. Als die Wirtin, die hereinblickte, merkte, daß er zu sich gekommen war, schloß sie sofort die Tür und verschwand. Sie war immer schüchtern gewesen, und alle Gespräche und Auseinandersetzungen waren ihr eine Last; sie war gegen vierzig, sehr dick und fett, hatte schwarze Augen und schwarze Brauen und war vor lauter Dicke und Faulheit gutmütig; ihr Gesicht war gar nicht übel. Dabei war sie von einer übertriebenen Schamhaftigkeit. »Wer sind ... Sie?« fragte er weiter, sich an den Kontordiener selbst wendend. Doch im gleichen Augenblick wurde die Tür wieder weit geöffnet, und herein trat, ein wenig gebückt, da er sehr groß war, Rasumichin. »Diese Schiffskajüte!« rief er beim Eintreten. »Jedesmal stoße ich mit der Stirn an. Das nennt sich auch Wohnung! Du bist aber zu dir gekommen, Bruder? Ich habe es eben von Paschenjka 1 gehört.« »Eben ist er zu sich gekommen«, sagte Nastasja. »Eben sind der Herr zu sich gekommen«, bestätigte der Kontordiener mit einem Lächeln. »Wer sind Sie?« fragte ihn plötzlich Rasumichin. »Ich, zum Beispiel, sehen Sie, ich bin Wrasumichin, nicht Rasumichin, wie mich alle nennen, sondern Wrasumichin, Student, Sohn eines Adligen, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?« »Ich bin Diener in unserem Kontor, vom Kaufmann Schelopajew, ich komme in Geschäften.« »Setzen Sie sich, bitte, auf diesen Stuhl.« Rasumichin selbst setzte sich auf den anderen Stuhl, an der anderen Seite des Tischchens. »Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist«, fuhr er fort, sich an Raskolnikow wendend. »Den vierten Tag ißt und trinkst du fast nichts. Wirklich, man mußte dir Tee mit einem Löffelchen eingeben. Ich brachte zweimal Sossimow her. Kannst du dich an Sossimow erinnern? Er hat dich aufmerksam untersucht und gleich gesagt, daß es nichts von Belang sei, – das Blut sei dir irgendwie in den Kopf gestiegen. Irgendeine Dummheit mit den Nerven, die Ration war ungenügend, sagt er, du hättest zu wenig Bier und Meerrettich bekommen, daher auch die Krankheit; es mache aber nichts, alles werde schon gut werden. Ein tüchtiger Kerl dieser Sossimow! Er fängt an, glänzender Arzt zu werden. Nun, ich halte Sie aber auf,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie erklären, was Sie wünschen? Ich muß dir sagen, Rodja, daß man schon zum zweitenmal aus dem Kontor kommt; nur ist es das vorige Mal nicht dieser gewesen, sondern ein anderer, und ich habe mit dem anderen gesprochen. Wer war denn vor Ihnen dagewesen?« »Ich meine, es war vorgestern. Das war Alexej Ssemjonowitsch; er ist auch an unserem Kontor angestellt.« »Er wird wohl etwas tüchtiger sein als Sie, was meinen Sie?« »Jawohl, er ist wirklich etwas solider.« »Das ist lobenswert. Nun, fahren Sie fort.« »Sie bekommen durch unser Kontor von Afanassij Iwanowitsch Wachruschin, von dem Sie wohl mehr als einmal gehört haben, auf Wunsch Ihrer Frau Mama eine Geldüberweisung«, begann der Kontordiener, sich direkt an Raskolnikow wendend. »Falls Sie bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel einhändigen, da Ssemjon Ssemjonowitsch von Afanassij Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mama auf die gleiche Weise wie früher darüber benachrichtigt worden ist. Belieben Sie ihn zu kennen?« »Ja ... ich weiß ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikow nachdenklich. »Hören Sie: er kennt den Kaufmann Wachruschin!« schrie Rasumichin. »Und er sollte nicht bei Bewußtsein sein? Übrigens merke ich jetzt, daß auch Sie ein tüchtiger Mensch sind. Nun! Kluge Reden hört man gern.« »Ja, es stimmt, es ist von Wachruschin, Afanassij Iwanowitsch, auf Wunsch Ihrer Frau Mama, die Ihnen schon einmal auf die gleiche Weise Geld überwiesen hat; er hat es ihr auch diesmal nicht abgeschlagen und unseren Ssemjon Ssemjonowitsch von seiner Stadt aus beauftragt, Ihnen fünfunddreißig Rubel auszuzahlen, in Erwartung besserer Zeiten.« »Dieses ›in Erwartung besserer Zeiten‹ ist Ihnen am besten gelungen; auch das von der ›Frau Mama‹ ist nicht übel. Nun, wie glauben Sie, ist er bei vollem Bewußtsein oder nicht, wie?« »Mir kann es gleich sein. Wenn ich nur eine Quittung haben könnte.« »Die wird er schon hinkritzeln. Haben Sie ein Buch mit, wie?« »Jawohl, ein Buch, hier ist es.« »Geben Sie es her. Nun Rodja, steh etwas auf. Ich werde dich stützen; schreib ihm den Raskolnikow hin, nimm die Feder, denn wir brauchen jetzt das Geld dringender als Sirup, Bruder.« »Nicht nötig«, sagte Raskolnikow, die Feder von sich stoßend. »Was ist nicht nötig?« »Ich werde nicht unterschreiben.« »Pfui Teufel, das geht doch nicht ohne Unterschrift!« »Ich will ... das Geld nicht ...« »Das Geld willst du nicht? Nein, Bruder, das ist Unsinn, ich bin Zeuge! Achten Sie bitte nicht darauf, daß er schon wieder ... voyagiert. Das kommt bei ihm übrigens auch im wachen Zustande vor ... Sie sind ein vernünftiger Mensch, und wir wollen ihn leiten, das heißt einfach seine Hand leiten, dann wird er schon unterschreiben. Nun, fassen Sie an ...« »Ich kann übrigens auch ein anderes Mal kommen.« »Nein, nein, warum sollen Sie sich die Mühe machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mensch ... Nun, Rodja, halt den Gast nicht auf ... du siehst doch, er wartet.« Und er schickte sich ernsthaft an, Raskolnikows Hand zu führen. »Laß, ich will selbst ...« sagte jener, ergriff die Feder und setzte seine Unterschrift ins Buch. Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging. »Bravo! Und nun, Bruder, willst du essen?« »Ich will«, antwortete Raskolnikow. »Habt ihr Suppe?« »Von gestern«, antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte. »Mit Kartoffeln und Reis?« »Mit Kartoffeln und Reis.« »Das weiß ich auswendig. Bring's her, bring auch Tee.« »Ich bring es gleich.« Raskolnikow verfolgte alles mit tiefem Erstaunen und einer stumpfen, sinnlosen Angst. Er entschloß sich zu schweigen und zu warten: was wird wohl weiter kommen? »Ich glaube, es ist kein Fiebertraum,« dachte er sich, »mir scheint, es ist Wirklichkeit ...« Nach zwei Minuten kam Nastasja mit der Suppe und erklärte, daß gleich auch der Tee kommen würde. Zur Suppe brachte sie zwei Löffel, zwei Teller und alles, was dazu gehört: ein Salzfaß, eine Pfefferbüchse, Senf für das Fleisch und alles andere, in einer Ordnung, wie sie Raskolnikow schon lange nicht gesehen hatte. Das Tischtuch war sauber. »Es wäre nicht schlecht, Nastasjuschka, wenn Praskowja Pawlowna an die zwei Flaschen Bier kommandieren wollte. Wir trinken sie schon aus.« »Du bist mir gar zu fix!« brummte Nastasja und ging, den Befehl auszuführen. Raskolnikow fuhr fort, mit gespannten, beinahe wahnsinnigen Blicken zu beobachten. Rasumichin setzte sich indessen zu ihm aufs Sofa herüber, umfaßte so plump wie ein Bär mit der linken Hand seinen Kopf, obwohl er sich selbst erheben konnte, und führte mit der Rechten einen Löffel Suppe an seinen Mund, nachdem er vorher ein paarmal darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrühe. Die Suppe war aber nur lauwarm. Raskolnikow verschlang voll Gier erst einen Löffel, dann einen zweiten und einen dritten. Rasumichin hielt aber, nachdem er ihm einen Löffel gereicht hatte, plötzlich inne und erklärte, daß er sich wegen des ferneren mit Sossimow beraten müsse. Nastasja brachte zwei Flaschen Bier. »Willst du auch Tee?« »Ja.« »Bring mal schnell Tee her, Nastasja, denn Tee kann man ihm wohl auch ohne ein Fakultätsgutachten geben. Da ist aber auch das Bier!« Er setzte sich auf seinen Stuhl herüber, rückte die Suppe und das Fleisch zu sich heran und begann mit solchem Appetit zu essen, als hätte er seit drei Tagen nichts im Munde gehabt. »Ich esse jetzt jeden Tag hier bei euch zu Mittag, Rodja«, murmelte er, soweit es ihm sein mit Fleisch vollgestopfter Mund erlaubte. »Und das ist alles ein Werk Paschenjkas, deiner lieben Wirtin, sie bezeugt mir ihre Achtung von ganzem Herzen. Ich bestehe natürlich nicht darauf, protestiere aber auch nicht. Da kommt aber schon Nastasja mit dem Tee! Wie fix die ist! Nastenjka, willst du Bier?« »Zum Kuckuck!« »Und Tee?« »Tee – vielleicht.« »Schenk ein. Wart, ich schenk dir selbst ein; setz dich an den Tisch.« Er fing sofort zu wirtschaften an; er schenkte ein, schenkte dann auch noch eine zweite Tasse ein, ließ sein Essen stehen und setzte sich wieder aufs Sofa. Wie früher umschlang er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, hob ihn und fing an, ihm den Tee mit dem Löffelchen einzugeben, wobei er wieder fortwährend und besonders eifrig auf den Löffel blies, als liege in diesem Prozeß des Blasens das wichtigste und heilsame Moment der Genesung. Raskolnikow schwieg und wehrte sich nicht, obwohl er sich stark genug fühlte, um ohne fremde Hilfe aufzustehen und auf dem Sofa zu sitzen, vielleicht auch herumzugehen, und nicht nur, seine Hände so weit zu gebrauchen, um einen Löffel oder eine Tasse festhalten zu können. Aber aus einer seltsamen, beinahe tierischen Schlauheit heraus, kam ihm der Gedanke, vorderhand seine Kräfte zu verheimlichen, sich auf die Lauer zu legen; sich wenn nötig sogar so zu stellen, als verstünde er nichts, indessen aber zuzuhören und auszukundschaften, was eigentlich vorging. Übrigens konnte er seinen Widerwillen nicht zurückhalten: nachdem er an die zehn Löffel Tee getrunken hatte, befreite er plötzlich den Kopf, stieß den Löffel trotzig von sich und ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Unter seinem Kopf lagen jetzt wirklich Kissen, – richtige Daunenkissen mit sauberen Überzügen; das merkte er gleich und nahm es zur Kenntnis. »Paschenjka soll uns heute noch Himbeersaft schicken, damit wir ihm einen Trank bereiten«, sagte Rasumichin. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und machte sich an die Suppe und das Bier. »Wo soll sie dir denn den Himbeersaft hernehmen?« fragte Nastasja, indem sie die Untertasse auf fünf gespreizten Fingern hielt und den Tee »durch den Zucker« schlürfte. »Den Himbeersaft bekommt sie im Laden, mein Schatz. Siehst du, Rodja, als du noch bewußtlos warst, hat sich hier eine ganze Geschichte abgespielt. Als du in einer solchen verbrecherischen Weise von mir durchbranntest und mir deine Adresse nicht sagtest, packte mich solche Wut, daß ich beschloß, dich aufzusuchen und zu bestrafen. Am gleichen Tage machte ich mich ans Werk. Ich ging und ging und fragte und fragte. Deine jetzige Adresse hatte ich vergessen, ich hatte sie auch niemals gewußt. Und von deiner früheren Wohnung wußte ich nur, daß sie irgendwo an den Fünf Ecken im Hause Charlamow lag. Nun suchte und suchte ich dieses Charlamowsche Haus, und später zeigte es sich, daß es nicht von Charlamow, sondern von Buch war, – wie leicht kann man sich am Klange irren! Nun wurde ich böse. Ich wurde böse und ging am nächsten Tag auf gut Glück aufs polizeiliche Auskunftsbureau, und denk dir nur: in zwei Minuten hatten sie dich gefunden. Du bist dort eingetragen.« »Eingetragen?!« »Gewiß! Aber den General Kobeljow, den sie in meiner Gegenwart suchten, konnten sie unmöglich finden. Nun, davon könnte ich noch lange erzählen. Kaum war ich hier eingebrochen, als ich sofort alle deine Angelegenheiten kennen lernte; alles, Bruder, alles weiß ich jetzt; auch sie hat es gesehen: den Nikodim Fomitsch lernte ich kennen, auch den Ilja Petrowitsch zeigte man mir, den Hausknecht, den Herrn Samjotow, Alexander Grigorjewitsch, den Sekretär im hiesigen Polizeibureau und zuletzt Paschenjka – das war schon die Krone. Auch Nastasja weiß es ...« »Hat sich bei ihr eingeschmeichelt«, murmelte Nastasja mit einem verschmitzten Lächeln. »Tun Sie doch Zucker in Ihren Tee, Nastasja Nikiforojowna!« »Hör auf, Hund!« rief plötzlich Nastasja schier berstend vor Lachen. »Ich heiße Petrowna und nicht Nikiforojowna«, fügte sie hinzu, als sie aufgehört hatte zu lachen. »Das werden wir nach Gebühr schätzen. Also, Bruder, um es kurz zu sagen, – ich wollte hier zuerst einen elektrischen Strom loslassen, um alle Vorurteile in der hiesigen Gegend auf einmal auszurotten, aber Paschenjka hat gesiegt. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie so ... einnehmend sei ... wie? Nun, was meinst du?« Raskolnikow schwieg, obwohl er für keinen Augenblick seinen unruhigen Blick von ihm gewandt hatte und ihn auch jetzt noch starr ansah. »Und zwar sehr einnehmend«, fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch sein Schweigen aus der Fassung bringen zu lassen, als stimme er einer erhaltenen Antwort zu. »Und sogar in bester Ordnung, in jeder Beziehung.« »Ist das ein Kerl!« rief wieder Nastasja, der dieses Gespräch eine unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien. »Schlimm ist es, Bruder, daß du die Sache nicht gleich von Anfang an richtig angepackt hast. Mit ihr hättest du ganz anders verfahren sollen. Sie hat ja sozusagen einen ganz unberechenbaren Charakter! Doch vom Charakter später ... Aber wie hast du es nur so weit bringen können, daß sie zum Beispiel wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel das mit dem Wechsel? Bist du von Sinnen, daß du Wechsel unterschreibst! Oder zum Beispiel diese beabsichtigte Heirat, als ihre Tochter Natalja Jegorowna noch am Leben war ... Ich weiß alles! Übrigens sehe ich, daß es ein heikles Thema ist und daß ich ein Esel bin; entschuldige! Doch zum Kapitel Dummheit: wie glaubst du, Praskowja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie man es auf den ersten Blick annimmt, wie?« »Ja ...« sagte Raskolnikow durch die Zähne, auf die Seite blickend, doch einsehend, daß es für ihn vorteilhafter war, bei dem Thema zu bleiben. »Nicht wahr?« rief Rasumichin, sichtlich erfreut, daß man ihm geantwortet hatte. »Aber sie ist auch nicht klug, nicht wahr? Ein vollkommen, vollkommen unberechenbarer Charakter! Ich bin zum Teil selbst verwirrt, ich versichere dir ... Ihre Vierzig hat sie sicher. Sie spricht von sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens schwöre ich dir, daß ich sie mehr geistig, bloß metaphysisch beurteile; zwischen uns ist so ein Emblem entstanden, schwieriger als jede Algebra! Ich verstehe gar nichts! Das sind aber Dummheiten; doch als sie sah, daß du kein Student mehr bist, daß du keine Stunden und keinen Anzug mehr hast und daß sie dich nach dem Tode ihrer Tochter nicht mehr verwandtschaftlich zu behandeln braucht, bekam sie plötzlich Angst; und da du deinerseits dich in dein Schneckenhaus verkrochst und alles Frühere abbrachst, fiel es ihr ein, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Schon lange hatte sie diese Absicht, aber der Wechsel tat ihr leid. Zudem hattest du ja selbst versichert, daß deine Mama bezahlen wird ...« »Das sagte ich aus lauter Niedertracht ... Meine Mutter muß beinahe selbst betteln ... und ich log, damit sie mich in der Wohnung behält und ... verpflegt«, sagte Raskolnikow laut und deutlich. »Ja, das war vernünftig von dir. Die Sache war aber die, daß sie auf einen Herrn Tschebarow stieß, einen Hofrat und Geschäftsmann. Paschenjka hätte ohne seinen Rat nichts unternommen, denn sie ist gar zu schamhaft; der Geschäftsmann ist aber gar nicht schamhaft und stellte darum natürlich sofort die Frage: ist Hoffnung vorhanden, für den Wechsel Geld zu bekommen? Die Antwort lautete: es ist wohl Hoffnung vorhanden, denn es gibt eine solche Mama, die von ihren hundertfünfundzwanzig Rubeln Pension ihren lieben Rodja retten wird, selbst wenn sie verhungern müßte; außerdem gibt es noch ein Schwesterchen, das fürs Brüderchen jedes Joch auf sich nehmen wird. Darauf stützte er sich ... Was zappelst du? Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erforscht, nicht umsonst hast du alles selbst der Paschenjka ausgeplaudert, als du noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standst, ich aber sage dir das alles aus Liebe ... So ist es immer: der ehrliche und gefühlvolle Mensch erzählt offenherzig alle seine Geheimnisse, und der Geschäftsmann hört zu und verschlingt ihn zuletzt. So trat sie diesen Wechsel, angeblich gegen Bezahlung, diesem Tschebarow ab, und er klagte ihn in aller Form ein, genierte sich gar nicht. Als ich dies alles erfuhr, wollte ich ihm zur Beruhigung meines Gewissens auch einen Streich spielen, aber da entstand gerade zwischen mir und Paschenjka die Harmonie, und ich ließ diese ganze Affäre gleich im Keim unterdrücken, indem ich mich verbürgte, daß du zahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du es? Man ließ den Tschebarow kommen und gab ihm zehn Rubel, nahm ihm das Papierchen ab, und nun habe ich die Ehre, es Ihnen vorzulegen, – man glaubt Ihnen jetzt aufs Wort, – nehmen Sie es in Empfang, ich habe es, wie es sich gehört, eingerissen.« Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikow sah ihn an und wandte sich, ohne ein Wort zu sagen, zur Wand. Das machte selbst auf Rasumichin einen unangenehmen Eindruck. »Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Minute, »daß ich wieder ein Dummkopf war. Ich wollte dich nur zerstreuen und mit dem Geplauder unterhalten, habe aber, wie es scheint, deine Galle in Wallung gebracht.« »Warst du es, den ich im Fieber nicht erkennen konnte?« fragte Raskolnikow, ohne den Kopf zu wenden, nachdem auch er eine Weile geschwiegen hatte. »Ja, mich, und Sie gerieten sogar aus diesem Anlasse in Wut, besonders, als ich einmal Samjotow herbrachte.« »Samjotow? ... Den Sekretär? ... Wozu?« Raskolnikow wandte sich rasch um und bohrte seinen Blick in Rasumichin. »Was hast du bloß ... Was bist du so aufgeregt? Er wollte dich kennen lernen ... er äußerte selbst den Wunsch, denn wir hatten viel über dich gesprochen ... Von wem hätte ich denn sonst so viel über dich erfahren können? Ein reizender Bursche ist er, Bruder, ein wundervoller Mensch ... in seiner Art, versteht sich. Jetzt sind wir Freunde und sehen uns beinahe jeden Tag. Ich bin ja in das gleiche Revier gezogen. Weißt du es noch nicht? Soeben bin ich umgezogen. Zweimal war ich mit ihm bei der Lawisa. Erinnerst du dich noch an die Lawisa Iwanowna?« »Habe ich phantasiert?« »Das will ich meinen! Sie waren ganz bewußtlos.« »Worüber habe ich phantasiert?« »Mein Gott! Worüber du phantasiert hast? Man weiß doch, worüber ein Mensch phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit verlieren, zur Sache.« Er stand, vom Stuhle auf und griff nach seiner Mütze. »Worüber habe ich phantasiert?« »Wie er sich das in den Kopf gesetzt hat! Fürchtest du vielleicht, daß du ein Geheimnis ausgeplaudert hast? Beruhige dich: von der Gräfin hast du kein Wort gesagt. Aber von einer Bulldogge, und von Ohrringen, und von irgendwelchen Uhrketten, und von der Krestowskij-Insel, und von einem Hausknecht, und von Nikodim Fomitsch, und von Ilja Petrowitsch, dem Gehilfen des Revieraufsehers, wurde viel gesprochen. Außerdem haben Sie ein außerordentliches Interesse für Ihren eigenen Strumpf gezeigt, ein außerordentliches! Sie jammerten immer: Gebt mir den Strumpf her. Samjotow suchte die Strümpfe in allen Ecken und reichte Ihnen dieses Lumpenzeug mit seinen eigenen, in Parfüm gewaschenen, mit Ringen geschmückten Händchen. Dann erst beruhigten Sie sich und hielten dieses Lumpenzeug einen ganzen Tag und eine ganze Nacht so fest, daß man es Ihnen gar nicht entreißen konnte. Wahrscheinlich liegt es auch jetzt noch irgendwo unter deiner Decke. Außerdem batst du um Fransen für deine Hose, und zwar mit Tränen! Wir fragten dich immer, was das für Fransen seien. Aber man konnte nichts verstehen ... Also, zur Sache. Hier sind fünfunddreißig Rubel; ich nehme zehn davon mit und werde so in zwei Stunden Rechenschaft darüber abgeben. Inzwischen werde ich auch Sossimow benachrichtigen, obwohl er schon längst hätte hier sein sollen, denn es ist bald zwölf. Und Sie Nastenjka, schauen Sie bitte öfters in meiner Abwesenheit nach, für den Fall, daß er zu trinken oder sonst etwas verlangt ... Der Paschenjka werde ich gleich selbst alles Nötige sagen. Auf Wiedersehen!« »Paschenjka nennt er sie! Ach, du schlaue Fratze!« rief ihm Nastasja nach; dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen; doch sie hielt es nicht aus und lief auch selbst hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der Wirtin wohl sprechen mochte; überhaupt schien sie von Rasumichin ganz bezaubert zu sein. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als der Kranke die Decke von sich warf und wie wahnsinnig vom Lager sprang. Er hatte mit brennender, krampfhafter Ungeduld gewartet, daß sie schneller fortgingen, damit er sich sofort ans Werk machen könne. Doch was war das für ein Werk? – das hatte er jetzt wie zum Trotz vergessen. »Herr! Sag mir nur das eine; wissen sie alles, oder wissen sie es noch nicht? Und wenn sie es schon wissen und sich nur so verstellen und mich necken, solange ich liege, dann aber plötzlich herkommen und sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie nur so ... Was soll ich jetzt anfangen? Nun hab ich's wie zum Trotz vergessen; plötzlich habe ich es vergessen, obwohl ich es eben noch wußte! ...« Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Ratlosigkeit um sich; er ging zur Tür, machte sie auf und horchte hinaus; dies war es aber nicht. Plötzlich stürzte er, als hätte er sich nun an alles erinnert, zur Ecke, wo unter der Tapete das Loch war, sah sich alles genau an, steckte die Hand ins Loch und suchte; das war es aber nicht. Dann ging er zum Ofen, machte die Tür auf und begann in der Asche zu wühlen; die Fetzen der Franse von der Hose und der zerrissenen Tasche lagen noch immer so da, wie er sie damals hineingeworfen hatte: also hat niemand nachgesehen! Jetzt fiel ihm der Strumpf ein, von dem Rasumichin eben erzählt hatte. Wirklich, da liegt er auf dem Sofa unter der Decke, ist aber so abgetragen und beschmutzt, daß Samjotow natürlich nichts hat merken können. »Ach ja, Samjotow! ... Das Polizeibureau! ... Wozu ruft man mich aufs Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Ach ja, ich habe es verwechselt: man hat mich damals geladen! Auch damals hatte ich den Strumpf untersucht, aber jetzt ... jetzt war ich krank. Wozu war aber Samjotow hier? Warum hat ihn Rasumichin hergebracht? ...« stammelte er kraftlos, sich wieder auf das Sofa setzend. »Was ist denn das? Phantasiere ich noch immer, oder ist das die Wirklichkeit? Ich glaube, es ist die Wirklichkeit ... Ah, jetzt weiß ich es: Fliehen! So schnell als möglich fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Aber ... wohin? Wo sind meine Kleider? Meine Stiefel sind nicht da! Sie haben sie weggeräumt! Versteckt! Ich verstehe! Aber den Mantel da haben sie übersehen! Da liegt auch das Geld auf dem Tisch, Gott sei Dank! Da ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, nehme mir eine andere Wohnung, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das polizeiliche Auskunftsbureau? Sie finden mich! Rasumichin wird mich schon finden. Besser wäre es, ganz zu entfliehen ... weit weg ... nach Amerika, und ich spucke auf sie! Und auch den Wechsel nehme ich mit ... den kann ich dort brauchen. Was soll ich noch mitnehmen? Sie glauben, ich sei krank! Sie wissen gar nicht, daß ich gehen kann, ha, ha, ha! Ich habe es ihren Augen angesehen, daß sie alles wissen! Wenn ich nur die Treppe hinuntergehen könnte! Wenn sie aber dort Posten stehen haben, Polizisten! Was ist das, Tee? Ah, da ist ja auch noch Bier übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!« Er ergriff die Flasche, in der noch ein ganzes Glas geblieben war, und trank es mit Genuß auf einen Zug aus, als wollte er das Feuer in seiner Brust löschen. Doch schon nach einer Minute stieg ihm das Bier zu Kopfe, und ein leichtes, sogar angenehmes Frösteln lief ihm über den Rücken. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine schon ohnehin kranken und zusammenhanglosen Gedanken gerieten immer mehr durcheinander, und bald bemächtigte sich seiner ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit Wohlgefühl suchte er mit dem Kopfe eine recht bequeme Stelle auf dem Kissen, hüllte sich fester in die weiche wattierte Decke, die er jetzt statt des alten zerrissenen Mantels hatte, seufzte leise auf und fiel in einen tiefen, festen, heilsamen Schlaf. Er erwachte, als er jemand eintreten hörte; er schlug die Augen auf und erblickte Rasumichin, der die Tür weit geöffnet hatte und auf der Schwelle stand, ohne sich entschließen zu können, ob er eintreten solle oder nicht. Raskolnikow setzte sich schnell auf und sah ihn an, als bemühte er sich, auf etwas zu kommen. »Ach so, du schläfst nicht, da bin ich! Nastasja, schlepp mal den Pack herein!« rief Rasumichin hinunter. »Gleich bekommst du die Abrechnung ...« »Wie spät ist es?« fragte Raskolnikow, unruhig um sich blickend. »Du hast fein geschlafen, Bruder; es ist schon dunkel draußen, sechs wird es sein. Über sechs Stunden hast du geschlafen ...« »Mein Gott! Was war bloß mit mir?! ...« »Warum denn? Wohl bekomm's! Was hast du solche Eile? Willst du vielleicht zu einem Stelldichein? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte schon seit drei Stunden; zweimal war ich hier, und du hast immer geschlafen. Ich war auch zweimal bei Sossimow: er ist nicht zu Hause, nichts zu machen! Das tut aber nichts, er wird schon kommen! ... Auch in eigenen Angelegenheiten war ich fort. Heute bin ich doch umgezogen, ganz umgezogen, mit meinem Onkel. Ich habe jetzt einen Onkel bei mir ... Na ja, hol's der Teufel! Zur Sache ... Gib den Pack her, Nastenjka. Gleich werden wir ... Und wie fühlst du dich, Bruder?« »Ich bin gesund; gar nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange hier?« »Ich sage dir ja, daß ich seit drei Stunden warte.« »Nein, früher?« »Was früher?« »Seit wann kommst du hierher?« »Ich habe es dir doch vorhin erzählt; hast du es schon vergessen?« Raskolnikow wurde nachdenklich. Was er soeben erlebt, sah er jetzt wie im Traume. Er konnte sich ohne fremde Hilfe nicht erinnern und sah Rasumichin fragend an. »Hm!« sagte jener. »Du hast es vergessen. Mir kam es schon früher vor, daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt ... Wirklich, du siehst bedeutend besser aus. Das ist brav! Nun gut, zur Sache! Gleich wirst du dich an alles erinnern. Schau mal her, mein Lieber.« Er begann den Pack aufzubinden, für den er sich sichtlich sehr interessierte. »Das lag mir besonders am Herzen, Bruder. Denn man muß doch aus dir einen Menschen machen. Also fangen wir an, und zwar von oben. Siehst du diese Mütze?« sagte er, indem er aus dem Pack eine recht hübsche, zugleich aber auch sehr gewöhnliche und billige Mütze hervorholte. »Darf ich sie dir anprobieren?« »Nachher, später«, sagte Raskolnikow, sich wie angeekelt wehrend. »Nein, Bruder Rodja, wehre dich nicht, nachher wird es zu spät sein; ich werde auch die ganze Nacht nicht einschlafen, weil ich sie ohne Maß, aufs Geratewohl gekauft habe. Wie angegossen!« rief er feierlich, nachdem er ihm die Mütze anprobiert hatte. »Wie auf Maß! Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Bestandteil der Kleidung, sozusagen eine Empfehlung. Mein Freund Tolstjakow muß jedes Mal seinen Deckel abnehmen, wenn er an einen öffentlichen Ort kommt, wo alle anderen in Hüten und Mützen stehen. Alle glauben, er täte es aus sklavischer Gesinnung, er tut es aber nur, weil er sich seines Vogelnestes schämt; er ist mal so schamhaft! Nun, Nastenjka, hier sehen Sie zwei Kopfbedeckungen; diesen Palmerston (er holte aus einer Ecke den zerbeulten runden Hut Raskolnikows, den er aus unbekanntem Grunde Palmerston nannte) und dieses Juweliererzeugnis; welche gefällt Ihnen besser? Taxiere mal, Rodja, was glaubst du, daß ich bezahlt habe? Nastasjuschka?« wandte er sich an sie, als er sah, daß Raskolnikow schwieg. »Zwanzig Kopeken wirst du wohl bezahlt haben«, antwortete Nastasja. »Zwanzig Kopeken – dumme Gans!« rief er gekränkt. »Heutzutage kauft man selbst dich nicht für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe ich gegeben! Und das auch nur, weil sie getragen ist. Allerdings mit der Bedingung: wenn du diese abträgst, bekommst du im nächsten Jahre eine andere umsonst, bei Gott! Schreiten wir nun zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wie man dieses Kleidungsstück bei uns im Gymnasium nannte. Das sage ich gleich: auf die Hosen bin ich stolz!« Und er breitete vor Raskolnikow eine graue Hose aus leichtem wollenen Sommerstoff aus. – »Kein Löchelchen, kein Fleckchen, dabei ist sie aber noch sehr anständig, wenn auch getragen; dazu eine ebensolche Weste von der gleichen Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß die Sachen getragen sind, ist, offen gestanden, besser: sie sind weicher und zarter ... Siehst du, Rodja, um in dieser Welt Karriere zu machen, genügt es, meiner Meinung nach, stets die Saison zu beobachten: wenn du im Januar keinen Spargel verlangst, so bleiben dir ein paar Rubel im Beutel zurück; so verhält es sich auch mit diesem Kauf. Jetzt ist die Sommersaison, und ich habe euch einen Sommerkauf gemacht, denn die Herbstsaison wird sowieso einen wärmeren Stoff verlangen, und so wird man es wegwerfen müssen ... um so mehr, als dies alles bis dahin ganz von selbst zerfallen wird, und wenn nicht alle erhöhter Prunksucht, so aus innerer Zerrüttung. Nun taxiere es einmal! Wieviel glaubst du? Zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken! Und merk es dir, wieder mit derselben Bedingung: wenn du diese Hose abgetragen hast, bekommst du im nächsten Jahre eine neue umsonst! Im Laden Fedjajews werden die Sachen nur so verkauft: wenn du einmal bezahlt hast, so gilt das fürs ganze Leben, denn ein zweites Mal gehst du selbst nicht hin. Nun, jetzt zu den Stiefeln, – wie gefallen sie dir? Man sieht wohl, daß sie getragen sind, aber an die zwei Monate werden sie noch halten, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware: der Sekretär der englischen Botschaft hat sie in der vorigen Woche auf dem Trödelmarkte verkauft; bloß sechs Tage hat er sie getragen, brauchte aber dringend Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ein guter Kauf?« »Vielleicht passen sie ihm gar nicht!« bemerkte Nastasja. »Sie passen nicht! Und was ist das?« Er zog aus der Tasche den alten, eingeschrumpften, ganz mit trockenem Schmutz bedeckten durchlöcherten Stiefel Raskolnikows. »Ich bin mit einem Muster hingegangen, und man hat mir nach diesem Ungeheuer das richtige Maß rekonstruiert. Diese Angelegenheit habe ich mit Liebe behandelt. Und was die Wäsche betrifft, so habe ich mit der Wirtin gesprochen. Hier sind erstens drei leinene Hemden, doch mit modernem Einsatz ... Also: achtzig Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrige Kleidung, macht drei Rubel fünf Kopeken; ein Rubel fünfzig die Stiefel – weil sie gar so gut sind, – macht vier Rubel fünfundfünfzig Kopeken und fünf Rubel die ganze Wäsche – wir haben sie engros gekauft, – alles in allem neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest von fünfundvierzig Kopeken in kupfernen Fünfkopekenstücken überreiche ich Ihnen hiermit. So ist nun, Rodja, deine ganze Kleidung instand gesetzt, denn dein Mantel kann, wie ich glaube, nicht nur weiterdienen, sondern sieht sogar noch besonders vornehm aus: ja, wenn man bei Scharmer arbeiten läßt! Was die Strümpfe und das übrige betrifft, so überlasse ich es dir selbst; an Geld sind uns noch fünfundzwanzig Rubel geblieben, aber wegen Paschenjka und der Miete kannst du unbesorgt sein; ich sagte dir ja: dein Kredit ist unbeschränkt. Jetzt aber erlaube, daß ich dir die Wäsche wechsele, Bruder, denn deine Krankheit sitzt jetzt vielleicht nur noch im Hemde ...« »Laß ab, ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikow, der mit Widerwillen den geschraubt-scherzhaften Bericht Rasumichins über den Einkauf der Kleider gehört hatte ... »Nein, Bruder, das geht nicht: warum habe ich mir die Sohlen abgelaufen!« drang. Rasumichin in ihn. – »Nastasjuschka, schämen Sie sich nicht, sondern helfen Sie, ja so!« Trotz des Widerstandes Raskolnikows wechselte er ihm die Wäsche. Jener fiel auf die Kissen und sprach an die zwei Minuten kein Wort. »Jetzt lassen Sie mich lange nicht in Ruhe!« dachte er. »Von welchem Gelde ist das alles gekauft?« fragte er endlich, auf die Wand blickend. »Von welchem Geld? Hat man so was gehört! Doch von deinem eigenen. Vorhin war der Kontordiener hier, von Wachruschin, deine Mama hat es dir geschickt, oder hast du auch das vergessen?« »Jetzt erinnere ich mich ...«, sagte Raskolnikow nach langem, mürrischem Schweigen. Rasumichin sah ihn besorgt mit gerunzelter Stirn an. Die Tür ging auf, und herein trat ein großer, kräftiger Mann, der Raskolnikow schon irgendwie bekannt vorkam. »Sossinow! Endlich!« rief Rasumichin erfreut. Fußnoten 1 Koseform von Praskowja (so heißt die Wirtin). D. Übers. 4. IV Sossimow war ein großer, dicker Mann mit einem gedunsenen, farblos-blassen, glattrasierten Gesicht und hellblonden schlichten Haaren, mit einer Brille auf der Nase und einem großen goldenen Ring an einem vom Fett geschwollenen Finger. Er war an die siebenundzwanzig. Er trug einen weiten, eleganten, leichten Mantel und eine helle Sommerhose, und alles an ihm war weit, elegant und nagelneu; die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv. Seine Gebärden waren langsam, beinahe träge, zugleich aber von einer genau berechneten Ungezwungenheit; Prätensionen, die er übrigens mit Mühe zu verbergen suchte, kamen jeden Augenblick zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, hielten ihn für einen schwer zu behandelnden Menschen, sagten aber, daß er seine Sache verstehe. »Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich gekommen!« rief Rasumichin. »Ich sehe es, ich sehe es, nun, wie fühlen wir uns jetzt, he?« wandte sich Sossimow an Raskolnikow, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich zu ihm ans Fußende des Sofas setzte, wo er es sich sofort nach Möglichkeit bequem machte. »Er fängt immer Grillen«, fuhr Rasumichin fort. »Als wir ihm eben die Wäsche wechselten, weinte er beinahe.« »Es ist begreiflich; die Wäsche hätte man ihm auch später wechseln können, wenn er es verlangte. Der Puls ist ausgezeichnet. Der Kopf tut wohl immer noch etwas weh, wie?« »Ich bin gesund, ich bin vollkommen gesund!« sagte Raskolnikow hartnäckig und gereizt, indem er sich plötzlich vom Sofa erhob und mit den Augen blitzte; gleich darauf fiel er wieder auf das Kissen zurück und wandte sich zur Wand. Sossimow beobachtete ihn aufmerksam. »Sehr gut ... alles in Ordnung«, versetzte er träge. »Hat er was gegessen?« Man berichtete es ihm und fragte, was man ihm geben dürfe. »Alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken natürlich nicht; auch kein Fleisch und ... was ist da noch viel zu reden! ...« Er wechselte mit Rasumichin einen Blick. »Die Arznei fällt weg, und alles fällt weg; morgen schau ich nach ... Eigentlich hätte ich auch heute ... na, ja ...« »Morgen abend führe ich ihn spazieren!« beschloß Rasumichin, »In den Jussupow-Garten, und dann gehen wir ins ›Palais de Cristal‹.« »Morgen würde ich ihn noch in Ruhe lassen, doch übrigens ein wenig ... na, wir werden schon sehen.« »So ärgerlich: gerade heute feiere ich meine Übersiedlung, es sind nur zwei Schritte von hier; wenn er doch auch zu mir kommen könnte! Er könnte wenigstens auf dem Sofa zwischen uns liegen! Und du, wirst du kommen?« wandte sich Rasumichin plötzlich an Sossimow. »Vergiß es nicht, du hast versprochen.« »Vielleicht, aber wahrscheinlich später. Was hast du hergerichtet?« »Nichts besonderes: Tee, Schnaps, Hering. Eine Pastete wird es auch geben; es werden nur meine Freunde dabei sein.« »Wer denn?« »Lauter Hiesige und lauter Neue, – ausgenommen den alten Onkel, aber auch der ist neu: ist erst gestern nach Petersburg in irgendwelchen Angelegenheiten gekommen; wir sehen uns einmal in fünf Jahren.« »Was ist er?« »Er hat sein ganzes Leben als Postmeister in einer Kreisstadt vegetiert ... bekommt eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, was soll ich noch viel erzählen ... Übrigens habe ich ihn gern. Auch Porfirij Ssemjonowitsch wird kommen, der Untersuchungsrichter dieses Bezirks ... hat die Hochschule für Rechtswissenschaft absolviert. Du kennst ihn ja ...« »Ist er auch ein Verwandter von dir?« »Ein ganz entfernter; warum rümpfst du die Nase? Weil ihr euch einmal gezankt habt, so wirst du vielleicht nicht kommen?« »Ich pfeife auf ihn ...« »Das ist auch das beste. Außerdem kommen Studenten, ein Lehrer, ein Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Samjotow ...« »Sag mir bitte, was kann es zwischen dir oder dem da«, Sossimow wies mit einer Kopfbewegung auf Raskolnikow, »und einem Samjotow Gemeinsames geben?« »Ach, diese Überempfindlichen! Diese Prinzipien! ... du sitzt auf deinen Prinzipien wie auf Sprungfedern und wagst gar nicht, dich nach eigenem Willen zu rühren. Ich frage nur, ob der Mensch gut ist, – das ist mein Prinzip, und ich will nichts anderes hören. Samjotow ist ein Prachtmensch.« »Und schert sein Schäfchen.« »Ja, und schert sein Schäfchen, doch ich pfeife drauf: Was macht's, daß er sein Schäfchen schert?!« rief plötzlich Rasumichin unnatürlich gereizt. »Habe ich ihn dir deswegen gelobt, weil er sein Schäfchen schert? Ich habe nur gesagt, daß er in seiner Art gut ist! Wenn man einen jeden in jeder Beziehung genau betrachtet, – bleiben dann noch viele gute Menschen übrig? Ich bin überzeugt, daß man dann für mich mit meinem ganzen Gekröse höchstens eine gebackene Zwiebel geben wird, und das auch nur, wenn man dich als Zugabe kriegt! ...« »Das ist zu wenig; ich gebe für dich auch zwei Zwiebeln ...« »Aber ich für dich nur eine! Laß deine Witze! Samjotow ist noch ein grüner Junge, ich werde ihm noch oft die Haare raufen, denn man muß ihn zu gewinnen suchen und nicht abstoßen. Wenn man einen Menschen abstößt, so macht man ihn nicht besser, am wenigsten so einen grünen Jungen. Mit einem grünen Jungen muß man doppelt so vorsichtig sein. Ihr fortschrittlichen Schwachköpfe versteht gar nichts! Ihr achtet den Menschen nicht und beleidigt euch selbst ... und wenn du es durchaus wissen willst, so arbeiten wir jetzt an einer gemeinsamen Sache.« »Das möchte ich gerne wissen.« »Es ist immer noch die Sache mit dem Maler, das heißt, mit dem Anstreicher ... Wir werden ihn schon freikriegen! Übrigens ist er jetzt außer Gefahr. Die Sache ist nun ganz klar! Wir wollen bloß etwas nachschüren.« »Was ist das für ein Anstreicher?« »Wie, habe ich es denn noch nicht erzählt? Wirklich nicht? Ja, ich habe dir bloß den Anfang erzählt ... das von der Ermordung der alten Pfandleiherin, der Beamtenwitwe ... nun ist jetzt auch der Anstreicher verwickelt ...« »Von diesem Morde habe ich schon früher gehört und interessiere mich sehr für diesen Fall ... teilweise ... aus einem gewissen Grunde ... habe auch in den Zeitungen darüber gelesen! Und nun ...« »Auch die Lisaweta hat man ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus, sich an Raskolnikow wendend. Sie war die ganze Zeit über im Zimmer geblieben, in die Ecke neben der Tür gelehnt, und hatte zugehört. »Lisaweta?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar. »Lisaweta, die Händlerin, kennst du sie nicht? Sie kam oft in die Wohnung unten. Hat dir auch mal ein Hemd ausgebessert.« Raskolnikow wandte sich zur Wand, suchte sich auf der schmutzigen gelben Tapete mit den weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Streifchen aus und begann sie zu studieren: wieviel Blätter sie habe, wie die Blätter gezackt und wieviel Streifchen da seien? Er fühlte, daß ihm die Arme und Beine erstarrt waren, als wären sie gelähmt, aber er versuchte nicht mal, sich zu rühren, und blickte hartnäckig auf die Blume. »Also was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimow mit einem eigentümlichen Mißvergnügen Nastasjas Geschwätz. Jene seufzte und verstummte. »Auch er ist unter die Mörder gekommen!« fuhr Rasumichin mit großem Feuer fort. »Hat man irgendwelche Beweise?« »Den Teufel auch, Beweise! Übrigens stützt man sich auf einen Beweis, doch der Beweis ist gar kein Beweis, und das soll jetzt nachgewiesen werden! Es ist genau so, wie man zuerst diese, wie heißen sie noch ... Koch und Pestrjakow verhaftet und verdächtigt hatte. Ekelhaft! Wie dumm wird das alles gemacht, selbst einen Unbeteiligten widert es an! Pestrjakow wird vielleicht heute auch zu mir kommen ... Rodja, du kennst übrigens die ganze Geschichte, sie passierte noch vor deiner Erkrankung, gerade einen Tag, bevor du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als man dort darüber redete ...« Sossimow blickte Raskolnikow neugierig an; jener rührte sich nicht. »Weißt du was, Rasumichin? Wenn ich dich anschaue, muß ich staunen: wie du dich in alles hineinmischst«, bemerkte Sossimow. »Mag sein, aber wir werden ihn doch freibekommen!« rief Rasumichin aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Weißt du, was mich daran am meisten ärgert? Nicht das, daß sie lügen; das Lügen kann man immer entschuldigen; das Lügen ist sogar sympathisch, denn es führt zur Wahrheit. Nein, ärgerlich ist, daß sie lügen und ihr eigenes Lügen vergöttern. Ich achte den Porfirij, aber ... Was hat sie zum Beispiel gleich am Anfang so konfus gemacht? Die Tür war verschlossen, als sie aber mit dem Hausknecht kamen, war sie offen; daraus folgt, daß Koch und Pestrjakow den Mord begangen haben. Das ist ihre ganze Logik.« »Ereifere dich nicht so; man hat sie einfach festgenommen; es geht doch nicht anders ... Übrigens bin ich mit diesem Koch schon mal zusammengekommen; wie es sich herausstellte, pflegte er von der Alten die verfallenen Pfänder zu kaufen! Wie gefällt dir das?« »Ja, er scheint ein Gauner zu sein! Er kauft auch Wechsel auf. So ein Industrieritter. Hol ihn der Teufel! Weißt du, worüber ich mich ärgere? Über ihre alte, banale, verschimmelte Routine ... Und doch kann man an diesem einen Fall einen ganz neuen Weg entdecken. Man kann auf Grund der psychologischen Daten allein zeigen, wie man die richtige Spur finden kann. ›Wir haben Tatsachen!‹ sagen sie. Die Tatsachen sind aber noch nicht alles; mindestens die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit diesen Tatsachen umzugehen versteht!« »Nun, und verstehst du mit Tatsachen umzugehen?« »Ja, man kann doch nicht schweigen, wenn man fühlt, ganz deutlich fühlt, daß man helfen könnte, wenn ... Ach, ja! Kennst du die Sache mit allen Einzelheiten?« »Ich warte immer, daß du mir vom Anstreicher erzählst.« »Ja, richtig. Hör also die Geschichte. Genau am dritten Tag nach dem Morde, am Morgen, als sie sich dort mit dem Koch und Pestrjakow abgaben – obwohl diese jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, die Augenscheinlichkeit schreit zum Himmel! – erfährt man plötzlich eine ganz unerwartete Tatsache. Ein gewisser Bauer Duschkin, Besitzer einer Schenke im Hause gegenüber, kommt ins Polizeibureau, bringt ein Etui mit goldenen Ohrringen und erzählt einen ganzen Roman: ›Da kam zu mir gestern abend, so bald nach acht Uhr‹ – er gibt also Tag und Stunde an! merk sie dir! – ›ein Anstreicher, der auch schon früher untertags bei mir eingekehrt war, namens Mikolai und brachte mir diese Schachtel mit den goldenen Ohrringen und Steinen und bat mich, ihm zwei Rubel darauf zu leihen; und auf meine Frage, wo er es hergenommen hatte, erklärte er, er hätte es auf dem Trottoir gefunden. Mehr habe ich ihn darüber nicht ausgefragt‹ – das sagt dieser Duschkin! – ›ich gab ihm eine Banknote‹ – das heißt einen Rubel – ›denn ich sagte mir, wenn ich's nicht nehme, so versetzt er es bei wem anders, jedenfalls vertrinkt er es; soll die Sache besser bei mir liegen: je weiter man ein Ding versteckt, um so leichter kriegt man's wieder; wenn aber was geschieht oder Gerüchte aufkommen, so bring ich's zur Polizei.‹ Das war natürlich nur so ein Großmuttermärchen, er lügt wie ein Pferd; diesen Duschkin kenne ich ja: er ist selbst Pfandleiher und Hehler und hat diesen Gegenstand, der seine dreißig Rubel wert ist, dem Mikolai nicht dazu abgeschwindelt, um ihn an die Polizei abzuliefern. Er hat einfach Angst bekommen. Hol ihn der Teufel, hör weiter. Dieser Duschkin fährt also fort: ›Jenen Bauer Mikolai Dementjew kenne ich aber von Kind auf, er stammt aus dem gleichen Gouvernement und aus dem gleichen Saraisker Kreise, denn wir sind beide aus dem Rjasanschen. Mikolai ist zwar kein Säufer, trinkt aber ab und zu, und es war mir bekannt, daß er in diesem selben Hause mit dem Mitrej Anstreicherarbeiten machte, und Mitrej ist aus der gleichen Gegend wie er. Und als er die Banknote bekam, ließ er sie sich sofort wechseln, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den Rest und ging; den Mitrej habe ich aber damals mit ihm nicht gesehen. Und am nächsten Tage hörte ich, daß man die Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna mit einer Axt erschlagen hat; ich habe sie gekannt, und da kamen mir Zweifel wegen der Ohrringe, denn es war mir bekannt, daß die Selige Geld gegen Pfänder auslieh. Ich ging zu ihnen ins Haus und fing an, vorsichtig auszuforschen; vor allen Dingen fragte ich, ob Mikolai da sei. Mitrej sagte mir, daß Mikolai zu bummeln angefangen habe; er sei bei Tagesanbruch betrunken heimgekommen, an die zehn Minuten zu Hause geblieben und dann wieder fortgegangen; Mitrej hätte ihn nicht mehr gesehen und die Arbeit allein fertiggemacht. Sie arbeiteten aber im ersten Stock an der gleichen Treppe, an der die Ermordeten wohnten. Nachdem ich dieses alles gehört hatte, sagte ich keinem Menschen etwas davon‹ – sagt Duschkin. ›Ich habe aber alles, was ich nur konnte, über den Mord erfahren und bin dann mit dem gleichen Zweifel heimgegangen. Und heute früh, um acht Uhr,‹ das heißt also auf den dritten Tag, verstehst du das? – ›kommt zu mir Mikolai; er ist nicht ganz nüchtern, doch auch nicht sehr betrunken, und versteht gut, was man zu ihm spricht. Er setzt sich auf eine Bank und schweigt. Außer ihm war aber damals in der Schenke ein einziger fremder Mann, und ein zweiter Mann, den ich kannte, schlief auf der Bank, und zwei von meinen Jungen waren dabei. – »Hast du den Mitrej gesehen?« frage ich ihn. »Nein,« sagt er, »ich habe ihn nicht gesehen.« »Warst du auch nicht hier?« – »Nein,« sagt er, »seit vorgestern war ich nicht mehr hier.« – »Und wo hast du heute übernachtet?« – »Auf den Pjeski,« sagt er, »bei Bekannten aus Kolomna.« – »Und wo hast du«, frage ich, »die Ohrringe hergenommen?« – »Auf dem Trottoir habe ich sie gefunden.« Dies sagt er so, daß ich ihm nicht recht glauben kann, auch sieht er mich nicht an. »Hast du gehört,« sage ich, »daß an jenem selben Abend und zur selben Stunde dies und dies geschehen ist?« – »Nein,« sagt er, »ich habs nicht gehört«, und er hört mit weit aufgerissenen Augen zu und ist plötzlich weiß wie Kreide. Während ich es ihm erzähle, sehe ich, wie er nach der Mütze greift. Da wollte ich ihn aufhalten. »Wart, Mikolai,« sage ich ihm, »trinkst du denn nichts?« Und ich gab dem Jungen einen Wink, daß er die Tür schließt, aber wie ich hinter dem Schanktische herauskomme, springt er auf und rennt auf die Straße und dann in die Quergasse und ist weg. Nun gab ich meinen Zweifel auf, denn es ist sicher sein Werk‹ ...« »Das will ich meinen! ...« sagte Sossimow. »Wart'! Hör das Ende! Natürlich machte man sich sofort auf die Suche nach dem Mikolai; den Duschkin nahm man fest und hielt eine Haussuchung bei ihm ab; auch den Mitrej verhaftete man; die Leute aus Kolomna nahm man ins Gebet. Da bringt man vorgestern plötzlich den Mikolai; man hat ihn in einer Herberge an der Stadtgrenze aufgegriffen. Er war hingekommen, hatte sich sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und für das Kreuz ein Glas Schnaps verlangt. Man gab es ihm. Etwas später ging die Frau in den Kuhstall und sah durch einen Spalt: im Schuppen neben dem Kuhstall hat er seinen Gürtel an einen Balken gebunden und eine Schlinge gemacht; er steht auf einem Klotz und will sich die Schlinge um den Hals legen; die Frau erhob ein Geschrei, und die Leute liefen zusammen. ›So einer bist du also!‹ – ›Führt mich‹, sagt er, ›auf das und das Polizeirevier, ich werde alles bekennen.‹ Nun schaffte man ihn mit den gebührenden Ehren auf das betreffende Polizeirevier, das heißt hierher. Dies und jenes, wie alt – ›zweiundzwanzig‹, und so weiter. Frage: ›Als du mit Mitrej im Hause gearbeitet hast, hast du da nicht um die und die Stunde jemand auf der Treppe gesehen?‹ Antwort: ›Gewiß, es sind verschiedene Menschen vorbeigegangen, aber wir merken uns so was nicht.‹ – ›Habt ihr nicht einen Lärm oder dergleichen gehört?‹ – ›Nein, wir haben nichts Besonderes gehört.‹ – ›Nun, und war es dir bekannt, Mikolai, daß man am selben Tage die und die Witwe um die und die Stunde samt ihrer Schwester ermordet und ausgeplündert hat?‹ – ›Ich habe nichts davon gewußt, hab es erst von Afanassij Pawlowitsch am dritten Tag in der Schenke gehört.‹ – ›Und wo hast du die Ohrringe her?‹ – ›Auf dem Trottoir gefunden.‹ – ›Warum bist du nicht am anderen Tage mit Mitrej zur Arbeit gekommen?‹ – ›Weil ich gebummelt habe.‹ – ›Wo hast du gebummelt?‹ – ›Da und da.‹ – ›Warum bist du von Duschkin weggelaufen?‹ – ›Weil ich sehr erschrocken war.‹ – ›Warum warst du erschrocken?‹ – ›Daß man mich einsperren wird.‹ – ›Wie konntest du das fürchten, wo du dich vollkommen unschuldig fühltest?‹ Du magst mir glauben oder nicht, Sossimow, diese Frage wurde tatsächlich gestellt, und zwar wörtlich in diesen Ausdrücken: ich weiß es positiv, man hat es mir genau berichtet! Wie gefällt dir das? Wie gefällt dir das?« »Hm, Beweise sind also doch vorhanden.« »Ich spreche jetzt nicht von Beweisen, sondern von dieser Frage, und wie sie die Sache auffassen! Aber zum Teufel damit! ... Sie haben ihn also gepreßt und gepreßt, bis er alles gestand: ›Nicht auf dem Trottoir habe ich es gefunden, sondern in der Wohnung, die ich mit Mitrej anstrich.‹ – ›Auf welche Weise?‹ – ›Auf die Weise, daß wir beide, ich und Mitrej, den ganzen Tag bis acht Uhr gearbeitet hatten und schon weggehen wollten; da nahm Mitrej einen Pinsel mit Farbe und fuhr mir damit in die Visage; er fuhr mir in die Visage und lief davon, und ich ihm nach. So laufe ich ihm nach und schreie dabei, was ich schreien kann; und im Torweg rannte ich gegen den Hausknecht und einige Herrschaften; wieviel Herrschaften es waren, das weiß ich nicht mehr, und der Hausknecht hat deswegen geschimpft, und auch ein anderer Hausknecht hat geschimpft, und das Weib vom Hausknecht kam heraus und hat auch geschimpft, und auch ein Herr, der mit einer Dame durch das Tor ging, hat geschimpft, weil ich und Mitrej den Weg versperrten: ich hatte den Mitrej bei den Haaren gepackt, zu Boden geworfen und zu prügeln begonnen, und auch Mitrej hatte mich, unter mir liegend, bei den Haaren gepackt und auch mit den Fäusten gepufft; wir machten das aber nicht aus Feindschaft, sondern in aller Freundschaft, im Spiel. Mitrej machte sich dann frei und lief auf die Straße, und ich ihm nach. Ich holte ihn aber nicht ein und kam allein in die Wohnung zurück, denn es war da noch nicht aufgeräumt. Wie ich aufräumte und auf Mitrej wartete, trat ich an der Vorzimmertür, an der Wand in der Ecke auf die Schachtel. Ich sehe, da liegt sie in Papier eingewickelt. Ich wickelte sie aus dem Papier und sah so kleine Häkchen; die Häkchen hakte ich auf und sah in der Schachtel die Ohrringe liegen ...‹« »Hinter der Tür? Hinter der Tür hat sie gelegen? Hinter der Tür?« rief plötzlich Raskolnikow, Rasumichin mit trüben, erschrockenen Augen ansehend; er erhob sich langsam vom Sofa, indem er sich mit der Hand stützte. »Ja ... warum? Was hast du? Was bist du so aufgeregt?« Auch Rasumichin erhob sich von seinem Platz. »Nichts!« sagte Raskolnikow kaum hörbar, wieder auf das Kissen sinkend und sich zur Wand wendend. Alle schwiegen eine Weile. »Er war wohl eingeschlafen und hat aus dem Schlafe gesprochen«, sagte endlich Rasumichin mit einem fragenden Blick auf Sossimow; jener schüttelte aber leise den Kopf. »Nun, fahr fort,« sagte Sossimow, »was kam weiter?« »Was weiter kam? Kaum hatte er die Ohrringe erblickt, als er sofort die Wohnung und den Mitrej vergaß, seine Mütze nahm und zu Duschkin lief; von ihm bekam er bekanntlich einen Rubel und log ihm vor, daß er die Ohrringe auf dem Trottoir gefunden habe. Und gleich darauf fing er zu bummeln an. Was aber den Mord betrifft, so bestätigt er, was er schon einmal gesagt hat: ›Ich weiß von nichts, hab es erst am dritten Tage erfahren.‹ – ›Warum hast du dich aber bisher nicht sehen lassen?‹ – ›Vor Angst.‹ – ›Und warum hast du dich erhängen wollen?‹ – ›Ich hatte so einen Gedanken.‹ – ›Was für einen Gedanken?‹ – ›Daß man mich einsperrt.‹ Das ist die ganze Geschichte. Nun, wie denkst du, was für Schlüsse haben sie daraus gezogen?« »Was ist da viel zu denken, eine Spur ist doch immerhin vorhanden, eine Tatsache. Sollte man etwa deinen Anstreicher laufen lassen?« »Sie haben ihn aber einfach zum Mörder gemacht! Sie haben gar keine Zweifel ...« »Du übertreibst, du bist zu hitzig. Nun, und die Ohrringe? Gib doch zu, daß, wenn die Ohrringe am gleichen Tage und zur selben Stunde aus der Truhe der Alten in Mikolais Hände geraten sind, – so gib doch zu, daß sie auf irgendeine Weise zu ihm geraten sein müssen! Das ist doch bei einer solchen Untersuchung gar nicht unwichtig.« »Wie sie geraten sind! Wie sie geraten sind!« schrie Rasumichin. »Siehst du denn nicht, der du als Arzt vor allen Dingen verpflichtet bist, den Menschen zu studieren, und mehr als jeder andere die Gelegenheit hast, die menschliche Natur zu erfassen, siehst du denn aus allen diesen Daten nicht, was für eine Natur dieser Mikolai ist? Siehst du denn nicht gleich auf den ersten Blick, daß alles, was er bei den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Die Ohrringe sind in seine Hände genau so geraten, wie er es ausgesagt hat: er ist auf die Schachtel getreten und hat sie aufgehoben!« »Die heiligste Wahrheit? Er hat aber doch selbst gestanden, daß er das erste Mal gelogen hat!« »Höre, was ich sage, höre aufmerksam zu: der Hausknecht, und Koch, und Pestrjakow, und der zweite Hausknecht, und die Frau des ersten Hausknechts, und die Kleinbürgerin, die um jene Zeit in der Hausmeisterwohnung saß, und der Hofrat Krjukow, der im selben Augenblick aus einer Droschke stieg und mit einer Dame am Arm in den Torweg trat, sie alle, das heißt acht oder neun Zeugen, sagen übereinstimmend aus, daß Mikolai den Dmitrij zu Boden gedrückt hatte, auf ihm lag und ihn mit den Fäusten bearbeitete und daß jener ihn an den Haaren gepackt hatte und mit den Fäusten schlug. Sie liegen beide quer im Wege und versperren die Passage; man schimpft auf sie deswegen von allen Seiten, sie aber ›liegen wie kleine Kinder‹ (buchstäblicher Ausdruck der Zeugen) aufeinander, kreischen, balgen sich und lachen, lachen beide um die Wette, mit den komischsten Fratzen, und dann laufen beide wie die Kinder auf die Straße, und einer will den anderen fangen. Hast du es gehört? Nun beachte folgendes: die Leichen oben sind noch warm, du hörst? – sie waren noch warm, als man sie fand! Wenn sie beide, oder Mikolai allein, die Frauen ermordet und dabei die Kästen erbrochen haben, oder nur irgendwie am Verbrechen beteiligt waren, so erlaube mir, nur diese eine Frage zu stellen: wie reimt sich ein solcher Seelenzustand, das heißt das Kreischen, Lachen, die kindliche Balgerei im Torweg, mit den Axten, Blut, mit der verbrecherischen List und Vorsicht und mit dem Raube zusammen? Sie haben erst eben, also vor fünf oder höchstens zehn Minuten, den Mord begangen – das folgt daraus, daß die Leichen noch warm waren –, und plötzlich lassen sie die Leichen in der offenen Wohnung liegen, obwohl sie wissen, daß eben Menschen hinaufgegangen sind, lassen auch die Beute im Stich und wälzen sich wie kleine Kinder im Torweg, lachen und ziehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, was von zehn Zeugen übereinstimmend bestätigt wird!« »Das ist allerdings sonderbar! Natürlich ist dies unmöglich, aber ...« »Nein, Bruder, kein aber ; doch wenn die Ohrringe, die am gleichen Tage und zur selben Stunde in Mikolais Hände geraten sind, tatsächlich einen wichtigen Beweis gegen ihn – welcher jedoch durch seine Aussagen sehr erschüttert wird – also einen strittigen Beweis darstellen, so muß man doch auch die entlastenden Tatsachen mit in Betracht ziehen, um so mehr, als diese Tatsachen unwiderlegbar sind. Was hältst du aber von unserer Jurisprudenz: werden sie eine solche Tatsache, die einzig auf der psychologischen Unmöglichkeit, einzig auf einer seelischen Stimmung begründet ist, als eine unwiderlegbare Tatsache, die sämtliche belastenden und gegenständlichen Tatsachen, welcher Art sie auch seien, vollkommen zerstört, gelten lassen und sind sie dessen überhaupt fähig? Nein, sie werden es für nichts in der Welt so auffassen, weil sie einmal das Kästchen gefunden haben und weil der Mann sich hat erhängen wollen, ›was nicht der Fall wäre, wenn er sich nicht schuldig fühlte!‹ Das ist die Kardinalfrage, deswegen rege ich mich so auf! Begreife es doch!« »Das sehe ich auch, daß du dich aufregst. Wart', ich vergaß, dich zu fragen: wodurch ist es bewiesen, daß die Schachtel mit den Ohrringen tatsächlich aus der Truhe der Alten stammt?« »Das ist bewiesen,« antwortete Rasumichin finster und, wie es schien, mit Unlust. »Koch erkannte den Gegenstand und gab auch denjenigen an, der ihn verpfändet hatte, und jener erklärte positiv, daß der Gegenstand tatsächlich ihm gehörte.« »Das ist schlimm. Jetzt noch eine Frage: Hat denn niemand den Mikolai um jene Zeit gesehen, als Koch und Pestrjakow nach oben gingen, und kann man es nicht irgendwie beweisen?« »Das ist es eben, daß ihn niemand gesehen hat,« antwortete Rasumichin ärgerlich. »Das ist eben so schlimm; selbst Koch und Pestrjakow haben die Anstreicher nicht gesehen, als sie nach oben gingen, obwohl ihre Aussage jetzt nicht viel zu bedeuten hätte. Sie sagen; ›Wir haben wohl gesehen, daß die Wohnung offen stand und daß darin wahrscheinlich gearbeitet wurde, doch im Vorbeigehen schenkten wir dem keine Beachtung und können uns nicht erinnern, ob in jenem Augenblick Arbeiter in der Wohnung waren oder nicht.‹« »Hm! ... Folglich ist der einzige Gegenbeweis, daß sie sich miteinander balgten und lachten. Zugegeben, daß das ein gewichtiger Beweis ist, aber ... Erlaube jetzt: wie erklärst du selbst diese Tatsache? Wie erklärst du den Fund der Ohrringe, wenn er sie wirklich so gefunden hat, wie er aussagt?« »Wie ich das erkläre? Da ist nichts zu erklären, die Sache ist ja klar! Jedenfalls ist der Weg, auf dem man diese Sache verfolgen muß, klar gegeben, und gerade die Schachtel hat ihn aufgedeckt. Der wahre Mörder hat diese Ohrringe fallen lassen. Als Koch und Pestrjakow klopften, saß der Mörder oben in der Wohnung eingeschlossen. Koch machte die Dummheit und ging hinunter; in diesem Augenblick sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in die leere Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai herausgelaufen waren; als der Hausknecht und die anderen hinaufgingen, stand er hinter der Tür, wartete, bis ihre Schritte verhallten, und ging dann ganz ruhig hinunter, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai auf die Straße hinausgelaufen waren und alle sich verzogen hatten, so daß kein Mensch mehr im Torweg blieb. Vielleicht sah man ihn auch, merkte ihn sich aber nicht: es gehen doch genug Menschen vorbei! Die Schachtel ließ er aber aus der Tasche fallen, als er hinter der Tür stand; er merkte nicht, daß er sie hat fallen lassen, weil er an andere Dinge zu denken hatte. Die Schachtel ist aber ein klarer Beweis dafür, daß er gerade hinter der Tür gestanden hat. Das ist der ganze Witz!« »Sehr schlau! Nein, Bruder, das ist zu schlau. Das ist schlauer als alles!« »Aber warum denn, warum denn?« »Weil alles gar zu genau ineinander paßt ... und die Fäden so fein verschlungen sind ... wie im Theater.« »Ach Gott!« begann Rasumichin, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und herein trat eine neue Person, die allen Anwesenden unbekannt war. 5. V Es war ein nicht mehr junger Herr, stattlich und steif, mit einem Gesichtsausdruck, als sei er auf der Hut und als ekle er sich. Er begann damit, daß er in der Tür stehenblieb und mit einem Erstaunen, das er in einer geradezu verletzenden Weise nicht verhehlte, um sich blickte, als fragte er mit den Augen: »Wohin bin ich denn geraten?« Mißtrauisch, sogar mit dem affektierten Ausdruck einer gewissen Angst, fast eines Beleidigtseins, betrachtete er die enge und niedrige »Schiffskajüte« Raskolnikows. Mit dem gleichen Erstaunen richtete er dann seine Blicke auf Raskolnikow selbst, der nicht angekleidet, zerzaust und ungewaschen auf seinem schmutzigen elenden Sofa lag und ihn ebenso unverwandt musterte. Darauf begann er ebenso bedächtig die zerzauste, unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der ihm seinerseits frech und fragend gerade in die Augen blickte, ohne sich vom Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute, und schließlich erfolgte, wie es auch zu erwarten war, ein kleiner Dekorationswechsel. Als der Gast nach einigen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen wohl eingesehen hatte, daß in dieser Schiffskajüte durch übertrieben stolze Haltung nichts auszurichten war, wurde er etwas weicher und versetzte, sich an Sossimow wendend, höflich, doch nicht ohne Strenge, jede Silbe seiner Frage betonend: »Rodion Romanowitsch Raskolnikow, Student oder ehemaliger Student?« Sossimow machte eine langsame Bewegung und hätte vielleicht geantwortet, wenn ihm nicht Rasumichin, an den man sich gar nicht gewandt hatte, sofort zuvorgekommen wäre. »Hier liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?« Dieses familiäre »Und was wollen Sie?« machte auf den steifen Herrn einen sehr peinlichen Eindruck; fast hätte er sich zu Rasumichin umgewandt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und wandte sich schnell wieder an Sossimow. »Da ist Raskolnikow!« sagte Sossimow langsam und undeutlich mit einem Wink auf den Kranken; dann gähnte er, wobei er seinen Mund ungewöhnlich weit aufriß und ihn dann ungewöhnlich lange in diesem Zustande behielt. Dann griff er sehr langsam in seine Westentasche, holte eine riesengroße dicke goldene Uhr mit zwei Deckeln hervor, öffnete sie und begann sie ebenso langsam wieder in die Tasche zu stecken. Raskolnikow selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und blickte unverwandt, wenn auch gedankenlos, den Besucher an. Sein Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume auf der Tapete losgerissen hatte, war ungewöhnlich blaß und drückte einen außerordentlichen Schmerz aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation überstanden oder als hätte man ihn von einer Tortur befreit. Doch der eingetretene Herr erregte in ihm erst immer mehr und mehr Aufmerksamkeit, dann Erstaunen, dann Mißtrauen und sogar etwas wie Angst. Und als Sossimow mit einem Wink auf ihn sagte: »Da ist Raskolnikow«, setzte er sich schnell mit einem Ruck auf dem Lager auf und sagte beinahe herausfordernd, doch mit gebrochener, schwacher Stimme: »Ja! Ich bin Raskolnikow! Was wollen Sie?« Der Gast blickte ihn aufmerksam an und sagte eindringlich: »Pjotr Petrowitsch Luschin. Ich nehme als sicher an, daß mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt ist.« Aber Raskolnikow, der etwas ganz anderes erwartet hatte, sah ihn stumpf und nachdenklich an und antwortete nicht, als höre er den Namen Pjotr Petrowitschs wirklich zum erstenmal. »Wie, haben Sie denn bisher noch keinerlei Nachrichten bekommen?« fragte Pjotr Petrowitsch peinlich berührt. Statt eine Antwort zu geben, ließ sich Raskolnikow langsam auf das Kissen fallen, verschränkte die Hände im Nacken und richtete seinen Blick auf die Zimmerdecke. Luschins Züge zeigten Langweile und Unbehagen. Sossimow und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer Neugier zu mustern, und er wurde schließlich sichtlich verlegen. »Ich nahm an und rechnete,« sagte er langsam, »daß der Brief, der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor zwei Wochen abgegangen ist ...« »Hören Sie mal, was sollen Sie immer in der Tür stehen?« unterbrach ihn plötzlich Rasumichin. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, so setzen Sie sich, denn für Sie und Nastasja ist es in der Tür zu eng. Nastasjuschka, laß den Herrn durchgehen! Kommen Sie herein, hier haben Sie einen Stuhl! Kriechen Sie doch herein!« Er rückte seinen Stuhl vom Tische weg, machte den Raum zwischen dem Tisch und seinen Knien ein wenig frei und wartete in gespannter Stellung, daß der Gast durch diesen Spalt durchkrieche. Der Augenblick war so gewählt, daß jener sich nicht weigern konnte, und der Gast kroch eilig und stolpernd durch den engen Zwischenraum. Nachdem er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich hin und blickte Rasumichin mißtrauisch an. »Genieren Sie sich bitte nicht«, warf jener hin. »Rodja ist schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert; jetzt ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Da sitzt sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kollege, auch ein ehemaliger Student, und bemuttere ihn jetzt; nehmen Sie also bitte auf uns keine Rücksicht und sagen Sie, was Sie wollen.« »Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht den Kranken durch meine Anwesenheit und mein Gespräch beunruhigen?« wandte sich Pjotr Petrowitsch an Sossimow. »N-nein«, sagte Sossimow langsam. »Sie können ihn vielleicht zerstreuen.« Und er gähnte wieder. »Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute früh!« fuhr Rasumichin fort, dessen Familiarität den Eindruck einer so unverfälschten Herzenseinfalt machte, daß Pjotr Petrowitsch nach einiger Überlegung seine Fassung wieder gewann, vielleicht zum Teil auch darum, weil dieser abgerissene und freche Mensch sich schon als Student vorgestellt hatte. »Ihre Frau Mama ...« begann Luschin. »Hm!« versetzte Rasumichin laut. Luschin sah ihn fragend an. »Ich sage nichts. Fahren Sie fort ...« Luschin zuckte die Achseln. »... Ihre Frau Mama hat, noch als ich dort war, einen Brief an Sie begonnen. Nach meiner Ankunft ließ ich absichtlich einige Tage verstreichen und suchte Sie nicht auf, um ganz sicher zu sein, daß Sie von allem unterrichtet sind; jetzt aber ... zu meinem Erstaunen ...« »Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikow mit dem Ausdrucke des ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß! ... und genug davon! ...« Pjotr Petrowitsch fühlte sich entschieden verletzt, sagte aber nichts. Er bemühte sich, möglichst schnell dahinter zu kommen, was dies alles zu bedeuten habe. Das Schweigen währte etwa eine Minute. Raskolnikow, der sich bei seiner Antwort ein wenig zu ihm umgewandt hatte, begann indessen wieder, ihn aufmerksam und mit einer eigentümlichen Neugier zu betrachten, als hätte er vorhin noch nicht Zeit gehabt, ihn vollständig zu sehen, oder als hätte ihn etwas Neues an ihm überrascht; er hob sogar zu diesem Zweck seinen Kopf vom Kissen. Im ganzen Aussehen Pjotr Petrowitschs fiel in der Tat etwas Eigentümliches auf, was die Bezeichnung »Bräutigam«, die man ihm soeben etwas ungeniert verliehen hatte, zu rechtfertigen schien. Erstens konnte man ihm ansehen, und zwar viel zu deutlich, daß Pjotr Petrowitsch sich mit Eifer beeilt hatte, die einigen Tage seines Aufenthalts in der Residenz auszunutzen, um sich in Erwartung der Braut auszuputzen und zu verschönen, was übrigens höchst harmlos und erlaubt war. Sogar das vielleicht etwas allzu selbstzufriedene Bewußtsein seiner angenehmen Veränderung zum Besseren konnte ihm in diesem Falle nachgesehen werden, denn Pjotr Petrowitsch befand sich ja im Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung war soeben vom Schneider gekommen, und alles war schön; auszusetzen wäre vielleicht nur, daß alles viel zu neu war und den bestimmten Zweck zu sehr unterstrich. Selbst der elegante, neue runde Hut zeugte von diesem Zweck: Pjotr Petrowitsch behandelte ihn allzu respektvoll und hielt ihn allzu vorsichtig in den Händen. Selbst das wunderschöne Paar fliederfarbener Handschuhe – ein echtes Erzeugnis von Jouvin – zeugte davon, wenn auch nur dadurch, daß er sie nicht angezogen hatte, sondern als Paradestück in der Hand hielt. In der Kleidung Pjotr Petrowitschs herrschten helle und jugendliche Farben vor. Er trug einen hübschen hellbraunen Sommerrock, eine leichte helle Hose, eine Weste aus dem gleichen Stoff, soeben angeschaffte feine Wäsche und eine sehr leichte Battistkrawatte mit rosa Streifen, und das beste daran war, daß dies alles Pjotr Petrowitsch nett zu Gesicht stand. Sein frisches und sogar hübsches Gesicht ließ ihn auch ohnehin jünger als fünfundvierzig Jahre, die er zählte, erscheinen. Der dunkle Backenbart umrahmte es in Form zweier Koteletts anmutig von beiden Seiten und verdichtete sich sehr hübsch an seinem glänzenden, sorgfältig rasierten Kinn. Sogar seine übrigens nur hier und da ergrauten Haare, die vom Friseur gekämmt und gekräuselt waren, erschienen dadurch in keiner Weise lächerlich oder dumm, was doch meistens bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil sie dem Gesicht unbedingt die Ähnlichkeit mit einem Deutschen verleihen, der zur Trauung geht. Und wenn in diesem recht hübschen und soliden Gesicht wirklich etwas Unangenehmes und Abstoßendes lag, so beruhte das auf anderen Ursachen. Nachdem Raskolnikow Herrn Luschin recht ungeniert betrachtet hatte, lächelte er giftig, ließ sich wieder auf das Kissen fallen und begann wie früher auf die Decke zu sehen. Herr Luschin nahm sich aber zusammen und entschloß sich anscheinend, diesen Eigentümlichkeiten vorerst keine Beachtung zu schenken. »Ich bedaure sehr lebhaft, daß ich Sie in diesem Zustande treffe«, begann er wieder, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem Zustande etwas gewußt hätte, so wäre ich schon früher gekommen. Aber, wissen Sie, die Geschäfte! ... Außerdem habe ich eine sehr wichtige Sache im Senat, die meine Advokatenpraxis betrifft. Die anderen Sorgen, die Sie leicht erraten können, erwähne ich gar nicht. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mama und Schwester, erwarte ich von Stunde zu Stunde ...« Raskolnikow machte eine Bewegung und wollte etwas sagen. Sein Gesicht drückte einige Erregung aus. Pjotr Petrowitsch hielt inne und wartete; da aber nichts erfolgte, fuhr er fort: »... Von Stunde zu Stunde. Ich habe für sie zunächst eine Wohnung gefunden ...« »Wo?« fragte Raskolnikow mit schwacher Stimme. »Gar nicht weit von hier, im Hause Bakalejews ...« »Das ist auf dem Wosnesenskij-Prospekt«, unterbrach ihn Rasumichin. »Dort sind zwei Stockwerke voller möblierter Zimmer. Sie gehören dem Kaufmann Juschin; ich bin dort schon mal gewesen.« »Ja, es sind möblierte Zimmer ...« »Fürchterlich und ekelhaft: Schmutz, Gestank und außerdem ein verdächtiger Ort: es ist da manches passiert. Auch weiß der Teufel, wer da nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort mal anläßlich einer Skandalaffäre gewesen. Übrigens ist es billig.« »Selbstverständlich konnte ich dies alles gar nicht erfahren, denn ich bin hier neu«, antwortete Pjotr Petrowitsch empfindlich. »Es sind übrigens zwei außerordentlich saubere Zimmerchen, und da es sich nur um eine kurze Zeit handelt ... Ich habe auch schon eine wirkliche, das heißt unsere zukünftige Wohnung gemietet«, wandte er sich an Raskolnikow, »und jetzt wird sie fertiggemacht; inzwischen hause ich auch selbst in einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei der Frau Lippewechsel, in der Wohnung meines jungen Freundes Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow; er hat mir auch das Haus Bakalejews empfohlen ...« »Bei Lebesjatnikow?« sagte Raskolnikow langsam, als ob er sich auf etwas besinne. »Ja, bei Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow, der im Ministerium angestellt ist. Kennen Sie ihn?« »Nein ...« antwortete Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, Ihre Frage ließ mich es vermuten. Ich war einmal sein Vormund ... Ein sehr netter junger Mann ... der dem Zeitgeiste folgt ... Ich aber freue mich immer, wenn ich mit der Jugend zusammenkomme: an ihr erfährt man alles, was es Neues gibt.« Pjotr Petrowitsch sah die Anwesenden erwartungsvoll an. »Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin. »Ich meine es ernsthaft, sozusagen den Kern der Sache«, fiel Pjotr Petrowitsch ein, als wäre er über die Frage erfreut. »Sehen Sie, ich bin seit zehn Jahren nicht mehr in Petersburg gewesen. Alle unsere Neuerungen, Reformen, Ideen haben auch uns in unserer Provinz erreicht, doch um dies alles genau zu sehen, muß man in Petersburg sein. Ich stehe aber auf dem Standpunkte, daß man am meisten sieht und erfährt, wenn man unsere junge Generation betrachtet! Offen gestanden, war ich sehr erfreut ...« »Worüber denn?« »Ihre Frage ist sehr weit gesteckt. Ich kann mich irren, doch es scheint mir, daß ich einen klaren und, sozusagen, kritischeren Blick finde; mehr Tüchtigkeit ...« »Das stimmt«, sagte Sossimow durch die Zähne. »Unsinn, es ist keine Tüchtigkeit da«, fiel ihm Rasumichin erregt ins Wort. »Tüchtigkeit wird durch Mühe erworben und fällt nicht vom Himmel. Wir aber sind fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ideen spuken vielleicht auch herum«, wandte er sich an Pjotr Petrowitsch, »und es ist auch ein Streben nach dem Guten da, wenn es auch kindisch ist; man kann auch Ehrlichkeit vorfinden, obwohl sich hier unzählige Gauner versammelt haben, aber von Tüchtigkeit ist dennoch nichts zu sehen! Tüchtigkeit hat Stiefel an ...« »Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, entgegnete Pjotr Petrowitsch mit sichtbarem Genuß. »Natürlich gibt es Übertreibungen und Verirrungen, man muß aber auch nachsichtig sein; die Übertreibungen zeugen von Eifer für die Sache und von den unnormalen äußern Umständen, unter denen man zu arbeiten hat. Und wenn noch wenig getan ist, so war ja auch die Zeit so kurz. Von den Mitteln spreche ich nicht. Wenn Sie wollen, ist meine persönliche Überzeugung, daß auch schon etwas getan ist: es sind neue, nützliche Gedanken verbreitet worden, es sind einige neue nützliche Werke an Stelle der früheren, schwärmerischen und romantischen erschienen; die Literatur nimmt eine immer reifere Form an; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet worden und wirken nur noch lächerlich ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich von der Vergangenheit getrennt, und das ist nach meiner Ansicht auch schon eine Tat ...« »Das hat er auswendig gelernt! Will sich damit wohl empfehlen«, sagte plötzlich Raskolnikow. »Wie meinen?« fragte Pjotr Petrowitsch, der es nicht recht gehört hatte, bekam aber keine Antwort. »Das stimmt alles«, beeilte sich Sossimow zu bemerken. »Nicht wahr?« fuhr Pjotr Petrowitsch mit einem gewinnenden Blick auf Sossimow fort. »Sie werden doch selbst zugeben«, sagte er, sich an Rasumichin wendend, doch schon im Tone eines gewissen Triumphes und einer Überlegenheit; beinahe hätte er »junger Mann« hinzugefügt, – »daß es wohl einen Fortschritt oder, wie man sich jetzt ausdrückt, einen Progreß gibt, und wenn auch nur im Namen der Wissenschaft und der ökonomischen Lehrsätze ...« »Ein Gemeinplatz!« »Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bisher sagte: ›Liebe deinen Nächsten‹ und ich ihn liebte, was kam dabei heraus?« fuhr Pjotr Petrowitsch vielleicht gar zu eifrig fort. »Es kam dabei heraus, daß ich meinen Rock mitten entzweiriß und ihn mit meinem Nächsten teilte; so blieben wir beide halbnackt, wie es im russischen Sprichworte heißt: ›Wenn du mehreren Hasen nachjagst, fängst du keinen einzigen.‹ Die Wissenschaft aber sagt: Liebe zunächst dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichen Interessen gegründet. Wenn du dich selbst liebst, so besorgst du deine eigenen Geschäfte wie es sich gehört, und dein Rock bleibt ganz. Die ökonomische Wissenschaft fügt aber hinzu, daß, je mehr es in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten, sozusagen ganze Röcke gibt, sie um so mehr feste Grundlagen hat und auch die allgemeine Sache dadurch besser geordnet wird. Wenn ich also ausschließlich und einzig für mich selbst erwerbe, so erwerbe ich gleichsam auch für alle und erreiche damit, daß auch mein Nächster etwas mehr als einen zerrissenen Rock bekommt, und zwar nicht mehr aus privater Freigebigkeit einer Einzelperson, sondern infolge des allgemeinen Wohlstandes. Der Gedanke ist einfach, ist aber leider lange Zeit niemand eingefallen, da er von Exaltation und Schwärmerei verdeckt war; und doch müßte man meinen, daß man gar nicht besonders geistreich zu sein braucht, um auf ihn zu kommen ...« »Entschuldigen Sie, ich bin aber gar nicht geistreich«, unterbrach ihn Rasumichin scharf. »Darum wollen wir lieber aufhören. Ich habe ja das Gespräch mit einer ganz bestimmten Absicht darauf gebracht, sonst habe ich dieses ganze Geschwätz, mit dem man sich bloß ergötzt, alle diese endlosen, unaufhörlichen Gemeinplätze und das ewige Einerlei in drei Jahren so satt bekommen, daß ich, bei Gott, erröte, wenn auch andere in meiner Gegenwart, und nicht nur ich, davon sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, Ihre Kenntnisse zu zeigen, um in einem günstigen Lichte zu erscheinen; dies ist durchaus verzeihlich, und ich verurteile es nicht. Ich aber wollte nur erfahren, wer Sie sind; denn, sehen Sie, in der letzten Zeit haben sich so viele Industrieritter an die allgemeine Sache gehängt und alles, was sie nur berührt haben, in ihren eigenen Interessen dermaßen verunstaltet, daß die ganze Sache verdreckt ist. Nun, genug davon!« »Mein Herr,« begann Herr Luschin, mit großer Würde das Gesicht verziehend, »wollen Sie damit etwa in einer so verletzenden Form sagen, daß auch ich ...« »Oh, bitte, bitte ... Wie könnte ich es denn! ... Nun ist's genug!« schnitt Rasumichin ab und wandte sich jäh, im unterbrochenen Gespräch fortfahrend, an Sossimow. Pjotr Petrowitsch war klug genug, um dieser Erklärung sofort zu glauben. Übrigens hatte er sich entschlossen, nach zwei Minuten wegzugehen. »Ich hoffe, daß unsere eben geschlossene Bekanntschaft«, wandte er sich an Raskolnikow, »nach Ihrer Genesung und angesichts der Ihnen bekannten Umstände sich noch mehr festigen wird ... Ganz besonders wünsche ich Ihnen Gesundheit ...« Raskolnikow wandte sich nach ihm nicht mal um. Pjotr Petrowitsch machte Anstalten, sich vom Stuhle zu erheben. »Den Mord beging unbedingt ein Pfandgeber!« sagte Sossimow mit Nachdruck. »Unbedingt ein Pfandgeber!« bestätigte Rasumichin. »Porfirij verrät seine Gedanken nicht, verhört aber alle Pfandgeber ...« »Er verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikow laut. »Ja, was ist denn?« »Nichts.« »Wo nimmt er sie denn her?« fragte Sossimow. »Die einen hat Koch angegeben; die Namen der andern standen auf den Umhüllungen der Pfänder, und manche kamen von selbst, als sie davon hörten ...« »Das muß aber eine geschickte und erfahrene Kanaille sein! Diese Kühnheit! Diese Entschlossenheit!« »Das ist es eben, daß es nicht der Fall ist!« unterbrach ihn Rasumichin. »Das bringt euch alle auf einen falschen Weg. Ich sage aber: ein ungeschickter und unerfahrener Mensch, und das war sicher sein erster Schritt! Wenn man eine Berechnung und eine kluge Kanaille annimmt, erscheint es unglaublich. Wenn man aber einen Unerfahrenen annimmt, so kommt man zum Schluß, daß ihn nur der Zufall gerettet hat, – und was tut nicht alles der Zufall! Erlaube doch: er hat vielleicht nicht mal die Hindernisse vorausgesehen! Und wie machte er die Sache? – Er nimmt Gegenstände im Werte von zehn und zwanzig Rubeln, stopft sie sich in die Tasche, wühlt in der Altweibertruhe, in allerlei Lumpen herum, – und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man nachher an Bargeld allein anderthalb Tausend Rubel, außer den Wertpapieren! Er hat nicht mal verstanden, zu plündern: nur zu morden hat er verstanden! Der erste Schritt war es, sage ich dir, der erste Schritt; er hat seine Fassung verloren! Und nicht durch Berechnung, sondern durch einen Zufall ist er der Gefahr entronnen!« »Ich glaube, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten Beamtenwitwe?« mischte sich ins Gespräch Pjotr Petrowitsch, der schon mit Hut und Handschuhen in der Hand stand, doch vor dem Fortgehen noch einige kluge Worte sagen wollte. Offenbar war er um einen guten Eindruck besorgt, und die Eitelkeit besiegte die Vernunft. »Ja. Haben Sie es gehört?« »Gewiß, es geschah ja in der Nachbarschaft ...« »Kennen Sie auch die Einzelheiten?« »Das will ich nicht behaupten; mich interessiert aber dabei ein anderer Umstand, sozusagen das ganze Problem. Ich spreche nicht davon, daß die Verbrechen in den unteren Klassen in den letzten fünf Jahren zugenommen haben, ich spreche auch nicht von den zahlreichen Raubmorden und Brandstiftungen, über die man von überall berichtet; am sonderbarsten erscheint es mir, daß auch die Verbrechen in den höheren Klassen zunehmen und sozusagen parallel. Hier, hört man, hat ein ehemaliger Student die Post auf der Landstraße überfallen und ausgeraubt; dort fabrizieren Menschen, die gesellschaftlich die erste Stellung einnehmen, falsche Banknoten; in Moskau erwischt man eine ganze Gesellschaft von Leuten, die die Scheine der letzten Prämienanleihe fälschen, und unter den Hauptbeteiligten befindet sich ein Lektor der Weltgeschichte; dort, im Auslande wird einer unserer Sekretäre aus einem rätselhaften Grunde, der aber mit Geld zusammenhängt, ermordet ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von einem Angehörigen der höheren Gesellschaftskreise ermordet wurde – Bauern versetzen doch keine Goldsachen, – womit kann man dann diese Verderbtheit des gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?« »Es gibt eben viele wirtschaftliche Veränderungen ...« meldete sich Sossimow. »Womit man es erklären kann?« fiel ihm Rasumichin heftig ins Wort. »Gerade mit der tief eingewurzelten Untüchtigkeit kann man es erklären.« »Wie meinen Sie das eigentlich?« »Was antwortete Ihr Moskauer Lektor auf die Frage, warum er die Scheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf jede Weise, so wollte auch ich reich werden.‹ Des genauen Wortlautes entsinne ich mich nicht, der Sinn war aber der, daß er auf fremde Rechnung, schnell und ohne Arbeit reich werden wollte! Die Leute sind eben gewöhnt, alles gratis zu haben, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu essen. Schlägt aber die große Stunde, so zeigt jeder sein wahres Gesicht ...« »Aber die Moral? Und sozusagen die sittlichen Gesetze ...« »Was regen Sie sich so auf?« mischte sich plötzlich Raskolnikow ein. »Es entspricht doch Ihrer Theorie!« »Wieso meiner Theorie?« »Führen Sie doch das, was Sie vorhin gepredigt haben, zu den letzten Konsequenzen, und es wird sich ergeben, daß es erlaubt ist, seine Mitmenschen abzuschlachten ...« »Aber bitte!« rief Luschin aus. »Nein, es ist doch nicht so!« versetzte Sossimow. Raskolnikow lag blaß mit zitternder Oberlippe da und atmete schwer. »Alles hat sein Maß«, fuhr Luschin hochmütig fort. »Eine ökonomische Idee bedeutet noch nicht die Aufforderung zum Mord, und wenn man nur annimmt ...« »Ist es wahr«, unterbrach ihn Raskolnikow plötzlich wieder mit vor Wut zitternder Stimme, aus der man die eigentümliche Freude am Beleidigen heraushörte: »Ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut sagten ... und zwar in der selben Stunde, als Sie ihr Jawort erhielten, daß Sie sich am meisten darüber freuten, daß ... daß sie eine Bettlerin ist ... weil es vorteilhafter sei, eine Frau aus dem Bettlerstande zu nehmen, um über sie später zu herrschen ... und ihr vorwerfen zu können, daß man ihr eine Gnade erwiesen hat?« »Mein Herr!« rief Luschin erbost und gereizt; er war ganz rot geworden und hatte seine Fassung verloren. »Mein Herr ... so meinen Gedanken zu entstellen! Entschuldigen Sie mich, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die Sie erreicht haben, oder besser gesagt, die man Ihnen zugetragen hat, auch nicht den Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ahne schon, wer ... mit einem Worte ... dieser Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau Mama ... Sie schien mir auch ohnedem, übrigens bei allen ihren ausgezeichneten Eigenschaften, eine etwas exaltierte und romantische Gedankenrichtung zu haben ... Aber ich war doch tausend Werst von der Annahme entfernt, daß sie die Sache in einer von der Phantasie dermaßen entstellten Weise auffassen und darstellen könnte ... Und schließlich ... schließlich ...« »Wissen Sie aber was?« rief Raskolnikow aus, den Kopf vom Kissen hebend und ihn unverwandt mit durchdringendem brennendem Blicke ansehend. »Wissen Sie was?« »Was denn?« Luschin hielt inne und wartete mit herausfordernder und gekränkter Miene. Das Schweigen dauerte einige Sekunden. »Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, auch nur ein Wort von meiner Mutter zu erwähnen ... ich Sie die Treppe hinunterwerfen werde!« »Was hast du nur?« rief Rasumichin. »Ah, so steht es also!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippe. »Hören Sie, mein Herr«, begann er langsam, ich mit aller Kraft beherrschend, aber dennoch beinahe erstickend. »Ich habe schon vorhin, gleich beim ersten Schritt, Ihre Feindseligkeit erraten, bin aber absichtlich hier geblieben, um noch mehr zu erfahren. Vieles könnte ich einem Kranken und einem Verwandten verzeihen, doch jetzt ... Ihnen ... niemals ...« »Ich bin nicht krank!« schrie Raskolnikow. »Dann um so weniger ...« »Scheren Sie sich zum Teufel!« Luschin ging aber schon von selbst, ohne seine Rede beendet zu haben, und wieder zwischen dem Tisch und dem Stuhl durchkriechend; Rasumichin stand diesmal auf, um ihn vorbeizulassen. Ohne jemand anzusehen und selbst ohne Sossimow zuzunicken, der ihm schon längst durch einen Wink bedeutet hatte, daß er den Kranken in Ruhe lassen möchte, verließ Luschin das Zimmer; als er gebückt durch die Tür ging, hielt er vorsichtshalber den Hut in der Höhe seiner Schulter. Selbst die Krümmung seines Rückens schien dabei zu sagen, daß er eine furchtbare Beleidigung mit sich forttrage. »Wie kann man es nur, wie kann man es nur?« sagte der betroffene Rasumichin, den Kopf schüttelnd. »Laßt mich, laßt mich alle!« schrie Raskolnikow wie rasend. »Werdet Ihr mich endlich einmal in Ruhe lassen, ihr Peiniger?! Ich fürchte euch nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Fort von mir! Ich will allein sein, allein, allein, allein!« »Gehen wir!« sagte Sossimow. »Ich bitte dich, kann man ihn denn so lassen?« »Gehen wir!« wiederholte Sossimow mit Nachdruck und ging hinaus. Rasumichin dachte eine Weile nach und lief ihm nach, um ihn einzuholen. »Es könnte viel schlimmer werden, wenn wir ihm nicht gehorcht hätten«, sagte Sossimow schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...« »Was hat er denn?« »Wenn er doch nur irgendeinen günstigen Anstoß bekommen könnte, das wäre vonnöten! Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen! Etwas Starres, etwas Drückendes ... Das fürchte ich sehr; ganz bestimmt hat er was!« »Vielleicht ist es dieser Herr Pjotr Petrowitsch? Aus dem Gespräch kann man ersehen, daß er seine Schwester heiraten will und daß Rodja darüber kurz vor seiner Erkrankung einen Brief erhalten hat ...« »Ja. Hat ihn auch der Teufel herbringen müssen! Vielleicht hat er die ganze Sache verdorben. Hast du aber bemerkt, daß er gegen alles gleichgültig ist, auf nichts reagiert, mit Ausnahme des einen Punktes, der ihn aus der Fassung bringt: ich meine den Mord ...« »Ja, ja!« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Ich habe es wohl bemerkt! Er interessiert sich, er fürchtet. Man hat ihn am Tage seiner Erkrankung auf dem Bureau des Revieraufsehers damit erschreckt; er war in Ohnmacht gefallen.« »Erzähl mir das alles genauer am Abend, und dann werde ich dir auch etwas sagen. Es interessiert mich sehr! In einer halben Stunde will ich wieder nach ihm sehen ... Eine Entzündung ist übrigens nicht zu befürchten.« »Ich danke dir! Ich will aber inzwischen bei Paschenjka warten und ihn durch Nastasja beobachten lassen ...« Als Raskolnikow allein geblieben war, blickte er Nastasja voll Ungeduld und Unlust an; sie zögerte aber noch, wegzugehen. »Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie. »Später! Ich will schlafen! Laß mich ...« Er wandte sich krampfhaft zur Wand; Nastasja ging hinaus. 6. VI Kaum war sie aber hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, den Pack mit Kleidern, den Rasumichin vorhin mitgebracht und wieder zugebunden hatte, wieder aufband und sich anzukleiden begann. Seltsam: plötzlich schien er völlig beruhigt; das halbwahnsinnige Delirium von vorhin und die panische Angst, die ihn in der ganzen letzten Zeit verfolgte, waren weg. Es war der erste Augenblick einer seltsamen plötzlichen Beruhigung. Seine Bewegungen waren genau und klar und zeugten von einem festen Entschluß. »Heute noch, heute noch! ...« murmelt er vor sich hin. Er sah wohl ein, daß er noch schwach war, doch die äußerste seelische Spannung, die zu einer Ruhe, zu einer unbeweglichen Idee geworden war, verlieh ihm Kräfte und Selbstvertrauen; er hoffte übrigens, daß er auf der Straße nicht hinfallen würde. Nachdem er lauter neue Sachen angezogen hatte, erblickte er das Geld, das auf dem Tische lag, überlegte und steckte es in die Tasche. Es waren fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch alle die kupfernen Fünfkopekenstücke mit, den Rest von den zehn Rubeln, die Rasumichin für die Kleider ausgegeben hatte. Dann hob er leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer und stieg die Treppe hinab; er warf einen Blick in die weit geöffnete Küche: Nastasja stand mit dem Rücken zu ihm und blies gebückt in den Samowar der Wirtin. Sie hörte nichts. Wer hätte auch erwarten können, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war er schon auf der Straße. Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere Schwüle, er aber atmete mit Gier diese stinkende, staubige, durch die Stadt verpestete Luft. Der Kopf schwindelte ihm ein wenig, eine eigentümliche wilde Energie leuchtete plötzlich aus seinen entzündeten Augen und aus seinem abgemagerten, gelblich-weißen Gesicht. Er wußte nicht, überlegte auch nicht, wohin er gehen würde: er wußte nur das eine: »daß man dem allen heute noch, sofort auf einen Schlag, ein Ende machen müsse; daß er anders nicht nach Hause zurückkommen würde, weil er so nicht leben könne «. Doch wie ein Ende machen? Wodurch? Davon hatte er keine Ahnung und wollte daran auch nicht denken. Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, denn der Gedanke quälte ihn. Er fühlte und wußte nur, daß es notwendig war, daß alles sich ändere, so oder anders, »ganz gleich wie«, – das wiederholte er mit einer verzweifelten, unbeweglichen Entschlossenheit und großem Selbstvertrauen. Nach alter Gewohnheit ging er den gewöhnlichen Weg seiner früheren Wanderungen zum Heumarkt. Kurz vor dem Heumarkte stand auf dem Straßenpflaster vor einem kleinen Laden ein junger schwarzhaariger Leierkastenmann und leierte ein rührendes Lied. Er begleitete ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das auf dem Trottoir stand und wie ein vornehmes Fräulein mit Krinoline, Mantille, Handschuhen und einem Strohhut mit einer feuerroten Feder bekleidet war; alle diese Sachen waren alt und abgetragen. Mit einer zittrigen, aber recht angenehmen und starken Stimme sang sie ihr Lied in Erwartung eines Zweikopekenstücks aus dem Laden. Raskolnikow blieb neben zwei oder drei anderen Zuhörern stehen, hörte eine Weile zu, holte ein Fünfkopekenstück aus der Tasche und legte es dem jungen Mädchen in die Hand. Jenes brach den Gesang bei der empfindsamsten und höchsten Note ab, rief dem Leierkastenmann scharf zu: »Genug!« und beide gingen weiter, zu dem nächsten Laden. »Lieben Sie Straßengesang?« wandte sich Raskolnikow an einen nicht mehr jungen Passanten, der neben ihm vor dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Jener blickte ihn bestürzt und erstaunt an. – »Ich liebe ihn«, fuhr Raskolnikow fort, doch mit einer Miene, als rede er gar nicht vom Straßengesang. »Ich liebe es, wenn an einem kalten, dunklen und feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Leute auf der Straße blaßgrüne und kranke Gesichter haben; oder noch besser, wenn nasser Schnee ganz gerade, ohne Wind herabfällt, wissen Sie, und die Flammen der Gaslaternen hindurchleuchten ...« »Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, wie durch die Frage, so auch durch das sonderbare Aussehen Raskolnikows erschreckt, und ging auf die andere Straßenseite hinüber. Raskolnikow ging geradeswegs weiter und gelangte zu der Ecke des Heumarktes, wo der Kleinbürger und seine Frau, die damals mit Lisaweta sprachen, ihre Verkaufsstände hatten; jetzt waren sie aber nicht da. Als er aber die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der vor dem Eingange zu einem Mehllager gähnte. »Hier handelt doch an der Ecke ein Kleinbürger mit einem Weib, seiner Frau, wie?« »Allerlei Leute handeln hier«, antwortete der Bursche, Raskolnikow mit einem Blicke messend. »Wie heißt er?« »Wie man ihn getauft hat, so heißt er.« »Bist du nicht auch aus dem Saraisker Kreise? Aus welchem Gouvernement bist du?« Der Bursche sah Raskolnikow von oben herab an. »Wir haben kein Gouvernement, Eure Durchlaucht, sondern bloß einen Kreis; die Reise hat mein Bruder gemacht, ich saß aber zu Hause und weiß von nichts ... Verzeihen Sie gütigst, Durchlaucht.« »Ist es eine Garküche dort oben?« »Es ist ein Wirtshaus, es gibt ein Billard, und man kann auch Prinzessinnen finden ... Eine Wonne!« Raskolnikow durchschritt den Platz. Dort an der anderen Ecke stand eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er drängte sich mitten hinein und blickte in jedes Gesicht. Aus irgendeinem Grunde fühlte er sich hingezogen, jeden Menschen anzusprechen. Die Bauern beachteten ihn aber nicht; sie redeten laut unter sich und drängten sich zu kleinen Gruppen zusammen. Er stand und dachte eine Weile nach und ging dann nach rechts über das Trottoir in der Richtung zum W–schen Prospekt. Nachdem er den Platz wieder durchschritten hatte, geriet er in ein Gäßchen ... Er war auch früher oft durch dieses kurze, krumme Gäßchen gegangen, das den Heumarkt mit der Ssadowaja verbindet. In der letzten Zeit zog es ihn sogar hin, sich an allen diesen Stellen herumzutreiben, wenn es ihm übel zumute war, »damit es noch übler werde«. Jetzt ging er aber, ohne an etwas zu denken. Es gibt hier ein großes Haus, das ganz mit Schenken und sonstigen Speise- und Trinklokalen angefüllt ist; aus diesen kamen jeden Augenblick Frauen heraus, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft« Besuche zu machen pflegt – barhaupt und ohne Mäntel. An mehreren Stellen drängten sie sich auf dem Trottoir in Gruppen, vorwiegend vor den Eingängen zu den Kellergeschossen, wo zwei Stufen in allerlei sehr amüsante Vergnügungsstätten hinabführen. Aus einem dieser Lokale tönte in diesem Augenblick ein Lärmen und Trampeln, so daß es auf der ganzen Straße zu hören war; eine Gitarre klimperte, jemand sang, und es schien sehr lustig zuzugehen. Eine große Gruppe von Frauen drängte sich am Eingange; andere saßen auf den Stufen, andere wieder auf dem Trottoir; einige standen herum und unterhielten sich. Auf dem Straßenpflaster daneben ging, laut fluchend, ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette im Munde auf und ab; anscheinend wollte er irgendwo einkehren, hatte aber wohl vergessen, wo. Ein abgerissener Kerl zankte sich mit einem anderen abgerissenen Kerl, und ein sinnlos Betrunkener lag quer über der Straße. Raskolnikow blieb vor der großen Gruppe von Frauen stehen. Sie sprachen mit heiseren Stimmen; alle waren barhaupt und hatten Kattunkleider und Bocklederschuhe an. Einige waren über vierzig Jahre alt, doch es gab auch siebzehnjährige darunter, fast alle mit blauen Flecken unter den Augen. Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn dieser ganze Lärm dort unten ... Man hörte, wie jemand unter dem Lachen und Kreischen zur ausgelassenen Melodie, die eine Fistelstimme sang, und zu den Tönen einer Gitarre wie verrückt tanzte und den Takt mit den Absätzen schlug. Er hörte finster und nachdenklich zu und blickte, sich vor dem Eingange bückend, neugierig vom Trottoir in den Vorraum hinein. »Schöner Schutzmann, laß dir's sagen: Sollst mich ohne Grund nicht schlagen!« tönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikow hatte großes Verlangen, zu hören, was da gesungen wurde, als wäre das die Hauptsache. »Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen. Sind wohl betrunken. Soll ich mich vielleicht auch betrinken?« »Wollen Sie nicht einkehren?« fragte eine der Frauen mit ziemlich heller und noch nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und nicht mal abstoßend – die einzige in der ganzen Gruppe. »Sieh mal an, wie hübsch die ist!« antwortete er, nachdem er sich aufgerichtet und sie angeblickt hatte. Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr gut. »Sie sind auch selbst sehr hübsch«, sagte sie. »Wie mager!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen Sie eben aus dem Spital?« »Ihr seid zwar alle Generalstöchter, habt aber lauter Stutznasen!« unterbrach sie plötzlich ein Bauer, der angeheitert im aufgeknöpften Mantel und mit einer verschmitzt lächelnden Visage herantrat. »Sieh mal an, wie lustig!« »Tritt nur ein, wenn du schon da bist!« »Ich trete schon ein! Ist das ein süßes Leben!« Und er kugelte hinunter. Raskolnikow ging weiter. »Hören Sie, Herr!« rief ihm das Mädchen nach. »Was denn?« Sie wurde verlegen. »Lieber Herr, ich werde mich immer freuen, mit Ihnen meine Stunden zu vertreiben, aber jetzt kann ich mir vor Ihnen kein Herz fassen. Schenken Sie mir, mein angenehmer Kavalier, sechs Kopeken zu einem Schluck Branntwein!« Raskolnikow holte aus der Tasche, was er mit den Fingern gerade erwischte: drei Fünfkopekenstücke. »Ach, was für ein gütiger Herr!« »Wie heißt du?« »Fragen Sie nach der Duklida.« »Nein, das geht doch nicht«, bemerkte plötzlich ein anderes Frauenzimmer aus der Gruppe, über Duklida den Kopf schüttelnd. »Ich weiß gar nicht, wie man nur so betteln kann! Ich würde, glaube ich, vor lauter Scham in die Erde versinken!« Raskolnikow sah die Sprechende neugierig an. Es war ein pockennarbiges Mädel, an die dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken im Gesicht und mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach und kritisierte ruhig und ernst. »Wo habe ich bloß gelesen,« dachte sich Raskolnikow im Weitergehen, »daß ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor dem Tode sagt oder denkt: wenn er nur irgendwo in der Höhe, auf einem Felsen, auf einem so schmalen Plateau, das nur für seine zwei Füße Platz hätte, leben könnte – rings Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm –, und so auf diesem nur einen Arschin breiten Raum sein ganzes Leben lang, tausend Jahre, eine Ewigkeit bleiben sollte – so wäre es besser, so zu leben, als jetzt gleich zu sterben! Wie das Leben auch sei, nur leben, leben, leben! ... Wie wahr! Mein Gott, wie wahr! Gemein ist doch der Mensch! ... Und gemein ist auch der, der ihn deswegen gemein nennt«, fügte er nach einer Minute hinzu. Er kam in eine andere Straße. »Ach, das ist ja der ›Kristallpalast‹? Rasumichin sprach vorhin vom ›Kristallpalast‹! Ja, aber was wollte ich eigentlich? Ja, lesen! ... Sossimow sagte, er hätte es in der Zeitung gelesen ...« »Gibt es Zeitungen?« fragte er, in ein geräumiges und sogar sauberes Lokal tretend, das aus einigen, übrigens recht leeren Zimmern bestand. Zwei oder drei Gäste tranken Tee, und in einem der entfernteren Zimmer saß eine Gesellschaft von etwa vier Men schen, die Champagner tranken. Raskolnikow kam es vor, als ob unter ihnen auch Samjotow säße. Von weitem konnte man es übrigens nicht genau sehen. »Und wenn auch!« dachte er sich. »Befehlen der Herr einen Schnaps?« fragte der Kellner. »Bring mir Tee. Und bring mir alte Zeitungen, so von den fünf letzten Tagen hintereinander, du bekommst ein Trinkgeld dafür.« »Zu Befehl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch einen Schnaps?« Bald kamen die alten Zeitungen und der Tee. Raskolnikow setzte sich hin und begann zu suchen: »Isler – Isler – Azteken – Azteken – Isler – Bartold – Massimo – Azteken – Isler ... pfui Teufel! Und hier die kleinen Notizen: von der Treppe gestürzt – ein Kleinbürger im Rausche verbrannt – eine Feuersbrunst – eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – noch eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – und noch eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – Isler – Isler – Isler – Isler – Massimo ... Ja, hier ...« Er fand endlich das, was er suchte, und fing zu lesen an: die Zeilen hüpften ihm vor den Augen, trotzdem las er diesen ganzen »Bericht« und suchte voll Gier in den folgenden Nummern nach weiteren Mitteilungen. Seine Hände zitterten, als er in den Zeitungen blätterte vor krampfhafter Ungeduld. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er blickte auf: es war Samjotow, der gleiche Samjotow, im gleichen Aufzuge, mit den Ringen und Uhrketten, mit dem Scheitel im schwarzen, gekräuselten pomadisierten Haar, in einer eleganten Weste und in einem etwas schäbigen Rocke und nicht ganz sauberer Wäsche. Er war sehr heiter, jedenfalls lächelte er sehr lustig und gutmütig. Sein gebräuntes Gesicht war von dem getrunkenen Champagner etwas gerötet. »Wie! Sie sind hier?« begann er erstaunt und in einem Ton, als wäre er mit Raskolnikow Gott weiß wie lange bekannt. »Rasumichin hat mir aber erst gestern erzählt, daß Sie immer noch bewußtlos seien. Wie merkwürdig! Ich war doch bei Ihnen ...« Raskolnikow hatte gewußt, daß er sich zu ihm heransetzen würde. Er legte die Zeitungen weg und wandte sich zu Samjotow. Auf seinen Lippen spielte ein spöttisches Lächeln, und aus diesem Lächeln sprach eine neue Reizbarkeit und Ungeduld. »Ich weiß es, daß Sie bei mir waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie haben den Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz bezaubert von Ihnen, er sagt, Sie seien mit ihm bei der Lawisa Iwanowna gewesen, bei derselben, um die Sie sich damals so sehr bemühten und dem Leutnant Pulver zuzwinkerten; er begriff aber immer nicht, erinnern Sie sich noch? Was gab es da nicht zu verstehen, eine klare Sache ... nicht wahr?« »Was ist er doch für ein Radaumacher!« »Pulver?« »Nein, Ihr Freund Rasumichin ...« »Ein schönes Leben haben Sie, Herr Samjotow; die angenehmsten Orte dürfen Sie gratis besuchen! Wer hat Sie soeben mit Champagner bewirtet?« »Wir haben ... ein wenig getrunken ... Niemand hat mich bewirtet!« »Ein Honorar! Sie genießen!« Raskolnikow lachte. »Macht nichts, guter Junge, macht nichts!« fügte er hinzu und klopfte Samjotow auf die Schulter. »Ich sage es ja nicht aus Feindschaft, sondern ›aus Freundschaft, im Spiele‹, wie Ihr Arbeiter sagte, als er den Mitrej puffte, wissen Sie, in der Sache der Alten.« »Woher wissen Sie das?« »Ich weiß vielleicht mehr als Sie.« »Sie sind so sonderbar ... Wahrscheinlich sind Sie noch krank. Das war dumm, daß Sie ausgegangen sind.« »Komme ich Ihnen sonderbar vor?« »Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?« »Ja, Zeitungen.« »Man schreibt viel von den Feuersbrünsten.« »Nein, ich lese nicht von den Feuersbrünsten.« Er blickte Samjotow rätselhaft an; ein spöttisches Lächeln verzerrte wieder seine Lippen. »Nein, ich lese nicht von den Feuersbrünsten«, fuhr er fort, Samjotow zublinzelnd. »Gestehen Sie doch, lieber Junge, daß Sie furchtbar gerne wissen möchten, was ich gelesen habe?« »Das möchte ich gar nicht; ich habe nur so gefragt. Darf man denn nicht fragen? Warum sind Sie immer gleich so ...« »Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter Mensch mit literarischen Interessen, nicht wahr?« »Ich habe sechs Gymnasialklassen absolviert«, antwortete Samjotow mit einiger Würde. »Sechs Klassen! Ach du mein kleiner Spatz! Mit einem Scheitel und mit Ringen, ein reicher Mann! Gott, was für ein lieber Junge!« Raskolnikow lachte nervös Samjotow direkt ins Gesicht. Jener rückte weg, weniger gekränkt als erstaunt. »Gott, wie sonderbar Sie sind!« wiederholte Samjotow sehr ernst. »Mir scheint, daß Sie noch immer phantasieren.« »Ich phantasiere? Unsinn, kleiner Spatz! ... Ich bin also sonderbar? Erscheine ich Ihnen interessant? Interessant?« »Ja, Sie sind wohl interessant.« »Soll ich Ihnen sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? So viele Nummern habe ich mir doch bringen lassen! Das ist ja verdächtig, wie?« »Nun, sagen Sie es.« »Sie spitzen die Ohren, was?« »Was für Ohren?« »Das werde ich Ihnen später sagen, was für Ohren, aber jetzt mein Lieber, erkläre ich Ihnen ... oder besser: ›ich gestehe‹ ... Nein, das ist nicht das Richtige! ›Ich sage aus, und Sie nehmen es zu Protokoll,‹ – ja, so! Also ich sage aus, daß ich gelesen, mich interessiert, gesucht ... nachgeforscht habe ...« Raskolnikow kniff die Augen zusammen und hielt inne. »Nachgeforscht habe und eigens dazu hergekommen bin – das von der Ermordung der alten Beamtenwitwe«, sagte er schließlich fast im Flüstertone, indem sein Gesicht das des Samjotow beinahe berührte. Samjotow sah ihn unverwandt an, ohne sich zu regen und ohne sein Gesicht von dem seinigen zurückzuziehen. Am sonderbarsten erschien später Samjotow, daß dieses Schweigen eine volle Minute gedauert und daß sie sich eine volle Minute angestarrt hatten. »Nun, was ist denn dabei, daß Sie es gelesen haben?« rief er plötzlich ganz verwirrt und ungeduldig aus. »Was geht mich das an? Was ist denn dabei?« »Es ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikow im gleichen Flüstertone und ohne sich beim Ausrufe Samjotows zu rühren fort: »Dieselbe, von der man, Sie erinnern sich doch noch, im Polizeibureau zu sprechen anfing, worauf ich in Ohnmacht fiel. Nun, verstehen Sie jetzt?« »Was denn? Was ›verstehen Sie‹?« sagte Samjotow fast unruhig. Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikows veränderte sich in einem Augenblick, und plötzlich brach er wieder in das gleiche nervöse Lachen wie vorhin aus, als könnte er sich gar nicht beherrschen. Und augenblicklich erinnerte er sich in außerordentlicher Klarheit jenes Moments, als er hinter der Tür stand, mit dem Beil in der Hand, als der Riegel hüpfte, die anderen hinter der Tür standen und schimpften und die Tür aufbrechen wollten, er aber plötzlich Lust spürte, sie anzuschreien, zu beschimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen und zu lachen, zu lachen, zu lachen! »Sie sind entweder verrückt, oder ...« begann Samjotow und hielt inne, wie erschüttert durch den Gedanken, der ihm plötzlich in den Sinn gekommen war. »Oder? Was ›oder‹? Nun, was? Sagen Sie es doch!« »Nichts!« antwortete Samjotow erbost. »Unsinn!« Beide verstummten. Nach dem plötzlichen Lachkrampfe wurde Raskolnikow nachdenklich und traurig. Er legte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Er schien Samjotow ganz vergessen zu haben. Das Schweigen dauerte recht lange. »Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt«, sagte Samjotow. »Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikow nahm einen Schluck aus dem Glase, steckte ein Stückchen Brot in den Mund, blickte Samjotow an und schien sich plötzlich an alles zu erinnern, als hätte er einen Rausch von sich abgeschüttelt: sein Gesicht nahm sofort den früheren spöttischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee zu trinken. »Heutzutage gibt es viele solche Gaunereien«, sagte Samjotow. »Neulich las ich in den ›Moskauer Nachrichten‹, daß man in Moskau eine ganze Bande von Falschmünzern erwischt hat. Es war eine Gesellschaft. Sie haben Scheine gefälscht.« »Ach, das ist schon lange her! Ich habe es schon vor einem Monat gelesen,« antwortete Raskolnikow ruhig. »Es sind also Ihrer Ansicht nach Gauner?« fügte er lächelnd hinzu. »Vielleicht keine Gauner?« »Diese? Sie sind Kinder, Grünschnäbel, aber keine Gauner! Ein halbes Hundert Menschen tut sich zu diesem Zweck zusammen! Geht denn das? Es wären auch drei zuviel, und selbst wenn jeder dem andern mehr als sich selbst vertraute! Es braucht sich bloß einer im Rausche zu verschnappen, und alles ist verloren! Grünschnäbel! Sie schicken unzuverlässige Menschen in die Bankkontors zum Wechseln der Banknoten: wie kann man nur so eine Sache dem ersten besten anvertrauen? Und nehmen wir an, daß es den Grünschnäbeln geglückt ist, nehmen wir an, daß ein jeder für eine Million Banknoten eingewechselt hat; nun, und weiter? Das ganze Leben lang? Ein jeder hängt dann sein ganzes Leben lang vom andern ab! Es ist schon besser, sich zu erhängen! Sie verstanden aber nicht mal, einzuwechseln: einer kam ins Kontor zum Wechseln, und als er die ersten Fünftausend bekommen hatte, zitterten ihm die Hände. Die ersten vier zählte er nach, aber das fünfte Tausend nahm er ohne zu zählen, auf gut Glauben an, um es schneller in die Tasche zu stecken und sich aus dem Staube zu machen. Und so erregte er Verdacht. So platzte alles wie eine Seifenblase wegen eines einzigen Dummkopfes. Ist das nur möglich?« »Daß ihm die Hände zitterten?« fiel ihm Samjotow ins Wort. »Gewiß ist das möglich. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß es möglich ist. Zuweilen hält man es nicht aus.« »So etwas?« »Halten Sie es vielleicht aus? Nein, ich könnte es nicht aushalten! Für hundert Rubel Belohnung sich diesem Schrecken auszusetzen! Mit einer falschen Banknote hingehen – und wohin? in ein Bankkontor, wo sie Spezialisten sind, – nein, ich würde mich nicht beherrschen können. Würden Sie sich etwa beherrschen können?« Raskolnikow hatte wieder furchtbar Lust, »die Zunge zu zeigen«. Ein kalter Schauer überlief hin und wieder seinen Rücken. »Ich hätte es anders gemacht«, fing er etwas weitläufig an. »Ich würde so wechseln: ich zähle das erste Tausend an die viermal von beiden Enden nach, sehe mir jeden Schein genau an und mache mich dann an das zweite Tausend; ich fange an, es zu zählen, und hole etwa bei der Mitte einen Fünfzigrubelschein heraus, halte ihn gegens Licht und sehe ihn genau von allen Seiten an, ob er nicht falsch ist. ›Ich habe Angst‹, sage ich: ›Eine Verwandte von mir hat auf diese Weise einen Schaden von fünfundzwanzig Rubeln gehabt‹; und ich erzähle eine ganze Geschichte. Und wie ich das dritte Tausend zähle, – nein, erlauben Sie: ich habe, glaub ich, dort im zweiten Tausend das siebente Hundert falsch gezählt, ich habe Zweifel. Und ich lege das dritte Tausend weg und mache mich wieder an das zweite; und so bei allen fünf Tausend. Und wie ich fertig bin, hole ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je einen Schein heraus, halte ihn wieder gegens Licht und sage zweifelnd: ›Tauschen Sie ihn mir bitte um!‹ In den siebenten Schweiß treibe ich den Kontoristen, so daß er nicht mehr weiß, wie mich loszuwerden! Und wie ich mit allem fertig bin, gehe ich weg, mache schon die Tür auf, – aber nein; Sie entschuldigen, ich komme wieder zurück, um etwas zu fragen, um eine Auskunft zu holen. – So hätte ich es gemacht!« »Ach, was Sie für schreckliche Sachen sagen!« erwiderte Samjotow lachend. »Das sind aber nur Worte, in, der Tat würden Sie sicher stolpern. Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, können nicht nur wir beide, kann auch ein geriebener, tolldreister Mensch für sich nicht einstehen. Wozu weit suchen, da haben Sie ein Beispiel: in unserm Revier hat man eine Alte ermordet. Man müßte meinen, ein Tollkopf hat es am hellichten Tage riskiert, ist nur durch ein Wunder entkommen, und doch zitterten ihm die Hände: hat nicht zu stehlen verstanden, hat es nicht ausgehalten; man sieht es an allem ...« Raskolnikow schien beleidigt. »Man sieht es! Aber gehen Sie mal hin und fangen Sie ihn!« rief er aus, Samjotow schadenfroh neckend. »Nun, man wird ihn schon fangen.« »Wer? Sie? Sie werden ihn fangen! Da werden Sie lange springen müssen! Die Hauptsache ist doch bei Ihnen, ob der Mensch Geld ausgibt oder nicht? Früher hat er kein Geld gehabt, und plötzlich gibt er welches aus. – Wie sollte er nicht der Mörder sein? So führt Sie aber jedes Kind hinters Licht, wenn es nur will!« »Das ist es eben, daß sie alle so tun«, antwortete Samjotow. »Den Mord führt er schlau aus und setzt sein Leben aufs Spiel, läßt sich aber dann in einer Schenke erwischen. Beim Geldausgeben werden sie immer erwischt. Nicht alle sind doch so schlau wie Sie. Sie würden natürlich nicht in die Schenke gehen.« Raskolnikow runzelte die Brauen und blickte Samjotow durchdringend an. »Sie haben wohl Appetit bekommen und möchten gerne wissen, wie ich in einem solchen Falle handeln würde?« fragte er mürrisch. »Das möchte ich wohl«, antwortete jener fest und ernst. Er blickte und sprach auf einmal gar zu ernst. »Sehr?« »Sehr.« »Gut. Ich würde es so machen«, begann Raskolnikow, indem er sein Gesicht plötzlich wieder dem des Samjotow näherte, ihn wieder durchdringend anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal zusammenfuhr. »Ich würde es so machen: ich würde das Geld und die Sachen nehmen und direkt von dort, ohne irgendwo einzukehren, irgendwohin weit weggehen, an einen entlegenen Ort, wo lauter Zäune sind und wo fast kein Mensch vorbeigeht, – in einen Gemüsegarten oder dergleichen. Schon vorher würde ich mir auf so einem Hofe irgendeinen Stein, so einen oder anderthalb Pud schwer, der da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses irgendwo in einer Ecke oder am Zaune liegt, aussuchen; ich würde den Stein aufheben, – unter ihm muß eine kleine Vertiefung sein – und in diese Vertiefung alle Sachen und das Geld hineinlegen. Ich würde alles hineinlegen, den Stein dann wieder darauf wälzen, wie er früher gelegen hat, mit dem Fuße festdrücken und fortgehen. Ein ganzes Jahr, zwei Jahre würde ich die Sachen nicht anrühren, drei Jahre würde ich sie nicht anrühren, – da soll mich einer finden! Er war da und ist nicht mehr!« »Sie sind verrückt«, sagte Samjotow, er wußte selbst nicht warum, auch im Flüstertone und rückte von Raskolnikow weg. Raskolnikows Augen brannten; er war furchtbar blaß geworden; seine Oberlippe zuckte und begann zu hüpfen. Er beugte sich zu Samjotow so nahe als möglich vor und begann die Lippen zu bewegen, ohne etwas zu sagen; das dauerte eine halbe Minute; er wußte wohl, was er tat, konnte sich aber nicht beherrschen. Das schreckliche Wort sprang wie der Türriegel damals, auf seinen Lippen: gleich wird es sich losreißen; er braucht es nur loszulassen, braucht es nur zu sprechen! »Wie, wenn ich die Alte und die Lisaweta ermordet habe?« sagte er plötzlich und – kam zu sich. Samjotow blickte ihn wild an und wurde so weiß wie das Tischtuch. Sein Gesicht wurde von einem Lächeln verzerrt. »Ist es denn möglich?« sagte er kaum hörbar. Raskolnikow blickte ihn boshaft an. »Gestehen Sie doch, daß Sie es geglaubt haben!« sagte er endlich kalt und spöttisch. »Ja? Doch – ja?« »Durchaus nicht! Jetzt glaube ich es weniger als je!« antwortete Samjotow hastig. »Nun haben Sie sich verschnappt! Man hat den kleinen Spatz gefangen. Sie haben es also vorher geglaubt, wenn Sie ›es jetzt weniger als je‹ glauben?« »Nein, wirklich nicht!« rief Samjotow sichtlich verlegen. »Sie haben mir solche Angst gemacht, um mich darauf zu bringen!« »Sie glauben es also nicht? Worüber haben Sie aber damals in meiner Abwesenheit gesprochen, als ich aus dem Bureau gegangen war? Warum hat mich Leutnant Pulver nach dem Ohnmachtsanfall vernommen? He, du!« rief er dem Kellner zu, aufstehend und seine Mütze ergreifend. »Was habe ich zu bezahlen?« »Dreißig Kopeken im ganzen«, antwortete jener herbeieilend. »Da hast du noch zwanzig Kopeken Trinkgeld. Das viele Geld!« wandte er sich an Samjotow und hielt ihm seine zitternde Hand mit den Banknoten hin: »Rote, blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel. Woher habe ich die? Und woher die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß ich keine Kopeke hatte ... Meine Wirtin haben Sie doch schon sicher vernommen ... Nun genug! Assez causé! Auf Wiedersehen, auf angenehmes Wiedersehen! ...« Er ging hinaus, am ganzen Leibe von einer wilden hysterischen Empfindung zitternd, in der aber auch etwas von einer unerträglichen Wollust lag, – übrigens finster und furchtbar müde. Seine Züge waren verzerrt wie nach einem Anfall. Seine Müdigkeit nahm rasch zu. Seine Kräfte erwachten, sie meldeten sich jetzt beim ersten Anstoß, beim ersten Reize, um dann ebenso schnell abzunehmen, in dem Maße, wie der Reiz abnahm. Aber Samjotow saß, nachdem er allein geblieben war, lange nachdenklich auf dem gleichen Platz. Raskolnikow hatte ganz unerwartet seine Gedanken in dem bewußten Punkte umgestoßen, und er bildete sich nun seine endgültige Ansicht. »Ilja Petrowitsch ist ein Narr!« stellte er endgültig fest. Kaum hatte Raskolnikow die Tür zur Straße geöffnet, als er plötzlich auf der Schwelle mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie hatten einander selbst vor einem Schritt noch nicht gesehen, so daß sie jetzt beinahe mit den Köpfen zusammenprallten. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin war aufs höchste erstaunt, aber plötzlich flammte in seinen Augen Zorn, echter Zorn drohend auf. »Hier bist du also!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist aus dem Bette entlaufen! Ich habe ihn aber schon unter dem Sofa gesucht! Auf dem Dachboden haben wir nachgeschaut! Nastasja habe ich deinetwegen beinahe verprügelt ... Und er steckt hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die Wahrheit? Gestehe! Hörst du!« »Das soll bedeuten, daß ihr mich alle tödlich langweilt und daß ich allein sein will«, antwortete Raskolnikow ruhig. »Allein sein? Wo du noch kaum gehen kannst, wo deine Visage weiß wie Leinwand ist und du so schwer keuchst. Dummkopf! Was hast du im ›Kristallpalast‹ gemacht? Gestehe sofort!« »Laß mich!« sagte Raskolnikow und wollte an ihm vorbeigehen. Das brachte Rasumichin ganz aus der Fassung; er packte ihn fest an der Schulter. »Laß mich! Du wagst nach allem, was du getan hast, zu sagen ›laß mich?‹ Weißt du denn auch, was ich mit dir gleich tun werde? Ich packe dich, binde dich zu einem Knoten zusammen, trage dich unter dem Arm nach Hause und sperre dich ein!« »Hör mal, Rasumichin,« fing Raskolnikow leise und anscheinend ganz ruhig an, »siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht will? Und was ist das für ein Vergnügen, einem Wohltaten zu erweisen, der ... darauf spuckt? Einem, schließlich, der es wirklich nicht ertragen kann? Sag, wozu hast du mich gleich bei Beginn meiner Krankheit aufgesucht? Vielleicht wäre ich froh, zu sterben! Habe ich dir denn heute wenig gezeigt, daß du mich quälst, daß ich dich satt habe! Was ist es für ein Vergnügen, einen Menschen so zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meiner Genesung ernstlich im Wege steht, weil es mich unaufhörlich aufregt. Sossimow ist doch vorhin weggegangen, um mich nicht aufzuregen! Laß mich doch um Gottes willen in Ruhe! Und was hast du schließlich für ein Recht, mich mit Gewalt zurückzuhalten? Siehst du denn jetzt nicht, daß ich bei vollem Verstande spreche? Womit, belehre mich doch, womit soll ich dich endlich erweichen, daß du mich mit deinen Wohltaten in Ruhe läßt? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber laßt doch um Gottes willen von mir ab ... Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe!« Er hatte ganz ruhig angefangen und sich im voraus über das ganze Gift gefreut, das er ergießen wollte, endete aber keuchend vor Raserei, wie vorhin, als er Luschin vor sich hatte. Rasumichin stand eine Weile da, überlegte und ließ seine Hand los. »Scher dich zum Teufel!« sagte er leise, beinahe nachdenklich. »Halt!« schrie er plötzlich, als Raskolnikow sich vom Platze rührte. »Hör, was ich dir sage. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Schwätzer und Aufschneider seid! Wenn Ihr mal einen kleinen Schmerz habt, macht ihr so viel Aufhebens wie die Henne mit dem Ei! Und dabei plagiiert ihr fremde Autoren. Ihr habt keine Spur von einem selbständigen Leben! Aus Spermacetsalbe seid ihr alle gemacht und habt statt Blut – Molke! Keinem von euch glaube ich! Eure erste Sorge unter allen Umständen ist, möglichst wenig einem Menschen zu gleichen! Ha-alt!« rief er mit doppelter Wut, als er merkte, daß Raskolnikow wieder Anstalten machte, wegzugehen. »Hör mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um mit mir meine neue Wohnung einzuweihen; vielleicht sind sie schon gekommen, aber ich habe dort meinen Onkel zurückgelassen – ich war eben auf einen Sprung dort –, um die Gäste zu empfangen. Wenn du also kein Dummkopf wärest, kein gemeiner Dummkopf, kein Idiot, keine Übersetzung aus dem Ausländischen ... siehst du, Rodja, ich gebe zu, du bist ein gescheiter Bursche, aber ein Dummkopf! – wenn du also kein Dummkopf wärest, so würdest du heute abend lieber zu mir kommen und bei mir ein Stündchen verbringen, als dir die Sohlen ablaufen. Wenn du schon mal ausgegangen bist, so ist nichts zu machen! Ich würde dir so einen weichen Sessel heranrollen, die Wirtsleute haben einen ... Tee und Gesellschaft ... Und wenn es dir nicht paßt, so lege ich dich aufs Sofa hin, – dann liegst du immerhin unter uns ... Auch Sossimow kommt. Wirst du kommen?« »Nein.« »Unsinn!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Woher weißt du das? Du kannst für dich nicht garantieren! Gar nichts verstehst du davon ... Tausendmal habe ich mich mit Menschen ebenso verzankt und bin doch immer wieder zu ihnen zurückgekehrt ... Man schämt sich und kehrt zum Menschen zurück! Merk es dir also: Haus Potschinkow, zweiter Stock ...« »Dann werden Sie, Herr Rasumichin, vielleicht auch jemand gestatten, Sie zu schlagen, nur um jenem die Wohltat zu erweisen?!« »Wen? Mich! Schon für den bloßen Einfall schraube ich einem die Nase ab! Haus Potschinkow, Nr. 47, Wohnung des Beamten Babuschkin ...« »Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikow wandte sich um und ging. »Ich wette, daß du kommst!« schrie ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ... sonst will ich von dir nichts mehr wissen! Halt, hallo! Ist Samjotow hier?« »Ja.« »Hast ihn gesehen?« »Ja.« »Und gesprochen?« »Ja.« »Worüber? Nun, hol dich der Teufel, kannst es mir auch nicht sagen. Haus Potschinkow, 47, bei Babuschkin, merk es dir.« Raskolnikow ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin sah ihm nachdenklich nach. Endlich fuhr er mit der Hand durch die Luft und trat ins Haus, blieb aber auf der Mitte der Treppe stehen. »Hol der Teufel!« fuhr er fort, beinahe laut. »Er spricht vernünftig, und doch macht er den Eindruck ... Ich bin aber auch ein Dummkopf! Sprechen denn nicht auch die Verrückten vernünftig? Sossimow scheint aber gerade das zu befürchten!« Er schlug sich mit dem Finger an die Stirne. »Nun, und wenn ... wie kann man ihn jetzt nur allein gehen lassen? Er wird sich noch ertränken ... Ach, ich habe mich blamiert! Das geht nicht!« Und er lief zurück, um Raskolnikow einzuholen, jener war aber schon verschwunden. Er spuckte aus und ging mit raschen Schritten wieder in den »Kristallpalast« zurück, um möglichst schnell Samjotow auszufragen. Raskolnikow ging direkt auf die *sche Brücke, blieb in der Mitte am Geländer stehen, stützte darauf beide Ellenbogen und fing an, in die Ferne zu schauen. Nach dem Abschied von Rasumichin war er auf einmal so schwach geworden, daß er sich nur mit Mühe hatte hierherschleppen können. Er wollte sich auf der Straße irgendwo hinsetzen oder hinlegen. Über das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten rosigen Widerschein des Abendrots, auf die Reihe der Häuser, die in der sich verdichtenden Dämmerung dunkel dastanden, auf ein fernes Fenster an irgendeiner Mansarde auf dem linken Kai, das, für einen Augenblick von einem letzten Sonnenstrahl getroffen, wie Feuer erglänzte, auf das dunkelnde Wasser des Kanals, und er bohrte seinen Blick in dieses Wasser. Schließlich drehten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser schwankten, die Menschen, die Kais, die Equipagen – alles um ihn herum wirbelte und tanzte. Plötzlich fuhr er zusammen, durch ein wildes häßliches Gesicht vielleicht vor einem neuen Ohnmachtsanfall bewahrt. Er fühlte, wie sich jemand rechts neben ihn stellte; er blickte hin und sah eine großgewachsene Frau, mit einem Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgelebten Gesicht und roten eingefallenen Augen. Sie blickte gerade auf ihn, sah und unterschied aber offenbar nichts. Plötzlich stützte sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das rechte Bein, schwang es über das Gitter, dann das linke und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser öffnete den Schlund und verschlang für einen Augenblick sein Opfer, doch nach einer Minute tauchte die Selbstmörderin wieder auf und trieb langsam mit der Strömung, den Kopf und die Füße im Wasser, den Rücken nach oben; der Rock war hinaufgerutscht und ragte, zu einem Kissen angeschwollen, über dem Wasser. »Sie hat sich ertränkt! Ertränkt!« riefen Dutzende von Stimmen; die Leute liefen zusammen, beide Ufer bedeckten sich mit Zuschauern, auf der Brücke um Raskolnikow herum drängte sich das Volk und drückte ihn von rückwärts ans Geländer. »Väterchen, das ist ja unsere Afrossinjuschka!« ertönte irgendwo in der Nähe eine jammernde Frauenstimme ... »Väterchen, rettet! Liebe Menschen, zieht sie heraus!« »Ein Boot! Ein Boot!« schrie man in der Menge. Das Boot war aber schon unnötig: ein Schutzmann war die zum Kanal führenden Stufen hinuntergelaufen, hatte Mantel und Stiefel ausgezogen und sich ins Wasser gestürzt. Er hatte nicht viel zu arbeiten: die Selbstmörderin trieb etwa zwei Schritte von der Treppe vorbei; er packte mit der einen Hand ihre Kleider und mit der anderen eine Stange, die ihm ein Kamerad hinhielt, und die Selbstmörderin war im Nu herausgefischt. Man legte sie auf die Granitplatten des Ufers. Sie kam bald zu sich, setzte sich auf und begann zu niesen und zu prusten, während sie sich mit den Händen wie geistesabwesend ihr nasses Kleid abwischte. Sie sagte nichts. »Sie hat sich vollgesoffen, bis sie weiße Mäuse sah, Väterchen, weiße Mäuse!« jammerte die gleiche Frauenstimme, schon dicht neben Afrossinjuschka. »Neulich wollte sie sich erhängen, da nahm man sie aus der Schlinge. Ich ging eben zum Krämer, ließ mein Mädel bei ihr zurück zum Aufpassen, und da ist schon das Unglück geschehen! Eine Kleinbürgerin ist sie, Väterchen, eine Kleinbürgerin, gleich in der Nähe wohnen wir, im zweiten Haus von der Ecke, hier gleich ...« Die Menge zerstreute sich, die Polizisten machten sich noch bei der Selbstmörderin zu schaffen, jemand rief etwas vom Polizeibureau ... Raskolnikow betrachtete alles mit seltsamer Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit. Er spürte Ekel. »Nein, es ist ekelhaft ... Wasser ... es lohnt sich nicht«, murmelte er vor sich hin. »Es wird nichts werden,« fügte er hinzu, »es hat keinen Sinn, zu warten. Was ist mit dem Polizeibureau ... Warum ist Samjotow nicht im Bureau? Das Bureau ist doch um zehn Uhr offen ...« Er wandte sich mit dem Rücken zum Geländer und sah sich um. »Nun, warum auch nicht! Man kann's auch so!« sagte er entschlossen. Er verließ die Brücke und ging in die Richtung nach dem Polizeibureau. In seinem Herzen war es leer und öde. Er wollte an nichts den ken. Auch sein ganzer Gram war verschwunden, auch von der früheren Energie, als er von zu Hause fortging, um »allem ein Ende zu machen«, war keine Spur geblieben! An ihre Stelle war volle Apathie getreten. »Nun, auch das ist ein Ausweg!« dachte er sich, während er langsam und träge am Kanalkai ging. »Ich werde dem doch ein Ende machen, weil ich es so will ... Ist es aber auch ein Ausweg? Ist ja ganz gleich! Den Arschin Raum werde ich doch noch haben, ja! Was ist das aber für ein Ende! Ist es denn das Ende? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ach ... Teufel! Ich bin auch müde, wenn ich mich nur schnell irgendwo hinlegen oder hinsetzen könnte! Das Beschämendste ist, daß es so dumm ist. Aber ich spucke auch darauf! Pfui, was für Dummheiten einem manchmal in den Sinn kommen! ...« Um ins Polizeibureau zu kommen, mußte man immer geradeaus gehen und bei der zweiten Ecke nach links einschwenken: es waren nur wenige Schritte. Aber er blieb schon an der ersten Ecke stehen, dachte eine Weile nach, bog in die Seitengasse ein und machte so einen Umweg von zwei Straßen, – vielleicht machte er es ohne jede Absicht, vielleicht aber auch, um es noch eine Weile hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und blickte zu Boden. Plötzlich war es ihm, als hätte ihm jemand etwas ins Ohr geraunt. Er hob den Kopf und merkte, daß er an jenem Hause, dicht vor dem Toreingange stand. Seit jenem Abend war er hier weder gewesen noch vorbeigegangen. Ein unwiderstehliches und unerklärliches Verlangen zog ihn hin. Er trat ein, durchschritt den ganzen Torweg, bog in den ersten Eingang nach rechts ein und fing an, die bekannte Treppe in das dritte Stockwerk hinaufzusteigen. Auf der engen und steilen Treppe war es sehr finster. Er blieb auf jedem Absatze stehen und sah sich neugierig um. Auf dem ersten Treppenabsatze war ein Fensterrahmen ganz herausgenommen. »Das war damals nicht«, sagte er sich. Da ist auch die Wohnung im ersten Stock, wo damals die zwei Anstreicher gearbeitet haben. »Zugeschlossen; die Tür ist neu gestrichen; also ist die Wohnung zu vermieten.« Da ist schon das zweite Stockwerk ... das dritte ... »Hier ist es!« Da überkamen ihn Zweifel: die Tür zu dieser Wohnung stand weit offen, es waren Menschen darin, man hörte Stimmen; das hatte er keineswegs erwartet. Nach kurzem Schwanken ging er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein. Auch diese Wohnung wurde neu hergerichtet, und es waren Arbeiter da; dies versetzte ihn wohl in Erstaunen. Aus irgendeinem Grunde hatte er geglaubt, daß er hier alles genau in dem gleichen Zustande antreffen würde, wie er es damals zurückgelassen hatte; vielleicht sogar die Leichen auf denselben Stellen auf dem Boden. Jetzt aber: kahle Wände, keine Möbel; es war so seltsam! Er ging zum Fenster und setzte sich aufs Fensterbrett. Es waren in dem Raume zwei Arbeiter, beide junge Burschen: der eine älter, der andere viel jünger. Sie beklebten die Wände mit neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, zerrissenen und abgewetzten. Auf Raskolnikow machte das, er wußte selbst nicht warum, einen unangenehmen Eindruck; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm leid, daß man alles verändert hatte. Die Arbeiter hatten sich anscheinend verspätet. Jetzt rollten sie das Papier schnell zusammen und wollten wohl aufbrechen. Das Erscheinen Raskolnikows erregte ihre Aufmerksamkeit fast gar nicht. Sie unterhielten sich über etwas. Raskolnikow kreuzte die Arme und begann zuzuhören. »Kommt also jene des Morgens zu mir«, erzählte der Altere dem Jüngeren, »in aller Frühe, schön ausgeputzt. ›Was scharwenzelst du so vor mir‹, sage ich ihr, ›was tust du so schön?‹ – ›Ich will‹, sagte sie, ›Tit Wassiljitsch, Ihnen ganz angehören!‹ Ja, siehst du, so ist es! Und ausgeputzt war sie – das reinste Journal!« »Was ist das: ›Journal‹, Onkelchen?« fragte der Jüngere. Offenbar ließ er sich vom »Onkelchen« belehren. »Ein Journal, Bruder, das sind solche bemalte Bildchen, und die kommen an die hiesigen Schneider jeden Sonnabend mit der Post aus dem Auslande, um zu zeigen, wie sich jedermann, das männliche Geschlecht und das weibliche, zu kleiden hat. So eine Zeichnung also. Das männliche Geschlecht wird meistens in Pekeschen dargestellt, und was das weibliche Geschlecht betrifft, so sind da solche Souffleurs, daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft.« »Was es in diesem Petersburg nicht alles gibt!« rief der Jüngere begeistert. »Außer Vater und Mutter gibt es hier alles!« »Ja, außer ihnen findest du hier alles«, bestätigte der Ältere belehrend. Raskolnikow stand auf und ging ins andere Zimmer, wo die Truhe, die Betten und die Kommode gestanden hatten; das Zimmer erschien ihm jetzt ohne die Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren noch dieselben; in der Ecke war auf der Tapete deutlich die Stelle zu sehen, wo der Schrein mit dem Heiligenbilde gestanden hatte. Er sah sich alles an und kehrte zu seinem Fenster zurück. Der ältere Arbeiter schielte nach ihm. »Was wünschen Sie?« fragte er plötzlich, sich an ihn wendend. Statt eine Antwort zu geben, stand Raskolnikow auf, ging auf die Treppe hinaus, ergriff den Glockenzug und zog daran. Die gleiche Klingel, der gleiche blecherne Ton! Er zog noch einmal und ein drittes Mal. Er lauschte und besann sich. Die frühere quälende, furchtbare, häßliche Empfindung kam ihm immer greller und lebhafter in Erinnerung, er zuckte bei jedem Tone zusammen, und es wurde ihm immer wohler und wohler ums Herz. »Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, zu ihm hinausgehend. Raskolnikow trat wieder in die Tür. »Ich will die Wohnung mieten«, sagte er. »Ich sehe sie mir an.« »Nachts mietet man keine Wohnungen; außerdem müßten Sie mit dem Hausknecht kommen.« »Der Fußboden ist gewaschen. Wird man ihn neu streichen?« fuhr Raskolnikow fort. »Ist kein Blut da?« »Was für ein Blut?« »Hier hat man doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze Pfütze.« »Was bist du denn für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig. »Ich?« »Ja.« »Du willst es wohl wissen? ... Komm mit aufs Polizeibureau, dort werde ich es sagen.« Die Arbeiter sahen ihn erstaunt an. »Wir müssen gehen, wir haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen schließen«, sagte der ältere Arbeiter. »Gut, wollen wir gehen!« erwiderte Raskolnikow gleichgültig und ging voraus, langsam die Treppe hinabsteigend. »He, Hausknecht!« rief er, als er in den Torweg trat. Vor dem Hauseingange auf der Straße standen einige Menschen, die sich die Vorübergehenden ansahen, es waren die beiden Hausknechte, ein Weib, ein Kleinbürger in einem Hausrock und noch jemand. Raskolnikow ging gerade auf sie zu. »Was wollen Sie?« fragte einer der Hausknechte. »Bist da im Polizeibureau gewesen?« »Ja, soeben. Was wünschen Sie?« »Sitzen die Beamten noch dort?« »Ja, sie sitzen noch.« »Ist auch der Gehilfe da?« »Ja, er war eine Zeitlang da. Was wollen Sie?« Raskolnikow gab keine Antwort und blieb neben ihnen nachdenklich stehen. »Er wollte sich die Wohnung ansehen«, sagte der ältere Arbeiter herantretend. »Was für eine Wohnung?« »Wo wir arbeiten. ›Warum hat man das Blut abgewaschen?‹ hat er gesagt. ›Hier ist ein Mord geschehen, und ich will mir die Wohnung mieten.‹ Und er begann an der Klingel zu ziehen, hätte sie beinahe abgerissen, ›Gehen wir‹, sagte er, ›aufs Polizeibureau, dort werde ich alles sagen.‹ Er gab uns keine Ruhe!« Der Hausknecht musterte Raskolnikow verständnislos und finster. »Wer bist du denn!?« fragte er etwas strenger. »Ich bin Rodion Romanowitsch Raskolnikow, ehemaliger Student und wohne im Hause Schiel, hier in der Seitengasse, es ist nicht weit von hier, Wohnung Nr. 14. Kannst beim Hausknecht nachfragen ... der kennt mich.« Raskolnikow sagte das alles träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden, aufmerksam auf die dunkel gewordene Straße blickend. »Wozu sind Sie in die Wohnung gekommen?« »Um sie mir anzusehen.« »Was gibt's da zu sehen?« »Man sollte ihn festnehmen und aufs Polizeibureau bringen!« mischte sich plötzlich der Kleinbürger ein und verstummte gleich wieder. Raskolnikow sah ihn über die Schulter hinweg an und sagte ebenso leise und träge: »Gehen wir!« »Man sollte ihn wirklich hinführen!« sagte der Kleinbürger, neuen Mut fassend. »Warum hat er sich bloß danach erkundigt? Hat er nicht was im Sinn?« »Betrunken ist er wohl nicht, aber Gott allein weiß, was er für ein Mensch ist«, murmelte der Arbeiter. »Ja, was wollen Sie denn?« schrie ihn wieder der Hausknecht an, der ernstlich böse wurde. »Was klebst du hier?« »Vor dem Polizeibureau hast du wohl Angst?« sagte ihm Raskolnikow mit einem Lächeln. »Wer hat Angst? Was willst du von mir?« »Ein Gauner!« rief das Weib. »Was soll man mit ihm viel reden«, rief der andere Hausknecht, ein riesengroßer Kerl, in offenem Bauernrock und mit Schlüsseln im Gürtel. »Scher dich! ... Ist wohl wirklich ein Gauner ... Scher dich!« Und er packte Raskolnikow an der Schulter und warf ihn auf die Straße hinaus. Raskolnikow stolperte, fiel aber nicht hin. Er richtete sich auf, blickte alle die Zuschauer schweigend an und ging weiter. »Ein merkwürdiger Mensch«, sagte der Arbeiter. »So merkwürdig sind jetzt die Leute«, sagte das Weib. »Man hätte ihn doch aufs Polizeibureau bringen sollen«, fügte der Kleinbürger hinzu. »Es lohnte sich nicht, sich mit ihm einzulassen«, sagte der große Hausknecht sehr entschieden. »Ist gewiß ein Gauner! Er will es ja selbst, und wenn man sich mit ihm einläßt, so wird man ihn nicht wieder los ... Wir kennen das!« »Soll ich also hingehen oder nicht?« dachte sich Raskolnikow, indem er mitten auf dem Straßenpflaster an einer Kreuzung stehenblieb und um sich blickte, als erwartete er von jemand das entscheidende Wort. Aber von nirgends kam Antwort; alles war so stumm und tot wie die Steine, auf die er trat; nur für ihn allein tot ... Plötzlich unterschied er in der Ferne, zweihundert Schritte vor sich, am Ende der Straße in der immer dichter werdenden Dunkelheit eine Menschenmenge, Stimmen, Schreie ... Mitten in der Menge stand eine Equipage ... Auf der Straße bewegte sich ein Lichtschein. »Was ist das?« Raskolnikow wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er klammerte sich gleichsam an alles fest und lächelte kalt, als er es merkte, denn er hatte sich schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und wußte bestimmt, daß alles gleich ein Ende nehmen würde. 7. VII Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage, mit einem Paar feuriger grauer Pferde bespannt; niemand saß in ihr, und der Kutscher war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde wurden an den Zügeln gehalten ... Ringsherum drängten sich viele Menschen, ganz vorne Polizisten. Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich bückend, etwas, was auf dem Pflaster dicht vor den Rädern lag, beleuchtete. Alle sprachen, schrien und jammerten; der Kutscher schien bestürzt zu sein und wiederholte ab und zu: »Dieses Unglück! Mein Gott, welch ein Unglück!« Raskolnikow drängte sich nach Möglichkeit vor und erblickte endlich die Ursache der Erregung und der Neugier. Auf dem Boden lag ein von den Pferden zertretener Mann, bewußtlos, anscheinend sehr schlecht, doch wie ein »Gebildeter« gekleidet, über und über mit Blut bedeckt. Vom Gesicht und vom Kopf floß das Blut; das Gesicht war zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er wirklich schwer verletzt. »Liebe Leute!« jammerte der Kutscher. »Wie hätte ich da aufpassen sollen! Wenn ich noch zu schnell gefahren wäre oder ihn nicht angeschrien hätte – aber ich fuhr gar nicht schnell und ganz gleichmäßig. Alle haben es gesehen; was alle sagen, das sage ich auch. Ein Betrunkener kann nicht mal ein Licht vors Heiligenbild stellen, das weiß man ja! ... Ich sehe, wie er über die Straße geht, hin und her wankt und fast hinfällt – ich schreie ihn einmal an, ein zweites Mal, ein drittes Mal und halte die Pferde an, aber er fallt ihnen gerade unter die Hufe! Ob er es mit Absicht getan hat, oder schon so besoffen war ... Die Pferde sind jung und scheu – sie zogen an, er schrie auf –, sie zogen noch mehr an ... und so war das Unglück geschehen.« »Ja, es ist so!« ertönte aus der Menge die Stimme eines Augenzeugen. »Er hat wohl geschrien, das ist wahr, dreimal hat er ihn angeschrien!« bestätigte eine andere Stimme. »Genau dreimal, das haben alle gehört!« rief eine dritte Stimme. Der Kutscher war übrigens nicht allzu bekümmert und erschrocken. Die Equipage gehörte wohl einem reichen und hochgestellten Besitzer, der irgendwo auf sie wartete; die Polizisten gaben sich natürlich keine geringe Mühe, die Sache in Anbetracht dieses Umstandes in Ordnung zu bringen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeirevier und von dort ins Krankenhaus geschafft werden. Niemand kannte seinen Namen. Raskolnikow drängte sich indessen vor und beugte sich über den Verunglückten. Die kleine Laterne beleuchtete plötzlich hell das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn. »Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er, indem er sich ganz nach vorne drängte. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow! Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause ... Schnell einen Arzt! Ich werde bezahlen, hier!« Er holte aus der Tasche sein Geld und zeigte es dem Polizisten. Er war in höchster Aufregung. Die Polizisten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer der Überfahrene war. Raskolnikow gab auch seinen Namen und seine Adresse an und redete ihnen so inständig zu, als handele es sich um seinen leiblichen Vater, den bewußtlosen Marmeladow in dessen Wohnung zu bringen. »Es ist hier, nur drei Häuser weit«, sagte er geschäftig. »Das Haus Kosels, eines reichen Deutschen ... Er ging jetzt wohl betrunken nach Hause. Ich kenne ihn ... Er ist ein Säufer ... Er hat dort eine Familie, eine Frau und Kinder, er hat auch noch eine Tochter. Was soll man ihn erst ins Krankenhaus schleppen, es gibt doch sicher im Hause einen Arzt! Ich werde alles bezahlen! ... Er wird immerhin bei sich zu Hause gepflegt werden, man wird ihm gleich helfen, sonst stirbt er noch auf dem Wege zum Krankenhause ...« Er hatte sogar Zeit gefunden, einem der Beamten unbemerkt etwas in die Hand zu drücken; die Sache war übrigens ganz klar und gesetzlich, und die Hilfe war jedenfalls näher zu finden. Man hob den Überfahrenen auf und trug ihn hin; es fanden sich freiwillige Helfer. Das Koselsche Haus war nur dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinterher, den Kopf des Verunglückten vorsichtig stützend, und zeigte den Weg. »Hierher, hierher! Die Treppe hinauf muß man ihn mit dem Kopfe nach oben tragen; wendet ihn um ... ja, so! Ich werde bezahlen, ich werde euch danken!« murmelte er. Katerina Iwanowna ging wie immer, wenn sie einen freien Augenblick hatte, in ihrem winzigen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster zum Ofen und zurück, die Arme fest über der Brust gekreuzt, mit sich selbst redend und hustend. In der letzten Zeit sprach sie immer öfter und mehr mit ihrem ältesten Töchterchen, der zehnjährigen Polenjka, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr gut wußte, daß die Mutter sie brauchte, und ihr darum immer mit ihren großen klugen Augen folgte und sich die größte Mühe gab, den Anschein zu wecken, als verstände sie alles. Jetzt zog Polenjka ihren kleinen Bruder aus, der sich den ganzen Tag unwohl gefühlt hatte, um ihn zu Bett zu bringen. Der Junge wartete, daß man ihm sein Hemd wechsele, welches in der Nacht noch gewaschen werden sollte, und saß auf dem Stuhle schweigend, mit ernster Miene, gerade und unbeweglich, die Beinchen fest aneinander gedrückt und nach vorne gestreckt, so daß die Fersen dem Publikum zugewandt waren und die Fußspitzen nach rechts und links abstanden. Er hörte zu, was die Mutter mit seinem Schwesterchen sprach, die Lippen aufgeworfen, die Augen weit aufgerissen, ohne sich zu rühren, wie brave Knaben zu sitzen pflegen, wenn man sie auszieht und zu Bett bringt. Ein noch kleineres Mädchen, in lauter Lumpen gekleidet, stand bei der spanischen Wand und wartete, bis sie an die Reihe käme. Die Tür zur Treppe stand offen, der Tabakswolken wegen, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige zwangen, jeden Augenblick lange und schmerzhaft zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch magerer geworden zu sein, und die roten Flecken an ihren Wangen leuchteten noch greller als früher. »Du wirst es mir nicht glauben, du kannst es dir nicht mal vorstellen, Polenjka,« sagte sie, immer auf und ab gehend, »wie lustig und vornehm wir im Hause meines Papas gelebt haben und wie dieser Trunkenbold mich und euch alle zugrunde gerichtet hat. Papa war ein Ziviloberst und beinahe Gouverneur; es blieb ihm nur noch ein Schritt, um Gouverneur zu werden, und darum kamen alle zu ihm und sagten: ›Wir halten Sie schon für unseren Gouverneur, Iwan Michailowitsch.‹ Als ich ... kche! als ich ... kche-kche-kche- ... Oh, dieses dreimal verfluchte Leben!« schrie sie auf, den Schleim ausspuckend und sich an die Brust greifend. »Als ich ... ach ... als ich auf dem letzten Ball ... beim Adelsmarschall ... als mich die Fürstin Bessemeljnaja sah, – die mir später den Segen gab, als ich deinen Papa heiratete, Polja, – so fragte sie mich gleich: ›Ist es nicht das liebe Mädchen, das mit dem Schal bei der Schlußfeier im Institut getanzt hat?‹ ... (Das Loch muß man doch zunähen; wenn du doch eine Nadel nehmen und es stopfen wolltest, wie ich es dich gelehrt habe, sonst wird er es morgen ... kche morgen ... kche-kche-kche! ... noch mehr zerreißen!« schrie sie fast erstickend.) »Damals war aus Petersburg soeben der Kammerjunker Fürst Schtschegolskij gekommen ... er tanzte mit mir eine Mazurka und wollte schon am anderen Tage mit dem Heiratsantrag kommen; aber ich bedankte mich in den schmeichelhaftesten Ausdrücken und sagte ihm, mein Herz gehöre schon längst einem anderen. Dieser andere war dein Vater, Polja; mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib das Hemdchen her; und die Strümpfchen? ... Lida,« wandte sie sich an die jüngste Tochter: »du kannst diese Nacht ohne Hemd schlafen; das wird schon irgendwie gehen ... leg die Strümpfe daneben ... Die wasch ich dann zusammen ... Was kommt unser Lump noch nicht, der Säufer! Er trägt sein Hemd schon so lange; wie ein schmutziger Lappen ist es schon, ganz zerrissen hat er es ... Das ginge dann zusammen, damit ich mich nicht zwei Nächte zu quälen brauche! Gott! Kche-kche-kche! Wieder! Was ist denn da?« schrie sie, als sie die Menge draußen auf der Treppe erblickte und die Menschen, die sich mit ihrer Last ins Zimmer gedrängt hatten. »Was ist das? Was bringt man da? Gott!« »Wo soll man ihn hierhinlegen?« fragte ein Polizist, sich umsehend, als man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladow hereingetragen hatte. »Aufs Sofa! Legt ihn direkt aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« zeigte Raskolnikow. »Man hat ihn auf der Straße überfahren, als er betrunken war!« rief jemand von der Treppe herein. Katerina Iwanowna stand ganz blaß da und atmete schwer. Die Kinder waren erschrocken. Die kleine Lidotschka schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, umarmte sie und erzitterte am ganzen Körper. Nachdem er den Marmeladow aufs Sofa gebettet hatte, wandte sich Raskolnikow an Katerina Iwanowna: »Um Gottes willen, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er in großer Hast. »Er ging über die Straße und wurde überfahren. Beunruhigen Sie sich nicht, er wird gleich zu sich kommen, ich ließ ihn herbringen ... Ich bin schon mal bei Ihnen gewesen, Sie erinnern sich noch ... Er wird zu sich kommen, ich werde bezahlen!« »Nun hat er es erreicht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf und stürzte zu ihrem Mann. Raskolnikow merkte bald, daß sie nicht zu den Frauen gehörte, die leicht in Ohnmacht fallen. Im Nu lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, an das noch niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann ihn auszuziehen und zu besehen; sie tat sehr geschäftig, verlor nicht die Fassung, dachte nicht mehr an sich selbst und biß sich in die zitternden Lippen, um die Schreie zu unterdrücken, die sich ihrer Brust entringen wollten ... Raskolnikow überredete indessen jemand, einen Arzt zu holen. Der Arzt wohnte, wie es sich zeigte, gleich im Nebenhause. »Ich habe nach einem Arzt geschickt«, sagte er zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde bezahlen ... Kann ich nicht Wasser haben? Und geben Sie mir eine Serviette, ein Handtuch, irgendwas, schnell; es ist noch unbekannt, wie die Verletzungen sind ... Er ist nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt ... Was wird wohl der Arzt sagen!« Katerina Iwanowna stürzte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem durchgedrückten Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, das sie zum Waschen der Wäsche der Kinder und ihres Mannes bereitgestellt hatte. Dieses nächtliche Wäschewaschen besorgte Katerina Iwanowna eigenhändig mindestens zweimal in der Woche, manchmal auch öfter, denn sie waren schon so heruntergekommen, daß sie gar keine Wäsche zum Wechseln hatten und jedes Familienmitglied bloß ein Exemplar von allem besaß. Katerina Iwanowna konnte aber keine Unreinlichkeit ertragen und zog es vor, sich in der Nacht, während alle schliefen, über ihre Kraft abzuquälen, um die nasse Wäsche auf dem gespannten Strick bis zum Morgen zu trocknen und dann ihren Angehörigen in gewaschenem Zustande zu geben, statt in ihrem Hause Schmutz zu dulden. Sie griff schon nach der Schüssel, um sie Raskolnikow, wie er es verlangte, zu bringen, fiel aber fast mit dieser Last hin. Raskolnikow hatte aber schon ein Handtuch gefunden und angefeuchtet und fing an, das blutbedeckte Gesicht Marmeladows abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, rang schmerzvoll um Atem und preßte die Hände an die Brust. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikow sah allmählich ein, daß es vielleicht falsch war, den Überfahrenen hierher bringen zu lassen. Auch der Schutzmann stand unschlüssig da. »Polja!« rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Ssonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so macht das nichts, laß ihr sagen, daß man den Vater überfahren hat und daß sie sofort herkommen soll ... sobald sie heimkommt. Schneller, Polja! Hier, nimm das Tuch, bedecke dich damit!« »Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der kleine Junge von seinem Stuhl. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres stummes aufrechtes Sitzen auf dem Stuhle, die Augen weit aufgerissen, die Fersen vorgestreckt, die Fußspitzen gespreizt. Das Zimmer füllte sich indessen so, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Die Polizisten entfernten sich, außer einem, welcher noch dablieb und versuchte, das Publikum, das von der Treppe hereingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszudrängen. Dafür kamen aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel zusammen; anfangs drängten sie sich nur in der Tür, dann aber fluteten sie in einem Haufen in die Stube. Katerina Iwanowna geriet in Wut. »Wenn ihr ihn doch wenigstens ruhig sterben lassen wolltet!« schrie sie die Menge an. »Ist das eine Theatervorstellung? Mit Zigaretten kommen sie her! Kche-kche-kche! Kommt doch auch mit Hüten herein! ... Da ist wirklich einer im Hut ... Hinaus! Man muß doch wenigstens vor einer Leiche Achtung haben!« Der Husten erstickte sie, aber das Schreien half. Vor Katerina Iwanowna hatte man offenbar Respekt; die Mieter drängten sich einer nach dem anderen wieder zur Tür mit dem eigentümlichen Gefühl einer inneren Befriedigung, das man stets selbst bei den Nahestehenden bemerken kann, wenn einen ihrer Mitmenschen ein Unglück trifft; von diesem Gefühl ist kein Mensch ohne Ausnahme befreit, so aufrichtig auch sein Mitleid und seine Teilnahme sind. Hinter der Tür wurden übrigens Stimmen laut, daß man den Verunglückten doch ins Krankenhaus schaffen solle und daß es ungehörig sei, damit die Nachbarn zu belästigen. »Es ist ungehörig, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte schon zur Tür, um sie aufzureißen und ein Donnerwetter gegen die Nachbarn loszulassen, stieß aber in der Tür mit der Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst vom Unglück erfahren hatte und herbeigelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie war eine außerordentlich dumme und unordentliche Deutsche. »Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Ihren Mann betrunken hat Pferd zertreten. Er ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!« »Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer hochmütig, damit jene sich nicht vergesse, und auch jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen) – »Amalia Ludwigowna ...« »Ich Ihnen einmal für immer gesagt, daß Sie niemals wagen, mich Amalia Ludwigowna nennen; ich bin Amalia Iwanowna!« »Sie sind nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre, wie der Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht (hinter der Tür hörte man wirklich Lachen und die Worte: ›Da sind sie sich wieder in die Haare geraten!‹), so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obwohl ich unmöglich begreifen kann, warum dieser Name Ihnen mißfällt. Sie sehen ja selbst, was Ssemjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er stirbt. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zu schließen und niemand hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst wird Ihre Handlungsweise morgen dem Generalgouverneur bekannt, das versichere ich Ihnen! Der Fürst hat mich als junges Mädchen gekannt und erinnert sich gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er schon oft seine Wohltaten erwiesen hat. Es ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner hatte, denen er selbst aus edlem Stolz den Rücken gekehrt hat, da er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war; aber jetzt (sie wies auf Raskolnikow) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und Verbindungen besitzt und den Ssemjon Sacharowitsch schon als Kind gekannt hat; – ich versichere Ihnen, Amalia Ludwigowna ...« Dies alles wurde mit außergewöhnlicher und immer anwachsender Hast gesprochen, doch der Husten unterbrach mit einemmal den Redefluß Katerina Iwanownas. In diesem Augenblick kam der Sterbende zu sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und fing an, ohne jemand zu erkennen und ohne etwas zu verstehen, den über ihn gebeugten Raskolnikow zu betrachten. Er atmete schwer, tief und langsam; an den Mundwinkeln zeigte sich Blut; Schweiß war ihm in die Stirne getreten. Er erkannte Raskolnikow nicht und fing an, unruhig um sich zu blicken. Katerina Iwanowna sah ihn traurig, doch streng an, während aus ihren Augen die Tränen liefen. »Mein Gott! Seine ganze Brust ist ja eingedrückt! Das viele Blut, das Blut!« rief sie verzweifelt. »Man muß ihm die Kleider ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn du kannst!« rief sie ihm zu. Marmeladow erkannte sie. »Einen Geistlichen!« sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna trat ans Fenster, drückte ihre Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt: »O dieses dreimal verfluchte Leben!« »Einen Geistlichen!« sagte der Sterbende wieder nach einer minutenlangen Pause. »Man ist doch schon hingegangen!« schrie ihm Katerina Iwanowna zu; er hörte den Schrei und verstummte. Mit scheuen, traurigen Blicken suchte er sie; sie kehrte zu ihm zurück und stellte sich ihm zu Häupten hin. Er wurde etwas ruhiger, doch nicht für lange. Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lidotschka (seinem Liebling) haften, die in der Ecke wie im Krampfe zitterte und ihn mit ihren erstaunten, kindlich aufmerksamen Augen ansah. »Ah ... ah ...« lallte er voll Unruhe auf sie weisend. Er wollte etwas sagen. »Was ist denn?« schrie ihn Katerina Iwanowna an. »Barfuß? Sie ist barfuß!« murmelte er, mit wahnsinnigen Blicken auf die bloßen Füßchen des Kindes zeigend. »Schweig!« schrie Katerina Iwanowna gereizt. »Weißt selbst, warum sie barfuß ist!« »Gott sei Dank, der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut. Herein trat der Arzt, ein sauber gekleidetes altes Männchen, ein Deutscher; mißtrauisch um sich blickend, ging er auf den Kranken zu, fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam seinen Kopf, knöpfte ihm mit Hilfe Katerina Iwanownas das blutdurchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerquetscht, zerdrückt und zerrissen; mehrere Rippen rechts waren gebrochen. Links, dicht über dem Herzen, war ein unheimlicher, großer, gelblich schwarzer Fleck – die Spur eines furchtbaren Hufschlages. Der Arzt runzelte die Stirn. Der Polizist berichtete ihm, daß eines der Räder den Verunglückten erfaßt und, sich immer noch drehend, an die dreißig Schritte weit über das Pflaster geschleift habe. »Es ist ein Wunder, daß er überhaupt zu sich gekommen ist«, flüsterte der Arzt leise Raskolnikow zu. »Nun, was meinen Sie?« fragte jener. »Er wird gleich sterben.« »Ist denn wirklich keine Hoffnung mehr?« »Nicht die geringste! Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist auch der Kopf sehr schwer verletzt ... Hm! ... Man könnte ihn vielleicht zur Ader lassen ... aber ... es wird nichts nützen. In fünf oder zehn Minuten wird er ganz gewiß sterben.« »Dann lassen Sie ihn lieber zur Ader!« »Meinetwegen ... Aber ich sage Ihnen gleich, daß es nichts nützen wird.« In diesem Augenblicke ertönten neue Schritte, die Menge auf der Treppe machte Platz, und auf der Schwelle erschien ein alter grauhaariger Geistlicher mit den Sakramenten. Ein Polizist war noch von der Straße ihn holen gegangen. Der Arzt machte ihm so fort Platz und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick. Raskolnikow bat den Arzt, noch ein Weilchen zu bleiben. Jener zuckte die Achseln und blieb. Alle traten zur Seite. Die Beichte dauerte gar nicht lange. Der Sterbende begriff kaum etwas; er konnte auch nur abgerissene, unverständliche Laute von sich geben. Katerina Iwanowna nahm Lidotschka, holte den Jungen von seinem Stuhl und kniete in der Ecke am Ofen nieder; die Kinder mußten vor ihr niederknien. Das Mädchen zitterte nur; der Junge aber lag auf den nackten Knien, hob gleichmäßig und langsam die Hand, bekreuzigte sich bedächtig und verneigte sich bis zur Erde, so daß die Stirn auf den Boden anstieß, was ihm anscheinend Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich in die Lippen und hielt die Tränen zurück; auch sie betete; ab und zu zupfte sie dem Jungen das Hemdchen zurecht; dem Mädchen warf sie aber auf die allzu entblößten Schultern ein Tuch, das sie, ohne von den Knien aufzustehen und immer betend, von der Kommode genommen hatte. Die Tür zu den anderen Zimmern wurde indessen wieder von Neugierigen geöffnet. Draußen vor der Wohnungstür drängten sich die Zuschauer – die Hausbewohner aus allen Stockwerken immer enger zusammen –, ohne übrigens über die Schwelle des Zimmers zu treten. Die ganze Szene war von einem einzigen Lichtstumpf erleuchtet. In diesem Augenblick drängte sich aus dem Flure durch die Menge Polenjka, die gelaufen war, um ihre Schwester zu holen. Sie trat ein, kaum atmend vom schnellen Laufen, nahm sich das Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, ging auf sie zu und sagte: »Sie kommt schon! Ich hab sie auf der Straße getroffen!« Die Mutter zwang sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge drängte sich unhörbar und scheu ein junges Mädchen, und seltsam war ihr plötzliches Erscheinen in diesem Zimmer, wo Armut, Lumpen, Tod und Verzweiflung herrschten. Auch sie war in Lumpen gekleidet; es war eine billige, doch nach dem Geschmack der Straße aufgeputzte Kleidung, den Regeln und Forderungen entsprechend, die sich in dieser eigentümlichen Welt gebildet haben, mit grell und schamlos unterstrichenem besondern Zweck. Ssonja blieb draußen, dicht vor der Schwelle stehen, trat aber nicht über die Schwelle und blickte wie verloren, anscheinend ohne etwas zu begreifen und ohne an ihr aus vierter Hand gekauftes, hier so unpassendes buntes Seidenkleid mit der sehr langen komischen Schleppe, an die ungeheure Krinoline, die den Eingang versperrte, an die hellen Schuhe, an den Sonnenschirm, der bei Nacht zwar überflüssig war, den sie aber doch mitgenommen hatte, und an den lächerlichen runden Strohhut mit der feuerroten Feder zu denken. Unter diesem nach Knabenart schief aufgesetzten Hute blickte ein mageres, blasses, erschrockenes Gesichtchen mit offenem Munde und vor Schreck erstarrten Augen hervor. Ssonja war klein gewachsen, etwa achtzehn Jahre alt, eine magere, doch recht niedliche Blondine mit wunderbaren blauen Augen. Sie blickte unverwandt auf das Bett und auf den Geistlichen; auch sie war vom schnellen Gehen ganz atemlos. Endlich erreichten wohl das Tuscheln und einige in der Menge gesprochene Worte ihr Ohr. Sie senkte die Augen, trat einen Schritt über die Schwelle und stand nun im Zimmer, aber immer noch dicht bei der Tür. Die Beichte und das Abendmahl waren zu Ende. Katerina Iwanowna trat wieder ans Bett ihres Mannes. Der Geistliche machte ihr Platz und wandte sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr einige Worte zum Abschied und Trost zu sagen. »Und wo soll ich diese da hintun?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt, auf die Kleinen zeigend. »Gott ist gnädig; hoffen Sie auf die Hilfe des Höchsten«, fing der Geistliche an. »Ach ja, gnädig, doch nicht gegen uns!« »Das ist Sünde, Sünde, meine Dame!« bemerkte der Geistliche kopfschüttelnd. »Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna, auf den Sterbenden zeigend. »Vielleicht werden die, die das Unglück ungewollt verschuldet haben, bereit sein, Sie zu entschädigen, wenigstens für den verlorenen Verdienst ...« »Sie verstehen mich nicht!« rief Katerina Iwanowna gereizt und winkte mit der Hand ab. »Wofür soll man mich entschädigen? Er ist ja selbst im betrunkenen Zustande unter die Pferde gelaufen! Was für ein Verdienst? Von ihm hatten wir gar keinen Verdienst, sondern nur Qual. Der Trunkenbold hat ja doch alles vertrunken! Er bestahl uns und trug das Gestohlene in die Schenke, mein Leben und das Leben der Kinder hat er in der Schenke zugrunde gerichtet! Und Gott sei Dank, daß er stirbt! Nun werde ich weniger Auslagen haben!« »In der Todesstunde soll man einem Menschen verzeihen; das ist aber Sünde, meine Dame, solche Gefühle sind eine schwere Sünde!« Katerina Iwanowna machte sich am Sterbenden zu schaffen; sie gab ihm zu trinken, wischte ihm den Schweiß und das Blut vom Kopfe, rückte die Kissen zurecht und sprach mit dem Geistlichen, an den sie sich ab und zu mitten in der Arbeit wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast wütend auf ihn. »Ach, Väterchen! Das sind ja nur Worte! Verzeihen! Da wäre er, wenn man ihn nicht überfahren hätte, betrunken heimgekommen, sein einziges Hemd ist schmutzig und zerfetzt, er hätte sich schlafen gelegt, und ich hätte bis zum Morgen im Wasser herumgepatscht, hätte seine Lumpen und die der Kinder gewaschen, dann vor dem Fenster getrocknet, und beim Tagesanbruch hätte ich mich hingesetzt, um das Zeug zu flicken, so wäre meine Nacht gewesen! ... Was soll man da vom Verzeihen reden! Ich habe ihm auch so verziehen.« Ein tief aus der Lunge dringender, schrecklicher Husten unterbrach ihre Worte. Sie spuckte ins Taschentuch und hielt dieses dem Geistlichen hin, während sie die eine Hand schmerzvoll an die Brust drückte. Das Taschentuch war voll Blut ... Der Geistliche senkte den Kopf und sagte nichts. Marmeladow lag im letzten Todeskampfe; er wandte seine Augen nicht vom Gesicht Katerina Iwanownas, die sich wieder über ihn beugte. Er wollte immer etwas sagen; er fing auch an, angestrengt die Zunge zu bewegen und unverständliche Worte hervorzustoßen, aber Katerina Iwanowna erriet, daß er sie um Verzeihung bitten wollte, und schrie ihn an: »Schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen willst! ...« Der Kranke verstummte; im gleichen Augenblick fiel aber sein umherschweifender Blick auf die Tür, und er erblickte Ssonja. Bisher hatte er sie nicht bemerkt; sie stand im Schatten in der Ecke. »Wer ist das? Wer ist das?« sprach er plötzlich mit heiserer, ersterbender Stimme, ganz aufgeregt, entsetzt mit den Augen auf die Tür zeigend, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu erheben. »Lieg ruhig!« herrschte ihn Katerina Iwanowna an. Er brachte es aber mit unnatürlicher Anstrengung fertig, sich auf die Hand zu stützen. Wild und unbeweglich blickte er eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er sie, die Erniedrigte, Erdrückte, Aufgeputzte und Verschämte, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, sich von ihrem Vater zu verabschieden. Seine Züge zeigten ein unendliches Leid. »Ssonja! Tochter! Vergib!« schrie er und wollte nach ihr die Hand ausstrecken, aber er verlor den Stützpunkt und stürzte vom Sofa mit dem Gesicht auf den Fußboden; man lief herbei, hob ihn auf, legte ihn wieder aufs Sofa, er war aber schon im Sterben. Ssonja stieß einen leisen Schrei aus, lief zu ihm hin und umarmte ihn. Er starb in ihren Armen. »Nun hat er es!« rief Katerina Iwanowna, als sie die Leiche ihres Mannes sah. »Nun, was soll ich jetzt tun? Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit soll ich morgen diese da satt kriegen?« Raskolnikow ging auf Katerina Iwanowna zu. »Katerina Iwanowna,« fing er an, »Ihr verstorbener Mann hat mir in der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Umstände erzählt ... Seien Sie überzeugt, daß er von Ihnen mit Begeisterung und Achtung gesprochen hat. Von jenem Abend an, an dem ich erfuhr, wie er an Ihnen allen hing und wie sehr er besonders Sie, Katerina Iwanowna, trotz seiner unglücklichen Schwäche, achtete und liebte, von jenem Abend an waren wir Freunde geworden ... Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen Freunde die letzte Ehre zu erweisen. Hier sind ... ich glaube, zwanzig Rubel, – und wenn Ihnen mit diesem Gelde geholfen ist, so ... werde ich ... mit einem Wort, ich werde noch vorbeikommen, – ich werde ganz bestimmt vorbeikommen ... vielleicht schon morgen ... Leben Sie wohl ...« Er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge auf die Treppe; doch hier stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch zusammen, der vom Unfall gehört hatte und hergekommen war, um persönlich nach dem Rechten zu sehen. Seit dem Vorfall im Polizeibureau hatten sie sich nicht mehr gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort. »Ach, sind Sie es?« fragte er ihn. »Er ist tot«, erwiderte Raskolnikow. »Der Arzt war da, auch der Geistliche war da, alles ist in Ordnung. Ersparen Sie der armen Frau die Aufregung, sie ist ohnehin schwindsüchtig. Sprechen Sie ihr Mut zu, wenn Sie es können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte er mit einem Lächeln hinzu, ihm gerade in die Augen blickend. »Wie Sie sich mit Blut beschmiert haben«, bemerkte Nikodim Fomitsch, als er beim Lichte der Laterne einige frische Flecke auf Raskolnikows Weste erblickte. »Ja, ich habe mich beschmiert ... ich bin ganz mit Blut bedeckt!« sagte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Ausdruck. Dann lächelte er, nickte und ging die Treppe hinunter. Er stieg langsam hinunter, ohne Übereilung, im Fieber zitternd, doch ohne sich dessen bewußt zu sein, von einem einzigen, neuen, unfaßbaren Gefühl des ihn plötzlich überströmenden vollen und mächtigen Lebens erfüllt. Diese Empfindung mochte der eines zum Tode Verurteilten gleichen, dem man unerwartet die Begnadigung mitteilt. Auf der halben Treppe holte ihn der Geistliche ein, der nach Hause eilte; Raskolnikow gab ihm schweigend den Vortritt und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er aber die letzten Stufen hinunterging, hörte er hinter sich eilige Schritte, jemand lief ihm nach. Es war Polenjka; sie lief ihm nach und rief: »Hören Sie mal! Hören Sie mal!« Er wandte sich zu ihr um. Sie lief die letzte Treppe hinunter und blieb dicht vor ihm, eine Stufe über ihm stehen. Ein trübes Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikow erkannte das magere, doch liebliche Gesichtchen der Kleinen, die ihm zulächelte und ihn kindlich und heiter ansah. Sie kam mit einem Auftrage gelaufen, der ihr anscheinend selbst gut gefiel. »Hören Sie mal, wie heißen Sie? Und noch: wo wohnen Sie?« fragte sie hastig mit erstickendem Stimmchen. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und blickte sie mit einem eigentümlichen beseligenden Gefühl an. Es war ihm so angenehm, sie anzusehen, er wußte selbst nicht warum. »Wer hat Sie geschickt?« »Mich hat Schwesterchen Ssonja geschickt«, antwortete das Kind noch freudiger lächelnd. »Das wußte ich, daß Schwesterchen Ssonja Sie geschickt hat.« »Auch die Mama hat mich geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte, kam auch die Mama heran und sagte: ›Lauf schneller hin, Polenjka!‹« »Lieben Sie das Schwesterchen Ssonja?« »Ich liebe sie mehr als alle!« antwortete Polenjka mit einer eigentümlichen Sicherheit, und ihr Lächeln wurde plötzlich ernster. »Werden Sie auch mich lieben?« Statt einer Antwort näherte sich ihm das Gesicht der Kleinen, und die weichen Lippen spitzten sich zu einem Kusse. Plötzlich umschlangen ihn fest die wie Streichhölzer dünnen Ärmchen, das Köpfchen legte sich auf seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise zu weinen an, das Gesicht immer fester und fester an das seinige schmiegend. »Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, ihr verweintes Gesichtchen hebend und sich mit den Händen die Tränen abwischend. »Jetzt haben wir immer Unglück«, fügte sie unerwartet hinzu, mit jenem wichtigen Ausdruck, den die Kinder mit großer Mühe annehmen, wenn sie plötzlich wie »die Großen« sprechen wollen. »Und hat auch Papa Sie geliebt?« »Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt«, fuhr sie sehr ernst und ohne zu lächeln fort, ganz wie Erwachsene zu sprechen pflegen. »Er hat sie darum geliebt, weil sie so klein ist und auch weil sie krank ist, und hat ihr immer Geschenke mitgebracht, uns aber hat er im Lesen unterrichtet und mich in der Grammatik und Religion«, fügte sie stolz hinzu. »Mamachen sagte nichts, aber wir wußten, daß sie es gerne sah, auch Papachen wußte es. Mamachen will mich aber Französisch lehren, weil es für mich Zeit ist, eine Erziehung zu bekommen.« »Können Sie auch beten?« »O gewiß können wir es! Schon lange; ich bete, da ich schon groß bin, leise für mich, aber Kolja und Lidotschka beten laut mit der Mama; zuerst sprechen sie das Gebet an die Mutter Gottes, dann das Gebet: ›Gott, vergib dem Schwesterchen Ssonja und segne es‹, und dann: ›Gott, verzeihe unserem anderen Papa und segne ihn‹, denn unser älterer Papa ist schon tot, und dieser ist unser zweiter Papa, aber wir beten auch für ihn.« »Polenjka, ich heiße Rodion; beten Sie mal auch für mich: ›für den Knecht Gottes Rodion‹ – und sonst nichts.« »Mein ganzes künftiges Leben werde ich für Sie beten«, sagte das Mädchen mit Feuereifer. Plötzlich lachte es wieder, stürzte auf ihn zu und umarmte ihn sehr fest. Raskolnikow nannte ihr seinen Namen, gab auch die Adresse an und versprach, morgen unbedingt zu kommen. Das Kind ging ganz entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße trat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an der gleichen Stelle, von der sich vorhin die Frau ins Wasser gestürzt hatte. »Genug!« sagte er entschlossen und feierlich: »Fort mit den Trugbildern, fort mit den vermeintlichen Schrecken, fort mit den Gespenstern! ... Es gibt ein Leben! Habe ich denn eben nicht gelebt? Mein Leben ist noch nicht mit der alten Wucherin gestorben! Gott gebe ihr ewige Ruhe, – genug, Mütterchen, es ist Zeit für dich auszuruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichts bricht jetzt an ... und des Willens, und der Kraft ... und wir wollen sehen! Wir wollen uns jetzt messen!« fügte er herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Gewalt und fordere sie heraus. »Und ich war schon bereit, auf einem Arschin freien Raumes zu leben! ...« »... Schwach war ich in diesem Augenblick, aber ... aber ich glaube, die Krankheit ist schon vorüber. Ich wußte ja, daß sie vergehen wird, als ich vorhin von zu Hause wegging. Übrigens: das Haus Potschinkow ist ja nur zwei Schritte von hier ... soll er die Wette gewinnen! ... Soll er das Vergnügen haben, ich gönne es ihm! ... Kraft, ich brauche Kraft: ohne Kraft kann ich nichts erreichen; die Kraft kann man sich aber nur durch Kraft erwerben, das ist es, was sie nicht wissen«, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und ging, mühevoll die Beine bewegend, von der Brücke. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen wuchsen von Minute zu Minute; schon in der nächsten Minute war er ein anderer Mensch als in der vorhergehenden. Was hatte er aber so Außergewöhnliches erlebt, das ihn so verändert hatte? Das wußte er auch selbst nicht; wie einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift, kam es ihm plötzlich vor, daß er »noch leben könne, daß es noch ein Leben gäbe, daß sein Leben nicht zugleich mit der alten Wucherin gestorben sei«. Vielleicht war diese Schlußfolgerung etwas voreilig, aber er dachte nicht daran. »Ich bat sie aber, den Knecht Gottes Rodion im Gebete zu erwähnen«, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Nun, dies für jeden Fall!« fügte er hinzu und mußte schon selbst über diesen kindlichen Einfall lachen. Er war in einer ausgezeichneten Laune. Er fand Rasumichin ohne jede Mühe; im Hause Potschinkows war der neue Mieter schon bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sofort den Weg. Schon auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Gespräche einer großen Versammlung hören. Die Tür zur Treppe stand weit offen; man hörte Schreie und Streit. Rasumichins Zimmer war recht groß, die Versammlung bestand aber aus etwa fünfzehn Menschen. Raskolnikow blieb im Flur stehen. Hier, hinter einem Bretterverschlag machten sich zwei Mägde der Wirtsleute mit zwei großen Samowars zu schaffen; Flaschen, Teller und Platten mit Pasteten und Imbiß waren aus der Küche der Wirtsleute hergeschafft. Raskolnikow ließ Rasumichin zu sich herausrufen. Jener kam entzückt herbeigelaufen. Man konnte ihm auf den ersten Blick ansehen, daß er ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie richtig betrinken konnte, war es ihm diesmal doch anzumerken. »Hör,« sagte ihm Raskolnikow eilig, »ich komme nur, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß wirklich kein Mensch weiß, was mit ihm alles geschehen kann. Zu dir hereinkommen kann ich aber nicht; ich bin so schwach, daß ich gleich umfalle. Darum: guten Tag und leb wohl! Komm du aber morgen zu mir ...« »Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du schwach bist, so ...« »Und die Gäste? Wer ist der mit dem Lockenkopf, der eben herausgeschaut hat?« »Der? Weiß der Teufel, wer es ist! Wahrscheinlich ein Bekannter des Onkels, vielleicht ist er aber auch ungebeten hergekommen ... Bei den Gästen lasse ich den Onkel zurück: er ist ein Prachtmensch; schade nur, daß du ihn jetzt nicht kennen lernen kannst. Übrigens – hol sie alle der Teufel! Sie kümmern sich jetzt nicht um mich, und auch ich muß an die frische Luft; denn du kommst mir sehr gelegen, Bruder! Noch zwei Minuten, und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Was die für einen Unsinn zusammenschwatzen ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, was so ein Mensch alles zusammenreden kann! Warum sollst du es dir auch nicht vorstellen können? Schwatzen denn wir wenig? Sollen sie nur schwatzen, dafür werden sie später keinen Unsinn reden ... Bleib eine Weile hier, ich bringe gleich den Sossimow her.« Sossimow fiel mit Gier über Raskolnikow her; es war ihm eine eigentümliche Neugierde anzusehen; sein Gesicht heiterte sich bald auf. »Sofort schlafen gehen«, sagte er, nachdem er den Patienten, so gut es ging, untersucht hatte. »Und zur Nacht nehmen Sie ein Mittelchen! Werden Sie es einnehmen? Ich habe es schon vorhin für Sie vorbereitet ... es ist ein Pülverchen.« »Meinetwegen auch zwei«, antwortete Raskolnikow. Das Pulver wurde sofort eingenommen. »Es ist sehr gut, daß du ihn selbst begleitest«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wie es morgen sein wird, werden wir erst sehen, aber heute ist es gar nicht schlecht: eine bedeutende Veränderung gegen früher. Man lernt nie aus ...« »Weißt du, was mir eben Sossimow zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich werde es dir aber nicht so direkt sagen, Bruder, denn sie sind alle Dummköpfe. Sossimow sagte mir, ich solle den ganzen Weg mit dir schwatzen und auch dich zum Schwatzen animieren und dann alles ihm berichten, denn er hat die Idee ... daß du verrückt bist, oder nahe daran bist, es zu werden. Denk es dir nur! Erstens bist du dreimal so klug als er, zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du drauf, daß er solchen Unsinn im Kopfe hat, und drittens ist jetzt dieses Stück Fleisch, seiner engeren Spezialität nach Chirurg, auf Geisteskrankheiten versessen, und was dich betrifft, so hat ihn sein heutiges Gespräch mit Samjotow endgültig darauf gebracht.« »Hat dir Samjotow alles erzählt?« »Alles, und es war sehr gut, daß er es getan hat. Jetzt habe ich es durch und durch begriffen, und auch Sossimow hat es begriffen ... Na ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... ich bin jetzt ein wenig betrunken ... Das ... macht aber nichts ... die Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... ihnen wirklich gekommen war ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut zu sagen, denn es ist ein haarsträubender Unsinn, und besonders, als man diesen Anstreicher festgenommen hatte, fiel das alles zusammen und erlosch für immer. Warum sind sie aber solche Dummköpfe? Den Samjotow hatte ich damals ein wenig verprügelt, doch das bleibt unter uns, Bruder; zeige ihm nur nicht, daß du davon etwas weißt; ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist; es passierte bei der Lawisa – doch heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er nutzte damals deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau aus, aber später schämte er sich dessen selbst; ich weiß es ja ...« Raskolnikow hörte ihm mit Gier zu. Rasumichin fing in seinem Rausche an, alles auszuplaudern. »Ich war damals darum ohnmächtig geworden, weil es schwül war und nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow. »Du erklärst es mir noch! Es war aber nicht die Farbe allein: die Entzündung bereitete sich doch einen ganzen Monat lang vor; dazu haben wir den Sossimow! Wie dieser dumme Junge jetzt niedergeschlagen ist, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht den kleinen Finger dieses Menschen wert!« sagt er. »Das heißt, deines Fingers. Manchmal hat er auch gute Gefühle, Bruder. Doch die Lektion, die Lektion, die du ihm heute im ›Kristallpalast‹ erteilt hast, ist der Gipfel der Vollkommenheit! Du hast ihn doch anfangs so erschreckt, daß er beinahe Krämpfe kriegte! Du hast ihn fast dazu gebracht, daß er an diesen ganzen abscheulichen Unsinn von neuem glaubte, und dann – dann zeigtest du ihm plötzlich die Zunge: ›Da hast du es!‹ Tadellos! Nun ist er erdrückt und vernichtet. Ein Meister bist du, bei Gott! So muß man auch diese Leute behandeln! Schade, daß ich nicht dabei war! So sehnsüchtig hat er dich jetzt erwartet. Auch Porfirij möchte dich kennen lernen ...« »So ... auch er ... Und warum wollten sie mich für verrückt erklären?« »Das heißt, nicht für verrückt. Ich habe mich, glaub ich, doch etwas verschnappt ... Es ist ihm, siehst du, vorhin aufgefallen, daß dich nur ein einziger Punkt interessiert; jetzt ist es ihm klar, warum er dich so interessiert: nachdem er alle Umstände kennt ... und wie es dich damals gereizt und sich mit deiner Krankheit verquickt hat ... Ich bin jetzt etwas betrunken, Bruder, aber er hat, hol ihn der Teufel, irgendeine eigene Idee ... Ich sage dir ja: er ist auf Geisteskrankheiten versessen. Pfeif aber darauf ...« Eine halbe Minute lang schwiegen sie beide. »Hör mal, Rasumichin,« begann Raskolnikow, »ich will es dir offen sagen; ich war eben bei einer Leiche, ein Beamter ist gestorben ... dort ließ ich mein ganzes Geld zurück ... außerdem hat mich ebenso ein Geschöpf geküßt, das, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte ... mit einem Worte, ich sah dort auch noch ein anderes Geschöpf ... mit einer feuerroten Feder ... übrigens rede ich dummes Zeug; ich bin sehr schwach, stütze mich ... gleich kommt die Treppe ...« »Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin besorgt. »Mir schwindelt etwas der Kopf, aber das ist es nicht; die Hauptsache ist, es ist mir so traurig, so traurig! Wie einem Weibe ... wirklich! Schau, was ist das? Schau! Schau!« »Was ist denn los?« »Siehst du es denn nicht? Licht in meinem Zimmer, siehst du es? In der Ritze ...« Sie standen schon vor der letzten Treppe neben der Tür zur Wohnung der Wirtin, und man konnte wirklich von unten sehen, daß in Raskolnikows Kammer Licht brannte. »Sonderbar! Vielleicht ist es Nastasja«, bemerkte Rasumichin. »Niemals kommt sie um diese Zeit zu mir ins Zimmer, auch schläft sie schon längst, aber ... es ist mir ganz gleich! Leb wohl!« »Was hast du? Ich will dich begleiten, wir gehen zusammen hinein!« »Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen, aber ich will dir hier die Hand drücken und mich hier von dir verabschieden! Nun, gib die Hand, leb wohl!« »Was ist mit dir, Rodja?« »Es ist nichts ... gehen wir ... du wirst Zeuge sein ...« Als sie die Treppe weiter hinaufstiegen, kam Rasumichin der Gedanke, daß Sossimow vielleicht im Rechte sei. »Ach, ich habe ihn mit meinem Geschwätz aufgeregt!« murmelte er vor sich hin. Plötzlich hörten sie, als sie vor die Tür traten, Stimmen im Zimmer. »Was ist denn hier los?« schrie Rasumichin. Raskolnikow ergriff als erster die Klinke, öffnete die Tür weit und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Seine Mutter und Schwester saßen auf seinem Sofa und warteten auf ihn schon seit anderthalb Stunden. Warum hatte er sie am allerwenigsten erwartet, warum am allerwenigsten an sie gedacht, trotz der auch heute wiederholten Nachricht, daß sie schon abreisen, unterwegs seien und jeden Augenblick eintreffen müßten? Diese anderthalb Stunden hatten sie beide Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand und ihnen schon alles mit allen Einzelheiten erzählt hatte. Sie waren ganz außer sich vor Schreck, als sie hörten, daß er »heute durchgebrannt« sei, krank und, wie Nastasja berichtete, ganz bestimmt im Fieber! »Mein Gott, was ist nur mit ihm geschehen!« Beide weinten, beide hatten in diesen anderthalb Stunden der Erwartung eine Kreuzespein ausgestanden. Ein freudiger, entzückter Aufschrei begrüßte Raskolnikows Erscheinen. Beide stürzten auf ihn zu. Er stand aber wie tot da; eine plötzliche, unerträgliche Erkenntnis hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände konnten sich nicht erheben, um sie zu umarmen; sie konnten es nicht! Die Mutter und die Schwester erdrückten ihn in ihren Umarmungen, küßten ihn, lachten, weinten ... Er trat einen Schritt vor, schwankte und stürzte ohnmächtig zu Boden. Aufregung, erschreckte Schreie, Stöhnen ... Rasumichin, der an der Schwelle gestanden hatte, sprang ins Zimmer, nahm den Kranken in seine mächtigen Arme, und jener lag im Nu auf dem Sofa. »Es ist nichts, es ist nichts!« rief er der Mutter und der Schwester zu. »Es ist bloß ein Ohnmachtsanfall, ein Unsinn! Der Arzt hat soeben gesagt, daß es ihm viel besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser! Nun, da kommt er schon zu sich, da ist er ganz bei Bewußtsein! ...« Und er packte Dunjetschkas Hand so, daß er ihr beinahe den Arm verrenkte, und zwang sie, sich niederzubeugen und zu sehen, daß »er schon ganz bei Bewußtsein« sei. Die Mutter und die Schwester sahen Rasumichin wie die Vorsehung mit Rührung und Dankbarkeit an; von Nastasja hatten sie schon gehört, was dieser »flinke junge Mann« für ihren Rodja während seiner Krankheit gewesen war; so nannte ihn am gleichen Abend in einem intimen Gespräche mit Dunja Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst. Dritter Teil 1. I Raskolnikow erhob sich und setzte sich aufs Sofa. Er winkte Rasumichin schwach ab, um dem Strome seiner zusammenhanglosen und eifrigen Trostworte, die er an Mutter und Schwester richtete, ein Ende zu machen, nahm die Hände der beiden in die seinigen und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere an. Die Mutter erschrak vor diesem Blick. In diesem Blicke lag ein starkes Gefühl, das an Schmerz grenzte, zugleich aber etwas Unbewegliches, sogar fast Wahnsinniges. Pulcheria Alexandrowna fing zu weinen an. Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der Hand des Bruders. »Geht nach Hause ... mit ihm«, sagte er mit zitternder Stimme, auf Rasumichin zeigend. »Bis morgen; morgen werde ich alles ... Seid ihr schon lange angekommen?« »Heute abends Rodja«, antwortete Pulcheria Alexandrowna. »Der Zug hatte eine fürchterliche Verspätung. Aber, Rodja, ich gehe jetzt um nichts in der Welt von dir weg! Ich übernachte hier nebenan ...« »Quält mich nicht«, sagte er und winkte gereizt mit der Hand. »Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich verlasse ihn für keinen Augenblick, soll nur alle meine Gäste der Teufel holen, sollen sie nur rasen und toben! Ich habe dort meinen Onkel als Präsidenten zurückgelassen.« »Womit, womit soll ich es Ihnen lohnen!« begann Pulcheria Alexandrowna, indem sie Rasumichin wieder die Hand drückte, aber Raskolnikow unterbrach sie von neuem: »Ich kann nicht, ich kann nicht«, wiederholte er gereizt, »quält mich nicht! Es ist genug, geht ... Ich kann nicht! ...« »Gehen wir, Mamachen, gehen wir wenigstens für einen Augenblick aus dem Zimmer«, flüsterte Dunja erschrocken. »Wir quälen ihn ja, das sieht man doch.« »Werde ich ihn denn gar nicht sehen können nach den drei Jahren Trennung!« jammerte Pulcheria Alexandrowna. »Wartet!« hielt er sie wieder zurück. »Ihr unterbrecht mich immer, und meine Gedanken geraten durcheinander ... Habt Ihr den Luschin gesehen?« »Nein, Rodja, er weiß aber schon von unserer Ankunft. Wir hörten, Rodja, daß Pjotr Petrowitsch so gütig war, dich heute zu besuchen«, fügte Pulcheria Alexandrowna etwas unsicher hinzu. »Ja ... er war so gütig ... Dunja, ich habe dem Luschin vorhin gesagt, daß ich ihn die Treppe hinunterwerfen werde, und habe ihn zum Teufel gejagt ...« »Rodja, was, fällt dir ein! Wahrscheinlich ... willst du sagen«, fing Pulcheria Alexandrowna erschrocken an, hielt aber nach einem Blick auf Dunja inne. Awdotja Romanowna betrachtete unverwandt den Bruder und wartete, was er noch sagen würde. Beide waren schon von dem Auftritt mit Luschin durch Nastasja unterrichtet, soweit sie imstande war, es zu begreifen und mitzuteilen, und hatten in der Ungewißheit und Erwartung furchtbare Qualen gelitten. »Dunja,« fuhr Raskolnikow mit Mühe fort, »ich wünsche diese Ehe nicht, und darum mußt du gleich morgen beim ersten Wort dem Luschin absagen, damit wir ihn nicht mehr riechen!« »Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Bruder, überlege dir, was du sagst!« begann Awdotja Romanowna auffahrend, beherrschte sich aber gleich wieder. »Vielleicht bist du jetzt nicht imstande, bist müde«, sagte sie sanft. »Im Fieber? Nein ... Du heiratest den Luschin nur um meinetwillen . Ich nehme aber das Opfer nicht an. Schreibe ihm darum morgen einen Brief ... mit einer Absage ... Morgen früh gibst du ihn mir zu lesen, und die Sache ist erledigt!« »Ich kann es nicht tun!« rief das junge Mädchen gekränkt: »Mit welchem Recht ...« »Dunjetschka, auch du bist hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht ...« rief die Mutter erschrocken, sich zu Dunja stürzend. »Ach, gehen wir lieber fort!« »Er phantasiert!« rief der betrunkene Rasumichin. »Wie würde er es sonst wagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn aus seinem Kopfe weg ... Heute hat er ihn tatsächlich hinausgeworfen. Das war wirklich so. Nun wurde jener böse ... Er hat hier Reden geschwungen, mit seinem Wissen geprahlt und ist schließlich mit eingezogenem Schwanz abgezogen ...« »So ist es wirklich wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna. »Bis auf morgen, Bruder«, sagte Dunja mitleidsvoll. »Wollen wir gehen, Mamachen ... Leb wohl, Rodja!« »Hör, Schwester«, sagte er ihr wieder, seine letzten Kräfte zusammennehmend: »ich phantasiere nicht; diese Ehe ist eine Gemeinheit. Mag ich ein Schuft sein, du darfst es aber nicht! ... nur einer von beiden ... und wenn ich auch ein Schuft bin, so werde ich eine solche Schwester nicht als Schwester anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...« »Du bist ja verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber Raskolnikow antwortete nicht, war vielleicht auch gar nicht imstande, zu antworten. Er legte sich aufs Sofa und wandte sich völlig erschöpft zur Wand. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin neugierig an; ihre schwarzen Augen funkelten; Rasumichin fuhr unter diesem Blicke sogar zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand wie vom Blitz getroffen da. »Ich kann doch unmöglich weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu. »Ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja nach Hause.« »Sie verderben die ganze Sache«, antwortete Rasumichin außer sich, gleichfalls flüsternd. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er halblaut auf der Treppe fort, »er hat vorhin mich und den Arzt beinahe verprügelt! Verstehen Sie das? Den Arzt selbst! Und jener gab ihm nach, um ihn nicht zu reizen, und ging fort, ich aber blieb unten, um aufzupassen. Nun hat er sich angekleidet und ist durchgebrannt. Er wird auch jetzt durchbrennen, wenn Sie ihn reizen werden, bei Nacht, und wird sich etwas antun ...« »Ach, was sagen Sie?« »Auch kann Awdotja Romanowna unmöglich allein ohne Sie in diesen möblierten Zimmern bleiben. Bedenken Sie doch, wo Sie abgestiegen sind, als hätte dieser Schuft, Pjotr Petrowitsch keine bessere Wohnung für Sie finden können! Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ... geschimpft; beachten Sie nicht ...« »Ich gehe aber zur Wirtin«, bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrem Willen, »und will sie anflehen, mir und Dunja irgendeinen Platz für diese Nacht zu geben. Ich kann ihn nicht so zurücklassen, ich kann es nicht!« Als sie so sprachen, standen sie draußen auf dem Treppenabsatz vor der Tür zur Wohnung der Wirtin, Nastasja leuchtete ihnen von der letzten Stufe herab. Rasumichin war in ungewöhnlicher Erregung. Vor einer halben Stunde, als er Raskolnikow nach Hause begleitete, war er zwar übermäßig gesprächig, dessen er sich auch bewußt war, dabei aber vollkommen munter und beinahe frisch, trotz der ungeheuren Menge des von ihm ausgetrunkenen Weines. Sein jetziger Zustand glich aber einer Ekstase, und zugleich stieg ihm der ganze Wein mit doppelter Kraft auf einmal in den Kopf. Er stand mit den beiden Damen, hielt sie beide an den Händen fest, redete ihnen zu, drückte ihnen, während er seine Gründe mit erstaunlicher Offenheit darlegte, die Hände bei jedem Wort so fest zusammen, daß es ordentlich wehtat, und verschlang dabei, ohne sich im geringsten zu genieren, Awdotja Romanowna mit den Augen. Vor Schmerz versuchten sie ab und zu ihre Hände seiner großen knochigen Hand zu entreißen, sobald er aber die Absicht merkte, zog er sie noch fester zu sich heran. Wenn sie ihm jetzt befohlen hätten, kopfüber von der Treppe hinunterzuspringen, um ihnen damit einen Dienst zu erweisen, so hätte er es, ohne zu überlegen und ohne zu zweifeln, getan. Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt vom Gedanken an ihren Rodja, fühlte zwar, daß der junge Mann allzu exzentrisch sei und ihre Hand viel zu stark drücke, doch da er für sie die Vorsehung war, wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht beachten. Trotz der gleichen Aufregung und obwohl sie nicht zu den Angstlichen zählte, beobachtete Awdotja Romanowna erstaunt und sogar fast erschrocken die in wildem Feuer brennenden Blicke des Freundes ihres Bruders, und nur das grenzenlose Vertrauen, das sie aus den Berichten Nastasjas über diesen schrecklichen Menschen geschöpft hatte, hielt sie davon ab, von ihm wegzulaufen und die Mutter mit sich mitzuziehen. Sie verstand auch, daß es ihnen vielleicht nicht mehr möglich war, vor ihm zu fliehen. Nach zehn Minuten wurde sie aber schon bedeutend ruhiger: Rasumichin hatte die Fähigkeit, sich in jedem Zustand, in dem er sich befand, gleich in seinem wahren Lichte zu zeigen, und so sahen sie sehr bald, mit wem sie es zu tun hatten. »Zu der Wirtin geht es nicht, und es ist ein furchtbarer Unsinn!« schrie er, indem er Pulcheria Alexandrowna zu überreden suchte. »Obwohl Sie seine Mutter sind, bringen Sie ihn doch zur Raserei, wenn Sie hier bleiben, und dann kann weiß der Teufel was wer den! Hören Sie, ich will folgendes tun: einstweilen wird bei ihm Nastasja sitzen, und ich begleite Sie beide nach Hause, denn Sie können unmöglich allein durch die Straße gehen: bei uns in Petersburg ist es in dieser Beziehung ... Na, ich spucke drauf! ... Dann laufe ich sofort von Ihnen her und bringe Ihnen in einer Viertelstunde, mein Ehrenwort drauf, den Bericht, wie es ihm geht, ob er schläft, usw. Dann, hören Sie, dann laufe ich von Ihnen sofort zu mir nach Hause – dort habe ich Gäste sitzen, sie sind alle betrunken – ich nehme Sossimow mit – es ist der Arzt, der ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir und ist nicht betrunken; der ist niemals betrunken! – Ich schleppe ihn zu Rodja und komme dann gleich wieder zu Ihnen; so erhalten Sie in einer Stunde zwei Berichte über ihn – auch vom Arzt, verstehen Sie, vom Arzt selbst, und das ist doch etwas ganz anderes als von mir! Wenn es schlecht geht, so schwöre ich Ihnen, daß ich Sie zu ihm herbringe, und wenn es gut geht, können Sie sich schlafen legen. Ich aber bleibe die ganze Nacht hier im Flur, er wird es gar nicht hören; den Sossimow werde ich aber zwingen, bei der Wirtin zu nächtigen, damit er gleich zur Hand sei. Nun, wen braucht er jetzt notwendiger, Sie oder den Arzt? Der Arzt ist doch wichtiger, wichtiger. Gehen Sie also nach Hause! Zu der Wirtin ist es ganz unmöglich; mir ist es möglich, Ihnen aber nicht – sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie dumm ist ... Sie wird auf Awdotja Romanowna eifersüchtig sein, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, und auch auf Sie ... Auf Awdotja Romanowna auf jeden Fall. Sie hat einen vollkommen – vollkommen unberechenbaren Charakter! Übrigens bin auch ich dumm ... Ich spucke drauf! Gehen wir! Vertrauen Sie mir? Nun, vertrauen Sie mir oder nicht?« »Gehen wir, Mamachen«, sagte Awdotja Romanowna. »Er wird es sicher so machen, wie er versprochen hat. Er hat den Bruder schon einmal lebendig gemacht, und wenn es wahr ist, daß der Arzt wirklich bereit ist, hier zu nächtigen, so kann man sich doch wirklich nichts Besseres wünschen!« »Sie ... ja Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein – ein Engel sind!« rief Rasumichin entzückt. »Gehen wir! ... Nastasja! Lauf sofort hinauf und sitze bei ihm mit dem Licht; in einer Viertelstunde komme ich wieder ...« Pulcheria Alexandrowna war zwar noch nicht völlig überzeugt, leistete aber keinen Widerstand mehr. Rasumichin faßte beide unter und schleppte sie die Treppe hinab. Übrigens hatte sie doch einige Sorge: »Er ist zwar flink und gut, kann er aber auch das erfüllen, was er verspricht? In diesem Zustande?! ...« »Ich weiß, Sie denken jetzt an meinen Zustand!« unterbrach sie Rasumichin, ihre Gedanken erratend, während er mit Riesenschritten über das Trottoir weiterging, so daß die beiden Damen ihm kaum folgen konnten, was er übrigens gar nicht merkte. »Unsinn! Das heißt ... ich bin betrunken wie ein Narr, aber die Sache ist die: ich bin nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie sah, da stieg es mir in den Kopf ... Aber spucken Sie auf mich! Beachten Sie es nicht: ich rede Unsinn, ich bin Ihrer unwürdig ... ich bin Ihrer im höchsten Grade unwürdig! Sobald ich Sie heimgebracht habe, gehe ich sofort zum Kanal, gieße mir zwei Eimer Wasser über den Kopf und bin gleich ein anderer Mensch ... Wenn Sie nur wüßten, wie sehr ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht, und seien Sie mir nicht böse! ... Allen Menschen dürfen Sie böse sein, nur mir nicht! Ich bin sein Freund, folglich auch Ihr Freund. So will ich es ... Ich habe es vorausgeahnt ... im vergangenen Jahr war mal so ein Augenblick ... Ubrigens habe ich es gar nicht vorausgeahnt, denn Sie sind wie vom Himmel gefallen. Vielleicht werde ich diese ganze Nacht gar nicht schlafen ... Dieser Sossimow fürchtete vorhin, daß er verrückt werden könnte ... Darum darf man ihn eben nicht reizen ...« »Was sagen Sie!« rief die Mutter aus. »Hat es der Arzt wirklich gesagt?« fragte Awdotja Romanowna erschrocken. »Er hat es wohl gesagt, aber das ist es nicht. Er hat ihm auch so eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich sah es, und da sind Sie gekommen ... Ach! ... Wären Sie doch lieber morgen gekommen! Es ist gut, daß wir weggegangen sind! Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimow selbst Bericht erstatten. Er ist gar nicht betrunken! Auch ich werde nicht mehr betrunken sein ... Warum habe ich mich bloß so betrunken? Weil diese Verfluchten mich in den Streit hereingezogen haben! Ich habe das Gelübde geleistet, nicht mehr zu streiten! ... So einen Unsinn schwatzen Sie zusammen! Beinahe hätte ich mich mit ihnen geprügelt! Ich habe ihnen meinen Onkel als Präsidenten zurückgelassen ... Nun, können Sie es glauben: sie verlangen nach völliger Unpersönlichkeit und finden darin den richtigen Geschmack! Der Mensch soll nur nicht er selbst sein, soll möglichst wenig sich selbst ähnlich sehen, das halten sie für den größten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens aus dem eigenen lügen wollten, sie aber ...« »Hören Sie mal«, unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das brachte ihn noch mehr in Feuer. »Ja, was glauben Sie denn?« schrie Rasumichin, die Stimme noch mehr erhebend: »Sie glauben wohl, ich bin Ihnen böse, weil Sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn die Menschen lügen. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen anderen Organismen. Wenn man lügt, gelangt man zur Wahrheit! Ich bin darum auch Mensch, weil ich lüge. Man hat noch keine einzige Wahrheit erreicht, ohne daß man vorher vierzehn und vielleicht auch hundertvierzehnmal gelogen hat, und das ist in seiner Art ehrenvoll; wir verstehen aber nicht mal auf eigene Art zu lügen! Lüge, so viel du willst, aber lüge auf deine eigene Art, und ich werde dich dafür küssen. Auf eigene Art zu lügen, ist beinahe besser, als die Wahrheit einem anderen nachzuplappern; im ersten Falle bist du ein Mensch, im letzteren aber bloß ein Vogel! Die Wahrheit wird nicht entrinnen, wie leicht kann man aber sein Leben vernageln; es hat auch schon solche Fälle gegeben. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle ohne Ausnahme sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, Erfindungsgeist, Ideale, Streben, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles erst in der Vorbereitungsklasse eines Gymnasiums! Es gefällt uns so gut, mit fremdem Verstand zu leben, und wir sind es schon gewöhnt! Ist es nicht so? Hab ich nicht recht?« schrie Rasumichin, die Hände der beiden Damen zusammendrückend und schüttelnd: »Ist es nicht so?« »Mein Gott, ich weiß es nicht!« versetzte die arme Pulcheria Alexandrowna. »Ja, es ist so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden bin«, fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu und schrie im gleichen Augenblick auf: so fest hatte er ihr diesmal die Hand zusammengepreßt. »Ja? Sie sagen: ja? Nun, in diesem Falle sind Sie ... sind Sie ...« schrie er entzückt, »eine Quelle der Güte, der Reinheit, der Vernunft und ... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie sie ... geben auch Sie die Ihrige, ich will Ihre Hände küssen, hier gleich, auf den Knien!« Und er kniete mitten auf dem Trottoir nieder, das jetzt glücklicherweise menschenleer war. »Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die aufs höchste beunruhigte Pulcheria Alexandrowna. »Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief auch Dunja lachend, doch besorgt. »Um nichts in der Welt, wenn Sie mir Ihre Hände nicht geben! Ja, so! Und jetzt ist's genug, ich bin aufgestanden, und wir wollen weitergehen! Ich bin ein unglücklicher Narr, ich bin Ihrer unwürdig, ich bin betrunken und schäme mich ... Sie zu lieben, bin ich nicht wert, doch vor Ihnen niederzuknien – das ist die Pflicht eines jeden, der kein vollkommenes Vieh ist. Ich bin auch in die Knie gesunken ... Da sind auch schon Ihre möblierten Zimmer, und Rodion hat schon darum allein recht gehabt, als er gestern Ihren Pjotr Petrowitsch hinauswarf! Wie wagte er es, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein Skandal! Wissen Sie, wer hier aus und eingeht? Sie sind ja eine Braut! Sie sind doch eine Braut, nicht wahr? Und darum muß ich Ihnen sagen, daß Ihr Bräutigam nach alledem ein Schuft ist!« »Hören Sie mal, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria Alexandrowna. »Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!« rief Rasumichin einsehend, daß er zu weit gegangen war. »Aber, aber ... Sie dürfen mir nicht zürnen, daß ich so spreche! Denn ich sage es aufrichtig und nicht etwa, weil ... Hm! Das wäre gemein; mit einem Worte, nicht etwa, weil ich in Sie ... hm! ... nun, es darf nicht sein, ich will nicht sagen, warum, ich wage es nicht! ... Wir aber hatten alle gleich, als er hereinkam, eingesehen, daß er nicht in unsere Gesellschaft gehört. Nicht weil er mit gekräuseltem Haar kam, nicht weil er sich beeilte, seinen Geist zu zeigen, sondern weil er ein Spitzel und ein Spekulant ist; weil er ein Jud und ein Gauner ist, das sieht man. Sie glauben wohl, er sei klug? Nein, er ist ein Dummkopf, ein Dummkopf; nun, paßt er zu Ihnen? Oh, mein Gott! Sehen Sie, meine Damen,« sagte er, plötzlich auf der Treppe zu den möblierten Zimmern stehenbleibend, »meine Gäste sind zwar betrunken, dafür sind sie alle ehrliche Menschen, und obwohl wir lügen, denn ich lüge auch, werden wir durchs Lügen schließlich doch zur Wahrheit gelangen, weil wir auf einem ehrlichen Wege gehen; aber Pjotr Petrowitsch ... geht nicht auf einem ehrlichen Wege. Ich habe zwar auf sie alle ordentlich geschimpft, doch ich achte sie alle; selbst den Samjotow, wenn ich ihn auch nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist ein junger Hund. Sogar den Sossimow, dieses Vieh, weil er ehrlich ist und seine Sache versteht ... Aber genug davon, alles ist gesagt und vergeben. Ist es auch vergeben? Wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne diesen Korridor, bin schon mal hier gewesen; hier, auf Nummer drei war mal ein Skandal ... Nun, wo ist Ihr Zimmer? Welche Nummer? Acht? Also schließen Sie sich für die Nacht ein, und lassen Sie niemand herein. Nach einer Viertelstunde komme ich mit dem Bericht zurück, und dann nach einer halben Stunde noch einmal mit Sossimow, Sie werden es sehen! Leben Sie wohl, ich muß laufen!« »Mein Gott, Dunjetschka, was wird nur werden?« sagte Pulcheria Alexandrowna, sich unruhig und scheu an die Tochter wendend. »Beruhigen Sie sich, Mamachen«, antwortete Dunja, während sie Hut und Mantille abnahm. »Gott selbst hat uns diesen Herrn geschickt, obwohl er direkt von einer Zecherei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, ich versichere Sie. Und alles, was er für den Bruder schon getan hat ...« »Ach, Dunjetschka, Gott allein weiß, ob er zurück kommen wird! Und wie konnte ich mich bloß entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Nicht in diesem Zustande hoffte ich ihn zu treffen! Wie ernst war er doch, als freute er sich gar nicht, daß wir gekommen sind! ...« Tränen traten ihr in die Augen. »Nein, Mamachen, es ist nicht so. Sie haben ihn nicht ordentlich sehen können, weil Sie immer weinten. Er ist jetzt nach einer schweren Krankheit sehr zerrüttet, – das ist der ganze Grund.« »Ach ja, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll noch werden! Und wie er mit dir gesprochen hat, Dunja! ...« sagte die Mutter, der Tochter scheu in die Augen blickend, um alle ihre Gedanken zu erraten, und schon halb dadurch getröstet, daß Dunja ihren Bruder verteidigte, ihm also verziehen hatte. »Ich bin überzeugt, daß er sich morgen eines anderen besinnen wird«, fügte sie hinzu, um das letzte zu erforschen. »Ich bin aber überzeugt, daß er auch morgen darüber genau so sprechen wird ...«, schnitt Awdotja Romanowna ab, und das war natürlich ein harter Schlag für die Mutter, denn es berührte den Punkt, über den zu sprechen Pulcheria Alexandrowna sich jetzt zu sehr fürchtete. Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie schweigend und fest. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung Rasumichins hin und begann, ihre Tochter scheu zu beobachten, die mit gekreuzten Armen und gleichfalls voll Erwartung im Zimmer auf und ab ging und sich etwas zu überlegen schien. Dieses nachdenkliche Aufundabgehen war die ständige Angewohnheit Awdotja Romanownas, und die Mutter hatte in solchen Fällen immer eine gewisse Angst, sie in ihrem Nachdenken zu stören. Rasumichin war mit seiner plötzlichen, im Rausche entbrannten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna natürlich komisch; doch wenn man Awdotja Romanowna sah, besonders jetzt, wie sie mit gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich im Zimmer auf und ab ging, müßte man ihn entschuldigen, auch abgesehen von seinem exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war ungewöhnlich hübsch: großgewachsen, ungewöhnlich schlank, kräftig und selbstbewußt, – was sich in jeder ihrer Gebärden zeigte, aber ihre Bewegungen durchaus nicht der Weichheit und Grazie beraubte. Im Gesicht ähnelte sie dem Bruder, man konnte sie aber eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders, die Augen fast schwarz, funkelnd und stolz, zugleich aber zuweilen ungewöhnlich gütig. Sie war bleich, aber nicht krankhaft bleich; ihr Gesicht leuchtete vor Frische und Gesundheit. Der Mund war etwas klein, die frische und rote Unterlippe stand eine Kleinigkeit her vor, ebenso das Kinn, – die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesicht, die ihm dafür etwas sehr Charakteristisches, vielleicht etwas Hochmütiges verlieh. Ihr Gesichtsausdruck war immer mehr ernst als heiter und meistens nachdenklich; wie gut stand dafür ein Lächeln diesem Gesicht, wie gut stand ihr das lustige, junge, sorglose Lachen! Es ist darum begreiflich, daß der hitzige, offenherzige, etwas einfältige, ehrliche, riesenstarke und zugleich betrunkene Rasumichin, der in seinem Leben nichts dergleichen gesehen hatte, gleich beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem wollte es der Zufall, daß er Dunja zum erstenmal im schönen Augenblick der Liebe und der Freude des Wiedersehens mit dem Bruder sah. Er sah, wie ihre Unterlippe vor Empörung über die frechen und undankbar grausamen Zumutungen des Bruders gezuckt hatte, – und konnte nicht widerstehen. Übrigens hatte er vorhin die Wahrheit gesagt, als er in seiner Trunkenheit auf der Treppe schwatzte, daß die exzentrische Wirtin Raskolnikows, Praskowja Pawlona, auf ihn nicht bloß wegen Awdotja Romanowna, sondern auch vielleicht wegen Pulcheria Alexandrowna selbst eifersüchtig sein würde. Obwohl Pulcheria Alexandrowna schon dreiundvierzig Jahre alt war, zeigte ihr Gesicht noch immer die Reste der einstigen Schönheit; außerdem sah sie viel jünger aus, als sie war, was fast immer bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die Frische der Eindrücke und ein ehrliches, reines Feuer des Herzens bis zum Alter bewahrt haben, der Fall ist. Wir wollen in Parenthese noch bemerken, daß dies alles zu bewahren das einzige Mittel ist, seine Schönheit auch im Alter nicht zu verlieren. Ihr Haar hatte schon angefangen, grau und dünn zu werden, um ihre Augen herum hatten sich schon längst kleine strahlenartige Runzeln gebildet, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen eingetrocknet, und doch war dieses Gesicht schön. Es war ein Bildnis Dunjetschkas, wie sie nach zwanzig Jahren aussehen würde, abgesehen vom Ausdrucke der Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war empfindsam, doch nicht süßlich, sie war scheu und nachgiebig, doch nur bis zu einer gewissen Grenze; sie konnte in vielen Dingen nachgeben, auf vieles eingehen, selbst auf Dinge, die ihren Überzeugungen widersprachen, aber es gab immer eine gewisse Grenze der Ehrlichkeit, Moral und äußerster Überzeugung, die zu überschreiten sie keinerlei Umstände hätten zwingen können. Genau zwanzig Minuten nach Rasumichins Verschwinden ertönten zwei leise, doch hastige Schläge an der Tür; er war zurückgekehrt. »Ich komme gar nicht herein, ich habe keine Zeit!« teilte er hastig mit, als man die Tür öffnete. »Er schläft wie ein Murmeltier, vorzüglich, ruhig, und gebe Gott, daß er noch zehn Stunden schläft. Nastasja sitzt bei ihm; ich befahl ihr, nicht wegzugehen, bis ich zurückkomme. Jetzt schleppe ich den Sossimow her, er wird Ihnen Bericht erstatten, und dann können Sie sich schlafen legen; Sie sind, wie ich sehe, bis zum äußersten erschöpft ...« Und er lief wieder durch den Korridor zurück. »Was für ein flinker ... und ergebener junger Mann!« rief Pulcheria Alexandrowna außerordentlich erfreut. »Scheint wirklich ein netter Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna mit einer gewissen Erregung und schickte sich wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Fast nach einer Stunde hörte man Schritte auf dem Korridor und ein neues Klopfen an der Tür. Die beiden Frauen warteten, diesmal vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend; und er hatte in der Tat den Sossimow mitgeschleppt. Sossimow war sofort einverstanden gewesen, die Zecherei zu verlassen und nach Raskolnikow zu sehen, doch zu den Damen war er sehr ungern und mit großem Mißtrauen gegangen, da er dem betrunkenen Rasumichin nicht recht traute. Seine Eitelkeit wurde aber sofort beruhigt und sogar angenehm berührt: er sah, daß man ihn hier wirklich wie ein Orakel erwartete. Er blieb genau zehn Minuten sitzen und brachte es fertig, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu überzeugen und zu beruhigen. Er sprach mit ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und mit erzwungenem Ernst, wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen Konsultation zu sprechen pflegt, schweifte mit keinem Wort vom Thema ab und zeigte auch nicht den geringsten Wunsch, zu den beiden Damen in ein persönlicheres und intimeres Verhältnis zu treten. Da er schon bei seinem Eintritt bemerkt hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, nahm er sich gleich zusammen: er bemühte sich, sie während des ganzen Besuches nicht zu beachten, und wandte sich immer ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere Befriedigung. Über den Kranken äußerte er sich, daß er seinen Zustand augenblicklich für höchst befriedigend halte. Nach seinen Beobachtungen beruhe die Krankheit des Patienten außer auf den schlechten materiellen Umständen in den letzten Monaten auch auf gewissen moralischen Ursachen: »Sie ist sozusagen das Produkt vieler komplizierter moralischer und materieller Einflüsse, Sorgen, Befürchtungen, gewisser Ideen ... und dergleichen.« Als er flüchtig merkte, daß Awdotja Romanowna ihm besonders aufmerksam zuzuhören begann, fing Sossimow an, sich über dieses Thema noch mehr zu verbreiten. Auf die besorgte und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas wegen »eines angeblichen Verdachts von geistiger Umnachtung« antwortete er mit einem ruhigen und offenen Lächeln, daß seine Worte etwas übertrieben seien; bei dem Kranken könne man natürlich wohl eine fixe Idee, etwas, was auf Monomanie hinwiese, wahrnehmen – da er, Sossimow, zurzeit besonders aufmerksam diesen so interessanten Zweig der ärztlichen Wissenschaft verfolge –, aber man dürfe nicht vergessen, daß der Kranke bis heute im Fieber gelegen und phantasiert habe, und ... und die Ankunft seiner Angehörigen werde ihn natürlich kräftigen und zerstreuen und auf ihn heilbringend wirken – »wenn es nur gelingt, neue heftige Erschütterungen zu vermeiden«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann erhob er sich, verabschiedete sich gesetzt, doch freundlich, begleitet von Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten und selbst von dem sich ihm unaufgefordert entgegenstreckenden Händchen Awdotja Romanownas, und ging, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst. »Reden wollen wir morgen; jetzt müssen Sie sich unbedingt hinlegen!« sagte Rasumichin sehr bestimmt, als er zugleich mit Sossimow wegging. »Morgen bin ich, so früh es geht, wieder mit einem Bericht bei Ihnen.« »Was ist diese Awdotja Romanowna für ein reizendes Mädel!« bemerkte Sossimow, dem fast das Wasser im Munde zusammenlief, als sie auf die Straße traten. »Reizend? Du sagst reizend?« brüllte Rasumichin; er stürzte sich plötzlich auf Sossimow und packte ihn an der Kehle. »Wenn du dich noch einmal unterstehst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, ihn am Kragen schüttelnd und an die Wand drückend. »Hast du es gehört?« »Laß los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimow. Als jener ihn losgelassen hatte, sah er ihn unverwandt an und schüttelte sich plötzlich vor Lachen. Rasumichin stand vor ihm mit gesenkten Armen, düster, ernst und nachdenklich. »Natürlich bin ich ein Esel«, sagte er finster wie eine Gewitterwolke. »Aber ... auch du bist gut!« »Nein, Bruder, ich bin nicht so. Ich bilde mir keine Dummheiten ein.« Sie gingen schweigend weiter. Erst dicht vor der Wohnung Raskolnikows brach Rasumichin sehr erregt das Schweigen. »Hör mal,« sagte er zu Sossimow, »du bist ein braver Bursche, doch, abgesehen von den anderen üblen Eigenschaften, bist du auch noch ein liederlicher Taugenichts und ein schmutziger dazu, das weiß ich. Du bist ein nervöser, schwacher Waschlappen, du bist verdreht und verfettet und kannst dir nichts versagen – das nenne ich aber schon schmutzig, denn es führt in den Schmutz. Du bist so verzärtelt, daß ich, offen gestanden, gar nicht begreifen kann, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt sein kannst. Er schläft auf einem Federbett (der Arzt!), steht aber nachts für jeden Kranken auf ... Nach drei Jahren wirst du aber nicht mehr wegen eines Kranken aufstehen ... Na ja, zum Teufel, es handelt sich nicht darum, sondern um folgendes: du schläfst heute in der Wohnung seiner Wirtin (mit Mühe habe ich sie dazu überredet!) und ich in der Küche: da habt ihr Gelegenheit, euch näher kennen zu lernen! Aber nicht so, wie du es dir vorstellst! Davon ist keine Rede ...« »Ich stelle mir gar nichts vor.« »Hier ist, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit, Schüchternheit und eine erbitterte Keuschheit und dabei – Seufzer, und sie schmilzt wie Wachs, wie Wachs! Befreie mich von ihr um aller Teufel willen! Sie ist wirklich sehr avenant! ... Ich werde es dir lohnen, das schwöre ich bei meinem Kopf!« Sossimow lachte noch unbändiger als früher. »Wie du in Rage gekommen bist! Was soll ich mit ihr?« »Ich versichere dir, das macht gar keine Arbeit, schwatz bloß irgendeinen Unsinn, der dir gerade einfällt, sitz nur neben ihr und rede. Außerdem bist du ja auch Arzt und fange an, sie zu behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein Klavier stehen; du weißt doch, ich verstehe ein wenig zu klimpern; ich habe dort ein russisches Lied, ein echtes Volkslied liegen: ›Ich vergieße heiße Tränen‹ ... Sie liebt die echten Volkslieder; nun, mit diesem Liede hat es angefangen. Du aber spielst Klavier wie ein Virtuose, wie ein Meister, wie ein Rubinstein ... Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen ...« »Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du dich schriftlich verpflichtet? Hast ihr vielleicht die Ehe versprochen ...« »Keine Spur, keine Spur! Sie ist auch gar nicht so. Tschebarow versuchte einmal ...« »Laß sie doch laufen!« »Ich kann sie nicht laufen lassen!« »Warum nicht?« »Nun, es geht eben nicht und basta! Es ist hier nämlich ein verlockendes Moment dabei.« »Warum hast du sie verlockt?« »Ich habe sie gar nicht verlockt, vielleicht habe ich mich selbst verlocken lassen aus Dummheit; ihr wird es aber völlig gleich sein, ob sie dich oder mich hat: es muß nur jemand neben ihr sitzen und seufzen. Hier ist, Bruder ... Das kann ich dir nicht erklären, hier ... nun, du verstehst dich gut auf Mathematik und befaßt dich auch jetzt noch mit ihr, ich weiß es ... nun fang an, mit ihr Integralrechnung zu studieren, bei Gott, ich spaße nicht und meine es vollkommen ernst: es wird ihr vollkommen gleich sein; sie wird dich anstarren und seufzen, und so wird es ein ganzes Jahr gehen. Ich habe ihr unter anderm sehr lange, zwei Tage hintereinander, vom preußischen Herrenhaus erzählt (worüber soll man denn mit ihr sonst sprechen?), und sie seufzte nur und schwitzte! Nur von der Liebe darfst du nicht sprechen, denn sie ist schüchtern bis zu Krämpfen – tu aber dabei so, daß du nicht mehr weg kannst – und das genügt. Es ist so furchtbar komfortabel; du fühlst dich ganz wie zu Hause, kannst lesen, sitzen, liegen, schreiben ... Darfst sie sogar küssen, doch mit Vorsicht ...« »Was brauche ich sie aber?« »Ach, das kann ich dir unmöglich erklären! Siehst du: ihr paßt so vollkommen zueinander! Ich habe auch schon früher an dich gedacht ... Du wirst doch sowieso damit enden! Ist es dir nicht ganz gleich, ob es früher oder später geschieht? Hier ist, Bruder, so ein Federbettmoment darin, ja, und nicht bloß das allein! Das zieht einen herein; das ist das Ende der Welt, ein Anker, eine stille Zuflucht, der Nabel der Erde, die auf drei Walfischen ruhende Grundfeste der Welt, eine Essenz von Pfannkuchen, fetten Fleischpasteten, Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen Jacken, geheizten Ofenbänken – kurz, es ist, als ob du gestorben wärest und zugleich noch lebtest, also beide Vorteile auf einmal! Zum Teufel damit, ich bin ins Schwatzen gekommen, Bruder, es ist Zeit, schlafen zu gehen! Hör: in der Nacht wache ich zuweilen auf und schaue dann nach ihm. Doch es ist nichts, Unsinn, alles geht gut. Mache dir keine besonderen Sorgen, aber wenn du willst, so schau auch mal nach. Wenn du nur etwas merkst, zum Beispiel, daß er phantasiert oder Fieber hat oder sonstwas, so wecke mich sofort. Ubrigens, es kann gar nichts kommen ...« 2. II Rasumichin erwachte am anderen Tag ernst und besorgt gegen acht Uhr. An diesem Morgen stand er plötzlich vor einer Menge neuer und unvorhergesehener Fragen. Er hätte es sich früher nie gedacht, daß er je in dieser Stimmung aufwachen würde. Er erinnerte sich ans Gestrige mit allen Einzelheiten und begriff, daß mit ihm etwas ganz Ungewöhnliches geschehen war, daß er einen gewissen neuen, ihm bis dahin unbekannten Eindruck aufgenommen hatte, der allen bisherigen so gar nicht glich. Zugleich war er sich vollkommen klar, daß der Gedanke, der sich in seinem Kopfe festgesetzt hatte, im höchsten Grade unerfüllbar war, – dermaßen unerfüllbar, daß er sich seiner sogar schämte und so schnell als möglich zu anderen dringenderen Sorgen und Fragen überging, die ihm der »dreimal verfluchte gestrige Tag« als Erbe hinterlassen hatte. Die schrecklichste Erinnerung war für ihn, daß er sich gestern als »niedrig und gemein« gezeigt hatte, nicht nur weil er betrunken war, sondern auch weil er vor dem jungen Mädchen, deren Lage er ausnutzte, aus dümmster voreiliger Eifersucht ihren Bräutigam beschimpft hatte, ohne ihre gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen, ohne sogar den Menschen selbst richtig zu kennen. Welches Recht hatte er auch, so vorschnell und übereilt über ihn zu urteilen? Wer hat ihn zum Richter berufen? Ist denn so ein Geschöpf wie Awdotja Romanowna imstande, sich einem unwürdigen Menschen für Geld hinzugeben? Also muß er auch Vorzüge haben. Die möblierten Zimmer? Ja, woher hätte er auch wissen sollen, daß es solche Zimmer sind? Er richtet doch auch eine Wohnung ein ... pfui, wie gemein war das! Und was ist das für eine Entschuldigung, daß er damals betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn noch mehr herabsetzte! Im Weine hat sich wirklich die Wahrheit gezeigt, nämlich: »Der ganze Schmutz seines neidischen rohen Herzens!« Und ist denn solch ein Gedanke ihm, Rasumichin, überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleich mit diesem jungen Mädchen, er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Aufschneider? »Ist denn eine solche zynische und lächerliche Nebeneinanderstellung überhaupt möglich?« Rasumichin errötete furchtbar bei diesem Gedanken, und im gleichen Augenblick fiel es ihm plötzlich ein, daß er ihnen gestern auf der Treppe gesagt hatte, die Wirtin würde seinetwegen auf Awdotja Romanowna eifersüchtig sein ... das war schon ganz unerträglich. Er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug einen Ziegelstein heraus. »Natürlich«, sagte er sich nach einer Minute mit einem eigentümlichen Gefühl von Selbsterniedrigung, »alle diese Gemeinheiten kann ich jetzt nicht mehr beschönigen oder wiedergutmachen ... also darf ich daran nicht mal denken, muß vielmehr schweigend hingehen und ... meine Pflicht tun ... ebenfalls schweigend und ... und nicht um Entschuldigung bitten und nichts sagen und ... und natürlich ist jetzt alles verloren!« Trotzdem untersuchte er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als gewöhnlich. Andere Kleider hatte er nicht, und wenn er auch welche gehabt hätte, so hätte er sie vielleicht gar nicht angezogen, »absichtlich nicht«. Aber Zyniker und Schmutzfink durfte er keineswegs bleiben: er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu verletzen, um so mehr, als diese anderen seiner benötigten und ihn selbst zu sich riefen. Er reinigte seinen Anzug sorgfältig mit einer Bürste. Seine Wäsche war immer erträglich; in dieser Beziehung war er besonders reinlich. An diesem Morgen wusch er sich auch besonders sorgfältig – bei Nastasja fand sich ein Stück Seife –, er wusch sich den Kopf, den Hals und besonders die Hände. Als er aber vor der Frage stand, ob er sich auch seine Borsten rasieren sollte oder nicht (Praskowja Pawlona hatte ausgezeichnete Rasiermesser, die vom verstorbenen Herrn Sarnizyn geblieben waren), so entschied er diese Frage, sogar mit Wut, im negativen Sinne: »Soll es nur so bleiben! Sie werden noch glauben, ich hätte mich rasiert, um ... ja, sie werden es gewiß glauben! Nein, um nichts in der Welt!« – Und ... und die Hauptsache ist, daß er so roh und schmutzig ist und Wirtshausmanieren hat; er weiß zwar, daß er ein einigermaßen anständiger Mensch ist ... aber kann man denn damit prahlen, daß man ein anständiger Mensch ist? Jeder Mensch muß anständig sein und noch mehr als er, und ... und er hat auch einiges (er weiß es noch) auf dem Gewissen ... nicht daß es etwas Unehrenhaftes wäre, aber immerhin! ... Und was er bloß für Gedanken gehabt hat! Hm! ... Und wenn er dabei an Awdotja Romanowna denkt! Na, zum Teufel damit ... Soll es nur so bleiben! – »Ich will absichtlich so schmutzig und schmierig sein und nach dem Wirtshaus riechen, ich spucke drauf! Und ich will es noch mehr sein!« ... Bei solchen Monologen traf ihn Sossimow an, der im Gastzimmer Praskowja Pawlownas übernachtet hatte. Er war eben im Begriff, nach Hause zu gehen, und wollte vor dem Weggehen nach dem Kranken schauen. Rasumichin berichtete ihm, daß jener wie ein Murmeltier schlafe. Sossimow ordnete an, daß man ihn nicht wecke, bis er selbst aufwache. Gegen elf Uhr wollte er wiederkommen. »Wenn er nur zu Hause bleibt«, fügte er hinzu. »Pfui Teufel! Selbst über meinen Patienten habe ich keine Gewalt, und da soll ich ihn noch behandeln. Weißt du nicht, wird er zu ihnen gehen, oder werden sie herkommen?« »Ich glaube, sie werden herkommen«, antwortete Rasumichin, der den Sinn der Frage erriet. »Ich werde fortgehen. Du als Arzt hast natürlich mehr Rechte als ich.« »Auch ich bin doch kein Beichtvater; ich werde kommen und gleich wieder weggehen; auch ohne sie habe ich genug zu tun.« »Eines macht mir nur Sorge«, unterbrach ihn Rasumichin düster. »Gestern habe ich ihm im Rausche auf dem Wege hierher allerlei Dummheiten ausgeplaudert ... verschiedenes ... unter anderem deine Befürchtung, daß er ... zum Wahnsinn neige ...« »Auch den Damen hast du es gestern ausgeplaudert.« »Ich weiß, daß es dumm ist! Du kannst mich schlagen. Hast du wirklich einen bestimmten Gedanken darüber gehabt?« »Ich sage doch, daß es Unsinn ist! Was für einen bestimmten Gedanken? Du hast ihn mir doch selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm führtest ... Nun, und gestern haben wir diesen Verdacht noch mehr geschürt, eigentlich du, mit diesen Erzählungen ... von dem Anstreicher; das war ein schönes Gespräch, wenn er vielleicht wirklich deswegen verrückt geworden ist! Wenn ich nur sicher wüßte, was damals im Polizeibureau geschehen ist und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit ihrem Verdacht beleidigt hat! Hm! ... dann hätte ich gestern solch ein Gespräch nicht geduldet. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean und sehen jeden Unsinn leibhaftig vor sich ... Soweit ich mich erinnere, war mir gestern aus der Erzählung Samjotows die Hälfte der Sache klar geworden. Aber was hat das zu sagen! Ich kenne einen Fall, wo ein vierzigjähriger Mann, ein Hypochonder, der es nicht ertragen konnte, daß ein achtjähriger Junge sich über ihn bei Tisch täglich lustig machte, ihn ermordete! Hier aber: sein zerlumpter Zustand, die Frechheit des Revieraufsehers, die beginnende Krankheit und dazu dieser Verdacht! Und das sagt man einem rasenden Hypochonder! Bei seiner wahnsinnigen außergewöhnlichen Eitelkeit! Hier sitzt vielleicht gerade der Ausgangspunkt der ganzen Krankheit! Na, hol's der Teufel! Dieser Samjotow ist übrigens wirklich ein netter Junge, aber hm! ... es war ganz unnötig, daß er es gestern erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!« »Wem hat er es denn erzählt? Doch nur mir und dir!« »Und dem Porfirij.« »Was macht das, daß er es auch Porfirij erzählt hat?« »Übrigens, hast du irgendeinen Einfluß auf jene, ich meine auf seine Mutter und Schwester? Sie müßten ihn heute vorsichtiger behandeln ...« »Sie werden sich schon einigen!« antwortete Rasumichin unwillig. »Warum ist er nur so über Luschin hergefallen? Der Mensch hat doch Geld und ist ihr anscheinend gar nicht zuwider ... sie haben wohl keinen Heller? Wie?« »Was fragst du mich so aus?« rief Rasumichin gereizt. »Woher soll ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frag sie selbst, vielleicht wirst du es erfahren.« »Pfui, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt dir noch im Kopfe ... Auf Wiedersehen; bedanke dich in meinem Namen bei deiner Praskowja Pawlowna für das Nachtquartier. Sie hat sich eingeschlossen, hat auf mein ›Guten Morgen‹ durch die Tür nicht geantwortet, war aber schon um sieben Uhr aufgestanden; man hatte ihr den Samowar aus der Küche durch den Korridor gebracht ... Ich bin nicht für würdig befunden worden, ihr Antlitz zu schauen ...« Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in den möblierten Zimmern Bakalejews. Die beiden Damen erwarteten ihn schon längst mit einer hysterischen Ungeduld. Sie waren schon um sieben aufgestanden, vielleicht sogar früher. Er trat finster wie die Nacht ein und machte eine ungeschickte Verbeugung, worüber er sofort böse wurde, – natürlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Pulcheria Alexandrowna fiel über ihn buchstäblich her, packte ihn an beiden Händen und küßte sie ihm beinahe. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; dieses hochmütige Gesicht drückte aber in diesem Augenblick so viel Dankbarkeit und Freundlichkeit aus, eine so vollkommene und unerwartete Achtung ihm gegenüber (statt höhnischer Blicke und einer unwillkürlichen, schlecht verheimlichten Verachtung), daß es ihm wirklich leichter zumute gewesen wäre, wenn man ihn hier mit Schimpfworten empfangen hätte; so mußte er sich aber furchtbar genieren. Zum Glück hatte er ein fertiges Gesprächsthema, an das er sich auch sofort klammerte. Als sie hörte, daß er »noch nicht erwacht« sei, daß aber alles »vorzüglich gehe«, erklärte Pulcheria Alexandrowna, daß dies sogar gut sei, »denn sie habe mit ihm sehr vieles dringend zu besprechen«. Darauf folgte die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, ihn mit ihnen zu trinken; sie hatten in Erwartung Rasumichins noch selbst keinen getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziger und zerlumpter Bursche erschien, dem der Tee bestellt wurde; der Tee wurde schließlich serviert, doch so schmutzig und unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin schimpfte energisch auf diese möblierten Zimmer, verstummte aber und wurde verlegen, als er sich Luschins erinnerte; er war ordentlich froh, als Pulcheria Alexandrowna ihn mit ihren Fragen zu bestürmen begann. Diese Fragen beantwortend, sprach er dreiviertel Stunden, jeden Augenblick unterbrochen und wieder gefragt, und so teilte er ihnen die wichtigsten und notwendigsten ihm bekannten Tatsachen aus dem letzten Jahre des Lebens Rodions Romanowitschs mit und schloß mit einem umständlichen Bericht über dessen Erkrankung. Vieles verschwieg er, was auch wirklich verschwiegen werden mußte, unter anderem auch die Szene auf dem Polizeibureau mit allen Folgen. Seiner Erzählung lauschten sie gierig; als er aber schon glaubte, daß er zu Ende sei und seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie so gut wie noch gar nicht begonnen hatte. »Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, ich weiß noch immer nicht, wie Sie heißen!« fragte Pulcheria Alexandrowna hastig. »Dmitrij Prokofjitsch.« »Also Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr gerne wissen ... wie er überhaupt ... wie er jetzt die Dinge ansieht, das heißt, Sie müssen mich richtig verstehen, wie soll ich es Ihnen bloß sagen; was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche, wonach sehnt er sich, wenn man so sagen darf? Was hat jetzt auf ihn einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...« »Ach, Mamachen, wie kann man nur alle diese Fragen auf einmal beantworten!« bemerkte Dunja. »Ach, mein Gott, ich hatte gar nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu finden, Dmitrij Prokofjitsch.« »Das ist sehr natürlich«, antwortete Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich nicht, aber mein Onkel kommt jedes Jahr her und kann mich fast jedesmal nicht wiedererkennen, selbst äußerlich, und dabei ist er doch ein kluger Mensch! Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung ist doch viel Wasser ins Meer geflossen. Was soll ich Ihnen auch sagen? Ich kenne Rodion seit anderthalb Jahren: er ist finster, düster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht auch schon viel länger) argwöhnisch und ein Hypochonder, großmütig und gut. Er liebt es nicht, seine Gefühle zu zeigen, und ist eher bereit, grausam zu sein, als sein Herz durch Worte zu enthüllen. Manchmal ist er übrigens gar kein Hypochonder, sondern einfach unmenschlich kalt und gefühllos, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere abwechselten. Zuweilen furchtbar verschlossen! Nie hat er Zeit; immer stört man ihn, dabei liegt er aber da und tut nichts. Er ist nicht spöttisch, – nicht weil es ihm etwa an Witz mangelte, sondern als hätte er keine Zeit für solchen Unsinn. Er hört nie bis zu Ende, was man ihm sagt. Niemals interessiert er sich dafür, wofür sich die anderen interessieren. Er hält sehr viel von sich und hat wohl auch ein gewisses Recht dazu. Nun, was soll ich noch sagen? ... Mir scheint, daß Ihre Ankunft auf ihn eine heilsame Wirkung haben wird.« »Ach, gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, für die der Bericht Rasumichins über ihren Sohn eine Qual gewesen war. Rasumichin aber blickte Awdotja Romanowna endlich etwas mutiger an. Er hatte sie während des Gesprächs öfter angesehen, aber nur flüchtig, bloß für einen Augenblick, und die Augen immer gleich wieder weggewandt. Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu und stand bald wieder auf und begann, ihrer Gewohnheit nach, auf und ab zu gehen, die Arme gekreuzt, die Lippen zusammengepreßt; zuweilen stellte sie nachdenklich ihre Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen. Auch sie hatte die Gewohnheit, was man ihr sagte, nicht bis ans Ende zu hören. Sie trug ein dunkles Kleid aus einem leichten Stoff und ein weißes, durchsichtiges Tüchlein um den Hals. Rasumichin schloß aus vielen Anzeichen, daß die beiden Frauen sich in außerordentlich dürftigen Verhältnissen befanden. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich vor ihr wohl gar nicht gefürchtet; jetzt aber, vielleicht gerade aus dem Grunde, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze elende Umgebung sah, hatte sich in seinem Herzen eine gewisse Angst festgesetzt, und er fürchtete für jedes seiner Worte, für jede Gebärde, was für ihn, der sich auch ohnehin nicht recht traute, natürlich sehr lästig war. »Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt und ... haben es wirklich unparteiisch erzählt. Das ist gut; ich glaubte, Sie hätten eine heilige Scheu vor ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. »Auch ich glaube, daß er eine Frau um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Das habe ich nicht gesagt, aber vielleicht haben Sie auch darin recht, nur ...« »Was denn?« »Nur liebt er niemand; vielleicht wird er auch nie jemand lieben«, schnitt Rasumichin ab. »Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?« »Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie sehen Ihrem Bruder furchtbar ähnlich, sogar in allen Dingen!« platzte er plötzlich, für sich selbst unerwartet, heraus; da er sich aber erinnerte, was er eben über ihren Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und furchtbar verlegen. Awdotja Romanowna konnte sich bei seinem Anblick nicht des Lachens erwehren. »In bezug auf Rodja könnt ihr euch beide irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas pikiert ins Gespräch. »Ich spreche nicht vom Jetzigen, Dunjetschka. Was Pjotr Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und was wir beide annahmen, ist vielleicht gar nicht wahr, aber Sie können sich nicht vorstellen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und wie – wie soll ich es nur sagen, – wie launisch er ist. Seinem Charakter konnte ich niemals vertrauen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich etwas mit sich anstellen kann, was keinem Menschen je einfallen wird ... Was brauche ich weit zu gehen: ist Ihnen bekannt, wie er mich vor eineinhalb Jahren überrascht, erschüttert und fast vernichtet hat, als er diese, wie heißt sie noch, die Tochter seiner Wirtin Sarnizyna heiraten wollte?« »Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna. »Glauben Sie vielleicht,« mischte sich Pulcheria Alexandrowna mit Feuer ein, »daß ihn damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod vielleicht aus Kummer, unsere Armut hätten zurückhalten können? Er hätte sich ruhig über alle diese Hindernisse hinweggesetzt. Kann man aber annehmen, daß er uns nicht liebt?« »Er hat mir nie etwas über diese Geschichte erzählt,« antwortete Rasumichin vorsichtig, »aber ich habe manches von der Frau Sarnizyna selbst gehört, die in ihrer Art auch wenig gesprächig ist, und was ich gehört habe, mutet vielleicht sogar etwas seltsam an ...« »Aber was, was haben Sie gehört?« fragten beide Frauen zugleich. »Es ist übrigens nichts Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die endgültig beschlossen war und nur infolge des Todes der Braut nicht zustande kam, der Frau Sarnizyna selbst sehr gegen den Strich ging ... Außerdem sagt man, daß die Braut sehr unschön, das heißt sogar ausgesprochen häßlich gewesen sei ... und kränklich, und ... und so sonderbar ... übrigens, glaube ich nicht ohne gewisse Vorzüge. Sie muß sicher irgendwelche Vorzüge gehabt haben, sonst wäre es nicht möglich, zu verstehen ... Eine Mitgift hatte sie nicht, er würde auch nicht auf eine Mitgift rechnen ... Es ist überhaupt schwer, in solch einer Sache zu urteilen.« »Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war«, bemerkte Awdotja Romanowna kurz. »Gott verzeih es mir, aber ich freute mich damals über ihren Tod, obwohl ich nicht weiß, wer von den beiden den anderen zugrunde gerichtet hätte: er sie, oder sie ihn?« schloß Pulcheria Alexandrowna. Dann begann sie vorsichtig, mit Pausen, jeden Augenblick Dunja anblickend, was jener offenbar unangenehm war, Rasumichin wieder über den gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Luschin auszufragen. Dieser Vorfall machte ihr, wie man sehen konnte, die größten Sorgen, so daß sie fast vor Angst zitterte. Rasumichin erzählte die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten wieder, fügte aber diesmal auch sein eigenes Urteil hinzu: er beschuldigte Raskolnikow direkt, daß er Pjotr Petrowitsch mit Absicht gekränkt habe, und entschuldigte ihn diesmal sehr wenig durch seine Krankheit. »Er hat es noch vor seiner Krankheit beschlossen«, fügte er hinzu. »Das ist auch meine Meinung«, sagte Pulcheria Alexandrowna tief bekümmert. Diesmal war sie aber sehr überrascht, daß Rasumichin sich so vorsichtig und sogar anscheinend mit Achtung über Pjotr Petrowitsch geäußert hatte. Dies überraschte auch Awdotja Romanowna. »Sie sind also dieser Meinung von Pjotr Petrowitsch?« Pulcheria Alexandrowna konnte sich nicht enthalten, diese Frage zu stellen. »Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich keiner anderen Meinung sein«, antwortete Rasumichin fest und überzeugt. »Und das sage ich nicht aus banaler Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun schon aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna diesen Menschen selbst und freiwillig ihrer Wahl würdigte. Und wenn ich ihn gestern so beschimpft habe, so doch nur, weil ich blödsinnig betrunken war und auch ... verrückt; ja, verrückt, meiner Sinne nicht mächtig, vollständig wahnsinnig ... und heute schäme ich mich dessen! ...« Er errötete und verstummte. Auch Awdotja Romanowna errötete, unterbrach aber nicht das Schweigen. Seitdem man über Luschin zu sprechen angefangen hatte, hatte sie noch kein Wort gesagt. Pulcheria Alexandrowna befand sich ohne die Unterstützung seitens der Tochter offenbar in Verlegenheit. Schließlich erklärte sie, stotternd und ständig nach der Tochter blickend, daß ein gewisser Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige. »Sehen Sie, Dmitrij Prokofjitsch«, fing sie an. »Ich werde mit Dmitrij Prokofjitsch ganz offen sein, nicht wahr, Dunjetschka?« »Natürlich, Mamachen«, antwortete Awdotja Romanowna mit Nachdruck. »Es handelt sich um folgendes«, beeilte sie sich, als hätte man ihr durch die Erlaubnis, von ihrem Kummer zu sprechen, eine schwere Last vom Herzen genommen. »Heute in aller Frühe erhielten wir von Pjotr Petrowitsch ein Billett als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung über unsere Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern, wie er es versprochen, auf dem Bahnhofe erwarten. Statt dessen schickte er auf den Bahnhof einen Diener mit der Adresse dieser möblierten Zimmer und um uns den Weg zu zeigen; Pjotr Petrowitsch ließ aber sagen, daß er heute früh uns hier aufsuchen würde. Statt dessen kam heute früh von ihm dieses Billett ... Es ist das beste, wenn Sie es selbst lesen; es ist ein Punkt dabei, der mir große Sorge macht ... Sie werden gleich selbst sehen, was das für ein Punkt ist, und sagen Sie mir Ihre aufrichtige Meinung, Dmitrij Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter Rodjas und können uns darum besser als alle raten. Ich will Ihnen im voraus sagen, daß Dunjetschka ihren Entschluß schon gefaßt hat, gleich vom ersten Schritt an; aber ich weiß noch nicht, was ich tun soll und ... und habe darum Sie erwartet.« Rasumichin entfaltete das mit dem gestrigen Datum versehene Billett und las folgendes: »Sehr geehrte gnädige Frau, Pulcheria Alexandrowna, ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich eingetretener Hindernisse Sie nicht auf dem Bahnhofe habe empfangen können und deshalb zu diesem Zweck einen sehr gewandten Menschen hinschickte. Ebenso muß ich auf die Ehre, Sie morgen früh zu sehen, verzichten, weil ich unaufschiebbare Angelegenheiten im Senat zu erledigen habe und Ihre verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohn und Awdotja Romanownas mit ihrem Bruder nicht stören möchte. Ich werde mir aber die Ehre nehmen, Sie spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends in Ihrer Wohnung aufzusuchen, wobei ich mir erlaube, dem eine inständige und, ich möchte sagen, dringende Bitte hinzuzufügen, daß Rodion Romanowitsch bei unserer gemeinsamen Begegnung nicht mehr anwesend sei, da er mich bei meinem gestrigen Krankenbesuch bei ihm in einer beispiellosen und sehr kränkenden Weise beleidigt hat und da ich außerdem mit Ihnen eine notwendige und ausführliche Aussprache über einen gewissen Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Meinung hören will. Ich habe die Ehre, Ihnen im voraus mitzuteilen, daß ich, falls ich entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffe, genötigt sein werde, mich sofort zurückzuziehen, und die Folgen können Sie sich dann selbst zuschreiben. Ich schreibe Ihnen dies in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, aber nach zwei Stunden plötzlich gesund geworden ist, folglich auch ausgehen und zu Ihnen kommen kann. Davon habe ich mich mit meinen eigenen Augen in der Wohnung eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes überzeugt, der an diesen Verletzungen auch gestorben ist und dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem Lebenswandel, er unter dem Vorwande, daß es für die Beerdigung sein solle, einen Betrag von etwa fünfundzwanzig Rubel ausgehändigt hat, was mich sehr überraschte, da ich weiß, mit welcher Mühe Sie diese Summe aufgetrieben haben. Indem ich hierbei meine besondere Hochachtung der verehrten Awdotja Romanowna ausspreche, bitte ich Sie, den Ausdruck meiner achtungsvollen Ergebenheit entgegenzunehmen. Ihr ergebenster Diener P. Luschin.« »Was soll ich jetzt machen, Dmitrij Prokofjewitsch?« begann Pulcheria Alexandrowna fast weinend. »Wie kann ich Rodja bitten, nicht zu kommen. Er hat gestern so eindringlich darauf bestanden, daß wir Pjotr Petrowitsch absagen, und nun verlangt jener, daß wir ihn selbst nicht empfangen? Er wird ja absichtlich kommen, wenn er es erfährt, und ... was wird dann geschehen?« »Machen Sie es so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat«, antwortete Rasumichin ruhig und so fort. »Ach, mein Gott! Sie sagt ... Sie sagt, Gott weiß was, und erklärt mir nicht den Zweck! Sie sagt, es würde besser sein, das heißt nicht besser, aber es sei aus irgendeinem Grunde dringend notwendig, daß auch Rodja unbedingt heute um acht Uhr herkäme und daß sie sich beide hier träfen ... Ich aber hatte die Absicht, ihm diesen Brief gar nicht zu zeigen, sondern es irgendwie durch Ihre Vermittlung so einzurichten, daß er nicht käme ... denn er ist so reizbar ... Ich verstehe auch gar nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist, und was für eine Tochter, und wie er dieser Tochter sein letztes Geld hat hergeben können ... das Geld, das ...« »Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mamachen«, fügte Awdotja Romanowna hinzu. »Er war gestern nicht recht bei Sinnen«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie nur wüßten, was er dort gestern im Wirtshause angerichtet hat, obwohl es auch klug war ... Hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen hat er wirklich was erzählt, als wir nach Hause gingen, aber ich habe kein Wort verstanden ... Übrigens war ich auch selbst gestern ...« »Das beste ist, Mamachen, wenn wir selbst zu ihm hingehen. Ich versichere Ihnen, wir werden dann sehen, was zu tun ist, außerdem ist es schon Zeit. Mein Gott! Schon bald elf Uhr!« rief sie nach einem Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille, die sie an einem feinen Venezianer Kettchen um den Hals hängen hatte und die mit der übrigen Kleidung so gar nicht harmonierte. – Ein Geschenk des Bräutigams – dachte sich Rasumichin. »Ach, es ist Zeit! ... Es ist Zeit, Dunjetschka!« rief Pulcheria Alexandrowna aufgeregt. »Er wird denken, daß wir ihm noch von gestern her böse sind, weil wir so lange nicht kommen! ... Ach, mein Gott!« Während sie das sagte, warf sie sich hastig die Mantille um und setzte den Hut auf; auch Dunjetschka machte sich fertig. Ihre Handschuhe waren nicht nur abgetragen, sondern auch zerrissen, was Rasumichin auch merkte, und doch verlieh diese offensichtliche Armseligkeit der Kleidung den beiden Damen eine besondere Würde, wie es immer bei Menschen ist, die ärmliche Kleidung zu tragen verstehen. Rasumichin blickte Dunjetschka andächtig an und war schon stolz, daß er sie führen würde. – Jene Königin – dachte er bei sich – die sich im Gefängnisse die Strümpfe stopfte, sah in jenem Augenblick natürlich wie eine echte Königin aus und sicher viel königlicher, als bei den prunkvollsten Festen und Empfängen. »Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna: »Hab ich mir denn je gedacht, daß ich das Wiedersehen mit meinem Sohn, mit meinem lieben, lieben Rodja so fürchten werde, wie ich es jetzt fürchte! ... Ich hab solche Angst, Dmitrij Prokofjewitsch!« fügte sie hinzu mit einem ängstlichen Blick auf Rasumichin. »Fürchten Sie nicht, Mamachen«, sagte Dunja, sie küssend. »Glauben Sie besser an ihn. Ich glaube.« »Ach, mein Gott! Auch ich glaube, und doch habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau. Sie traten auf die Straße. »Weißt du, Dunjetschka, als ich gegen Morgen einschlief, erschien mir plötzlich im Traume die verstorbene Marfa Petrowna ... sie war ganz weiß gekleidet ... sie ging auf mich zu, nahm mich bei der Hand und schüttelte dabei den Kopf so streng, so streng, als ob sie mich verurteilte ... Ob das was Gutes bedeutet? Ach, mein Gott, Dmitrij Prokofjitsch, Sie wissen es noch nicht: Marfa Petrowna ist gestorben!« »Nein, ich weiß nichts; was für eine Marfa Petrowna?« »Plötzlich! Und denken Sie sich nur ...« »Später, Mamachen«, mischte sich Dunja ein. »Er weiß ja noch nicht, wer Marfa Petrowna war.« »Ach, Sie wissen es nicht? Und ich glaubte, Sie wüßten schon alles. Sie müssen schon entschuldigen, Dmitrij Prokofjitsch, ich bin dieser Tage ganz von Sinnen. Wirklich, ich halte Sie für unsere Vorsehung, und darum bin ich so überzeugt, daß Ihnen schon alles bekannt sei. Ich betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie nicht böse, daß ich so spreche. Ach, mein Gott, was haben Sie mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sie sich verstaucht?« »Ja, verstaucht«, murmelte Rasumichin beglückt. »Manchmal spreche ich so offenherzig, daß Dunja mich zurechtweisen muß ... Aber, mein Gott, in was für einer Kammer lebt er doch! Ist er schon aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, hält das für ein Zimmer? Hören Sie, Sie sagen, er liebe es nicht, sein Herz zu enthüllen, so daß ich ihm vielleicht zur Last fallen werde mit meinen ... Schwächen? ... Wollen Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch? Wie soll ich ihn behandeln? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.« »Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie sehen, daß er das Gesicht verzieht; fragen Sie ihn nicht zu sehr über seine Gesundheit, das liebt er nicht.« »Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da ist schon die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe!« »Mama, Sie sind so blaß, beruhigen Sie sich, Liebste«, sagte Dunja, sich an sie schmiegend. »Er muß glücklich sein, daß er Sie sieht, Sie aber quälen sich so«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu. »Warten Sie, ich will zuerst nachschauen, ob er schon aufgewacht ist.« Die Damen folgten leise Rasumichin, der vor ihnen die Treppe hinaufgegangen war; als sie im dritten Stock an der Tür der Wirtin vorübergingen, merkten sie, daß diese Tür ein wenig aufgemacht war und einen schmalen Spalt offen ließ, und daß zwei lebhafte schwarze Augen sie beide aus der Dunkelheit betrachteten. Als sich aber ihre Blicke trafen, wurde die Tür zugeschlagen, so laut, daß Pulcheria Alexandrowna vor Schreck beinahe aufschrie. 3. III »Er ist gesund, gesund!« rief Sossimow den Eintretenden freudig entgegen. Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke auf dem Sofa. Raskolnikow saß in der Ecke ihm gegenüber, fertig angekleidet und sogar sorgfältig gewaschen und gekämmt, was bei ihm schon lange nicht der Fall war. Das Zimmer füllte sich sofort, aber Nastasja brachte es doch fertig, mit den Gästen ins Zimmer einzudringen, und begann zuzuhören. Raskolnikow war in der Tat fast ganz gesund, besonders im Vergleiche mit gestern, er war nur sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich glich er einem Verwundeten oder einem, der einen heftigen physischen Schmerz leidet: seine Brauen waren zusammengezogen, die Lippen zusammengepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und ungern, als ginge es über seine Kraft, und in seinen Bewegungen zeigte sich ab und zu eine gewisse Unruhe. Es fehlte bloß ein Verband am Arm oder ein schwarzes Taftpflaster auf dem Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Menschen voll zu machen, der zum Beispiel ein schmerzhaftes Geschwür am Finger oder einen verstauchten Arm oder etwas Ähnliches hat. Übrigens wurde auch dieses blasse und düstere Gesicht wie von einem inneren Lichte erhellt, als seine Mutter und Schwester eintraten, doch dies fügte seinem Ausdruck von griesgrämiger Zerstreutheit nur noch den einer gespannten Qual hinzu. Das Licht erlosch bald wieder, aber die Qual blieb zurück, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst eben zu praktizieren beginnenden Arztes studierte, nahm an ihm beim Eintritt der Verwandten mit Erstaunen statt der Freude die heimliche schwere Entschlossenheit wahr, noch eine oder zwei Stunden Folterpein zu ertragen, der er nicht mehr entrinnen könnte. Später merkte er, daß fast jedes Wort der folgenden Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten berührte und aufwühlte; zugleich staunte er aber auch einigermaßen, wie jener es heute verstand, sich zu beherrschen und die Gefühle des Monomanen zu verbergen, der gestern wegen des geringsten Wortes fast in Raserei geriet. »Ja, jetzt sehe ich selbst, daß ich fast gesund bin«, sagte Raskolnikow, die Mutter und die Schwester freundlich küssend, so daß Pulcheria Alexandrowna sofort erstrahlte. »Und ich spreche auch nicht mehr wie gestern «, fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend und ihm freundschaftlich die Hand drückend. »Ich mußte mich über ihn heute sogar wundern«, begann Sossimow, der über den Besuch sehr erfreut war, da er in den vorhergegangenen zehn Minuten schon den Faden des Gesprächs mit seinem Patienten verloren hatte. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei oder vier Tagen wieder der Frühere sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder zwei Monaten war ... oder vielleicht vor drei Monaten? Das Ganze hat sich doch seit langem vorbereitet ... Nicht? Werden Sie jetzt selbst eingestehen, daß Sie vielleicht selbst schuld daran waren?« fügte er mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu, als fürchtete er noch immer, ihn irgendwie zu reizen. »Sehr möglich«, antwortete Raskolnikow kühl. »Ich sage es,« fuhr Sossimow fort, der nun Appetit bekommen hatte, »weil Ihre rechtzeitige Genesung hauptsächlich von Ihnen selbst abhängt. Jetzt, wo man mit Ihnen schon sprechen kann, möchte ich Sie davon überzeugen, daß es notwendig ist, die ursprünglichen, sozusagen primären Ursachen zu beseitigen, die die Entstehung Ihres Krankheitszustandes beeinflußt haben, und dann werden Sie auch ganz gesund werden; sonst aber wird es sogar noch schlimmer werden. Diese ursprünglichen Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen sie bekannt sein. Sie sind ein kluger Mensch und haben sich sicher selbst beobachtet. Mir scheint, daß der Anfang Ihrer Erkrankung teilweise mit Ihrem Austritt aus der Universität zusammenhängt. Sie dürfen nicht ohne eine Beschäftigung bleiben, und darum glaube ich, daß die Arbeit und ein fest vorgestecktes Ziel Ihnen viel helfen könnten.« »Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort wieder in die Universität eintreten, und dann geht alles ... wie geschmiert ...« Sossimow, der bei seinen klugen Ratschlägen teilweise auch an einen für die Damen berechneten Effekt dachte, war natürlich etwas verblüfft, da er, als er seine Rede beendete und seinen Zuhörer anblickte, auf dessen Gesicht einen ausgesprochen höhnischen Ausdruck wahrnahm. Dies dauerte übrigens nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna fing sofort an, sich bei Sossimow zu bedanken, besonders für den gestrigen nächtlichen Besuch im Gasthause. »Wie, ist er nachts bei euch gewesen?« fragte Raskolnikow, anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht geschlafen?« »Ach, Rodja, das war alles vor zwei Uhr. Dunja und ich haben uns auch zu Hause nie vor zwei Uhr schlafen gelegt.« »Auch ich weiß nicht, wie ihm zu danken«, fuhr Raskolnikow fort, plötzlich wieder finster werdend und den Blick senkend. »Ganz abgesehen von der Geldfrage, – Sie entschuldigen schon, daß ich es erwähne (wandte er sich an Sossimow), – weiß ich wirklich nicht, wodurch ich eine solche Aufmerksamkeit verdient habe! Ich verstehe es einfach nicht ... und ... und sie fällt mir sogar zur Last, weil ich sie nicht begreifen kann: das sage ich Ihnen ganz offen.« »Regen Sie sich nur nicht so auf«, antwortete Sossimow mit einem gezwungenen Lächeln. »Nehmen Sie an, daß Sie mein erster Patient sind; aber unsereiner, der eben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene Kinder, manche verlieben sich sogar in sie. An Patienten bin ich aber nicht reich.« »Von ihm spreche ich schon gar nicht«, fügte Raskolnikow hinzu, auf Rasumichin zeigend. »Auch er hat von mir außer Kränkungen und Sorgen nichts gehabt.« »Wie er bloß lügen kann! Bist du heute in einer rührseligen Stimmung?« rief Rasumichin. Wäre er scharfsichtiger gewesen, hätte er bemerkt, daß es gar keine rührselige Stimmung war, sondern das Gegenteil. Aber Awdotja Romanowna merkte es. Sie beobachtete den Bruder gespannt und voll Unruhe. »Von Ihnen, Mamachen, wage ich gar nicht zu sprechen«, fuhr er fort, als sagte er eine am frühen Morgen auswendig gelernte Lektion auf. »Heute erst sah ich einigermaßen ein, wie Sie sich gestern in Erwartung meiner Rückkehr gequält haben müssen.« Als er das gesagt hatte, reichte er plötzlich stumm und lächelnd der Schwester die Hand. Doch in diesem Lächeln kam diesmal ein echtes, unverfälschtes Gefühl zum Vorschein. Dunja ergriff sofort die ihr entgegengestreckte Hand und drückte sie erfreut und dankbar. Nach dem gestrigen Zerwürfnis wandte er sich zum ersten Male wieder an sie. Das Gesicht der Mutter erstrahlte vor Entzücken und Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester. »Dafür liebe ich ihn so!« flüsterte Rasumichin, der alles gerne übertrieb, sich energisch auf seinem Stuhle umwendend. »Er hat solche Regungen! ...« »Wie schön gerät ihm alles«, dachte sich die Mutter. »Was für edle Regungen hat er doch und wie einfach und feinfühlend hat er dem gestrigen Mißverständnis mit der Schwester ein Ende gemacht – bloß dadurch, daß er ihr in einem solchen Augenblick die Hand entgegenstreckte und sie so lieb ansah ... Was hat er doch für herrliche Augen und was für ein herrliches Gesicht! ... Er ist sogar hübscher als Dunjetschka ... Aber, mein Gott, was hat er für einen Anzug an, wie fürchterlich ist er gekleidet! Der Laufjunge Wassja im Laden Afanassij Iwanowitschs ist besser gekleidet als er! ... Ich würde ihm so gern um den Hals fallen und ihn umarmen und ... weinen, – aber ich habe solche Angst ... mein Gott, wie merk würdig ist er doch! ... Da spricht er so freundlich, und doch habe ich Angst! Was fürchte ich bloß? ...« »Ach, Rodja, du wirst es mir nicht glauben wollen«, beeilte sie sich plötzlich, seine Bemerkung zu beantworten, »wie ich und Dunjetschka gestern unglücklich waren! Jetzt, wo alles zu Ende und vorüber ist und wir alle wieder glücklich sind, kann man es erzählen. Denk dir nur, wir laufen her, um dich zu umarmen, fast direkt aus dem Zug, und diese Frau – da ist sie ja! Guten Tag, Nastasja! – sagt uns plötzlich, daß du das Delirium habest und eben ohne Wissen des Arztes im Fieber auf die Straße weggelaufen seist und daß man dich überall suche. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es uns zumute war! Ich mußte daran denken, wie tragisch der Leutnant Potantschikow, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters, umgekommen ist –, du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja –, er ist auch im Delirium auf die gleiche Weise weggelaufen und auf dem Hofe in einen Brunnen gefallen; erst am anderen Tage konnte man ihn herausziehen. Wir sahen in unserer Angst die Dinge natürlich noch schrecklicher. Wir wollten schon auf die Suche nach Pjotr Petrowitsch laufen, um wenigstens mit seiner Hilfe ... denn wir waren beide ganz allein«, sagte sie mit klagender Stimme und verstummte plötzlich, da es ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, die Rede auf Pjotr Petrowitsch zu bringen, »obwohl wir alle schon vollkommen glücklich sind.« »Ja, ja ... das ist natürlich alles sehr ärgerlich ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort, doch mit einem so zerstreuten und geistesabwesenden Ausdruck, daß Dunjetschka ihn erstaunt ansah. »Ja, was wollte ich noch sagen«, fuhr er fort und versuchte sich zu besinnen. »Ja: ich bitte euch, Mamachen und Dunja, glaubt nur nicht, daß ich nicht als erster zu euch heute kommen wollte und auf euren Besuch wartete.« »Was fällt dir ein?« rief Pulcheria Alexandrowna ebenfalls erstaunt. – Antwortet er uns nur aus Pflicht? – dachte Dunjetschka: – Er söhnt sich aus und bittet um Vergebung, als erfülle er eine Pflicht oder als sage er eine Lektion auf. »Ich bin eben erst aufgewacht und wollte schon zu euch gehen, aber meine Kleider hielten mich auf; ich hatte gestern, vergessen ... Nastasja zu sagen ... dieses Blut abzuwaschen ... Eben erst habe ich mich angezogen.« »Blut?! Was für ein Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. »Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf, Mamachen. Das Blut kommt daher, weil ich gestern, als ich im Fieber herumlief, auf einen überfahrenen Men schen stieß ... auf einen Beamten ...« »Im Fieber? Du erinnerst dich aber an alles!« unterbrach ihn Rasumichin. »Das ist wahr«, antwortete ihm darauf Raskolnikow auffallend bedächtig. »Ich erinnere mich an alles bis in die letzte Kleinigkeit; aber wozu ich das tat, wozu ich hinging, und warum ich das oder jenes sagte, – das kann ich nicht mehr erklären.« »Das ist ein sehr bekanntes Phänomen«, mischte sich Sossimow ein. »Die Ausführung ist manchmal meisterhaft und außerordentlich schlau, doch die Direktion der Handlungen, der Urbeginn der Handlungen, ist verworren und hängt von allerlei krankhaften Eindrücken ab. Es ist wie in einem Traume.« – Das ist vielleicht sogar gut, daß er mich fast für verrückt hält – dachte Raskolnikow. »Das kann aber vielleicht auch einem Gesunden passieren«, bemerkte Dunjetschka mit einem besorgten Blick auf Sossimow. »Eine recht treffende Bemerkung«, antwortete jener. »In diesem Sinne gleichen wir wirklich fast alle den Verrückten, bloß mit dem kleinen Unterschied, daß die ›Kranken‹ etwas mehr verrückt sind als wir, denn man muß hier eine gewisse Grenze unterscheiden. Einen wirklich harmonischen Menschen gibt es tatsächlich fast nicht; unter zehn- und vielleicht auch hunderttausend Menschen findet man höchstens einen, und dann auch nur ein recht schwaches Exemplar ...« Beim Worte »verrückt«, das dem auf sein Lieblingsthema geratenen Sossimow entschlüpft war, verzogen alle die Gesichter. Raskolnikow saß nachdenklich, mit einem seltsamen Lächeln auf den blassen Lippen da und schien dem keine Beachtung zu schenken. Er fuhr fort, über etwas nachzudenken. »Nun, was ist mit jenem Überfahrenen? Ich habe dich eben unterbrochen«, beeilte sich Rasumichin zu sagen. »Was?« rief jener, wie aus einem Traume erwachend. »Ja ... ich beschmierte mich also mit Blut, als ich half, ihn in seine Wohnung zu schaffen ... Übrigens, Mamachen, ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan; ich war wirklich nicht bei Sinnen. Ich habe gestern das ganze Geld, das Sie mir geschickt haben, weggegeben ... seiner Frau ... für die Beerdigung. Jetzt ist sie Witwe, eine schwindsüchtige, unglückliche Frau ... drei kleine hungrige Waisenkinder ... im Hause ist es leer ... und es ist noch eine Tochter da ... Vielleicht hätten Sie selbst alles hergegeben, wenn Sie es gesehen hätten ... Ich hatte übrigens, ich gestehe es, gar kein Recht dazu, um so mehr, als ich wußte, wie schwer es Ihnen fiel, dieses Geld aufzutreiben. Um zu helfen, muß man erst ein Recht dazu haben, sonst: ›Crevez chiens, si vous n'êtes pas contents!‹« Er lachte. »Ist es nicht so, Dunja?« »Nein, es ist nicht so«, antwortete Dunja fest. »Bah! Auch du hast also ... Absichten! ...« murmelte er, sie beinahe gehässig ansehend und spöttisch lächelnd. »Das hätte ich bedenken sollen ... Nun, es ist sehr lobenswert und um so besser für dich ... und du wirst einen solchen Strich erreichen, daß du unglücklich sein wirst, wenn du ihn nicht überschreitest, und noch unglücklicher, wenn du ihn überschreitest ... Übrigens ist das alles Unsinn!« rief er gereizt und ärgerlich, daß er sich hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie um Verzeihung bitte, Mamachen«, schloß er kurz und bündig. »Hör schon auf, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« rief die Mutter erfreut. »Seien Sie nicht so überzeugt«, antwortete jener, den Mund zu einem Lächeln verziehend. Nun folgte ein Schweigen. In diesem ganzen Gespräch, im Schweigen und in der Aussöhnung lag eine gewisse Spannung, und alle fühlten es. – Es ist, als ob sie mich fürchteten! – dachte sich Raskolnikow, indem er seine Mutter und Schwester finster anblickte. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat immer ängstlicher, je länger sie schwieg. – Als sie noch nicht da waren, liebte ich sie doch so! – ging es ihm durch den Kopf. »Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich Pulcheria Alexandrowna heraus. »Was für eine Marfa Petrowna?« »Ach, Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir ja so viel über sie geschrieben!« »Ach ja, ich erinnere mich ... Sie ist also gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?« »Denk dir nur: ganz plötzlich!« antwortete Pulcheria Alexandrowna mit großer Hast, durch sein Interesse ermutigt. »Und gerade in der Zeit, als ich dir den Brief schickte, sogar am gleichen Tage! Denk dir nur: dieser schreckliche Mensch war wahrscheinlich die Ursache ihres Todes. Man sagt, er hätte sie furchtbar verprügelt!« »Haben sie denn so miteinander gelebt?« fragte er, sich an die Schwester wendend. »Nein, sogar im Gegenteil. Er war gegen sie immer geduldig und sogar höflich. In vielen Fällen sogar allzu nachsichtig gegen ihren Charakter, ganze sieben Jahre lang ... Plötzlich riß ihm irgendwie die Geduld.« »Er ist also wohl gar nicht so schrecklich, wenn er sich sieben Jahre beherrschen konnte! Ich glaube, du verteidigst ihn, Dunjetschka?« »Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Etwas Schrecklicheres kann ich mir gar nicht vorstellen!« antwortete Dunja fast erschauernd. Sie runzelte die Brauen und wurde nachdenklich. »Es geschah am Morgen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Sie ließ sofort die Pferde anspannen, um gleich nach dem Essen in die Stadt zu fahren: in solchen Fällen fuhr sie immer in die Stadt; zu Mittag aß sie, wie man sagt, mit großem Appetit ...« »Verprügelt wie sie war?« »Sie hatte übrigens immer diese Angewohnheit, und sobald sie gegessen hatte, ging sie, um keine Zeit zu verlieren, in die Badehütte ... Weißt du, sie kurierte sich mit kalten Bädern; sie haben dort eine kalte Quelle, und sie badete regelmäßig jeden Tag, und wie sie nur ins Wasser stieg, traf sie gleich der Schlag!« »Das will ich glauben!« sagte Sossimow. »Und hat er sie ordentlich verprügelt?« »Es ist ja ganz gleich«, erwiderte Dunja. »Hm! Wozu erzählen Sie mir übrigens solchen Unsinn, Mamachen?« sagte Raskolnikow plötzlich gereizt und unwillig. »Ach, mein Freund, ich wußte schon gar nicht, worüber zu sprechen«, entfuhr es Pulcheria Alexandrowna. »Was ist denn los? Habt ihr alle vor mir Angst, oder was?« sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Es ist wirklich so«, antwortete Dunja, den Bruder gerade und streng anblickend. »Mamachen hat sich sogar vor Angst bekreuzigt, als wir die Treppe hinaufgingen.« Sein Gesicht verzerrte sich wie in einem Krampfe. »Ach, was sagst du, Dunja! Sei, bitte, nicht böse, Rodja ... Warum sagst du so was, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. »Es ist wahr, als wir herfuhren, stellte ich mir die ganze Zeit während der Fahrt vor, wie wir uns wiedersehen und wie wir uns alles erzählen werden ... und ich war so glücklich, daß ich von der Reise nichts merkte! Aber was sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Das war dumm von dir, Dunja ... Ich bin schon darum glücklich, weil ich dich sehe, Rodja ...« »Lassen Sie es, Mamachen«, murmelte er verwirrt, ohne sie anzublicken, und drückte ihre Hand. »Wir werden uns noch aussprechen können!« Als er das gesagt hatte, wurde er plötzlich verlegen und bleich: wieder durchfuhr eine schon vor kurzem erlebte schreckliche Empfindung wie tote Kälte seine Seele; wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar und verständlich, daß er soeben eine fürchterliche Lüge gesagt hatte, daß er sich nicht nur nie wieder aussprechen können würde, sondern auch niemals, über nichts und mit niemand sprechen dürfe. Der Eindruck dieses schmerzvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand, und, ohne jemand anzublicken, aus dem Zimmer gehen wollte. »Was hast du?« rief Rasumichin, ihn bei der Hand packend. Er setzte sich wieder hin und fing an, sich schweigend umzusehen; alle blickten ihn verständnislos an. »Was seid ihr so langweilig!« rief er plötzlich, ganz unvermittelt. »Sagt doch etwas! Was soll man denn wirklich so herumsitzen! Sprecht doch! Wollen wir uns unterhalten ... Wir haben uns versammelt und schweigen ... Nun, irgendwas!« »Gott sei Dank! Ich glaubte schon, daß mit ihm wieder das Gestrige beginnt«, sagte Pulcheria Alexandrowna, sich bekreuzigend. »Was hast du, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna argwöhnisch. »Nichts, mir ist gerade ein Ding eingefallen«, antwortete er und lachte plötzlich auf. »Nun, wenn es ein Ding ist, so ist es gut! Ich habe schon selbst geglaubt ...« murmelte Sossimow, sich vom Sofa erhebend. »Es ist für mich aber Zeit; ich werde vielleicht noch vorbeikommen ... Wenn ich Sie noch antreffe ...« Er verabschiedete sich und ging. »Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna. »Ja, ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch ...« begann plötzlich Raskolnikow mit einer unerwarteten Hast und einer bisher ungewohnten Lebhaftigkeit. »Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn vor meiner Erkrankung getroffen habe ... Ich glaube, ich bin mit ihm schon irgendwo zusammengekommen ... Auch er ist ein guter Mensch!« sagte er, mit dem Kopfe auf Rasumichin weisend. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und fing plötzlich aus unbekanntem Grunde zu lachen an. »Sehr«, antwortete Dunja. »Pfui, was bist du für ein ... Schwein!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und errötend und erhob sich von seinem Stuhl. Pulcheria Alexandrowna lächelte leise, und Raskolnikow lachte laut auf. »Wo willst du denn hin?« »Auch ich ... muß gehen.« »Du mußt gar nicht, bleib nur da! Da Sossimow fortgegangen ist, mußt du auch gehen. Geh nicht weg ... Wie spät ist es denn? Ist es schon zwölf? Was hast du für eine nette Uhr, Dunja! Was schweigt ihr schon wieder? Bloß ich allein rede immer! ...« »Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja. »Ein wertvolles Stück«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. »Aber so groß, fast keine Damenuhr.« »Ich liebe gerade solche Uhren«, sagte Dunja. – Es ist also kein Geschenk vom Bräutigam – dachte Rasumichin und wurde, er wußte selbst nicht warum, froh darüber. »Und ich glaubte, es sei ein Geschenk von Luschin«, bemerkte Raskolnikow. »Nein, der hat Dunjetschka noch nichts geschenkt.« »So, so! Wissen Sie noch, Mamachen, wie ich mal verliebt war und heiraten wollte?« sagte er plötzlich mit einem Blick auf die Mutter, die über die unerwartete Wendung und den Ton, mit dem er das sagte, erstaunt war. »Gewiß, mein Freund!« Pulcheria Alexandrowna wechselte mit Dunjetschka und Rasumichin Blicke. »Hm! Ja! Was soll ich euch erzählen? Ich erinnere mich kaum. Sie war ein kränkliches Mädchen,« fuhr er fort, nachdenklich und mit gesenkten Augen, »ganz krank; sie gab gern Almosen und sehnte sich nach einem Kloster. Einmal weinte sie furchtbar, als sie mir davon zu erzählen begann; ja, ja ... ich erinnere mich ... ich erinnere mich genau. Sie war ... so unschön. Ich weiß wirklich nicht, warum ich so an ihr hing ... ich glaube, weil sie immer krank war ... Wenn sie auch noch lahm oder buckelig gewesen wäre, so hätte ich sie, glaube ich, noch mehr lieb gewonnen ... (Er lächelte nachdenklich.) Es war so ... ein Frühlingstraum ...« »Nein, es war nicht bloß ein Frühlingstraum«, sagte Dunjetschka begeistert. Er blickte die Schwester aufmerksam und gespannt an, aber er hörte sie nicht oder verstand sogar ihre Worte nicht. Dann stand er in tiefer Nachdenklichkeit auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder hin. »Du liebst sie auch noch jetzt!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt. »Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie sprechen von ihr! Nein. Dies alles ist jetzt wie in einer anderen Welt ... und es ist auch so lange her. Und alles, was rings geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...« Er blickte sie alle aufmerksam an. »Auch ihr alle ... es ist, als sähe ich euch aus einer Entfernung von tausend Werst ... Weiß der Teufel, warum wir darüber sprechen! Warum soll man mich ausfragen?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, an den Nägeln kauend und wieder in Nachdenklichkeit versinkend. »Wie schlecht ist doch deine Wohnung, Rodja, sie ist wie ein Sarg«, sagte plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das schwere Schweigen unterbrechend. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung die halbe Schuld daran hat, daß du ein solcher Melancholiker geworden bist.« »Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat viel dazu beigetragen ... ich habe auch schon selbst daran gedacht. Wenn Sie wüßten, was für einen sonderbaren Gedanken Sie eben ausgesprochen haben, Mamachen«, fügte er plötzlich mit einem seltsamen Lächeln hinzu. Es hätte nicht viel gefehlt, und dieses Beisammensein, diese Verwandten nach dreijähriger Trennung, dieser verwandtschaftliche Ton des Gesprächs bei voller Unmöglichkeit, über etwas Bestimmtes zu sprechen, – dies alles wäre ihm schließlich ganz unerträglich geworden. Es gab jedoch eine unaufschiebbare Sache, die heute noch, so oder anders, unbedingt erledigt werden mußte, – das hatte er schon vorhin, als er erwachte, beschlossen. Jetzt freute er sich über diese Sache wie über einen Ausweg. »Hör mal, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte dich natürlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es für meine Pflicht, dich wieder daran zu erinnern, daß ich an der Hauptsache noch festhalte. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein Schurke sein, aber du darfst es nicht. Einer von beiden. Wenn du aber Luschin heiratest, höre ich gleich auf, dich als Schwester anzuerkennen.« »Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe, was du gestern gesagt hast!« rief Pulcheria Alexandrowna bekümmert. »Und warum nennst du dich immer einen Schurken, ich kann es nicht ertragen! Und auch gestern schon ...« »Bruder,« antwortete Dunja fest und gleichfalls trocken, »in allem liegt ein Irrtum deinerseits. Ich habe es mir in der Nacht überlegt und habe den Irrtum gefunden. Alles kommt daher, daß du anscheinend annimmst, ich bringe mich jemandem und für jemand zum Opfer. Es ist gar nicht so. Ich heirate einfach für mich selbst, denn ich habe es auch selbst schwer; es wird mich natürlich sehr freuen, wenn es mir gelingt, meinen Verwandten nützlich zu sein, aber das ist nicht der eigentliche Beweggrund zu meinem Entschlusse ...« – Sie lügt! – dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. – Die Stolze! Sie will nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen will! Oh, diese niedrigen Charaktere! Auch wenn sie lieben, ist es, als ob sie haßten ... Oh, wie ich ... sie alle hasse! – »Mit einem Worte, ich heirate Pjotr Petrowitsch,« fuhr Dunjetschka fort, »weil ich von zwei Übeln das kleinere wähle. Ich habe die Absicht, alles ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, folglich betrüge ich ihn nicht ... Warum hast du eben gelächelt?« Sie errötete sogar, und ihre Augen blickten zornig. »Wirst du alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln. »Bis zu einer gewissen Grenze. Die Manier und die Form des Antrages von Pjotr Petrowitsch zeigten mir sofort, was er braucht. Natürlich schätzt er sich selbst, vielleicht sogar allzu hoch, aber ich hoffe, daß er auch mich schätzt ... Was lachst du schon wieder?« »Was errötest du aber wieder? Du lügst, Schwester, und du lügst mit Absicht, aus weiblichem Eigensinn, nur um deinen Willen durchzusetzen ... Du kannst Luschin nicht achten: ich habe ihn gesehen und gesprochen. Also verkaufst du dich für Geld und handelst in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch erröten kannst!« »Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« schrie Dunjetschka auf, ihre ganze Fassung verlierend. »Und ich würde ihn auch nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich schätzt und ich ihm teuer bin. Ich würde ihn auch nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß auch ich ihn achten kann. Zum Glück kann ich mich davon ganz sicher und sogar heute noch überzeugen. Eine solche Heirat ist aber keine Gemeinheit, wie du sie nennst! Und selbst wenn du recht hättest und wenn ich mich wirklich zu einer Gemeinheit entschlossen hätte, ist es dann nicht grausam von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir Heldentum, das du vielleicht auch selbst nicht hast? Es ist Despotismus, es ist eine Vergewaltigung! Wenn ich wen zugrunde richte, so doch nur mich allein. Ich habe noch niemand ermordet! ... Was siehst du mich so an? Was bist du blaß geworden? Rodja, was ist mit dir? Rodja, Liebster! ...« »Mein Gott! Sie hat ihn zur Ohnmacht gebracht!« rief Pulcheria Alexandrowna. »Nein, nein ... Unsinn ... es ist nichts! ... Ein leichter Schwindelanfall. Gar keine Ohnmacht ... Sie denken gleich immer an Ohnmacht! ... Hm, ja ... was wollte ich noch sagen? Ja: auf welche Weise willst du dich heute noch überzeugen, daß du ihn achten kannst und daß auch er dich ... schätzt, nicht wahr, das hast du doch gesagt? Du sprachst doch, glaube ich, von heute? Oder habe ich mich verhört?« »Mamachen, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunjetschka. Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternder Hand den Brief. Er nahm ihn mit großer Neugier. Doch bevor er ihn öffnete, blickte er Dunjetschka plötzlich erstaunt an. »Sonderbar«, sagte er langsam, wie von einem neuen Gedanken überrascht. »Warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei? Heirate doch, wen du willst!« Er sagte es anscheinend für sich selbst, sprach es aber laut aus und blickte seine Schwester eine Weile wie betroffen an. Endlich entfaltete er den Brief, immer noch mit dem Ausdruck eines seltsamen Erstaunens; dann las er ihn langsam und aufmerksam zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna war sichtbar unruhig; auch alle anderen erwarteten etwas Besonderes. »Es wundert mich«, begann er nach einigem Nachdenken, den Brief der Mutter zurückgebend und sich an niemand Bestimmten wendend, »er führt doch Prozesse, ist Advokat und redet auch ... mit gewissen Ansprüchen, – aber wie ungebildet er schreibt.« Alle rührten sich; sie hatten etwas ganz anderes erwartet. »Sie schreiben doch alle so«, bemerkte Rasumichin kurz. »Hast du es denn gelesen?« »Ja.« »Wir haben es ihm gezeigt, Rodja, wir ... haben uns früher beraten«, begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. »Es ist eigentlich der Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Die Gerichtspapiere werden auch heute noch so geschrieben.« »Der Gerichtsstil? Ja, wirklich der Gerichtsstil, ein geschäftlicher Stil. Es ist weder ganz ungebildet noch irgendwie literarisch; mit einem Worte: geschäftlich!« »Pjotr Petrowitsch verheimlicht gar nicht, daß er nur eine ganz primitive Bildung genossen hat, und ist sogar stolz darauf, daß er sich selbst den Weg gebahnt hat«, bemerkte Awdotja Romanowna durch den neuen Ton des Bruders etwas gekränkt. »Nun, wenn er stolz ist, so hat er auch Grund dazu, – ich widerspreche nicht. Mir scheint, Schwester, du fühlst dich beleidigt, weil ich aus diesem ganzen Brief einen so frivolen Schluß gezogen habe, und glaubst, daß ich die Rede mit Absicht auf solchen Unsinn brachte, um meinen Arger an dir auszulassen. Im Gegenteil, anläßlich dieses Stils fällt mir etwas ein, was in diesem Falle gar nicht unwesentlich ist. Es kommt darin der Ausdruck vor: ›die Folgen haben Sie sich dann selbst zuzuschreiben‹; dieser Ausdruck ist sehr bedeutungsvoll und klar hingesetzt, und außerdem ist eine Drohung dabei, daß er sofort fortgehen werde, wenn ich komme. Diese Drohung, fortzugehn, bedeutet die Drohung, euch beide sitzen zu lassen, wenn ihr ihm nicht gehorcht, und zwar jetzt, wo er euch nach Petersburg hat kommen lassen. Nun, wie glaubst du: kann man sich durch einen solchen Ausdruck von Luschin ebenso gekränkt fühlen, wie wenn er es geschrieben hätte (er zeigte auf Rasumichin) oder Sossimow oder sonst jemand von uns?« »N-n-nein«, antwortete Dunjetschka, wieder lebhaft werdend. »Ich habe sehr gut verstanden, daß es zu naiv ausgesprochen ist und daß er vielleicht bloß kein Meister im Schreiben ist ... Das hast du richtig beurteilt, Bruder, ich hätte es sogar nicht erwartet ...« »Es ist im Gerichtsstil geschrieben, und im Gerichtsstil kann man es gar nicht anders ausdrücken; darum ist es ihm gröber geraten, als er vielleicht wollte. Übrigens muß ich dich etwas enttäuschen: in diesem Briefe findet sich auch noch eine andere Wendung, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht gemeine. Das Geld gab ich gestern der schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Witwe, nicht unter dem ›Vorwande‹, daß es für die Beerdigung sei, sondern für die Beerdigung; auch nicht der Tochter, einem Mädchen, wie er schreibt, von verrufenem Lebenswandel (und die ich gestern zum erstenmal im Leben sah), sondern der Witwe. In diesem allem erblicke ich den voreiligen Wunsch, mich anzuschwärzen und mit euch zu verzanken. Ausgedrückt ist es wiederum im Gerichtsstil, das heißt mit allzu deutlich unterstrichenem Zweck und in einer höchst naiven Übereilung. Er ist ein kluger Mensch, aber um klug zu handeln, genügt die Klugheit allein noch nicht. Das alles zeigt mir den Menschen in seinem wahren Lichte, und ... ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich sage dir dies einzig zu deiner Belehrung, denn ich wünsche aufrichtig dein Bestes ...« Dunjetschka antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorher gefaßt und wartete nur auf den Abend. »Also wozu entschließt du dich, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, durch den plötzlichen neuen geschäftlichen Ton seiner Rede noch mehr beunruhigt. »Was heißt das: ›Wozu entschließt du dich‹?« »Pjotr Petrowitsch schreibt ja, daß du heute abend bei uns nicht sein sollst und daß er fortgehen wird ... wenn du kommst. Also was denkst du ... wirst du kommen?« »Darüber habe nicht ich zu beschließen, sondern erstens Sie, wenn diese Forderung Pjotr Petrowitschs Sie nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn auch sie sich nicht gekränkt fühlt. Ich aber will so handeln, wie es für Sie am besten ist«, fügte er trocken hinzu. »Dunjetschka hat sich schon entschlossen, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu erklären. »Ich habe mich entschlossen, dich, Rodja, inständig zu bitten, unbedingt dieser Zusammenkunft beizuwohnen«, sagte Dunja. »Wirst du kommen?« »Ich werde kommen.« »Ich möchte auch Sie bitten, um acht Uhr bei uns zu sein«, wandte sie sich an Rasumichin. »Mamachen, ich lade auch ihn ein.« »Sehr schön, Dunjetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu, »so soll es auch sein. Für mich ist es so leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; wollen wir lieber die ganze Wahrheit sagen ... Mag Pjotr Petrowitsch jetzt böse werden oder nicht!« 4. IV In diesem Augenblick ging die Tür leise auf, und ins Zimmer trat, scheu um sich blickend, ein junges Mädchen. Alle wandten sich erstaunt und neugierig zu ihr um. Raskolnikow hatte sie auf den ersten Blick nicht erkannt. Es war Ssonja Ssemjonowna Marmeladowa. Gestern hatte er sie zum erstenmal gesehen, doch in einem solchen Augenblick, in solcher Umgebung und in einem solchen Aufzuge, daß in seiner Erinnerung ein ganz anderes Bild geblieben war. Jetzt war es ein bescheiden und sogar ärmlich gekleidetes Mädchen, noch sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenen, anständigen Manieren und mit einem heiteren, doch anscheinend verängstigten Gesicht. Sie trug ein sehr einfaches Hauskleidchen und einen alten, altmodischen Hut; nur in den Händen hatte sie noch den gestrigen Sonnenschirm. Als sie unerwartet ein Zimmer voller Menschen vor sich sah, wurde sie nicht nur verlegen, sondern verlor ganz die Fassung, wurde scheu wie ein kleines Kind und machte sogar eine Bewegung, um gleich wieder wegzugehen. »Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikow außerordentlich erstaunt und wurde auch selbst verlegen. Er mußte sofort daran denken, daß seine Mutter und Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von einem gewissen Mädchen mit einem »verrufenen« Lebenswandel wußten. Eben erst hatte er gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt, daß er dieses Mädchen zum erstenmal in seinem Leben gesehen habe, und da kommt sie plötzlich selbst. Er erinnerte sich auch, daß er gegen den Ausdruck »mit einem verrufenen Lebenswandel« durchaus nicht protestiert hatte. Dies alles ging ihm plötzlich verworren und flüchtig durch den Kopf. Als er aber genauer hinsah, merkte er plötzlich, wie sehr dieses erniedrigte Geschöpf erniedrigt war, und er spürte Mitleid. Als sie aber die Bewegung machte, um vor Angst davonzulaufen, – drehte sich in ihm etwas um. »Ich habe Sie gar nicht erwartet«, sagte er hastig und hielt sie mit einem Blicke zurück. »Ich bitte sehr, nehmen Sie Platz. Sie kommen wahrscheinlich von Katerina Iwanowna. Ich bitte, nicht hier, setzen Sie sich dorthin ...« Bei Ssonjas Erscheinen erhob sich Rasumichin, der auf dem einen der drei Stühle Raskolnikows, dicht bei der Tür, gesessen hatte, um sie durchzulassen. Raskolnikow wies ihr erst den Platz in der Sofaecke an, wo Sossimow gesessen hatte, besann sich aber darauf, daß dieser Platz doch zu »familiär« war und ihm zum Schlafen diente, und beeilte sich darum, ihr den Stuhl neben Rasumichin anzubieten. »Und du, setze dich hierher«, sagte er zu Rasumichin, ihm die Sofaecke zeigend, wo Sossimow gesessen hatte. Ssonja setzte sich, vor Angst beinahe zitternd, und blickte die beiden Damen scheu an. Es war ihr anzusehen, daß sie es selbst nicht begreifen konnte, wie sie neben ihnen sitzen sollte. Als sie dies einsah, erschrak sie dermaßen, daß sie plötzlich aufstand und sich völlig verwirrt an Raskolnikow wandte. »Ich ... ich ... ich bin nur für einen Augenblick gekommen, entschuldigen Sie die Störung«, begann sie stotternd. »Ich komme von Katerina Iwanowna, sie hatte sonst niemand zu schicken ... Katerina Iwanowna läßt Sie bitten, morgen zur Totenmesse zu kommen ... gleich nach dem Morgengottesdienst ... auf den Mitrofanjewschen Friedhof, und dann zu uns ... zu ihr ... zum Essen ... ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.« Ssonja stockte und verstummte. »Ich werde mir die Mühe geben ... unbedingt«, antwortete Raskolnikow, der aufgestanden war, gleich ihr stotternd und die Sätze nicht zu Ende sprechend. »Tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich bitte,« sagte er plötzlich, »ich muß mit Ihnen sprechen. Ich bitte Sie, Sie haben vielleicht Eile, tun Sie mir den Gefallen, schenken Sie mir zwei Minuten ...« Er schob ihr einen Stuhl hin. Ssonja setzte sich, streifte die beiden Damen mit einem schüchternen und fassungslosen Blick und schlug plötzlich die Augen nieder. Das blasse Gesicht Raskolnikows erglühte; er fuhr zusammen, seine Augen funkelten. »Mamachen,« sagte er fest und bestimmt, »das ist Ssofja Ssemjonowna Marmeladowa, die Tochter jenes unglücklichen Herrn Marmeladow, der gestern vor meinen Augen überfahren wurde und von dem ich schon erzählt habe ...« Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja an und kniff ein wenig die Augen zusammen. Wie verlegen sie sich auch unter dem durchdringenden und herausfordernden Blicke Rodjas fühlte, konnte sie sich dieses Vergnügen doch nicht versagen. Dunjetschka blickte ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins Gesicht und betrachtete es etwas verblüfft. Als Ssonja die Empfehlung hörte, hob sie die Augen wieder, wurde aber noch mehr verlegen. »Ich wollte Sie fragen,« wandte sich Raskolnikow schnell an sie, »wie hat sich bei Ihnen heute alles gemacht? Hat man Sie nicht belästigt? ... Zum Beispiel seitens der Polizei?« »Nein, es ist schon alles vorüber ... Die Todesursache ist doch allzu klar; man hat uns nicht belästigt; aber die anderen Mieter sind böse.« »Warum denn?« »Weil die Leiche so lange in der Wohnung liegt ... jetzt ist es ja heiß ... es riecht ... so wird man heute die Leiche um die Zeit der Abendmesse auf den Friedhof bringen, in die Kapelle, bis morgen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, aber jetzt sieht sie selbst, daß es nicht anders geht ...« »Also heute?« »Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen und morgen zur Aussegnung in die Kirche zu kommen, und dann zu ihr zum Totenmahl.« »Sie macht auch ein Totenmahl?« »Ja, nur einen Imbiß; sie läßt Ihnen danken, daß Sie uns gestern geholfen haben ... ohne Sie hätten wir nichts, um ihn zu beerdigen ...« Ihre Lippen und ihr Kinn begannen plötzlich zu zucken, sie beherrschte sich aber, nahm sich zusammen und schlug wieder die Augen nieder. Während des Gesprächs hatte Raskolnikow sie unverwandt betrachtet. Es war ein mageres, auffallend mageres und bleiches Gesichtchen mit ziemlich unregelmäßigen zugespitzten Zügen, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte sie nicht mal niedlich nennen, dafür waren aber ihre blauen Augen so heiter, und der Gesichtsausdruck wurde, wenn sich diese Augen belebten, so gut und treuherzig, daß jeder sich von ihr unwillkürlich angezogen fühlte. In ihrem Gesicht und in ihrer ganzen Figur war außerdem noch ein besonders charakteristischer Zug: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie viel jünger aus, als sie war, fast wie ein kleines Mädchen, und dies zeigte sich zuweilen sogar recht komisch in einigen ihrer Bewegungen. »Konnte sich denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln behelfen? Und sie hat auch noch die Absicht, einen Imbiß zu geben?« fragte Raskolnikow, das Gespräch hartnäckig fortsetzend. »Der Sarg wird doch einfach sein ... und alles wird einfach sein, so daß es nicht teuer kommt ... Wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, und es bleibt noch so viel übrig, um ein Totenmahl zu geben ... denn Katerina Iwanowna möchte es so gerne. Es geht wirklich nicht anders ... für sie ist es ein Trost ... sie ist so, Sie wissen ja ...« »Ich verstehe, ich verstehe ... Gewiß ... Was betrachten Sie so mein Zimmer? Mamachen sagt auch, daß es wie ein Sarg aussieht.« »Sie haben uns gestern alles hergegeben!« sagte Ssonjetschka darauf hastig, mit einer eigentümlich lauten Flüsterstimme und wurde wieder sehr verlegen. Ihre Lippen und ihr Kinn zuckten wieder. Sie war schon längst über die ärmliche Wohnung Raskolnikows überrascht, und diese Worte entschlüpften ihr jetzt ganz von selbst. Es trat Schweigen ein. Die Augen Dunjetschkas erhellten sich, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja sogar freundlich an. »Rodja,« sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunjetschka ... Und du, Rodja, solltest etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen und etwas liegen, und dann komm schnell zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...« »Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig, sich erhebend. »Ich habe übrigens noch etwas zu erledigen ...« »Werdet ihr denn auch getrennt essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow erstaunt an. »Was fällt dir ein?« »Ja, ja, ich werde natürlich kommen ... Du aber bleibst eine Weile hier. Sie brauchen ihn doch nicht, Mamachen? Oder nehme ich ihn Ihnen fort?« »Ach, nein! Sie werden doch mit uns zu Mittag essen, Dmitrij Prokofjitsch? Sie werden so gut sein?« »Bitte, kommen Sie«, bat Dunjetschka. Rasumichin nahm Abschied und erstrahlte plötzlich. Einen Augenblick lang waren sie alle seltsam verlegen. »Leb wohl, Rodja, das heißt: auf Wiedersehen; ich liebe nicht, ›leb wohl‹ zu sagen. Leb wohl, Nastasja ... ach, nun habe ich schon wieder ›leb wohl‹ gesagt! ...« Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, es gelang ihr aber nicht, und sie verließ eilig das Zimmer. Aber Awdotja Romanowna schien zu warten, bis die Reihe an sie käme, und als sie mit der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit einer aufmerksamen, höflichen und tiefen Verbeugung, Ssonjetschka wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken, und auf ihren Zügen zeigte sich sogar ein schmerzvoller Ausdruck, als wären ihr die Höflichkeit und Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas lästig und qualvoll. »Dunja, so leb denn wohl!« rief Raskolnikow ihr nach. »Gib mir doch die Hand!« »Ich hab sie dir schon gegeben, hast du es vergessen?« antwortete Dunja, sich freundlich und linkisch zu ihm umwendend. »Nun, was macht's, gib sie mir noch einmal!« Und er drückte ihre Finger stark zusammen. Dunjetschka lächelte ihm zu, wurde rot, entriß ihm schnell ihre Hand und folgte der Mutter; sie war, sie wußte selbst nicht warum, selig. »Nun, das ist ja schön!« sagte er zu Ssonja, wieder in sein Zimmer zurückkehrend und sie heiter anblickend. »Gott gebe den Toten die Ruhe und den Lebenden das Leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch wahr?« Ssonja sah ihm sehr verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte sie einige Sekunden stumm und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, ging ihm in diesem Augenblick wieder durch den Sinn ... »Mein Gott, Dunjetschka!« sagte Pulcheria Alexandrowna, sobald sie wieder auf der Straße waren. »Jetzt bin ich selbst fast froh, daß wir weggegangen sind: es ist mir gleich irgendwie leichter zumute. Nun, habe ich gestern im Eisenbahnwagen denken können, daß ich mich sogar darüber freuen würde?« »Ich sage Ihnen wieder, Mamachen, daß er noch sehr krank ist. Sehen Sie es denn nicht selbst? Vielleicht ist er darum so herunter, weil er so viel unsertwegen gelitten hat. Man muß nachsichtig sein, und dann kann man vieles, vieles verzeihen.« »Du warst aber nicht nachsichtig!« unterbrach sie sofort hitzig und eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. »Weißt du, Dunja, ich habe euch beide angesehen: du bist sein Ebenbild, und zwar weniger was das Gesicht, als was die Seele betrifft: ihr seid beide Melancholiker, beide finster und hitzig; beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht sein, daß er ein Egoist ist, Dunjetschka! Wie? ... Und wenn ich daran denke, was sich heute abend abspielen wird, so steht mir das Herz still!« »Machen Sie sich keine Sorgen, Mamachen: es wird kommen, was kommen muß.« »Dunjetschka, bedenke doch, in welcher Lage wir jetzt sind! Was, wenn Pjotr Petrowitsch seinen Antrag zurückzieht?« entschlüpfte es unbedachterweise der armen Pulcheria Alexandrowna. »Was ist er dann wert, wenn er es tut?« antwortete Dunjetschka scharf und verächtlich. »Das haben wir gut getan, daß wir jetzt weggegangen sind«, unterbrach sie Pulcheria Alexandrowna hastig. »Er hat etwas Eiliges vor und will weggehen; soll er nur ausgehen und wenigstens frische Luft atmen ... es ist bei ihm so furchtbar dumpf ... wo soll man hier aber frische Luft atmen? In den hiesigen Straßen ist es wie in einem ungelüfteten Zimmer. Mein Gott, was ist das für eine Stadt! ... Wart, geh zur Seite, man wird dich noch erdrücken, die Leute tragen etwas! Da haben sie eben ein Klavier vorbeigetragen ... wie sie nur stoßen ... Vor diesem Fräulein habe ich auch große Angst ...« »Vor was für einem Fräulein, Mamachen?« »Nun, vor dieser Ssofja Ssemjonowna, die eben da war ...« »Warum denn?« »Ich habe so eine Vorahnung, Dunja. Du magst mir glauben oder nicht, als sie aber hereinkam, dachte ich im gleichen Augenblick, daß die Hauptsache in ihr liegt ...« »Nichts liegt in ihr!« rief ärgerlich Dunja. »Wie merkwürdig sind Sie doch mit Ihren Vorahnungen, Mama! Er kennt sie ja erst seit gestern und hat sie nicht einmal wiedererkannt, als sie eintrat.« »Nun, du wirst sehen! ... Sie macht mir Angst, du wirst sehen, wirst sehen! Und wie ich erschrak: sie sieht mich an, sieht mich an, hat solche Augen, daß ich kaum sitzen bleiben konnte, weißt du noch, als er sie vorzustellen begann? Es kommt mir so sonderbar vor: Pjotr Petrowitsch schreibt über sie solche Dinge, und er stellt sie uns vor, sogar dir! Also muß sie ihm teuer sein!« »Was er nicht alles schreibt! Man hat auch über uns manches geschrieben und gesprochen, haben Sie es schon vergessen? Ich aber bin überzeugt, ... daß sie ein herrliches Mädchen ist und daß alles ein Unsinn ist!« »Gebe es Gott!« »Und Pjotr Petrowitsch ist eine gemeine Klatschbase«, schnitt Dunjetschka plötzlich ab. Pulcheria Alexandrowna knickte förmlich ein. Das Gespräch brach ab. »Hör mal, was ich von dir will ...« sagte Raskolnikow, Rasumichin zum Fenster führend. »Ich werde also Katerina Iwanowna sagen, daß Sie kommen werden ...« sagte Ssonja eilig und wollte sich schon verabschieden. »Sofort, Ssofja Ssemjonowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Hör mal«, wandte er sich plötzlich wieder an Rasumichin: »Du kennst doch den ... Wie heißt er noch? ... Porfirij Petrowitsch?« »Und ob! Er ist doch mein Verwandter. Was willst du denn von ihm?« fügte er mit plötzlich erwachter Neugierde hinzu. »Er hat jetzt doch diesen Fall ... nun den Mord ... von dem ihr gestern gesprochen habt ... in Behandlung?« »Ja ... und?« Rasumichin riß die Augen auf. »Er hat die Pfandgeber vernommen, und ich habe dort auch Pfänder liegen, es ist nichts von Wert, aber es ist auch ein Ring von der Schwester dabei, den sie mir zum Andenken geschenkt hat, bevor ich herreiste, und die silberne Uhr von meinem Vater. Alles zusammen hat einen Wert von fünf oder sechs Rubeln, aber mir sind die Sachen ein teures Andenken. Was soll ich jetzt also anfangen? Ich will nicht, daß diese Sachen verlorengehen. Ich zitterte vorher, die Mutter könnte die Uhr sehen wollen, als wir von Dunjetschkas Uhr sprachen. Es ist der einzige Gegenstand, der vom Vater geblieben ist. Sie wird krank werden, wenn die Uhr verlorengeht! Ja, diese Frauen! Sage mir also, was ich tun soll! Ich weiß, daß man es auf dem Polizeibureau anmelden muß. Wäre es aber nicht besser, zu Porfirij selbst zu gehen? Was? Wie glaubst du? Ich möchte es so schnell als möglich erledigen. Du wirst sehen, Mamachen wird mich noch vor dem Essen danach fragen!« »Keineswegs auf das Polizeibureau, sondern unbedingt zu Porfirij!« rief Rasumichin in ungewöhnlicher Erregung. »Nun, wie bin ich froh! Was sollen wir es noch aufschieben, komm gleich mit, es sind nur zwei Schritte, wir treffen ihn sicher an!« »Meinetwegen ... wollen wir gehen ...« »Er wird sich aber sehr, sehr, sehr, sehr freuen, dich kennenzulernen! Ich habe ihm viel von dir erzählt, bei verschiedenen Gelegenheiten ... Auch gestern habe ich von dir gesprochen. Also komm! ... Du hast also die Alte gekannt? Das ist gut! ... Aus-ge-zeichnet hat es sich gefügt! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...« »Ssofja Ssemjonowna,« korrigierte ihn Raskolnikow, »Ssofja Ssemjonowna, das ist mein Freund Rasumichin, ein vortrefflicher Mensch ...« »Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« fing Ssonja an, ohne Rasumichin anzusehen und darum noch verlegener werdend. »Gehen wir!« beschloß Raskolnikow. »Ich will Sie heute noch besuchen, Ssofja Ssemjonowna, sagen Sie mir nur, wo Sie wohnen.« Er schien weniger verlegen zu sein, als einfach Eile zu haben, und mied ihre Blicke. Ssonja gab ihm ihre Adresse und wurde dabei rot. Sie verließen zusammen das Zimmer. »Schließt du denn gar nicht ab?« fragte Rasumichin, als letzter die Treppe hinabsteigend. »Niemals! ... Übrigens will ich mir schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen«, fügte er nachlässig hinzu. »Es sind doch glückliche Menschen, die nicht abzuschließen brauchen?« wandte er sich lachend an Ssonja. Vor dem Tore blieben sie stehen. »Müssen Sie nach rechts, Ssofja Ssemjonowna? Übrigens: wie haben Sie mich gefunden?« fragte er sie. Er schien ihr aber etwas ganz anderes sagen zu wollen: er wollte ihr immer in ihre stillen, heiteren Augen blicken, aber es gelang ihm nicht ... »Sie haben doch gestern Poljetschka Ihre Adresse gegeben?« »Polja? Ach ja ... Poljetschka! Das ist ... die Kleine ... ist das Ihre Schwester? So, habe ich ihr die Adresse gegeben?« »Haben Sie es denn schon vergessen?« »Nein ... ich erinnere mich noch ...« »Mir hat von Ihnen auch schon der Verstorbene erzählt ... Damals kannte ich aber noch Ihren Familiennamen nicht, und auch er selbst kannte ihn nicht ... Jetzt kam ich aber ... Und da ich gestern Ihren Namen erfuhr ... so fragte ich heute: Wohnt hier Herr Raskolnikow? Ich wußte gar nicht, daß auch Sie in Aftermiete wohnen ... Leben Sie wohl ... Ich muß zu Katerina Iwanowna ...« Sie war furchtbar froh, daß sie endlich weggehen konnte; sie ging mit gesenktem Kopfe, eilig, um nur so schnell als möglich den beiden jungen Leuten aus den Augen zu kommen, um nur diese zwanzig Schritte bis zur Straßenbiegung nach rechts zurückzulegen und endlich allein zu bleiben, dann schnell, ohne jemand anzublicken und ohne etwas zu bemerken, nachzudenken, sich zu erinnern, sich auf jedes gesprochene Wort und auf jeden Nebenumstand zu besinnen. Noch niemals, niemals hatte sie Ahnliches empfunden. Eine ganze neue Welt hatte sich unbekannt und dunkel in ihre Seele gesenkt. Sie erinnerte sich plötzlich, daß Raskolnikow selbst zu ihr heute kommen wollte, daß er vielleicht noch am Vormittag, vielleicht gleich kommen würde! »Bitte aber nicht heute, bitte, nicht heute!« murmelte sie mit bebendem Herzen, als flehe sie jemand wie ein erschrockenes Kind an. »Mein Gott! Zu mir ... in dieses Zimmer ... er wird sehen ... oh, mein Gott!« Natürlich konnte sie in diesem Augenblick den ihr unbekannten Herrn nicht bemerken, der sie aufmerksam beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er hatte sie schon von dem Tore an begleitet. In dem Augenblick, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie auf dem Trottoir stehengeblieben waren, um noch ein paar Worte zu wechseln, hatte dieser Fremde, als er um sie herumging, zufällig die Worte Ssonjas: »und fragte: wohnt hier Herr Raskolnikow?« aufgefangen und war plötzlich zusammengefahren. Er musterte schnell, doch aufmerksam, alle drei, besonders Raskolnikow, an den sich Ssonja wandte, sah sich dann das Haus an und merkte es sich. Das alles machte der Fremde in einem Augenblick, im Gehen; er verriet dabei durch keine Miene, daß ihm etwas aufgefallen war, und ging weiter, aber etwas langsamer, als wartete er auf etwas. Er wartete auf Ssonja; er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedeten: also mußte Ssonja wohl gleich zu sich nach Hause gehen. »Aber wohin denn nach Hause? Ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen«, dachte er sich und versuchte, sich Ssonjas Gesicht zu vergegenwärtigen ... »Ich müßte es erfahren.« Bei der Straßenbiegung ging er auf die andere Seite hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja ihm auf dem gleichen Wege folgte, ohne etwas zu beachten. An der Biegung schwenkte sie in die gleiche Straße ab. Er ging ihr nach, sie unablässig mit den Augen verfolgend; nach etwa fünfzig Schritten ging er wieder auf die gleiche Straßenseite, auf der Ssonja ging, herüber und folgte ihr in einer Entfernung von etwa fünf Schritten. Er war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, mehr als mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten, steil abfallenden Schultern, was ihm ein etwas gebücktes Aussehen verlieh. Seine Kleidung war elegant und bequem, und er sah wie ein solider vornehmer Herr aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den er bei jedem Schritt aufs Trottoir stieß, und die Hände staken in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den derben Backenknochen war recht angenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, gar nicht petersburgisch. Seine Haare waren noch sehr dicht, hellblond und kaum graumeliert, und der breite, üppige Vollbart war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen Augen blickten kalt, durchdringend und nachdenklich; die Lippen waren hellrot. Überhaupt war er ein wunderbar konservierter Mann und sah viel jünger aus, als er war. Als Ssonja zum Kanal kam, waren sie beide allein auf dem Trottoir. Da er sie beobachtete, hatte er schon ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Vor ihrem Hause angelangt, schwenkte Ssonja ins Tor ab, und er folgte ihr, anscheinend etwas überrascht. Vom Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufführte. »Ach!« murmelte der fremde Herr und stieg hinter ihr die Stufen hinauf. Jetzt erst bemerkte ihn Ssonja. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf, bog in den Gang ein und läutete auf Nr. 9, auf dessen Tür mit Kreide geschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider.« – »Ach!« wiederholte der Unbekannte, über das seltsame Zusammentreffen erstaunt, und läutete nebenan auf Nr. 8. Beide Türen waren kaum sechs Schritte voneinander entfernt. »Sie wohnen also bei Kapernaumow!« sagte er, Ssonja anblickend und lachend. »Er hat mir gestern eine Weste umgenäht. Ich wohne aber hier gleich neben Ihnen, bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!« Ssonja sah ihn aufmerksam an. »Wir sind also Nachbarn«, fuhr er auffallend lustig fort: »Ich bin ja erst seit drei Tagen in Petersburg. Nun, vorerst auf Wiedersehen!« Ssonja gab keine Antwort; man machte ihr die Tür auf, und sie schlüpfte zu sich hinein. Sie fühlte sich irgendwie beschämt und hatte Angst ... * * * Rasumichin war auf dem Wege zu Porfirij besonders aufgeregt. »Das ist ausgezeichnet, Bruder,« sagte er einigemal, »und ich freue mich! Ich freue mich!« – Worüber freust du dich denn? – dachte Raskolnikow. »Ich wußte ja gar nicht, daß auch du bei der Alten zu versetzen pflegtest. Und ... und ... ist es schon lange her? Das heißt, ist es lange her, daß du bei ihr warst?« – Dieser naive Dummkopf! – »Wann es war? ...« Raskolnikow blieb stehen, als besinne er sich. »Ja, ich glaube, ich war bei ihr drei Tage vor ihrem Tode. Übrigens will ich jetzt die Sachen gar nicht auslösen«, fügte er hinzu: plötzlich schien er wegen seiner Sachen sehr besorgt. »Ich habe ja nur noch einen Rubel Kleingeld ... wegen des gestrigen verfluchten Fiebers! ...« Das Fieber erwähnte er mit besonderem Nachdruck. »Na ja, na ja«, bestätigte Rasumichin eilig, man wußte nicht, was. »Darum hat dich das also damals so erschüttert ... weißt du, du hast auch während der Krankheit immer von irgendwelchen Ringen und Ketten phantasiert! ... Nun ja ... Es ist klar, jetzt ist alles klar.« – So ist es also! Wie dieser Gedanke sie alle angesteckt hat! Dieser Mensch wird sich für mich kreuzigen lassen, und doch ist er so froh, daß es sich nun aufgeklärt hat, warum ich von den Ringen phantasiert habe! Wie sich das bei ihnen festgesetzt hat ... – »Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut. »Ganz sicher!« antwortete Rasumichin eilig. »Er ist ein Prachtkerl, du wirst es sehen, Bruder! Etwas plump, das heißt, er ist sogar ein Gesellschaftsmensch, aber ich meine plump in einem anderen Sinne. Ein kluger, sehr kluger, sogar gar nicht dummer Bursche, hat aber eine eigene Art zu denken ... Mißtrauisch, skeptisch, zynisch ... betrügt gerne, das heißt er betrügt nicht, sondern hält einen zum Narren ... Nun, die alte materialistische Methode ... Seine Sache versteht er ausgezeichnet ... Er hat im vorigen Jahr einen Fall – es war auch ein Mord – aufgeklärt, wo fast alle Spuren verwischt waren. Er will dich sehr, sehr gerne kennen lernen!« »Ja warum denn?« »Das heißt, ich will nicht gesagt haben, daß ... Siehst du, in der letzten Zeit, als du erkranktest, hatte ich oft und viel Gelegenheit, von dir zu sprechen ... Nun, er hörte mir zu, und als er erfuhr, daß du Jurist bist und das Studium aus privaten Gründen nicht beenden kannst, sagte er: ›Wie schade!‹ Nun, und ich schloß daraus ... das heißt, alles zusammen, nicht bloß das ... auch Samjotow gestern ... Siehst du, Rodja, ich hab' dir gestern im Rausche, als wir nach Hause gingen, etwas vorgeschwatzt ... Nun fürchte ich, daß du es irgendwie übertreiben könntest, siehst du ...« »Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Vielleicht ist es auch wirklich wahr.« Er lächelte gezwungen. »Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Also alles, was ich sagte ... (und auch alles andere) ist dummes Geschwätz, und ich habe es nur im Rausche gesagt.« »Was entschuldigst du dich! Wie mich das alles anödet!« schrie Raskolnikow übertrieben gereizt. Übrigens war es zum Teil Verstellung. »Ich weiß, ich weiß, ich verstehe. Du kannst überzeugt sein, daß ich es verstehe. Ich schäme mich, davon zu sprechen ...« »Wenn du dich schämst, so sprich eben nicht!« Beide verstummten. Rasumichin war mehr als entzückt, und Raskolnikow fühlte es mit Ekel. Auch das, was Rasumichin eben über Porfirij gesagt hatte, machte ihm Sorgen. – Dem muß man auch etwas vorjammern – dachte er, erbleichend und klopfenden Herzens –, und zwar so natürlich als möglich. Das Natürlichste wäre, gar nicht zu jammern. Forciert nicht jammern. Nein, ›forciert‹ wäre wieder unnatürlich ... Nun, es wird sich schon irgendwie machen ... wir wollen sehen ... gleich ... Ist es gut oder nicht gut, daß ich hingehe? Der Falter fliegt selbst ins Licht. Das Herz klopft so, und das ist nicht gut! ... – »In diesem grauen Hause«, sagte Rasumichin. – Das Wichtigste ist, ob Porfirij weiß oder nicht weiß, daß ich gestern bei dieser Hexe in der Wohnung gewesen bin ... und nach dem Blut gefragt habe ... Das muß ich sofort feststellen, gleich beim ersten Schritt, wenn ich eintrete, ich muß es in seinem Gesichte lesen: sonst ... und wenn ich auch zugrundegehe, – ich muß es feststellen! – »Weißt du was?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem schalkhaften Lächeln. »Mir ist es schon heute früh aufgefallen, daß du in so ungewöhnlicher Erregung bist! Ist es so?« »In was für einer Erregung? In gar keiner Erregung!« rief Rasumichin auffahrend. »Nein, Bruder, es ist dir doch anzusehen. Vorhin hast du auf dem Stuhle so gesessen, wie du sonst nie zu sitzen pflegst: nur am äußersten Endchen, und zucktest, als ob du Krämpfe hättest. Ganz ohne jeden Grund sprangst du auf. Bald warst du böse und machtest bald wieder ein zuckersüßes Gesicht. Du wurdest sogar rot; besonders, als man dich zum Essen einlud, da wurdest du furchtbar rot.« »Nichts dergleichen! Du lügst! ... Was meinst du eigentlich damit?« »Du drehst und windest dich wie ein Schuljunge! Pfui Teufel, da ist er schon wieder rot geworden!« »Was bist du eigentlich für ein Schwein!« »Und warum bist du verlegen? Romeo! Wart nur, ich werde es heut irgendwem wiedererzählen, ha-ha-ha! Mein Mamachen wird darüber lachen ... und noch jemand ...« »Hör, hör, hör, im Ernst, das ist doch ... Was soll es denn heißen, Teufel!« rief Rasumichin ganz verwirrt und kalt vor Schreck. »Was willst du ihnen erzählen? Ich werde, Bruder ... Pfui, was du für ein Schwein bist!« »Du bist einfach eine Frühlingsrose! Und wie dir das steht, wenn du es bloß wüßtest! Ein baumlanger Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, hast dir sogar die Nägel gereinigt, wie? Wann hat man das bei dir gesehen? Bei Gott, du hast dir sogar das Haar mit Pomade eingeschmiert! Bück dich mal!« »Schwein!!!« Raskolnikow lachte so, daß er sich anscheinend nicht mehr halten konnte. Mit diesem Lachen traten sie auch in die Wohnung Porfirij Petrowitschs. Das war alles, was Raskolnikow wollte: in der Wohnung konnte man natürlich hören, daß sie lachend eingetreten waren und im Vorzimmer noch immer lachten. »Kein Wort hier, oder ich ... zermalme dich!« flüsterte Rasumichin wütend und packte Raskolnikow an der Schulter. 5. V Jener trat aber schon in die Wohnung. Er sah dabei so aus, als nähme er sich mit aller Gewalt zusammen, um nicht wieder loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich entstelltem, wütendem Gesicht, rot wie eine Pfingstrose und verlegen der lange und linkische Rasumichin. Sein Gesicht und seine ganze Figur waren in diesem Augenblick wirklich komisch und rechtfertigten Raskolnikows Lachen. Raskolnikow, der noch nicht vorgestellt war, verbeugte sich vor dem Hausherrn, der mitten im Zimmer stand und die beiden fragend ansah; dann reichte er ihm die Hand und drückte die seine, immer noch mit dem Ausdrucke der größten Anstrengung, seine Heiterkeit zu unterdrücken oder wenigstens einige Worte zu sagen, um sich vorzustellen. Kaum hatte er aber ein ernstes Gesicht gemacht und etwas gemurmelt, als er plötzlich wie unwillkürlich wieder Rasumichin anblickte und sich nicht mehr beherrschen konnte: das unterdrückte Lachen kam um so ungestümer zum Ausbruch, je stärker es bisher zurückgehalten worden war. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin dieses »herzliche« Lachen aufnahm, verlieh dieser ganzen Szene den Anschein einer aufrichtigen Lustigkeit und, was die Hauptsache war, Natürlichkeit. Rasumichin half wie mit Absicht nach. »Pfui Teufel!« brüllte er, schwang den Arm und traf ein kleines rundes Tischchen, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles flog klirrend zu Boden. »Warum soll man gleich die Möbel demolieren, meine Herren? Das ist bloß ein Schaden für den Staat!« rief Porfirij Petrowitsch lustig. Die Szene stellte sich wie folgt dar: Raskolnikow beendete gerade seine Lachsalve, seine Hand in der des Hausherrn lassend, und wartete, doch mit Takt, auf den Augenblick, um schneller und natürlicher zu enden. Rasumichin, der durch den Fall des Tischchens und das Unglück mit dem Teeglase ganz verwirrt war, blickte düster auf die Scherben, spuckte aus und wandte sich jäh nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen das Publikum mit furchtbar finsterem Gesicht hinpflanzte und, ohne etwas zu sehen, zum Fenster hinausschaute. Porfirij Petrowitsch lachte und wollte noch mehr lachen, wartete aber offenbar auf eine Erklärung. Samjotow, der auf einem Stuhl in der Ecke gesessen und sich beim Erscheinen der Gäste erhoben hatte, stand erwartungsvoll da, den Mund zu einem Lächeln verzogen, und betrachtete diese ganze Szene verständnislos und sogar mißtrauisch, Raskolnikow sogar mit einer gewissen Bestürzung. Die unerwartete Anwesenheit Samjotows berührte Raskolnikow unangenehm. – Das muß ich noch besonders in Betracht ziehen! – dachte er. »Entschuldigen Sie, bitte,« begann er sehr verlegen, »Raskolnikow ...« »Aber ich bitte Sie, sehr angenehm, Sie kamen ja so angenehm herein ... Was, er will mich nicht mal begrüßen?« sagte Porfirij Petrowitsch und wies mit dem Kopf auf Rasumichin. »Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich so wütend ist. Ich habe ihm unterwegs nur gesagt, daß er einem Romeo ähnlich sieht, und ... ich bewies es ihm auch, und sonst gab's, glaube ich, nichts.« »Schwein!« versetzte, ohne sich umzuwenden, Rasumichin. »Also hatte er wohl triftige Gründe, um wegen eines einzigen Wörtchens so böse zu werden«, bemerkte Porfirij lachend. »Du! Untersuchungsrichter! ... Hol euch alle der Teufel!« platzte Rasumichin heraus. Plötzlich fing er selbst zu lachen an und ging mit lustigem Gesicht, als ob nichts geschehen wäre, auf Porfirij Petrowitsch zu. »Schluß! Ihr seid alle Dummköpfe! Zur Sache: Das ist mein Freund Rodion Romanowitsch Raskolnikow; erstens hat er von dir viel gehört und will dich kennenlernen, und zweitens hat er ein kleines Anliegen an dich. Bah! Samjotow! Wie kommst du her? Seid ihr denn bekannt? Kennt ihr euch schon lange?« – Nanu, was ist das? – fragte sich Raskolnikow unruhig. Samjotow schien verlegen, doch nicht allzusehr. »Wir haben uns ja gestern bei dir kennengelernt«, sagte er ungezwungen. »Also hat mir Gott den Schaden erspart; in der vorigen Woche hat er mich bestürmt, daß ich ihn irgendwie mit dir, Porfirij, bekannt mache, und nun habt ihr auch ohne meine Hilfe die Nasen zusammengesteckt ... Wo hast du deinen Tabak?« Porfirij Petrowitsch war in seinem Hausanzug: in einem Schlafrock, sehr sauberer Wäsche und abgetretenen Morgenschuhen. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, wohlbeleibt, sogar mit einem Bäuchlein, glattrasiert, ohne Schnurr- und Backenbart, mit kurzgeschorenem, großem, rundem Schädel, der hinten im Nacken besonders stark gewölbt war. Das etwas aufgedunsene, runde und stumpfnasige Gesicht war von einer ungesunden dunkelgelben Farbe, aber recht munter und sogar spöttisch. Es war sogar fast gutmütig, wäre nicht der Ausdruck der Augen mit dem wässerigen Glanz und den weißen, immer zuckenden, gleichsam jemand zuzwinkernden Wimpern gewesen. Der Blick dieser Augen harmonierte so gar nicht mit dieser ganzen Gestalt, die sogar etwas Weibisches an sich hatte, und verlieh ihr einen viel ernsteren Ausdruck, als man es von ihr beim ersten Anblick erwartete. Als Porfirij Petrowitsch hörte, daß der Gast ein »kleines Anliegen« an ihn habe, forderte er ihn sofort auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen, er setzte sich selbst in die andere Ecke des Sofas und blickte den Gast, in Erwartung, daß jener ihm die Angelegenheit sofort darlegen werde, mit jener gespannten und übertrieben ernsten Aufmerksamkeit an, die zum erstenmal unangenehm und verwirrend wirkt, besonders wenn man noch unbekannt ist, und noch mehr, wenn das, was man vorbringen möchte, nach eigener Ansicht des Gesuchstellers, in gar keinem Verhältnis zu der so großen Aufmerksamkeit steht, die man ihm erweist. Aber Raskolnikow erklärte seine Sache in wenigen zusammenhängenden Worten, klar und genau, und war auch mit sich selbst so zufrieden, daß er sogar Zeit fand, Porfirij genau zu mustern. Auch Porfirij Petrowitsch wandte seine Augen keinen Augenblick von ihm. Rasumichin, der sich ihnen gegenüber an denselben Tisch gesetzt hatte, verfolgte eifrig und ungeduldig die Darlegung der Sache und blickte abwechselnd bald den einen und bald den anderen an, was schon ein wenig zu viel war. – Dummkopf! – schimpfte Raskolnikow bei sich. »Sie müssen ein Gesuch an die Polizei einreichen,« antwortete Porfirij mit der ernstesten Miene, »daß Sie, nachdem Sie von diesem Fall, das heißt von diesem Morde gehört haben, die Polizei ersuchen, den Untersuchungsrichter, der mit dieser Sache betraut ist, zu benachrichtigen, daß die und die Gegenstände Ihnen gehören und daß Sie sie einlösen möchten ... oder ähnlich ... man wird es Ihnen übrigens aufsetzen.« »Das ist es eben, daß ich augenblicklich«, begann Raskolnikow, indem er sich bemühte, verlegen zu erscheinen, »nicht bei Kassa bin ... und sogar so eine Kleinigkeit nicht habe ... Sehen Sie, ich möchte jetzt nur erklären, daß die Gegenstände mir gehören, und daß, wenn ich mal Geld habe ...« »Das ist ganz gleich«, antwortete Porfirij Petrowitsch, der die Erklärung über die Finanzlage recht kühl aufnahm. »Übrigens können Sie auch, wenn Sie wollen, direkt an mich in demselben Sinne schreiben, nämlich: ich habe das und das erfahren, gebe die und die Gegenstände an und bitte ...« »Schreibt man das auf einfachem Papier?« unterbrach ihn Raskolnikow eilig, der sich wieder für die finanzielle Seite der Sache interessierte. »Ach, auf dem allereinfachsten!« Plötzlich blickte ihn Porfirij Petrowitsch unverhohlen spöttisch an und zwinkerte ihm mit zusammengekniffenen Augen zu. Dies alles kam Raskolnikow vielleicht nur so vor, denn es dauerte nur einen Augenblick. Jedenfalls war etwas gewesen. Raskolnikow könnte schwören, daß jener ihm zugezwinkert habe, weiß der Teufel warum. – Er weiß es! – durchzuckte es ihn wie ein Blitz. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Bagatellen belästige«, fuhr er etwas unsicher fort. »Alle meine Sachen sind nur fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer als Andenken an die, von denen ich sie bekommen habe. Ich muß gestehen, als ich es erfuhr, erschrak ich sehr ...« »Darum bist du also gestern so aufgefahren, als ich Sossimow sagte, daß Porfirij die Pfandgeber vernimmt!« mischte sich Rasumichin mit deutlicher Absicht ein. Das war schon unerträglich. Raskolnikow konnte sich nicht länger beherrschen und blickte ihn gehässig mit zornentbrannten Augen an. Aber gleich kam er wieder zur Besinnung. »Ich glaube, du machst dich über mich lustig, Bruder?« wandte er sich an ihn mit gut simulierter Gereiztheit. »Ich gebe es zu, daß ich mir wegen dieser Sachen, die du wohl für Schund hältst, zu viel Sorgen mache; du darfst mich aber deswegen weder für einen Egoisten noch für habgierig halten, und diese beiden kleinen Gegenstände können für mich auch kein Schund sein. Ich habe dir doch eben gesagt, daß diese silberne Uhr, die nur ein paar Groschen wert ist, der einzige Gegenstand ist, den mein Vater hinterlassen hat. Du kannst über mich lachen, aber zu mir ist meine Mutter gekommen«, wandte er sich plötzlich an Porfirij, »und wenn sie erfährt,« fuhr er fort, sich wieder an Rasumichin wendend und sich Mühe gebend, mit zitternder Stimme zu sprechen, »daß diese Uhr verloren ist, so wird sie, ich schwöre es, in Verzweiflung sein! Diese Frauen!« »Keine Spur! Ich meine es gar nicht so! Ganz im Gegenteil!« rief Rasumichin gekränkt. – Ist es gut so? Ist es natürlich? Habe ich auch nicht übertrieben? – fragte sich Raskolnikow zitternd. – Warum habe ich nur gesagt: ›Diese Frauen‹? – »So, Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?« erkundigte sich aus irgendeinem Grunde Porfirij Petrowitsch. »Ja.« »Wann denn?« »Gestern abend.« Porfirij schwieg, als überlege er etwas. »Ihre Sachen können in keinem Falle verlorengehen«, fuhr er ruhig und kalt fort. »Ich erwarte Sie ja schon längst.« Und als wäre nichts vorgefallen, hielt er Rasumichin vorsorglich eine Aschenschale hin, da jener die Asche seiner Zigarette unbarmherzig auf den Teppich streute. Raskolnikow fuhr zusammen, aber Porfirij sah ihn anscheinend gar nicht an: so sehr war er um Rasumichins Zigarette besorgt. »Wa-a-s? Du hast ihn erwartet? Hast du denn gewußt, daß auch er dort versetzt hat?« rief Rasumichin. Porfirij Petrowitsch wandte sich direkt an Raskolnikow. »Ihre beiden Gegenstände, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in das gleiche Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit Bleistift deutlich Ihr Name angegeben, ebenso auch das Datum, wann sie die Sachen von Ihnen erhalten hat ...« »Wie Sie das gleich bemerkt haben ...« sagte Raskolnikow mit einem ungeschickten Lächeln und bemühte sich, ihm gerade in die Augen zu sehen; er konnte sich aber nicht enthalten und fügte plötzlich hinzu: »Ich sagte es eben, weil wohl sehr viele Pfandgeber waren ... so daß es für Sie wohl schwer sein muß, sich alle zu merken ... Sie aber erinnern sich an alle so deutlich und ... und ...« – Dumm! Schwach! Wozu habe ich es bloß hinzugefügt! – »Fast alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind, der uns noch nicht aufgesucht hat«, antwortete Porfirij mit einem kaum wahrnehmbaren Anfluge von Spott. »Ich war nicht ganz wohl.« »Auch davon habe ich gehört. Ich habe sogar gehört, daß etwas Sie tief erschüttert hat. Sie scheinen mir auch jetzt etwas bleich!« »Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin vollkommen gesund!« schnitt ihm Raskolnikow grob und gehässig ab, plötzlich den Ton ändernd. Er schäumte vor Wut und konnte sie nicht unterdrücken. – Und gerade in der Wut werde ich mich versprechen! – ging es ihm wieder durch den Sinn. – Warum quälen sie mich bloß so ... – »Du bist vollkommen gesund?« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Was er da sagt! Bis gestern war er bewußtlos und phantasierte ... Wirst du es mir glauben, Porfirij: er konnte fast nicht auf den Beinen stehen, aber kaum waren wir, ich und Sossimow, für einen Augenblick weg, als er sich anzog, durchbrannte und sich irgendwo fast bis Mitternacht herumtrieb! Und das, sage ich dir, im höchsten Fieber, kannst du dir so was vorstellen?! Ein merkwürdiger Fall!« »Wirklich im Fieber ? Was Sie nicht sagen!« versetzte Porfirij und schüttelte mit weibischer Gebärde den Kopf. »Ach, Unsinn! Glauben Sie es nicht! Sie glauben es übrigens auch so nicht!« entschlüpfte es Raskolnikow in übertriebener Wut. Porfirij Petrowitsch schien aber diese merkwürdigen Worte überhört zu haben. »Wie konntest du überhaupt weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?« ereiferte sich plötzlich Rasumichin. »Wozu bist du weggegangen? Zu welchem Zweck? ... Und warum heimlich? Nun, warst du vielleicht bei klarem Verstand? Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir geradeaus!« »Sie haben mir gestern so furchtbar zugesetzt«, wandte sich Raskolnikow plötzlich an Porfirij mit frech herausforderndem Lächeln, »und ich lief von ihnen weg, um mir eine Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden; ich nahm auch einen Haufen Geld mit. Herr Samjotow hat das Geld gesehen. Nun, Herr Samjotow, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, entscheiden Sie den Streit!« Er wäre wohl in diesem Augenblick imstande gewesen, Samjotow zu erwürgen. Sein Blick und sein Schweigen mißfielen ihm schon sehr. »Meiner Ansicht nach sprachen Sie sehr vernünftig und sogar schlau, aber Sie waren allzu reizbar«, erklärte Samjotow trocken. »Heute erzählte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porfirij Petrowitsch, »er hätte Sie gestern spät am Abend in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen ...« »Ach ja, das mit dem Beamten!« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Warst du vielleicht nicht verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld gab er der Witwe für die Beerdigung her! Wenn du ihr helfen wolltest, konntest du ihr fünfzehn, auch zwanzig Rubel geben und wenigstens fünf Rubel für dich behalten, du gabst ihr aber die ganzen fünfundzwanzig!« »Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, und du weißt es noch nicht? ... Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Samjotow weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie«, wandte er sich mit bebenden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchen Dummheiten schon eine halbe Stunde belästigen! Sie haben uns doch schon sicher satt?« »Aber ich bitte Sie, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wenn Sie bloß wüßten, wie Sie mich interessieren! Es ist so interessant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich bin, offen gestanden, so froh, daß Sie endlich gekommen sind ...« »Gib uns doch wenigstens Tee! Die Kehle ist mir ganz eingetrocknet!« rief Rasumichin. »Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht trinkt die ganze Gesellschaft mit? Willst du vielleicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee zu dir nehmen?« »Scher dich!« Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um den Tee zu bestellen. Die Gedanken wirbelten im Kopfe Raskolnikows. Er war furchtbar gereizt. – Das Auffallendste ist, daß sie es nicht mal verbergen und sich gar nicht genieren! Warum hast du aber, wenn du mich gar nicht kennst, über mich mit Nikodim Fomitsch gesprochen? Folglich wollen sie es nicht einmal verheimlichen, daß sie wie eine Koppel Hunde mir nachspüren! So offen spucken sie mir ins Gesicht! – Er zitterte vor Wut. – Nun, schlagt doch offen zu und spielt nicht mit mir wie die Katze mit der Maus. Es ist ja unhöflich, Porfirij Petrowitsch, das werde ich mir vielleicht gar nicht gefallen lassen! ... Ich werde gleich aufstehen und allen die ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern; und ihr werdet sehen, wie ich euch verachte! ... – Er atmete schwer. – Wenn es mir aber nur so vorkommt? Wenn es nur eine Fata morgana ist, wenn ich mich in allem irre, aus Unerfahrenheit wüte und aus meiner gemeinen Rolle falle? Vielleicht ist das alles ohne Absicht? Alle ihre Worte sind gewöhnlich, aber es steckt etwas in ihnen ... Dies alles kann man stets sagen, aber es ist etwas dabei. Warum sagt er direkt: ›bei ihr ?‹ Warum fügte Sossimow hinzu, daß ich ›schlau‹ gesprochen habe? Warum sprechen sie in solch einem Tone? Ja ... der Ton ... Auch Rasumichin saß doch dabei; warum fällt ihm nichts auf? Diesem unschuldigen Tölpel fällt wohl nie was auf! Ich habe wieder Fieber! Hat mir Porfirij vorhin zugezwinkert oder nicht? Wahrscheinlich nicht; warum sollte er es auch? Wollen sie vielleicht meine Nerven reizen oder mich bloß necken? Entweder ist alles Einbildung, oder sie wissen alles! Sogar Samjotow ist frech! ... Ist Samjotow wirklich frech? Samjotow hat es sich in der Nacht überlegt. Ich habe es doch gewußt, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt sich hier wie zu Hause, ist aber zum erstenmal da. Porfirij behandelt ihn gar nicht als Gast, er sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie haben sich schon verständigt! Ganz gewiß haben sie sich meinetwegen verständigt. Sicher haben sie vor unserem Erscheinen über mich geredet! ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Wenn das doch schneller herauskäme! ... Als ich sagte, ich sei gestern fortgelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, überhörte er es, nutzte die Gelegenheit nicht aus ... Das mit der Wohnung war aber geschickt von mir, es kann mir später einmal zustatten kommen. Ich bin natürlich im Fieber dort gewesen! ... Ha-ha-ha! Auch über den gestrigen Abend ist er schon unterrichtet! Doch von der Ankunft der Mutter wußte er nichts! ... Die Hexe hat auch das Datum mit Bleistift hingeschrieben! ... Ihr irrt, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen, es ist nur eine Fata Morgana! Nein, gebt mal Tatsachen her! Auch das mit der Wohnung ist keine Tatsache, sondern eine Fieberphantasie; ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Ich gehe nicht von hier, ehe ich das erfahren habe! Warum bin ich überhaupt hergekommen? Jetzt bin ich so wütend, und das ist schon vielleicht eine Tatsache! Pfui, wie reizbar ich bin! Vielleicht ist es aber auch gut: ich spiele ja die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er wird mich aus dem Konzept bringen wollen. Wozu bin ich hergekommen? – Das alles durchzuckte ihn wie ein Blitz. Porfirij Petrowitsch kam im Nu zurück. Er war auf einmal lustig geworden. »Von deinem gestrigen Abend tut mir der Kopf weh, Bruder ... Ich bin überhaupt ganz aus dem Leim gegangen«, wandte er sich lachend und in einem ganz anderen Tone an Rasumichin. »Nun, war es interessant? Ich habe euch gestern im interessantesten Moment verlassen! Wer hat gesiegt?« »Natürlich niemand. Man landete bei den ›ewigen Fragen‹ und schwebte in den Wolken.« »Denk dir nur, Rodja, bei welcher Frage sie gestern gelandet sind: gibt es ein Verbrechen oder nicht? Ich sagte dir ja schon, daß sie bis zur Bewußtlosigkeit schwatzten!« »Was ist denn Merkwürdiges dabei? Eine gewöhnliche soziale Frage«, antwortete Raskolnikow zerstreut. »Die Frage war nicht so formuliert«, bemerkte Porfirij. »Nicht ganz so, das stimmt«, gab Rasumichin sofort zu. Er sprach hastig und sich ereifernd wie immer. »Siehst du, Rodion: hör zu und sag deine Meinung. Ich will es so. Ich fuhr gestern schier aus der Haut, als ich mit ihnen redete, und wartete immer auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen wirst. Es fing an mit der Anschauung der Sozialisten. Diese Anschauung ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die anormale soziale Einrichtung – und sonst nichts, sonst gar nichts, andere Gründe gelten nichts, und fertig! ...« »Da lügst du schon wieder!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtbar lebhafter und lachte jeden Augenblick beim Anblick Rasumichins, wodurch er ihn noch mehr aufstachelte. »Andere Gründe gelten nichts!« unterbrach ihn Rasumichin hitzig. »Ich lüge gar nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen: alles geschieht bei ihnen darum, weil ›das Milieu einen hereingezogen hat‹ – und weiter nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Daraus folgt direkt, daß, wenn man die Gesellschaft normal einrichtet, alle Verbrechen sofort aufhören, weil es dann nichts mehr geben wird, wogegen zu protestieren, und alle werden im Nu Gerechte sein. Die Natur ziehen sie nicht in Betracht, die Natur ist gestrichen, die Natur zählt nicht mit. Bei ihnen wird sich nicht die Menschheit, nachdem sie sich auf ihrem historischen, lebendigen Wege zu Ende entwickelt hat, schließlich in eine normale Gesellschaft verwandeln, sondern umgekehrt, ein irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungenes soziales System wird sofort, die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie in einem Nu, ohne jeden lebendigen Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Weg zu einer gerechten und sündlosen machen! Darum haben sie diesen instinktiven Haß gegen die Geschichte! Sie sagen: ›Sie handeln doch nur von Unfug und Dummheit‹ – und alles wird bloß durch Dummheit erklärt. Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß: sie brauchen keine lebendige Seele ! Die lebendige Seele kann nach Leben verlangen, die lebendige Seele wird der Mechanik nicht folgen wollen, die lebendige Seele ist verdächtig, die lebendige Seele ist rückschrittlich! Sie können aber eine Seele aus Kautschuk machen; sie wird zwar einen Leichengeruch haben, dafür ist sie nicht lebendig, dafür ist sie ohne Willen, dafür ist sie sklavisch und wird sich nicht empören. Und das Resultat ist, daß alles auf die Zusammensetzung der Ziegelsteine und auf die Anlage der Korridore und Räume in der Phalanstėre hinausläuft! Die Phalanstėre mag wohl fertig sein, aber eure Natur ist für die Phalanstėre noch nicht fertig, sie lechzt nach Leben, sie hat ihren Lebensprozeß noch nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Friedhof zu kommen. Mit der Logik allein kann man nicht über die Natur springen! Die Logik kann mit drei Fällen rechnen, ihrer sind aber eine Million! Man streicht eine ganze Million und beschränkt sich auf eine einzige Sache – den Komfort! Das ist doch die leichteste Lösung der Aufgabe! Es ist so verführerisch klar, und man braucht gar nicht zu denken! Das ist auch die Hauptsache, daß man nicht zu denken braucht! Das ganze Geheimnis des Lebens findet auf zwei Druckbogen Platz!« »Wie der in Schwung gekommen ist, er trommelt nur so! Man müßte ihn an den Händen festhalten!« bemerkte lachend Porfirij. »Denken Sie sich nur,« wandte er sich an Raskolnikow, »so ging es auch gestern abend zu, sechsstimmig, und vorher hat er noch alle mit Punsch betrunken gemacht! Können Sie sich das vorstellen? Nein, Bruder, du redest Unsinn: das ›Milieu‹ hat im Verbrechen viel zu sagen, das will ich dir beweisen.« »Ich weiß auch selbst, daß es viel zu sagen hat, aber beantworte mir diese Frage: ein Vierzigjähriger schändet ein zehnjähriges Mädchen; hat ihn das Milieu dazu gezwungen?« »Nun, im strengen Sinne vielleicht auch wirklich das Milieu!« antwortete Porfirij mit merkwürdigem Ernst. »Das am Mädchen verübte Verbrechen kann man sogar sehr gut mit dem ›Milieu‹ erklären.« Rasumichin wurde fast rasend. »Nun will ich dir gleich beweisen ,« brüllte er, »daß du nur deshalb weiße Wimpern hast, weil der Glockenturm ›Iwan der Große‹ zu Moskau fünfunddreißig Klafter hoch ist; und ich beweise es dir klar, genau, fortschrittlich und sogar mit einem Stich ins Liberale! Ich übernehme es! Willst du wetten?« »Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er das beweisen wird!« »Er verstellt sich ja bloß, zum Teufel!« rief Rasumichin. Er sprang auf und winkte abwehrend mit der Hand. »Lohnt es sich denn überhaupt davon zu sprechen? Er meint es ja gar nicht ernst, du kennst ihn noch nicht, Rodion! Auch gestern nahm er für die andern Partei, nur um sie zum Narren zu halten. Und was er gestern zusammengeredet hat – mein Gott! Und die freuten sich noch über ihn! ... Er kann zuweilen zwei Wochen lang so eine Rolle spielen. Im vorigen Jahre redete er uns aus irgendeinem Grunde ein, daß' er ins Kloster gehen wolle: zwei Monate hielt er daran fest! Neulich versicherte er uns, daß er heirate und daß schon alles für die Hochzeit bereit sei. Ließ sich sogar neue Kleider machen. Wir gratulierten ihm sogar schon. Es war aber weder eine Braut da noch sonst etwas – alles eine Fata Morgana!« »Es ist nicht wahr! Die Kleider hatte ich mir schon vorher machen lassen. Die Kleider brachten mich eben auf den Gedanken, euch alle anzuführen.« »Können Sie sich wirklich so gut verstellen?« fragte Raskolnikow wie nebenbei. »Glaubten Sie vielleicht, nicht? Warten Sie, ich will auch Sie anführen, ha-ha-ha! Nein, sehen Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Anläßlich aller dieser Fragen, Verbrechen, kleiner Mädchen, des Milieus ist mir eben ein kleiner Aufsatz von Ihnen eingefallen – er hat mich übrigens immer interessiert. Er heißt ›Vom Verbrechen‹ oder so ähnlich, ich weiß nicht mehr genau. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn im ›Periodischen Wort‹ zu lesen.« »Meinen Aufsatz? Im ›Periodischen Wort?‹« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe wohl vor einem halben Jahre, als ich die Universität verlassen hatte, anläßlich eines gewissen Buches einen Aufsatz geschrieben; ich habe ihn aber damals der Zeitung ›Wöchentliches Wort‹ und nicht ›Periodisches Wort‹ gegeben!« »Und er erschien doch im ›Periodischen‹!« »Das ›Wöchentliche Wort‹ ist ja eingegangen, darum ist mein Aufsatz auch nicht erschienen ...« »Das stimmt; doch das eingegangene ›Wöchentliche Wort‹ hat sich mit dem ›Periodischen Wort‹ vereinigt. Darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten im ›Periodischen Wort‹. Wußten Sie es denn nicht?« Raskolnikow wußte wirklich nichts. »Aber ich bitte Sie! Sie können für den Aufsatz sogar Geld verlangen! Was haben Sie aber für einen Charakter! Sie leben so zurückgezogen, daß Sie selbst von solchen Dingen, die Sie direkt angehen, nichts wissen. Das ist doch eine Tatsache.« »Bravo, Rodja! Auch ich wußte es nicht!« rief Rasumichin. »Heute noch laufe ich in die Bibliothek und lasse mir diese Nummer geben. Vor zwei Monaten? Welche Nummer war es denn? Nun, es ist gleich, ich finde ihn auch so! So eine Sache! Und er sagt nichts davon!« »Wie erfuhren Sie, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist doch bloß mit einem Buchstaben gezeichnet.« »Ich erfuhr es ganz zufällig, dieser Tage. Vom Redakteur, ich bin mit ihm bekannt ... Der Aufsatz hat mich sehr interessiert.« »Ich untersuchte, wenn ich mich recht erinnere, den psychischen Zustand des Verbrechers während des ganzen Ganges des Verbrechens.« »Jawohl. Und Sie behaupten, daß die Ausführung eines Verbrechens stets von einer Krankheit begleitet werde. Sehr, sehr originell, aber mich interessierte übrigens weniger dieser Teil Ihres Aufsatzes als ein gewisser Gedanke, der am Schlusse des Aufsatzes ausgesprochen wird, den Sie aber leider nur andeutungsweise und unklar behandeln ... Mit einem Worte, wenn Sie sich noch erinnern können, Sie deuten an, daß es in der Welt angeblich solche Menschen gibt, die tun können ... das heißt nicht können, sondern das volle Recht dazu haben, jede Gewalttat und jedes Verbrechen zu begehen, und daß für diese Menschen das Gesetz nicht existiert.« Raskolnikow lächelte über die krasse und absichtliche Verdrehung seiner Idee. »Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht, weil das ›Milieu‹ schuld ist?« rief Rasumichin beinahe erschrocken. »Nein, nein, nicht ganz aus dem Grunde«, antwortete Porfirij. »Es handelt sich darum, daß er in seinem Aufsatz die Menschen in ›gewöhnliche‹ und ›ungewöhnliche‹ einteilt. Die Gewöhnlichen müssen gehorsam sein und haben kein Recht, das Gesetz zu übertreten, weil sie eben gewöhnliche sind. Die Ungewöhnlichen haben aber das Recht, jedes Verbrechen zu begehen und jedes Gesetz zu übertreten gerade deshalb, weil sie ungewöhnlich sind. So haben Sie es doch gemeint, wenn ich nicht irre?« »Wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß er es so gemeint hat!« murmelte Rasumichin ganz verständnislos. Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte sofort begriffen, was los war und worauf man ihn bringen wollte; an seinen Aufsatz konnte er sich wohl erinnern. Er entschloß sich, die Herausforderung anzunehmen. »Ich habe es nicht ganz so ausgesprochen«, begann er einfach und bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, Sie haben ihn fast richtig wiedergegeben, wenn Sie wollen, sogar vollkommen richtig ... (Er tat so, als sei es ihm sehr angenehm, zuzugeben, daß man seinen Gedanken richtig wiedergegeben habe.) Der Unterschied liegt einzig darin, daß ich durchaus nicht behauptet habe, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt müßten und verpflichtet seien, alle die Gewalttätigkeiten, wie Sie sie nennen, zu verüben. Mir scheint sogar, die Zensur würde einen solchen Aufsatz gar nicht durchlassen. Ich deutete ganz einfach an, daß der ›ungewöhnliche‹ Mensch das Recht habe ... das heißt nicht ein offizielles Recht, sondern ein in ihm selbst begründetes Recht, seinem Gewissen zu erlauben ... sich über gewisse Hindernisse hinwegzusetzen, und das einzig in dem Falle, wenn die Verwirklichung seiner Idee (die zuweilen vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist) dieses verlangt. Sie belieben zu sagen, daß mein Aufsatz nicht ganz klar sei; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich auch nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wollen: ich tue es gern. Ich glaube, daß wenn die Entdeckungen Newtons und Keplers infolge irgendwelcher Kombinationen der Menschheit in keiner anderen Weise bekannt werden könnten, als durch die Opferung des Lebens von einem, zehn oder hundert Menschen, die diese Entdeckung störten oder ihr als Hindernis im Wege stünden, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen , um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekanntzumachen. Daraus folgt übrigens noch nicht, daß Newton das Recht hätte, jeden beliebigen Menschen zu ermorden oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich, wenn ich mich recht erinnere, den Gedanken, daß alle ... sagen wir Gesetzgeber und Aufbauer der Menschheit, angefangen von den allerältesten, dann Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so weiter, ausnahmslos Verbrecher gewesen seien, schon aus dem Grunde, weil sie, indem sie ein neues Gesetz aufstellten, ein altes, von der Gesellschaft heilig gehaltenes und von den Vätern übernommenes Gesetz verletzten und selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen nicht haltmachten, wenn nur das Blut (das zuweilen ganz unschuldig war und für das alte Gesetz ruhmreich vergossen wurde) ihnen helfen konnte. Es ist sogar bemerkenswert, daß diese Wohltäter und Aufbauer der Menschheit zum größten Teil furchtbare Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich folgere, daß alle, nicht nur die großen, sondern auch die nur einigermaßen außerhalb des Geleises gehenden Menschen, die auch nur ein wenig befähigt sind, etwas Neues zu sagen, ihrer Natur nach unbedingt mehr oder weniger Verbrecher sein müssen. Sonst wäre es ihnen zu schwer, aus dem Geleise herauszukommen; aber im Geleise bleiben können sie auch nicht, wiederum ihrer Natur nach; meiner Ansicht nach dürfen sie es sogar nicht. Mit einem Worte, Sie sehen, es steht darin bisher eigentlich nichts Neues. Dies ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Und was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und ungewöhnliche betrifft, so gebe ich zu, daß sie etwas willkürlich ist, aber ich bestehe auch nicht auf genauen Zahlen. Ich glaube nur an meinen leitenden Gedanken. Dieser besteht eben darin, daß die Menschen überhaupt nach dem Naturgesetz in zwei Kategorien zerfallen; in die Niederen (die Gewöhnlichen), das heißt, sozusagen, das Material, das einzig zur Fortpflanzung gleicher Individuen dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die das Talent oder die Gabe haben, der Gesellschaft ihr eigenes neues Wort zu verkünden. Es gibt natürlich zahllose Zwischenstufen, doch die Unterscheidungsmerkmale der beiden Kategorien sind ziemlich scharf. Die erste Kategorie, das heißt ganz allgemein gesagt das Material, die ihrer Natur nach konservativen, soliden Menschen, leben im Gehorsam und lieben es, gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, gehorsam zu sein, und das ist in keiner Weise erniedrigend für sie. Die Vertreter der zweiten Kategorie übertreten sämtlich das Gesetz, sie sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren Anlagen. Die Verbrechen dieser Menschen sind natürlich relativ und verschiedenartig; meistens fordern sie in den verschiedensten Manifestationen die Zerstörung des Bestehenden im Namen eines Besseren. Wenn aber so einer zur Verwirklichung seiner Idee meinetwegen über eine Leiche oder über Blut hinwegschreiten maß, so darf er sich innerlich, vor seinem Gewissen, meiner Ansicht nach, die Erlaubnis geben, über das Blut hinwegzuschreiten – übrigens je nach der Idee und ihrer Größe –, was ich Sie zu beachten bitte. Nur in diesem Sinne spreche ich in meinem Aufsatz über das Recht solcher Menschen auf Verbrechen. (Entsinnen Sie sich, bitte, daß wir mit einer juristischen Frage angefangen haben.) Übrigens liegt keine Ursache zur Beunruhigung vor: die Menge erkennt ihnen dieses Recht fast nie zu, sie richtet sie hin und hängt sie (mehr oder weniger) und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre konservative Bestimmung, doch mit der Folge, daß die gleiche Menge in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf ein Piedestal erhebt und anbetet (mehr oder weniger). Die erste Kategorie ist immer die Herrin der Gegenwart, die zweite – die Herrin der Zukunft. Die ersteren erhalten die Welt und vermehren sie quantitativ; die letzteren bewegen die Welt und führen sie ans Ziel. Die einen wie die anderen haben das vollkommen gleiche Recht zu existieren. Mit einem Worte, alle haben bei mir das gleiche Recht, und – vive la guerre éternelle – bis zum neuen Jerusalem natürlich!« »Sie glauben also doch an das neue Jerusalem?« »Ich glaube daran«, antwortete Raskolnikow sehr bestimmt. Als er das sagte, wie auch während seiner ganzen Tirade blickte er zu Boden, auf einen Punkt, den er sich auf dem Teppiche ausgesucht hatte. »Und ... glauben Sie an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.« »Ich glaube an ihn«, wiederholte Raskolnikow, die Augen zu Porfirij emporhebend. »Und ... glauben Sie auch an die Auferstehung des Lazarus?« »Ich glaube. Was brauchen Sie das zu wissen?« »Glauben Sie buchstäblich daran?« »Ja, buchstäblich.« »So, so ... Ich habe bloß gefragt. Entschuldigen Sie. Aber erlauben Sie – ich kehre wieder zum Alten zurück, – sie werden doch nicht immer hingerichtet; manche im Gegenteil ...« »Triumphieren bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen es auch bei Lebzeiten, und dann ...« »Dann beginnen sie selbst hinzurichten?« »Wenn es sein muß und, wissen Sie, sogar meistenteils. Ihre Bemerkung ist überhaupt geistreich.« »Ich danke. Sagen Sie mir aber folgendes: Wie unterscheidet man bloß die Ungewöhnlichen von den Gewöhnlichen? Gibt es vielleicht solche angeborene Abzeichen? Ich meine es in dem Sinne, daß hier mehr Klarheit, mehr, sozusagen, äußerliche Präzision vonnöten ist: entschuldigen Sie mir die natürliche Besorgnis eines praktischen und rechtlich denkenden Menschen, aber könnte man für sie nicht zum Beispiel eine eigene Kleidung einführen, oder Stempel auf den Stirnen? ... Denn Sie werden doch zugeben: wenn ein Durcheinander entsteht, wenn ein Mensch von der einen Kategorie sich einbildet, zu der anderen Kategorie zu gehören, und anfängt, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich so treffend ausgedrückt haben, so kann es ...« »Oh, das kommt sehr oft vor! Diese Bemerkung von Ihnen ist sogar noch besser als die vorige ...« »Ich danke ...« »Keine Ursache; ziehen Sie aber, bitte, in Betracht, daß ein Irrtum nur seitens der ersten Kategorie möglich ist, das heißt seitens der ›gewöhnlichen‹ Menschen (wie ich sie vielleicht nicht ganz glücklich genannt habe). Trotz ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam, bilden sich sehr viele von ihnen, infolge eines besonders lebhaften Temperaments, der auch einer Kuh nicht versagt ist, gerne ein, fortschrittliche Menschen, ›Zerstörer‹ zu sein und mit einem ›neuen Worte‹ zu kommen, und das durchaus aufrichtig. Dabei sehen sie die tatsächlich Neuen zuweilen gar nicht; sie verachten sie sogar als zurückgebliebene und niedrig denkende Menschen. Meiner Ansicht nach ist hier eine große Gefahr nicht zu befürchten, und Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, denn diese Menschen machen niemals große Sprünge. Wenn sie sich zu sehr hinreißen lassen, so kann man sie höchstens mit Ruten züchtigen, um sie an die ihnen gebührende Stellung zu erinnern; dazu braucht man nicht mal einen Vollstrecker: sie werden sich selbst züchtigen, denn sie sind sehr sittsam: manche von ihnen erweisen einander diesen Dienst, und die anderen besorgen es eigenhändig ... Dabei legen sie sich allerlei öffentliche Bußen auf, – es wirkt hübsch und belehrend; mit einem Worte, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen ... Es gibt so ein Gesetz.« »Nun, Sie haben mich wenigstens in dieser Beziehung einigermaßen beruhigt; aber ich befürchte etwas anderes: sagen Sie, bitte, gibt es viele solche Menschen, die das Recht haben, die anderen zu morden, ich meine ›ungewöhnliche‹ Menschen? Ich bin natürlich bereit, mich vor ihnen zu beugen, aber Sie wer den doch zugeben, daß es etwas unheimlich ist, wenn es ihrer gar zu viele gibt. Nicht wahr?« »Oh, machen Sie sich, bitte, auch darüber keine Sorgen«, fuhr Raskolnikow im gleichen Tone fort. »Menschen mit neuen Gedanken, Menschen, die nur einigermaßen die Fähigkeit haben, etwas Neues zu sagen, kommen überhaupt ungewöhnlich wenig zur Welt, sogar erstaunlich wenig. Klar ist nur das eine, daß die Bedingungen für die Entstehung der Menschen aller dieser Kategorien und Zwischenstufen wahrscheinlich sehr genau und präzis durch irgendein Naturgesetz bestimmt sind. Dieses Gesetz ist jetzt selbstverständlich noch unbekannt, aber ich glaube, daß es existiert und in Zukunft bekannt werden kann. Die überwiegende Menge der Menschen, das Material, existiert in der Welt bloß dazu, um schließlich durch irgendeine Anstrengung, durch einen bisher noch unbekannten Prozeß, durch eine Kreuzung von Geschlechtern und Rassen sich zusammenzunehmen und endlich einen einzigen – meinetwegen einen auf tausend – einigermaßen selbständigen Menschen zu zeugen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht unter zehntausend Menschen ein einziger geboren (ich sage es nur zum Beispiel und bildlich); mit einer noch größeren – einer unter Hunderttausend. Ein genialer Mensch kommt auf Millionen, und ein großes Genie, ein Vollender der Menschheit, kommt vielleicht nach dem Vergehen von vielen tausend Millionen Menschen auf Erden. Mit einem Worte, in die Retorte, in der dies alles geschieht, habe ich nicht hineingeblickt. Aber ein bestimmtes Gesetz ist unbedingt vorhanden und muß vorhanden sein; bloße Zufälle kann es hier nicht geben.« »Macht ihr etwa beide Spaß?« rief endlich Rasumichin. »Haltet ihr einander zum Narren oder nicht? Sie sitzen da und lachen einander aus! Ist das dein Ernst, Rodja?« Raskolnikow hob stumm sein bleiches und fast trauriges Gesicht und antwortete nicht. So merkwürdig erschien dem Rasumichin neben diesem stillen und traurigen Gesichte die unverhohlene, zudringliche, gereizte und unhöfliche beißende Ironie Porfirijs. »Nun, Bruder, wenn es wirklich dein Ernst ist, so ... Du hast natürlich recht, daß es nicht neu ist und allem, was wir tausendmal gelesen und gehört haben, ähnlich sieht; was aber daran wirklich originell ist und zu meinem Schrecken wirklich dir allein gehört, ist, daß du dennoch das Blutvergießen nach eigenem Gewissen gestattest und sogar, entschuldige mich, mit einem Fanatismus ... Darin liegt also der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese Erlaubnis, Blut nach eigenem Gewissen zu vergießen, ist ... meiner Ansicht nach noch schrecklicher als eine offizielle, sozusagen gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen ...« »Sehr richtig, viel schrecklicher«, bestätigte Porfirij. »Nein, du hast dich sicher irgendwie vergaloppiert! Es liegt ein Irrtum darin. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich vergaloppiert! Du kannst unmöglich so denken ... Ich werde ihn lesen.« »Im Aufsatz selbst steht dies alles nicht, es sind nur Andeutungen«, versetzte Raskolnikow. »Ja so«, fing Porfirij wieder an, der noch immer keine Ruhe geben wollte. »Es ist mir jetzt beinahe klar, wie Sie das Verbrechen anzusehen belieben, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich setze Ihnen so zu, daß ich mich selbst schämen muß!) – sehen Sie: Sie haben mich eben über die Möglichkeit der Verwechslung der beiden Kategorien beruhigt, aber ... mir machen noch immer allerlei praktische Fälle Sorgen! Was, wenn sich irgendein Mann oder Jüngling einbildet, ein Lykurg oder Mohammed zu sein – selbstverständlich ein Zukünftiger –, und alle sich ihm bietenden Hindernisse zu beseitigen beginnt ... Es steht ihm, sagt er, ein langer Feldzug bevor, und für den Feldzug braucht er Geld ... also beginnt er sich das Geld für den Feldzug zu verschaffen ... wissen Sie?« Samjotow lachte plötzlich in seiner Ecke auf. Raskolnikow sah ihn nicht mal an. »Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle wirklich vorkommen müssen. Die Dummen und die Ehrgeizigen fallen leicht darauf herein; ganz besonders die Jugend.« »Nun sehen Sie es. Wie verhält es sich damit?« »Genau so«, antwortete Raskolnikow lächelnd. »Es ist nicht meine Schuld. So ist es, und so wird es immer sein. Er sagte eben (er zeigte auf Rasumichin), daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist denn dabei? Die Gesellschaft hat doch genügend Sicherungen; sie hat die Verbannung, Gefängnisse, Untersuchungsrichter, Zuchthäuser – was soll man sich noch Sorgen machen? Suchen Sie den Dieb! ...« »Und wenn wir ihn finden?« »So ist es ihm recht geschehen.« »Sie sind wirklich logisch. Und wie ist es mit dem Gewissen?« »Was geht uns das Gewissen an?« »Nun, ich meine aus Humanität.« »Wer ein Gewissen hat, soll nur leiden, wenn er seinen Irrtum einsieht. Das ist eine Strafe für ihn – neben dem Zuchthause.« »Nun, und die wirklich Genialen,« fragte Rasumichin finster, »ich meine die, denen das Recht gegeben ist, zu morden, sollen die gar nicht leiden, auch wegen des vergossenen Blutes nicht?« »Warum gebrauchst du das Wort ›sollen‹? Hier gibt es weder eine Erlaubnis noch ein Verbot. Soll er nur leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leid und Schmerz sind der weiten Erkenntnis und dem tiefen Herzen immer eigen. Die wahrhaft großen Menschen müssen, glaube ich, eine große Trauer auf Erden empfinden«, fügte er plötzlich nachdenklich hinzu, gar nicht im Tone des ganzen Gesprächs. Er hob die Augen, blickte alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war viel ruhiger als vorhin bei seinem Eintritt und fühlte es auch. Alle erhoben sich. »Nun, Sie können auf mich schimpfen oder nicht, auf mich böse sein oder nicht, aber ich kann mich nicht bezwingen«, sagte wieder Porfirij Petrowitsch: »Gestatten Sie mir noch eine kleine Frage (ich belästige Sie wirklich furchtbar!), ich will nur noch eine einzige kleine Idee äußern, einzig um es nicht zu vergessen ...« »Gut, sagen Sie mir Ihre Idee«, sagte Raskolnikow, der ernst und bleich in Erwartung vor ihm stand. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es am besten ausdrücke ... die Idee ist allzu pikant ... und psychologisch ... Als Sie Ihren Aufsatz verfaßten, so ist es ausgeschlossen, he-he, daß Sie sich nicht selbst für einen, und wenn auch nur ein bißchen ›ungewöhnlichen‹ Menschen hielten, der ein neues Wort, natürlich in Ihrem Sinne, sagt ... Es ist doch so?« »Sehr möglich«, antwortete Raskolnikow verächtlich. Rasumichin machte eine Bewegung. »Und wenn es sich so verhält, würden Sie sich denn auch entschließen, sagen wir angesichts irgendwelcher Mißerfolge und Bedrängnisse im Leben, oder um die ganze Menschheit irgendwie zu fördern, sich über ein Hindernis hinwegzusetzen? Nun, zum Beispiel, einen Mord oder Raub zu begehen? ...« Und er zwinkerte ihm wieder eigentümlich mit dem linken Auge zu und lachte unhörbar, genau wie vorhin. »Wenn ich mich auch hinwegsetzen würde, so würde ich es Ihnen ganz gewiß nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung. »Aber nein, ich interessiere mich dafür nur, um Ihren Aufsatz besser zu verstehen, bloß in literarischer Hinsicht ...« – Pfui, wie deutlich und frech! – dachte Raskolnikow angeekelt. »Gestatten Sie mir, zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich mich weder für einen Mohammed, noch für einen Napoleon, noch für eine ähnliche Person halte, und da ich keiner von ihnen bin, kann ich Ihnen keine befriedigende Erklärung abgeben, wie ich dann handeln würde.« »Aber, ich bitte Sie, wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« sagte Porfirij plötzlich furchtbar familiär. Selbst im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches. »Hat nicht auch so ein zukünftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit einem Beile umgebracht?« platzte Samjotow aus seiner Ecke heraus. Raskolnikow schwieg und sah Porfirij unverwandt und fest an. Rasumichin blickte finster drein. Ihm war auch schon vorhin etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute verging in düsterem Schweigen. Raskolnikow wandte sich, um wegzugehen. »Sie gehen schon?!« sagte Porfirij freundlich und reichte ihm sehr liebenswürdig die Hand. »Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und was Ihre Bitte betrifft, so können Sie unbesorgt sein. Schreiben Sie es so, wie ich Ihnen gesagt habe. Das beste ist, daß Sie mal zu mir selbst hinkommen ... dieser Tage ... vielleicht morgen. Wir werden alles machen ... wir werden uns unterhalten ... Vielleicht werden Sie als einer von denen, die zuletzt dort waren, uns etwas erzählen können ...« fügte er mit dem gutmütigsten Ausdruck hinzu. »Sie wollen mich offiziell vernehmen, mit allem, was drum und dran ist?« fragte Raskolnikow scharf. »Aber warum denn? Vorläufig ist es gar nicht nötig. Sie haben mich falsch verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche von ihnen habe ich auch vernommen ... und Sie, als der letzte ... A propos!« rief er plötzlich über etwas erfreut. »Es fällt mir eben ein, was habe ich bisher geschwiegen? ...« wandte er sich an Rasumichin. »Du hast mir damals mit diesem Nikolaschka die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß auch selbst, ich weiß auch selbst,« wandte er sich wieder an Raskolnikow, »daß der Bursche unschuldig ist, aber was kann ich machen? Ich mußte auch den Mitjka belästigen ... Die Sache ist nämlich die: als Sie über die Treppe gingen ... erlauben Sie, Sie waren doch gegen acht Uhr dort?« »Ja, gegen acht«, antwortete Raskolnikow mit dem unangenehmen Gefühl, daß er dies auch nicht zu sagen brauchte. »Nun, als Sie gegen acht über die Treppe gingen, sahen Sie da nicht im ersten Stock, in einer offen stehenden Wohnung – Sie erinnern sich doch noch? – zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen? Die haben dort gestrichen, haben Sie es nicht bemerkt? Das ist für Sie sehr wichtig! ...« »Anstreicher? Nein, ich habe keine gesehen ...« antwortete Raskolnikow langsam, wie in seiner Erinnerung wühlend und zugleich sein ganzes Wesen anspannend und vor Qual ersterbend, um zu erraten, wo ihm hier eine Falle gestellt sei, und um nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht gesehen und kann mich auch an eine offenstehende Wohnung nicht erinnern ... aber im dritten Stock (er hatte schon die Falle erkannt und triumphierte), ich kann mich gut erinnern, da zog gerade irgendein Beamter aus ... gerade gegenüber Aljona Iwanowna ... daran kann ich mich gut erinnern ... Soldaten trugen ein Sofa heraus und drückten mich an die Wand ... aber Anstreicher, nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Anstreicher dagewesen wären ... es stand auch, glaub ich, nirgends eine Wohnung offen. Nein, ganz gewiß nicht ...« »Was fällt dir ein!« rief plötzlich Rasumichin, dem es erst eben eingefallen war. »Die Anstreicher haben ja erst am Tage des Mordes gearbeitet, er aber war drei Tage vorher dort! Warum fragst du ihn danach?« »Teufel, ich hab es verwechselt!« sagte Porfirij und schlug sich vor die Stirn. »Hol der Teufel, dieser Fall hat mich ganz verrückt gemacht!« wandte er sich, sich gleichsam entschuldigend an Raskolnikow. »Es liegt uns doch so viel daran, zu erfahren, ob jemand Sie um die achte Stunde in der Wohnung gesehen hat. Darum bildete ich mir ein, daß auch Sie etwas darüber sagen könnten ... ich habe es wirklich verwechselt!« »Man muß aufmerksamer sein«, bemerkte Rasumichin finster. Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porfirij Petrowitsch begleitete sie äußerst freundlich bis zur Tür. Die beiden traten düster und verstimmt auf die Straße und redeten bei den ersten Schritten kein Wort. Raskolnikow holte schwer Atem ... 6. VI »... Ich glaube es nicht! Ich kann es nicht glauben!« sagte der verblüffte Rasumichin immer wieder, indem er sich bemühte, die Einwände Raskolnikows zu widerlegen. Sie näherten sich schon den möblierten Zimmern Bakalejews, wo Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie schon längst erwarteten. Rasumichin blieb unterwegs in der Hitze des Gesprächs jeden Augenblick stehen, schon dadurch allein verwirrt und aufgeregt, daß sie zum erstenmal darüber sprachen. »Glaub es ja nicht!« antwortete ihm Raskolnikow mit einem kalten und nachlässigen Lächeln. »Du hast wie immer nicht achtgegeben, ich aber wog jedes Wort ab.« »Du bist argwöhnisch, und darum wogst du auch die Worte so ab ... Hm ... das stimmt, und ich gebe zu, daß Porfirijs Ton etwas merkwürdig war, und besonders dieser Schuft Samjotow! ... Du hast recht, es war schon etwas dabei; doch warum, warum?« »Er hat es sich über Nacht überlegt.« »Nein, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wenn sie diesen blöden Gedanken hätten, so müßten sie ihn doch mit aller Kraft verbergen und ihre Karten verdeckt halten, um dich später zu ertappen ... Jetzt aber war es so frech und unvorsichtig!« »Wenn sie Tatsachen hätten, das heißt wirkliche Tatsachen oder einigermaßen begründete Verdachtsmomente, so würden sie tatsächlich ihr Spiel verbergen, in der Hoffnung, noch mehr zu gewinnen (übrigens hätten sie auch längst eine Haussuchung abgehalten!). Aber sie haben gar keine Tatsachen, keine einzige, alles ist eine Fata Morgana, alles ist doppelsinnig, eine flüchtige Idee, darum bemühen sie sich, mich durch Frechheit wirr zu machen. Vielleicht ist er auch in Wut geraten, weil er keine Tatsachen hat, und hat sich in seinem Arger nicht beherrschen können. Vielleicht hat er aber auch irgendeine Absicht ... Er scheint ein kluger Mensch zu sein. Vielleicht wollte er mir nur damit Angst machen, daß er etwas wisse ... Es steckt eine eigene Psychologie darin, Bruder ... Übrigens ist es mir ekelhaft, dies alles zu erklären. Laß es!« »Und beleidigend! beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon einmal deutlich darüber sprechen (und das ist ausgezeichnet, daß wir darüber endlich deutlich reden, ich bin so froh darüber!), so gestehe ich dir gleich, daß ich diesen Gedanken bei ihnen schon lange gemerkt habe, diese ganze Zeit über, natürlich in einer winzigen, in einer schleichenden Form; aber warum selbst in einer schleichenden? Wie unterstehen sie sich bloß? Wo wurzeln ihre Gründe? Wenn du wüßtest, wie wütend ich war! Wie! – Nur weil ein armer Student, durch Armut und Hypochondrie verkrüppelt, am Vorabend einer schrecklichen Krankheit mit Fieberphantasien, die vielleicht schon längst in ihm angefangen hatte (merk dir das!), argwöhnisch und eitel, der viel von sich hält und in seinem Loch seit sechs Monaten niemand gesehen hat, – in Lumpen und Stiefeln ohne Sohlen vor diesen Polizeischnüfflern steht und sich von ihnen beschimpfen läßt; dazu noch die unerwartete Schuld vor der Nase, der fällige Wechsel mit dem Hofrat Tschebarow, die stinkende Ölfarbe, dreißig Grad Reaumur, stickige Luft, ein Haufen Menschen, der Bericht von der Ermordung einer Person, bei der er einen Tag vorher war, – und das alles auf den leeren Magen! Wie soll man da nicht in Ohnmacht fallen! Und darauf begründen sie alles! Hol's der Teufel! Ich verstehe wohl, daß es ärgerlich ist, doch an deiner Stelle, Rodjka, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen oder noch besser: in die Fratze spucken, und zwar ordentlich, und an die zwei Dutzend Ohrfeigen austeilen, natürlich mit Verständnis, wie man es immer tun muß, und damit wäre die Sache für mich erledigt. Spuck drauf! Sei fest! Eine Schande!« – Er hat es recht gut dargelegt – dachte Raskolnikow. »Ich soll drauf spucken? Und morgen ist wieder ein Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich mich etwa auf Erklärungen einlassen? Ich ärgere mich auch so, daß ich mich gestern im Wirtshause vor einem Samjotow erniedrigt habe ...« »Hol's der Teufel! Ich will mal selbst zu Porfirij gehen! Und ich werde ihn schon als Verwandter an die Wand drücken: soll er mir nur alle seine Karten aufdecken! Und was diesen Samjotow betrifft ...« – Endlich ist er drauf gekommen! – dachte Raskolnikow. »Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter. »Halt! Du redest Unsinn! Jetzt bin ich drauf gekommen: es ist Unsinn! Wie soll das eine Falle sein? Du sagst, die Frage von den Arbeitern sei eine Falle gewesen? Begreife doch: wenn du es wirklich getan hättest, würdest du dich dann verplappern, daß du gesehen hättest, wie die Wohnung gestrichen wurde ... und die Arbeiter drin waren? Im Gegenteil: nichts habe ich gesehen, würdest du sagen, selbst wenn du sie gesehen hättest! Wer wird denn gegen sich selbst aussagen?« »Hätte ich die Sache gemacht, so würde ich unbedingt sagen, ich hätte die Wohnung und die Arbeiter gesehen«, antwortete Raskolnikow unwillig und mit sichtbarem Ekel. »Warum denn gegen sich selbst aussagen?« »Weil nur dumme Bauern oder die unerfahrensten Neulinge beim Verhör alles und ausnahmslos leugnen. Aber ein einigermaßen intelligenter oder erfahrener Mensch bemüht sich, alle äußeren und unwiderlegbaren Tatsachen unbedingt zuzugeben; er schiebt ihnen nur andere Gründe unter und bringt hier und da eigene, unerwartete Details herein, die ihnen eine ganz andere Bedeutung verleihen und sie in einem anderen Lichte hinstellen. Porfirij konnte gerade darauf rechnen, ich würde unbedingt so antworten und unbedingt – der Glaubwürdigkeit wegen – sagen, daß ich sie gesehen hätte, und dem noch etwas zur Erklärung hinzufügen ...« »Er hätte dir gleich gesagt, daß vor zwei Tagen keine Arbeiter dort gewesen sein konnten und daß du folglich am Tage des Mordes, gegen acht Uhr dagewesen seiest. Mit dieser Dummheit hätte er dich erwischt.« »Darauf hat er eben gerechnet, daß ich es mir in der Eile nicht überlege und mich beeile, möglichst wahrheitsähnlich zu antworten, dabei aber vergesse, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein konnten.« »Ja, wie kann man so was vergessen?« »Das ist das leichteste! Auf solche Kleinigkeiten fallen die schlauen Leute am leichtesten herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger befürchtet er, auf dem Einfachsten ertappt zu werden. Den schlausten Menschen muß man gerade mit dem Einfachsten fangen. Porfirij ist gar nicht so dumm, wie du glaubst ...« »Ein Schuft ist er nach alledem!« Raskolnikow konnte sich des Lachens nicht enthalten. Im gleichen Augenblick kamen ihm aber seine Begeisterung und die Bereitwilligkeit, mit der er die letzte Erklärung vorgebracht hatte, sonderbar vor, um so mehr, als er sich am vorhergehenden Gespräch mit finsterem Widerwillen, nur eines bestimmten Zweckes wegen, aus Notwendigkeit beteiligt hatte. – Ich bekomme noch Geschmack an manchen Punkten! – dachte er. Aber im gleichen Augenblick wurde er wieder unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter, beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wurde immer größer. Sie befanden sich schon vor dem Eingange zu den möblierten Zimmern Bakalejews. »Geh allein hinauf«, sagte plötzlich Raskolnikow, »ich komme gleich zurück.« »Wo willst du denn hin? Wir sind ja schon da!« »Ich muß, ich muß; ich hab zu tun ... ich komme in einer halben Stunde ... Sag es ihnen dort.« »Wie du willst, ich gehe aber mit dir.« »Nun, auch du willst mich wohl totquälen!« rief er mit so bitterer Gereiztheit, mit solcher Verzweiflung im Blick, daß Rasumichin die Hände sinken ließ. Eine Weile stand er vor der Haustür und blickte finster dem anderen nach, der sich schnell in der Richtung nach seiner Gasse entfernte. Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und ging, nachdem er sich das Gelübde geleistet hatte, den ganzen Porfirij heute noch wie eine Zitrone auszupressen, hinauf, um die wegen ihres langen Ausbleibens besorgte Pulcheria Alexandrowna zu beruhigen. Als Raskolnikow sein Haus erreichte, waren seine Schläfen mit Schweiß bedeckt, und er atmete schwer. Er stieg schnell die Treppe hinauf, trat in seine unverschlossene Kammer und hakte sofort die Tür zu. Dann stürzte er sich in wahnsinniger Angst in die Ecke zum Loch unter der Tapete, wo die Sachen gelegen hatten, steckte die Hand hinein und wühlte einige Minuten sorgfältig herum, alle Winkel und Falten in der Tapete untersuchend. Nachdem er nichts gefunden hatte, stand er auf und holte tief Atem. Vorhin, vor dem Hause Bakalejews war es ihm plötzlich eingefallen, daß irgendein Gegenstand, ein Kettchen, ein Hemdknopf oder sogar ein Papierchen, in das sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von der Hand der Alten auf irgendeine Weise in eine Ritze hineingefallen und dort liegengeblieben sein könnte, um dann als ein unerwarteter und unwiderlegbarer Beweis vor ihm aufzutauchen. Er stand wie nachdenklich da, und ein sonderbares, demütiges, halb sinnloses Lächeln irrte um seine Lippen. Er nahm schließlich die Mütze und verließ das Zimmer. Seine Gedanken waren verworren. Nachdenklich trat er in den Torweg. »Das ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme. Er hob den Kopf. Der Hausknecht stand vor der Tür seiner Kammer und zeigte ihn einem nicht sehr großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, mit einer Art Schlafrock und einer Weste bekleidet war und von weitem einem Weibe ähnelte. Sein Kopf, auf dem eine schmierige Mütze saß, hing nach vorn, und seine ganze Haltung war gekrümmt. Sein schlaffes, runzliges Gesicht deutete auf über fünfzig Jahre; die kleinen verschwommenen Augen blickten finster, streng und unzufrieden. »Was ist los?« fragte Raskolnikow, auf den Hausknecht zugehend. Der Kleinbürger schielte nach ihm unter der gerunzelten Stirn und musterte ihn durchdringend und aufmerksam; dann wandte er sich langsam um und trat, ohne ein Wort gesagt zu haben, aus dem Torweg auf die Straße. »Was ist denn los?« rief Raskolnikow. »Der Mann da hat gefragt, ob hier ein Student wohne, und nannte Ihren Namen und bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade herunter, und ich zeigte auf Sie, da ging er aber weg. Ja, so was!« Auch der Hausknecht war etwas verblüfft, doch nicht zu sehr. Nachdem er noch ein Weilchen nachgedacht hatte, drehte er sich um und ging in seine Kammer. Raskolnikow stürzte dem Kleinbürger nach und sah ihn sofort mit gleichmäßigen, nicht zu schnellen Schritten, die Augen zu Boden gesenkt, wie in sich etwas überlegend, auf der anderen Straßenseite gehen. Er holte ihn schnell ein, ging aber erst eine Weile hinter ihm her; schließlich erreichte er ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Jener bemerkte ihn sofort, musterte ihn mit einem schnellen Blick, senkte aber gleich wieder die Augen; so gingen sie eine Weile nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. »Sie haben nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte endlich Raskolnikow, aber mit eigentümlich leiser Stimme. Der Kleinbürger gab keine Antwort und sah ihn nicht mal an. Sie schwiegen wieder. »Ja, warum ... kommen Sie nachfragen ... und schweigen ... was ist denn das?« Die Stimme Raskolnikows stockte, und die Worte kamen ihm undeutlich von den Lippen. Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah Raskolnikow mit einem drohenden, finsteren Blicke an. »Mörder!« sagte er plötzlich mit leiser, doch klarer und deutlicher Stimme. Raskolnikow ging neben ihm her. Seine Füße waren plötzlich schrecklich schwach geworden, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und sein Herz stand einen Augenblick still; dann fing es plötzlich zu klopfen an, als hätte es sich losgerissen. So gingen sie an die hundert Schritte immer noch schweigend nebeneinander her. Der Kleinbürger sah ihn nicht an. »Was sagen Sie ... was ... wer ist der Mörder?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar. »Du bist der Mörder«, sagte jener noch deutlicher und eindringlicher mit dem Lächeln eines gehässigen Triumphes und blickte wieder Raskolnikow ins bleiche Gesicht und in seine gebrochenen Augen. Sie erreichten die Straßenecke. Der Kleinbürger schwenkte nach links ab und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikow blieb stehen und blickte ihm lange nach. Er sah, wie jener, nachdem er an die fünfzig Schritte gegangen war, sich umwandte und ihn, der noch immer unbeweglich auf dem gleichen Fleck stand, ansah. Er konnte ihn nicht mehr genau unterscheiden, doch Raskolnikow kam es vor, als hätte jener wieder kalt, gehässig und triumphierend gelächelt. Mit langsamen, schwachen Schritten, mit schlotternden Knien, wie erfroren, kehrte Raskolnikow um und ging in seine Kammer hinauf. Er nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch und stand an die zehn Minuten unbeweglich daneben. Dann legte er sich entkräftet aufs Sofa und streckte sich krankhaft mit leisem Stöhnen darauf aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er etwa eine halbe Stunde. Er dachte an nichts. Er hatte wohl irgendwelche Gedanken oder Bruchstücke von Gedanken im Kopfe, irgendwelche Vorstellungen ohne Ordnung und ohne Zusammenhang –, es waren die Gesichter von Menschen, die er in seiner Kindheit gesehen hatte oder denen er nur einmal irgendwo begegnet war und die ihm sonst niemals eingefallen wären; der Glockenturm der W–schen Kirche; das Billard in einem gewissen Wirtshause und ein Offizier neben dem Billard; Zigarrengeruch in einem Tabakladen im Kellergeschoß; eine Schenke, eine ganz finstere, mit Schmutzwasser begossene und mit Eierschalen bedeckte Hintertreppe, und irgendwo tönte das sonntägliche Geläute von Kirchenglocken ... Die Gegenstände wechselten ab und drehten sich wie im Wirbel. Manche von ihnen gefielen ihm sogar, und er klammerte sich an sie fest, sie erloschen aber, und etwas bedrückte ihn innerlich, doch nicht allzu heftig. Zuweilen war es ihm sogar recht wohl ... Das leichte Frösteln wollte nicht vergehen, und auch diese Empfindung war fast angenehm. Er hörte die schnellen Schritte Rasumichins und seine Stimme; er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Tür und stand eine Weile wie nachdenklich auf der Schwelle. Dann trat er leise ins Zimmer und ging vorsichtig zum Sofa. Nastasja flüsterte: »Laß ihn; soll er nur ausschlafen; er wird später essen.« »Hast recht«, antwortete Rasumichin. Die beiden gingen hinaus und machten die Tür zu. Es verging noch etwa eine halbe Stunde. Raskolnikow schlug die Augen auf, warf sich wieder auf den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf. – Wer ist er? Wer ist dieser aus der Erde erschienene Mensch? Wo ist er gewesen, und was hat er gesehen? Er hat doch alles gesehen, das ist zweifellos. Wo hat er damals gestanden, und von wo aus hat er es gesehen? Warum kommt er erst jetzt aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen –, ist es denn möglich? ... Hm! ... – fuhr Raskolnikow fort, am ganzen Leibe fröstelnd und zitternd. – Und das Etui, das Nikolai hinter der Tür gefunden hat: ist denn auch das möglich? Beweise? Man übersieht ein Hunderttausendstel, und daraus entsteht ein Beweis, so gewaltig wie eine ägyptische Pyramide! Eine Fliege ist vorbeigeflogen, und die hat es gesehen! Ist es denn möglich? ... – Er fühlte mit Ekel, wie schwach er geworden war, physisch schwach. – Nein, solche Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher , dem alles erlaubt ist, bombardiert Toulon, veranstaltet ein Gemetzel in Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verliert eine halbe Million Menschen im Moskauer Feldzuge und zieht sich in Wilna durch ein Wortspiel aus der Affäre, und doch errichtet man ihm nach seinem Tode Denkmäler –, also ist alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus Fleisch, sondern aus Bronze gemacht! – Ein plötzlicher, ganz abseits liegender Gedanke brachte ihn fast zum Lachen. – Napoleon, die Pyramiden, Waterloo, und die magere alte Registratorswitwe, die Wucherin mit der roten Truhe unter dem Bette, wie soll das selbst ein Porfirij Petrowitsch verdauen können! ... Wie sollen sie es auch verdauen! ... Diese Ästhetik ist ihnen im Wege: »Wird so ein Napoleon«, werden sie sagen, »zu so einer Alten unters Bett kriechen! Ach, ekelhaft!« Zeitweise schien es ihm, daß er phantasiere; er verfiel in eine fieberhafte Verzückung. – Die Alte ist Unsinn! – sagte er sich erregt und stoßweise. – Die Alte ist vielleicht ein Irrtum, und es handelt sich gar nicht um sie! Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte nur schnell hinüberschreiten ... ich habe nicht einen Menschen getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl getötet, bin aber nicht hinübergeschritten, ich bin diesseits geblieben ... Ich verstand nur zu töten! Und auch das habe ich nicht mal verstanden, wie es sich jetzt herausstellt ... Das Prinzip? Warum hat der einfältige Rasumichin vorhin so auf die Sozialisten geschimpft? Sie sind doch fleißige und betriebsame Leute; sie befassen sich mit dem ›allgemeinen Glück‹. Nein, das Leben ist mir nur einmal gegeben und wird sich nie wiederholen; ich will nicht auf das ›allgemeine Glück‹ warten. Ich will auch selbst leben, sonst lieber gar nicht leben. Nun, ich wollte nur nicht an einer hungrigen Mutter, meinen Rubel in der Tasche festhaltend, vorbeigehen in Erwartung des ›allgemeinen Glücks‹. ›Ich trage einen kleinen Baustein zum allgemeinen Glück bei mir und fühle darum Seelenruhe.‹ Hahaha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich lebe ja nur ein einziges Mal, ich will ja auch ... Ach, ich bin nur eine ästhetische Laus und mehr nicht – fügte er plötzlich hinzu, wie ein Irrsinniger lachend. – Ja, ich bin tatsächlich eine Laus – fuhr er fort, sich mit Schadenfreude an den Gedanken klammernd, in ihm wühlend, mit ihm spielend, sich über ihn freuend. – Und schon aus dem Grunde, weil ich, erstens, jetzt daran denke, daß ich eine Laus bin; zweitens, weil ich einen ganzen Monat lang die allgütige Vorsehung belästigte, indem ich sie zum Zeugen anrief, daß ich es nicht um meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein großartiges und angenehmes Ziel vor mir habe – haha! Und drittens, weil ich mir vorgenommen hatte, die größtmöglichste Gerechtigkeit, Gewicht und Maß und die Arithmetik bei der Ausführung zu beobachten: unter allen Läusen hatte ich die nutzloseste gewählt und mir vorgenommen, nach ihrer Ermordung von ihr nur so viel zu nehmen, als ich für den ersten Schritt brauche, nicht mehr und nicht weniger (der Rest würde aber laut Testament dem Kloster zufallen –, ha ha! ...). Ich bin darum endgültig eine Laus – fügte er zähneknirschend hinzu –, weil ich vielleicht noch ekelhafter und schlimmer bin als die ermordete Laus und weil ich vorausahnte , daß ich mir dies alles nach dem Morde sagen würde! Läßt sich denn etwas mit diesem Entsetzen vergleichen?! Oh, diese Banalität! Oh, diese Gemeinheit! ... Oh, wie ich den ›Propheten‹ mit dem Säbel in der Hand, auf dem Pferde reitend, begreife: Allah befiehlt, und die ›zitternde‹ Kreatur muß gehorchen! Recht, tausendmal recht hat der Prophet, wenn er irgendwo quer über die Straße eine orrrdentliche Batterie aufstellt und den Unschuldigen und Schuldigen niederknallt, ohne sich sogar zu einer Erklärung herabzulassen! Gehorche, zitternde Kreatur, und wolle nichts , denn es ist nicht deine Sache! ... Oh, um nichts in der Welt werde ich es der gemeinen Alten verzeihen! – Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die zitternden Lippen waren eingetrocknet und der starre Blick auf die Decke gerichtet. – Mutter, Schwester, wie liebte ich sie! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie; ich hasse sie physisch, ich kann ihre Nähe nicht ertragen ... Vorhin ging ich auf die Mutter zu und küßte sie, ich erinnere mich noch ... Sie umarmen und dabei denken, daß, wenn sie es wüßte ... ich es ihr vielleicht sagen würde? Das sähe mir ähnlich ... Hm! sie muß ebenso sein wie ich – fügte er hinzu, seine Gedanken mühevoll fortspinnend, wie gegen einen Fieberanfall ankämpfend. – Oh, wie hasse ich jetzt die Alte! Ich glaube, ich würde sie noch einmal ermorden, wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie dazwischen! ... Es ist aber sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie gar nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr Armen, Sanften mit sanften Augen ... Ihr Lieben! Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... sie blicken sanft und still ... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ... – Er verlor das Bewußtsein; so sonderbar erschien es ihm, daß er nicht mehr wußte, wie er auf die Straße geraten war. Es war schon später Abend. Die Dämmerung verdichtete sich, der Vollmond leuchtete immer greller und greller; aber die Luft war so furchtbar drückend. In den Straßen bewegten sich Mengen von Menschen; Handwerker und anderes Arbeitsvolk gingen heim, andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. Raskolnikow ging traurig und bekümmert dahin: er wußte noch sehr gut, daß er mit einer bestimmten Absicht das Haus verlassen hatte, daß er etwas tun sollte und sich beeilen mußte, doch was er zu tun hatte, das wußte er nicht mehr. Plötzlich sah er auf dem Trottoir, auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen und ihm mit der Hand winken. Er ging über die Straße auf ihn zu, der Mann wandte sich aber um und ging, als wäre nichts geschehen, weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich umzuwenden und ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihm gewinkt habe. – Hat er mir denn auch wirklich gewinkt? – dachte Raskolnikow, ging ihm aber dennoch nach. Als ihn nur noch zehn Schritte von ihm trennten, erkannte er ihn plötzlich und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im gleichen Schlafrocke und in ebenso gekrümmter Haltung. Raskolnikow ging in einiger Entfernung hinter ihm, sein Herz klopfte; sie bogen in eine Quergasse ab, jener wandte sich noch immer nicht um. – Weiß er auch, daß ich ihm folge? – fragte sich Raskolnikow. Der Kleinbürger trat in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikow ging schnell auf das Tor zu und sah hinein, ob jener sich nicht umschauen und ihm winken würde. Und in der Tat, nachdem er den ganzen Torweg durchschritten hatte und schon in den Hof trat, wandte er sich plötzlich um und winkte ihm scheinbar wieder zu. Raskolnikow trat sofort in das Tor, der Kleinbürger war aber nicht mehr auf dem Hofe. Also ist er soeben die erste Treppe hinaufgegangen. Raskolnikow stürzte ihm nach. Und in der Tat, ein paar Treppen höher ließen sich gleichmäßige, langsame Schritte vernehmen. Seltsam, die Treppe kam ihm so bekannt vor! Da ist auch das Fenster im Erdgeschoß; traurig und geheimnisvoll drang das Mondlicht durch die Fensterscheiben; da ist auch der erste Stock. Ach, das ist ja die gleiche Wohnung, in der die Anstreicher gearbeitet haben! ... Wie hat er es bloß nicht sofort erkannt? Die Schritte des vor ihm gehenden Mannes waren verhallt: – er ist also stehengeblieben oder hat sich irgendwo versteckt. – Da ist auch der zweite Stock; soll er noch weiter gehen? Und wie still es da ist, es ist sogar schrecklich ... Er ging aber weiter. Das Geräusch seiner eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Gott, wie dunkel! Der Kleinbürger lauert hier sicher irgendwo in einer Ecke. Ach! Die Wohnung steht weit offen; er überlegt und tritt ein. Im Vorzimmer ist es sehr dunkel und leer, keine Seele, als hätte man alles hinausgetragen. Ganz leise, auf den Fußspitzen trat er in die Stube: das ganze Zimmer war von grellem Mondlicht durchflutet; alles war noch beim alten: die Stühle, der Spiegel, das gelbe Sofa und die Bilder in den Rahmen. Der riesengroße, runde, kupferrote Mond blickte gerade zum Fenster herein. – Diese Stille kommt vom Mond – dachte Raskolnikow – er gibt wohl ein Rätsel zum Raten auf. – Er stand da und wartete, er wartete lange, und je stiller der Mond war, um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer diese Stille. Plötzlich hörte er ein trockenes kurzes Knacken, als hätte man einen Span gebrochen, und wieder war alles still. Eine erwachte Fliege schlug im Fluge gegen die Fensterscheibe und summte traurig. Im gleichen Augenblick sah er in der Ecke zwischen dem kleinen Schrank und dem Fenster etwas wie einen an der Wand hängenden Pelzmantel. – Wie kommt dieser Pelzmantel her? – fragte er sich. – Er war doch früher nicht da ... – Er kam leise näher und erriet, daß hinter dem Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Vorsichtig schob er mit der Hand den Pelzmantel zur Seite und sah einen Stuhl stehen; auf dem Stuhle aber in der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekrümmt und den Kopf geneigt, so daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber sie war es. Er stand eine Weile über sie gebeugt. – Sie fürchtet sich! – dachte er. Dann befreite er das Beil vorsichtig aus der Schlinge und schlug die Alte auf den Schädel, einmal und noch einmal. Aber seltsam: sie rührte sich nicht mal unter den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich tiefer und begann sie zu betrachten; sie aber senkte den Kopf noch tiefer. Nun beugte er sich ganz tief zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er blickte sie an und erstarrte; die Alte saß da und lachte, sie schüttelte sich vor leisem, unhörbarem Lachen, das sie mit aller Kraft zurückhielt, damit er es nicht höre. Plötzlich schien es ihm, daß die Tür aus dem Schlafzimmer ein klein wenig aufginge und daß man auch dort lache und tuschele. Er wurde rasend; aus aller Kraft schlug er die Alte auf den Kopf, doch nach jedem Beilhieb klangen das Lachen und Tuscheln im Schlafzimmer lauter und vernehmlicher, und die Alte schüttelte sich vor Lachen. Er wollte weglaufen, doch das Vorzimmer war schon voller Menschen, die Tür zur Treppe stand offen, und auf dem Treppenaufsatz und auch auf der Treppe weiter unten stehen Menschen Kopf an Kopf, alle schauen, doch alle lauern und warten und schweigen ... Sein Herz krampfte sich zusammen, die Füße konnten sich nicht rühren, waren wie angewachsen ... Er wollte aufschreien und – erwachte. Er holte schwer Atem –, aber seltsam, der Traum dauerte noch gleichsam fort: seine Tür stand weit offen, und auf der Schwelle stand ein ihm völlig unbekannter Mann, der ihn aufmerksam betrachtete. Raskolnikow hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. – Ist das eine Fortsetzung des Traumes oder nicht? – dachte er sich und hob ein wenig die Wimpern, um zu sehen: der Fremde stand noch auf dem gleichen Fleck und betrachtete ihn noch immer. Plötzlich trat er vorsichtig über die Schwelle, schloß die Tür behutsam hinter sich, ging an den Tisch und wartete eine Weile – während dieser ganzen Zeit wandte er von ihm keinen Blick –, dann setzte er sich leise, geräuschlos auf den Stuhl neben das Sofa, stellte den Hut auf den Boden neben sich, stützte beide Hände auf den Stock und legte das Kinn auf die Hände. Offenbar schickte er sich an, lange zu warten. Soweit man durch die zuckenden Wimpern sehen konnte, war es ein nicht mehr junger, korpulenter Herr mit einem dichten, hellen, fast weißen Vollbart ... Es vergingen an die zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend brach schon an. Im Zimmer herrschte völlige Stille. Selbst von der Treppe drang kein Laut herein. Nur eine große Fliege summte und schlug im Fluge gegen die Scheibe. Endlich wurde dies unerträglich: Raskolnikow erhob sich plötzlich und setzte sich auf dem Sofa auf. »Nun, sagen Sie, was wollen Sie?« »Ich wußte ja, daß Sie nicht schlafen und sich nur so stellen«, antwortete der Fremde seltsam und lachte ruhig. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow ...« Zweiter Band Vierter Teil 1. I Ist es wirklich eine Fortsetzung des Traumes? – dachte Raskolnikow noch einmal. Vorsichtig und mißtrauisch betrachtete er den unerwarteten Gast. »Swidrigailow? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er schließlich laut, ganz verständnislos. Der Gast schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt. »Ich bin aus zwei Gründen heraufgekommen; erstens wollte ich Sie persönlich kennenlernen, da ich schon längst viel Interessantes und Vorteilhaftes über Sie gehört habe, und zweitens bilde ich mir ein, daß Sie sich vielleicht nicht weigern werden, mir in meinem Unternehmen zu helfen, das direkt die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna berührt. Mich selbst, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht nicht über die Schwelle lassen, infolge eines Vorurteils, doch mit Ihrer Hilfe rechne ich.« »Sie rechnen schlecht«, unterbrach ihn Raskolnikow. »Die Damen sind doch erst gestern angekommen, wenn ich fragen darf?« Raskolnikow gab keine Antwort. »Gestern, ich weiß es. Ich bin ja selbst erst vorgestern angekommen. Nun will ich Ihnen folgendes darüber sagen, Rodion Romanowitsch; mich zu rechtfertigen, halte ich für überflüssig, gestatten Sie mir aber, eines zu bemerken: was habe ich in dieser ganzen Sache verbrochen, natürlich wenn man es ohne Vorurteile, sondern vernünftig betrachtet?« Raskolnikow fuhr fort, ihn schweigend zu betrachten. »Daß ich in meinem Hause ein wehrloses junges Mädchen verfolgt und ›mit meinen gemeinen Anträgen beleidigt‹ habe, nicht wahr? (Ich nehme es selbst vorweg!) – Denken Sie doch nur daran, daß auch ich Mensch bin, et nihil humanum ... mit einem Worte, daß auch ich imstande bin, einer Versuchung zu unterliegen und mich zu verlieben (was natürlich nicht nach unserem Wunsche geschieht), – und dann läßt sich alles auf die natürlichste Weise erklären. Dann ist es noch eine Frage: bin ich ein Scheusal oder selbst ein Opfer? Was, wenn ich ein Opfer bin? Indem ich dem Gegenstande meiner Leidenschaft den Vorschlag machte, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz zu fliehen, hatte ich vielleicht die respektvollsten Gefühle und glaubte sogar unser gemeinsames Glück zu begründen! Die Vernunft dient doch der Leidenschaft; vielleicht richtete ich mich dabei selbst noch mehr zugrunde, ich bitte Sie! ...« »Es handelt sich aber gar nicht darum«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt. »Sie sind einfach widerlich, ob Sie recht haben oder nicht, man will mit Ihnen nichts zu tun haben und jagt Sie fort, also gehen Sie doch! ...« Swidrigailow lachte plötzlich auf. »Aber Sie ... Sie lassen sich nicht aus dem Konzept bringen!« sagte er und lachte auf die offenste Weise. »Ich wollte schon schwindeln, aber Sie haben gleich den richtigen Punkt getroffen!« »Sie schwindeln auch jetzt.« »Was ist denn dabei? Was ist denn dabei?« wiederholte Swidrigailow, aufrichtig lachend. »Es ist doch, was man so nennt, bonne guerre und eine durchaus erlaubte List! ... Sie haben mich aber unterbrochen; so oder anders, ich erkläre noch einmal: es hätte nicht die geringste Unannehmlichkeit gegeben, wenn nicht der Fall im Garten. Marfa Petrowna ...« »Man sagt, Sie haben auch Marfa Petrowna umgebracht?« unterbrach ihn Raskolnikow grob. »Sie haben auch davon schon gehört? Wie sollte man übrigens davon nicht hören ... Nun, was Ihre Frage betrifft, so weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll, obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung äußerst ruhig ist. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwas befürchte: alles ist in vollkommener Ordnung und mit peinlicher Genauigkeit erledigt: die ärztliche Untersuchung ergab einen Herzschlag, der infolge eines sofort nach einem reichlichen Mittagessen, bei dem fast eine ganze Flasche Wein getrunken wurde, genommenen Bades eingetreten ist, und sie konnte auch gar nichts anderes ergeben ... Nein, ich habe mir eine Zeitlang, besonders unterwegs, im Eisenbahnwagen, folgendes gedacht: ob ich zu diesem ... Unglück nicht irgendwie moralisch durch eine Reizung oder sonstwie beigetragen habe? Doch ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dies ganz bestimmt nicht der Fall sein konnte.« Raskolnikow lachte. »Was machen Sie sich auch Sorgen darüber!« »Warum lachen Sie denn! Bedenken Sie doch: ich habe sie nur zweimal mit der Gerte geschlagen, und man fand später auch gar keine Spuren ... Halten Sie mich bitte nicht für einen Zyniker; ich weiß doch sehr gut, wie gemein das von mir war, und so weiter; ich weiß aber auch ganz bestimmt, daß Marfa Petrowna vielleicht sogar froh war, daß ich, sagen wir, mich so hinreißen ließ. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis auf den Rest erschöpft. Marfa Petrowna mußte schon den dritten Tag zu Hause sitzen; sie hatte nichts mehr in unserem Städtchen auszuposaunen, auch waren schon alle ihrer und dieses Briefes überdrüssig (über das Vorlesen des Briefes haben Sie wohl schon gehört?). Und plötzlich fallen ihr diese beiden Gertenschläge wie vom Himmel in den Schoß! Zu allererst läßt sie natürlich den Wagen anspannen! ... Ich spreche nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen überaus angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der scheinbaren Entrüstung. Bei allen gibt es solche Fälle; der Mensch liebt es überhaupt sehr, beleidigt zu sein; haben Sie es schon bemerkt? Doch die Frauen ganz besonders. Man kann sogar sagen, daß sie nur davon leben.« Raskolnikow hatte eine Zeitlang die Absicht, aufzustehen und fortzugehen und damit dem Gespräch ein Ende zu machen. Aber eine gewisse Neugier und sogar eine Berechnung hielten ihn für einen Augenblick zurück. »Schlagen Sie gerne los?« fragte er zerstreut. »Nein, nicht sehr«, antwortete Swidrigailow ruhig. »Marfa Petrowna habe ich fast nie geschlagen. Wir lebten in großer Eintracht, und sie war mit mir immer zufrieden. Die Gerte habe ich in den sieben Jahren unseres Zusammenlebens bloß zweimal gebraucht (wenn man von einem dritten Fall, der übrigens recht zweifelhaft ist, absieht). Das erstemal zwei Monate nach unserer Heirat, gleich nach unserer Ankunft auf dem Gut, und dann dieser letzte Fall. Sie glaubten wohl schon, ich sei so ein Scheusal, ein Rückschrittler und Verfechter der Leibeigenschaft? He-he ... A propos: können Sie sich vielleicht noch erinnern, Rodion Romanowitsch, wie man bei uns vor einigen Jahren, noch in der Zeit der segensreichen Pressefreiheit, einen gewissen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen – öffentlich und in der ganzen Presse gebrandmarkt hat, weil er irgendeine Deutsche im Eisenbahnwagen mit einer Peitsche geschlagen hat? Im gleichen Jahr hat sich auch, wenn ich nicht irre, der unerhörte Fall mit der Zeitung ›Zeit‹ abgespielt (nun, die öffentliche Vorlesung von Puschkins ›Agyptischen Nächten‹, können Sie sich daran erinnern? Die schwarzen Augen! Oh, wo bist du, goldene Zeit unserer Jugend!). Das ist also meine Ansicht: für den Herrn, der die Deutsche mit der Peitsche geschlagen hat, habe ich nicht die geringste Sympathie, denn in der Tat, warum soll man mit ihm ... Sympathie haben?! Bei dieser Gelegenheit kann ich aber nicht verschweigen, daß manche ›Deutsche‹ so aufreizend ist, daß wohl kein einziger Fortschrittler für sich selbst bürgen könnte. Von diesem Standpunkte aus hatte damals niemand die Sache betrachtet, und doch ist eben dieser Standpunkt der wahrhaft humane, es ist wirklich so!« Nach diesen Worten begann Swidrigailow wieder zu lachen. Raskolnikow war es jetzt klar, daß dieser Mensch sich etwas fest vorgenommen hatte und etwas im Schilde führte. »Sie haben wohl einige Tage nacheinander mit niemand gesprochen?« fragte er ihn. »Es ist beinahe so. Warum? Sie staunen wohl, daß ich so vernünftig rede?« »Nein, ich staune nur, daß Sie allzu vernünftig reden.« »Weil ich mich durch Ihre groben Fragen nicht gekränkt fühle? Nicht wahr? Was soll ich mich auch gekränkt fühlen? Wie Sie mich fragen, so antworte ich Ihnen auch«, fügte er auffallend treuherzig hinzu. »Ich habe doch fast für nichts besonders Interesse, bei Gott«, fuhr er nachdenklich fort. »Besonders jetzt bin ich mit nichts beschäftigt ... Es ist übrigens verzeihlich, wenn Sie annehmen, daß ich mich bei Ihnen mit einem bestimmten Ziel einzuschmeicheln suche, um so mehr, als ich etwas von Ihrer Schwester will: ich habe es Ihnen ja selbst gesagt. Aber ich sage es Ihnen aufrichtig: es ist furchtbar langweilig ... Nehmen Sie mir es nicht übel, Rodion Romanowitsch, aber Sie selbst kommen mir so furchtbar merkwürdig vor. Sie können sagen, was Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen; und gerade jetzt, das heißt nicht nur in diesem Augenblick, sondern überhaupt jetzt ... Na, na, ich rede nicht mehr davon, machen Sie nicht gleich ein finsteres Gesicht! Ich bin doch nicht so ein Bär, wie Sie glauben.« Raskolnikow blickte ihn finster an. »Sie sind vielleicht gar kein Bär«, sagte er. »Mir scheint sogar, daß Sie zur guten Gesellschaft gehören oder wenigstens verstehen, bei Gelegenheit auch ein anständiger Mensch zu sein.« »Ich interessiere mich auch nicht für irgend wessen Meinung«, antwortete Swidrigailow trocken, sogar mit einem Anfluge von Hochmut. »Warum soll ich auch nicht gemein sein, wenn dieses Kleid in unserem Klima so bequem ist und ... und besonders wenn man eine natürliche Neigung dazu hat«, fügte er hinzu und lachte wieder. »Ich hörte aber, daß Sie viele Bekannte haben. Sie sind doch, was man so nennt, ›nicht ohne Verbindungen‹. Was brauchen Sie dann mich, wenn nicht zu einem bestimmten Zweck?« »Das stimmt, daß ich Bekannte habe«, fiel ihm Swidrigailow ins Wort, ohne jedoch die Hauptfrage zu beantworten. »Einige habe ich auch schon getroffen; ich treibe mich ja schon den dritten Tag hier herum; ich erkenne die Leute wieder, und auch sie scheinen mich zu erkennen. Allerdings bin ich anständig gekleidet und gelte als vermögender Mann; uns hat auch die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht geschadet: wir haben Wälder und Flußwiesen, das Einkommen ist nicht geschmälert; aber ... ich will die Leute nicht aufsuchen; sie waren mir auch früher schon langweilig; den dritten Tag gehe ich herum und gebe mich niemand zu erkennen ... Und erst diese Stadt! Sagen Sie mir, bitte, wer hat sie erdacht? Es ist die Stadt von Kanzlisten und allen möglichen Seminaristen! Ich habe hier früher wirklich vieles nicht bemerkt, vor acht Jahren, als ich mich hier herumtrieb ... Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen nur noch auf die Anatomie, bei Gott!« »Auf was für eine Anatomie?« »Was aber alle diese Klubs, die Restaurants von Dussot und die schönen Aussichtspunkte auf den Inseln, vielleicht auch den Fortschritt betrifft, so habe ich kein Interesse dafür«, fuhr er fort, wieder ohne die Frage zu beachten. »Was für ein Vergnügen ist es auch, Falschspieler zu sein!« »Waren Sie denn auch Falschspieler?« »Ja, natürlich! Wir waren eine ganze höchst anständige Gesellschaft, vor acht Jahren; wir vertrieben uns die Zeit; und, wissen Sie, lauter Menschen mit Manieren, Dichter waren dabei, auch Kapitalisten. Überhaupt haben bei uns, in der russischen Gesellschaft die besten Manieren gerade solche Menschen, die schon einmal Prügel bekommen haben –, wissen Sie es noch nicht? Ich bin nur auf dem Lande so verbauert. Und doch hatte mich damals ein Grieche aus Njeschin wegen Schulden ins Gefängnis gesperrt. Da kam gerade Marfa Petrowna dazwischen, sie handelte mit dem Mann und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus. (Im ganzen schuldete ich siebzigtausend.) Wir gingen eine legitime Ehe ein, und sie brachte mich sofort wie einen kostbaren Schatz zu sich aufs Gut. Sie war ja um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben Jahre verließ ich das Gut nicht. Und beachten Sie, bitte: Ihr ganzes Leben hatte sie ein Dokument gegen mich, einen auf einen fremden Namen ausgestellten Wechsel über diese dreißigtausend Rubel in Händen, so daß, wenn ich nur wagte, mich gegen sie zu empören, sie mich sofort ins Loch bringen konnte! Und sie hätte es auch getan!« »Und wenn sie den Wechsel nicht gehabt hätte, so wären Sie wohl durchgebrannt?« »Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Dieses Dokument genierte mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen, und Marfa Petrowna hat mir sogar selbst zweimal eine Auslandsreise angeboten, als sie sah, daß ich mich langweilte. Aber, was! Im Auslande war ich schon vorher gewesen und hatte mich da immer gelangweilt. Es war weniger Langweile, aber so ein Sonnenaufgang, der Golf von Neapel, das Meer –, wenn ich es sehe, so ist es mir so traurig zumute. Das Gemeinste ist, daß man tatsächlich Trauer empfindet! Nein, in der Heimat ist es doch besser: hier schiebt man wenigstens die Schuld den anderen zu und rechtfertigt sich selbst. Vielleicht würde ich noch an einer Nordpolexpedition teilnehmen, denn – j'ai le vin mauvais, das Trinken ist mir zuwider, aber außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Ich habe es schon versucht. Man sagt, daß Berg am Sonntag im Jussupowschen Garten mit einem großen Luftballon aufsteigen wird und Reisebegleiter gegen eine bestimmte Bezahlung sucht, ist das wahr?« »Nun, würden Sie mitfliegen?« »Ich? Nein ... ich frage nur so ...« murmelte Swidrigailow und schien wirklich nachdenklich zu werden. – Ist es sein Ernst? – dachte Raskolnikow. »Nein, das Dokument hat mich niemals geniert,« fuhr Swidrigailow nachdenklich fort, »ich wollte selbst nicht das Gut verlassen. Auch hat mir Marfa Petrowna vor einem Jahr zu meinem Namenstag das Dokument zurückerstattet und mir außerdem noch eine nennenswerte Summe geschenkt. Sie hatte ja Vermögen. – ›Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadij Iwanowitsch‹ –, so drückte sie sich aus, wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß sie sich so ausdrückte? Wissen Sie: ich bin auf dem Lande ein tüchtiger Landwirt geworden, man kennt mich im ganzen Umkreis. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Marfa Petrowna billigte es zuerst, fürchtete aber dann immer, ich könnte mich beim Studium überanstrengen.« »Marfa Petrowna geht Ihnen wohl sehr ab?« »Mir? Mag sein. Sogar sehr möglich. Übrigens, glauben Sie an Gespenster?« »An was für Gespenster?« »An ganz gewöhnliche Gespenster, was tragen Sie noch!« »Und glauben Sie an Gespenster?« »Vielleicht auch nicht, pour vous plaire ... Das heißt, eigentlich wohl ...« »Erscheinen sie Ihnen?« Swidrigailow sah ihn sonderbar an. »Marfa Petrowna hat die Güte, mich zu besuchen«, sagte er, den Mund zu einem sonderbaren Lächeln verziehend. »Was heißt, sie hat die Güte, Sie zu besuchen?« »Sie ist schon dreimal dagewesen. Das erstemal sah ich sie am Tage der Beerdigung, eine Stunde nach der Beisetzung. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweite Mal war es vorgestern, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; das dritte Mal aber vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin, in meinem Zimmer; ich war allein.« »Im Wachen?« »Vollkommen! Alle dreimal sah ich sie im Wachen. Sie kommt, spricht mit mir eine Weile und geht dann durch die Tür hinaus: immer durch die Tür. Es ist sogar zu hören.« »Warum habe ich mir nur gleich gedacht, daß Sie Erlebnisse dieser Art haben müssen!« sagte plötzlich Raskolnikow. Schon im nächsten Augenblick staunte er, daß er das gesagt hatte. Er war sehr erregt. »So? Sie haben es sich gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Nein, wirklich? Hab ich denn nicht gesagt, daß es zwischen uns einen Berührungspunkt geben muß, wie?« »Niemals haben Sie das gesagt!« antwortete Raskolnikow scharf und hitzig. »Habe ich es nicht gesagt?« »Nein!« »Mir schien, ich hätte es gesagt. Vorhin, als ich eintrat und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen lagen und sich schlafend stellten, sagte ich mir gleich: ›Es ist derselbe!‹« »Was heißt das: derselbe? Was meinen Sie damit?« rief Raskolnikow. »Was ich damit meine? Ich weiß wirklich nicht, was ...« murmelte Swidrigailow offenherzig und irgendwie selbst verwirrt. Eine Minute schwiegen sie. Sie starrten einander unverwandt an. »Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikow geärgert. »Was sagt denn Marfa Petrowna, wenn sie kommt?« »Was sie sagt? Denken Sie sich nur, sie spricht nur von den nichtigsten Bagatellen. Sie werden über mich staunen: dies ärgert mich gerade. Das erste Mal kam sie (wissen Sie, ich war so müde: der Trauergottesdienst, die Totenmesse, das Totenmahl, endlich war ich allein in meinem Arbeitszimmer, steckte mir eine Zigarre an, wurde nachdenklich), sie trat durch die Tür ein und sagte: ›Arkadij Iwanowitsch, Sie haben im Tummel heute vergessen, die Uhr im Eßzimmer aufzuziehen.‹ Diese Uhr pflegte ich aber die ganzen sieben Jahre jede Woche selbst aufzuziehen, und wenn ich es vergaß, so erinnerte sie mich immer daran. Am nächsten Tag bin ich schon auf der Reise hierher. Ich trete beim Morgengrauen ins Stationsgebäude – in der Nacht hatte ich ein bißchen geschlafen, bin ganz zerschlagen, die Augen fallen mir zu –, ich lasse mir Kaffee geben; plötzlich sehe ich: Marfa Petrowna setzt sich neben mich, hat ein Spiel Karten in der Hand. ›Soll ich Ihnen die Karte schlagen, Arkadij Iwanowitsch, für die Reise?‹ Sie war aber eine große Meisterin im Kartenschlagen. Jetzt kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich mir nicht die Karten schlagen ließ. Ich erschrak und lief davon, und da kam auch das Glockenzeichen. Heute sitze ich nach einem abscheulichen Essen in einer Garküche mit schwerem Magen; ich sitze, rauche, und plötzlich sehe ich wieder Marfa Petrowna; sie kommt schön geputzt in einem neuen grünseidenen Kleid mit langer Schleppe. ›Guten Tag, Arkadij Iwanowitsch! Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Anißjka bringt so was nicht fertig.‹ (Anißjka hieß unsere Näherin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, war in Moskau in der Lehre gewesen, ein recht hübsches Mädel.) Sie steht da und dreht und wendet sich hin und her. Ich betrachtete ihr Kleid und sah ihr sehr aufmerksam ins Gesicht. ›Was ist's für ein Vergnügen, Marfa Petrowna,‹ sage ich ihr, ›sich diese Mühe zu machen und wegen eines solchen Unsinns zu mir zu kommen!‹ – ›Ach, mein Gott, Väterchen, darf man dich denn gar nicht aufsuchen?‹ Um sie zu necken, sage ich ihr: ›Marfa Petrowna, ich will wieder heiraten.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch; es bringt Ihnen aber wenig Ehre ein, daß Sie, gleich nachdem Sie Ihre Frau beerdigt haben, schon wieder auf die Brautschau fahren. Und wenn Sie noch wenigstens was Rechtes wählten, aber ich weiß: es wird für beide Teile nichts Gescheites sein. Sie machen sich bloß lächerlich.‹ Sie ging hinaus und raschelte mit der Schleppe. Das ist doch Unsinn, wie?« »Vielleicht ist das alles gelogen?« bemerkte Raskolnikow. »Ich lüge selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich. Er schien die Grobheit der Frage gar nicht bemerkt zu haben. »Und früher, vordem, haben Sie niemals Gespenster gesehen?« »N-nein, nur ein einziges Mal im Leben, vor sechs Jahren. Ich hatte einen leibeigenen Diener Filjka; kaum hatte man ihn beerdigt, da rief ich in meiner Vergeßlichkeit: ›Filjka, die Pfeife!‹ Und er kam herein und ging zum Pfeifenständer. Ich sitze und denke mir: ›Das tut er, um sich an mir zu rächen‹; denn es hat zwischen uns vor seinem Tode einen heftigen Streit gegeben. ›Wie wagst du‹, sage ich ihm, ›mit einem zerrissenen Ellbogen zu mir zu kommen?! Marsch, hinaus, Taugenichts!‹ Er machte kehrt, ging hinaus und kam nie wieder. Ich habe es Marfa Petrowna nicht erzählt. Ich wollte eine Totenmesse lesen lassen, genierte mich aber.« »Gehen Sie doch mal zu einem Arzt.« »Das verstehe ich auch ohne Sie, daß ich nicht ganz gesund bin, obwohl ich auch nicht weiß, was mir fehlte; ich meine, ich bin fünfmal gesünder als Sie. Aber ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie glauben, daß die Gespenster erscheinen, ich habe gefragt: Glauben Sie, daß es Gespenster gibt ?« »Nein, das glaube ich um nichts in der Welt!« rief Raskolnikow sogar wütend. »Was sagt man gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow wie vor sich hin, zur Seite blickend und den Kopf etwas geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank, und darum ist alles, was du zu sehen glaubst, ein nichtexistierender Wahn.‹ Darin fehlt aber die strenge Logik. Ich gebe zu, daß die Gespenster nur Kranken erscheinen; das beweist aber doch nur, daß die Gespenster niemand anderem als Kranken erscheinen können, doch nicht, daß es sie an sich nicht gibt.« »Natürlich gibt es sie nicht!« widersprach Raskolnikow gereizt. »Nicht? Sie glauben es?« fuhr Swidrigailow fort, nachdem er ihn langsam angeblickt hatte. »Nun, und wie ist es, wenn man es so betrachtet (nun, helfen Sie mir mal): Die Gespenster sind sozusagen Fetzen und Bruchstücke anderer Welten, ihr Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie natürlich nicht zu sehen, denn der gesunde Mensch ist der am meisten irdische Mensch und muß also der Vollständigkeit und der Ordnung wegen nur das eine hiesige Leben leben; kaum ist er aber erkrankt, kaum ist die normale irdische Ordnung im Organismus gestört, als sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zeigt, und je kränker er ist, um so mehr Berührungspunkte hat er mit den anderen Welten, so daß, wenn der Mensch ganz stirbt, er direkt in die andere Welt eingeht. Darüber habe ich schon seit langem nachgedacht. Wenn Sie an das zukünftige Leben glauben, so können Sie auch an diese meine Theorie glauben.« »Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, sagte Raskolnikow. Swidrigailow saß nachdenklich da. »Und was, wenn dort nur Spinnen oder dergleichen sind?« sagte er plötzlich. – Er ist verrückt – dachte Raskolnikow. »Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muß sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.« »Können Sie sich denn wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres als dies vorstellen?!« rief Raskolnikow mit einem schmerzvollen Gefühl. »Gerechteres? Wer kann das wissen, vielleicht ist das auch die Gerechtigkeit, und wissen Sie, ich würde es unbedingt absichtlich so einrichten«, antwortete Swidrigailow mit einem unbestimmten Lächeln. Bei dieser häßlichen Antwort überlief es Raskolnikow plötzlich kalt. Swidrigailow hob den Kopf, sah ihn durchdringend an und lachte plötzlich auf. »Nein, bedenken Sie doch nur,« rief er aus, »vor einer halben Stunde erst hatten wir einander noch nicht gesehen, wir hielten uns für Feinde; zwischen uns stand noch eine unerledigte Angelegenheit; und nun schoben wir diese Angelegenheit zur Seite und sind in diese literarische Diskussion geraten! Nun, hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß wir beide vom gleichen Holze sind?« »Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikow gereizt fort, »gestatten Sie mir, Sie zu bitten, sich schneller zu erklären und mir mitzuteilen, weshalb Sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben ... und ... und ... ich habe Eile, ich habe keine Zeit, ich will fortgehen ...« »Ich bitte sehr. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet doch den Herrn Pjotr Petrowitsch Luschin?« »Können Sie nicht irgendwie jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren Namen überhaupt nicht nennen? Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie es wagen, ihren Namen in meiner Gegenwart auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Swidrigailow sind!« »Ich bin ja gekommen, um über sie zu sprechen; wie soll ich da ihren Namen nicht nennen?« »Gut. Sprechen Sie, doch schneller!« »Ich bin überzeugt, daß Sie sich über diesen Herrn Luschin, mit dem ich durch meine Frau verwandt bin, schon Ihre Meinung gebildet haben, wenn Sie ihn nur eine halbe Stunde lang gesehen oder etwas Sicheres und Genauers über ihn gehört haben. Für Awdotja Romanowna ist er nicht der richtige Mann. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna in diesem Falle höchst großmütig und selbstlos zum Opfer für ... für ihre Familie. Nach allem, was ich über Sie gehört habe, nahm ich an, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht zustande käme. Und jetzt, wo ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.« »Ihrerseits ist das alles sehr naiv, entschuldigen Sie mich, ich wollte sagen: unverschämt«, sagte Raskolnikow. »Das heißt, Sie wollen damit sagen, daß ich an meinen eigenen Nutzen denke. Seien Sie unbesorgt, Rodion Romanowitsch; wenn ich an meinen Nutzen dächte, so würde ich nicht so offen sprechen, ich bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen ein gewisses psychologisches Kuriosum mitteilen. Als ich vorhin meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, sagte ich, daß ich selbst das Opfer gewesen sei. Nun sage ich Ihnen, daß ich jetzt gar keine Liebe empfinde, nicht die geringste, so daß ich mich sogar selbst darüber wundere, denn ich habe früher doch wirklich etwas empfunden ...« »Das kommt von Müßiggang und Ausschweifung«, unterbrach ihn Raskolnikow. »Das stimmt, ich bin ein liederlicher und ausschweifender Mensch. Ihre Schwester hat aber so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindruck unbedingt unterliegen mußte. Aber das alles ist Unsinn, wie ich es jetzt selbst einsehe.« »Ist es lange her, daß Sie es eingesehen haben?« »Ich fing schon früher an, es zu merken, aber die endgültige Überzeugung gewann ich erst vorgestern, fast im Augenblick meiner Ankunft in Petersburg. Übrigens hatte ich mir noch in Moskau eingebildet, daß ich herreise, um um die Hand Awdotja Romanownas zu werben und mit Herrn Luschin in Wettbewerb zu treten.« »Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den Gefallen: können Sie sich nicht kürzer fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches kommen? Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...« »Mit dem größten Vergnügen. Nachdem ich hier angekommen war und den Entschluß gefaßt hatte, einen gewissen ... Ausflug zu unternehmen, wollte ich vorher einige notwendige Anordnungen treffen. Meine Kinder sind bei der Tante geblieben; sie sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was bin ich auch für ein Vater! Für mich selbst habe ich nur das genommen, was Marfa Petrowna mir vor einem Jahre geschenkt hat. Für mich langt es. Entschuldigen Sie, gleich komme ich auf die Sache selbst. Vor dem Ausflug, der vielleicht wirklich zustande kommt, will ich auch mit dem Herrn Luschin ein Ende machen. Ich will nicht sagen, daß er mir unausstehlich wäre, doch seinetwegen war mein Streit mit Marfa Petrowna entstanden, als ich erfuhr, daß sie diese Heirat eingefädelt habe. Ich möchte jetzt durch Ihre Vermittlung mit Awdotja Romanowna zusammenkommen und ihr, vielleicht sogar in Ihrer Anwesenheit, vor allen Dingen erklären, daß sie von Herrn Luschin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sogar einen sicheren Schaden zu erwarten hat. Dann würde ich sie um Entschuldigung wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich ihr vor kurzem zugefügt habe, bitten und sie um Erlaubnis ersuchen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr auf diese Weise den Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern, den Bruch, gegen den auch sie selbst, wie ich überzeugt bin, nichts einzuwenden hätte, wenn sie nur die geringste Möglichkeit sähe.« »Sie sind doch wirklich, wirklich verrückt!« rief Raskolnikow, »weniger erbost als erstaunt. Wie wagen Sie nur, so zu sprechen!« »Ich wußte es, daß Sie schreien werden. Ich bin zwar nicht reich, habe aber diese zehntausend Rubel gerade frei und brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annimmt, so werde ich sie vielleicht auf eine noch dümmere Weise ausgeben. Das ist das eine. Zweitens: mein Gewissen ist vollkommen rein; ich biete ihr das Geld ohne irgendwelche Nebenabsicht an. Sie mögen es mir glauben oder nicht, aber mit der Zeit werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Es handelt sich doch nur darum, daß ich Ihrer verehrten Schwester tatsächlich einige Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet habe; indem ich also eine aufrichtige Reue empfinde, möchte ich von Herzen – nicht etwa mich loskaufen, nicht die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern ganz einfach ihr einen Vorteil erweisen, und zwar aus dem Grunde, weil ich doch schließlich und endlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wäre in meinem Anerbieten auch nur ein Millionstel Berechnung, so würde ich das Geld nicht so offen hergeben: auch würde ich ihr nicht bloß zehntausend Rubel anbieten, wo ich ihr doch vor fünf Wochen viel mehr angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges Mädchen heiraten, und folglich muß jeder Verdacht, daß ich gegen Awdotja Romanowna etwas vorhabe, in sich selbst zusammenstürzen. Schließlich möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, wenn sie Herrn Luschin heiratet, doch dasselbe Geld nimmt, nur von einer anderen Seite ... Seien Sie, bitte, nicht böse, Rodion Romanowitsch, beurteilen Sie die Sache ruhig und kaltblütig.« Als Swidrigailow das sagte, war er selbst äußerst kaltblütig und ruhig. »Ich bitte Sie, zu Ende zu sprechen«, sagte Raskolnikow. »Jedenfalls ist es unverzeihlich frech.« »Keineswegs. Dann kann der Mensch seinem Mitmenschen in dieser Welt nur Böses allein zufügen und hat dagegen kein Recht, ihm auch ein bißchen Gutes zu erweisen, wegen leerer konventioneller Formalitäten. Das wäre unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer Schwester testamentarisch vermacht hätte –, würde sie sich denn auch dann weigern, das Geld anzunehmen?« »Sehr möglich.« »Nein, ganz gewiß nicht! Übrigens – wenn nicht, dann nicht; aber zehntausend Rubel sind unter Umständen keine üble Sache. Jedenfalls bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.« »Nein, ich werde es nicht mitteilen.« »In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine persönliche Zusammenkunft zu erzwingen, und das wurde eine Belästigung bedeuten.« »Und wenn ich es ihr mitteile, werden Sie dann eine persönliche Zusammenkunft nicht zu erzwingen suchen?« »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Einmal sehen möchte ich sie doch gerne.« »Hoffen Sie nicht darauf.« »Schade. Sie kennen mich übrigens nicht. Es ist möglich, daß wir uns noch näherkommen.« »Sie glauben, daß wir uns noch näherkommen wer den?« »Warum auch nicht?« sagte Swidrigailow lächelnd, stand auf und nahm seinen Hut. »Ich wollte Sie gar nicht so belästigen und rechnete, als ich herging, sehr wenig darauf, obwohl mir übrigens Ihr Gesicht schon vorhin, heute früh auffiel ...« »Wo haben Sie mich denn heute früh gesehen?« fragte Raskolnikow unruhig. »Zufällig ... Mir scheint immer, als wäre in Ihnen etwas mit mir Verwandtes ... Beunruhigen Sie sich, bitte, nicht, ich bin nicht zudringlich; mit den Falschspielern kam ich gut aus, bin dem Fürsten Swirbej, meinem entfernten Verwandten und Würdenträger, nie zur Last gefallen; habe es verstanden, der Frau Prilukowa ins Album einige Zeilen über die Madonna Raffaels zu schreiben; habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre ununterbrochen gelebt, ohne je das Gut zu verlassen, habe vor vielen Jahren im Asyl Wjasemskijs auf dem Heumarkte genächtigt und werde vielleicht mit Berg im Luftballon fliegen.« »Schön. Gestatten Sie die Frage: werden Sie bald Ihre Reise unternehmen?« »Was für eine Reise?« »Nun, den ›Ausflug‹, von dem Sie sprachen ... Sie haben es doch selbst gesagt.« »Den Ausflug? Ach, ja! ... in der Tat, ich habe vom Ausflug gesprochen ... Nun, das ist noch eine große Frage ... Wenn Sie aber nur wüßten, wonach Sie fragen!« fügte er hinzu und lachte laut und kurz auf. »Statt diesen Ausflug zu unternehmen, werde ich vielleicht heiraten; man bietet mir eine Partie an.« »Hier?« »Ja.« »Wann haben Sie schon Zeit dazu gefunden?« »Awdotja Romanowna will ich aber doch noch einmal sehen. Ich bitte Sie ernsthaft darum. Nun, auf Wiedersehen ... Ach ja! Ich hätte es beinahe vergessen! Rodion Romanowitsch, teilen Sie, bitte, Ihrer Schwester mit, daß Marfa Petrowna sie in ihrem Testamente mit dreitausend Rubeln bedacht hat. Das ist positiv wahr. Marfa Petrowna hat diese Anordnung eine Woche vor ihrem Tode getroffen, ich war dabei. Awdotja Romanowna kann das Geld nach zwei oder drei Wochen erhalten.« »Sprechen Sie die Wahrheit?« »Die Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Ergebenster Diener. Ich wohne ja nicht weit von Ihnen.« Beim Hinausgehen stieß Swidrigailow in der Tür mit Rasumichin zusammen. 2. II Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejew, um vor Luschin dort zu sein. »Nun, wer war es eben?« fragte Rasumichin, sobald sie auf die Straße getreten waren. »Es war Swidrigailow, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester beleidigt wurde, als sie dort als Gouvernante diente. Infolge seiner leidenschaftlichen Nachstellungen mußte sie, von seiner Frau Marfa Petrowna hinausgejagt, das Haus verlassen. Diese Marfa Petrowna bat nachher Dunja um Verzeihung, und jetzt ist sie plötzlich gestorben. Es war ja auch schon vorhin von ihr die Rede. Ich weiß nicht warum, aber ich habe vor diesem Menschen große Angst. Er kam sofort nach der Beerdigung seiner Frau hergefahren. Er ist sehr sonderbar und hat sich für etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen. Man muß Dunja vor ihm beschützen ... das wollte ich dir sagen, hörst du?« »Beschützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna unternehmen? Ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Gut, wir wollen sie schon schützen ... Wo wohnt er denn?« »Ich weiß nicht.« »Warum hast du nicht gefragt? Wie schade! Ich werde es übrigens erfahren!« »Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einer Pause. »Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; ich habe ihn mir gut gemerkt.« »Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow eindringlich. »Gewiß, ich erinnere mich seiner ganz deutlich; unter tausend erkenne ich ihn wieder, ich habe ein gutes Personengedächtnis.« Beide schwiegen. »Hm! ... Ja, so ...« murmelte Raskolnikow. »Weißt du ... mir kam es vor ... mir scheint immer ... daß es vielleicht nur Einbildung ist.« »Was meinst du denn? Ich verstehe dich nicht recht.« »Ihr sagt ja alle,« fuhr Raskolnikow fort, den Mund zu einem Lächeln verziehend, »daß ich verrückt sei; und es kam mir eben vor, daß ich tatsächlich verrückt bin und nur ein Gespenst gesehen habe!« »Was fällt dir ein?« »Wer kann es wissen! Vielleicht bin ich wirklich verrückt, vielleicht besteht auch alles, was ich in diesen Tagen erlebt habe, nur in meiner Einbildung ...« »Ach, Rodja! Man hat dich wieder ganz konfus gemacht! ... Was hat er gesagt, wozu ist er gekommen?« Raskolnikow antwortete nicht. Rasumichin überlegte eine Weile. »Höre also meinen Bericht«, begann er. »Ich war schon einmal bei dir, aber du schliefst. Dann aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Samjotow sitzt noch immer bei ihm. Ich wollte schon anfangen, aber es wurde nichts daraus. Es gelang mir immer nicht, richtig zu beginnen. Sie scheinen nichts zu verstehen und können nichts verstehen, genieren sich aber gar nicht. Ich führte Porfirij zum Fenster und versuchte zu sprechen, aber es wurde wieder nichts daraus: er blickte zur Seite, und auch ich blickte zur Seite. Endlich zeigte ich ihm die Faust und sagte, daß ich ihn zermalmen werde, auf verwandtschaftliche Manier. Er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging fort. Das ist alles. Es war furchtbar dumm. Mit Samjotow sprach ich kein Wort. Siehst du aber: Ich glaubte, ich hätte die Sache verdorben, als ich aber die Treppe hinunterging, erleuchtete mich plötzlich ein Gedanke: was regen wir uns beide eigentlich auf? Wenn dir noch eine Gefahr drohte oder ähnliches, dann natürlich. Aber was geht es dich an! Du hast mit dieser Sache nichts zu tun, also spucke auf sie; wir werden ja später über sie lachen, an deiner Stelle würde ich sie noch mystifizieren. Sie werden sich doch nachher schämen! Spucke drauf! Später werden wir sie auch noch verprügeln können, aber jetzt wollen wir lachen.« »Natürlich!« antwortete Raskolnikow. – Und was wirst du morgen sagen? – dachte er bei sich. Seltsam, bisher war ihm noch kein einziges Mal der Gedanke gekommen: Was wird Rasumichin sagen, wenn er es erfährt? Nachdem er sich dies gedacht hatte, blickte er Rasumichin durchdringend an. Der Bericht Rasumichins über seinen Besuch bei Porfirij interessierte ihn sehr wenig: so vieles war seit jener Zeit verschwunden, und so vieles war neu hinzugekommen! ... Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen: dieser war Punkt acht erschienen und suchte das Zimmer, und so traten sie alle drei zugleich ein, doch ohne einander anzusehen oder zu begrüßen. Die jungen Leute gingen zuerst hinein, Luschin blieb aber des Anstandes halber noch im Vorzimmer, wo er seinen Mantel auszog. Pulcheria Alexandrowna kam gleich heraus, um ihn auf der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder. Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen recht liebenswürdig, doch mit betonter Gesetztheit. Im übrigen sah er so aus, als wäre er noch ein wenig verwirrt und hätte die Fassung noch nicht ganz wiedererlangt. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls etwas verlegen schien, beeilte sich, alle um den runden Tisch herum zu verteilen, auf dem schon der Samowar kochte. Dunja und Luschin setzten sich einander gegenüber. Rasumichin und Raskolnikow kamen gegenüber Pulcheria Alexandrowna zu sitzen –, Rasumichin neben Luschin und Raskolnikow neben seiner Schwester. Es trat kurzes Schweigen ein. Pjotr Petrowitsch zog langsam ein Battisttaschentuch hervor, das einen Duft von Parfüm verbreitete, und schneuzte sich mit der Miene eines, wenn auch tugendhaften, doch in seiner Würde gekränkten Menschen, der dazu auch fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Ihm war schon im Vorzimmer der Gedanke gekommen, den Mantel nicht abzulegen und fortzugehen und so die Damen streng und eindringlich zu bestrafen, damit sie gleich alles fühlten. Aber er konnte sich dazu nicht entschließen. Außerdem liebte dieser Mensch keine Ungewißheit, hier aber harrte alles der Aufklärung: wenn sein Befehl so offensichtlich verletzt worden war, so mußte sicher etwas Besonderes vorliegen; darum war es besser, alles gleich zu erfahren; zu bestrafen hatte er immer noch Zeit, und es lag ja auch in seiner Hand. »Ich hoffe, die Reise ist glücklich verlaufen?« wandte er sich sehr offiziell an Pulcheria Alexandrowna. »Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.« »Sehr angenehm. Auch Awdotja Romanowna sind nicht ermüdet?« »Ich bin jung und kräftig und werde nicht müde, aber die Mama hatte es sehr schwer«, antwortete Dunjetschka. »Was ist zu machen; unsere Nationalbahnen haben so lange Strecken. Groß ist das sogenannte ›Mütterchen Rußland‹ ... Ich konnte aber gestern beim besten Willen nicht auf den Bahnhof kommen. Ich hoffe, alles ist doch ohne besondere Ungelegenheiten abgelaufen?« »Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr entmutigt«, erklärte Pulcheria Alexandrowna schnell und mit besonderer Betonung, »und wenn uns gestern der liebe Gott selbst nicht den Dmitrij Pokrofjitsch geschickt hätte, so wären wir verloren. Das ist Herr Dmitrij Pokrofjitsch Rasumichin«, fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend. »Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern«, murmelte Luschin und schielte feindselig nach Rasumichin. Dann machte er ein finsteres Gesicht und verstummte. Pjotr Petrowitsch gehörte überhaupt zu den Leuten, die in der Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig erscheinen und auch besonderen Anspruch auf liebenswürdige Behandlung erheben, die aber, wenn ihnen etwas nicht paßt, sofort alle ihre Vorzüge verlieren und eher Mehlsäcken gleichen, als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren. Alle verstummten wieder: Raskolnikow schwieg hartnäckig, Awdotja Romanowna wollte das Schweigen zunächst nicht brechen, Rasumichin wußte nicht, was zu sagen, so daß Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig wurde. »Marfa Petrowna ist gestorben, haben Sie es schon gehört?« fing sie an, gleich zum Hauptthema greifend. »Gewiß, ich habe es schon gehört. Mich erreichte gleich das erste Gerücht, und ich bin sogar jetzt hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow sich sofort nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg begeben hat. So lauten wenigstens die zuverlässigen Nachrichten, die ich erhalten habe.« »Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunjetschka unruhig und wechselte mit der Mutter einen Blick. »Jawohl, und natürlich nicht ohne Absichten, wenn man die Schnelligkeit seiner Abreise und überhaupt alle vorhergegangenen Umstände in Betracht zieht.« »Mein Gott! Wird er denn auch hier Dunjetschka nicht in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Mir scheint, daß Sie und Awdotja Romanowna keinen besonderen Grund zur Aufregung haben, natürlich, wenn Sie nicht selbst in irgendwelche Beziehungen zu ihm treten wollen. Was mich betrifft, so forsche ich jetzt nach, wo er abgestiegen ist.« »Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie werden mir nicht glauben, wie Sie mich erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir so schrecklich, so schrecklich! Ich bin überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.« »Darüber kann man nichts sagen. Ich habe die genauesten Berichte. Ich will nicht bestreiten, vielleicht hat er den Gang der Ereignisse sozusagen durch den moralischen Einfluß einer Kränkung beschleunigt; was aber das Benehmen und überhaupt die sittliche Charakteristik dieses Menschen betrifft, so bin ich mit Ihnen einverstanden. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und was ihm Marfa Petrowna vermacht hat; das werde ich in kürzester Zeit in Erfahrung bringen; doch hier in Petersburg wird er, wenn er nur irgendwelche Geldmittel hat, natürlich sofort seine alte Lebensweise wieder aufnehmen. Er ist der ausschweifendste und in alle Laster versunkenste Mensch von allen Menschen dieser Art! Ich habe einen triftigen Grund zur Annahme, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu verlieben und ihn aus dem Schuldgefängnis loszukaufen, ihm auch noch einen anderen Dienst erwiesen hat: ausschließlich dank ihren Bemühungen und Opfern wurde eine kriminelle Sache mit dem Beigeschmack einer tierischen und sozusagen phantastischen Mordtat, für die er höchstwahrscheinlich einen Ausflug nach Sibirien hätte ma chen müssen, gleich im Keime erstickt. So ein Mensch ist er, wenn Sie es wissen wollen.« »Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. Raskolnikow hörte aufmerksam zu. »Ist es wahr, daß Sie darüber sichere Nachrichten besitzen?« fragte Dunja streng und mit Nachdruck. »Ich sage nur das, was ich selbst unter Diskretion von der seligen Marfa Petrowna gehört habe. Es ist zu bemerken, daß die Sache vom juristischen Standpunkte aus sehr dunkel ist. Hier lebte und lebt, glaube ich, auch jetzt noch eine gewisse Rößlich, eine Ausländerin, die nicht nur kleine Wuchergeschäfte betreibt, sondern sich auch noch mit anderen Diagen befaßt. Zu dieser Rößlich unterhielt Herr Swidrigailow seit langem gewisse, sehr intime und geheimnisvolle Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte von ihr, ich glaube eine Art Nichte, ein taubstummes Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte und der sie jeden Bissen vorwarf; sie schlug sie auch unmenschlich. Eines Tages fand man das Kind erhängt auf dem Dachboden. Man stellte Selbstmord fest. Nach Erledigung der üblichen Formalitäten war die Sache begraben, aber später kam eine Denunziation, daß das Kind von Herrn Swidrigailow ... grausam mißhandelt worden sei. Die Sache war allerdings sehr dunkel, die Denunziation rührte von einer anderen Deutschen her, einer übelbeleumundeten und kein Vertrauen genießenden Person; schließlich wurde auch die Denunziation dank den Bemühungen und dem Gelde Marfa Petrownas zurückgezogen; alles beschränkte sich auf ein leeres Gerücht. Dieses Gerücht war aber sehr vielsagend. Sie haben wohl sicher von der Geschichte gehört, Awdotja Romanowna, die er mit seinem Diener Philipp hatte, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge von Mißhandlungen gestorben ist.« »Ich hörte im Gegenteil, daß dieser Philipp sich selbst erhängt habe.« »Das stimmt, doch nur das ununterbrochene System von Verfolgungen und Strafen des Herrn Swidrigailow hat ihn zum Selbstmorde bewogen oder vielmehr gezwungen.« »Ich weiß es nicht«, antwortete Dunja trocken. »Ich habe nur eine sehr merkwürdige Geschichte gehört, daß dieser Philipp ein Hypochonder gewesen sei, ein hausbackener Philosoph; die Leute sagten, er hätte zu viel gelesen und habe sich eher wegen der Verhöhnung als wegen der Mißhandlung durch Herrn Swidrigailow erhängt. Als ich in seinem Hause war, behandelte er die Leute sehr gut, und die Leute liebten ihn, obwohl sie ihm die Schuld am Tode Philipps zuschrieben.« »Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie plötzlich irgendwie geneigt sind, ihn zu verteidigen«, bemerkte Luschin, den Mund zu einem doppelsinnigen Lächeln verziehend. »Er ist in der Tat ein schlauer und für die Frauen verführerischer Mensch, wofür Marfa Petrowna, die auf eine so sonderbare Art gestorben ist, ein beklagenswertes Beispiel bietet. Ich wollte nur Ihnen und Ihrer Mama angesichts seiner neuen, von ihm zweifellos zu erwartenden Attentate mit meinem Ratschlage dienen. Was aber mich betrifft, so bin ich fest überzeugt, daß dieser Mensch ganz sicher wieder im Schuldgefängnis verschwinden wird. Marfa Petrowna hatte durchaus nicht die Absicht, ihr Vermögen ihm zu verschreiben, da sie ihre Kinder im Auge hatte, und wenn sie ihm überhaupt etwas vermacht hat, dann nur das Notwendigste, eine Kleinigkeit, etwas Ephemeres, was einem Menschen mit seinen Gewohnheiten auch nicht für ein Jahr langen wird.« »Pjotr Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »sprechen wir nicht mehr von Herrn Swidrigailow. Das macht mich trübsinnig.« »Er hat mich soeben besucht«, sagte plötzlich Raskolnikow, zum erstenmal das Schweigen brechend. Von allen Seiten tönten Ausrufe, und alle wandten sich an ihn. Selbst Pjotr Petrowitsch wurde unruhig. »Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, trat er ein, weckte mich und stellte sich mir vor«, fuhr Raskolnikow fort. »Er war recht heiter und ungezwungen und hofft sicher darauf, daß wir uns noch näherkommen werden. Unter anderem bittet er sehr um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und ersucht mich, der Vermittler bei dieser Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dieses Anerbieten besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem hat er mir positiv erklärt, daß Marfa Petrowna eine Woche vor ihrem Tode Zeit gefunden habe, dir, Dunja, dreitausend Rubel testamentarisch zu vermachen, und daß du dieses Geld in kürzester Zeit bekommen kannst.« »Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna aus und bekreuzte sich. »Bete für sie, Dunja, bete für sie!« »Es ist wirklich wahr«, entschlüpfte es Luschin. »Nun, und was weiter?« drängte Dunjetschka. »Dann sagte er mir, daß er selbst nicht reich sei und daß das ganze Gut seinen Kindern zufalle, die jetzt bei der Tante sind. Dann, daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, doch wo – weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...« »Aber was, was will er Dunjetschka anbieten?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. »Hat er es dir gesagt?« »Ja, er hat es mir gesagt.« »Was ist es denn?« »Das werde ich später sagen.« Raskolnikow verstummte und wandte sich seinem Tee zu. Pjotr Petrowitsch holte seine Uhr hervor und sah nach der Zeit. »Ich muß geschäftlich fortgehen, und so werde ich nicht länger stören«, fügte er etwas pikiert hinzu und erhob sich von seinem Stuhl. »Bleiben Sie, Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunja. »Sie hatten doch die Absicht, den ganzen Abend bei uns zu bleiben. Außerdem schrieben Sie doch selbst, daß Sie mit Mama etwas zu besprechen hätten.« »Das stimmt, Awdotja Romanowna«, versetzte Pjotr Petrowitsch mit Nachdruck, indem er sich wieder auf den Stuhl setzte, aber den Hut in der Hand behielt. »Ich wollte mich wirklich mit Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Mama über einige sogar sehr wichtige Punkte aussprechen. Doch ebenso wie Ihr Bruder sich in meiner Anwesenheit nicht über einige Vorschläge des Herrn Swidrigailow äußern kann, so will auch ich mich nicht ... in Gegenwart anderer ... über gewisse außerordentlich wichtige Punkte aussprechen. Außerdem wurde meine wichtigste und eindringlichste Bitte nicht beachtet ...« Luschin nahm eine bittere Miene an und verstummte würdevoll. »Ihre Bitte, daß mein Bruder unserer Zusammenkunft nicht beiwohne, wurde einzig auf mein inständiges Verlangen nicht erfüllt«, sagte Dunja. »Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden seien; ich glaubte, das sollte sofort aufgeklärt werden, und Sie müßten sich vertragen. Wenn Rodja Sie wirklich beleidigt hat, so muß und wird er Sie um Entschuldigung bitten.« Pjotr Petrowitsch stieg sofort aufs hohe Roß. »Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. Alles hat seine Grenze, die zu überschreiten gefährlich ist; denn hat man sie einmal überschritten, so kann man nicht mehr zurück.« »Ich sprach eigentlich nicht davon, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja mit einiger Ungeduld. »Begreifen Sie doch, daß unsere ganze Zukunft nur davon abhängt, ob dies alles sich möglichst schnell aufklärt und in Ordnung kommt oder nicht. Ich sage Ihnen gleich, daß ich die Sache anders nicht ansehen kann, und wenn Sie mich auch nur ein wenig schätzen, so muß diese ganze Geschichte, und wenn es Ihnen auch noch so schwer fällt, erledigt werden. Ich wiederhole: wenn mein Bruder die Schuld hat, so wird er Sie um Verzeihung bitten.« »Ich wundere mich, daß Sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna«, sagte Luschin, der immer gereizter wurde. »Wenn ich Sie schätze und sozusagen verehre, so kann ich doch zugleich auch jemand von Ihren Angehörigen gar nicht schätzen. Wenn ich mich um das Glück, Ihre Hand zu besitzen, bewerbe, brauche ich doch nicht Verpflichtungen auf mich zu nehmen, die unvereinbar sind mit – –« »Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Pjotr Petrowitsch,« unterbrach ihn Dunja mit Gefühl, »und seien Sie jener kluge und edle Mensch, für den ich Sie immer hielt und immer halten will. Ich gab Ihnen ein großes Versprechen, ich bin Ihre Braut; vertrauen Sie sich mir in dieser Sache an und glauben Sie mir, daß ich die Kraft haben werde, unparteiisch zu richten. Daß ich das Richteramt übernehme, ist für meinen Bruder ebenso überraschend wie für Sie. Als ich ihn heute, nach Ihrem Brief, aufforderte, unbedingt zu dieser Zusammenkunft zu kommen, teilte ich ihm nichts von meinen Absichten mit. Begreifen Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht vertragen, ich gezwungen sein werde, zwischen Ihnen beiden zu wählen! Entweder Sie oder er! So lautet nun die Frage wie von Ihrer so auch von meiner Seite. Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit meinem Bruder brechen; und meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. Ich will und kann jetzt sicher feststellen: ob er mir ein Bruder ist. Und von Ihnen: ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen, ob Sie der passende Gatte für mich sind.« »Awdotja Romanowna,« sagte Luschin peinlich berührt, »Ihre Worte sind für mich zu bedeutungsvoll, ich sage mehr: sie sind sogar kränkend in Anbetracht der Stellung, die ich Ihnen gegenüber einzunehmen die Ehre habe. Schon ganz abgesehen von der sonderbaren und für mich kränkenden Gegenüberstellung zwischen mir ... und einem anmaßenden Jüngling, lassen Sie in Ihren Worten auch die Möglichkeit zu, daß Sie das mir gegebene Versprechen brechen. Sie sagen: ›Entweder Sie oder er‹, – damit zeigen Sie mir, wie wenig ich für Sie bedeute ... Das kann ich nicht dulden bei den Beziehungen und ... Verpflichtungen, die zwischen uns bestehen.« »Wie!« fuhr Dunja auf. »Ich setze Ihre Interessen auf eine Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer war, was bisher mein ganzes Leben ausmachte, und plötzlich sind Sie gekränkt, daß ich Sie zu wenig schätze?!« Raskolnikow lächelte schweigend und giftig, Rasumichin war ganz außer sich, aber Pjotr Petrowitsch nahm diese Entgegnung nicht an; im Gegenteil, er wurde mit jedem Worte zudringlicher und gereizter, als bekäme er allmählich Geschmack daran. »Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Gatten muß die Liebe zum Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »aber ich kann in keinem Falle auf der gleichen Stufe mit ihm stehen ... Obwohl ich vorhin darauf bestand, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders das, weswegen ich gekommen bin, zu erklären weder wünsche noch kann, habe ich dennoch die Absicht, mich jetzt gleich an Ihre hochverehrte Frau Mutter zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und für mich verletzenden Punkt herbeizuführen. Ihr Sohn«, wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin« (oder ... ich glaube, Sie heißen so? Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen, wandte er sich mit einer höflichen Verbeugung an Rasumichin), »hat mich gestern durch die Verdrehung eines Gedankens von mir verletzt, den ich Ihnen damals in einem Privatgespräch am Kaffeetisch mitgeteilt habe, nämlich, daß die Heirat mit einem armen jungen Mädchen, das das Ungemach des Lebens schon gekostet hat, in ehelicher Beziehung meiner Ansicht nach viel vorteilhafter sei als die Verbindung mit einem Mädchen, das im Wohlstand aufgewachsen ist, denn das erstere ist für die Moral zuträglicher. Ihr Sohn hat die Bedeutung meiner Worte absichtlich ins Sinnlose übertrieben und mir die böswilligsten Absichten zugeschrieben, und dies, wie ich glaube, auf Grund Ihrer Korrespondenz. Ich werde mich glücklich schätzen, Pulcheria Alexandrowna, wenn es Ihnen gelingt, mich vom Gegenteil zu überzeugen und dadurch zu beruhigen. Sagen Sie mir nun, bitte: in welchen Ausdrücken haben Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch wiedergegeben?« »Ich erinnere mich nicht mehr,« antwortete Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich habe sie ihm so wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich weiß nicht, wie Rodja sie Ihnen wiedergegeben hat ... Vielleicht hat er einiges übertrieben.« »Ohne Beeinflussung durch Sie konnte er doch nichts übertreiben.« »Pjotr Petrowitsch,« sagte Pulcheria Alexandrowna mit Würde, »der Beweis dafür, daß Dunja und ich Ihre Worte nicht in einem sehr schlimmen Sinne aufgefaßt haben, ist, daß wir hier sind.« »Sehr gut, Mamachen!« billigte Dunja ihre Worte. »Also bin ich auch daran schuld!« versetzte Luschin gekränkt. »Nun sehen Sie, Pjotr Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, haben aber neulich selbst über ihn in Ihrem Briefe die Unwahrheit geschrieben«, fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu. »Ich kann mich nicht erinnern, irgendeine Unwahrheit geschrieben zu haben.« »Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikow scharf, ohne sich zu Luschin umzuwenden, »ich hätte gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen, wie es in Wirklichkeit war, gegeben, sondern seiner Tochter (die ich bis gestern nie gesehen habe). Sie schrieben es, um mich mit meinen Angehörigen zu entzweien, und äußerten sich zu diesem Zwecke in den gemeinsten Ausdrücken auch über den Lebenswandel des jungen Mädchens, das Sie nicht kennen. Das ist Klatsch und eine Gemeinheit.« »Entschuldigen Sie, mein Herr«, antwortete Luschin, vor Wut zitternd. »In meinem Briefe äußerte ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen, nur um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter zu erfüllen, die mich baten, ihnen zu berichten, wie ich Sie gefunden hätte und welchen Eindruck Sie auf mich gemacht hätten. Was aber den Inhalt meines Briefs betrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile, das heißt, daß Sie das Geld nicht ausgegeben haben und daß in jener, wenn auch unglücklichen Familie, sich keine unwürdigen Personen befinden.« »Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen auch nicht den kleinen Finger des unglücklichen jungen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein werfen.« »Sie wären demnach bereit, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Schwester einzuführen?« »Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute neben meine Mama und Dunja gesetzt.« »Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. Dunjetschka errötete; Rasumichin zog die Brauen zusammen; Luschin lächelte giftig und hochmütig. »Nun belieben Sie es selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »ist hier eine Verständigung möglich? Ich hoffe jetzt, daß die Sache für immer aufgeklärt und erledigt ist. Ich aber ziehe mich jetzt zurück, um das weitere angenehme verwandtschaftliche Beisammensein und den Austausch von Geheimnissen nicht zu stören.« (Er erhob sich von seinem Stuhl und nahm den Hut.) »Bevor ich aber weggehe, erlaube ich mir die Hoffnung auszusprechen, in Zukunft von solchen Begegnungen und, sozusagen, Kompromissen befreit zu sein. Ganz besonders bitte ich Sie darum, hochverehrte Pulcheria Alexandrowna, um so mehr, als mein Brief an Sie und niemand anders adressiert war.« Pulcheria Alexandrowna fühlte sich etwas verletzt. »Sie wollen uns wohl ganz in Ihre Gewalt bekommen, Pjotr Petrowitsch. Dunja sagte Ihnen den Grund, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt wurde. Sie hatte doch gute Absichten. Auch schreiben Sie mir so, als erteilten Sie mir Befehle. Müssen wir denn jeden Ihrer Wünsche als einen Befehl auffassen? Ich möchte Ihnen aber im Gegenteil sagen: Sie müssen jetzt gegen uns besonders feinfühlend und nachsichtig sein, weil wir alles im Stich gelassen haben und, im Vertrauen auf Sie, hergekommen sind, uns also schon ohnehin in Ihrer Gewalt befinden.« »Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und am allerwenigsten in diesem Augenblick, wo Sie die Nachricht von den von Marfa Petrowna vermachten dreitausend Rubeln erhalten haben, die Ihnen anscheinend sehr zustatten kommen, wenigstens nach dem neuen Ton zu urteilen, in dem Sie mit mir sprechen«, fügte er bissig hinzu. »Nach dieser Bemerkung könnte man wirklich annehmen, daß Sie auf unsere Hilflosigkeit gerechnet haben«, bemerkte Dunja gereizt. »Jetzt wenigstens kann ich nicht mehr auf sie rechnen, am allerwenigsten möchte ich aber der Mitteilung der geheimen Anerbieten des Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow im Wege sein, mit denen er Ihren Bruder betraut hat und die, wie ich sehe, für Sie eine gewichtige und vielleicht auch höchst angenehme Bedeutung haben.« »Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. Rasumichin konnte kaum stillsitzen. »Schämst du dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikow. »Ich schäme mich, Rodja«, sagte Dunja. »Pjotr Petrowitsch, gehen Sie hinaus!« wandte sie sich an ihn, ganz blaß vor Wut. Pjotr Petrowitsch hatte mit einem solchen Ende wohl nicht gerechnet. Er hatte zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und auf die Hilflosigkeit seiner Opfer gebaut. Er konnte es auch jetzt noch nicht glauben. Er erbleichte, und seine Lippen zitterten. »Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt durch diese Tür, mit diesen Ihren Abschiedsworten das Zimmer verlasse, so – rechnen Sie darauf – komme ich nie wieder. Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unabänderlich!« »Was für eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platz. »Ich will ja auch gar nicht, daß Sie wiederkommen!« »Wie! So stehen also die Sachen!« rief Luschin, der bis zum letzten Augenblick an einen solchen Ausgang nicht geglaubt und daher nun den Faden vollkommen verloren hatte. »So stehen also die Sachen! Wissen Sie aber, Awdotja Romanowna, daß ich auch protestieren könnte?!« »Welch ein Recht haben Sie, so mit ihr zusprechen?!« mischte sich Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Womit können Sie protestieren? Und was haben Sie für Rechte? Werde ich denn meine Dunja einem solchen Menschen, wie Sie es sind, geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns ganz! Wir sind selbst schuld, daß wir auf eine solche ungerechte Sache eingegangen sind, und am meisten ich ...« »Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in seiner Wut, »Sie haben mich aber durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen ... und, und schließlich ... schließlich habe ich auch sozusagen Unkosten gehabt ...« Dieser letzte Einwand entsprach dermaßen dem Charakter Pjotr Petrowitschs, daß Raskolnikow, der vor Wut und vor Anstrengung, die Wut zurückzuhalten, ganz blaß geworden war, sich plötzlich nicht mehr beherrschen konnte und laut auflachte. Aber Pulcheria Alexandrowna geriet ganz aus der Fassung. »Unkosten? Was für Unkosten? Sprechen Sie vielleicht von unserem Koffer? Den hat ja ein Schaffner umsonst hergebracht! Mein Gott, jetzt sollen wir Sie auch noch gebunden haben! Bedenken Sie doch, Pjotr Petrowitsch, daß Sie uns an Händen und Füßen gebunden haben, und nicht wir Sie!« »Genug, Mamachen, bitte, genug!« flehte Awdotja Romanowna. »Pjotr Petrowitsch, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie weg!« »Ich gehe schon weg, aber nur noch ein letztes Wort!« sagte er außer sich. »Ihre Frau Mama scheint ganz vergessen zu haben, daß ich mich entschlossen hatte, Sie zu nehmen, obwohl im ganzen Kreise Gerüchte über Ihren Ruf im Umlauf waren. Indem ich um Ihretwillen die öffentliche Meinung mißachtete und Ihren Ruf wiederherstellte, durfte ich natürlich durchaus auf eine Vergeltung hoffen und sogar Dankbarkeit von Ihnen verlangen ... Jetzt erst sind mir die Augen aufgegangen! Ich sehe selbst, daß ich vielleicht äußerst leichtsinnig gehandelt habe, als ich mich über die öffentliche Meinung hinwegsetzte ...« »Hat er denn einen Kopf zuviel?!« rief Rasumichin, vom Stuhl aufspringend, bereit, mit Luschin abzurechnen. »Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja. »Kein Wort! Keine Bewegung!« rief Raskolnikow, Rasumichin zurückhaltend. Dann trat er ganz dicht an Luschin heran und sagte leise und jedes Wort betonend: »Gehen Sie sofort hinaus! Und kein Wort mehr, oder ...« Pjotr Petrowitsch sah ihn einige Sekunden mit bleichem, vor Wut verzerrtem Gesicht an, drehte sich um und ging hinaus, und sicher hat kaum je ein Mensch in seinem Herzen so viel Haß und Bosheit davongetragen wie dieser Luschin gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein schob er die ganze Schuld zu. Merkwürdig ist, daß er, als er die Treppe hinunterging, sich immer noch einbildete, daß die Sache vielleicht noch gar nicht verloren und, in bezug auf die Damen allein, sogar noch sehr reparabel sei. 3. III Er hatte nämlich bis zuletzt einen solchen Ausgang nicht erwartet. Er benahm sich bis zum letzten Augenblick herausfordernd, ohne sogar die Möglichkeit anzunehmen, daß die beiden armen und schutzlosen Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser Uberzeugung trugen sehr seine Eitelkeit und sein übertriebenes Selbstvertrauen bei, das am besten Selbstverliebtheit zu nennen wäre. Pjotr Petrowitsch, der sich seinen Weg aus kleinen Verhältnissen selbst gebahnt hatte, besaß die krankhafte Angewohnheit, sich selbst zu bewundern, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein und betrachtete sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Wohlgefallen im Spiegel. Über alles in der Welt liebte und schätzte er aber sein durch Arbeit und alle möglichen Mittel erworbenes Geld: es stellte ihn auf die gleiche Stufe mit allem, was höher war als er. Als er Dunja mit solcher Bitterkeit daran erinnerte, daß er sich entschlossen habe, sie trotz des schlechten Rufes zu nehmen, sprach Pjotr Petrowitsch vollkommen aufrichtig und empfand sogar eine tiefe Empörung über solchen »schwarzen Undank«. Und doch war er, als er um Dunja freite, vollkommen von der Haltlosigkeit aller Klatschgeschichten überzeugt, die schon von Marfa Petrowna öffentlich widerrufen und vom ganzen Städtchen, das warm für Dunja eintrat, vergessen worden waren. Er würde auch jetzt nicht bestreiten, daß er dies alles schon damals gewußt hatte. Und doch bildete er sich auf seinen Entschluß, Dunja zu sich emporzuheben, sehr viel ein und hielt ihn für eine Heldentat. Als er dies eben Dunja sagte, äußerte er nur seinen geheimen, längst gehegten Gedanken, der ihm schon mehr als einmal Freude gemacht hatte, und konnte nicht verstehen, wie die anderen seiner Tat ihre Bewunderung versagen konnten. Als er damals Raskolnikow besuchte, war er mit den Gefühlen eines Wohltäters gekommen, welcher bereit ist, die Früchte zu ernten und äußerst angenehme Komplimente zu hören. Natürlich hielt er sich jetzt, als er die Treppe hinunterging, für im höchsten Grade beleidigt und verkannt. Dunja hatte er einfach notwendig; auf sie zu verzichten, erschien ihm undenkbar. Schon längst, seit mehreren Jahren spielte er mit dem Gedanken, sich zu verheiraten, sparte aber noch immer Geld und wartete. Er dachte im geheimen mit Wonne an ein wohlgesittetes und armes (unbedingt armes), sehr junges, sehr hübsches, edles und gebildetes, sehr eingeschüchtertes Mädchen, das viel Ungemach erfahren habe und sich vor ihm in Demut beuge, an eines, das ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter ansehen, ihn anbeten, sich ihm unterwerfen und ihn bewundern würde, nur ihn allein. Wieviel Szenen, wieviel süßeste Episoden schuf er in seiner Phantasie über dieses verführerische und aufregende Thema, wenn er in der Stille von seinen Geschäften ausruhte! Und nun sollte der Traum so vieler Jahre bald in Erfüllung gehen: die Schönheit und die Bildung Awdotja Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs äußerste. Hier lag sogar noch mehr vor, als er sich ausmalte: es war ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes junges Mädchen, das an Erziehung und Intelligenz viel höher stand als er (er fühlte das), und dieses Wesen würde ihm ihr ganzes Leben lang für seine Tat dankbar sein und sich demütig vor ihm beugen, er aber würde grenzenlos und unbeschränkt über sie herrschen! ... Zufällig hatte er kurz vorher nach vielen Überlegungen und langem Warten sich entschlossen, seine Karriere zu ändern und in einen größeren Wirkungskreis zu treten, zugleich aber allmählich in die höheren Gesellschaftskreise zu gelangen, an die er schon lange mit Wollust dachte ... Mit einem Worte, er hatte sich entschlossen, die Annehmlichkeiten Petersburgs zu kosten. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel erreichen kann. Der Zauber einer schönen, tugendhaften und gebildeten Frau würde seinen Weg außerordentlich verschönen, andere Leute an ihn heranziehen und ihm eine Glorie schaffen ... und dieses stürzte jetzt zusammen! Dieser plötzliche häßliche Bruch wirkte auf ihn wie ein Donnerschlag. Was war das doch für ein häßlicher Scherz, was für ein Unsinn! Er hatte doch nur ein bißchen wichtig getan, er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich ganz auszusprechen, er hatte bloß gescherzt, hatte sich hinreißen lassen, und alles nahm plötzlich ein so ernstes Ende! Schließlich hatte er doch Dunja sogar auf seine Art geliebt, hatte schon über sie in seinen Träumen geherrscht, und plötzlich! ... Nein! Morgen, morgen schon muß er alles wiederherstellen, reparieren, in Ordnung bringen, vor allen Dingen aber diesen anmaßenden grünen Jungen, der an allem die Schuld hat, vernichten. Mit schmerzvollem Unbehagen erinnerte er sich plötzlich unwillkürlich Rasumichins ... aber in dieser Beziehung beruhigte er sich bald wieder: Es fehlte noch, daß man auch diesen Kerl auf eine Stufe mit ihm stellte! Wen er aber ernsthaft fürchtete, das war Swidrigailow ... Mit einem Wort: es standen ihm noch viele Scherereien bevor. – »Nein, ich hin mehr als alle schuld!« sagte Dunjetschka, indem sie ihre Mutter umarmte und küßte. »Ich ließ mich von seinem Gelde verlocken, aber ich schwöre, Bruder, ich ahnte gar nicht, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn vorher durchschaut, so hätte ich mich um keinen Preis verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!« »Gott hat uns errettet! Gott hat uns errettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna, doch irgendwie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz erfaßt, was sich eben zugetragen hatte. Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Nur Dunjetschka erbleichte noch ab und zu und runzelte die Brauen, wenn sie sich des Vorgefallenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte sich niemals gedacht, daß auch sie sich freuen würde: der Bruch mit Luschin war ihr noch heute früh als ein schreckliches Unglück erschienen, Rasumichin aber war entzückt. Er wagte noch nicht, es ganz zu äußern, zitterte aber am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm eine fünf Zentner schwere Last vom Herzen gefallen. Nun hatte er das Recht, ihnen sein ganzes Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... Und überhaupt jetzt! ... Übrigens jagte er jetzt noch ängstlicher alle Zukunftsgedanken von sich und fürchtete sich vor seiner Phantasie. Nur Raskolnikow allein saß noch immer auf dem gleichen Fleck, fast düster und sogar zerstreut. Er, der auf die Entfernung Luschins mehr als alle bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja mußte unwillkürlich denken, daß er ihr noch immer sehr zürne, und Pulcheria Alexandrowna beobachtete ihn ängstlich. »Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, an ihn herantretend. »Ach, ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. Raskolnikow hob den Kopf. »Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert zugleich den Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sprechen.« »Sie sprechen! Um nichts in der Welt!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Und wie wagt er nur, ihr Geld anzubieten!« Raskolnikow teilte darauf (ziemlich trocken) sein ganzes Gespräch mit Swidrigailow mit, verschwieg aber das von den Besuchen der verstorbenen Marfa Petrowna, um nicht auf ein abseits liegendes Thema abzuschweifen und da er einen Widerwillen empfand, über irgend etwas außer dem Notwendigsten zu sprechen. »Was hast du ihm darauf geantwortet?« fragte Dunja. »Zuerst sagte ich ihm, daß ich dir nichts mitteilen würde. Darauf erklärte er, daß er selbst mit allen Mitteln versuchen würde, eine Zusammenkunft herbeizuführen. Er behauptete, daß seine Leidenschaft zu dir eine Dummheit gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt sehr verworren.« »Wie erklärst du es dir selbst, Rodja? Wie kam er dir vor?« »Offen gestanden, verstehe ich ihn nicht recht. Er bietet dir zehntausend Rubel an, sagt aber dabei, daß er nicht reich sei. Er sagt, daß er eine Reise unternehmen möchte, und vergißt schon nach zehn Minuten, daß er das gesagt hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten wolle und daß man ihm schon eine Partie anbiete ... Sicherlich hat er seine Absichten und wahrscheinlich recht schlimme. Andererseits wäre es doch sonderbar, anzunehmen, daß er die Sache so dumm anfassen würde, wenn er schlimme Absichten dir gegenüber hätte ... Ich habe mich natürlich in deinem Namen ein für allemal geweigert, das Geld anzunehmen. Überhaupt kam er mir sehr merkwürdig vor und ... sogar ... mit Anzeichen von Geistesstörung. Ich kann mich aber auch geirrt haben; vielleicht ist das Ganze eine Art Schwindel. Der Tod Marfa Petrownas scheint aber einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...« »Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Ewig, ewig werde ich für sie zu Gott beten! ... Was wäre jetzt mit uns ohne diese dreitausend Rubel, Dunja! Mein Gott, das Geld ist wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, heute früh hatten wir nur noch drei Rubel und dachten beide daran, wie wir die Uhr irgendwo versetzen könnten, um nur kein Geld von ihm zu erbitten, bis es ihm selbst einfallen würde ...« Dunja war vom Anerbieten Swidrigailows überrascht. Sie stand die ganze Zeit nachdenklich da. »Er hat wieder etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im Flüsterton zu sich selbst und fuhr zusammen. Raskolnikow bemerkte diese übertriebene Furcht. »Ich glaube, ich werde ihn noch mehr als einmal sehen«, sagte er zu Dunja. »Wir wollen auf der Hut sein! Ich werde ihm schon auf die Spur kommen!« rief Rasumichin energisch. »Ich lasse ihn nicht aus den Augen! Rodja hat es erlaubt. Er hat mir vorhin selbst gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und Sie, werden Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?« Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber der besorgte Ausdruck wich nicht von ihrem Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie ab und zu schüchtern an; die dreitausend Rubel hatten sie übrigens sichtlich beruhigt. Nach einer Viertelstunde befanden sich alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar Raskolnikow beteiligte sich zwar nicht am Gespräch, hörte aber einige Zeit aufmerksam zu. Rasumichin führte das große Wort. »Aber warum, warum sollen Sie fortreisen?« ergoß er sich berauscht in begeisterter Rede. »Und was werden Sie in Ihrem kleinen Nest treiben? Die Hauptsache ist doch, daß Sie hier alle zusammen sind und einander brauchen. – Sie brauchen einander so notwendig, begreifen Sie mich doch! Nun, wenigstens eine Zeitlang ... Mich aber nehmen Sie als einen Freund, als einen Kompagnon auf, und ich versichere Ihnen, wir gründen ein ausgezeichnetes Unternehmen. Hören Sie, ich will Ihnen alles ganz genau erklären, – das ganze Projekt! Es schwebte mir schon am Morgen, als noch nichts geschehen war, vor ... Es handelt sich um folgendes: Ich habe einen Onkel (ich will Sie mit ihm bekannt machen: ein sehr vernünftiger und sehr achtbarer alter Herr!), und dieser Onkel besitzt tausend Rubel Kapital; er selbst lebt von seiner Pension und braucht sonst nichts. Schon das zweite Jahr setzt er mir zu, daß ich mir diese tausend Rubel nehme und ihm sechs Prozent Zinsen dafür zahle. Ich weiß ja, was er sich dabei denkt: er will mir einfach helfen; im vorigen Jahre brauchte ich das Geld nicht, aber in diesem Jahre wartete ich nur auf seine Ankunft und entschloß mich, das Geld zu nehmen. Dann geben Sie das zweite Tausend von Ihrem Geld her, das genügt für den Anfang, und wir gründen ein Kompagniegeschäft. Was fangen wir nun an?« Rasumichin begann sein Projekt zu entwickeln und redete viel davon, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer Ware verstünden und daß sie darum auch gewöhnlich schlechte Verleger seien, während gute Bücher sich im allgemeinen bezahlt machten und zuweilen einen nicht unbedeutenden Nutzen abwürfen. Rasumichin dachte an die Verlegertätigkeit, da er schon seit zwei Jahren für andere Verleger gearbeitet hatte und recht gut drei europäische Sprachen beherrschte, obwohl er Raskolnikow vor sechs Tagen erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« sei; doch nur um ihn zu überreden, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow wußte es. »Warum, warum sollen wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, wenn wir eines der wichtigsten Mittel, nämlich Geld besitzen?« ereiferte sich Rasumichin. »Natürlich, man muß auch viel arbeiten, und wir werden auch viel arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche Bücher werfen jetzt einen schönen Nutzen ab! Die Grundlage des Unternehmens aber ist, daß wir wissen werden, was zu übersetzen ist. Wir werden übersetzen und verlegen und studieren, alle zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe die Erfahrung. Seit zwei Jahren laufe ich von einem Verleger zum anderen und kenne ihr ganzes Geschäft: es sind keine Heiligen, die die Töpfe brennen, glauben Sie es mir! Und warum soll man auch den Bissen an seinem Munde vorbeigehen lassen? Ich selbst kenne zwei oder drei Werke, die ich geheim halte: für die Idee allein, sie zu übersetzen und herauszugeben, kann man hundert Rubel für jedes Buch bekommen; für die eine Idee würde ich nicht mal fünfhundert Rubel nehmen. Und was glauben Sie: wenn ich es jemand sage, so wird er vielleicht noch Zweifel haben, es sind doch solche Dummköpfe! Und was die eigentlichen geschäftlichen Scherereien betrifft mit der Druckerei, dem Papier und Verkauf, so überlassen Sie es mir! Ich kenne alle Schliche. Wir fangen mit Kleinem an und erreichen Großes, wir werden davon wenigstens leben können und unser Geld auf jeden Fall zurückerhalten.« Dunjas Augen leuchteten. »Was Sie da sagen, gefällt mir sehr, Dmitrij Pokrofjitsch!« sagte sie. »Ich verstehe davon natürlich gar nichts,« versetzte Pulcheria Alexandrowna, »vielleicht ist es auch sehr schön, aber Gott allein weiß es. Die Sache ist neu und unbekannt. Natürlich müssen wir noch hier bleiben, wenigstens eine Zeitlang ...« Sie blickte Rodja an. »Was denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja. »Ich denke, daß er einen sehr guten Gedanken hat«, antwortete er. »An eine Firma soll man natürlich vorher nicht denken, aber fünf oder sechs Bücher kann man wirklich mit sicherem Erfolg herausgeben. Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und was die Frage betrifft, ob er das Geschäft zu leiten versteht, so kann darüber kein Zweifel sein; er versteht die Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch über alles zu einigen ...« »Hurra!« rief Rasumichin. »Wartet nur, es gibt hier in diesem selben Hause bei denselben Wirtsleuten eine freie Wohnung. Es ist eine abgeschlossene Wohnung, die mit diesen möblierten Zimmern nicht zusammenhängt, drei Stuben mit Möbeln, der Preis ist mäßig. Für den Anfang nehmen Sie diese Wohnung. Die Uhr will ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und das Weitere wird schon werden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie jetzt alle drei zusammen wohnen können, und auch Rodja mit Ihnen. Wo willst du denn hin, Rodja?« »Wie, Rodja, du gehst schon weg?« fragte Pulcheria Alexandrowna sogar erschrocken. »In einem solchen Augenblick!« rief Rasumichin aus. Dunja sah ihren Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hatte die Mütze in der Hand und wollte fortgehen. »Es ist, als ob ihr mich beerdigt oder euch von mir für alle Ewigkeit verabschiedet«, sagte er sonderbar. Er schien zu lächeln, aber es war anscheinend gar kein Lächeln. »Wer weiß, vielleicht sehen wir uns wirklich zum letztenmal«, entschlüpfte es ihm plötzlich. Eigentlich dachte er es nur, aber die Worte kamen ihm ganz von selbst von den Lippen. »Was ist mit dir?« rief die Mutter. »Wo gehst du denn hin, Rodja?« fragte Dunja eigentümlich. »So, ich muß dringend gehen«, sagte er verlegen, als schwankte er noch, was er zu sagen hätte; doch sein bleiches Gesicht drückte eine feste Entschlossenheit aus. »Ich wollte sagen ... als ich herging ... ich wollte Ihnen sagen, Mamachen ... und auch dir, Dunja, daß es für uns das beste wäre, uns für eine Zeitlang zu trennen. Ich fühle mich nicht wohl und bin unruhig ... ich werde später wiederkommen, ich werde selbst kommen, wenn ... wenn ich es kann. Ich denke an euch und liebe euch ... Laßt mich! Laßt mich allein! So habe ich schon früher beschlossen ... Ich habe es fest beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich ganz. So ist es besser ... Erkundigt euch nicht nach mir. Wenn es mal nötig ist, werde ich selbst kommen ... oder euch rufen. Vielleicht wird es noch eine Auferstehung geben! ... Jetzt aber, wenn ihr mich liebt, sagt euch von mir los ... Sonst werde ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!« »Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna. Mutter und Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin ebenfalls. »Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen die Früheren sein!« rief die arme Mutter. Er wandte sich langsam zur Tür und verließ langsam das Zimmer. Dunja holte ihn ein. »Bruder! Was tust du unserer Mutter an!« flüsterte sie, und ihre Augen funkelten vor Empörung. Er sah sie starr an. »Macht nichts, ich werde kommen, ich werde euch besuchen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich nicht ganz bewußt, was er sagen wolle, und verließ das Zimmer. »Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja aus. »Er ist verrückt und nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie es denn nicht? Dann sind Sie selbst gefühllos!« flüsterte Rasumichin ihr erregt ins Ohr und druckte ihre Hand fest zusammen. »Ich komme gleich!« rief er der vor Schreck erstarrten Pulcheria Alexandrowna zu und lief aus dem Zimmer. Raskolnikow erwartete ihn am Ende des Korridors. »Ich habe ja gewußt, daß du gleich herauslaufen wirst«, sagte er ihm. »Kehre zu ihnen zurück und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen mit ihnen ... und immer. Ich ... werde vielleicht kommen ... wenn es geht. Lebe wohl!« Und er verließ ihn, ohne ihm die Hand zu reichen. »Wo willst du denn hin? Was hast du? Was ist mit dir? Kann man denn so! ...« murmelte der ganz fassungslose Rasumichin. Raskolnikow blieb noch einmal stehen. »Ein für allemal: frage mich nicht und über nichts. Ich habe dir nichts zu antworten ... Komme auch nicht zu mir. Vielleicht werde ich herkommen ... Laß mich ... sie aber verlasse nicht ! Verstehst du mich?« Im Korridor war es dunkel; sie standen neben der Lampe. Eine Minute lang sahen sie einander stumm an. Rasumichin erinnerte sich später sein Leben lang dieses Augenblicks. Der brennende und unverwandte Blick Raskolnikows wurde jeden Moment gespannter und drang in seine Seele, in sein Bewußtsein ein. Plötzlich fuhr Rasumichin zusammen. Es war, als wäre zwischen ihnen etwas Seltsames vorbeigeschwebt ... Ein Gedanke, eine leise Ahnung; etwas Schreckliches und Häßliches, das von beiden Seiten plötzlich verstanden wurde ... Rasumichin wurde bleich wie ein Toter. »Verstehst du jetzt!?« sagte plötzlich Raskolnikow mit krankhaft verzerrtem Gesicht. »Kehre zurück, gehe zu ihnen«, fügte er plötzlich hinzu. Dann drehte er sich schnell um und verließ das Haus. Ich will nicht beschreiben, wie es an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna zuging, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er ihnen schwur, daß man Rodja nach seiner Krankheit Ruhe gönnen müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt wiederkommen, daß er jeden Tag herkommen würde, daß er sehr, sehr heruntergekommen sei und daß man ihn nicht reizen dürfe; daß er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, daß er einen guten, den besten Arzt, ein ganzes Konsilium für ihn bringen werde ... Mit einem Wort: Rasumichin wurde von diesem Abend an ihr Sohn und Bruder. 4. IV Raskolnikow ging aber direkt zum Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. Es war ein altes, grüngestrichenes zweistöckiges Haus. Er fand nicht ohne Mühe den Hausknecht und bekam von ihm eine recht unbestimmte Auskunft, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Er fand in einer Hofecke den Eingang zu einer engen und dunklen Treppe, stieg endlich in den ersten Stock hinauf und gelangte in eine Galerie, die das Stockwerk auf der Hofseite umgab. Während er im Dunkeln herumirrte und sich fragte, wo der Eingang zu Kapernaumow sein könne, ging plötzlich drei Schritte vor ihm eine Tür auf; er griff mechanisch nach ihr. »Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme. »Das bin ich ... zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer. Hier stand auf einem durchgedrückten Stuhle ein verbogener Messingleuchter mit einer Kerze. »Das sind Sie! Mein Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie angewurzelt stehen. »Wie kommt man in Ihr Zimmer? Hier?« Raskolnikow bemühte sich, sie nicht anzusehen, und trat schnell in ihr Zimmer. Nach einer Minute kam Ssonja mit der Kerze. Sie stellte die Kerze hin und blieb vor ihm stehen, ganz fassungslos, in unbeschreiblicher Erregung und durch seinen unerwarteten Besuch sichtbar erschreckt. Ihr bleiches Gesicht rötete sich plötzlich, und Tränen traten ihr sogar in die Augen ... Sie empfand peinliches Unbehagen, und Scham, und eine süße Wonne ... Raskolnikow wandte sich schnell weg und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch. Mit einem flüchtigen Blick hatte er schon das ganze Zimmer gestreift. Es war ein großes, doch außerordentlich niedriges Zimmer, das einzige, das die Kapernaumows vermieteten; die verschlossene Tür in der Wand links führte zu ihnen. An der gegenüberliegenden Wand rechts war noch eine andere Tür, die immer fest verschlossen war. Hinter dieser Tür befand sich die Nachbarwohnung mit einer anderen Nummer. Ssonjas Zimmer glich einer Scheune; es hatte die Form eines unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Häßliches verlieh. Die Wand mit den auf den Kanal hinausgehenden drei Fenstern durchschnitt das Zimmer irgendwie schief, und eine Ecke war daher sehr spitz und verlief in die Tiefe, so daß man in sie bei der schwachen Beleuchtung nicht mal ordentlich hinausschauen konnte; die andere Ecke war dafür häßlich stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer waren fast keine Möbel. In der Ecke rechts befand sich das Bett; neben ihm, näher zur Tür, stand ein Stuhl. An der gleichen Wand, wo das Bett war, standen dicht neben der Tür, die in die fremde Wohnung führte, ein einfacher ungestrichener Tisch mit einer blauen Decke und daneben zwei Rohrstühle. An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe des spitzen Winkels, stand eine kleine Kommode aus einfachem Holz, die wie im Leeren verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelblichen, schmierigen und abgerissenen Tapeten waren in allen Ecken schwarz geworden; im Winter war es hier sicher feucht und dunstig. Die Armut war ganz offensichtlich, selbst vor dem Bett war kein Vorhang. Ssonja blickte schweigend auf ihren Gast, der so aufmerksam und ungeniert ihr Zimmer betrachtete, und fing sogar schließlich an, vor Angst zu zittern, als stünde sie vor einem Richter, vor einem, der über ihr Schicksal zu entscheiden hatte. »Ich komme spät ... Ist schon elf?« fragte er, sie noch immer nicht ansehend. »Ja, es ist schon elf«, murmelte Ssonja. »Ach ja, gewiß!« beeilte sie sich zu sagen, als wäre es ein Ausweg für sie. »Die Uhr bei den Wirtsleuten hat eben geschlagen ... ich habe es selbst gehört ... Es ist schon elf.« »Ich komme zu Ihnen zum letztenmal,« fuhr Raskolnikow fort, »und wenn es auch das erste Mal ist, – ich sehe Sie vielleicht nie wieder ...« »Reisen Sie fort? ...« »Ich weiß nicht ... es wird sich morgen zeigen ...« »So kommen Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna?« fragte Ssonja mit bebender Stimme. »Ich weiß es nicht. Es wird sich morgen früh zeigen ... Aber es handelt sich jetzt nicht darum: ich komme, um Ihnen ein Wort zu sagen ...« Er richtete auf sie seinen nachdenklichen Blick und merkte plötzlich, daß er saß, während sie vor ihm stand. »Warum stehen Sie? Setzen Sie sich!« sagte er plötzlich mit veränderter, stiller und freundlicher Stimme. Sie setzte sich. Er sah sie eine Minute lang freundlich und fast mitleidvoll an. »Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig ist sie. Die Finger wie bei einer Toten.« Er ergriff ihre Hand. Ssonja lächelte schwach. »Ich war immer so«, sagte sie. »Auch als Sie zu Hause lebten?« »Ja.« »Nun, selbstverständlich!« sagte er kurz, und sein Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder. Er sah sich noch einmal um. »Sie mieten das Zimmer von Kapernaumow?« »Ja ...« »Wohnen die dort hinter der Tür?« »Ja ... Sie haben das gleiche Zimmer.« »Wohnen sie alle in einem Zimmer?« »Ja, in einem.« »In Ihrem Zimmer würde ich mich nachts fürchten«, bemerkte er düster. »Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich«, erwiderte Ssonja, die immer noch nicht zu sich gekommen war und die Situation noch nicht erfaßt hatte. »Auch die Möbel und alles ... alles gehört den Wirtsleuten. Und sie sind sehr gute Menschen, und ihre Kinder kommen oft zu mir her ...« »Die stotternden?« »Ja ... Er stottert und hinkt auch noch. Auch seine Frau ... Eigentlich stottert er nicht, sondern spricht bloß nicht alles aus. Sie ist aber sehr gut. Er ist ein früherer Leibeigener. Es sind sieben Kinder da ... bloß der älteste stottert, die anderen sind aber einfach krank ... und stottern nicht ... Woher wissen Sie das von ihnen?« fügte sie mit einigem Erstaunen hinzu. »Mir hat das damals Ihr Vater erzählt. Er hat mir alles von Ihnen erzählt ... Auch, daß Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun Uhr wiederkamen, und auch daß Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien lag.« Ssonja wurde verlegen. »Es schien mir heute, als hätte ich ihn gesehen«, flüsterte sie unentschlossen. »Wen denn?« »Den Vater. Ich ging über die Straße, dort, nebenan, an der Ecke, gegen zehn, und es war mir, als sähe ich ihn vor mir gehen. Er sah ganz so aus. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna hinaufgehen ...« »Waren Sie spazieren gegangen?« »Ja,« flüsterte Ssonja kurz, wieder verlegen und mit gesenkten Augen. »Katerina Iwanowna hat Sie doch beinahe geschlagen, als Sie noch beim Vater lebten?« »Ach nein, was fällt Ihnen ein, nein!« sagte Ssonja und blickte ihn erschrocken an. »Sie lieben sie also?« »Sie? Aber gewiß!« antwortete Ssonja gedehnt und klagend und faltete plötzlich mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie kennen sie nicht ... Wenn Sie nur wüßten, sie ist doch ganz wie ein Kind ... Sie ist ja geistesgestört ... vor Kummer. Wie klug sie aber war ... und wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, nichts ... ach!« Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, erregt, schmerzvoll und händeringend. Ihre bleichen Wangen glühten wieder, in ihren Augen drückte sich eine Qual aus. Es war ihr anzusehen, daß er in ihr vieles aufgewühlt hatte, daß sie furchtbar gern etwas aussprechen, sagen, für die Stiefmutter eintreten wollte. Ein unersättliches Mitleid, wenn man so sagen darf, drückte sich plötzlich in ihren Gesichtszügen aus. »Die soll mich geschlagen haben! Was sagen Sie bloß! Mein Gott, sie soll mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre denn dabei? Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so unglücklich, ach, wie unglücklich! Und krank ... Sie sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so fest, daß in allen Dingen Gerechtigkeit sein muß, und sie verlangt sie ... Man kann sie noch so quälen, sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, daß im Leben nicht immer alles gerecht sein kann, und sie ist so gereizt ... Wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, sie ist gerecht!« »Und was wird mit Ihnen geschehen?« Ssonja sah ihn fragend an. »Sie haben sie jetzt nun ganz auf dem Halse. Allerdings war es auch früher so, und der Verstorbene kam sogar zu Ihnen, um Geld für einen Schnaps zu bitten. Nun, und was wird jetzt sein?« »Ich weiß nicht«, versetzte Ssonja traurig. »Bleiben die dort?« »Ich weiß nicht, sie schulden noch für die Wohnung; aber ich habe gehört, die Wirtin hätte heute gesagt, daß sie ihr kündigen will, und Katerina Iwanowna sagt, daß sie selbst keinen Augenblick länger in der Wohnung bleiben will.« »Warum tut sie so stolz? Baut sie auf Sie?« »Ach, nein, sprechen Sie nicht so! ... Wir leben sowieso vom gleichen Geld.« Ssonja regte sich wieder auf und zürnte sogar; es war genau so, wie wenn ein Kanarienvogel oder ein anderes kleines Vögelchen in Wut gerät. »Was soll sie nun machen? Was, was soll sie tun?« fragte sie hitzig und erregt. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Sie ist ganz verstört, haben Sie es noch nicht bemerkt? Sie ist ganz verstört; bald regt sie sich wie ein Kind darüber auf, daß morgen alles anständig sei, der Imbiß und das übrige ... bald ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint, schlägt plötzlich die Stirne gegen die Wand wie in Verzweiflung. Dann tröstet sie sich wieder, sie hofft immer auf Sie: sie sagt, daß Sie jetzt ihr Helfer seien; daß sie sich irgendwo etwas Geld leihen und mit mir in ihre Heimatstadt reisen wird; dort will sie ein Pensionat für junge Mädchen aus guten Familien gründen und mich als Aufseherin anstellen; dann wird für uns ein neues schönes Leben beginnen. Und sie küßt, sie umarmt und tröstet mich –, und wie fest sie an alle diese Phantasien glaubt! Nun, kann man ihr denn widersprechen? Und heute wäscht, scheuert und flickt sie den ganzen Tag, hat den Waschtrog ganz allein mit ihrer schwachen Kraft ins Zimmer hereingeschleppt, da ging ihr aber der Atem aus, und sie fiel aufs Bett. Und morgens gingen wir zusammen in die Läden, um Poljetschka und Lena neue Schuhchen zu kaufen, denn die alten waren ganz auseinandergefallen; doch das Geld reichte uns nicht, um die Rechnung zu bezahlen, es fehlte uns noch sehr viel dazu; sie hat aber so hübsche kleine Schuhchen ausgesucht, denn sie hat Geschmack, Sie wissen es nicht ... Und sie fing im Laden, vor dem Kaufmann zu weinen an, weil das Geld ihr nicht gereicht hatte ... Es war ein Jammer, es zu sehen.« »Nun, nach alledem ist es begreiflich, daß Sie ... so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln. »Und haben Sie denn kein Mitleid? Gar kein Mitleid?« fuhr Ssonja wieder auf. »Ich weiß ja, Sie haben selbst Ihr Letztes hergegeben, noch ehe Sie überhaupt etwas gesehen haben. Und wenn Sie es erst gesehen hätten, mein Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gebracht! Erst in der vorigen Woche ... Ach, ich! ... Bloß eine Woche vor seinem Tode. Es war grausam von mir! Und wie oft, wie oft habe ich es schon getan. Ach, wie weh tat es mir, heute den ganzen Tag daran zu denken!« Als Ssonja das sagte, rang sie in schmerzlicher Erinnerung die Hände. »Sie wollen grausam sein?« »Ja, ich, ich! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »und der Verstorbene sagte mir: ›Lies mir was vor, Ssonja, mein Kopf tut mir so weh ... hier ist ein Buch ...‹ Er hatte irgendein Buch von Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow; der wohnt hier und hat immer solch komische Bücher. Ich aber sagte: ›Ich muß gehen‹, und las ihm nichts vor; ich war aber hauptsächlich darum zu ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna meine neuen Kragen zu zeigen; die Händlerin Lisaweta hatte mir Kragen und Manschetten zu billigem Preise gebracht, hübsche, ganz neue Sachen, mit einem Muster. Und Katerina Iwanowna gefielen sie sehr gut: sie legte einen an, besah sich im Spiegel, und er gefiel ihr sehr, sehr gut. ›Schenk mir so einen Kragen, Ssonja,‹ sagte sie, ›bitte!‹ Sie sagte sogar ›bitte‹ – so gut gefiel er ihr. Wann soll sie aber solche Kragen tragen? Sie erinnerte sich eben der alten, glücklichen Zeiten. Sie besieht sich im Spiegel und freut sich; sie hat aber gar keine Kleider, gar keine Sachen, so viele Jahre schon! Niemals bittet sie aber jemand um etwas; so stolz ist sie, eher gibt sie selbst ihr Letztes weg, aber diesmal bat sie mich: so sehr gefiel ihr der Kragen! Mir aber tat es leid, ihr den Kragen zu schenken. ›Was brauchen Sie ihn, Katerina Iwanowna?‹ Wörtlich so sagte ich ihr: ›Was brauchen Sie ihn?‹ Das hätte ich nicht sagen sollen! Sie sah mich so an und wurde so traurig, weil ich es ihr abgeschlagen hatte, und es war so ein Jammer, sie anzusehen ... Nicht des Kragens wegen war sie so traurig, sondern weil ich ihn ihr abgeschlagen hatte, das sah ich. Ach, wenn ich das alles ändern, wenn ich meine Worte zurücknehmen könnte ... Ach, ich ... Aber was soll ich davon sprechen? Ihnen ist es doch gleichgültig!« »Haben Sie die Händlerin Lisaweta gekannt?« »Ja ... Haben Sie sie denn auch gekannt?« fragte Ssonja mit einigem Erstaunen. »Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, es steht sehr schlimm um sie, sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach einem Schweigen, ohne ihre Frage beantwortet zu haben. »Ach, nein, nein, nein!« Und Ssonja ergriff mit unbewußter Gebärde seine beiden Hände, als flehte sie ihn an, daß es nicht so schlimm sei. »Es ist doch besser, wenn sie stirbt.« »Nein, es ist nicht besser, nicht besser, gar nicht besser!« wiederholte sie erschrocken, halb unbewußt. »Und die Kinder? Wo wollen Sie denn die hintun, wenn nicht zu sich nehmen?« »Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung und griff sich an den Kopf. Es war ihr anzusehen, daß dieser Gedanke ihr schon oft gekommen war und daß er ihn in ihr wieder aufgewühlt hatte. »Nun, und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und ins Krankenhaus kommen, was wird dann sein?« drang er erbarmungslos in sie ein. »Ach was sagen Sie, was sagen Sie! Das kann nicht sein! ...« Und Ssonjas Gesicht verzerrte sich vor furchtbarem Schrecken. »Warum kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikow mit trockenem Lächeln fort. »Sie sind doch nicht gefeit! Was wird dann mit ihnen geschehen? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen, sie wird husten und betteln und irgendwo mit dem Kopf an eine Mauer schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie umfallen, man wird sie aufs Revier und dann ins Krankenhaus schaffen, sie wird sterben, und die Kinder ...« »Ach, nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich plötzlich der zusammengepreßten Brust Ssonjas. Sie hörte zu, sah ihn dabei flehend an und faltete in stummem Gebet die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikow stand auf und begann auf und ab zu gehen. Es verging eine Minute. Ssonja stand mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen, in schrecklichem Grame da. »Kann man denn nicht sparen? Etwas auf die Seite tun, um es in der Not zu haben?« fragte er, plötzlich vor ihr stehenbleibend. »Nein«, flüsterte Ssonja. »Natürlich, nein! Haben Sie es schon versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu. »Ich habe es versucht.« »Und es gelang Ihnen nicht! Na, natürlich! Was ist da noch zu fragen?« Und er ging wieder durchs Zimmer. Es verstrich noch eine Minute. »Sie nehmen wohl nicht jeden Tag was ein?« Ssonja wurde noch mehr verlegen, und ihr Gesicht rötete sich wieder. »Nein«, flüsterte sie mit schmerzlicher Anstrengung. »Poljetschka wird es sicher ebenso gehen«, sagte er plötzlich. »Nein! Nein! Es kann nicht sein! Nein!« schrie Ssonja laut, ganz verzweifelt, als hätte man sie mit einem Messer verwundet. »Gott, Gott wird diesen Schrecken nicht zulassen! ...« »Bei anderen läßt er es doch zu.« »Nein, nein! Gott wird sie schützen, Gott! ...« wiederholte sie ganz außer sich. »Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit Schadenfreude und sah sie lachend an. Ssonjas Gesicht veränderte sich furchtbar und verzerrte sich wie in einem Krampfe. Mit einem unsagbaren Vorwurf sah sie ihn an, wollte schon etwas sagen, konnte aber kein Wort herausbringen und begann nur bitterlich zu weinen, das Gesicht mit den Händen bedeckend. »Sie sagen, Katerina Iwanowna werde verrückt; Sie werden selbst verrückt«, sagte er nach einem Schweigen. Es vergingen fünf Minuten. Er ging immer schweigend auf und ab und sah sie nicht an. Endlich ging er auf sie zu, seine Augen funkelten. Er ergriff sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade ins weinende Gesicht. Sein Blick war trocken, fieberhaft, durchdringend, seine Lippen bebten ... Plötzlich beugte er sich ganz nieder, warf sich zu Boden und küßte ihren Fuß. Ssonja taumelte entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Verrückten. Er sah wirklich ganz wie ein Verrückter aus. »Was tun Sie, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz krampfte sich plötzlich schmerzhaft zusammen. Er erhob sich bleich wie der Tod. »Ich habe mich nicht vor dir verbeugt, ich habe mich vor dem ganzen menschlichen Leid verbeugt«, sagte er wie wahnsinnig und ging zum Fenster. »Hör mal,« fügte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu ihr zurückkehrte, »ich habe vorhin einem Menschen, der mich beleidigt hat, gesagt, daß er deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich setzte!« »Ach, wozu haben Sie das gesagt! Und war sie dabei?« rief Ssonja erschrocken. »Neben mir zu sitzen – eine Ehre! Ich bin doch ... ehrlos ... Ach, was haben Sie gesagt!« »Ich habe das von dir nicht wegen der Ehrlosigkeit und der Sünde gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du aber eine große Sünderin bist, das stimmt«, fügte er begeistert hinzu. »Am meisten bist du aber darum Sünderin, weil du dich umsonst getötet und verkauft hast. Ob das entsetzlich ist! Ob das kein Grauen ist, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so haßt, und zugleich weißt (man braucht nur die Augen zu öffnen), daß du damit niemand hilfst und niemand rettest! So sage mir doch endlich,« sagte er beinahe rasend, »wie bloß diese Schande und Gemeinheit neben den entgegengesetzten, heiligen Gefühlen in dir wohnen können?! ... Es wäre doch gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen und allem auf einmal ein Ende zu machen!« »Und was wird mit ihnen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher Stimme und blickte ihn gequält an; zugleich schien sie aber über seinen Vorschlag gar nicht erstaunt. Raskolnikow blickte sie eigentümlich an. Er hatte in ihrem Blicke alles gelesen. Also hatte sie auch schon selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oft und ernsthaft überlegt, wie sie diesem Leben schnell ein Ende machen könnte, – so ernsthaft, daß sie jetzt über seinen Vorschlag fast gar nicht erstaunt war. Sie hatte sogar die Grausamkeit seiner Worte nicht bemerkt (den Sinn seiner Vorwürfe und seine eigentümliche Ansicht über ihre Schande hatte sie natürlich auch nicht begriffen, das konnte er sehen). Er aber begriff vollkommen, bis zu welchem grauenhaften Schmerz sie schon seit langem der Gedanke an ihre ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was konnte aber, fragte er sich, sie in ihrem Entschluß, allem auf einmal ein Ende zu machen, aufhalten? Und jetzt erst begriff er vollkommen, was für sie diese kleinen armen Waisenkinder, diese unglückliche, halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrem Kopfandiewandschlagen bedeuteten. Und doch war es ihm klar, daß Ssonja mit ihrem Charakter und der Bildung, die sie immerhin genossen hatte, unmöglich in dieser Lage bleiben durfte. Doch war es ihm noch immer unbegreiflich: Wie hatte sie so lange schon diese Lage ertragen können, ohne verrückt zu werden, wenn sie schon nicht die Kraft besaß, ins Wasser zu gehen? Er begriff natürlich, daß Ssonjas Lage in der Gesellschaft eine zufällige war, wenn auch leider bei weitem keine vereinzelte und ausschließliche. Doch diese Zufälligkeit, ihre Bildung und ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt auf diesem häßlichen Wege töten müssen. Was stützte sie denn? Doch nicht das Laster? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch berührt; die echte Verderbtheit war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz gedrungen; das sah er; sie stand wie durchsichtig vor ihm ... – Sie hat drei Wege vor sich – dachte er –, entweder in den Kanal zu springen, oder ins Irrenhaus zu kommen, oder ... oder sich schließlich ganz ins Laster, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert, zu stürzen. – Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; er war aber schon skeptisch, er war jung, pflegte abstrakt zu denken und war folglich grausam; darum mußte er glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, der wahrscheinlichste sei. – Aber ist es denn wirklich wahr?! – rief er innerlich aus, – wird auch dieses Geschöpf, das noch die Reinheit des Geistes bewahrt hat, sich bewußt in diese schreckliche, stinkende Kloake hineinziehen lassen?! Hat denn dieses Hineinziehen schon angefangen, hat sie es bisher vielleicht nur darum aushalten können, weil das Laster ihr nicht mehr so abscheulich schien? Nein, nein, es kann nicht sein! – wiederholte er vor sich hin, wie Ssonja früher. – Nein, vom Kanal hat sie bisher der Gedanke an die Sünde zurückgehalten und das Unglück jener ... Und wenn sie bisher noch nicht verrückt geworden ist ... Wer sagt aber, daß sie es noch nicht ist? Ist sie denn bei klarem Verstand? Kann man denn so sprechen, wie sie spricht? Kann man denn bei klarem Verstand so urteilen, wie sie urteilt? Kann man denn so über dem Abgrund, über der stinkenden Kloake, in die man schon hineingezogen wird, sitzen, abwehrend mit den Händen winken und sich die Ohren zuhalten, wenn man zu ihr von der Gefahr spricht? Wartet sie vielleicht auf ein Wunder? Es ist sicher so. Sind das nicht schon Anzeichen von Wahnsinn? – Er klammerte sich hartnäckig an diesen Gedanken. Dieser Ausweg erschien ihm sogar besser als jeder andere. Er fing an, sie aufmerksam zu betrachten. »Also betest du viel zu Gott, Ssonja?« fragte er sie. Ssonja schwieg. Er stand neben ihr und wartete auf Antwort. »Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen ansah und seine Hand fest drückte. – Gewiß ist es so! – dachte er. »Und was tut dir Gott dafür?« fragte er sie weiter aus. Ssonja schwieg lange, als wüßte sie keine Antwort. Ihre schwache Brust hob und senkte sich vor Erregung. »Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie plötzlich und sah ihn streng und zornig an. – Es ist sicher so! Es ist sicher so! – wiederholte er hartnäckig vor sich hin. »Alles tut er!« flüsterte sie schnell und senkte wieder die Augen. – Das ist der Ausweg! Das ist die Erklärung des Ausweges! – sagte er sich, indem er sie mit gierigem Interesse betrachtete. Mit einem neuen, seltsamen, fast krankhaften Gefühl betrachtete er dieses bleiche, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, diese sanften blauen Augen, die in solchem Feuer, in so strengem, energischem Gefühl zu funkeln verstanden, diesen kleinen Körper, der noch immer vor Empörung und Zorn bebte, und dies alles erschien ihm immer sonderbarer, beinahe unmöglich. – Sie ist wahnsinnig, eine Närrin in Christo! – wiederholte er vor sich hin. Auf der Kommode lag ein Buch. So oft er im Auf-und Abgehen vorbeikam, sah er es; jetzt nahm er es in die Hand. Es war ein Neues Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war alt und gebraucht, in Leder gebunden. »Wo hast du es her?« rief er ihr vom anderen Ende des Zimmers zu. Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck, drei Schritte vom Tisch. »Man hat es mir gebracht«, antwortete sie unwillig und ohne ihn anzublicken. »Wer hat es gebracht?« »Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.« – Lisaweta! Seltsam! – dachte er. Bei Ssonja erschien ihm alles von Augenblick zu Augenblick sonderbarer und wunderlicher. Er ging mit dem Buch zur Kerze und begann darin zu blättern. »Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er. Ssonja blickte starr zu Boden und antwortete nicht. Sie stand seitwärts vom Tisch. »Wo steht es von der Auferstehung des Lazarus? Such es mir, Ssonja.« Sie streifte ihn mit einem Blick. »Sie suchen nicht an richtiger Stelle ... es steht im vierten Evangelium ...« flüsterte sie streng, ohne sich ihm zu nähern. »Such es und lies mir vor«, sagte er. Er setzte sich, legte die Ellbogen auf den Tisch, stützte den Kopf in eine Hand, richtete den ernsten Blick zur Seite und schickte sich an, zuzuhören. – Nach drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich glaube, ich komme auch selbst hin, wenn es nicht noch schlimmer wird – murmelte er vor sich hin. Nachdem Ssonja den sonderbaren Wunsch Raskolnikows mißtrauisch angehört hatte, trat sie unentschlossen an den Tisch. Sie nahm aber das Buch in die Hand. »Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie ihn, indem sie ihn über den Tisch finster ansah. Ihre Stimme klang immer strenger und ernster. »Vor langer Zeit ... Als ich noch lernte. Lies!« »Haben Sie es denn nicht in der Kirche gehört?« »Ich ... ich ging nie zur Kirche. Gehst du oft hin?« »N-ein«, flüsterte Ssonja. Raskolnikow lächelte. »Ich verstehe ... Wirst also auch morgen zur Beerdigung des Vaters nicht hingehen?« »Ich werde gehen. Ich war auch in der vorigen Woche da ... habe eine Totenmesse lesen lassen.« »Für wen?« »Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beil erschlagen.« Seine Nerven wurden immer gereizter. Der Kopf begann ihm zu schwindeln. »Warst du mit Lisaweta befreundet?« »Ja ... Sie war gerecht ... sie besuchte mich ... selten ... es ging nicht gut ... Wir lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen.« So seltsam klangen diese aus den Büchern geschöpften Worte, und diese Neuigkeit: sie hatte mit Lisaweta irgendwelche geheimnisvolle Zusammenkünfte gehabt, und beide waren wahnsinnig, Närrinnen in Christo. – Hier kann man selbst verrückt werden! Es ist ansteckend! – dachte er. »Lies!« rief er plötzlich trotzig und gereizt. Ssonja schwankte noch immer. Ihr Herz klopfte. Sie hatte keinen Mut, ihm vorzulesen. Fast mit Qual sah er die »unglückliche Verrückte« an. »Warum wollen Sie es? Sie glauben doch nicht! ...« flüsterte sie leise und um Atem ringend. »Lies! Ich will es so!« bestand er. »Du hast doch der Lisaweta vorgelesen.« Ssonja schlug das Buch auf und fand die Stelle. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme versagte. Zweimal fing sie an und stockte immer beim ersten Wort. »Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus von Bethanien ...« sagte sie endlich mit Anstrengung, doch beim dritten Wort erzitterte plötzlich ihre Stimme und riß wie eine überspannte Saite. Der Atem stockte, und die Brust schnürte sich zusammen. Raskolnikow begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so roher und gereizter bestand er darauf. Er begriff zu gut, wie schwer es ihr jetzt fiel, das Eigene zu verraten und zu enthüllen. Er begriff, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres Geheimnis bildeten, daß sie vielleicht schon seit langem, seit der Kindheit, schon in der Familie neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, unter den hungrigen Kindern, den häßlichen Schreien und Vorwürfen gehegt hatte. Zugleich erfuhr er aber jetzt, erfuhr es ganz sicher, daß sie, so sehr sie sich auch grämte und etwas fürchtete, als sie jetzt zu lesen begann, dabei doch eine schmerzvolle Lust empfand, ihm vorzulesen, trotz ihres Grams und trotz aller Befürchtungen; und gerade ihm , damit er es höre, und unbedingt jetzt – was später auch kommen mochte! ... Er las es in ihren Augen, er erkannte es an ihrer verzückten Erregung! ... Sie überwand sich, überwand den Krampf im Halse, der am Anfang des Verses ihr die Stimme benommen hatte, und las weiter im elften Kapitel des Evangeliums Johannis. Und so kam sie bis zum 19. Vers: »Und viel Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesus: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, das, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.« Hier hielt sie wieder inne, da sie schamhaft ahnte, daß ihre Stimme wieder zittern und versagen würde ... »Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er aufstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben ; wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm (Ssonja holte wie mit Schmerz Atem und las deutlich und mit Kraft, als verkündete sie es selbst allen Ohren): Herr, ja! Ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen ist.« Sie hielt wieder inne, sah ihn schnell an, überwand sich aber und las weiter. Raskolnikow saß und hörte zu, ohne sich zu rühren, ohne sich umzuwenden, die Ellbogen auf dem Tisch, den Blick auf die Seite gerichtet. So kamen sie zum 32. Vers: »Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh es. Und Jesus gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?« Raskolnikow wandte sich zu ihr um und sah sie erregt an. Ja, so ist es! Sie zitterte schon ganz in wirklichem, echtem Fieber. Er hatte es erwartet. Sie näherte sich der Stelle vom wirklichen und unerhörten Wunder, und das Gefühl des größten Triumphes umfing sie ganz. Ihre Stimme klang hell wie Metall; Triumph und Freude klangen in ihr und machten sie stark. Die Zeilen vermischten sich vor ihr, denn es wurde ihr dunkel vor den Augen, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« dämpfte sie die Stimme und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, Vorwurf und das Schmähen der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich, wie vom Donner getroffen, niederfallen und schluchzen und glauben werden ... Auch er, er ist blind und ungläubig, auch er wird es gleich hören – und glauben – ja! jetzt gleich, jetzt gleich – sagte sie sich, und sie zitterte in freudiger Erregung. »Da ergrimmte Jesus abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab! Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen.« Sie betonte energisch das Wort vier . »Jesus spricht zu ihr: Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da huben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hub seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich's, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus « (laut und begeistert las sie es, zitternd und erschauernd, als sähe sie es mit eigenen Augen), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und lasset ihn gehen.« » Viel nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn .« Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen. Sie schloß das Buch und stand schnell vom Stuhle auf. »Das ist alles über die Auferstehung des Lazarus«, flüsterte sie kurz und streng und blieb unbeweglich stehen, zur Seite blickend, als wagte sie nicht oder schämte sich, die Augen zu ihm zu erheben. Sie zitterte noch immer wie im Fieber. Der Lichtstumpf im verbogenen Leuchter war schon längst heruntergebrannt und flackerte, sein trübes Licht über dieses armselige Zimmer und den Mörder und die Dirne ergießend, die sich so seltsam beim Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen noch fünf Minuten oder mehr. »Ich bin gekommen, um über etwas Wichtiges zu sprechen«, sagte plötzlich Raskolnikow laut und düster. Er stand auf und ging auf Ssonja zu. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein Blick war besonders streng, und eine wilde Entschlossenheit drückte sich in seinen Augen aus. »Ich habe heute die Meinigen verlassen,« sagte er, »Mutter und Schwester ... Ich gehe nicht mehr zu ihnen ... Ich habe alles zerrissen.« »Warum?« fragte Ssonja ganz bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter und der Schwester am Morgen hatte auf sie einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht, über den sie sich selbst nicht klar war. Die Nachricht vom Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen. »Jetzt habe ich dich allein«, fügte er hinzu. »Laß uns zusammen gehen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind zusammen verdammt und wollen nun auch zusammen gehen!« Seine Augen funkelten. – Wie ein Verrückter! – dachte nun Ssonja ihrerseits. »Wohin gehen?« fragte sie erschrocken und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Woher soll ich's wissen? Ich weiß nur, daß wir den gleichen Weg haben, das weiß ich sicher, und sonst nichts. Das gleiche Ziel!« Sie sah ihn an und verstand nicht. Sie begriff nur, daß er entsetzlich, grenzenlos unglücklich war. »Keiner von ihnen wird etwas verstehen, wenn du zu ihnen sprichst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, und darum bin ich zu dir gekommen.« »Ich verstehe nicht ...« flüsterte Ssonja. »Du wirst später verstehen. Hast du denn nicht dasselbe getan? Auch du hast es übertreten ... hast es übertreten können ... Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... dein Leben (es ist dasselbe!). Du hättest von Geist und Verstand leben können, du wirst aber auf dem Heumarkte enden ... Du wirst es aber nicht aushalten können, und wenn du allein bleibst, wirst du den Verstand verlieren wie ich auch. Du bist auch jetzt schon wie wahnsinnig: also müssen wir zusammen gehen, den gleichen Weg! Laß uns gehen!« »Warum? Wozu das alles?« sagte Ssonja, durch seine Worte seltsam tief bewegt. »Wozu? Weil es nicht so bleiben darf – dazu! Man muß doch endlich ernst und offen überlegen, statt wie ein Kind zu weinen und zu klagen, daß Gott es nicht zulassen werde! Nun, was wird sein, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Jene ist nicht bei Verstand und schwindsüchtig, sie wird bald sterben. Und die Kinder? Wird nicht auch Poljetschka zugrundegehen? Hast du denn hier an den Straßenecken nicht die Kinder gesehen, die von ihren Müttern zum Betteln geschickt werden? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter wohnen und wie sie leben. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist der Siebenjährige verdorben und ein Dieb. Die Kinder sind aber Abbilder Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind die künftige Menschheit ...« »Was, was soll man tun?« fragte Ssonja, indem sie hysterisch weinte und die Hände rang. »Was man tun soll? Was nötig ist, ein für allemal brechen und sonst nichts: und das Leid auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Wirst es später verstehen ... Die Freiheit und die Macht, vor allen Dingen die Macht! Die Macht über alle zitternde Kreatur und über den ganzen Ameisenhaufen ... Das ist das Ziel! Begreife das! Diese Worte gebe ich dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich jetzt zum letztenmal mit dir. Wenn ich morgen nicht komme, wirst du selbst alles hören, und dann gedenke meiner heutigen Worte. Und irgendwann, später, nach Jahren, wenn du noch länger gelebt hast, wirst du vielleicht begreifen, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen komme, so werde ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Lebe wohl!« Ssonja erbebte vor Schreck am ganzen Leibe. »Wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie, vor Entsetzen erschauernd und ihn wie wahnsinnig anblickend. »Ich weiß es und werde es sagen ... Dir, nur dir allein. Ich habe dich auserwählt. Ich werde nicht zu dir kommen, um um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es einfach sagen. Ich habe dich schon längst auserwählt, um es dir zu sagen; damals noch, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, dachte ich es mir. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand. Morgen!« Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Wahnsinnigen nach; sie war aber auch selbst wie wahnsinnig, und sie fühlte es. Der Kopf schwindelte ihr. – Mein Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuten diese Worte? Es ist so schrecklich! – Aber der Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Nein, er wollte nicht kommen! ... – Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester verlassen. Warum? Was ist geschehen? Und was hat er im Sinn? Was hat er ihr gesagt? Er hat ihr den Fuß geküßt und gesagt ... gesagt (ja, er hat es deutlich gesagt), daß er ... ohne sie nicht mehr leben kann ... O Gott! – Ssonja verbrachte die ganze Nacht in Fieber und Fieberträumen. Sie sprang zuweilen auf, weinte, rang die Hände und verfiel dann wieder in fieberhafte Träume. Sie träumte von Poljetschka, Katerina Iwanowna, Lisaweta, von der Vorlesung aus dem Evangelium und von ihm ... von ihm mit dem bleichen Gesicht und den brennenden Augen ... Er küßt ihr die Füße, weint ... O Gott! Hinter der Tür rechts, hinter derselben Tür, die Ssonjas Wohnung von der Wohnung der Gertrude Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein seit langem leerstehendes Durchgangszimmer, das zur Wohnung der Frau Rößlich gehörte und das zu vermieten war, wie es auch die am Tore und an den Scheiben der auf den Kanal hinausgehenden Fenster angeklebten Zettel besagten. Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Und doch hatte während der ganzen Zeit an der Tür des leeren Zimmers Herr Swidrigailow gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow fortgegangen war, stand er noch eine Weile sinnend da, ging dann auf den Fußspitzen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte einen Stuhl und brachte ihn leise zur Tür, die in Ssonjas Zimmer führte. Das Gespräch erschien ihm sehr unterhaltend und bedeutungsvoll, es gefiel ihm sehr gut –, es gefiel ihm so sehr, daß er den Stuhl hinbrachte, um in Zukunft, zum Beispiel morgen, sich nicht wieder der Unannehmlichkeit auszusetzen, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern um sich komfortabler einzurichten, um in jeder Beziehung volle Befriedigung zu finden. 5. V Als Raskolnikow am nächsten Morgen punkt elf Uhr in das Haus des -schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters kam und sich bei Porfirij Petrowitsch anmelden ließ, war er sogar erstaunt, daß er so lange warten mußte: es vergingen mindestens zehn Minuten, ehe man ihn endlich eintreten ließ. Nach seiner Berechnung mußte man sich aber sofort auf ihn stürzen. Indessen stand er im Warteraum, und verschiedene Menschen, die sich um ihn gar nicht zu kümmern schienen, gingen an ihm vorbei, auf und ab. Im nächsten Zimmer, das wie eine Kanzleistube aussah, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war ihnen anzusehen, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung davon hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigen und argwöhnischen Blicken beobachtete er alles um sich her und spähte aus, ob nicht irgendwo ein Wachtposten stehe, ob ihn nicht irgendein geheimnisvoller Blick bewache, daß er nicht weggehe. Es war aber nichts dergleichen: er sah bloß beschäftigte Kanzleigesichter und auch andere Menschen, aber keiner kümmerte sich um ihn: er hätte leicht wieder weggehen können. Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses aus der Erde hervorgestiegene Gespenst wirklich alles wußte und alles gesehen hatte, – man ihm, Raskolnikow, doch nicht gestatten würde, hier so zu stehen und zu warten. Und hätte man auch bis elf Uhr gewartet, bis es ihm selbst einfallen würde, herzukommen? Also hatte jener Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder ... oder er wußte selbst nichts und hatte mit eigenen Augen gar nichts gesehen (wie hätte er auch etwas sehen können?); folglich war alles, was er gestern erlebt hatte, nur eine von seiner gereizten und kranken Phantasie übertriebene Vision. Nachdem er sich dies alles wieder überlegt hatte und sich auf einen neuen Kampf gefaßt machte, fühlte er plötzlich, daß er zitterte, und er empörte sich bei dem Gedanken, daß er aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste für ihn war ein Wiedersehen mit diesem Menschen; er haßte ihn grenzenlos, maßlos und fürchtete sogar, sich durch diesen Haß irgendwie zu verraten. Und so groß war seine Empörung, daß sie das Zittern sofort unterdrückte; er schickte sich an, mit einer kalten und herausfordernden Miene einzutreten, und gab sich das Wort, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und zu horchen und, wenigstens dieses eine Mal, um jeden Preis, seine krankhaft gereizte Natur zu überwinden. In diesem Augenblick rief man ihn zu Porfirij Petrowitsch. Es zeigte sich, daß Porfirij Petrowitsch gerade ganz allein in seinem Arbeitszimmer war. Das Arbeitszimmer war weder klein noch groß; es befanden sich darin ein großer Schreibtisch vor einem mit Wachstuch bezogenen Sofa, ein Pult, ein Eckschrank und mehrere Stühle – lauter Staatseigentum aus poliertem gelben Holze. In einer Ecke an der Hinterwand oder, besser gesagt, an einem Bretterverschlage war eine verschlossene Tür: also befanden sich wohl hinter diesem Verschlag noch andere Räume. Als Raskolnikow eintrat, schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die er gekommen war, und sie blieben allein. Er empfing seinen Gast scheinbar außerordentlich lustig und freundlich, und Raskolnikow merkte erst nach einigen Minuten an einigen Anzeichen, daß er irgendwie verlegen war, als hätte man ihn plötzlich aus dem Konzept gebracht oder auf etwas Geheimem ertappt. »Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserem Reiche ...« begann Porfirij, ihm beide Hände entgegenstreckend. »Nun, nehmen Sie Platz, Väterchen! Oder Sie haben es vielleicht nicht gern, daß man Sie Verehrtester und Väterchen nennt – so ›tout court‹? Halten Sie es, bitte, nicht für eine Familiarität! Hierher, auf das Sofa.« Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden. ›In unserem Reiche‹, die Entschuldigung wegen der Familiarität, das französische »tout court« usw ... das waren lauter charakteristische Anzeichen. – Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, doch keine einzige gegeben, hat sie rechtzeitig zurückgezogen, – ging es ihm mißtrauisch durch den Sinn. Sie beobachteten einander; kaum aber trafen sich ihre Blicke, als sie beide so schnell wie ein Blitz voneinander wegsahen. »Ich bringe Ihnen das Papier ... wegen der Uhr ... hier ist es. Ist es richtig aufgesetzt, oder muß ich es umschreiben?« »Was? Ein Papierchen? So, so, machen Sie sich keine Sorgen, es ist richtig,« sagte Porfirij Petrowitsch, als hätte er große Eile; erst nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Papier in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist richtig. Mehr ist nicht nötig«, bestätigte er, sich überstürzend, und legte das Papier auf den Tisch. Später, nach einer Minute, als er schon von etwas ganz anderem sprach, nahm er es vom Tisch und legte es auf das Pult. »Sie sagten, glaube ich, gestern, daß Sie mich fragen möchten ... in aller Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten?« fing Raskolnikow von neuem an. – Nun, wozu habe ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt? – durchfuhr es ihn wie der Blitz. – Und warum mache ich mir solche Sorge darüber, daß ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt habe? – durchzuckte ihn wie der Blitz ein zweiter Gedanke. Und plötzlich fühlte er, wie sein Argwohn nur infolge der bloßen Berührung mit Porfirij, nur nach zwei Worten, nur nach zwei Blicken in einem Nu ins Ungeheure gewachsen war ... und daß dies gefährlich werden könne: die Nerven werden gereizt, die Erregung wächst an. – Schlecht! Schlecht! ... Ich werde mich wieder versprechen. »Ja, ja, ja! Machen Sie sich keine Sorgen! Wir haben Zeit, wir haben Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch, indem er vor dem Tische auf und ab ging, doch ohne jedes Ziel: bald wandte er sich zum Fenster, bald zum Pult, bald wieder zum Tisch; bald wich er den mißtrauischen Blicken Raskolnikows aus, bald blieb er unbeweglich stehen und sah ihn unverwandt an. Einen seltsamen Eindruck machte dabei seine kleine, dicke, runde Figur, die wie ein Gummiball hin und her rollte und von allen Wänden und Ecken abprallte. »Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie nicht? Haben Sie nichts bei sich? Hier haben Sie ein Zigarettchen«, fuhr er fort, indem er dem Gast eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine Wohnung ist aber gleich hier hinter dem Verschlag ... es ist eine Dienstwohnung, ich wohne jetzt aber vorläufig in der Stadt. Es sind hier einige Reparaturen nötig. Nun ist fast alles fertig ... so eine Dienstwohnung ist eine feine Sache, nicht wahr? Wie meinen Sie?« »Ja, eine feine Sache«, antwortete Raskolnikow und sah ihn fast spöttisch an. »Eine feine Sache, eine feine Sache ...« wiederholte Porfirij Petrowitsch, als dächte er dabei an etwas ganz anderes. »Ja, eine feine Sache!« schrie er schließlich fast auf, indem er plötzlich Raskolnikow anblickte und zwei Schritte vor ihm stehen blieb. Diese häufige, dumme Wiederholung, daß die Dienstwohnung eine feine Sache sei, widersprach in ihrer Banalität zu sehr dem ernsten, sinnenden und rätselhaften Blicke, den er jetzt auf seinen Gast richtete. Dies aber stachelte die Wut Raskolnikows noch mehr auf, und er konnte sich unmöglich einer höhnischen und recht unvorsichtigen Herausforderung enthalten: »Wissen Sie was?« fragte er plötzlich, indem er ihn fast frech anblickte und sich seiner Frechheit gleichsam freute. »Es gibt, glaube ich, so eine juristische Regel, so einen juristischen Kunstgriff – für alle Untersuchungsrichter, – zuerst von weither, mit Bagatellen, oder sogar mit etwas Ernstem, doch ganz Abseitsliegendem zu beginnen, um den zu Verhörenden sozusagen zu ermutigen oder richtiger zu zerstreuen, um seine Vorsicht einzuschläfern und ihn dann plötzlich auf ganz unerwartete Weise mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu überfallen; stimmt das? Ich glaube, das steht auch heute noch in allen Vorschriften und Instruktionen als ein heiliges Gebot?« »Ja, gewiß ... Sie glauben also, ich hätte Sie mit der Dienstwohnung ... wie?« Als Porfirij Petrowitsch das sagte, kniff er die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein lustiger und verschlagener Ausdruck huschte über sein Gesicht, die Runzeln auf seiner Stirn glätteten sich, die Auglein wurden schmäler, die Gesichtszüge dehnten sich, und er brach plötzlich in ein nervöses, langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper erzittern ließ; dabei blickte er Raskolnikow gerade in die Augen. Jener fing mit einiger Selbstüberwindung auch zu lachen an; als aber Porfirij ihn lachen sah und in so schallendes Gelächter ausbrach, daß er beinahe blau wurde, ließ Raskolnikow in seinem Widerwillen alle Vorsicht außer acht: er hörte zu lachen auf, runzelte die Stirne und sah Porfirij lange und gehässig an, ohne ihn während seines ganzen langen, anscheinend mit Absicht in die Länge gezogenen Lachanfalls aus den Augen zu lassen. Die Unvorsichtigkeit war übrigens beiderseits offensichtlich: es sah so aus, als lache Porfirij Petrowitsch über seinen Gast, der dieses Lachen mit Haß aufnahm, kümmere sich aber wenig um diesen Umstand. Das letztere war aber für Raskolnikow sehr vielsagend: er begriff, daß Porfirij Petrowitsch sich wahrscheinlich auch vorhin gar nicht verlegen gefühlt habe und daß im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, in eine Falle geraten sei, daß hier unbedingt etwas dabei sei, was er noch nicht wußte, irgendein Ziel; daß vielleicht schon alles vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick zeigen und über ihn hereinbrechen werde ... Er ging nun sofort auf die Sache los, indem er sich von seinem Platz erhob und seine Mütze nahm. »Porfirij Petrowitsch«, fing er an, entschlossen, doch ziemlich gereizt, »Sie äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu Ihnen zu irgendeinem Verhör komme. (Er betonte besonders das Wort ›Verhör‹.) Ich bin gekommen, und wenn Sie von mir etwas wollen, so fragen Sie mich, und wenn nicht, so gestatten Sie, daß ich weggehe. Ich habe keine Zeit, ich habe zu tun ... Ich muß zur Beerdigung eines verunglückten Beamten, von dem ... Sie auch schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber gleich über diesen Zusatz und wurde infolgedessen noch gereizter. »Mir ist die Sache zu dumm, hören Sie, und zwar seit langem ... ich bin zum Teil deswegen krank gewesen ... mit einem Worte«, schrie er beinahe auf, da er fühlte, daß die Bemerkung über seine Krankheit noch überflüssiger war, »mit einem Worte: wollen Sie mich entweder vernehmen oder entlassen, und zwar sofort ... und wenn Sie mich vernehmen wollen, so nicht anders als in aller Form! Anders erlaube ich es nicht; und darum verabschiede ich mich einstweilen von Ihnen, da wir jetzt beide miteinander nichts zu schaffen haben.« »Mein Gott! Was fällt Ihnen ein?! Worüber soll ich denn Sie vernehmen?« gackerte auf einmal Porfirij Petrowitsch, der plötzlich seinen Ton und seine Miene änderte und zu lachen aufhörte. »Regen Sie sich, bitte, nicht auf«, rief er, indem er wieder bald im Zimmer auf und ab lief und bald Raskolnikow zum Sitzen nötigte. »Wir haben ja Zeit, wir haben Zeit, und alles ist Unsinn! Im Gegenteil, ich freue mich so, daß Sie endlich zu uns gekommen sind ... Ich empfange Sie als einen Gast. Und dieses verfluchte Lachen müssen Sie mir schon verzeihen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. Rodion Romanowitsch – so heißen Sie doch mit Ihren Vatersnamen? ... Ich hin so nervös, Sie haben mich durch Ihre geistreiche Bemerkung zum Lachen gebracht; zuweilen schüttele ich mich vor Lachen wie ein Stück Gummi, und das dauert eine halbe Stunde ... Ich bin leicht zum Lachen zu bringen. Bei meiner Körperfülle fürchte ich sogar einen Schlaganfall. Setzen Sie sich doch, was haben Sie denn? Ich bitte Sie, Väterchen, sonst muß ich glauben, daß Sie mir böse sind ...« Raskolnikow schwieg, hörte zu und beobachtete, immer noch mit vor Zorn finsterem Gesicht. Er setzte sich übrigens hin, behielt aber die Mütze in der Hand. »Ich will Ihnen etwas über mich selbst mitteilen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, sozusagen zu meiner Charakteristik«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her lief und wie früher den Blicken seines Gastes auszuweichen schien. »Wissen Sie, ich bin Junggeselle, ein ganz unbekannter Mensch, ohne gesellschaftlichen Schliff, ein abgeschlossener, reifer Charakter und ... und ... und haben Sie es schon bemerkt, Rodion Romanowitsch: wenn bei uns, das heißt in Rußland, und besonders in unseren Petersburger Kreisen, zwei kluge Menschen, die miteinander noch nicht gut bekannt sind, aber sich gegenseitig sozusagen achten, wie wir beide, zusammenkommen, so können sie eine geschlagene halbe Stunde kein Thema für ein Gespräch finden, – sie erstarren voreinander, sitzen da und genieren sich. Alle Menschen haben einen Gesprächsstoff, zum Beispiel die Damen ... auch die Salonmenschen aus den höheren Gesellschaftskreisen haben stets ein Gesprächsthema, c'est de rigueur; aber Menschen aus mittleren Schichten, wie wir beide – werden immer leicht verlegen und sind nicht gesprächig ... ich meine die denkenden Menschen. Woher kommt das nur, Väterchen? Haben wir keine gesellschaftlichen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nicht betrügen wollen, – das weiß ich nicht. Nun, was glauben Sie? Legen Sie aber Ihre Mütze weg, es sieht so aus, als wollten Sie schon weggehen, ich muß mich genieren, wenn ich es sehe ... Ich bin im Gegenteil so froh ...« Raskolnikow legte seine Mütze weg und hörte schweigend und ernst, mit finsterem Gesicht dem leeren und verworrenen Geschwätz Porfirijs zu. – Will er vielleicht wirklich meine Aufmerksamkeit mit seinem dummen Geschwätz ablenken? – »Ich biete Ihnen keinen Kaffee an, denn es ist hier nicht der passende Ort dafür; aber so an die fünf Minuten kann ich doch mit einem guten Freunde sitzen, zum Zeitvertreib«, schwatzte Porfirij unermüdlich weiter. »Und wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, Väterchen, daß ich immer hin und her renne; entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken; aber ich muß unbedingt Bewegung haben. Ich sitze immer auf einem Fleck und bin froh, wenn ich mal fünf Minuten herumgehen kann ... es sind die Hämorrhoiden ... ich habe immer die Absicht, mich mit Gymnastik zu behandeln; man sagt, daß in einer solchen Turnanstalt Staatsräte, Wirkliche Staatsräte und sogar Geheimräte gern über eine Schnur springen; so vorgeschritten ist die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... Was aber die hiesigen Pflichten betrifft, die Verhöre und alle Formalitäten ... Sie sprachen eben, Väterchen, von den Verhören ... so muß ich Ihnen sagen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, daß so ein Verhör den Verhörer oft mehr verwirrt als den zu Verhörenden. Das haben Sie, Väterchen, eben sehr richtig und geistreich bemerkt. (Raskolnikow hatte nichts dergleichen bemerkt.) Man wird verwirrt, wirklich, man wird verwirrt! Und immer ein und dasselbe, ein und dasselbe, wie eine Trommel! Die Reform steht vor der Tür, wir werden wenigstens eine neue Benennung bekommen, he-he-he! Und was unsere juristischen Kunstgriffe betrifft – wie Sie es so geistreich genannt haben –, so bin ich vollkommen der gleichen Meinung. Aber wer von den Angeklagten, selbst von den dümmsten Bauern weiß nicht, daß man zunächst anfangen wird, ihn zum Beispiel mit abseitsliegenden Fragen einzuschläfern, wie Sie sich so glücklich ausgedrückt haben, um ihn dann plötzlich zu betäuben, wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel, he-he-he! mit einem Beilhieb auf den Scheitel, wie Sie sich so treffend ausgedrückt haben! He-he! Sie haben also wirklich geglaubt, daß ich die Absicht hatte, Sie mit der Dienstwohnung ... he-he! Sie sind aber ein ironischer Mensch! Nun, ich rede nicht mehr davon! Ach ja, à propos, ein Wort ruft das andere herbei, ein Gedanke ruft den andern – Sie haben vorhin auch die Form erwähnt, wissen Sie? – die Form des Verhörs ... Ja, was ist die Form? Die Form ist, wissen Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchmal ist ein einfaches freundschaftliches Gespräch viel vorteilhafter. Die Form läuft nicht davon, in dieser Beziehung kann ich Sie beruhigen; und was ist auch im Grunde genommen die Form, ich bitte Sie? Man darf nicht den Untersuchungsrichter auf jedem Schritt an die Form binden. Die Tätigkeit des Untersuchungsrichters ist sozusagen eine freie Kunst ihrer Art, oder etwas von dieser Art. He-he-he! ...« Porfirij Petrowitsch hielt inne und holte Atem. Er redete drauflos, unermüdlich; bald schüttete er sinnlose, leere Phrasen hin, bald ließ er rätselhafte Anspielungen fallen, um dann wieder mit albernem Geschwätz zu beginnen. Er lief schon fast hin und her, bewegte seine dicken Beinchen immer schneller und blickte fortwährend zu Boden; die rechte Hand hielt er im Rücken und machte mit der linken Bewegungen, die immer auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow merkte plötzlich, daß er bei seinem Hin-und Herlaufen einigemal für einen Augenblick an der Tür stehen blieb und hinauszuhorchen schien ... – Wartet er vielleicht auf etwas? – »In dieser Beziehung hatten Sie vollkommen recht«, fing Porfirij wieder an, wobei er Raskolnikow lustig und ungewöhnlich treuherzig anblickte (so daß jener zusammenfuhr und sich sofort auf alles gefaßt machte) – »vollkommen recht, als Sie über die juristischen Formen so witzig spotteten, he-he! Diese tiefsinnig psychologischen Kunstgriffe – natürlich nur manche von ihnen – sind furchtbar komisch und vielleicht auch nutzlos, wenn sie durch die Form zu sehr beschränkt werden. Jawohl ... ich komme wieder auf die Form: wenn ich also in irgendeiner Sache, mit der ich betraut bin, den einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser gesagt, des Verbrechens verdächtige ... Sie wollen doch Jurist werden, Rodion Romanowitsch ...?« »Ja, ich hatte die Absicht ...« »Da haben Sie also ein kleines Beispiel für die Zukunft, das heißt, glauben Sie nur nicht, daß ich es wage, Sie zu belehren: Sie schreiben doch selbst so fabelhafte Aufsätze über das Verbrechen! Nein, ich erlaube mir nur, Ihnen als Tatsache, als Beispiel, anzuführen ... Wenn ich also den einen oder anderen für den Verbrecher halte – warum soll ich ihn, frage ich Sie, vor der Zeit beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum Beispiel so schnell als möglich verhaften lassen, ein anderer ist aber ganz anders geartet, warum soll er nicht noch etwas in der Stadt herumspazieren, he-he-he! Nein, ich sehe, Sie verstehen es gar nicht, darum will ich es Ihnen klarer darstellen: wenn ich ihn zum Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm damit vielleicht eine moralische Stütze, he-he! Sie lachen? (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen: er saß mit zusammengebissenen Zähnen da und wandte seinen fieberhaften Blick nicht von den Augen Porfirij Petrowitschs.) Und doch ist es so, bei manchen Subjekten ganz besonders, denn die Menschen sind verschieden, über alles geht aber die Praxis. Sie werden jetzt sagen: Indizien; ja, nehmen wir sogar an, daß Indizien vorliegen, aber die Indizien, Väterchen, haben in den meisten Fällen zwei Enden, ich aber bin Untersuchungsrichter, also ein schwacher Mensch und muß gestehen: wie gern möchte ich meine Untersuchung mathematisch klar darstellen, einen Beweis erbringen, daß alles so klar sei, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer direkten und unbestreitbaren Deduktion gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit einsperre – und wenn ich auch noch so überzeugt bin, daß er es ist –, so kann ich mich vielleicht auch selbst der Mittel zur weiteren Überführung berauben, und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Position gebe, ihn sozusagen psychologisch bestimme und beruhige, und er sich dann vor mir in seine Schale verkriecht: er begreift schließlich, daß er ein Gefangener ist. Man sagt, daß in Sebastopol, gleich nach der Schlacht bei Alma, die klugen Leute furchtbare Angst gehabt hätten, daß der Feind die Stadt in offenem Sturm attackieren und nehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele aufstellte, so hatten sich die klugen Leute, wie man sagt, so furchtbar gefreut und vollkommen beruhigt; die Sache zieht sich also wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert noch eine Weile, bis sie die Stadt durch eine regelrechte Belagerung nehmen. Sie lachen wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie haben natürlich recht. Tausendmal recht! Das sind lauter Einzelfälle, ich bin mit Ihnen einverstanden; der von mir angeführte Fall ist tatsächlich ein Einzelfall! Es ist aber dabei folgendes zu beachten, mein bester Rodion Romanowitsch: den allgemeinen Fall, auf den alle juristischen Formen und Vorschriften passen, für den sie, wie sie in den Büchern stehen, berechnet sind, gibt es in Wirklichkeit gar nicht, denn jede Sache, ohne Ausnahme, sogar zum Beispiel das Verbrechen, wird, sobald es in Wirklichkeit geschieht, zu einem ausgesprochenen Einzelfall; zuweilen sogar zu einem solchen, der unter den vorhergehenden nicht seinesgleichen hat. In dieser Beziehung gibt es zuweilen sehr komische Fälle. Wenn ich manchen Herrn vollkommen in Ruhe lasse, ihn nicht verhafte und nicht belästige, aber dafür sorge, daß er jede Stunde und jede Minute wisse oder wenigstens vermute, daß ich alles weiß, daß ich alle Fäden aufgedeckt habe, ihn Tag und Nacht beobachte und bewache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte und in ständiger Angst fühlt, so wird er, bei Gott, ganz verrückt; dann kann er auch selbst zu mir kommen und vielleicht noch etwas anstellen, was dem Zweimalzwei ähnlich sieht, was sozusagen ein mathematisches Aussehen hat – und das ist höchst angenehm. Das kann auch mit einem dummen Bauern geschehen, mit unsereinem aber, einem modern gebildeten und in einer bestimmten Richtung entwickelten Menschen erst recht! Darum ist es, mein Lieber, so wichtig, festzustellen, in welcher Richtung der Mensch entwickelt ist. Und erst die Nerven, die Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Alle diese Menschen sind heutzutage krank, heruntergekommen und gereizt! ... Und wieviel Galle sie alle haben! Das ist doch, sage ich Ihnen, eine Goldgrube ihrer Art! Und was soll ich mich beunruhigen, wenn er ungefesselt in der Stadt herumspaziert!? Soll er nur vorläufig spazierengehen, soll er nur; ich weiß auch ohnehin, daß er mein Opferchen ist und nirgends durchbrennt! Wohin soll er auch durchbrennen? He-he! Vielleicht ins Ausland? Ins Ausland wird der Pole durchbrennen, doch nicht er , um so mehr, als ich ihn beobachte und auch Maßregeln ergriffen habe. Wird er vielleicht in die Tiefe des Vaterlandes fliehen? Dort leben aber die Bauern, die echten, einfachen, russischen Bauern; so ein modern gebildeter Mensch wird eher das Zuchthaus vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, zu leben, he-he! Dies alles ist aber Unsinn und nur äußerlich. Was heißt das: er wird durchbrennen? Das ist ja nur Form, und nicht Hauptsache; er wird mir nicht nur deshalb nicht durchbrennen, weil er nirgendhin durchbrennen kann, – er wird mir psychologisch nicht durchbrennen, he-he! Das ist doch ein netter Ausdruck! Er wird mir schon nach dem Naturgesetz nicht durchbrennen, selbst wenn er wüßte, wohin. Haben Sie mal einen Schmetterling vor einer Kerze gesehen? So wird auch er immer um mich wie um eine Kerze herumschwirren; seine Freiheit wird ihn nicht mehr freuen, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, wird sich selbst wie in ein Netz verstricken und Todesangst leiden! ... Und noch mehr als das: er wird mir selbst eine mathematische Überraschung, wie zweimal zwei liefern, wenn ich ihm nur eine möglichst lange Spanne Zeit dazu lasse ... Und er wird immer, immer seine Kreise um mich ziehen, mit immer kleinerem Radius, und – hat ihn schon! Er wird mir direkt in den Mund fliegen, und ich werde ihn verschlucken, das ist schon sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben es nicht?« Raskolnikow gab keine Antwort. Er saß bleich und unbeweglich da und blickte Porfirij mit der gleichen Spannung ins Gesicht. – Das ist eine gute Lehre! – dachte er erschauernd. – Das ist nicht mehr das Spiel der Katze mit der Maus, wie gestern. Er wird mir doch nicht nutzlos seine Kraft zeigen und ... mir etwas suggerieren; er ist viel zu klug dazu ... Er hat ein anderes Ziel, doch was für eins? Ach, Unsinn, Bruder, du schwindelst und willst mir nur Angst machen: Du hast gar keine Beweise, und der gestrige Mann existiert nicht! Du willst mich einfach aus dem Konzept bringen, mich vorzeitig reizen und in diesem Zustande einfangen; aber du irrst, es wird dir nicht gelingen! Aber warum suggeriert er mir alles mit solcher Energie? ... Er spekuliert auf meine kranken Nerven! ... Nein, Bruder, du irrst, es wird dir nicht gelingen, und wenn du auch etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir sehen, was du vorbereitet hast. Und er nahm alle seine Kräfte zusammen, um auf eine schreckliche und unbekannte Katastrophe bereit zu sein. Zuweilen spürte er Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf der Stelle zu erwürgen. Er hatte schon beim Eintreten diese Wut gefürchtet. Er fühlte, daß seine Lippen ausgetrocknet waren, daß sein Herz klopfte und daß an seinen Lippen der Schaum trocknete. Und doch entschloß er sich, zu schweigen und kein Wort vor der Zeit zu sprechen. Er begriff, daß dies die beste Taktik in seiner Lage sei, weil er sich auf diese Weise nicht bloß nicht versprechen könne, sondern im Gegenteil den Gegner durch sein Schweigen reizen könnte, so daß vielleicht jener sich versprechen würde. Jedenfalls hoffte er darauf. »Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie denken, daß ich Ihnen harmlose Späße auftische«, fuhr Porfirij fort, immer lustiger werdend, vor Vergnügen ununterbrochen kichernd und dann wieder im Zimmer kreisend. »Sie haben natürlich recht; meine Gestalt ist schon von Gott selbst so geschaffen, daß sie nur komische Gedanken beim andern weckt; ein Hanswurst bin ich! Aber ich sage Ihnen noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen, Rodion Romanowitsch; Sie sind noch ein junger Mensch, stehen sozusagen in der Blüte des Lebens, und darum schätzen Sie, wie unsere ganze Jugend, den menschlichen Verstand über alles. Die pikante Schärfe des Geistes und die abstrakten Vernunftschlüsse reizen Sie. Es ist genau so wie zum Beispiel mit dem früheren österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über die kriegerischen Ereignisse zu urteilen vermag: auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangengenommen, in ihrem Schreibzimmer hatten sie alles auf die geistreichste Weise berechnet und ausgetüftelt – aber, sieh mal an: der General Mack ergibt sich mit seiner ganzen Armee, he-he-he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen, Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß ich, der ich Zivilist bin, lauter Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführe. Aber was soll ich machen, es ist eine Schwäche von mir, ich liebe die Kriegswissenschaft und lese leidenschaftlich gern alle die Kriegsberichte ... ich habe entschieden meinen eigentlichen Beruf verfehlt. Ich hätte doch wirklich im Militärressort dienen sollen. Zu einem Napoleon hätte ich es vielleicht nicht gebracht, aber zu einem Major ganz sicher, he-he-he! Nun will ich Ihnen, mein Bester, die ganze Wahrheit vom Einzelfall enthüllen; die Wirklichkeit und die Natur sind wichtige Dinge, verehrter Herr, und schmeißen zuweilen die scharfsinnigste Berechnung um! Hören Sie nur auf mich alten Mann, ich meine es ernst, Rodion Romanowitsch (der kaum fünfunddreißigjährige Porfirij Petrowitsch schien bei diesen Worten tatsächlich gealtert zu sein: selbst seine Stimme hatte sich verändert, und er selbst war wie eingeschrumpft); außerdem bin ich ein aufrichtiger Mensch ... Bin ich aufrichtig oder nicht? Wie glauben Sie? Ich meine doch, ich bin durchaus aufrichtig, wenn ich Ihnen solche Dinge umsonst mitteile und dafür sogar keine Belohnung verlange, he-he! Ich fahre also fort: Scharfsinn ist meines Erachtens eine ausgezeichnete Sache; er ist sozusagen eine Zierde der Natur, ein Trost des Lebens; er kann zuweilen solche Rätsel aufgeben, daß so ein armer Untersuchungsrichter unmöglich dahinter kommen kann; der wird ja außerdem auch von seiner eigenen Phantasie hingerissen, was doch immer der Fall ist, denn er ist doch auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran denkt aber nie die vom Scharfsinn hingerissene Jugend, ›die sich über alle Hindernisse hinwegsetzt‹ (wie Sie sich gestern so geistreich und scharfsinnig auszudrücken beliebten). Er wird vielleicht auch lügen, das heißt: der Mensch, der Einzelfall , das Inkognito wird lügen und wird es sogar ausgezeichnet und sehr schlau machen; nun sollte man meinen, er triumphiert und kann die Früchte seines Scharfsinns genießen, aber gefehlt! – an der interessantesten und skandalösesten Stelle fällt er in Ohnmacht. Allerdings ist er krank, in seinem Zimmer ist es wohl so dumpf, aber immerhin! Immerhin hat er einen Gedanken gegeben! Gelogen hat er unvergleichlich, hat aber nicht verstanden, die Natur mit in Betracht zu ziehen. Darin liegt eben die Tücke! Ein andermal läßt er sich von den Launen seines Scharfsinns hinreißen und beginnt, einen, der ihn verdächtigt, zum Narren zu halten: er erbleicht wie absichtlich, wie im Spiel, erbleicht aber gar zu natürlich , zu wahrheitsgetreu, und damit gibt er wieder einen Gedanken! Wenn es ihm zum erstenmal auch glückt, den andern zu betrügen, so kann sich der andere über Nacht die Sache überlegen, wenn er nicht zu dumm ist. Und so ist es auf Schritt und Tritt! Und noch mehr als das: Er fängt an, vorauszueilen, steckt überall seine Nase hinein, redet ununterbrochen davon, wovon er eigentlich schweigen müßte, läßt allerlei Andeutungen los, he-he! – kommt auch selbst und fragt: Warum nimmt man mich so lange nicht fest? He-he-he! Und das kann auch dem geistreichsten Menschen passieren, einem Psychologen und Literaten! Die Natur ist ein Spiegel, der beste Spiegel! Sieh nur hinein und erfreue dich, ja, so ist es! Warum sind Sie aber so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es hier nicht zu dumpf, soll ich nicht das Fensterchen aufmachen?« »Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bemühen Sie sich, bitte, nicht!« Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und fing selbst zu lachen an; Raskolnikow erhob sich vom Sofa und brach plötzlich seinen krampfartigen Lachanfall ab. »Porfirij Petrowitsch!« sagte er laut und deutlich, obwohl er sich auf den zitternden Füßen kaum halten konnte. »Ich sehe endlich klar, daß Sie mich des Mordes an dieser Alten und ihrer Schwester Lisaweta verdächtigen. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß mir das alles schon längst zu dumm ist. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, – zu verhaften, so verhaften Sie mich. Aber daß man mir ins Gesicht lacht und mich quält, das erlaube ich nicht ...« Plötzlich zitterten seine Lippen, seine Augen funkelten vor Wut, und die bisher zurückgehaltene Stimme klang hell und laut. »Das erlaube ich nicht!« schrie er plötzlich auf und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie es, Porfirij Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!« »Ach, mein Gott, was haben Sie wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, der wirklich erschreckt schien. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Liebster! Väterchen! Was haben Sie nur?« »Ich erlaube es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal. »Väterchen, seien Sie still! Man wird es ja hören und herkommen! Was sollen wir dann sagen, bedenken Sie es doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch ganz entsetzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte. »Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber plötzlich im Flüsterton. Porfirij wandte sich schnell um und lief zum Fenster, um es zu öffnen. »Frische Luft! Sie müßten auch etwas Wasser trinken, mein Liebster, es ist ja ein Anfall!« Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, aber in der Ecke fand sich zum Glück eine Wasserkaraffe. »Väterchen, trinken Sie doch,« flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm stürzend, »vielleicht wird es Ihnen helfen ...« Der Schreck und selbst die Teilnahme Porfirij Petrowitschs waren so natürlich, daß Raskolnikow verstummte und ihn mit wahnsinniger Neugier zu betrachten begann. Das Wasser nahm er jedoch nicht an. »Rodion Romanowitsch! Liebster! So können Sie noch den Verstand verlieren! Ach! Trinken Sie doch, trinken Sie doch wenigstens etwas!« Er zwang ihn dabei, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Jener führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es angeekelt auf den Tisch. »Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt. So werden Sie, mein Lieber, wieder die alte Krankheit kriegen!« gackerte mit freundschaftlicher Teilnahme Porfirij Petrowitsch, der übrigens noch immer fassungslos schien. »Mein Gott, wie kann man sich nur so gar nicht schonen? Auch Dmitrij Prokofjitsch war gestern bei mir – ich gebe zu, ich gebe zu, daß ich einen unangenehmen, schlechten Charakter habe, aber was Sie daraus für Schlüsse gezogen haben! ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, gleich als Sie gegangen waren, wir aßen zu Mittag, er redete und redete, ich starrte ihn bloß an; und ich denke mir ... du lieber Gott! War er etwa in Ihrem Auftrage gekommen? Setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich um Christi willen!« »Nein, nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen gegangen war und warum er gegangen war«, antwortete Raskolnikow scharf. »Sie wußten es?« »Ich wußte es. Was ist denn dabei?« »Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von Ihnen; alles ist mir bekannt! Ich weiß ja, wie Sie eine Wohnung mieten gingen, spät am Abend, als es schon dunkelte; wie Sie klingelten und nach dem Blute fragten und die Arbeiter und Hausknechte ganz konfus machten. Ich verstehe ja vollkommen Ihren Seelenzustand, das heißt den damaligen ... So werden Sie sich aber einfach um den Verstand bringen, bei Gott! Der Kopf wird Ihnen schwindeln! Eine Empörung kocht in Ihnen, eine edle Empörung über die Beleidigungen, die Sie zuerst vom Schicksal und dann von den Beamten auf dem Polizeirevier erlitten haben; und darum werfen Sie sich hin und her, um alle sozusagen schneller zum Sprechen zu zwingen und damit allem ein Ende zu machen, denn Sie sind schon aller dieser Dummheiten und Verdächtigungen überdrüssig geworden. Es ist doch so? Ich habe doch die Stimmung erraten? ... Sie werden aber so nicht nur sich selbst, sondern auch den Rasumichin verrückt machen; er ist doch ein viel zu guter Mensch dazu, das wissen Sie selbst. Sie haben die Krankheit, er aber hat die Tugend, darum ist die Krankheit für ihn ansteckend ... Ich werde Ihnen, Väterchen, wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... Setzen Sie sich doch, Väterchen, um Christi willen! Bitte, ruhen Sie aus, Sie sind blaß wie ein Toter. Setzen Sie sich doch!« Raskolnikow setzte sich; das Zittern hörte auf, und er fühlte am ganzen Körper Fieberhitze. Mit tiefem Erstaunen hörte er gespannt dem erschrockenen Porfirij Petrowitsch zu, der sich so freundschaftlich um ihn bemühte. Er glaubte aber keinem seiner Worte, obwohl er auch eine seltsame Versuchung empfand, ihm zu glauben. Die unerwarteten Worte Porfirijs über die Wohnung machten ihn ganz bestürzt: – Wie ist es nun, er weiß es also, das von der Wohnung? – dachte er plötzlich: – und erzählt es mir selbst! – »Ja, wir hatten einen fast ebensolchen psychologischen Fall in unserer Gerichtspraxis, einen krankhaften Fall«, fuhr Porfirij sich überstürzend fort. »Da hat sich auch einer eines Mordes bezichtigt, und wie: eine ganze Halluzination tischte er auf, brachte Tatsachen, erzählte alle Umstände, machte alle und jeden ganz konfus, und was stellte sich heraus? Er selbst war ganz ohne Absicht und nur zum Teil mit die Ursache des Mordes gewesen; als er aber erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit zum Morde gegeben hatte, wurde er schwermütig und melancholisch, bekam Halluzinationen, wurde ganz verrückt und redete sich ein, daß er der Mörder sei! Aber der Regierende Senat klärte schließlich die Sache ganz auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in ärztliche Pflege gegeben. Dank dem Regierenden Senate! Ach ja, wie ist es nun, Väterchen? So kann man leicht ein Nervenfieber kriegen, wenn man schon solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, nachts auszugehen, um die Klingel zu ziehen und nach dem Blut zu fragen! Die psychischen Zustände habe ich ja in der Praxis gut studiert. So hat der Mensch manchmal auch eine Anwandlung, aus einem Fenster oder von einem Glockenturme zu springen, es ist eine so verführerische Empfindung. Auch das mit der Klingel ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Sie haben angefangen, Ihre Krankheit allzusehr zu vernachlässigen. Sie hätten doch einen ordentlichen Medikus zu Rate ziehen sollen, was ist denn dieser Dicke wert! ... Sie phantasieren! Alles tun Sie im Fieber! ...« Einen Augenblick lang drehte sich alles vor Raskolnikows Augen wie im Wirbel. – Lügt er denn auch jetzt? – ging es ihm durch den Sinn, – auch jetzt? Es ist unmöglich, unmöglich! – Er stieß den Gedanken von sich, da er im voraus wußte, bis zu welchem Grade von Raserei und Wut ihn dieser Gedanke bringen könnte, und da er fühlte, daß er nahe daran sei, vor Wut verrückt zu werden. »Es war nicht im Fieber, es war bei vollem Bewußtsein!« schrie er, indem er alle Kräfte seines Verstandes anspannte, um in das Spiel Porfirijs einzudringen. »Bei vollem Bewußtsein! Hören Sie es?!« »Ja, ich verstehe und höre es! Sie haben auch gestern gesagt, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Sie haben sogar besonders betont, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Ich verstehe alles, was Sie nur sagen können! Ach ja! ... Hören Sie mal, Rodion Romanowitsch, mein Wohltäter, nehmen Sie zum Beispiel diesen Umstand. Wenn Sie in der Tat der Verbrecher oder in diese verfluchte Sache irgendwie verwickelt wären, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie es nicht im Fieber, sondern bei vollem Bewußtsein getan hätten? Und dazu noch so trotzig mit solcher Hartnäckigkeit betonen, ich bitte Sie! Ich meine, Sie würden sich ganz anders verhalten. Wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt wären, so müßten Sie unbedingt betonen, daß alles im Fieber gewesen sei! Nicht wahr? Es ist doch so?« In dieser Frage glaubte Raskolnikow etwas Heimtückisches zu hören. Er rückte von Porfirij, der ihn schweigend, unverwandt und fragend beobachtete, zur Sofalehne zurück. »Oder zum Beispiel das mit Herrn Rasumichin, das heißt, ob er gestern ganz von selbst kam oder auf Ihre Veranlassung? Sie müßten doch unbedingt sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte! Sie verheimlichen es aber nicht! Sie betonen doch, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen war!« Raskolnikow hatte dies niemals betont. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Sie lügen immerfort!« sagte er langsam und mit schwacher Stimme, während sich seine Lippen zu einem krankhaften Lächeln verzerrten. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel durchschauen und alle meine Antworten im voraus wissen«, sagte er und fühlte selbst fast nicht, daß er seine Worte nicht mehr ordentlich abwog. »Sie wollen mich einschüchtern ... oder Sie lachen einfach über mich ...« Er fuhr fort, ihn unverwandt anzusehen, als er das sagte, und plötzlich leuchtete grenzenloser Haß wieder in seinen Augen auf. »Sie lügen immer!« rief er aus. »Sie wissen doch selbst sehr gut, daß es der beste Ausweg für den Verbrecher ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sprechen ... nach Möglichkeit nicht zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann! Ich glaube Ihnen nicht!« »Wie Sie sich aber hin und her winden!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen kann man gar nicht fertig werden, Väterchen: eine Monomanie hat sich in Ihnen festgesetzt. Sie glauben mir also nicht? Ich aber will Ihnen sagen, daß Sie mir schon glauben, daß Sie mir schon einen Viertel Arschin glauben, und ich werde es bald erreichen, daß Sie mir einen ganzen Arschin glauben, denn ich habe Sie aufrichtig gern und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.« Raskolnikows Lippen zitterten. »Jawohl, das wünsche ich Ihnen, und ich will Ihnen endgültig sagen«, fuhr er fort, indem er Raskolnikows Arm leicht und freundschaftlich oberhalb des Ellbogens ergriff. »Ich will Ihnen endgültig sagen: geben Sie doch auf Ihre Krankheit acht. Außerdem haben Sie ja Besuch von Ihren Angehörigen; denken Sie doch auch an sie. Sie sollten sie beruhigen und zartfühlend behandeln, Sie machen ihnen aber nur Angst ...« »Was geht Sie das an? Wie können Sie das wissen? Warum interessieren Sie sich so dafür? Folglich beobachten Sie mich und wollen es mir zeigen?« »Väterchen! Das habe ich doch von Ihnen selbst erfahren, von Ihnen selbst! Sie merken ja gar nicht, daß Sie das alles in Ihrer Erregung mir und auch den anderen erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, ich aber will Ihnen sagen, daß Sie durch Ihren Argwohn bei all Ihrem Scharfblick selbst das gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren haben. Nehmen wir als Beispiel wieder das mit der Klingel: so einen wertvollen Schatz, eine solche Tatsache (es ist doch eine ganze Tatsache!) habe ich, der Untersuchungsrichter, Ihnen mit Haut und Haaren ausgeliefert! Sehen Sie denn nichts darin? Wenn ich Sie doch nur ein wenig verdächtigte, dürfte ich so handeln? Im Gegenteil, ich müßte zuerst Ihren Argwohn einschläfern und durch keine Miene verraten, daß ich über diese Tat schon unterrichtet bin. Ich müßte Sie in eine entgegengesetzte Richtung ablenken und dann plötzlich wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel (wie Sie sich selbst ausdrückten) betäuben: ›Was haben Sie, verehrter Herr, gestern in der Wohnung der Ermordeten gemacht, um zehn Uhr abends, oder vielleicht gar um elf? Und warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum haben Sie nach dem Blute gefragt? Und warum haben Sie die Hausknechte konfus gemacht und aufgefordert, aufs Revier zum Polizeileutnant zu gehen?‹ So hätte ich vorgehen müssen, wenn ich auch den geringsten Verdacht gegen Sie hätte! Ich müßte Sie in aller Form vernehmen, eine Haussuchung bei Ihnen abhalten und Sie vielleicht auch verhaften ... Folglich hege ich doch nicht den Verdacht gegen Sie, wenn ich anders vorgehe! Sie aber haben jedes gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren und sehen nichts, wiederhole ich!« Raskolnikow fuhr am ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es allzu deutlich merkte. »Sie lügen immer!« rief er aus. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen, und ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!« »Ich lüge?« fiel ihm Porfirij ins Wort, scheinbar erregt, doch mit der gleichen lustigen und spöttischen Miene; er schien sich nicht im geringsten darum zu kümmern, welche Ansicht über ihn Herr Raskolnikow hatte. »Ich lüge? ... Wie habe ich mich aber vorhin Ihnen gegenüber benommen (ich, der Untersuchungsrichter), – indem ich Ihnen selbst alles suggerierte, alle Mittel zur Verteidigung lieferte und Ihnen selbst die ganze Psychologie erklärte: ›Es war die Krankheit, ein Fieberwahn, ich war beleidigt; die Melancholie und die Beamten auf dem Polizeirevier‹, und dergleichen! Wie? He-he-he! Obwohl ich Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen möchte, daß alle diese psychologischen Mittel zur Verteidigung, alle diese Ausflüchte und Finten wenig nützen und zwei Enden haben: ›Es war die Krankheit, das Delirium, Träume, es kam mir nur so vor, ich weiß nichts mehr,‹ – das stimmt alles, aber warum sind Ihnen, Väterchen, in der Krankheit, im Fieber gerade solche Träume gekommen und keine anderen? Es hätten ja auch andere kommen können? Nicht wahr? He-he-he!« Raskolnikow blickte ihn stolz und mit Verachtung an. »Mit einem Worte,« sagte er eindringlich und laut, indem er aufstand und Porfirij dabei ein wenig zur Seite stieß, »ich möchte wissen: halten Sie mich für endgültig frei von jedem Verdacht – oder nicht? Sagen Sie es, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie es positiv und endgültig, und schnell, sofort!« »Ist das ein Kreuz! Was Sie einem für Schwierigkeiten machen!« rief Porfirij mit vollkommen lustiger, verschlagener und durchaus nicht besorgter Miene. »Ja, was brauchen Sie das zu wissen, warum wollen Sie so vieles wissen, wenn man noch nicht mal angefangen hat, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind doch wie ein Kind: Sie wollen unbedingt, daß man Ihnen das Feuer in die Hand gibt! Und warum regen Sie sich so auf? Warum drängen Sie sich uns so auf, aus welchem Grunde? Wie? He-he-he!« »Ich sage Ihnen noch einmal,« rief Raskolnikow, außer sich vor Wut, »daß ich es nicht länger ertragen kann!« »Was denn? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij. »Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will es nicht! ... Ich sage Ihnen ja, daß ich es nicht will! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. »Stiller doch, stiller! Man wird Sie hören! Ich warne Sie ernsthaft: Schonen Sie sich. Ich spaße nicht!« flüsterte Porfirij Petrowitsch; diesmal war aber in seinem Gesicht nicht mehr der frühere weibisch-gutmütige und erschrockene Ausdruck, im Gegenteil, jetzt befahl er streng, mit gerunzelten Brauen, als ließe er alle Geheimnisse und Zweideutigkeiten auf einmal fallen. Das dauerte aber nur einen Augenblick. Der anfangs bestürzte Raskolnikow geriet plötzlich in echte Wut; aber seltsam: er folgte wieder dem Befehl, leiser zu sprechen, obwohl er auch in höchster Raserei war. »Ich lasse mich nicht quälen!« flüsterte er wie vorhin und merkte zugleich mit Schmerz und Haß, daß er nicht umhin konnte, dem Befehle zu folgen, und dieser Gedanke versetzte ihn in eine noch größere Raserei. »Verhaften Sie mich, durchsuchen Sie mich, aber behandeln Sie mich nach der gesetzlichen Form, und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht ...« »Kümmern Sie sich doch nicht um die Form«, unterbrach ihn Porfirij mit dem früheren verschlagenen Lächeln, indem er Raskolnikow mit scheinbarem Vergnügen betrachtete. »Ich habe Sie, Väterchen, ganz privat und freundschaftlich eingeladen!« »Ich will Ihre Freundschaft nicht, und ich spucke auf sie! Hören Sie es? Und sehen Sie; ich nehme meine Mütze und gehe fort. Nun, was wirst du jetzt sagen, wenn du mich verhaften willst?« Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür. »Wollen Sie denn nicht die kleine Überraschung sehen?« kicherte wieder Porfirij, indem er ihn wieder am Arm oberhalb des Ellbogens nahm und an der Tür festhielt. Er wurde sichtlich lustiger und vergnügter, was Raskolnikow endgültig aus der Fassung brachte. »Was für eine Überraschung? Was ist los?« fragte er plötzlich, stehen bleibend und Porfirij erschrocken anblickend. »Die kleine Überraschung habe ich hier hinter der Tür sitzen, he-he-he! (Er zeigte mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der rückwärtigen Wand, die in seine Dienstwohnung führte.) Ich habe Sie eingeschlossen, damit Sie nicht davonlaufen.« »Was ist? Wo? Was? ...« Raskolnikow ging zu der Tür und wollte sie öffnen, sie war aber verschlossen. »Sie ist verschlossen, hier ist der Schlüssel!« Und er holte in der Tat aus der Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm. »Du lügst immer!« schrie Raskolnikow, der sich nicht länger beherrschte. »Du lügst, verfluchter Hanswurst!« Und mit diesen Worten stürzte er sich auf Porfirij, der sich zur Tür retiriert hatte, aber gar nicht erschrocken schien. »Ich verstehe alles, alles!« rief er, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und reizt mich, damit ich mich selbst verrate ...« »Sie können sich doch nicht mehr verraten, Väterchen, Rodion Romanowitsch! Sie rasen ja schon. Schreien Sie nicht, sonst rufe ich Leute herbei.« »Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe nur deine Leute! Du wußtest, daß ich krank bin, und wolltest mich rasend machen, damit ich mich verrate, das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles verstanden! Du hast keine Tatsachen, du hast nur elende, wertlose Hypothesen im Samjotowschen Stile! ... Du kanntest meinen Charakter, du wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Delegierten zu überfallen ... Du wartest doch auf sie? Wie? Was wartest du? Wo? Zeig sie mir doch!« »Was für Delegierte meinen Sie denn, Väterchen? Was so ein Mensch sich nicht alles einbildet! Nach den Vorschriften darf man gar nicht so vorgehen, wie Sie sagen, Sie verstehen überhaupt nichts von der Sache ... Und die Form wird uns nicht davonlaufen, Sie werden es selbst sehen! ...« murmelte Porfirij, an der Tür lauschend. In diesem Augenblick ließ sich wirklich im anderen Zimmer dicht hinter der Tür etwas wie ein Geräusch vernehmen. »Ah, sie kommen!« schrie Raskolnikow. »Du hast nach ihnen geschickt! ... Du hast sie erwartet! Du hast es berechnet ... Nun, zeig sie her alle: die Delegierten, die Zeugen, wenn du willst ... Zeig sie her! Ich bin bereit! Bereit!« Hier trat aber ein sonderbares Ereignis ein, etwas beim normalen Gang der Dinge so Unerwartetes, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowisch auf einen solchen Ausgang hatten rechnen können. 6. VI Raskolnikows Erinnerung an diesen Moment stellte sich später wie folgt dar: Das Geräusch hinter der Tür nahm schnell zu, und die Tür wurde ein wenig geöffnet. »Was ist los?!« schrie Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch gesagt ...« Es erfolgte keine sofortige Antwort, man merkte aber, daß hinter der Tür sich mehrere Menschen befanden und jemand fortzuziehen suchten. »Was ist denn los?« fragte Porfirij Petrowitsch beunruhigt. »Wir haben den Arrestanten gebracht, den Nikolai«, antwortete eine Stimme. »Nicht nötig! Fort! Warten! ... Was will er hier! Was ist das für eine Wirtschaft!« rief Porfirij, zur Tür stürzend. »Ja, er ...« begann wieder dieselbe Stimme und brach plötzlich ab. Zwei Sekunden, nicht länger dauerte ein richtiger Kampf; dann schien jemand einen anderen aus aller Kraft zurückgestoßen zu haben, und gleich darauf trat ein sehr bleicher Mann direkt ins Arbeitszimmer Porfirij Petrowitschs. Das Aussehen dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr sonderbar. Er sah gerade vor sich hin, schien aber niemand zu sehen. In seinen Augen leuchtete Entschlossenheit, zugleich aber bedeckte eine Totenblässe sein Gesicht, als hätte man ihn zur Richtstätte gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten leicht. Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, von mittlerem Wuchse, hager, mit auf Bauernart rund beschnittenen Haaren und feinen, trockenen Gesichtszügen. Der Mann, den er so plötzlich zurückgestoßen hatte, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn an der Schulter; es war ein Wachsoldat; Nikolai zog den Arm zurück und riß sich wieder los. In der Tür drängten sich mehrere Neugierige. Einige von ihnen wollten hereinkommen. Das alles spielte sich in einem Augenblick ab. »Fort, es ist noch zu früh! Wart', bis man dich ruft! ... Warum hat man ihn so früh hergebracht?« murmelte höchst ärgerlich und scheinbar verlegen Porfirij Petrowitsch. Nikolai kniete aber plötzlich nieder. »Was hast du?« rief Porfirij erstaunt. »Ich bin schuldig! Die Sünde ist mein! Ich bin der Mörder!« sagte plötzlich Nikolai, um Atem ringend, doch mit ziemlich lauter Stimme. An die zehn Sekunden schwiegen alle wie erstarrt; selbst der Wachsoldat taumelte zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran; er retirierte mechanisch zur Tür und blieb unbeweglich stehen. »Was ist los?« schrie Porfirij Petrowitsch, aus der Erstarrung erwachend. »Ich bin ... der Mörder ...« wiederholte Nikolai nach kurzem Schweigen. »Wie ... du ... Wie ... Wen hast du ermordet?« Porfirij Petrowitsch verlor sichtlich die Fassung. Nikolai schwieg wieder eine Weile. »Aljona Iwanowna und ihre Schwester, Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit einem Beil ... ermordet. Es war eine Verblendung«, fügte er plötzlich hinzu und schwieg wieder. Er lag noch immer auf den Knien. Porfirij Petrowitsch stand noch einige Augenblicke wie sinnend da, dann fuhr er plötzlich auf und winkte den ungebetenen Zeugen zu, fortzugehen. Jene verschwanden sofort, und die Tür wurde zugemacht. Dann blickte er Raskolnikow an, der in der Ecke stand und Nikolai mit wahnsinnigen Augen ansah, und ging auf ihn zu; plötzlich blieb er aber stehen, sah ihn an, richtete den Blick wieder auf Nikolai, dann wieder auf Raskolnikow, dann wieder auf Nikolai und stürzte plötzlich, wie von einem neuen Gedanken erleuchtet, auf Nikolai. »Was drängst du dich nur mit deiner Verblendung auf!« rief er ihm beinahe gehässig zu. »Ich habe dich noch nicht gefragt, ob es eine Verblendung war oder nicht! Sag: hast du gemordet?« »Ich bin der Mörder ... ich gestehe ...« sagte Nikolai. »Ah! Womit hast du gemordet?« »Mit einem Beil. Ich hatte mir eines vorbereitet.« »Ach, wie der eilt! Du allein?« Nikolai verstand die Frage nicht. »Hast du allein gemordet?« »Allein. Mitjka ist aber unschuldig und hat damit nichts zu tun.« »Komm mir noch nicht mit dem Mitjka! Ach! ...« »Wie bist du aber, nun, wie bist du damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte haben doch euch beide gesehen?« »Das war, um den Verdacht abzulenken ... damals ... als ich mit dem Mitjka lief ...« antwortete Nikolai hastig, als hätte er diese Antwort schon vorher vorbereitet. »Da haben wir es!« rief Porfirij böse. »Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht!« murmelte er wie vor sich hin und sah im selben Augenblick wieder Raskolnikow an. Er hatte sich so ganz dem Nikolai gewidmet, daß er für einen Augenblick sogar Raskolnikow vergaß. Jetzt kam er zu sich und wurde sogar verlegen ... »Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie!« rief er, zu ihm stürzend. »So geht es nicht; ich bitte Sie ... hier haben Sie nichts zu suchen ... ich bin auch selbst ... sehen Sie, was für Überraschungen! ... Ich bitte Sie! ...« Und er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Tür. »Es scheint, Sie haben es nicht erwartet?« sagte Raskolnikow, der natürlich noch nichts klar begriff, aber schon neuen Mut gefaßt hatte. »Aber auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie nur Ihr Händchen zittert! He-he-he!« »Aber auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.« »Auch ich zittere; ich habe es nicht erwartet! ...« Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig, daß Raskolnikow hinausgehe. »Und Ihre Überraschung werden Sie mir gar nicht zeigen?« fragte plötzlich Raskolnikow höhnisch. »Er spricht, und die Zähnchen im Munde klappern ihm nur so, he-he! Sie sind ein ironischer Mensch! Also auf Wiedersehen!« »Oder besser: leben Sie wohl !« »So Gott will, so Gott will«, murmelte Porfirij Petrowitsch mit einem schiefen Lächeln. Beim Passieren der Kanzlei merkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam ansahen. In der Menge im Vorzimmer bemerkte er auch die beiden Hausknechte aus jenem Hause, die er damals am Abend zum Revieraufseher schicken wollte. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er aber auf die Treppe getreten, als er hinter sich wieder die Stimme Porfirij Petrowitschs hörte. Er wandte sich um und sah, daß dieser ihm ganz außer Atem nachlief. »Nur ein Wort, Rodion Romanowitsch; alles weitere hängt von Gott ab, aber ich werde Sie auch ein wenig in aller Form vernehmen müssen ... Wir sehen uns also noch, nicht wahr?« Und Porfirij blieb vor ihm lächelnd stehen. »Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu. Man konnte annehmen, daß er noch etwas sagen wollte, es aber nicht über die Lippen bringen konnte. »Sie müssen mich wegen des Früheren entschuldigen, Porfirij Petrowitsch ... ich ließ mich hinreißen«, begann Raskolnikow, der die Fassung schon so weit gewonnen hatte, daß er den unüberwindlichen Wunsch empfand, seine Unbefangenheit zur Schau zu stellen. »Macht nichts, macht nichts«, erwiderte Porfirij fast freudig. »Auch ich selbst ... Einen giftigen Charakter habe ich, ich gestehe es, ich gestehe es! Wir sehen uns aber noch. So Gott will, sogar sehr! ...« »Und werden einander endgültig erkennen?« fiel Raskolnikow ein. »Und werden einander endgültig erkennen«, bestätigte Porfirij Petrowitsch, die Augen zusammenkneifend und ihn sehr ernst anblickend. »Und jetzt zum Namenstag?« »Zu einer Beerdigung.« »Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie aber Ihre Gesundheit, Ihre Gesundheit ...« »Ich aber weiß gar nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« entgegnete Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging, sich aber plötzlich wieder zu Porfirij Petrowitsch umwandte. »Ich würde Ihnen mehr Erfolg wünschen, aber Ihr Amt ist doch gar zu komisch!« »Warum ist es denn komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich schon auch umgewandt hatte, sofort die Ohren spitzend. »Aber gewiß! Diesen armen Mikolka haben Sie doch sicher ordentlich gequält, auf Ihre psychologische Manier gepeinigt, bis er mit dem Geständnis kam! Tag und Nacht haben Sie ihm wohl zugeredet: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! ...‹ Und jetzt, wo er es gestanden hat, werden Sie ihn wohl wieder auf die Folter spannen: ›Du lügst, du bist nicht der Mörder! Kannst nicht der Mörder sein! Es sind nicht deine eigenen Worte, die du sprichst!‹ Ist denn nach alledem Ihr Amt nicht komisch?« »He-he-he! Und Sie haben es schon bemerkt, wie ich eben sagte: ›Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht‹?« »Warum soll man es nicht merken?« »He-he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Ein lebhafter Geist! Und Sie treffen immer die komischste Seite ... he-he! ... Man sagt doch, daß unter den Schriftstellern diese Eigenschaft bei Gogol am stärksten ausgeprägt war?« »Ja, bei Gogol.« »Richtig, bei Gogol ... auf angenehmes Wiedersehen.« »Auf angenehmes Wiedersehen ...« Raskolnikow ging direkt nach Hause. Er war dermaßen konfus und verwirrt, daß er, als er schon zu Hause war und sich aufs Sofa warf, eine Viertelstunde sitzen mußte, um auszuruhen und seine Gedanken zu sammeln. An Nikolai versuchte er nicht mal zu denken: er fühlte sich wie niedergeschmettert: er fühlte, daß im Geständnis Nikolais etwas Unbegreifliches lag, etwas Erstaunliches, das er jetzt unmöglich erfassen konnte. Doch das Geständnis Nikolais war eine unumstößliche Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache wurden ihm auch sofort klar: die Lüge mußte unbedingt mal ans Licht kommen, und dann würde man wieder ihn vornehmen. Aber bis dahin war er wenigstens frei und mußte unbedingt etwas für sich unternehmen, denn die Gefahr war unvermeidlich. Doch in welchem Maße? Die Lage begann sich zu klären. Als er sich der ganzen Szene bei Porfirij, die er vorhin erlebt hatte, im Rohen , im allgemeinen Zusammenhange erinnerte, mußte er noch einmal erschauern. Natürlich kannte er noch nicht alle Absichten Porfirijs und konnte nicht alle seine Berechnungen von vorhin durchschauen. Doch ein Teil des Spiels war nun aufgedeckt, und gewiß konnte niemand besser als er verstehen, wie gefährlich für ihn dieser »Zug« im Spiele Porfirijs war. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten können . Da Porfirij seinen krankhaften Charakter kannte und ihn auf den ersten Blick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, ging er vielleicht allzu entschlossen, doch mit fast unfehlbarer Sicherheit vor. Allerdings hatte sich Raskolnikow schon früher stark kompromittiert, aber zu Tatsachen war es doch nicht gekommen; alles war nur noch relativ. Faßt er aber jetzt alles wirklich richtig auf? Irrt er auch nicht? Auf welche Resultate ging Porfirij heute aus? Hatte er für heute wirklich etwas vorbereitet? Was denn? Hatte er heute wirklich auf etwas gewartet, und worauf? Wie würden sie sich heute getrennt haben, wenn nicht die unerwartete Katastrophe mit Nikolai dazwischengekommen wäre? Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt, wenn auch mit einem gewissen Risiko, aber er hatte es aufgedeckt: wenn er noch mehr gehabt hätte (glaubte Raskolnikow), so würde er auch das aufgedeckt haben. Was war das für eine »Überraschung«? War es nur eine Verhöhnung? Hatte das etwas zu bedeuten oder nicht? Konnte etwas dahinter stecken, was auch nur irgendwie einer Tatsache, einer positiven Anklage ähnlich sähe? Der Mann von gestern? Ist der wieder in die Erde versunken? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt etwas Positives in Händen hat, so kann es nur mit dem Mann von gestern zusammenhängen ... Er saß auf dem Sofa, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen in die Knie gestemmt, das Gesicht in die Hände vergraben. Das nervöse Zittern am ganzen Körper dauerte an. Schließlich stand er auf, nahm die Mütze, dachte eine Weile nach und ging zur Tür. Er hatte ein Vorgefühl, daß er wenigstens diesen ganzen Tag fast ganz sicher sein durfte. Plötzlich erfüllte ein beinahe freudiges Gefühl sein Herz. Er wollte so schnell als möglich zu Katerina Iwanowna. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu spät, doch zum Totenmahl konnte er noch zurechtkommen, und dort würde er sofort Ssonja wiedersehen. Er blieb stehen, dachte nach, und ein schmerzvolles Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Heute! Heute!« wiederholte er vor sich hin. »Ja, heute! So muß es ...« Kaum wollte er die Tür öffnen, als sie plötzlich von selbst aufging. Er fuhr zusammen und prallte zu rück. Die Tür ging langsam und allmählich auf, und plötzlich zeigte sich eine Gestalt: es war der gestrige Mann von unter der Erde . Der Mann blieb an der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und trat einen Schritt ins Zimmer. Er sah genau so aus wie gestern, hatte die gleiche Figur und die gleiche Kleidung, aber in seinem Gesicht und Blick war eine große Veränderung vorgegangen: er blickte jetzt traurig drein und seufzte, nachdem er eine Weile dagestanden hatte, schwer auf. Es fehlte nur, daß er eine Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite neigte, um ganz wie ein altes Weib auszusehen. »Was wollen Sie?« fragte Raskolnikow, mehr tot als lebendig. Der Mann schwieg und verneigte sich plötzlich tief, fast bis zur Erde. Jedenfalls berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand. »Was wollen Sie?« rief Raskolnikow aus. »Ich habe mich an Ihnen vergangen«, sagte leise der Mann. »Womit?« »Mit bösen Gedanken.« Beide sahen einander an. »Es ärgerte mich. Als Sie damals hinkamen, vielleicht im Rausche, und die Hausknechte aufs Revier schickten und nach dem Blute fragten, ärgerte es mich, daß man Sie gehen ließ und für einen Betrunkenen hielt. Ich ärgerte mich so, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mir Ihre Adresse merkte, kam ich gestern her und fragte nach ...« »Wer kam her«, unterbrach ihn Raskolnikow, dem nun ein Licht aufging. »Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.« »Wohnen Sie in jenem Hause?« »Ja, im selben Hause, und ich stand damals im Tore mit den andern, haben Sie es vergessen? Ich betreibe auch mein Handwerk dort. Ich bin Kürschner und Kleinbürger, nehme die Arbeit ins Haus ... und noch mehr ärgerte ich mich ...« Und Raskolnikow erinnerte sich plötzlich der ganzen Szene von vorgestern im Tore; er erinnerte sich, daß außer den Hausknechten dort damals noch einige Menschen gestanden hatten, auch Frauen. Er entsann sich einer Stimme, die vorschlug, ihn gleich aufs Revier zu führen. Auf das Gesicht desjenigen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte es auch jetzt nicht wieder, aber er erinnerte sich noch, daß er ihm sogar etwas geantwortet und sich nach ihm umgewandt hatte ... So fand also der ganze Schrecken von gestern seine Lösung. Am entsetzlichsten war der Gedanke, daß er wegen eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrundegegangen wäre, sich beinahe zugrundegerichtet hätte. Folglich wußte dieser Mensch außer des Versuches, die Wohnung zu mieten, und des Gesprächs über das Blut nichts zu erzählen. Folglich wußte auch Porfirij nichts außer diesem Fieberwahn und der Psychologie , die zwei Enden hat, nichts Positives, keine Tatsachen. Wenn folglich keine Tatsachen mehr auftauchen (und es dürfen keine auftauchen, sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!), so ... was kann man ihm dann anhaben? Womit kann man ihn endgültig überführen, selbst wenn man ihn verhaftet? Folglich hat Porfirij das von der Wohnung erst jetzt, soeben erfahren und hat bisher nichts gewußt. »Haben Sie es heute dem Porfirij gesagt ... daß ich in die Wohnung kam?« rief er aus, durch den plötzlichen Einfall überrascht. »Was für einem Porfirij?« »Dem Untersuchungsrichter.« »Ich hab' es ihm gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, darum ging ich selbst hin.« »Heute?« »Ein Weilchen vor Ihnen war ich dort. Und ich hörte alles, wie er Sie quälte.« »Wo? Was? Wann?« »Gleich nebenan, hinter dem Verschlag habe ich die ganze Zeit gesessen.« »Wie? Also waren Sie die Überraschung? Wie ist es nur möglich? Ich bitte Sie!« »Als ich sah,« begann der Kleinbürger, »daß die Hausknechte auf meine Worte hin nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, spät sei und er vielleicht auch böse werden könnte, daß sie um eine solche Stunde gekommen sind, ärgerte ich mich und konnte nicht mehr schlafen und begann mich zu erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute hin. Wie ich zum erstenmal kam, war er nicht da; eine Stunde später – ließ man mich nicht vor, und wie ich zum drittenmal kam, da empfing er mich. Ich fing an, ihm alles zu erzählen, und er fing an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. ›Was macht ihr mit mir,‹ sagte er, ›ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, so würde ich ihn durch die Polizei geholt haben!‹ Dann lief er hinaus, rief einen anderen herbei und redete mit ihm in einer Ecke, und dann wandte er sich wieder an mich, und fing an, mich auszufragen und zu schimpfen. Er machte mir viele Vorwürfe; ich aber berichtete ihm alles und sagte, daß Sie mir auf meine gestrigen Worte nichts zu antworten wagten und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Und er fing wieder an, hin und her zu laufen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen und zu wüten; als man aber Sie anmeldete, sagte er mir: ›Geh hinter den Verschlag, sitze da und rühr dich nicht, was du auch hörst!‹ Und er brachte mir auch einen Stuhl hin und schloß mich ein; ›vielleicht werde ich dich noch brauchen‹, sagte er mir. Als man aber den Nikolai brachte, ließ er mich gleich nach Ihnen heraus und sagte: ›Ich werde dich noch mal vorladen und werde dich noch verhören ...‹« »Hat er den Nikolai in deinem Beisein verhört?« »Gleich nachdem er Sie herausließ, ließ er auch mich heraus und fing den Nikolai zu verhören an.« Der Kleinbürger hielt inne und verbeugte sich plötzlich wieder, wobei er mit dem Finger den Boden berührte. »Verzeihen Sie mir die Verleumdung und die Bosheit.« »Gott wird's verzeihen.« Kaum hatte er das gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder tief, doch diesmal nicht bis zur Erde; dann wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer. – Alles hat zwei Enden, jetzt hat alles zwei Enden! – wiederholte Raskolnikow vor sich hin und ging aus dem Zimmer, rüstiger denn je. – Jetzt wollen wir noch kämpfen! – sagte er sich mit boshaftem Lächeln, als er die Treppe hinunterging. Sein Ärger richtete sich gegen ihn selbst; mit Verachtung und Beschämung erinnerte er sich seiner »Kleinmütigkeit«. Fünfter Teil 1. I Der Morgen, der auf die für Pjotr Petrowitsch verhängnisvolle Aussprache mit Dunjetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, wirkte auch auf ihn erschütternd. Zu seinem größten Leidwesen war er gezwungen, das, was ihm noch gestern als ein, wenn auch sich tatsächlich abgespielt habendes, doch beinahe phantastisches und unmögliches Ereignis erschienen war, als eine vollzogene und unwiderrufliche Tatsache anzusehen. Die schwarze Schlange der gekränkten Eitelkeit nagte die ganze Nacht an seinem Herzen. Gleich nachdem er aufgestanden war, blickte er in den Spiegel. Er fürchtete, daß ihm in der Nacht die Galle übergelaufen sei. Aber in dieser Hinsicht war vorläufig alles in Ordnung, und nachdem Pjotr Petrowitsch sein edles, weißes, in der letzten Zeit etwas verfettetes Antlitz betrachtet hatte, fand er für einen Augenblick Trost in der vollen Überzeugung, irgendwo eine andere Braut, vielleicht sogar eine bessere, finden zu können; aber er ließ diesen Gedanken sofort fallen und spuckte energisch auf die Seite, wodurch er ein stummes, doch sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Zimmergenossen Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow weckte. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und kreidete es sofort seinem jungen Freunde an. In der letzten Zeit hatte er ihm schon recht viel angekreidet. Seine Wut verdoppelte sich, als er plötzlich einsah, daß er Andrej Ssemjonowitsch eigentlich nichts über seine gestrigen Erfolge hätte mitzuteilen brauchen. Das war der zweite Fehler, den er gestern in der Erregung und Gereiztheit, aus übermäßiger Expansivität begangen hatte. Diesen ganzen Morgen folgte wie absichtlich eine Unannehmlichkeit auf die andere. Selbst im Senat erwartete ihn ein Mißerfolg in einer Sache, um die er sich bemühte. Besonders hatte ihn der Wirt der Wohnung gereizt, die er angesichts der baldigen Heirat gemietet hatte und auf eigene Rechnung instandsetzen ließ. Dieser Wirt, ein reichgewordener deutscher Handwerker, wollte um keinen Preis von dem soeben abgeschlossenen Vertrag zurücktreten und verlangte die Bezahlung der im Vertrage vorgesehenen Entschädigung, obwohl Pjotr Petrowitsch ihm die Wohnung beinahe ganz neu instandgesetzt zurückgab. Ebenso wollte man auch im Möbelgeschäft keinen einzigen Rubel von der Anzahlung für die bereits gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückzahlen. – Ich werde doch nicht der Möbel wegen heiraten! – sagte sich Pjotr Petrowitsch, mit den Zähnen knirschend; zugleich erwachte in ihm eine neue verzweifelte Hoffnung: – Ist denn alles in der Tat so unwiderruflich verloren und erledigt? Soll ich nicht noch einmal versuchen? – Der Gedanke an Dunjetschka saß ihm wie ein Splitter im Herzen. Mit Qual ertrug er diesen Augenblick, und wenn er jetzt Raskolnikow durch einen bloßen Wunsch hätte töten können, so hätte Pjotr Petrowitsch diesen Wunsch unverzüglich ausgesprochen. – Es war auch ein Fehler, daß ich ihnen gar kein Geld gab – dachte er, als er nun traurig in das kleine Zimmer Lebesjatnikows zurückkehrte: – Und warum bin ich, zum Teufel, so ein Jude geworden?! Es war sogar gar keine Berechnung dabei! Ich hatte die Absicht, sie in Armut zu halten und sie so weit zu bringen, daß sie mich für ihre Vorsehung halten, sie aber stellen so was an! ... Pfui! ... Nein, hätte ich während dieser ganzen Zeit beispielsweise fünfzehnhundert Rubel für die Mitgift, für Geschenke, für allerlei Schächtelchen, Necessaires, Anhängsel, Stoffe und sonstigen Kram aus dem Geschäft von Knoop oder aus dem Englischen Magazin ausgegeben, so stünde die Sache besser und ... sicherer! Dann hätten sie mir nicht so leicht absagen können! Diese Leute sind doch so, daß sie es unbedingt für ihre Pflicht gehalten hätten, mir im Falle einer Absage die Geschenke und das Geld zurückzugeben; die Rückgabe würde ihnen aber schwer fallen und leid tun! Auch das Gewissen würde ihnen zugesetzt haben: wie kann man bloß einen Menschen davonjagen, der bisher so freigebig und feinfühlend war? ... Hm! Das war ein Fehler von mir! – Pjotr Petrowitsch knirschte noch einmal mit den Zähnen und nannte sich auf der Stelle einen Dummkopf – natürlich nur bei sich. Nachdem er zu diesem Schlusse gekommen war, kehrte er noch doppelt so wütend und gereizt nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen zum Totenmahl im Zimmer Katerina Iwanownas erregten zum Teil seine Neugier. Von diesem Totenmahl hatte er schon gestern manches gehört; er glaubte sich sogar erinnern zu können, daß man auch ihn eingeladen hatte, aber bei seinen anderen Sorgen hatte er das alles überhört. Er erkundigte sich schnell bei der Frau Lippewechsel, die in Abwesenheit Katerina Iwanownas (die auf dem Friedhof war) das Tischdecken besorgte, und erfuhr, daß das Totenmahl sehr feierlich sein würde, daß fast alle Mieter, darunter auch solche, die den Verstorbenen gar nicht gekannt hatten, eingeladen seien, daß sogar Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow, trotz seines kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen sei, und schließlich, daß auch er selbst, Pjotr Petrowitsch, nicht nur eingeladen sei, sondern als der beinahe vornehmste Gast unter allen Mietern sogar mit großer Ungeduld erwartet werde. Auch Amalia Iwanowna selbst war trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten mit großer Ehre eingeladen worden, und darum wirtschaftete und bemühte sie sich jetzt fast mit Genuß: außerdem war sie festlich geputzt, obwohl in Trauer, und hatte lauter neue und seidene Sachen an, worauf sie sehr stolz war. Alle diese Tatsachen und Nachrichten brachten Pjotr Petrowitsch auf einen gewissen Gedanken, und er kehrte etwas nachdenklich in sein, das heißt Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikows Zimmer zurück. Er hatte nämlich erfahren, daß unter den Eingeladenen sich auch Raskolnikow befand. Andrej Ssemjonowitsch war diesen ganzen Morgen aus irgendeinem Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Pjotr Petrowitsch hatten sich eigentümliche, übrigens auch natürliche Beziehungen gebildet: Pjotr Petrowitsch verachtete und haßte ihn sogar grenzenlos, fast von dem Tage an, an dem er sich bei ihm einlogiert hatte, empfand vor ihm aber zugleich eine gewisse Angst. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß aus kleinlicher Sparsamkeit abgestiegen: obwohl dies fast der wichtigste Grund war, hatte er auch noch andere Gründe. Schon in der Provinz hatte er über Andrej Ssemjonowitsch, seinen früheren Mündel, als über einen der hervorragendsten jungen Progressisten gehört, der sogar eine bedeutende Rolle in gewissen interessanten und legendären Kreisen spiele. Dies überraschte Pjotr Petrowitsch. Alle diese mächtigen, allwissenden, alles verachtenden und alles entlarvenden Kreise flößten Pjotr Petrowitsch schon längst eine eigentümliche, wenn auch unbestimmte Angst ein. Er selbst konnte sich, besonders da er in der Provinz lebte, über diese Dinge keinerlei einigermaßen genauen Begriff machen. Er hatte wie die anderen gehört, daß es besonders in Petersburg allerlei Progressisten, Nihilisten, Entlarver und dergleichen gäbe, aber er übertrieb und verdrehte gleich vielen anderen den Sinn und die Bedeutung dieser Benennungen ins Unsinnige. Am meisten fürchtete er seit einigen Jahren Entlarvungen , und dies war der Hauptgrund seiner ständigen, übertriebenen Unruhe, die er besonders bei dem Gedanken, seine Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen, empfand. In dieser Beziehung war er sozusagen eingeschüchtert , wie es zuweilen kleine Kinder sind. Vor einigen Jahren, in der Provinz, als er eben seine Karriere begann, erlebte er zwei Fälle, wo die Tätigkeit sehr hochstehender Gouvernementsbeamten, an die er sich bis dahin geklammert hatte und die ihn protegierten, aufs grausamste entlarvt wurde. Der eine Fall endete für den Entlarvten mit einem besonderen Skandal, und auch der zweite hätte beinahe ein recht schlimmes Ende genommen. Aus diesem Grunde hatte sich Pjotr Petrowitsch vorgenommen, gleich nach seiner Ankunft in Petersburg festzustellen, was an den Gerüchten eigentlich sei, und nötigenfalls den Ereignissen zuvorzukommen und sich bei »unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. In dieser Beziehung setzte er seine Hoffnungen auf Andrej Ssemjonowitsch und hatte schon gelernt, wie beim Besuche bei Raskolnikow, gewisse, anderen entlehnte Phrasen in vollendeter Form vom Stapel zu lassen ... Selbstverständlich hatte er in Andrej Ssemjonowitsch sehr bald einen hohlen und einfältigen unbedeutenden Menschen erkannt. Dies hatte aber ihm weder seinen Glauben genommen noch ihn ermutigt. Selbst wenn er die Überzeugung gewonnen hätte, daß alle Progressisten die gleichen Narren seien, auch dann würde er sich nicht beruhigt haben. Für alle die Lehren, Ideen und Systeme (mit denen Andrej Ssemjonowitsch sofort über ihn herfiel) hatte er eigentlich nicht das geringste Interesse. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte nur so schnell wie möglich feststellen: Was hier eigentlich los sei? Ob diese Menschen einen Einfluß haben oder nicht? Ob Grund zu Befürchtungen vorliege oder nicht? Ob man ihn entlarven werde, wenn er dies oder jenes unternehmen würde, oder nicht? Und wenn man ihn entlarven würde, so, in welcher Beziehung? und was für Dinge dabei besonders kompromittierend seien? Und noch mehr als das: kann man sich nicht irgendwie an sie heranmachen und sie bei dieser Gelegenheit anführen, wenn sie in der Tat irgendeine Macht besitzen? Soll man es, oder soll man es nicht? Ob es nicht ginge, durch ihre Vermittlung etwas in seiner Karriere zu erreichen? Mit einem Wort, er hatte Hunderte von Fragen vor sich. Dieser Andrej Ssemjonowitsch war ein kachektischer und skrofulöser kleiner Mann, der irgendwo diente, lächerlich blond war und einen Kotelettenbart hatte, auf den er sehr stolz war. Außerdem hatte er immer Augenschmerzen. Er war ziemlich weichherzig, redete aber sehr selbstbewußt, manchmal sogar außerordentlich herausfordernd, was bei seiner kleinen Figur fast immer komisch wirkte. Bei Amalia Iwanowna zählte er zu den angesehensten Mietern, das heißt, er trank nicht und bezahlte die Miete pünktlich. Trotz dieser Eigenschaften war Andrej Ssemjonowitsch wirklich etwas dumm. Am Progreß und an »unserer jungen Generation« hing er aus bloßer Leidenschaft. Er war einer von der großen vielgestaltigen Legion hohler, kraftloser, unfertiger, doch eingebildeter Menschen, die nichts gelernt haben, sich aber an jede gangbare Modeidee hängen, um sie sofort zu banalisieren und alles, was sie in der aufrichtigsten Weise zu fördern glauben, in eine Karikatur zu verwandeln. Übrigens konnte Lebesjatnikow trotz seiner eigentlich gutmütigen Natur seinen Zimmergenossen und einstigen Vormund Pjotr Petrowitsch wenig leiden. Dieses Verhältnis stellte sich von ungefähr ein und beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie einfältig Andrej Ssemjonowitsch auch war, begann er allmählich einzusehen, daß Pjotr Petrowitsch ihn an der Nase herumführte und im geheimen verachtete, daß er »nicht der richtige Mensch« sei. Er versuchte, ihm das System Fouriers und die Theorie Darwins zu entwickeln, aber Pjotr Petrowitsch hörte ihm, besonders in der letzten Zeit, allzu sarkastisch zu, in der allerletzten Zeit schimpfte er sogar auf ihn. Er war nämlich instinktiv dahinter gekommen, daß Lebesjatnikow nicht bloß ein hohler und dummer Mensch, sondern auch ein Lügner war, daß er keinerlei irgendwie bedeutende Verbindungen, selbst in seinem eigenen Kreise, hatte und lauter Gerüchte aus dritter Hand wiedergab; daß er auch seine eigene Sache, die Propaganda vielleicht gar nicht verstand, da er schon gar zu verworren redete, also wohl kaum ein »Entlarvter« sein konnte! Wir wollen nebenbei noch bemerken, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (besonders im Anfange) die seltsamsten lobenden Außerungen von Andrej Ssemjonowitsch hinnahm, das heißt, daß er ihm nicht widersprach und schwieg, wenn Andrej Ssemjonowitsch ihm die Absicht zuschrieb, bei der Gründung einer neuen »Kommune« irgendwo in der Mjestschanskaja-Straße behilflich zu sein; oder zum Beispiel Dunjetschka nicht zu stören, wenn es ihr einfiele, gleich im ersten Monat nach der Hochzeit sich einen Geliebten anzuschaffen; oder seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Pjotr Petrowitsch hatte, seiner Gewohnheit gemäß, gegen diese ihm zugeschriebenen Eigenschaften nichts einzuwenden, und nahm sogar alle die Lobsprüche hin – so angenehm war ihm jedes Lob. Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen zu irgendeinem Zweck einige fünfprozentige Staatspapiere eingewechselt hatte, saß am Tisch und zählte die Banknoten und Schatzscheine nach. Andrej Ssemjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat so, als sähe er dieses Geld gleichgültig und sogar mit Verachtung an. Pjotr Petrowitsch konnte zum Beispiel um nichts in der Welt glauben, daß Andrej Ssemjonowitsch tatsächlich imstande sei, so viel Geld gleichgültig anzusehen; Andrej Ssemjonowitsch seinerseits dachte voll Bitterkeit, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht wirklich imstande sei, so von ihm zu denken und sich vielleicht sogar über die Gelegenheit freue, seinen jungen Freund mit den aufgestapelten Banknotenpäckchen zu necken und zu reizen, indem er ihn an seine eigene Nichtigkeit und die Distanz zwischen ihnen erinnerte. Er fand ihn diesmal ungewöhnlich gereizt und unaufmerksam, obwohl Andrej Ssemjonowitsch soeben versucht hatte, ihm sein Lieblingsthema von der Errichtung einer ganz neuen, besonderen »Kommune« zu erklären. Und die kurzen Einwendungen und Bemerkungen, die Pjotr Petrowitsch unter dem Klappern der Beinkugeln des Rechenbretts entschlüpften, atmeten eine ganz offene und absichtlich unhöfliche Verhöhnung. Aber der »humane« Andrej Ssemjonowitsch schrieb diese Stimmung Pjotr Petrowitschs dem Eindrucke des gestrigen Bruches mit Dunjetschka zu und brannte vor Ungeduld, schneller auf dieses Thema zu kommen: darüber hätte er manches Progressive und Propagandistische zu sagen, was seinen verehrten Freund trösten und »zweifellos« von Nutzen für seine weitere Entwicklung sein könnte. »Was für ein Totenmahl veranstaltet jene ... Witwe?« fragte plötzlich Pjotr Petrowitsch, Andrej Ssemjonowitsch an der interessantesten Stelle unterbrechend. »Als ob Sie es nicht wüßten! Ich habe ja mit Ihnen gestern darüber gesprochen und meine Gedanken über alle diese Gebräuche entwickelt ... Sie hat auch Sie eingeladen; ich habe es gehört. Sie haben mit ihr gestern selbst gesprochen ...« »Ich hätte niemals erwartet, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie vom anderen Narren ... Raskolnikow bekommen hat, für das Totenmahl verschwenden wird. Ich habe mich sogar eben gewundert, als ich vorüberging: was für Vorbereitungen, was für Weine! ... Mehrere Menschen sind eingeladen, es ist weiß der Teufel was!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort. Als er sich erkundigte und das Gespräch auf dieses Thema brachte, verfolgte er offenbar ein bestimmtes Ziel. »Was? Sie sagen, daß sie auch mich eingeladen hat?« fügte er plötzlich hinzu und hob den Kopf. »Wann war das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich werde übrigens nicht hingehen. Was habe ich dort zu suchen? Ich habe ihr erst gestern im Vorbeigehen gesagt, daß sie, als arme Beamtenwitwe, die Möglichkeit hat, das Jahresgehalt als einmalige Unterstützung zu bekommen. Hat sie mich vielleicht deswegen eingeladen? He-he-he!« »Auch ich habe nicht die Absicht, hinzugehen«, sagte Lebesjatnikow. »Das will ich meinen! Nachdem Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Sie müssen sich selbstverständlich genieren, he-he!« »Wer hat verprügelt? Wen?« Lebesjatnikow fuhr auf und errötete sogar. »Sie haben doch, ich glaube vor einem Monat, Katerina Iwanowna verprügelt! Ich habe es gestern gehört ... So sehen also die Überzeugungen aus! Mit der Frauenfrage hapert es. He-he-he!« Und Pjotr Petrowitsch fing an, wie getröstet, mit dem Rechenbrett zu klappern. »Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« fuhr Lebesjatnikow auf, der immer fürchtete, an diese Geschichte erinnert zu werden. »Und es war gar nicht so! Es war anders! Sie haben es falsch gehört; es ist Klatsch! Ich habe mich einfach gewehrt. Sie stürzte sich zuerst auf mich mit ihren Krallen ... Den ganzen Backenbart hat sie mir ausgerauft ... Es ist doch hoffentlich einem jeden Menschen erlaubt, seine Persönlichkeit zu verteidigen. Außerdem werde ich es niemand erlauben, mir Gewalt anzutun ... Aus Prinzip. Denn das ist schon fast Despotismus. Was hätte ich denn tun sollen: ruhig vor ihr stehen? Ich stieß sie nur zurück.« »He-he-he!« höhnte Luschin boshaft weiter. »Sie sind heute so streitsüchtig, weil Sie selbst erbost sind und sich ärgern ... Das alles ist aber Unsinn und hat mit der Frauenfrage gar nichts zu tun! Sie haben es nicht richtig verstanden; auch ich hatte geglaubt, daß, wenn man annimmt, die Frau sei dem Manne in allen Dingen, selbst in der Körperkraft (was bereits behauptet wird) gleich, auch darin Gleichheit herrschen müsse. Natürlich sagte ich mir nachher, daß es eine solche Frage eigentlich gar nicht geben darf, weil es auch keine Prügeleien geben darf, weil in der zukünftigen Gesellschaft Prügeleien undenkbar sind ... und weil es natürlich sonderbar wäre, die Gleichheit in der Prügelei zu suchen. Ich bin nicht so dumm ... obwohl das Prügeln vorläufig besteht ... das heißt, in Zukunft nicht mehr existieren wird ... aber jetzt noch vorkommt ... pfui Teufel! Wenn man mit Ihnen spricht, wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zum Totenmahl, nicht weil es diese Unannehmlichkeit gegeben hat. Ich gehe einfach aus Prinzip nicht hin, um mich nicht an einem so gemeinen, abergläubischen Brauch wie ein Totenmahl zu beteiligen, das ist der Grund! Übrigens hätte ich auch hingehen können, um darüber zu lachen ... Leider werden aber keine Popen dabei sein. Sonst würde ich unbedingt hingehen.« »Mit anderen Worten, Sie wollen fremdes Brot und Salz essen und gleich darauf spucken, ebenso auf die, die Sie eingeladen haben. Das wollten Sie doch sagen?« »Durchaus nicht spucken, sondern protestieren. Ich verfolge einen guten Zweck. Ich kann dabei indirekt der Aufklärung und der Propaganda dienen. Jeder Mensch ist verpflichtet, der Aufklärung der anderen durch Propaganda zu dienen, und je schroffer er es tut, um so besser ist es vielleicht. Ich kann den Samen einer Idee in sie ausstreuen ... Aus diesem Samen kann eine Tatsache entstehen. Worin sollte da eine Beleidigung liegen? Zuerst werden sie sich beleidigt fühlen, später aber einsehen, daß ich ihnen nur Nutzen gebracht habe. Da hat man bei uns die Terebjewa beschuldigt (die jetzt in der Kommune ist), daß sie, als sie ihre Familie verließ und ... sich einem Mann hingab, ihren Eltern schrieb, daß sie nicht mehr unter Vorurteilen leben wolle und eine ›bürgerliche‹ Ehe eingehe; man sagte, es sei viel zu grob, seine Eltern so zu behandeln, sie hätte sie schonen und den Brief etwas milder abfassen können. Meiner Ansicht nach ist das alles Unsinn, und man soll gar nicht mild sein, im Gegenteil, gerade hier muß man protestieren. Die Warenz hat zum Beispiel sieben Jahre mit ihrem Manne gelebt, hat dann ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne in einem Briefe ganz unzweideutig gesagt: ›Ich habe eingesehen, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es eine andere Gesellschaftsordnung in den Kommunen gibt. Ich habe es vor kurzem von einem großmütigen Mann erfahren, dem ich mich auch hingegeben habe und mit dem ich jetzt eine Kommune gründe. Ich spreche das offen aus, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Bleiben Sie, wo Sie wollen. Hoffen Sie nicht, mich wiederzugewinnen; Sie kommen viel zu spät. Ich wünsche Ihnen Glück.‹ So soll man derartige Briefe schreiben!« »Ist es dieselbe Terebjewa, von der Sie damals erzählten, daß sie in der dritten ›bürgerlichen‹ Ehe lebe?« »Eigentlich erst in der zweiten! Und wenn es auch die vierte und sogar die fünfzehnte wäre, so macht das doch nichts! Wenn ich jemals bedauerte, daß meine Eltern gestorben sind, so sicher jetzt. Einigemal habe ich schon daran gedacht, wie ich sie mit einem Protest geohrfeigt haben würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich hätte es absichtlich so eingerichtet ... Was ist so ein ›verlorener Sohn‹ dagegen, pfui Teufel! Ich hätte es ihnen schon gezeigt. Ich hätte sie in Erstaunen versetzt! Wirklich schade, daß ich niemand mehr habe!« »Um ihn in Erstaunen zu versetzen? He-he! Nun, ganz wie Sie wünschen«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch. »Sagen Sie mir aber folgendes: Sie kennen doch diese Tochter des Verstorbenen, die magere Kleine? Ist das wirklich wahr, was man von ihr erzählt, wie?« »Was ist denn dabei? Meiner persönlichen Überzeugung nach ist es auch der normale Zustand der Frau. Warum auch nicht? Das heißt, distinguons. In der jetzigen Gesellschaft ist es natürlich nicht ganz normal, weil dieser Zustand ein erzwungener ist, aber in der zukünftigen Gesellschaft wird er freiwillig und folglich normal sein. Sie hätte auch jetzt schon das Recht dazu: sie hat gelitten, und das war ihr Fonds, sozusagen ihr Kapital, über das sie mit vollem Rechte verfügen darf. In der zukünftigen Gesellschaft werden solche Fonds natürlich nicht mehr nötig sein; doch ihre Rolle wird in einer anderen Hinsicht bestimmt und logisch und rationell bedingt sein. Was aber Ssofja Ssemjonowna persönlich betrifft, so betrachte ich für meine Person ihre gegenwärtigen Handlungen als einen energischen und personifizierten Protest gegen die Gesellschaftsordnung und habe vor ihr deswegen großen Respekt; ich freue mich sogar, wenn ich sie ansehe!« »Man hat mir aber erzählt, daß Sie sie aus dieser Wohnung hinausgeekelt haben!« Lebesjatnikow wurde sogar wütend. »Das ist auch so eine Klatschgeschichte!« schrie er. »Die Sache war ganz anders! Es war gar nicht so! Katerina Iwanowna hat diese ganze Lügengeschichte erfunden, weil sie nichts verstanden hat! Und ich hatte mich an Ssofja Ssemjonowna gar nicht herangemacht! Ich hatte mich bloß bemüht, sie aufzuklären, durchaus uneigennützig, um in ihr den Protest zu wecken ... Mir war es nur um den Protest zu tun, auch konnte Ssofja Ssemjonowna sowieso nicht mehr in dieser Wohnung bleiben!« »Sie forderten sie also auf, in eine Kommune einzutreten?« »Sie machen immer Witze, und zwar schlechte Witze, erlauben Sie mir zu bemerken. Sie verstehen nichts! In der Kommune gibt es solche Rollen nicht. Die Kommune wird ja gerade darum gegründet, damit es solche Rollen nicht gebe. In der Kommune wird diese Rolle ihren jetzigen Charakter verändern, und was hier dumm ist, wird dort klug sein, und was unter den jetzigen Verhältnissen unnatürlich, wird dort durchaus natürlich sein. Alles hängt vom Milieu und von der Umgebung des Menschen ab. Das Milieu ist alles, der Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemjonowna vertrage ich mich auch jetzt gut, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie für ihren Feind und Beleidiger gehalten hat. Ich überrede sie jetzt, in eine Kommune einzutreten, doch auf einer ganz anderen Grundlage! Was lachen Sie darüber? Wir wollen unsere eigene besondere Kommune gründen, doch auf viel breiterer Grundlage als die bisherigen. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir verneinen mehr! Wenn Dobroljubow aus dem Grabe auferstünde, würde ich mit ihm schon streiten! Den Belinskij würde ich schon ganz unterkriegen! Indessen fahre ich fort, die Aufklärung Ssofja Ssemjonownas zu fördern. Sie ist eine prächtige Natur!« »Und diese prächtige Natur nutzen Sie auch aus, wie? He-he!« »Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!« »Sogar im Gegenteil! He-he-he! Das ist gut!« »Glauben Sie mir doch! Aus welchem Grunde sollte ich es vor Ihnen verheimlichen, ich bitte Sie? Im Gegenteil, es kommt mir selbst merkwürdig vor: mir gegenüber ist sie ganz besonders scheu, keusch und schamhaft!« »Und Sie klären sie natürlich auf, he-he-he! Sie beweisen ihr, daß jede Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...« »Durchaus nicht! Durchaus nicht! Oh, wie roh, wie dumm sogar – verzeihen Sie mir – fassen Sie das Wort Aufklärung auf! Sie verstehen gar nichts! O mein Gott, wie ... unfertig Sie noch sind! Wir streben nach der Befreiung der Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... Indem ich die Frage von der Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frau als von Dingen, die an und für sich nutzlos und auf Vorurteilen begründet sind, übergehe, lasse ich ihre Keuschheit im Verkehr mit mir gelten, denn darin liegt doch ihr Wille, ihr ganzes Recht. Natürlich, wenn sie mir selbst sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich es für ein großes Glück halten, denn das junge Mädchen gefällt mir sehr gut; aber jetzt, jetzt wird sie wohl von niemand höflicher, respektvoller und mit größerer Achtung vor ihrer Würde behandelt als von mir ... ich warte und hoffe, und das ist alles.« »Schenken Sie ihr doch lieber etwas. Ich wette, daß Sie daran noch gar nicht gedacht haben.« »Nichts verstehen Sie, gar nichts, das habe ich Ihnen schon gesagt! Ihre Lage ist natürlich derart, aber hier ist auch eine andere Frage! Eine ganz andere! Sie verachten sie einfach. Indem Sie eine Tatsache sehen, die Sie fälschlicherweise für verachtungswürdig halten, versagen Sie einem menschlichen Wesen ein humanes Verhältnis zu ihm. Sie wissen noch nicht, was das für eine Natur ist! Ich ärgere mich nur sehr, daß sie in der letzten Zeit fast ganz aufgehört hat, zu lesen, und sich von mir keine Bücher mehr holt. Früher hat sie es getan. Es ist auch schade, daß sie bei all ihrer Energie und Entschlossenheit zu protestieren – die sie schon einmal bewiesen hat –, noch immer wenig Selbständigkeit und sozusagen Unabhängigkeit besitzt, wenig Verneinungsgeist, um sich von manchen Vorurteilen und ... Dummheiten ganz loszureißen. Obwohl sie manche Fragen sehr gut begreift. So hat sie zum Beispiel ausgezeichnet die Frage vom Handküssen erfaßt, das heißt, daß der Mann die Frau beleidigt, wenn er ihr die Hand küßt, da er damit auf die Ungleichheit der Geschlechter hinweist. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich teilte es ihr sofort mit. Auch meine Ausführungen über die Assoziationen der Arbeiter in Frankreich hörte sie mit großem Interesse an. Jetzt erörterte ich vor ihr die Frage vom freien Eintritt in jedes Zimmer in der künftigen Gesellschaft.« »Was ist denn das?« »In der letzten Zeit wurde über die Frage debattiert: ob ein Mitglied der Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen Mitglieds, ganz gleich, ob eines Mannes oder einer Frau, einzutreten ... und es wurde beschlossen, daß es dieses Recht habe ...« »Und wenn der oder die Betreffende in diesem Augenblick mit einer natürlichen Verrichtung beschäftigt ist He-he!« Andrej Ssemjonowitsch wurde fast böse. »Sie haben immer das eine im Sinn! Sie denken nur an diese verfluchten Verrichtungen!« schrie er gehässig. »Pfui, wie ärgere ich mich, daß ich, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig auf diese verfluchten Verrichtungen zu sprechen kam! Zum Teufel! Das ist immer der Stein des Anstoßes für alle Ihresgleichen! Das gemeinste ist, daß Sie darüber lachen, ehe Sie erfahren haben, worum es sich hier handelt. Als hätten Sie recht! Als wären Sie auf etwas stolz! Pfui! Ich habe schon einigemal behauptet, daß man diese ganzen Fragen den Neulingen erst am Schluß vorbringen darf, wenn sie von der Richtigkeit des Systems schon überzeugt sind, wenn der Mensch schon aufgeklärt ist und die richtige Tendenz hat. Sagen Sie mir, bitte, was finden Sie auch Beschämendes und Verachtungswürdiges zum Beispiel an einer Mistgrube? Ich bin als erster bereit, jede beliebige Mistgrube zu reinigen! Es ist auch nicht die geringste Selbstaufopferung dabei! Es ist einfach eine Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder anderen Tätigkeit ebenbürtig ist und natürlich viel höher steht, als beispielsweise die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.« »Und edler, edler, he-he-he!« »Was heißt edler? Ich verstehe solche Ausdrücke als Bewertung menschlicher Tätigkeit nicht. ›Edler‹, ›großmütiger‹ – das alles ist Unsinn, Dummheit, alte Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine Wort: nützlich ! Sie können kichern, soviel Sie wollen, aber es ist doch so!« Pjotr Petrowitsch lachte auf. Er hatte sein Geld schon nachgezählt und steckte es eben ein. Ein Teil davon blieb aber aus unbekannten Gründen noch immer auf dem Tische liegen. Diese »Frage von den Mistgruben« hatte schon einigemal, trotz ihrer ganzen Abgeschmacktheit, Mißverständnisse und Entzweiungen zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freund zur Folge gehabt. Die ganze Dummheit lag darin, daß Andrej Ssemjonowitsch ernsthaft böse wurde, Luschin aber sich dessen freute; diesmal wollte er aber Lebesjatnikow ganz besonders ärgern. »Sie sind nur infolge Ihres gestrigen Mißerfolgs so böse und herausfordernd«, platzte endlich Lebesjatnikow heraus, der im allgemeinen trotz seiner ganzen »Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Pjotr Petrowitsch zu opponieren, und ihm gegenüber den aus früheren Jahren angewöhnten Respekt beobachtete. »Sagen Sie mir besser,« unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie ... oder, besser gesagt, sind Sie mit der erwähnten jungen Person tatsächlich so intim bekannt, um sie sofort, für einen Augenblick zu mir in dieses Zimmer zu bitten? Mir scheint, sie sind schon alle vom Friedhof heimgekommen ... Ich höre sie dort herumgehen ... Ich muß sie sehen, ich meine diese junge Person.« »Was brauchen Sie sie?« fragte Lebesjatnikow erstaunt. »Ich muß sie sprechen. Heute oder morgen ziehe ich von hier aus und möchte ihr darum mitteilen ... Übrigens bitte ich Sie, während unserer Unterredung hierzubleiben. Es ist sogar besser so. Sonst wird man sich noch Gott weiß was denken.« »Ich werde mir absolut nichts denken ... Ich habe nur so gefragt, und wenn Sie von ihr was wollen, so gibt es nichts Leichteres, als sie herkommen zu lassen. Ich gehe gleich hin, und Sie können überzeugt sein, daß ich nicht stören werde.« Nach fünf Minuten kam Lebesjatnikow wirklich mit Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst erstaunt und wie immer sehr schüchtern ein. Sie war in solchen Fällen immer scheu und fürchtete alle neuen Menschen und neue Bekanntschaften; sie hatte sie schon als Kind gefürchtet, jetzt aber fürchtete sie sie mehr als je ... Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich«, doch mit einem Anflug von einer lustigen Vertraulichkeit, die übrigens, seiner Meinung nach, einem so ehrenwerten und soliden Menschen im Verkehr mit einem so jungen und in gewisser Beziehung interessanten Wesen wie sie durchaus ziemte. Er beeilte sich, sie zu »ermutigen«, und bot ihr einen Stuhl am Tische ihm gegenüber an. Ssonja setzte sich, sah sich um, – sah auf Lebesjatnikow, auf das Geld, das auf dem Tische lag, und dann plötzlich wieder auf Pjotr Petrowitsch, von dem sie ihren Blick wie festgebannt nicht mehr wandte. Lebesjatnikow ging schon zur Tür, aber Pjotr Petrowitsch stand auf, forderte Ssonja durch einen Wink auf, sitzen zu bleiben, und hielt Lebesjatnikow an der Tür zurück. »Ist Raskolnikow dort? Ist er schon gekommen?« fragte er ihn leise. »Raskolnikow? Er ist schon dort. Warum fragen Sie? Ja, er ist schon dort. Soeben sah ich ihn kommen ... Warum?« »Nun, dann bitte ich Sie ganz besonders, hier mit uns zu bleiben und mich mit diesem ... Fräulein nicht allein zu lassen. Die Sache ist ganz unbedeutend, aber man wird Gott weiß was sagen. Ich will nicht, daß Raskolnikow es dort erzählt ... Verstehen Sie, was ich meine?« »Ich verstehe, ich verstehe!« rief Lebesjatnikow, dem plötzlich ein Licht aufging. »Ja, Sie haben recht ... Allerdings, Sie gehen nach meiner persönlichen Überzeugung in Ihren Befürchtungen viel zu weit, aber ... aber Sie haben doch ein Recht darauf. Ich bleibe gern hier. Ich will hier am Fenster stehen und werde nicht stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...« Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, nahm Ssonja gegenüber Platz, sah sie aufmerksam an und setzte sich plötzlich eine außerordentlich solide und sogar etwas strenge Miene auf, als wollte er sagen: Bilde dir nur nichts ein, meine Liebe! – Ssonja verlor endgültig die Fassung. »Erstens bitte ich Sie, Ssofja Ssemjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mama zu entschuldigen ... Es stimmt doch? Katerina Iwanowna vertritt doch bei Ihnen die Mutter?« begann Pjotr Petrowitsch sehr solid, aber doch recht freundlich. Er hatte sichtlich die freundschaftlichsten Absichten. »Jawohl, die Stelle der Mutter«, antwortete Ssonja hastig und scheu. »Nun, wollen Sie mich also bei ihr entschuldigen, daß ich infolge unvorhergesehener Umstände gezwungen bin, der Einladung keine Folge zu leisten, und zu den Pfannkuchen, das heißt zum Totenmahl, nicht kommen werde, trotz der liebenswürdigen Aufforderung Ihrer Frau Mama.« »Gut ... ich will es ihr sagen ... sofort.« Und Ssonjetschka sprang hastig vom Stuhle auf. »Es ist noch nicht alles«, hielt sie Pjotr Petrowitsch zurück, über ihre Einfalt und Unkenntnis der Anstandsregeln lächelnd. »Sie kennen mich zu wenig, liebste Ssofja Ssemjonowna, wenn Sie glauben, daß ich wegen dieser unbedeutenden und nur mich allein angehenden Angelegenheit eine Person wie Sie bemüht und zu mir gerufen hätte. Ich habe ganz andere Absichten.« Ssonja setzte sich eilig hin. Die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, die noch auf dem Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte aber schnell ihr Gesicht von ihnen ab und richtete ihren Blick auf Pjotr Petrowitsch; es kam ihr plötzlich furchtbar unanständig vor, fremdes Geld anzusehen, besonders wenn sie es tat. Sie heftete ihren Blick auf das goldene Lorgnon Pjotr Petrowitschs, das er in der Linken hielt, und zugleich auf den außerordentlich hübschen, großen, schweren Ring mit gelbem Stein, den er auf dem Mittelfinger dieser Hand trug; doch sie wandte die Augen auch davon ab und richtete den Blick wieder auf Pjotr Petrowitsch, da sie nicht wußte, wohin sie sehen sollte. Nachdem er eine Weile noch solider als früher geschwiegen hatte, fuhr er fort: »Ich hatte gestern Gelegenheit, im Vorbeigehen einige Worte mit der unglücklichen Katerina Iwanowna zu wechseln. Es genügten zwei Worte, um zu erfahren, daß sie sich in einem – widernatürlichen Zustande befindet, wenn man so sagen darf.« »Jawohl ... in einem widernatürlichen«, bestätigte Ssonja hastig. »Oder einfacher und verständlicher – in einem kranken.« »Ja, einfacher und verständl ... jawohl, sie ist krank.« »Nun also. Aus dem Gefühle der Humanität und ... sozusagen des Mitleides, möchte ich ihr nun meinerseits irgendwie behilflich sein, da ich ihr unvermeidlich trauriges Los voraussehe. Ich glaube, die ganze arme Familie lastet jetzt ganz auf Ihnen?« »Gestatten Sie die Frage«, sagte Ssonja, indem sie sich plötzlich erhob: »Was haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Denn sie sagte mir schon gestern, Sie hätten es übernommen, ihr eine Pension zu erwirken. Ist es wahr?« »Durchaus nicht, in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur auf einen einmaligen Unterstützungsbeitrag für die Witwe eines Beamten hingedeutet – natürlich, nur wenn eine Protektion vorhanden ist –, aber Ihr verstorbener Vater hat, soviel ich weiß, nicht nur die vorgeschriebene Frist nicht ausgedient, sondern in der letzten Zeit überhaupt nicht gedient. Mit einem Wort: es könnte wohl eine Hoffnung vorhanden sein, doch nur eine recht schwache, denn in diesem Falle liegen keinerlei Rechte auf die Unterstützung vor, sogar im Gegenteil. Sie aber denkt schon an eine Pension, he-he-he! Eine fixe Dame!« »Jawohl, an eine Pension ... Denn sie ist leichtgläubig und gut und glaubt aus Güte alles und ... und ... sie hat mal einen solchen Verstand ... Jawohl, entschuldigen Sie ...« sagte Ssonja und erhob sich wieder zum Fortgehen. »Entschuldigen Sie, Sie haben mich noch nicht zu Ende gehört.« »Jawohl, ich habe noch nicht zu Ende gehört«, murmelte Ssonja. »Also setzen Sie sich.« Ssonja wurde entsetzlich verlegen und setzte sich zum drittenmal. »Da ich Ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe, möchte ich, wie gesagt, ihr nach Kräften behilflich sein, das heißt, wie man so sagt, nach Kräften und nicht mehr. Man könnte zum Beispiel zu ihren Gunsten eine Kollekte veranstalten, oder eine Lotterie ... oder etwas in dieser Art, wie es auch immer von Nahestehenden und sogar auch von fremden Menschen gemacht wird, die helfen möchten. Ich hatte eben die Absicht, Ihnen das mitzuteilen. Das ginge zu machen.« »Jawohl, sehr gut ... Gott wird es Ihnen ...« stammelte Ssonja, Pjotr Petrowitsch unverwandt anblickend. »Das ginge zu machen, aber ... davon reden wir später ... das heißt, man könnte auch heute anfangen, davon zu reden. Wir werden uns am Abend wiedersehen, uns einigen und sozusagen den Grund dazu legen. Kommen Sie zu mir so gegen sieben her. Andrej Ssemjonowitsch wird, hoffe ich, sich daran auch beteiligen ... Aber ... es gibt hier noch einen Umstand, den man vorher genau besprechen muß. Darum habe ich Sie auch, Ssofja Ssemjonowna, bemüht und herkommen lassen. Es ist nämlich meine Ansicht, daß man Katerina Iwanowna kein Geld in die Hand geben darf und daß es sogar gefährlich wäre; ein Beweis dafür ist das heutige Totenmahl. Obwohl sie keine Brotrinde für morgen hat und ... auch kein Schuhwerk und überhaupt nichts, kauft sie heute Jamaika-Rum und sogar, glaube ich, Madeira ... und Kaffee. Ich sah es im Vorbeigehen. Morgen werden Sie es alles bis zum letzten Bissen Brot wieder büßen müssen; das ist schon ganz dumm. Darum muß die Kollekte, meiner Ansicht nach, so gemacht werden, daß die unglückliche Witwe vom Gelde sozusagen nichts erfährt und nur Sie zum Beispiel allein davon wissen. Habe ich recht?« »Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... ein einziges Mal im Leben ... sie wollte so gerne das Totenmahl machen, dem Toten die Ehre erweisen, sein Andenken ehren ... sie ist aber sehr klug. Übrigens, ganz wie Sie wollen, ich werde Ihnen sehr ... auch die anderen ... und Gott wird es Ihnen ... auch die Waisenkinder ...« Ssonja kam nicht weiter und fing zu weinen an. »So. Nun denken Sie daran; jetzt aber wollen Sie von mir für Ihre Verwandte fürs erste eine meinen Verhältnissen entsprechende Summe annehmen. Es wäre mir außerordentlich erwünscht, daß mein Name dabei nicht erwähnt werde. Hier ... da ich sozusagen eigene Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr zu geben ...« Und Pjotr Petrowitsch reichte Ssonja einen sorgfältig entfalteten Zehnrubelschein. Ssonja nahm das Geld, errötete, murmelte etwas und begann sich eilig zu verabschieden. Pjotr Petrowitsch begleitete sie schnell zur Tür. Sie sprang schließlich aus dem Zimmer, aufs tiefste erregt und abgequält, und kehrte in größter Verlegenheit zu Katerina Iwanowna zurück. Während dieser ganzen Szene stand Andrej Ssemjonowitsch bald am Fenster und ging bald im Zimmer auf und ab. Als aber Ssonja fort war, ging er auf Pjotr Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand. »Ich habe alles gehört und gesehen «, sagte er, das letzte Wort besonders betonend. »Es ist edel, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten ihrem Dank ausweichen, ich sah es! Und obwohl ich, offen gestanden, für die private Wohltätigkeit nichts übrig haben kann, weil sie das Übel nicht radikal ausrottet, sondern noch mehr nährt, muß ich doch gestehen, daß ich Ihr Benehmen mit Vergnügen gesehen habe, ja, es gefiel mir sehr gut.« »Ach, das ist alles Unsinn!« murmelte Pjotr Petrowitsch, ein wenig erregt und Lebesjatnikow etwas eigentümlich ansehend. »Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mensch, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall beleidigt und gereizt ist und zugleich fähig ist, an das Unglück anderer zu denken, so ein Mensch ... begeht durch seine Handlungen einen sozialen Fehler, verdient aber jede Achtung! Ich hatte es von Ihnen gar nicht erwartet, Pjotr Petrowitsch, um so mehr, als nach Ihren Begriffen – oh, wie Ihre Begriffe für Sie störend sind! Wie regt Sie zum Beispiel der gestrige Mißerfolg auf!« rief der gutmütige Andrej Ssemjonowitsch, der wieder Sympathie für Pjotr Petrowitsch fühlte. »Und warum, warum wollen Sie unbedingt diese legitime Ehe, edler, lieber Pjotr Petrowitsch? Was brauchen Sie unbedingt diese Gesetzlichkeit in der Ehe? Nun, schlagen Sie mich, wenn Sie wollen, aber ich freue mich, freue mich, daß sie nicht zustande gekommen ist, daß Sie frei sind, daß Sie für die Menschheit noch nicht verloren sind, ich freue mich! ... Sehen Sie, nun habe ich mich ausgesprochen!« »Weil ich in Ihrer illegitimen Ehe keine Hörner tragen und keine fremden Kinder züchten will – dazu brauche ich die legitime Ehe«, antwortete Luschin, nur um etwas zu sagen. Er war mit irgendeinem Gedanken beschäftigt und nachdenklich. »Kinder? Sie berühren die Kinderfrage?« fuhr Andrej Ssemjonowitsch auf wie ein Schlachtroß beim Klange der Kriegstrompete. »Diese Frage ist eine soziale und von höchster Bedeutung, das gebe ich zu; aber sie wird anders gelöst werden. Viele negieren vollkommen die Kinder, als etwas, was auf die Familie hindeutet. Von den Kindern wollen wir später reden und uns jetzt den Hörnern zuwenden. Ich muß gestehen, diese Frage ist meine Schwäche. Dieser abscheuliche, eines Husaren oder eines Puschkin würdige Ausdruck ist im künftigen Lexikon undenkbar. Was sind Hörner? Oh, diese Verirrung! Was für Hörner? Warum Hörner?,.. Welch ein Unsinn! Im Gegen teil, in der ›bürgerlichen‹ Ehe wird es sie gar nicht geben! Die Hörner sind nur eine natürliche Folge der legitimen Ehe, sozusagen eine Korrektur dieser Ehe, ein Protest, so daß sie in diesem Sinne gar nicht erniedrigend sind ... Und wenn ich einmal – nehmen wir mal diesen Unsinn an – eine legitime Ehe eingehe, so werde ich mich über Ihre dreimal verfluchten Hörner sogar freuen; ich werde dann meiner Frau sagen: ›Mein Freund, bisher habe ich dich bloß geliebt, jetzt achte ich dich aber auch, weil du es verstanden hast, zu protestieren!‹ Sie lachen! Das kommt, weil Sie sich von den Vorurteilen noch nicht losreißen können! Der Teufel noch einmal; ich verstehe ja sehr gut, warum es so unangenehm ist, in der legitimen Ehe betrogen zu werden: es ist aber nur die schändliche Folge der schändlichen Tatsache, wo beide Teile gleich erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner ganz offen aufgesetzt werden, wie zum Beispiel in der bürgerlichen Ehe, so existieren sie nicht mehr, sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung ›Hörner‹. Im Gegenteil, Ihre Frau zeigt Ihnen nur, wie sehr sie Sie achtet, indem sie Sie für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu stehen, und für aufgeklärt genug, um an ihr wegen des neuen Gatten keine Rache zu nehmen. Hol's der Teufel – zuweilen denke ich mir, daß, wenn ich verheiratet wäre (ganz gleich, ob bürgerlich oder legitim), ich meiner Frau wohl selbst einen Geliebten zuführen würde, falls sie sich selbst lange keinen anschaffte. ›Mein Freund,‹ würde ich ihr sagen, ›ich liebe dich, will aber obendrein, daß du mich auch achtest, – hier!‹ Habe ich nicht recht?« ... Pjotr Petrowitsch hörte zu und kicherte, doch ohne besondere Begeisterung. Er hörte sogar wenig zu. Er war wirklich mit anderen Gedanken beschäftigt, was auch Lebesjatnikow schließlich merkte. Pjotr Petrowitsch war nachdenklich, sogar aufgeregt, und rieb sich die Hände. Andrej Ssemjonowitsch erinnerte sich später dieses Benehmens und fand dafür auch eine Erklärung ... 2. II Es wäre schwer, genau die Gründe anzugeben, die im verstörten Gehirn Katerina Iwanownas die Idee dieses sinnlosen Totenmahles gezeitigt hatten. Von den zwanzig Rubeln, die sie von Raskolnikow eigentlich zur Beerdigung Marmeladows bekommen hatte, waren wirklich nahezu zehn Rubel draufgegangen. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für eine Pflicht gegen den Verstorbenen, sein Gedächtnis »so wie es sich gehört« zu ehren, damit alle Mieter und insbesondere Amalia Iwanowna wissen, daß er »nicht nur gar nicht ärger als sie, vielleicht sogar viel besser« gewesen sei und daß niemand von ihnen das Recht habe, über ihn »die Nase zu rümpfen«. Vielleicht spielte hier am meisten jener besondere »Stolz der Armen« mit, der manchen Bettler bei gewissen öffentlichen Gebräuchen bewegt, die letzten Kräfte anzuspannen und die letzten Spargroschen auszugeben, nur um »nicht ärger als die anderen« zu sein, damit jene anderen nichts auszusetzen haben. Sehr wahrscheinlich war auch, daß Katerina Iwanowna den Wunsch hatte, gerade bei dieser Gelegenheit, gerade in diesem Augenblick, wo sie von der ganzen Welt verlassen schien, allen diesen »elenden und gemeinen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur »zu leben und Gäste zu empfangen« verstehe, sondern auch, daß sie nicht zu einem solchen Lose erzogen worden sei, daß sie ihre Erziehung »in einer vornehmen, man kann wohl sagen, aristokratischen Oberstenfamilie« genossen habe und durchaus nicht bestimmt gewesen sei, selbst die Böden zu kehren und nachts die Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit kommen zuweilen bei den ärmsten und niedergedrücktesten Menschen vor und werden ihnen manchmal zu einem unaufhaltsamen und brennenden Bedürfnis. Katerina Iwanowna fühlte sich aber dabei gar nicht niedergedrückt: man konnte sie wohl durch Umstände ganz erdrücken, doch nicht moralisch niederdrücken , das heißt, einschüchtern und ihren Willen dem seinen unterwerfen. Außerdem hatte Ssonjetschka recht, wenn sie sagte, daß ihr Verstand verstört sei. Positiv und endgültig konnte man das allerdings noch nicht behaupten, aber ihr armer Kopf hatte in der letzten Zeit, im letzten Jahre viel zu viel Qualen erduldet, als daß er nicht zum Teil gelitten hätte. Auch die stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt, wie die Mediziner sagen, zur Störung der geistigen Funktionen bei. » Weine « in Mehrzahl und von verschiedenen Sorten gab es nicht, es gab auch keinen Madeira : das war übertrieben, aber Wein 1 war vorhanden. Es gab: Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der geringsten Sorte, doch in genügender Menge. An Speisen gab es außer dem obligaten Totenmahlgericht aus Reis mit Honig noch drei oder vier Gerichte (darunter auch Pfannkuchen), alles aus der Küche Amalia Iwanownas; dazu wurden zugleich auch zwei Samowars bereitet, für Tee und Punsch, der nach dem Essen getrunken werden sollte. Die Einkäufe hatte Katerina Iwanowna selbst besorgt mit Hilfe eines der Mieter, eines armen, kleinen Polen, der Gott weiß warum bei Frau Lippewechsel wohnte und der sich sofort an Katerina Iwanowna zu Botengängen attachierte und den ganzen gestrigen Tag und heutigen Morgen Hals über Kopf mit herausgestreckter Zunge herumgelaufen war, anscheinend besonders darum bemüht, daß der letztere Umstand auch bemerkt werde. Wegen jedes Unsinns kam er jeden Augenblick zu Katerina Iwanowna selbst gelaufen, war sogar einmal ins Große Kaufhaus gegangen, um sie zu suchen, und nannte sie ununterbrochen »Frau Oberst«, so daß sie seiner schließlich bis zur Übelkeit überdrüssig wurde, obwohl sie anfangs auch sagte, daß sie ohne diesen »dienstfertigen und großmütigen« Menschen wohl ganz verloren wäre. Es war eine Eigentümlichkeit ihres Charakters, daß sie jeden ersten besten mit den schönsten und grellsten Farben schmückte, ihn so lobte, daß er sich selbst genierte, zu seinem Ruhme verschiedene Umstände erfand, die gar nicht existierten, selbst vollkommen aufrichtig und treuherzig an die Wirklichkeit dieser Umstände glaubte, dann sich aber plötzlich enttäuscht sah und den Menschen, den sie noch vor einigen Stunden buchstäblich vergöttert hatte, anschrie, anspuckte und mit den Fäusten hinausjagte. Von Natur aus hatte sie einen lustigen, friedlichen Charakter und war leicht zum Lachen zu bringen, aber infolge der ununterbrochenen Schicksalsschläge und Mißerfolge wollte sie und forderte sie so wütend , daß alle in Frieden und Freude leben und sich nicht unterstehen , anders zu leben, daß der leiseste Mißton im Leben, der geringste Mißerfolg sie sofort beinahe in Raserei versetzte und sie gleich nach den leuchtendsten Hoffnungen und Phantasien anfing, ihr Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr in die Hände fiel, zu zerreißen und zu vernichten und mit dem Kopfe gegen die Wand zu schlagen. Auch Amalia Iwanowna hatte bei ihr plötzlich eine außergewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung gewonnen, vielleicht bloß aus dem Grunde, weil das Totenmahl stattfinden sollte und Amalia Iwanowna mit ganzem Herzen bereit war, an allen Mühen teilzunehmen: sie übernahm es, den Tisch zu decken, die Tischwäsche, das Geschirr und dergleichen zu besorgen und in ihrer Küche die Speisen zu bereiten. Katerina Iwanowna hatte sie, vor dem Gange auf den Friedhof, mit allen Vollmachten ausgestattet und als ihre Vertreterin zurückgelassen. Alles war tatsächlich aufs beste vorbereitet: der Tisch war sogar ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, die Gabeln und Messer, Schnapsgläser, Weingläser und Tassen waren zwar von verschiedener Form und von verschiedener Größe, weil von verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur bestimmten Stunde auf seinem Platz, und Amalia Iwanowna, vom Gefühl durchdrungen, ihr Werk gut getan zu haben, empfing die vom Friedhofe Zurückkehrenden sogar mit einem gewissen Stolze, fein geputzt, mit neuen Trauerbändern an der Haube und im schwarzen Kleide. Dieser, wenn auch berechtigte Stolz, mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna: »Als ob wir es ohne Amalia Iwanowna nicht verstanden hätten, den Tisch zu decken!« Auch die Haube mit den neuen Bändern mißfiel ihr: »Diese dumme Deutsche ist vielleicht noch stolz, daß sie die Wirtin ist und sich aus Gnade herabgelassen hat, den armen Mietern zu helfen? Aus Gnade! Ich bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst und beinahe Gouverneur gewesen war, pflegte man den Tisch zuweilen für vierzig Personen zu decken, so daß man irgendeine Amalia Iwanowna, oder besser gesagt Ludwigowna, nicht mal in die Küche hereingelassen hätte ...« Katerina Iwanowna entschloß sich jedoch, ihre Gefühle vorerst nicht zu äußern, obwohl sie sich in ihrem Herzen fest vorgenommen hatte, Amalia Iwanowna heute noch zurechtzuweisen und an den ihr gebührenden Platz zu erinnern, sonst würde sie sich Gott weiß was einbilden; zunächst beschränkte sie sich darauf, sie einfach kühl zu behandeln. Auch eine andere Unannehmlichkeit hatte zur Gereiztheit Katerina Iwanownas beigetragen: zur Beerdigung war von den eingeladenen Mietern, außer dem Polen, der immerhin noch Zeit gefunden hatte, auf den Friedhof zu laufen, fast niemand erschienen; aber zum Totenmahle kamen nur die unbedeutendsten und ärmsten von ihnen; viele waren sogar etwas angetrunken, mit einem Worte ein Gesindel. Aber die Alteren und die Solideren waren alle, als hätten sie sich verabredet, nicht erschienen. So fehlte zum Beispiel auch Pjotr Petrowitsch Luschin, wohl der solideste von allen Mietern, während Katerina Iwanowna schon gestern abend aller Welt, das heißt Amalia Iwanowna, Poljetschka, Ssonja und dem kleinen Polen erzählt hatte, daß er der edelste und großmütigste Mensch mit den besten Verbindungen und einem bedeutenden Vermögen sei, ehemaliger Freund ihres ersten Mannes, der im Hause ihres Vaters gern gesehen worden sei und ihr versprochen habe, alle Mittel anzuwenden, um ihr eine beträchtliche Pension zu erwirken. Wir wollen hier bemerken, daß, wenn Katerina Iwanowna auch mit jemandes Verbindungen und Vermögen prahlte, sie es ohne persönliches Interesse und vollkommen uneigennützig tat, sozusagen aus übervollem Herzen, nur um des Vergnügens willen, den Betreffenden zu loben und dem Gelobten ein größeres Gewicht zu verleihen. Gleich Luschin war auch, vermutlich »seinem Beispiel folgend«, »dieser gemeine Schuft Lebesjatnikow« nicht erschienen. »Was bildet sich wohl dieser ein? Man hat ihn doch bloß aus Gnade eingeladen, und auch das nur, weil er mit Pjotr Petrowitsch in einem Zimmer wohnt und sein Bekannter ist, so daß es nicht gut ging, ihn nicht einzuladen.« Nicht erschienen waren ferner die feine Dame mit ihrer Tochter, »der überreifen alten Jungfer«, die zwar erst seit zwei Wochen bei Amalia Iwanowna wohnten, aber sich schon einige Male über den Lärm und das Geschrei bei den Marmeladows beschwert hatten, besonders wenn der Verstorbene betrunken nach Hause kam; das hatte Katerina Iwanowna von Amalia Iwanowna erfahren, als diese, wenn sie sich mit Katerina Iwanowna zankte und ihr drohte, sie mit ihrer ganzen Familie hinauszuwerfen, aus vollem Halse schrie, daß sie »vornehme Mieter, deren Fuß Sie nicht mal wert sind, belästigen!« – Katerina Iwanowna nahm sich absichtlich vor, diese Dame mit ihrer Tochter, deren »Fuß sie nicht mal wert sei«, einzuladen, um so mehr als jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig wegwandte; – nun soll sie wissen, daß man hier »edler fühlt und denkt und, ohne Böses nachzutragen, zu Gast bittet«; – nun sollen beide, Mutter und Tochter, sehen, daß Katerina Iwanowna an ganz andere Verhältnisse gewöhnt ist! Sie hatte fest beschlossen, ihnen dies alles bei Tisch zu erklären und auch den Gouverneursrang des verstorbenen Papas zu erwähnen, zugleich aber auch indirekt zu bemerken, daß sie keinen Grund hätten, sich bei den Begegnungen wegzuwenden, und daß dies außerordentlich dumm sei! Es fehlte auch der dicke Oberstleutnant (eigentlich Hauptmann a.D.); es stellte sich aber heraus, daß er seit gestern früh vor Trunkenheit seine Beine nicht bewegen konnte. Mit einem Wort, es erschienen nur: der Pole, ein unansehnlicher Kanzlist, der kein Wort sprach, in fettigem Frack, mit Finnen im Gesicht und einem ekelhaften Geruch; dann ein tauber und fast blinder Greis, der einst bei einem Postamt angestellt gewesen war und dessen Unterhalt bei Amalia Iwanowna seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen jemand bezahlte. Es kam auch ein betrunkner Leutnant a.D., im Grunde genommen nur ein Proviantbeamter, der höchst unanständig und laut lachte und sogar, »denken Sie sich nur«, keine Weste anhatte! Ein Unbekannter setzte sich direkt an den Tisch, sogar ohne Katerina Iwanowna begrüßt zu haben, und schließlich tauchte auch noch eine Person auf, die aus Ermangelung eines Anzuges mit einem Schlafrocke bekleidet war; dies war aber schon so unanständig, daß dieser Gast durch die Bemühungen Amalia Iwanownas und des Polen abgeschoben wurde. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere Polen mitgebracht, die bei Amalia Iwanowna niemals gewohnt hatten und bisher von niemand in dieser Wohnung gesehen worden waren. Dies alles reizte Katerina Iwanowna in der unangenehmsten Weise. »Für wen waren denn alle die Vorbereitungen gemacht?« Man hatte sogar die Kinder, um Platz zu gewinnen, nicht an den Tisch gesetzt, der ohnehin das ganze Zimmer einnahm, sondern für sie in einer hinteren Ecke auf einem Koffer gedeckt; die beiden Kleineren saßen auf einer Bank, und Poljetschka, als die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie Kindern aus vornehmem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Wort, Katerina Iwanowna konnte nicht umhin, alle mit verdoppelter Würde und sogar mit Hochmut zu empfangen. Einige Gäste musterte sie besonders streng und forderte von oben herab auf, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aus irgendeinem Grunde für alle Nichterschienenen Amalia Iwanowna verantwortlich machte, fing sie plötzlich an, diese äußerst nachlässig zu behandeln, was die Wirtin sofort merkte und wodurch sie sehr pikiert wurde. Ein solcher Anfang verhieß kein gutes Ende. Endlich saßen alle bei Tisch. Raskolnikow war fast in demselben Augenblick gekommen, als alle vom Friedhof zurückkehrten. Katerina Iwanowna freute sich sehr über sein Erscheinen, erstens, weil er der einzige »gebildete« Gast sei und »bekanntlich in zwei Jahren einen Lehrstuhl an der hiesigen Universität bekommen würde«, und zweitens, weil er sich bei ihr unverzüglich und respektvoll entschuldigte, daß er trotz seines guten Willens zur Beerdigung nicht hatte kommen können. Sie fiel förmlich über ihn her, setzte ihn bei Tisch links neben sich (zu ihrer Rechten saß Amalia Iwanowna) und wandte sich, trotz der ununterbrochenen Sorgen, daß die Speisen richtig herumgereicht würden und daß alle etwas bekämen, trotz des qualvollen Hustens, der sie jeden Augenblick unterbrach und würgte und in den letzten zwei Tagen eine besonders hartnäckige Form angenommen zu haben schien, immerfort an Raskolnikow; sie beeilte sich, vor ihm halb flüsternd alle Gefühle, die sich in ihr angesammelt hatten, und ihre ganze gerechte Entrüstung über das mißlungene Totenmahl zu ergießen, wobei die Entrüstung oft von einem sehr lustigen und ausgelassenen Lachen über die versammelten Gäste, hauptsächlich aber über die Wirtin, unterbrochen wurde. »An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie verstehen doch, wen ich meine: jene dort!« Und Katerina Iwanowna zeigte mit dem Kopf auf die Wirtin. »Schauen Sie sie an: sie glotzt mit den Augen und ahnt, daß wir von ihr sprechen, kann aber kein Wort verstehen und schaut darum so dumm. Pfui, wie eine Eule! Ha-ha-ha! ... Kchi-kchi-kchi! Und was will sie bloß mit ihrer Haube beweisen? Kchi-kchi-kchi! Haben Sie es schon bemerkt, sie will immer, daß alle glauben, sie protegiere mich und erweise mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre. Ich hatte sie als eine anständige Person gebeten, bessere Leute einzuladen, und zwar die Bekannten des Verstorbenen; schauen Sie aber, wen sie hergebracht hat: lauter Hanswürste und Schmutzfinken! Sehen Sie nur diesen da mit dem Ausschlag im Gesicht an: der sieht doch genau aus wie Rotz auf zwei Beinen! Und diese Polen ... Ha-ha-ha! Kchi-kchi-kchi! Niemand, niemand hat sie hier je gesehen, auch ich habe sie nie gesehen; warum sind sie bloß gekommen, frage ich Sie? Sie sitzen so manierlich nebeneinander. – Panje, he!« schrie sie plötzlich einem von ihnen zu: »Haben Sie schon Pfannkuchen gehabt? Nehmen Sie noch! Trinken Sie Bier! Wollen Sie keinen Schnaps? – Schauen Sie nur: er ist aufgesprungen, er verbeugt sich, sehen Sie nur, sehen Sie nur: die Ärmsten sind wohl ganz ausgehungert! Macht nichts, sollen sie nur essen. Sie machen wenigstens keinen Lärm, aber ... aber ich fürchte wirklich für die silbernen Löffel der Wirtin! – Amalia Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich fast laut an diese: »Wenn man Ihre Löffel stiehlt, so übernehme ich keine Verantwortung, das sage ich Ihnen im voraus! – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, wieder auf die Wirtin weisend und sich über den Witz freuend: »Sie hat es nicht verstanden, hat mich wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit offenem Maul, schauen Sie nur: eine Eule, eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha-ha-ha!« Ihr Lachen ging wieder in einen qualvollen Hustenanfall über, der an die fünf Minuten dauerte. Auf dem Taschentuche blieb etwas Blut zurück, Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn. Sie zeigte das Blut schweigend Raskolnikow, holte kaum etwas Atem und fing sofort wieder an, ihm mit außerordentlicher Begeisterung zuzuflüstern, während sich an ihren Wangen rote Flecke zeigten: »Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, schwierigen Auftrag gegeben, jene Dame und ihre Tochter einzuladen, Sie verstehen doch, wen ich meine? Hier hätte sie in der delikatesten Weise, auf eine diplomatische Manier vorgehen müssen; sie machte es aber so, daß diese zugereiste dumme Gans, diese aufgeblasene Kreatur, diese Null aus der Provinz nur aus dem Grunde, weil sie eine Majorswitwe ist und hergekommen ist, um sich um eine Pension zu bemühen und sich bei den Behörden die Stiefel abläuft, weil sie sich mit ihren fünfundfünfzig Jahren schminkt und färbt (das weiß man ja) ... und eine solche Kreatur hat es nicht nur nicht für nötig befunden, zu erscheinen, sondern sich nicht einmal entschuldigen lassen, daß sie nicht kommen konnte, wie es in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann gar nicht verstehen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist! Wo ist aber Ssonja? Wo ist sie hingegangen? Ah, da ist sie endlich! Ssonja, wo bist du gewesen? Es ist doch sonderbar, daß du selbst bei der Leichenfeier deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, lassen Sie sie sich neben Sie setzen. Da ist ein Platz, Ssonjetschka ... nimm dir, was du willst. Nimm dir von der Fischsülze, die ist besser. Gleich bringt man Pfannkuchen. Hat man den Kindern etwas gegeben? Poljetschka, habt ihr dort von allem? Kchi-kchi-kchi! Nun, gut. Sei ein braves Kind, Lenja, und du, Kolja, strampele nicht mit den Beinen; sitz so, wie ein vornehmes Kind sitzen muß. Was sagst du, Ssonjetschka?« Ssonja beeilte sich, ihr sofort die Entschuldigung Pjotr Petrowitschs zu übermitteln, und bemühte sich, recht laut zu sprechen, damit es alle hörten; dabei gebrauchte sie ausgewählt ehrerbietige Ausdrücke, die sie absichtlich Pjotr Petrowitsch zuschrieb und ausschmückte. Sie fügte hinzu, daß Pjotr Petrowitsch sie ganz besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er, sobald es ihm nur möglich sei, sofort herkommen werde, um mit ihr unter vier Augen von Geschäften zu sprechen und zu vereinbaren, was sich in der Zukunft tun und unternehmen ließe, und dergleichen. Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna versöhnlicher stimmen und beruhigen würde, daß es ihr schmeicheln und vor allem ihren Stolz befriedigen würde. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie hastig begrüßte und flüchtig, mit Interesse ansah. Später aber vermied sie es, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien sogar etwas zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit keinen Blick von Katerina Iwanowna wandte, um ihr jeden Wunsch vom Gesicht abzulesen. Aus Ermangelung anderer Kleider war weder sie noch Katerina Iwanowna in Trauer; Ssonja hatte ein dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges dunkles Kattunkleid mit Streifen. Die Mitteilung über Pjotr Petrowitsch machte den beabsichtigten Effekt. Katerina Iwanowna hörte Ssonja mit Würde an und erkundigte sich dann mit der gleichen Würde, wie das Befinden Pjotr Petrowitschs sei. Dann flüsterte sie Raskolnikow recht laut zu, daß es für einen so angesehenen und soliden Menschen wie Pjotr Petrowitsch doch sonderbar wäre, in eine so »ungewöhnliche Gesellschaft« zu geraten, wie groß auch seine Anhänglichkeit an ihre Familie und die alte Freundschaft mit ihrem Papa auch seien. »Darum bin ich Ihnen, Rodion Romanowitsch, so verbunden, daß Sie auch in dieser Umgebung mein Salz und Brot nicht verschmäht haben«, fügte sie fast laut hinzu. »Ich bin übrigens überzeugt, daß nur Ihre besondere Freundschaft zu meinem armen Verstorbenen Sie dazu bewogen hat, Ihr Wort zu halten.« Dann musterte sie noch einmal stolz und selbstbewußt alle ihre Gäste und erkundigte sich plötzlich sehr laut und mit besonderem Interesse beim tauben Greis, »ob er keinen Braten wünsche und ob er schon Lissaboner bekommen hätte«. Der Greis antwortete nicht und konnte lange nicht verstehen, was man ihn fragte, obwohl seine Nachbarn ihn spaßhalber aufzurütteln begannen. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch vergrößerte. »Ist das ein Esel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu hat man ihn hergebracht? Was aber Pjotr Petrowitsch betrifft, so war ich seiner stets sicher«, fuhr Katerina Iwanowna fort, sich an Raskolnikow wendend. »Natürlich gleicht er gar nicht,« wandte sie sich scharf und laut, mit äußerst strenger Miene zu Amalia Iwanowna, so daß jene sogar erschrak, »gleicht er gar nicht Ihren aufgedonnerten Damen mit den langen Schleppen, die man bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen aufgenommen hätte und denen mein verstorbener Mann, wenn er sie bei sich empfinge, nur aus seiner unerschöpflichen Güte diese Ehre erwiesen hätte.« »Jawohl, der trank gern; ja, er liebte es, es kam vor«, rief plötzlich der verabschiedete Proviantbeamte, das zwölfte Glas Schnaps hinunterstürzend. »Mein verstorbener Mann hatte allerdings diese Schwäche, und das ist allen bekannt«, fiel Katerina Iwanowna plötzlich über ihn her. »Aber er war ein guter und edler Mensch und liebte und achtete seine Familie; leider vertraute er sich in seiner Güte allerlei verdorbenen Menschen zu sehr an, und Gott allein weiß, mit wem er nicht alles getrunken hat; auch mit solchen, die seine Schuhsohle nicht wert waren! Denken Sie sich nur, Rodion Romanowitsch, in seiner Tasche fand man einen Hahn aus Pfefferkuchenteig; er geht bewußtlos betrunken nach Hause, denkt aber an seine Kinder.« »Einen Ha-hn? Sie geruhten zu sagen: einen Ha-hn?« rief der Proviantbeamte. Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas nach und seufzte. »Sie glauben wohl sicher wie alle, daß ich zu streng zu ihm war«, fuhr sie fort, sich an Raskolnikow wendend. »Es ist aber nicht richtig! Er achtete mich, er achtete mich sehr! Ein gutes Herz hat er gehabt! Und manchmal tat er mir so leid. Manchmal sitzt er da, sieht mich aus der Ecke an, und er dauert mich so, daß ich lieb zu ihm sein möchte; dann muß ich mir aber sagen: ›Ich bin lieb zu ihm, und er betrinkt sich gleich wieder‹. Nur durch Strenge konnte man ihn im Zaume halten.« »Jawohl, es kam auch vor, daß er an den Haaren herumgezerrt wurde, das kam öfters vor«, brüllte der Proviantbeamte wieder und stürzte noch ein Glas Schnaps hinunter. »Es wäre nützlich, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren herumzuzerren, sondern auch mit einem Besen zu behandeln. Ich spreche jetzt nicht von Verstorbenen!« fertigte Katerina Iwanowna den Proviantbeamten ab. Die roten Flecke auf ihren Wangen glühten immer stärker, und ihre Brust hob und senkte sich. Sie war bereit, eine große Geschichte zu beginnen. Viele kicherten, vielen war es offenbar angenehm. Den Proviantbeamten reizte man auf und flüsterte ihm etwas zu. Offenbar wollte man sie aufeinander hetzen. »Gestatten Sie die Frage, was Sie damit sagen wollten«, begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wessen vornehmes Konto Sie eben ... Übrigens will ich nichts mehr sagen! Unsinn! Eine Witwe, eine arme Witwe! Ich verzeihe ... Ich passe!« Und er trank wieder einen Schnaps. Raskolnikow saß da und hörte schweigend und angewidert zu. Er berührte bloß aus Höflichkeit die Stücke, die ihm Katerina Iwanowna jeden Augenblick auf den Teller legte, und aß nur, um sie nicht zu kränken. Er beobachtete aufmerksam Ssonja. Ssonja wurde aber immer unruhiger und besorgter; auch sie ahnte, daß das Totenmahl kein gutes Ende nehmen werde, und verfolgte mit Angst die steigende Gereiztheit Katerina Iwanownas. Es war ihr unter anderem bekannt, daß der Hauptgrund, warum die beiden zugereisten Damen die Einladung Katerina Iwanownas so verachtungsvoll verschmäht hatten, an ihr selbst lag. Sie hatte von Amalia Iwanowna gehört, daß die Mutter die Einladung als Beleidigung aufgefaßt und die Frage gestellt hatte: »Wie könnte ich meine Tochter neben dieses Mädchen setzen?« Ssonja hatte das Gefühl, daß Katerina Iwanowna davon schon etwas wußte, aber eine Kränkung Ssonjas war für sie mehr als eine Kränkung ihrer selbst, ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche Kränkung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher beruhigen würde, als »bis sie diesen beiden langschleppigen Weibern bewiesen hätte, daß sie beide usw.« Wie absichtlich schickte in diesem Augenblick jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller mit zwei aus Schwarzbrot gekneteten, von einem Pfeil durchbohrten Herzen. Katerina Iwanowna fuhr auf und bemerkte sofort laut, daß der Absender natürlich ein »betrunkener Esel« sei. Auch Amalia Iwanowna ahnte etwas Schlimmes; durch den Hochmut Katerina Iwanownas aufs tiefste gekränkt, begann sie ganz unvermittelt, um die unangenehme Stimmung der Gesellschaft abzulenken und zugleich auch ihr eigenes Ansehen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, ein »Karl aus der Apotheke« nachts in einer Droschke nach Hause fuhr: »der Kutscher wollte ihn töten, aber Karl tat ihn sehr, sehr bitten, daß er ihn nicht töte, und er weinte, und faltete die Hände, und erschrak, und die Angst durchbohrte ihm sein Herz«. Katerina Iwanowna lächelte zwar, bemerkte aber, daß Amalia Iwanowna keine russischen Anekdoten erzählen sollte. Jene fühlte sich dadurch noch mehr beleidigt und entgegnete, daß »ihr Vater aus Berlin ein sehr, sehr vornehmer Mann gewesen sei und die Hände immer in die Taschen steckte«. Die lachlustige Katerina Iwanowna hielt es nicht aus und fing laut zu lachen an, so daß Amalia Iwanowna ihre letzte Geduld verlor und sich nur mit äußerster Mühe beherrschte. »Ist das eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna fast heiter wieder Raskolnikow zu. »Sie wollte sagen, daß er die Hände in seinen eigenen Taschen hatte, aber es klingt, als ob er ein Taschendieb gewesen wäre, kchi-kchi-kchi! Haben Sie bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Petersburger Ausländer, das heißt hauptsächlich die Deutschen, die irgendwo her zu uns kommen, sämtlich dümmer sind als wir?! Sie werden doch zugeben, daß man nicht erzählen darf, daß ›die Angst Karls Herz durchbohrt‹ hat und daß er (dieser Waschlappen!), statt den Kutscher zu knebeln, ›die Hände gefaltet, und geweint und sehr, sehr gebeten hat‹. Ach, die dumme Gans! Sie glaubt dabei, daß alles sehr rührend sei, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene Proviantbeamte viel klüger als sie; dem sieht man wenigstens an, daß er ein Säufer ist und das letzte bißchen Verstand vertrunken hat; diese aber sitzen so aufgeblasen und ernst da ... Wie sie dasitzt und glotzt. Sie zürnt! Sie zürnt! Ha-ha-ha! Kchi-kchi-kchi!« Katerina Iwanowna war lustig geworden und begann plötzlich mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie sie mit der Pension, die man für sie erwirken würde, in ihrer Heimatstadt T. ein Pensionat für junge Mädchen aus vornehmen Familien gründen werde. Katerina Iwanowna hatte dies Raskolnikow noch nicht mitgeteilt, und sie ließ sich von verlockenden Einzelheiten hinreißen. Plötzlich erschien in ihren Händen, kein Mensch wußte auf welche Weise, jenes »lobende Attest«, von dem der verstorbene Marmeladow Raskolnikow damals in der Schenke erzählt hatte, als er ihm mitteilte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Abschiedsfeier im Institut mit einem Schal »vor dem Gouverneur und den anderen Persönlichkeiten« getanzt habe. Dieses Attest sollte jetzt wohl Katerina Iwanowna als Zeugnis dienen, daß sie ein Recht habe, ein Pensionat zu gründen; vor allen Dingen hatte sie es aber bereitgelegt, um die beiden »aufgedonnerten langschleppigen Weiber«, wenn sie zum Totenmahl gekommen wären, zu vernichten und ihnen klar zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem vornehmen, »man darf wohl sagen, aristokratischen Hause sei, eine Oberstentochter und sicher tausendmal besser als manche Abenteurerinnen, die sich in der letzten Zeit so breitmachen«. Das Attest ging sofort unter den betrunkenen Gästen von Hand zu Hand, was Katerina Iwanowna gar nicht hinderte, da darin tatsächlich en toutes lettres geschrieben stand, daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters, also in der Tat beinahe eine Oberstentochter sei. Katerina Iwanowna hatte Feuer gefangen und verbreitete sich sofort über alle Einzelheiten des ihr bevorstehenden schönen und ruhigen Lebens in T.: über die Gymnasiallehrer, die sie an ihrem Pensionat anstellen würde, über einen ehrwürdigen alten Mann, den Franzosen Mangot, der ihr selbst am Institut französischen Unterricht erteilt hatte und der noch immer in T. lebte und sicher unter sehr günstigen Bedingungen bei ihr eintreten würde. Die Rede kam schließlich auch auf Ssonja, »die nach T. mitkommen und Katerina Iwanowna helfen werde«. Plötzlich lachte jemand am anderen Ende des Tisches laut auf. Katerina Iwanowna bemühte sich zwar, sich den Anschein zu geben, als hätte sie das Lachen am anderen Ende des Tisches nicht bemerkt, erhob aber absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung über die unzweifelhaften Talente Ssofja Ssemjonownas zu sprechen, die sie befähigten, sie in diesem Werke zu unterstützen, über ihre »Milde, Geduld, Selbstaufopferung, Großmütigkeit und Bildung«, wobei sie Ssonjas Wange tätschelte und sie einigemal begeistert küßte. Ssonja errötete, und Katerina Iwanowna brach plötzlich in Tränen aus und sagte über sich selbst, daß sie »eine nervenschwache Närrin und viel zu aufgeregt sei, daß es Zeit sei, ein Ende zu machen, da man mit dem Imbiß fertig sei und nun den Tee trinken könnte«. In diesem Augenblick riskierte Amalia Iwanowna, die nun endgültig beleidigt war, da sie am ganzen Gespräch nicht den geringsten Anteil genommen hatte und man ihr gar nicht zuhörte, plötzlich den letzten Versuch und erkühnte sich mit unterdrückter Sehnsucht, Katerina Iwanowna eine äußerst vernünftige und tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man im künftigen Pensionat besonders auf die Reinheit der Wäsche der jungen Mädchen sehen müsse, und daß man »unbedingt eine ordentliche Dame haben müsse, die gut auf die Wäsche aufpaßte«; und zweitens, »daß die jungen Mädchen nicht in der Nacht heimlich Romane lesen«. Katerina Iwanowna, die tatsächlich abgespannt und sehr müde war und das Totenmahl ordentlich satt hatte, unterbrach Amalia Iwanowna sofort mit der Bemerkung, daß sie »Unsinn rede« und nichts verstünde; daß die Sorge um die Wäsche Sache der Wäschebeschließerin sei und nicht der Direktrice eines vornehmen Pensionats; was aber das Lesen von Romanen betreffe, so finde sie diese Bemerkung unanständig und müsse sie bitten, zu schweigen. Amalia Iwanowna fuhr auf und antwortete erbost, daß sie ihr »nur Gutes wünsche«, daß sie ihr »sehr viel Gutes wünsche«, von ihr aber schon lange kein Geld für die Wohnung bekommen habe. Katerina Iwanowna wies sie sofort zurecht und sagte ihr, daß sie lüge, wenn sie sage, daß sie ihr Gutes wünsche, denn sie habe sie gestern, als der Verstorbene noch auf dem Tische lag, mit der Wohnungsmiete gequält. Amalia Iwanowna entgegnete darauf mit wunderbarer Logik, daß sie »jene Damen wohl eingeladen habe, die Damen aber nicht gekommen seien, weil jene Damen feine Damen seien und zu einer unfeinen Dame nicht kommen könnten«. Katerina Iwanowna »rieb ihr unter die Nase«, daß sie als schmutziges Frauenzimmer gar nicht darüber urteilen könne, was wahre Vornehmheit sei. Amalia Iwanowna ließ sich das nicht bieten und erklärte sofort, daß ihr »Vater aus Berlin ein sehr vornehmer Mann gewesen sei, beide Hände in die Taschen gesteckt und immer so gemacht habe: puff! puff!«. Und Amalia Iwanowna sprang, um ihren Vater darzustellen, vom Stuhle auf, steckte beide Hände in die Taschen, blähte die Wangen auf und fing an, mit dem Munde unbestimmte Töne wie puff! puff! zu produzieren, unter dem lauten Lachen aller Mieter, die, im Vorgefühl einer Prügelei, Amalia Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall ermunterten. Dies konnte aber Katerina Iwanowna nicht vertragen, und sie erklärte unverzüglich und so laut, daß alle es hörten, Amalia Iwanowna hätte vielleicht nie einen »Vater« gehabt, Amalia Iwanowna sei einfach eine betrunkene Finnin aus Petersburg und hätte sicher früher irgendwo als Köchin, vielleicht auch als etwas Schlimmeres gedient. Amalia Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna vielleicht »gar keinen Vater gehabt habe; sie hätte aber einen Vater aus Berlin gehabt, und dieser habe einen langen Rock getragen und immer puff, puff, puff! gemacht«. Katerina Iwanowna entgegnete mit Verachtung, daß ihre Abstammung doch allen bekannt sei und daß es in ihrem Attest mit gedruckten Buchstaben stehe, daß ihr Vater Oberst gewesen sei; der Vater Amalia Iwanownas (wenn sie überhaupt einen Vater gehabt habe), sei sicher ein Petersburger Finne gewesen und habe mit Milch hausiert; wahrscheinlich hätte sie aber überhaupt keinen Vater gehabt, da es noch immer nicht feststehe, wie Amalia Iwanowna mit ihrem Vatersnamen heiße: Iwanowna oder Ludwigowna? Amalia Iwanowna geriet nun in höchste Wut, schlug mit der Faust auf den Tisch und begann zu kreischen, daß ihr Vater »Johann geheißen habe und Bürgermeister gewesen sei«, der Vater Katerina Iwanownas aber »niemals Bürgermeister gewesen sei«. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhl und bemerkte ernst und mit scheinbar ruhiger Stimme (obwohl sie ganz bleich war und ihre Brust sich mächtig hob und senkte), daß, wenn sie sich noch einmal unterstehen werde, »ihren lumpigen Vater mit ihrem Papa auf die gleiche Stufe zu stellen, sie ihr die Haube vom Kopfe herunterreißen und mit den Füßen zertreten werde«. Als Amalia Iwanowna es hörte, begann sie hin und her zu laufen und aus allen Kräften zu schreien, daß sie hier die Wirtin sei und daß Katerina Iwanowna »augenblicklich die Wohnung räumen solle«; dann stürzte sie zum Tisch und raffte aus irgendeinem Grunde die silbernen Löffel zusammen. Es erhob sich ein Lärm und Geschrei, die Kinder weinten. Ssonja stürzte sich zu Katerina Iwanowna, um sie zurückzuhalten; aber Amalia Iwanowna schrie plötzlich etwas von einem gelben Paß, Katerina Iwanowna stieß Ssonja zurück und eilte auf Amalia Iwanowna zu, um ihre Drohung wegen der Haube zu verwirklichen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und an der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Luschin. Er stand da und musterte streng und aufmerksam die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte auf ihn zu. Fußnoten 1 Unter »Wein« in der Einzahl versteht der Russe oft Branntwein und andere Spirituosen. Anm. d.Ü. 3. III »Pjotr Petrowitsch,« schrie sie, »schützen Sie wenigstens mich! Sagen Sie doch dieser dummen Kreatur, daß sie kein Recht hat, eine adlige Dame, die im Unglück ist, so zu behandeln, daß es Gerichte gibt ... ich gehe auch zum Generalgouverneur ... Sie wird es büßen müssen ... Gedenken Sie der Gastfreundschaft meines Vaters, schützen Sie die Waisen.« »Gestatten Sie, meine Dame ... Gestatten Sie«, wehrte Pjotr Petrowitsch ab: »Ihren Herrn Papa hatte ich, wie es auch Ihnen bekannt ist, gar nicht die Ehre, gekannt zu haben ... erlauben Sie, meine Dame! (Jemand lachte laut auf.) Aber in Ihre ewigen Streitigkeiten mit Amalia Iwanowna möchte ich mich gar nicht hineinmischen ... Ich komme in eigener Angelegenheit ... ich möchte mich sofort mit Ihrer Stieftochter Ssofja ... Iwanowna ... sie heißt doch so? – auseinandersetzen. Gestatten Sie, daß ich eintrete ...« Und Pjotr Petrowitsch machte einen Bogen um Katerina Iwanowna und begab sich in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand. Katerina Iwanowna stand auf dem gleichen Fleck wie vom Blitze getroffen da. Sie konnte nicht begreifen, wie Pjotr Petrowitsch die Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie diese Gastfreundschaft einmal erfunden hatte, glaubte sie fest an sie. Der geschäftliche, trockene und sogar verächtliche und drohende Ton Pjotr Petrowitschs überraschte sie. Auch alle anderen waren bei seinem Erscheinen allmählich verstummt. Abgesehen davon, daß dieser »geschäftige und solide« Mensch mit der ganzen Gesellschaft so gar nicht harmonierte, konnte man ihm ansehen, daß er wohl aus einem wichtigen Grunde hergekommen war, daß wohl nur eine ungewöhnliche Ursache ihn bewegen konnte, in eine solche Gesellschaft zu kommen, und daß folglich etwas im Anzuge war. Raskolnikow, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um ihn vorbeizulassen; Pjotr Petrowitsch schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Eine Minute später zeigte sich auf der Schwelle auch Lebesjatnikow; er trat nicht ins Zimmer, blieb aber interessiert, beinahe verblüfft draußen stehen; er hörte zu, schien aber lange nichts zu verstehen. »Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht störe, aber die Angelegenheit ist sehr wichtig«, bemerkte Pjotr Petrowitsch im allgemeinen, ohne sich an jemand bestimmten zu wenden. »Ich freue mich sogar, daß es öffentlich geschieht. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie ergebenst, als Wirtin dieser Wohnung, Ihre Aufmerksamkeit meinem folgenden Gespräch mit Ssofja Iwanowna zuzuwenden. Ssofja Iwanowna«, fuhr er fort, sich direkt an die außerordentlich bestürzte und schon im voraus erschrockene Ssonja wendend: »Von meinem Tisch im Zimmer meines Freundes Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow ist sofort nach Ihrem Besuche eine mir gehörende Reichsbanknote im Werte von hundert Rubel verschwunden. Wenn Sie es auf irgendeine Weise wissen und uns sagen können, wo sie sich jetzt befindet, so gebe ich Ihnen mein Ehrenwort und rufe alle als Zeugen an, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im anderen Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln zu ergreifen, und dann ... können Sie sich die Folgen selbst zuschreiben.« Im Zimmer trat vollkommenes Schweigen ein. Selbst die Kinder hörten zu weinen auf. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts antworten. Sie schien noch nichts zu verstehen. So vergingen einige Sekunden. »Nun, wie ist es?« fragte Luschin, sie durchdringend anblickend. »Ich weiß nicht ... Ich weiß von nichts ...« sagte endlich Ssonja mit schwacher Stimme. »Nicht? Sie wissen von nichts?« wiederholte Luschin ihre Worte und schwieg noch einige Sekunden. »Überlegen Sie sich's, Mademoiselle«, begann er streng, aber noch immer so, als wollte er ihr ins Gewissen reden. »Überlegen Sie sich's, ich bin bereit, Ihnen einige Bedenkzeit zu geben. Sehen Sie, bitte: wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so würde ich bei meiner großen Erfahrung doch nicht riskiert haben, Sie so direkt anzuklagen; denn für eine solche direkte und öffentliche Anklage, wenn sie falsch oder bloß irrtümlich wäre, könnte ich gewissermaßen gerichtlich belangt werden. Das weiß ich. Zu meinem eigenen Gebrauch hatte ich heute früh mehrere fünfprozentige Staatsscheine im Nennwerte von dreitausend Rubeln eingewechselt. Die Berechnung ist in meinem Notizbuche eingetragen. Nach Hause zurückgekehrt, begann ich – Andrej Ssemjonowitsch kann es bezeugen – das Geld zu zählen, und nachdem ich zweitausenddreihundert Rubel abgezählt hatte, steckte ich sie in meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes. Auf dem Tische blieben noch die fünfhundert Rubel in Banknoten und darunter drei Scheine zu hundert Rubel liegen. In diesem Augenblick kamen Sie, von mir aufgefordert, ins Zimmer, zeigten dann die ganze Zeit bei mir die äußerste Verlegenheit, so daß Sie sogar dreimal mitten im Gespräch aufstanden und aus irgendeinem Grunde weggehen wollten, obwohl unser Gespräch noch nicht zu Ende war. Andrej Ssemjonowitsch kann es bezeugen. Wahrscheinlich werden auch Sie selbst, Mademoiselle, sich nicht weigern, dies alles zu bestätigen und zu erklären, daß ich Sie durch Andrej Ssemjonowitsch einzig aus dem Grunde einladen ließ, um mit Ihnen über die unglückliche und hilflose Lage Ihrer Verwandten, Katerina Iwanowna, zu sprechen (zu der ich zum Totenmahle nicht kommen konnte), und wie gut es wäre, zu ihren Gunsten eine Kollekte, eine Lotterie oder dergleichen zu veranstalten. Sie dankten mir und vergossen sogar einige Tränen (ich erzähle alles, so wie es war, erstens, um Sie an alles zu erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß aus meinem Gedächtnisse auch nicht das geringste Detail entschwunden ist). Dann nahm ich vom Tische einen Zehnrubelschein und gab ihn Ihnen in meinem Namen für Ihre Verwandte, als erste Hilfeleistung. Andrej Ssemjonowitsch hat das alles gesehen. Dann begleitete ich Sie zur Tür – während Sie noch immer äußerste Verlegenheit zeigten; nachdem ich nun mit Andrej Ssemjonowitsch allein geblieben war und mit ihm an die zehn Minuten gesprochen hatte, ging Andrej Ssemjonowitsch hinaus; ich aber wandte mich wieder dem auf dem Tische liegenden Gelde zu, um es nachzuzählen und, wie ich mir schon früher vorgenommen hatte, gesondert zu verwahren. Zu meinem Erstaunen fehlte nun ein Hundertrubelschein. Wollen Sie nun selbst überlegen: Andrej Ssemjonowitsch kann ich doch unmöglich verdächtigen, und ich müßte mich schämen, daran auch nur zu denken. Ein Irrtum bei der Berechnung ist ebenfalls ausgeschlossen, weil ich eine Minute vor Ihrem Erscheinen alle Rechnungen abgeschlossen und die Endsumme richtig gefunden hatte. Sie werden doch selbst zugeben, daß ich in Anbetracht Ihrer Verlegenheit, Ihrer Eile, fortzugehen, und des Umstandes, daß Sie die ganze Zeit die Hände auf dem Tische hatten, und auch in Berücksichtigung Ihrer gesellschaftlichen Position und der mit derselben verbundenen Angewohnheiten, sozusagen mit Entsetzen und sogar gegen meinen Willen gezwungen war, bei diesem Verdachte zu bleiben, der natürlich grausam, aber begründet ist! Ich füge noch hinzu und wiederhole es: trotz meiner augenscheinlichen Überzeugung, sehe ich doch ein, daß diese meine Anklage auch ein gewisses Risiko für mich selbst enthält. Aber wie Sie sehen, habe ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen; ich habe mich empört, und ich will Ihnen sogar sagen, warum: einzig infolge Ihres schwärzesten Undankes, meine Dame! Wie? Ich lade Sie im Interesse Ihrer armen Verwandten ein, ich reiche Ihnen eine meinem Vermögen entsprechende Spende von zehn Rubeln, und Sie vergelten es mir auf der Stelle mit einer solchen Handlung! Nein, das ist gar nicht schön! Ich muß Ihnen eine Lehre erteilen. Urteilen Sie doch selbst; und noch mehr als das: als Ihr aufrichtiger Freund (einen besseren Freund können Sie augenblicklich gar nicht haben) bitte ich Sie, besinnen Sie sich doch! Sonst werde ich unerbittlich sein. Nun, was werden Sie mir darauf sagen?« »Ich habe von Ihnen nichts genommen«, flüsterte Ssonja entsetzt. »Sie gaben mir zehn Rubel, hier haben Sie sie wieder.« Ssonja nahm aus der Tasche ihr Taschentuch, suchte den Knoten, knüpfte ihn auf, holte einen Zehnrubelschein heraus und reichte ihn Luschin. »Und die hundert Rubel? Wollen Sie nicht gestehen?« fragte er vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein anzunehmen. Ssonja sah sich um. Alle blickten sie mit schrecklichen, strengen, höhnischen, verhaßten Gesichtern an. Sie sah Raskolnikow an ... Er stand an der Wand mit gekreuzten Armen und beobachtete sie mit brennenden Augen. »O mein Gott!« stieß Ssonja hervor. »Amalia Iwanowna, man müßte es der Polizei melden, und ich bitte Sie daher ergebenst, vorläufig den Hausknecht kommen zu lassen«, sagte Luschin leise und sogar freundlich. »Gott der Barmherzige! Ich habe ja gewußt, daß sie gestohlen hat!« rief Amalia Iwanowna und schlug die Hände zusammen. »Sie haben es gewußt?« fiel ihr Luschin ins Wort. »Folglich hatten Sie auch schon früher einige Ursachen, es anzunehmen? Ich bitte Sie, verehrteste Amalia Iwanowna, sich diese Ihre Worte zu merken, die Sie übrigens vor Zeugen gesprochen haben.« Von allen Seiten begann man plötzlich zu reden. Alle rührten sich. »Wie!« schrie plötzlich Katerina Iwanowna auf, die zu sich gekommen war und zu Luschin stürzte. »Wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Ssonja? Ach, diese Schufte, diese Schufte!« Und sie stürzte zu Ssonja und preßte sie mit ihren hageren Armen wie in einem Schraubstock zusammen. »Ssonja! Wie wagtest du es, von ihm die zehn Rubel zu nehmen! Du Dumme! Gib sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel her, – hier ist das Geld!« Sie entriß Ssonja die Banknote, knüllte sie in der Hand zusammen und schleuderte sie Luschin gerade ins Gesicht. Die Papierkugel traf ihn ins Auge und prallte auf dem Fußboden zurück. Amalia Iwanowna stürzte hin, um das Geld aufzuheben. Pjotr Petrowitsch wurde böse. »Halten Sie diese Verrückte fest!« schrie er. In der Tür erschienen in diesem Augenblick neben Lebesjatnikow noch einige Personen, zwischen denen auch die beiden zugereisten Damen hervorguckten. »Wie! Die Verrückte? Ich bin die Verrückte? Dummkopf!« kreischte Katerina Iwanowna. »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher, gemeiner Mensch! Ssonja, Ssonja wird sein Geld nehmen! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir selbst welches geben, Dummkopf!« Katerina Iwanowna lachte hysterisch auf. »Habt ihr je einen solchen Dummkopf gesehen?« wandte sie sich nach allen Seiten und zeigte dabei auf Luschin. »Wie, auch du bist dabei?« rief sie der Wirtin zu, die sie plötzlich bemerkte. »Auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat, du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Sie hat ja das Zimmer noch gar nicht verlassen, und als sie von dir, du Schuft, zurückkam, setzte sie sich gleich neben mich; alle haben es gesehen. Hier neben Rodion Romanowitsch hat sie sich gesetzt! ... Durchsucht sie! Wenn sie noch nicht hinausgegangen war, muß sie doch das Geld bei sich haben! Such, such, such! Doch wenn du nichts findest, so nimm es mir nicht übel, mein Lieber, wirst du es mir büßen! Zum Kaiser, zum Kaiser, zum Zaren selbst laufe ich hin, zum Barmherzigen, ich werfe mich ihm zu Füßen, heute noch, heute noch! ... Ich bin eine Waise! Mich wird man vorlassen! Du glaubst wohl, daß man mich nicht vorlassen wird? Du irrst, ich finde schon Einlaß! Du hast wohl darauf spekuliert, daß sie so sanft ist? Du hast darauf gerechnet? Dafür bin ich aber fixer, mein Bester! Du fällst schon herein! Such nur! Such, such, such!« Katerina Iwanowna zerrte Luschin wütend am Ärmel und schleppte ihn zu Ssonja. »Ich bin bereit und ich verantworte es ... aber beruhigen Sie sich bloß, meine Gnädige, beruhigen Sie sich. Ich sehe es zu gut, daß Sie fix sind! ... Das ist ... das ist ... wie ist es nun?« murmelte Luschin. »Man müßte es in Gegenwart der Polizei machen ... obwohl übrigens auch jetzt genügend Zeugen dabei sind ... Ich bin bereit ... Jedenfalls kann es ein Mann nicht gut machen ... in Anbetracht des Geschlechts ... Vielleicht mit Hilfe Amalia Iwanownas ... Obwohl es eigentlich gar nicht so gemacht wird ... Wie ist es nun?« »Nehmen Sie, wen Sie wollen! Wer da will, soll sie durchsuchen!« schrie Katerina Iwanowna. »Ssonja komm, kehre deine Taschen heraus! Hier, hier! Schau du, Verbrecher, diese Tasche ist leer, das Taschentuch lag hier, jetzt ist sie leer, siehst du! Hier ist die andere Tasche! Siehst du, siehst du!« Katerina Iwanowna kehrte oder riß vielmehr beide Taschen eine nach der anderen heraus. Aber aus der zweiten rechten Tasche fiel ein Papier heraus, das eine Parabel in der Luft beschrieb und zu Luschins Füßen niederfiel. Alle sahen es; viele schrien auf. Pjotr Petrowitsch bückte sich, hob das Papier mit zwei Fingern vom Boden auf, zeigte es allen und entfaltete es. Es war ein zusammengefalteter Hundertrubelschein. Pjotr Petrowitsch fuhr mit der Hand durch die Luft, damit alle den Schein sähen. »Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« schrie Amalia Iwanowna. »Man muß sie nach Sibirien schicken! Hinaus!« Von allen Seiten tönten Schreie. Raskolnikow schwieg und ließ Ssonja nicht aus den Augen, mit denen er nur ab und zu Luschin streifte. Ssonja stand wie bewußtlos immer auf demselben Fleck, sie war sogar fast gar nicht erstaunt. Plötzlich schoß ihr das ganze Blut ins Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Nein, ich war es nicht! Ich hab es nicht genommen! Ich weiß nichts!« schrie sie mit herzzerreißender Stimme und stürzte zu Katerina Iwanowna. Jene umfaßte sie und drückte sie fest an sich, als wollte sie sie mit eigener Brust vor allen schützen. »Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht. Siehst du, ich glaube es nicht!« schrie (trotz aller Augenscheinlichkeit) Katerina Iwanowna, indem sie sie wie ein Kind in ihren Händen schüttelte, mit unzähligen Küssen bedeckte, nach ihren Händen haschte und sich an sie mit ihren Küssen festsog. »Du sollst etwas genommen haben! Was sind das für dumme Menschen! O Gott! Dumm, dumm seid ihr alle!« schrie sie, sich an alle wendend. »Ihr wißt ja noch gar nicht, was sie für ein Herz hat, was sie für ein Mädchen ist! Sie wird etwas nehmen, sie! Sie wird ja ihr letztes Kleid von sich werfen und verkaufen und barfuß gehen und alles hergeben, wenn ihr es braucht, ja, so ist sie! Sie hat ja auch den gelben Schein nur darum bekommen, weil meine Kinder vor Hunger zugrunde gingen: sie hat sich für uns verkauft ... Ach, du Verstorbener, Verstorbener! Ach, du Verstorbener, Verstorbener! Siehst du? Siehst du? Das ist dein Totenmahl! Gott! Schützt sie doch! Was steht ihr so da? Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie es vielleicht auch? Ihren kleinen Finger seid ihr nicht wert, alle, alle! Mein Gott, so schütze du sie doch!« Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verwaisten Katerina Iwanowna schien endlich einen starken Eindruck auf das Publikum zu machen. In diesem von Schmerz verzerrten, ausgemergelten, schwindsüchtigen Gesicht, in diesen trockenen Lippen, an denen Blut klebte, in dieser heiser schreienden Stimme, in diesem Weinen, das wie Kinderweinen klang, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und zugleich verzweifelten Flehen um Schutz lag so viel Klägliches und Leidendes, daß alle diese Unglückliche zu bedauern schienen. Selbst Pjotr Petrowitsch zeigte sein »Bedauern«: »Meine Gnädige! Meine Gnädige!« rief er eindringlich, »Sie berührt diese Sache gar nicht! Niemand wird sich erlauben, Sie einer Absicht oder des Mitwissens zu beschuldigen, um so mehr, als Sie selbst den Diebstahl aufdeckten, indem Sie die Tasche herauskehrten: also haben Sie gar nichts geahnt. Ich bin sogar sehr bereit, es zu bedauern, wenn sozusagen die Armut Ssofja Ssemjonowna dazu bewogen hat! Warum wollten Sie aber, Mademoiselle, nicht gestehen? Fürchteten Sie die Schande? Ist es der erste Schritt? Vielleicht waren Sie nur so bestürzt? Es ist ja begreiflich, sehr begreiflich ... Warum haben Sie sich aber auf so was eingelassen? Meine Herren!« wandte er sich an alle Anwesenden: »Meine Herren, indem ich es bedaure und sozusagen beklage, will ich es verzeihen, sogar jetzt, trotz der persönlichen Beleidigungen, die ich empfangen habe. Die heutige Schande möge Ihnen, Mademoiselle, als Lehre für die Zukunft dienen,« wandte er sich an Ssonja, »ich aber lasse die Sache auf sich beruhen und betrachte sie als erledigt. Schluß!« Pjotr Petrowitsch schielte zu Raskolnikow hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Der funkelnde Blick Raskolnikows wollte ihn zu Asche verbrennen. Katerina Iwanowna schien indessen nichts mehr gehört zu haben. Sie umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja von allen Seiten mit ihren Händchen umklammert, und Poljetschka – die übrigens gar nicht verstand, was los war, – schien vollkommen in Tränen zu ertrinken; sie zitterte vor Schluchzen und verbarg ihr vom Weinen geschwollenes hübsches Gesichtchen an Ssonjas Schulter. »Wie gemein!« ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Tür. Pjotr Petrowitsch sah sich schnell um. »Welch eine Gemeinheit!« wiederholte Lebesjatnikow, ihm durchdringend in die Augen blickend. Pjotr Petrowitsch fuhr sogar sichtlich zusammen. Das merkten alle. (Später erinnerten sie sich dessen.) Lebesjatnikow machte einen Schritt ins Zimmer. »Und Sie wagten es, mich als Zeugen zu nennen?« sagte er, indem er an Pjotr Petrowitsch herantrat. »Was soll das heißen, Andrej Ssemjonowitsch? Was meinen Sie eigentlich?« murmelte Luschin. »Das heißt, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine Worte!« sagte Lebesjatnikow erregt und sah ihn streng mit seinen kurzsichtigen Auglein an. Er war furchtbar erbost. Raskolnikow bohrte in ihn seinen Blick, als wollte er jedes seiner Worte auffangen und abwägen. Wieder trat Schweigen ein. Pjotr Petrowitsch verlor ganz die Selbstbeherrschung, besonders im ersten Moment. »Wenn Sie mich meinen ...« begann er stotternd. »Was haben Sie nur? Sind Sie bei Trost?« »Ich bin wohl bei Trost, aber Sie sind ein ... Gauner! Ach, wie gemein es ist! Ich habe die ganze Zeit zugehört, ich habe absichtlich gewartet, um alles zu begreifen, denn es erscheint mir, offen gestanden, auch jetzt noch nicht ganz logisch ... Warum Sie das alles getan haben, ist mir nicht klar.« »Was habe ich denn getan? Werden Sie vielleicht aufhören, in Ihren dummen Rätseln zu sprechen?! Oder sind Sie betrunken?« »Sie trinken vielleicht, gemeiner Mensch, aber nicht ich! Ich trinke sogar niemals Schnaps, weil es gegen meine Überzeugung ist. Denken Sie sich nur: er hat selbst mit eigenen Händen den Hundertrubelschein Ssofja Ssemjonowna gegeben, ich sah es, ich bin Zeuge, ich will es beschwören! Er, er!« wiederholte Lebesjatnikow, sich an jeden und alle wendend. »Sind Sie verrückt, Sie Milchbart?« kreischte Luschin. »Sie hat soeben selbst hier, vor allen bestätigt, daß sie außer den zehn Rubeln von mir nichts bekommen hat. Wie soll ich ihr dann die hundert Rubel gegeben haben?« »Ich hab es gesehen, ich hab es gesehen!« rief eindringlich Lebesjatnikow. »Obwohl es auch gegen meine Überzeugung ist, bin ich bereit, jetzt gleich vor Gericht jeden Eid zu schwören, denn ich hab es gesehen, wie Sie ihr das Geld heimlich zugesteckt haben! Ich Dummkopf glaubte, daß Sie es ihr zusteckten, um ihr eine Wohltat zu erweisen! In der Tür, als Sie sich von ihr verabschiedeten, als sie sich wegwandte und Sie ihre Hand drückten, steckten Sie ihr mit der anderen Hand den Schein heimlich in die Tasche! Ich hab es gesehen! Ich hab es gesehen!« Luschin erbleichte. »Was lügen Sie!« rief er frech. »Wie konnten Sie auch, am Fenster stehend, die Banknote unterscheiden! Es ist Ihnen nur so vorgekommen ... mit Ihren blinden Augen. Sie phantasieren!« »Nein, es ist mir nicht vorgekommen! Obwohl ich auch wirklich weit stand und obwohl man vom Fenster aus die Banknote tatsächlich schwer unterscheiden kann – da haben Sie recht, – wußte ich doch aus einem gewissen Grunde ganz sicher, daß es ein Hundertrubelschein war; denn als Sie Ssofja Ssemjonowna den Zehnrubelschein gaben, sah ich mit eigenen Augen, daß Sie gleichzeitig einen Hundertrubelschein vom Tische nahmen (das sah ich, weil ich damals in der Nähe stand; und da mir in diesem Augenblick ein gewisser Gedanke kam, vergaß ich nicht, daß Sie in der Hand eine Banknote hielten). Sie hatten sie zusammengefaltet und die ganze Zeit in der Faust gehalten. Ich vergaß es später; als Sie aber aufstanden, legten Sie die Banknote aus der rechten Hand in die linke und ließen sie dabei beinahe fallen; dies fiel mir wieder auf, weil mir wieder der gleiche Gedanke kam, nämlich, daß Sie ihr heimlich, ohne mein Wissen, eine Wohltat erweisen wollten. Sie können sich vorstellen, wie aufmerksam ich nun beobachtete, und ich sah, wie es Ihnen gelang, ihr die Banknote in die Tasche zu stecken. Ich sah es, ich sah es und will es beschwören!« Pjotr Petrowitsch erstickte fast vor Wut. Von allen Seiten ertönten verschiedene Ausrufe, die zum größten Teil Erstaunen ausdrückten. Es wurden auch Ausrufe laut, die einen drohenden Ton hatten. Alle drängten sich um Pjotr Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte sich zu Lebesjatnikow. »Andrej Ssemjonowitsch! Ich habe mich in Ihnen getäuscht! Sie allein treten für sie ein! Gott selbst hat Sie uns gesandt, Andrej Ssemjonowitsch, Liebster, Väterchen!« Und Katerina Iwanowna sank, fast ohne zu wissen, was sie tat, vor ihm in die Knie. »Unsinn!« brüllte Luschin, rasend vor Wut. »Sie reden Unsinn, mein Herr ... ›Ich habe es vergessen, habe mich daran erinnert, habe es wieder vergessen‹ – was soll das heißen? Ich habe ihr also den Schein absichtlich zugesteckt? Warum? Zu welchem Zweck? Was habe ich gemein mit dieser ...« »Warum? Das verstehe ich auch selbst nicht, aber daß ich nur Tatsachen erzähle, das ist wahr! Ich irre mich so wenig, Sie gemeiner, verbrecherischer Mensch, daß ich mich noch gut erinnere, wie mir damals diese Frage sofort in den Sinn kam, gerade in dem Moment, als ich Ihnen dankte und die Hand drückte. Warum Sie ihr das Geld heimlich in die Tasche gesteckt haben? Warum gerade heimlich? Vielleicht nur aus dem Grunde, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich entgegengesetzter Überzeugung bin und die private Wohltätigkeit, die nichts radikal heilt, ablehne! Ja, ich dachte mir, daß Sie sich vielleicht vor mir wirklich genierten, eine so große Summe zu schenken; außerdem dachte ich mir, daß Sie ihr eine freudige Überraschung bereiten, sie in Erstaunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche die hundert Rubel findet. (Denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihre Wohltaten auf diese Weise auszuschmücken, ich weiß es.) Dann kam es mir auch vor, als wollten Sie sie prüfen, das heißt, ob sie, wenn sie das Geld findet, zu Ihnen kommt, um sich zu bedanken! Dann dachte ich mir auch, daß Sie keinen Dank wünschten, daß, wie man sagt, die rechte Hand nicht wisse ... mit einem Wort, irgendwie so ... Nun, es kamen mir nicht wenig Gedanken in den Sinn, so daß ich mir vornahm, mir später alles zu überlegen; aber ich hielt es doch für unpassend, Ihnen zu zeigen, daß ich das Geheimnis kenne. Doch kam mir gleich auch diese Frage in den Sinn: Ssofja Ssemjonowna könnte das Geld verlieren, noch ehe sie es bemerkt hätte; darum entschloß ich mich, herzukommen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt habe. Unterwegs ging ich noch ins Zimmer der Damen Kobyljatnikow, um ihnen die ›Allgemeine Deduktion der positiven Methode‹ zu bringen und besonders den Aufsatz von Piderit (übrigens auch den von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich her und erlebte hier diese Geschichte! Konnte ich denn alle diese Gedanken gehabt und alle diese Erwägungen angestellt haben, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt haben?« Als Andrej Ssemjonowitsch mit seinem wortreichen Vortrag, der zu einem so logischen Schlusse führte, fertig war, war er furchtbar ermüdet, und der Schweiß rann ihm von der Stirn. Ach, er konnte nicht einmal ordentlich Russisch sprechen (obwohl er auch keine andere Sprache kannte), so daß er mit einem Male vollständig erschöpft war und nach dieser Advokatentat sogar magerer geworden zu sein schien. Nichtsdestoweniger hatte seine Rede einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Er sprach mit solchem Feuer, mit solcher Überzeugung, daß ihm anscheinend alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand. »Was geht es mich an, daß Ihnen diese dummen Fragen in den Sinn gekommen sind!« rief er aus. »Das ist kein Beweis! Sie konnten dies alles im Traume zusammenphantasiert haben, das ist alles! Ich sage Ihnen aber, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Bosheit, und zwar aus Arger, daß ich auf Ihre freigeistigen und gottlosen sozialen Vorschläge nicht eingehen wollte, das ist es!« Diese Ausrede half aber Pjotr Petrowitsch nichts. Im Gegenteil, von allen Seiten ertönte ein Murren. »Ach so, du kommst jetzt damit!« rief Lebesjatnikow. »Du lügst! Ruf die Polizei her, ich aber werde es beschwören! Nur das eine verstehe ich nicht: warum hat er eine solche Gemeinheit riskiert! Oh, elender, gemeiner Mensch!« »Ich kann erklären, warum er es riskiert hat, und will, wenn es nötig ist, selbst einen Eid schwören!« sagte endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor. Er schien fest und ruhig. Allen wurde es bei seinem Anblicke irgendwie klar, daß er wirklich wußte, um was es sich handelte, und daß eine Lösung bevorstand. »Jetzt ist mir alles vollkommen klar«, fuhr Raskolnikow fort, sich direkt an Lebesjatnikow wendend. »Gleich zu Beginn dieser Geschichte schöpfte ich Verdacht, daß irgendeine Gemeinheit dahinter stecke; ich schöpfte diesen Verdacht infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir allein bekannt sind und die ich sofort allen erklären werde: um sie dreht sich alles. Und Sie, Andrej Ssemjonowitsch, haben mir durch Ihre wertvolle Aussage alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle, zuzuhören. Dieser Herr (er zeigte auf Luschin) hat vor kurzem um die Hand eines jungen Mädchens angehalten, nämlich meiner Schwester Awdotja Romanowna Raskolnikowa. Aber nach seiner Ankunft in Petersburg hat er sich vorgestern, bei unserer ersten Zusammenkunft, mit mir gezankt, und ich warf ihn hinaus, wofür ich zwei Zeugen habe. Dieser Mensch ist sehr boshaft ... Vorgestern wußte ich noch nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrej Ssemjonowitsch, wohnt und daß er folglich am gleichen Tage, an dem wir uns gezankt haben, das heißt vorgestern, Zeuge davon war, wie ich als Freund des verstorbenen Herrn Marmeladow, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas Geld für die Beerdigung gab. Er schrieb sofort meiner Mutter einen Brief und teilte ihr mit, daß ich das ganze Geld nicht Katerina Iwanowna, sondern Ssofja Ssemjonowna gegeben hätte, wobei er in den gemeinsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja Ssemjonownas sprach, das heißt auf die Art meiner Beziehungen zu Ssofja Ssemjonowna anspielte. Dies machte er alles, wie Sie sich wohl denken können, in der Absicht, mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen einredete, daß ich das letzte Geld, mit dem sie mich unterstützten, zu gemeinen Zwecken verschwendete. Gestern abend hatte ich in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seinem Beisein die Wahrheit festgestellt und bewiesen, daß ich das Geld Katerina Iwanowna für die Beerdigung und nicht Ssofja Ssemjonowna eingehändigt hatte, daß ich mit Ssofja Ssemjonowna vorgestern noch gar nicht bekannt war und sie noch nie gesehen hatte. Bei dieser Gelegenheit fügte ich hinzu, daß Pjotr Petrowitsch Luschin mit allen seinen Vorzügen nicht den kleinen Finger Ssofja Ssemjonownas, über die er sich so schlecht geäußert hatte, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemjonowna neben meine Schwester hinsetzen würde, antwortete ich, daß ich dies am gleichen Tage schon getan hätte. Er wurde böse, weil meine Mutter und Schwester trotz seiner Verleumdungen sich mit mir nicht entzweien wollten, und fing an, ihnen unverzeihliche Grobheiten zu sagen. Es kam zu einem endgültigen Bruch, und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles hat sich gestern abend abgespielt. Jetzt bitte ich Sie um besondere Aufmerksamkeit: Denken Sie sich den Fall, es wäre ihm wirklich gelungen, zu beweisen, daß Ssofja Ssemjonowna eine Diebin sei; damit hätte er meiner Mutter und Schwester gezeigt, daß er mit seinen Verdächtigungen recht gehabt habe; daß er mit Recht böse geworden sei, als ich meine Schwester und Ssofja Ssemjonowna auf die gleiche Stufe stellte; daß er also, indem er mich angriff, die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und schützte. Mit einem Wort, auf diese Weise konnte er mich mit meinen Angehörigen entzweien und durfte hoffen, dadurch wieder zu Gnaden zu kommen. Ich spreche schon gar nicht davon, daß er auch an mir persönlich Rache nahm, da er Grund zur Annahme hat, daß die Ehre und das Glück Ssofja Ssemjonownas mir sehr teuer sind. Das ist seine ganze Berechnung. So fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze Grund, einen anderen kann es gar nicht geben!« So oder ähnlich schloß Raskolnikow seine Rede, oft durch die Zwischenrufe der Anwesenden unterbrochen, welche übrigens recht aufmerksam zuhörten. Trotz dieser Unterbrechungen sprach er aber scharf, ruhig, genau, klar und fest. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht machten auf alle einen außerordentlichen Eindruck. »Ja, so, so ist es!« bestätigte Lebesjatnikow begeistert. »So muß es gewesen sein, denn er fragte mich, sobald Ssofja Ssemjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, ob Sie da seien und ob ich Sie unter den Gästen Katerina Iwanownas gesehen hätte. Er rief mich zu diesem Zweck zum Fenster und fragte mich leise. Also legte er wohl Wert darauf, daß Sie da seien! Es ist so, es ist so, alles ist so!« Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Übrigens war er sehr blaß. Er schien zu überlegen, wie er sich aus der Klemme ziehen könnte. Vielleicht hätte er gern alles im Stich gelassen und wäre weggegangen, aber in diesem Moment war es fast unmöglich; dies hieße, die Richtigkeit der gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen anzuerkennen und zu gestehen, daß er Ssofja Ssemjonowna wirklich verleumdet hatte. Außerdem war das Publikum, das schon ohnehin etwas angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstand, schrie mehr als alle und schlug gewisse für Luschin recht unangenehme Maßregeln vor. Manche waren aber nicht betrunken; aus allen Zimmern kamen Leute herbei. Alle drei Polen regten sich furchtbar auf, schrien in einem fort: »Der Pan ist ein Schuft!« und murmelten noch allerlei Drohungen auf polnisch. Ssonja hörte gespannt zu, schien aber nicht alles zu verstehen, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Sie wandte nur ihre Augen nicht von Raskolnikow, da sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete schwer und heiser und schien furchtbar erschöpft. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da, mit offenem Munde, ohne etwas zu verstehen. Sie sah nur, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie hereingefallen war. Raskolnikow bat wieder ums Wort, man ließ ihn aber nicht zu Ende sprechen: alle schrien und drängten sich um Luschin mit Schimpfworten und Drohungen. Aber Pjotr Petrowitsch wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der Beschuldigung Ssonjas unrettbar verloren war, wurde er einfach frech: »Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie sich nicht, lassen Sie mich durchgehen!« sagte er, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Und tun Sie mir den Gefallen, drohen Sie nicht. Ich versichere Ihnen, daraus wird nichts, Sie werden nichts erreichen, ich gehöre nicht zu den Feigen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie werden es noch zu verantworten haben, daß Sie eine Kriminalsache gewaltsam vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und ich werde sie belangen. Und vor Gericht ist man nicht so blind und ... nicht betrunken, und wird nicht zwei abgefeimten Atheisten, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie in ihrer Dummheit auch selbst zugeben ... Ja, erlauben Sie doch!« »Räumen Sie sofort mein Zimmer! Wollen Sie sofort ausziehen, und zwischen uns ist alles aus! Wenn ich bloß bedenke, wie ich mich bemühte, wie ich ihm alles erklärte ... ganze zwei Wochen! ...« »Ich habe Ihnen auch selbst vorhin gesagt, Andrej Ssemjonowitsch, als Sie mich zurückzuhalten versuchten, daß ich ausziehe; jetzt füge ich dem noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen eine Gesundung Ihres Verstandes und Ihrer blinden Augen. Erlauben Sie doch, meine Herrschaften!« Er drängte sich durch; aber der Proviantbeamte wollte ihn nicht so einfach, bloß mit Schimpfworten beladen, abziehen lassen; er nahm ein Glas vom Tisch, holte aus und schleuderte es gegen Pjotr Petrowitsch; aber das Glas flog direkt auf Amalia Iwanowna. Sie kreischte auf, aber der Proviantbeamte verlor, als er zum Wurfe ausholte, das Gleichgewicht und fiel schwer unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich auf sein Zimmer, und nach einer halben Stunde war er nicht mehr im Hause. Sjonja, die von Natur schüchtern war, wußte es schon früher, daß man sie leichter als jeden anderen Menschen zugrunderichten konnte und daß sie jeder fast straflos beleidigen durfte. Und doch hatte sie bis zu diesem Augenblick geglaubt, daß sie jedem Unheil durch Vorsicht, Sanftmut und Demut vor jedem Menschen entgehen könnte. Ihre Enttäuschung war darum allzu schwer. Sie konnte natürlich mit Geduld und fast ohne zu murren alles, selbst dieses ertragen. Aber im ersten Augenblick war es ihr doch zu schwer. Trotz ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, – als der erste Schreck und die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles klar erkannt und begriffen hatte, krampfte sich ihr Herz vor Hilflosigkeit und Kränkung schmerzhaft zusammen. Sie bekam einen hysterischen Anfall. Schließlich hielt sie es nicht aus, stürzte aus dem Zimmer und rannte nach Hause. Dies geschah, gleich nachdem Luschin fortgegangen war. Als das Glas unter dem lauten Lachen der Anwesenden Amalia Iwanowna traf, wurde es ihr doch zu bunt. Wie wahnsinnig kreischend, stürzte sie auf Katerina Iwanowna zu, der sie die Schuld an allem zuschob. »Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!« Mit diesen Worten fing sie an, alle Sachen Katerina Iwanownas, die ihr unter die Hände kamen, auf den Boden zu werfen. Katerina Iwanowna, schon ohnehin halbtot, beinahe ohnmächtig und blaß, sprang vom Bette auf (auf das sie in ihrer Erschöpfung hingesunken war) und fiel über Amalia Iwanowna her. Der Kampf war aber zu ungleich; jene stieß sie wie eine leichte Feder von sich. »Wie! Nicht genug, daß man uns gottlos verleumdet hat, geht diese Kreatur auch noch gegen mich los! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt man mich zum Dank für die genossene Gastfreundschaft mit den Waisen aus dem Hause! Wo soll ich denn hingehen?!« schrie keuchend und schluchzend die arme Frau. »Gott!« schrie sie plötzlich mit brennenden Augen: »Gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wen willst du denn schützen, wenn nicht uns Waisen? Nun, wir wollen es sehen! Es gibt Recht und Wahrheit in der Welt, ich werde sie finden! Gleich, wart, du gottlose Kreatur! Poljetschka, bleib du bei den Kindern, ich komme gleich zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der Straße! Wir wollen sehen, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt! ...« Und Katerina Iwanowna warf sich dasselbe grüne Tuch, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung erwähnt hatte, über den Kopf, drängte sich durch den unordentlichen Haufen betrunkener Mieter, die noch immer im Zimmer herumstanden, und lief weinend und schluchzend auf die Straße – mit der unbestimmten Absicht, gleich, auf der Stelle irgendwo Gerechtigkeit zu finden. Poljetschka drückte sich voller Angst mit den Kindern in die Ecke, setzte sich, die beiden Kleinsten umschlingend, auf den Koffer und fing an, am ganzen Leibe zitternd, auf die Rückkehr der Mutter zu warten. Amalia Iwanowna rannte hin und her, kreischte, lamentierte, warf alles, was ihr unter die Hände kam, auf den Boden und gebärdete sich wie rasend. Die Mieter schrien durcheinander – die einen besprachen noch, soweit sie es noch konnten, das Geschehene, die anderen zankten sich und fluchten, andere wieder stimmten Lieder an ... – Jetzt ist auch für mich Zeit! – dachte Raskolnikow. – Nun, Ssofja Ssemjonowna, wir wollen mal sehen, was Sie jetzt sagen werden! – Und er ging zu Ssonja in die Wohnung. 4. IV Raskolnikow war ein mutiger und eifriger Advokat Ssonjas gegen Luschin, obwohl er selbst so viel eigenes Leid und Grauen in der Seele trug. Da er aber am Morgen so viel gelitten hatte, war er beinahe froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich geworden waren, zu ändern, schon ganz abgesehen davon, wie viel Persönliches und Herzliches in seinem Streben, für Ssonja einzutreten, lag. Außerdem stand ihm noch die Zusammenkunft mit Ssonja bevor, und dieser Gedanke beunruhigte ihn in manchen Augenblicken schwer: er mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hatte, er sah die schreckliche Qual voraus und wehrte sie von sich gleichsam mit beiden Händen ab. Als er beim Verlassen der Wohnung Katerina Iwanownas ausrief: »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja Ssemjonowna?«, befand er sich noch in einem äußerlich erregten Zustande von Mut, Kampflust, unter dem Eindrucke des eben über Luschin errungenen Sieges. Aber es kam so seltsam. Als er die Wohnung Kapernaumows erreichte, fühlte er plötzlich Ohnmacht und Angst. Nachdenklich blieb er vor der Tür stehen: »Soll ich sagen, wer Lisaweta ermordet hat?« Die Frage war sonderbar, weil er im gleichen Augenblick plötzlich fühlte, daß es ihm unmöglich war, nicht nur zu schweigen, sondern auch diesen Augenblick noch für eine kurze Weile hinauszuschieben. Er wußte noch nicht, warum es unmöglich war: er fühlte es nur, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Ohnmacht der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn fast. Um nicht länger zu denken und sich zu quälen, machte er die Tür schnell auf und blickte von der Schwelle auf Ssonja. Sie saß, auf das Tischchen gestützt, und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt; als sie aber Raskolnikow sah, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, als hätte sie ihn erwartet. »Wie wäre es mir wohl ohne Sie ergangen!« sagte sie schnell, als sie ihm in der Mitte des Zimmers begegnete. Offenbar hatte sie ihm nur das so schnell wie möglich sagen wollen und ihn nur darum erwartet. Raskolnikow ging zum Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, genau wie gestern. »Nun, Ssonja?« sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme zitterte. »Das Ganze lief doch auf die ›soziale Position und die mit derselben verbundenen Angewohnheiten‹ hinaus? Haben Sie es vorhin verstanden?« Ihr Gesicht zeigte einen schmerzvollen Ausdruck. »Sprechen Sie nur mit mir nicht so wie gestern!« unterbrach sie ihn. »Bitte, fangen Sie gar nicht an. Ich hab' auch so genügend Qual ...« Sie beeilte sich zu lächeln, da sie fürchtete, daß der Vorwurf ihm vielleicht mißfallen würde. »Ich bin dummerweise weggegangen. Was ist jetzt dort los? Ich wollte eben wieder hingehen, dachte aber immer, daß ... Sie kommen würden.« Er erzählte ihr, daß Amalia Iwanowna die Ihrigen aus der Wohnung jage und daß Katerina Iwanowna irgendwohin gelaufen sei, »um die Gerechtigkeit zu suchen«. »Ach, mein Gott!« fuhr Ssonja auf. »Kommen Sie schnell ...« Und sie ergriff ihre Mantille. »Ewig dasselbe!« rief Raskolnikow gereizt. »Sie haben nur sie im Sinn! Bleiben Sie mit mir.« »Und ... Katerina Iwanowna?« »Katerina Iwanowna wird Ihnen nicht entgehen, sie wird schon selbst zu Ihnen kommen, wenn sie schon aus dem Hause gelaufen ist«, fügte er mürrisch hinzu. »Wenn sie Sie nicht antrifft, werden Sie doch schuld sein ...« Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl. Raskolnikow schwieg, blickte zu Boden und überlegte sich etwas. »Nehmen wir an, Luschin wollte es jetzt nicht«, begann er, ohne Ssonja anzusehen. »Wenn er es aber wollte oder wenn es in seinem Interesse wäre, hätte er Sie doch ins Zuchthaus gebracht – wenn ich und Lebesjatnikow nicht dabei gewesen wären! Wie?« »Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ja!« wiederholte sie zerstreut und unruhig. »Ich hätte ja wirklich auch nicht dabei sein können! Lebesjatnikow kam aber schon ganz zufällig dazwischen.« Ssonja schwieg. »Nun, und wenn Sie ins Zuchthaus kämen, was dann? Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen gestern gesagt habe?« Sie antwortete wieder nicht. Er wartete eine Weile. »Und ich dachte, Sie würden wieder schreien: ›Ach, sprechen Sie nicht davon, hören Sie auf!‹« sagte Raskolnikow und lachte, doch irgendwie unnatürlich. »Nun, Sie schweigen wieder?« fragte er nach einer Weile. »Man muß doch über etwas reden? Nun wäre es mir sehr interessant zu hören, wie Sie jetzt eine gewisse ›Frage‹, wie es Lebesjatnikow nennt, lösen würden. (Er schien etwas aus dem Konzept zu kommen.) Nein, wirklich, ich meine es ernst. Stellen Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus wüßten, daß Sie wüßten (das heißt ganz sicher wüßten), daß dadurch Katerina Iwanowna und die Kinder ganz zugrundegehen würden; auch Sie selbst als Draufgabe (da Sie sich selbst für nichts achten, sage ich: als Draufgabe ). Poljetschka eben falls ... weil ihr der gleiche Weg bevorsteht. Nun also: Wenn es jetzt nur von Ihrer Entscheidung abhinge, ob er oder Sie leben sollen, das heißt, ob Luschin leben und seine Gemeinheiten weiter begehen soll, oder Katerina Iwanowna sterben soll – wie würden Sie entscheiden: wer von ihnen soll sterben? Ich frage Sie!« Ssonja sah ihn unruhig an. Sie glaubte in seiner unsicheren, weit ausholenden Rede etwas zu hören. »Ich wußte schon vorher, daß Sie mich etwas Ähnliches fragen würden«, sagte sie und sah ihn forschend an. »Gut, meinetwegen. Aber wie soll man diese Frage entscheiden?« »Warum fragen Sie etwas, was unmöglich zu beantworten ist?« sagte Ssonja mit Widerwillen. »Es ist also besser, wenn Luschin am Leben bleibt und seine Gemeinheiten weiter treibt! Sie wagen nicht mal, dieses zu entscheiden!« »Ich kann ja nicht Gottes Vorsehung kennen ... Und warum fragen Sie mich, was man nicht fragen darf? Wozu solche dummen Fragen? Wie wäre es möglich, daß dies von meiner Entscheidung abhinge? Und wer hat mich zum Richter bestellt, um zu entscheiden, wer leben und wer sterben soll?« »Sobald die Vorsehung Gottes mit im Spiele ist, ist nichts zu machen«, brummte Raskolnikow mürrisch. »Sagen Sie lieber einfach, was Sie wollen!« rief Ssonja gequält. »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie denn nur dazu gekommen, um mich zu quälen?« Sie hielt es nicht aus und fing plötzlich zu weinen an. Finster und schwermütig sah er sie an. So vergingen an die zehn Minuten. »Du hast ja recht, Ssonja«, sagte er schließlich leise. Er war plötzlich wie verändert. Der gekünstelte freche und kraftlos herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme wurde auf einmal schwach. »Ich habe dir gestern doch selbst gesagt, daß ich nicht dazu kommen werde, um Verzeihung zu bitten, und doch hätte ich beinahe damit angefangen ... Das über Luschin und die Vorsehung sagte ich nur für mich selbst ... Ich bat damit um Verzeihung, Ssonja ...« Er wollte schon lächeln, aber das blasse Lächeln blieb kraftlos und unfertig. Er neigte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Plötzlich durchzuckte das unerwartete Gefühl eines giftigen Hasses gegen Ssonja sein Herz. Über dieses Gefühl gleichsam selbst erstaunt und erschrocken, hob er plötzlich den Kopf und sah sie aufmerksam an; er begegnete aber ihrem unruhigen und schmerzvoll besorgten Blick; es war Liebe darin: und sein Haß verschwand wie ein Gespenst. Es war etwas anderes; er hatte sein Gefühl für ein anderes gehalten. Es bedeutete nur, daß jener Augenblick gekommen war. Er bedeckte wieder das Gesicht mit den Händen und beugte den Kopf. Plötzlich erbleichte er, erhob sich vom Stuhl, sah Ssonja an und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, mechanisch auf ihr Bett hinüber. Dieser Moment glich für seine Empfindung so furchtbar jenem, als er schon hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge herausgeholt hatte und fühlte, daß er keinen Augenblick länger verlieren dürfe. »Was ist mit Ihnen?« fragte Ssonja, furchtbar erschrocken. Er konnte kein Wort hervorbringen. Er hatte sich das Geständnis ganz anders vorgestellt und verstand gar nicht, was jetzt mit ihm vorging. Sie ging leise auf ihn zu, setzte sich neben ihn aufs Bett und wartete, ohne den Blick von ihm zu wenden. Ihr Herz klopfte und stockte. Es wurde unerträglich; er wandte ihr sein totenblasses Gesicht zu; seine Lippen zuckten ohnmächtig und bemühten sich, etwas zu sagen. Ein Grauen durchfuhr Ssonjas Herz. »Was ist mit Ihnen?« wiederholte sie, vor ihm etwas zurückweichend. »Nichts, Ssonja. Fürchte dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn ich es so überlege, so ist es Unsinn«, murmelte er wie ein Besinnungsloser im Fieber. »Warum bin ich bloß hergekommen, um dich zu quälen?« fügte er plötzlich hinzu und sah sie an. »Wirklich, wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...« Vielleicht hatte er sich diese Frage wirklich vor einer Viertelstunde vorgelegt, jetzt sagte er es aber in voller Ohnmacht, kaum sich selber bewußt und am ganzen Körper zitternd. »Ach, wie Sie sich quälen!« sagte sie mit Schmerz und sah ihn aufmerksam an. »Alles ist Unsinn! ... Hör mal, Ssonja (er lächelte plötzlich aus unbekanntem Grunde bleich und kraftlos, es dauerte an die zwei Sekunden), – weißt du noch, was ich dir gestern sagen wollte?« Ssonja wartete voll Unruhe. »Ich sagte beim Weggehen, daß ich mich von dir vielleicht für immer verabschiede, aber wenn ich heute käme, so würde ich dir sagen ... wer Lisaweta ermordet hat.« Sie erbebte plötzlich am ganzen Körper. »Nun bin ich gekommen, um es dir zu sagen.« »Sie haben es also gestern im Ernst ...« flüsterte sie mühevoll. – »Woher wissen Sie es denn?« fragte sie plötzlich scheu, als wäre sie zur Besinnung gekommen. Ssonja fing an, schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer blasser und blasser. »Ich weiß es.« Sie schwieg eine Weile. »Hat man ihn vielleicht gefunden?« fragte sie scheu. »Nein, man hat ihn nicht gefunden.« »Woher wissen Sie es dann?« fragte sie wieder kaum hörbar und wieder nach einem längeren Schweigen. Er wandte sich zu ihr um und sah sie sehr aufmerksam an. »Rate einmal«, sagte er mit seinem früheren verzerrten und ohnmächtigen Lächeln. Ihr ganzer Körper erzitterte wie im Krampf. »Sie ... machen ... was machen Sie mir solche Angst?« sagte sie und lächelte wie ein Kind. »Also bin ich wohl mit ihm gut befreundet ... wenn ich es weiß«, fuhr Raskolnikow fort, ihr immer unverwandt ins Gesicht blickend, als hätte er nicht die Kraft, die Augen von ihr zu wenden. »Er hat diese Lisaweta ... nicht ermorden wollen ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er wollte die Alte ermorden ... als sie allein war ... und war gekommen ... Da trat aber Lisaweta ein ... Und da ermordete er sie.« Es verging wieder eine schreckliche Minute. Sie sahen einander noch immer an. »Du kannst es also nicht erraten?« fragte er plötzlich mit einem Gefühl, als stürzte er sich von einem Glockenturm hinab. »N-nein«, flüsterte Ssonja kaum hörbar. »Sieh mal mich ordentlich an.« Und kaum hatte er das gesagt, als eine ihm schon bekannte frühere Empfindung sein Herz erstarren ließ: er sah sie an und glaubte plötzlich in ihrem Gesicht das Gesicht Lisawetas zu erkennen. Er hatte sich Lisawetas Gesichtsausdruck so grell eingeprägt, als er damals mit dem Beil auf sie losging und sie vor ihm zur Wand zurückwich, die Hand vorgestreckt, mit einer völlig kindlichen Angst im Gesicht, ganz wie ein kleines Kind, das plötzlich vor etwas erschrickt, unbeweglich und unruhig den ihn erschreckenden Gegenstand anstarrt, dann zurückweicht, das Händchen vorstreckt und sich anschickt, zu weinen. Fast dasselbe war jetzt mit Ssonja; ebenso kraftlos, mit dem gleichen Schrecken sah sie ihn eine Weile an, streckte plötzlich die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den Fingern vor die Brust und fing an, sich langsam vom Bette zu erheben, immer mehr und mehr zurückweichend, während ihr Blick immer starrer wurde. Ihr Entsetzen teilte sich gleichsam auch ihm mit: auch sein Gesicht zeigte die gleiche Angst, er begann sie ebenso anzusehen, fast mit demselben kindlichen Lächeln. »Hast du es erraten?« flüsterte er plötzlich. »O Gott!« entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust. Kraftlos fiel sie aufs Bett, mit dem Gesicht auf das Kissen. Doch nach einem Augenblick erhob sie sich wieder, rückte schnell zu ihm heran, ergriff seine beiden Hände, preßte sie wie in einem Schraubstock mit ihren feinen Fingern zusammen und begann ihm wieder unbeweglich und unverwandt ins Gesicht zu schauen. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die leiseste, letzte Hoffnung für sich entdecken und erspähen. Aber es war keine Hoffnung; es blieb auch kein Zweifel: alles war so ! Sogar viel später, wenn sie sich auf diesen Augenblick besann, kam es ihr so seltsam und sonderbar vor: warum hatte sie damals sofort erkannt, daß es keine Zweifel mehr gab? Sie konnte doch nicht sagen, daß sie etwas dergleichen zum Beispiel vorausgeahnt hätte! Und doch kam es ihr jetzt, wo er es ihr gesagt hatte, vor, als hätte sie gerade das vorausgeahnt. »Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« bat er mit schmerzlichem Ausdruck. Er hatte es ihr ganz, ganz anders enthüllen wollen, aber es war doch so gekommen. Wie außer sich, sprang sie auf und ging händeringend bis zur Mitte des Zimmers; doch sie kam schnell zurück und setzte sich wieder neben ihn, so daß sie mit ihrer Schulter beinahe die seinige berührte. Plötzlich fuhr sie, wie von einem Pfeile durchbohrt, zusammen und stürzte, ohne selbst zu wissen, warum, vor ihm in die Knie. »Was, was haben Sie mit sich getan!« sagte sie verzweifelt. Sie stand von den Knien auf, fiel ihm um den Hals, umschlang ihn und preßte ihn fest zusammen. Raskolnikow rückte weg und sah sie mit traurigem Lächeln an. »Wie sonderbar bist du, Ssonja – du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir das gesagt habe! Du weißt selbst nicht, was du tust.« »Niemand, niemand ist jetzt unglücklicher als du in der ganzen Welt!« rief sie wie rasend aus, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und brach plötzlich in lautes, hysterisches Weinen aus. Ein ihm schon seit langem unbekanntes Gefühl überströmte mit einem Male seine Seele und machte sie erweichen. Er widerstrebte ihm nicht: zwei Tränen rollten ihm aus den Augen und blieben an seinen Wimpern hängen. »So wirst du mich nicht verlassen, Ssonja?« fragte er, sie fast mit Hoffnung anblickend. »Nein, nein! Niemals und nirgends!« rief Ssonja aus. »Ich gehe mit dir, ich folge dir überallhin! O Gott! ... Ach, ich Unglückliche! Warum, warum habe ich dich bisher nicht gekannt! Warum bist du nicht früher gekommen? O Gott!« »Nun bin ich gekommen.« »Jetzt erst! Ach, was soll man jetzt tun! ... Zusammen, zusammen!« wiederholte sie wie bewußtlos und umarmte ihn von neuem. »Ich gehe mit dir nach Sibirien!« Er zuckte plötzlich zusammen, sein früheres gehässiges und fast hochmütiges Lächeln zeigte sich wieder auf seinen Lippen. »Vielleicht will ich noch gar nicht nach Sibirien, Ssonja!« sagte er. Ssonja warf ihm einen schnellen Blick zu. Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruch von Mitgefühl für den Unglücklichen wurde sie wieder von dem schrecklichen Gedanken an den Mord erschüttert. Im veränderten Ton seiner Worte erkannte sie den Mörder. Sie sah ihn mit Erstaunen an. Es war ihr noch nichts bekannt: weder warum, noch wie, noch wozu er es getan hatte. Alle diese Fragen tauchten mit einemmal in ihrem Bewußtsein auf. Und sie glaubte es wieder nicht. – Er, er soll ein Mörder sein? Ist es denn möglich? »Was ist denn das? Wo bin ich denn?« sagte sie in tiefem Erstaunen, als wäre sie noch nicht zu sich gekommen. »Wie konnten Sie, Sie, solch ein Mensch , sich zu so was entschließen?!« »Na ja, um zu rauben. Hör auf, Ssonja!« antwortete er müde und fast ärgerlich. Ssonja stand wie niedergeschmettert da, rief aber plötzlich aus: »Du warst hungrig! Du ... um deiner Mutter zu helfen? Ja? ...« »Nein, Ssonja, nein«, stammelte er abgewandt und mit gesenktem Kopf. »Ich war gar nicht so hungrig ... ich wollte wirklich der Mutter helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäle mich nicht, Ssonja.« Ssonja schlug die Hände zusammen. »Ist es denn wirklich, wirklich wahr? Mein Gott, was ist das für eine Wahrheit? Wer kann es glauben? ... Wie können Sie selbst das Letzte hergeben, wo Sie gemordet und geraubt haben! Ah! ...« schrie sie plötzlich. »Das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben ... dieses Geld ... Mein Gott, ist denn auch dieses Geld ...« »Nein, Ssonja«, unterbrach er sie hastig, »es war anderes Geld, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter geschickt durch einen Kaufmann; ich erhielt es, als ich krank war, am gleichen Tage, an dem ich es hergab ... Rasumichin hat es gesehen ... er hat auch das Geld für mich übernommen ... dieses Geld war wirklich mein eigenes.« Ssonja hörte verständnislos zu und bemühte sich mit aller Kraft, etwas zu verstehen. »Und jenes Geld ... ich weiß übrigens gar nicht, ob dort überhaupt Geld war«, fügte er leise und nachdenklich hinzu. »Ich habe ihr damals einen Beutel vom Halse genommen, einen wildledernen ... einen vollgestopften dicken Beutel ... und habe gar nicht hineingeschaut; hatte wahrscheinlich keine Zeit dazu ... Nun, und die Sachen, irgendwelche Hemdknöpfe und Kettchen – alle diese Sachen habe ich am nächsten Morgen auf einem fremden Hofe, auf dem W–schen Prospekt unter einem Stein versteckt ... Alles liegt jetzt noch dort ...« Ssonja hörte gespannt zu. »Nun, warum denn ... warum sagten Sie: um zu rauben, haben aber nichts genommen?« fragte sie schnell, wie nach einem Strohhalme greifend. »Ich weiß nicht ... ich habe es mir noch nicht überlegt, ob ich das Geld nehmen werde oder nicht«, sagte er wieder nachdenklich; plötzlich kam er zu sich und lachte schnell und kurz auf. »Ach, was für eine Dummheit habe ich eben gesagt, wie?!« Ssonja kam schon der Gedanke: – Ist er nicht wahnsinnig? – Aber sie gab ihn gleich wieder auf: – Nein, hier ist etwas anderes! – Sie verstand davon nichts, gar nichts. »Weißt du, Ssonja«, sagte er plötzlich, wie einer Eingebung folgend. »Weißt du, was ich dir sagen werde: Wenn ich nur darum gemordet hätte, weil ich hungrig war«, fuhr er fort, jedes Wort betonend und sie rätselhaft, aber aufrichtig anblickend, »so wäre ich jetzt glücklich ! Merke dir das! Und was hättest du davon«, rief er nach einem Augenblick in Verzweiflung, »was hättest du davon, wenn ich dir gleich gestanden hätte, daß ich schlecht gehandelt habe? Was hättest du von diesem dummen Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich denn deswegen jetzt zu dir gekommen?« Ssonja wollte wieder etwas sagen, sagte aber nichts. »Darum habe ich dich auch gestern gerufen, mit mir zu kommen, weil nur du allein mir geblieben bist.« »Wohin gerufen?« fragte Ssonja. »Nicht um zu stehlen und nicht um zu morden, beruhige dich! ... nicht dazu«, sagte er mit spöttischem Lächeln. »Wir sind zu verschiedene Menschen ... Weißt du, Ssonja, ich habe erst jetzt, erst eben begriffen, wohin ich dich gestern rief! Als ich dich gestern rief, wußte ich selbst noch nicht, wohin. Nur das eine wollte ich, als ich dich rief, als ich zu dir kam: daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich nicht verlassen, Ssonja?« Sie drückte ihm die Hand. »Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr enthüllt?!« rief er voll Verzweiflung nach einer Minute aus und sah sie mit unendlicher Qual an. »Da erwartest du von mir Erklärungen, sitzt und wartest, ich sehe es; was kann ich dir aber sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen, wirst dich bloß quälen ... um meinetwillen! Nun, du weinst und umarmst mich wieder – warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht tragen konnte und zum andern kam, um es auf ihn abzuwälzen: ›Leide auch du, damit ich es leichter habe!‹? – Kannst du denn einen solchen Schurken lieben?« »Quälst du dich denn nicht auch?« rief Ssonja aus. Wieder überströmte das gleiche Gefühl seine Seele und machte sie für einen Augenblick erweichen. »Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk dir das: damit kannst du vieles erklären. Ich bin auch darum gekommen, weil ich böse bin. Es gibt solche, die nicht gekommen wären. Ich bin aber ein Feigling und ... ein Schuft! Aber ... es sei! Das ist alles nicht das Richtige ... Man muß jetzt sprechen, ich verstehe aber nicht anzufangen ...« Er hielt inne und wurde nachdenklich. »Ach, ja, wir sind verschiedene Menschen!« rief er wieder aus. »Wir passen nicht zueinander. Warum bin ich nur hergekommen?! Nie, nie werde ich es mir verzeihen!« »Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« rief Ssonja. »Es ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!« Er sah sie voller Schmerz an. »Ach, in der Tat!« sagte er, als hätte er es jetzt begriffen. »So war es ja auch! Also hör: ich wollte ein Napoleon werden, darum habe ich sie ermordet ... Nun, ist es dir jetzt verständlich?« »N-nein«, flüsterte Ssonja naiv und scheu. »Aber ... sprich, sprich! Ich werde es verstehen, ich werde für mich alles verstehen!« flehte sie ihn an. »Du wirst es verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!« Er schwieg und dachte lange nach. »Die Sache ist die: Einmal habe ich mir folgende Frage gestellt: Wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon wäre und er, um seine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über den Mont-Blanc gehabt hätte, wenn an Stelle dieser schönen und monumentalen Dinge ganz einfach eine lächerliche Alte, eine Registratorswitwe gewesen wäre, die man auch noch ermorden mußte, um aus ihrem Koffer Geld zu stehlen (für die Karriere, verstehst du?) – nun, würde er sich dazu entschließen, wenn er keinen anderen Ausweg gehabt hätte? Wäre er davor zurückgeschreckt, daß er schon gar zu unmonumental und ... und sündhaft gewesen wäre? Nun, ich sage dir also, daß ich mich mit dieser Frage furchtbar lange gequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als ich schließlich dahinter kam (so ganz plötzlich), daß er davor nicht nur nicht zurückgeschreckt wäre, sondern es ihm nicht mal in den Sinn gekommen wäre, daß es nicht monumental sei ... und er nicht mal begriffen hätte, wovor er hier eigentlich hätte zurückschrecken sollen! Und wenn er keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er sie erwürgt haben, so daß sie nicht mal gemuckst hätte, ganz ohne Nachdenken! Nun, und ich ... ließ alles Nachdenken ... und tötete sie ... nach dem Beispiele der Autorität. Und es spielte sich auch genau so ab! Das kommt dir lächerlich vor? Ja, Ssonja, das ist wirklich das Lächerlichste dabei, daß es sich wirklich so abgespielt hat ...« Ssonja kam es gar nicht lächerlich vor. »Sagen Sie mir lieber offen ... ohne Beispiele«, bat sie kaum hörbar und noch scheuer. Er wandte sich zu ihr um, sah sie traurig an und ergriff ihre Hände. »Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, fast leeres Geschwätz! Siehst du: du weißt ja, daß meine Mutter fast nichts hat. Meine Schwester hat zufällig Bildung genossen und ist verurteilt, als Gouvernante von Haus zu Haus zu ziehen. Alle ihre Hoffnungen ruhten auf mir allein. Ich studierte, konnte aber meinen Unterhalt nicht bezahlen und mußte zeitweise die Universität verlassen. Und selbst, wenn es sich noch weiter hingeschleppt hätte, könnte ich nach zehn oder zwölf Jahren (wenn die Umstände mir günstig wären) immerhin ein Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt werden ... (Er sagte das wie eine auswendig gelernte Lektion.) Bis dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer zugrundegegangen, und so wäre es mir doch nicht gelungen, ihr endlich zu einem ruhigen Leben zu verhelfen ... Nun, und der Schwester könnte es noch viel schlimmer ergehen! ... Und was für ein Vergnügen ist es auch, sein Leben lang an allem vorbeizugehen und sich von allem abzuwenden, die Mutter zu vergessen und die Schmach der Schwester mit Ehrfurcht zu ertragen? Wozu? Um sie zu begraben und sich andere – eine Frau und Kinder anzuschaffen und dann auch sie ohne einen Pfennig Geld und ohne einen Bissen Brot zurückzulassen? Nun ... so entschloß ich mich, mir das Geld der Alten anzueignen und es, ohne meine Mutter zu quälen, für den Unterhalt während der ersten Universitätsjahre und für die ersten Schritte nach der Universität zu verwenden, und dies alles auf breiter Grundlage und radikal zu machen, um mir eine vollkommen neue Karriere einzurichten und auf einen neuen, unabhängigen Weg zu kommen ... Nun ... das ist alles ... Daß ich die Alte ermordet habe, war natürlich schlecht von mir ... nun ist's genug!« In völliger Erschöpfung hatte er das Ende seiner Rede erreicht und ließ den Kopf sinken. »Ach, das ist nicht das, das ist nicht das!« rief Ssonja voll Gram. »Kann man denn so ... nein, es ist nicht so, nicht so!« »Du siehst doch selbst, daß es nicht so ist! ... Und doch habe ich aufrichtig gesprochen, habe die reine Wahrheit gesagt! ...« »Was ist es denn für eine Wahrheit! O Gott!« »Ich habe doch nur eine Laus getötet, Ssonja, eine unnütze, häßliche, schädliche Laus.« »Was, ein Mensch ist eine Laus?« »Das weiß ich auch selbst, daß er keine Laus ist«, antwortete er und sah sie sonderbar an. »Aber ich rede Unsinn, Ssonja,« fügte er hinzu, »ich rede schon lange Unsinn ... Das ist alles nicht das Richtige; du hast recht. Es sind ganz, ganz andere Gründe dabei! ... Ich habe schon lange mit niemand gesprochen, Ssonja ... Mein Kopf tut mir jetzt so weh.« Seine Augen brannten wie im Fieber. Er begann fast zu phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Durch die große seelische Erregung ließ sich schon eine furchtbare Ohnmacht erkennen. Ssonja begriff, wie er sich quälte. Auch ihr schwindelte schon der Kopf. Auch sprach er so merkwürdig: es kam ihr zwar verständlich vor, und doch ... »Aber wie! Aber wie! O Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände. »Nein, Ssonja, das ist nicht das Richtige!« begann er wieder und hob plötzlich den Kopf, als hätte ihn eine jähe Wendung der Gedanken überrascht und von neuem erregt. »Das ist nicht das Richtige! Besser ... nimm an (ja, so ist es wirklich besser!), nimm an, ich sei egoistisch, neidisch, böse, gemein, rachsüchtig und ... neige vielleicht auch zum Irrsinn. (Besser schon alles auf einmal! Daß ich irrsinnig sei, davon hat man schon früher gesprochen, ich habe es gemerkt!) Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität meinen Unterhalt nicht bezahlen konnte. Weißt du aber, daß es vielleicht auch ginge? Die Mutter hätte mir das Lehrgeld geschickt, und für Stiefel, Kleider und Brot hätte ich selbst verdienen können, sogar ganz gewiß! Ich hätte auch Stunden erteilen können: fünfzig Kopeken bot man mir für die Stunde. Rasumichin arbeitet doch! Ich wurde böse und wollte nicht. Ja, ich wurde böse (das ist ein guter Ausdruck!). Und ich verkroch mich wie eine Spinne in meinen Winkel. Du warst doch in meinem Loch, hast es gesehen ... Weißt du aber auch, Ssonja, daß die niedrigen Decken und enge Zimmer Seele und Herz erdrücken! O, wie hasse ich dieses Loch! Und doch wollte ich es nicht verlassen. Wollte es absichtlich nicht! Tagelang kam ich nicht heraus und wollte nicht arbeiten, wollte auch nicht essen, lag immer da. Wenn Nastasja mir was bringt, so esse ich es; bringt sie nichts, so vergeht der Tag auch so; absichtlich, zum Trotz verlangte ich kein Essen! Abends habe ich kein Licht und liege im Finstern, aber arbeiten, um mir eine Kerze kaufen zu können, will ich nicht. Ich müßte studieren, hatte aber die Bücher verkauft; in meinem Zimmer liegt auf den Heften und Notizen fingerdick der Staub. Ich zog es vor, zu liegen und zu denken. Ich dachte immer nach ... Und ich hatte immer Träume, so verschiedene merkwürdige Träume, ich will gar nicht sagen, was für welche! Aber auch dann kam es mir zuweilen vor, daß ... Nein, es ist nicht so! Ich erzähle wieder falsch! Siehst du: ich fragte mich damals immer: warum bin ich so dumm, daß ich, wenn die anderen dumm sind und ich weiß, daß sie dumm sind, gar nicht klüger sein will als sie? Dann erfuhr ich, Ssonja, daß man lange warten müßte, bis alle Menschen klug werden. Und dann erfuhr ich auch, daß das niemals eintreten wird, daß die Menschen sich nicht verändern werden und daß niemand sie ändern kann, – es ist nicht der Mühe wert! Ja, so ist es! ... Das ist ihr Gesetz, ihr Gesetz, Ssonja! So ist es! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß, wer an Geist und Verstand stark und rüstig ist, auch ein Herrscher über sie ist! Wer vieles wagt, der hat bei ihnen recht. Wer auf das meiste spuckt, der ist für sie der Gesetzgeber, und wer am meisten von allen wagen kann, der hat auch mehr Recht als alle! So war es immer, und so wird es immer bleiben! Nur ein Blinder sieht es nicht!« Als Raskolnikow das sagte, sah er Ssonja zwar an, kümmerte sich aber nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber hatte ihn ganz ergriffen. Er war in eine Art finstere Verzückung geraten. (Er hatte wirklich viel zu lange mit niemand gesprochen!) Ssonja verstand, daß dieser düstere Katechismus zu seinem Glauben und Gesetz geworden war. »Ich kam damals dahinter, Ssonja,« fuhr er begeistert fort, »daß die Macht bloß dem zufällt, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzuheben. Es handelt sich nur um das eine: man muß es nur wagen! Mir kam damals ein Gedanke – zum erstenmal im Leben –, den vor mir noch niemand jemals gehabt hat! Niemand! Klar wie die Sonne stand plötzlich vor mir die Frage: Wie kommt es, daß noch niemand es gewagt hat und wagt, angesichts dieses ganzen Unsinns, alles am Schwanze zu packen und zum Teufel zu schmeißen? Ich ... wollte einfach wagen und tötete ... ich wollte nur wagen, Ssonja, das ist der ganze Grund!« »Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« rief Ssonja aus und schlug die Hände zusammen. »Sie haben Gott verlassen, und Gott hat Sie geschlagen, hat Sie dem Teufel überliefert!« ... »Ubrigens, Ssonja: als ich im Finstern lag und mir allerlei vorschwebte, das war doch eine Versuchung des Teufels, wie?« »Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer, nichts, gar nichts verstehen Sie! O Gott! Er wird doch nichts, gar nichts begreifen!« »Schweig, Ssonja, ich spotte gar nicht, ich weiß ja selbst, daß mich der Teufel stieß. Schweig, Ssonja, schweig!« wiederholte er finster und eindringlich. »Ich weiß alles. Ich habe mir schon alles überlegt und vorgeflüstert, als ich damals im Finstern lag ... Ich habe alles bis zum letzten Punkt mit mir selbst diskutiert und weiß alles, alles! Und so satt habe ich dieses ganze Geschwätz! Ich wollte alles vergessen und von neuem beginnen, Ssonja, und aufhören zu schwatzen! Glaubst du denn wirklich, daß ich wie ein Narr blindlings hingegangen bin? Ich ging wie ein Kluger hin, und das hat mich eben zugrundegerichtet! Glaubst du vielleicht, ich hätte zum Beispiel nicht gewußt, daß, wenn ich schon anfange, mich zu fragen und auszuforschen, ob ich das Recht habe, die Macht zu haben, ich schon darum dieses Recht nicht hatte? Oder daß, wenn ich die Frage stelle, ob der Mensch eine Laus sei, der Mensch für mich keine Laus ist, sondern nur für einen, dem diese Frage gar nicht in den Sinn kommt, der einfach, ohne zu fragen, hingeht ... Wenn ich mich schon so viele Tage mit der Frage abgequält habe, ob Napoleon hingegangen wäre, so fühlte ich doch vollkommen klar, daß ich kein Napoleon bin ... Die ganze Qual dieses Geschwätzes habe ich ertragen, Ssonja, und ich wollte sie von mir werfen; ich wollte ohne Kasuistik töten, Ssonja, für mich töten, für mich allein! Darin wollte ich nicht mal mich selbst belügen! Ich habe nicht getötet, um meiner Mutter zu helfen, – das ist Unsinn! Ich habe nicht getötet, um Mittel und Macht zu erhalten und dann ein Wohltäter der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; ich habe für mich getötet, für mich allein; ob ich aber irgendwessen Wohltäter geworden wäre oder wie eine Spinne mein Leben lang alle in mein Spinnennetz eingefangen und aus ihnen die Lebenssäfte ausgesogen hätte, das sollte mir ganz gleichgültig sein! ... Und es war mir nicht ums Geld zu tun, Ssonja, als ich tötete; es war weniger das Geld, als etwas anderes ... Jetzt weiß ich das alles ... Versteh mich doch: Vielleicht hätte ich, wenn ich den gleichen Weg weiterging, den Mord gar nicht wiederholt. Ich mußte etwas ganz anderes erfahren, etwas anderes stieß mich hin; ich mußte damals erfahren und so schnell als möglich erfahren, ob ich eine Laus bin wie alle, oder ein Mensch? Ob ich die Kraft habe, hinüberzuschreiten, oder nicht? Ob ich es wage, mich zu bücken und es aufzuheben, oder nicht? Ob ich eine zitternde Kreatur bin, oder ob ich das Recht habe ...« »Zu morden? Ein Recht zu morden wollen Sie haben?!« rief Ssonja und schlug die Hände zusammen. »Ach, Ssonja! rief er gereizt; er wollte ihr etwas erwidern, schwieg aber verächtlich. Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte dir nur das eine beweisen: der Teufel stieß mich damals hin, und erst nachher erklärte er mir, daß ich gar nicht das Recht hätte, hinzugehen, weil ich die gleiche Laus sei wie alle. Er hat Spott mit mir getrieben, und nun komme ich zu dir. Nimm den Gast auf! Wäre ich denn zu dir gekommen, wenn ich keine Laus wäre? Höre: Als ich damals zu der Alten ging, so ging ich nur, um es zu probieren ... Merke es dir!« »Und Sie haben gemordet, gemordet!« »Aber wie habe ich gemordet? Mordet man denn so? Geht man so hin, um zu morden, wie ich damals hinging? Ich werde dir einmal erzählen, wie ich hinging! Habe ich denn die Alte ermordet? Mich habe ich ermordet und nicht die Alte! Mit einem Schlage habe ich mich umgebracht, für alle Ewigkeit! ... Die Alte aber hat der Teufel ermordet, und nicht ich ... Genug, genug, Ssonja, es ist genug! Laß mich!« rief er plötzlich mit krampfhaftem Schmerz. »Laß mich!« Er stützte sich auf seine Knie und preßte den Kopf mit den Händen wie mit Schraubzwingen zusammen. »Diese Qual!« entrang es sich Ssonja als jammervoller Schrei. »Nun, was ist jetzt zu tun? Sprich!« sagte er, indem er plötzlich den Kopf hob und sie mit vor Verzweiflung schrecklich entstelltem Gesicht ansah. »Was tun?!« rief Ssonja aus, jäh von ihrem Platz aufspringend, und ihre Augen, die bisher voller Tränen waren, begannen zu funkeln. »Steh auf! (Sie packte ihn an der Schulter; er stand auf und sah sie fast erstaunt an.) Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einen Kreuzweg, küsse zuerst die Erde, die du geschändest hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹ Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Wirst du hingehen? Wirst du hingehen?« fragte sie ihn, am ganzen Leibe wie im Krampfe zitternd, indem sie seine beiden Hände festhielt und ihn mit brennenden Augen ansah. Er war erstaunt und durch ihre plötzliche Verzückung sogar bestürzt. »Meinst du Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst anzeigen soll?« fragte er finster. »Das Leid auf dich nehmen und dich damit erlösen, das mußt du!« »Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.« »Wie willst du aber leben, wie leben? Womit wirst du leben?« rief Ssonja. »Kannst du es jetzt noch? Nun, wie wirst du mit der Mutter sprechen? (Ach, und was wird jetzt mit ihnen geschehen?!) Aber was sage ich! Du hast ja Mutter und Schwester schon verlassen. Du hast sie verlassen, verlassen! O Gott!« rief sie aus. »Er weiß ja alles schon selbst! Nun, wie kann man denn nur ohne einen Menschen sein Leben leben! Was wird jetzt mit dir sein?!« »Sei kein Kind, Ssonja«, sagte er leise. »Was habe ich an ihnen verbrochen? Warum soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das ist ja nur ein Gespenst ... Sie selbst richten Millionen von Menschen zugrunde und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schurken, Ssonja! ... Ich geh nicht hin. Und was soll ich sagen: daß ich getötet, aber nicht gewagt habe, das Geld zu nehmen und es unter einem Stein versteckt habe?« fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. »Sie werden mich ja noch auslachen und sagen: Ein Dummkopf bist du, daß du es nicht genommen hast! Ein Feigling und ein Dummkopf! Nichts, gar nichts werden sie verstehen, Ssonja, und sind auch nicht fähig, es zu verstehen. Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...« »Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen«, wiederholte sie mit verzweifeltem Flehen, ihm die Hände entgegenstreckend. »Vielleicht habe ich mich auch verleumdet«, bemerkte er finster, wie nachdenklich, »vielleicht bin ich noch ein Mensch und keine Laus und habe mich voreilig verurteilt. Ich werde noch kämpfen !« Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Eine solche Qual ertragen! Und das ganze Leben, das ganze Leben! ...« »Ich werde mich gewöhnen ...« sagte er finster und nachdenklich. »Hör auf zu weinen«, fing er nach einer Weile wieder an, »es ist Zeit, von der Sache zu sprechen: ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß man mich sucht, daß man mir auf der Spur ist.« »Ach!« rief Ssonja erschrocken aus. »Nun, was schreist du so? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien gehe, und jetzt erschrickst du? Aber hör: Ich ergebe mich ihnen nicht! Ich will mit ihnen kämpfen, und sie werden mir nichts antun. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich in großer Gefahr und glaubte schon, daß ich verloren sei; heute hat sich die Sache gebessert. Alle ihre Beweise haben zwei Enden, das heißt, ich kann ihre Beschuldigungen auch zu meinen Gunsten wenden, verstehst du? Und ich werde sie auch so wenden, denn ich habe es gelernt ... Aber ins Zuchthaus sperren sie mich ganz gewiß. Wenn nicht ein Zufall dazwischengekommen wäre, so hätten sie mich vielleicht schon heute eingesperrt; sie werden mich vielleicht noch heute einsperren ... Das macht aber nichts, Ssonja! Ich werde eine Zeitlang sitzen, und sie werden mich wieder herauslassen ... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden auch keinen haben, mein Wort darauf. Aber mit den Beweisen, die sie haben, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun ist's genug ... Ich sage es nur, damit du es weißt ... Meiner Mutter und meiner Schwester werde ich es auszureden versuchen, damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester scheint jetzt übrigens versorgt zu sein ... also auch die Mutter ... Nun, das ist alles. Sei übrigens vorsichtig. Wirst du zu mir ins Zuchthaus kommen, wenn ich sitzen werde?« »O, ich werde kommen, ich werde kommen!« Sie saßen beide nebeneinander, traurig und erdrückt, als wären sie nach einem Sturme allein an einen öden Strand gespült worden. Er sah Ssonja an und fühlte ihre Liebe auf sich ruhen, und seltsam: so schwer und schmerzvoll war ihm plötzlich das Gefühl, daß er so geliebt wurde. Ja, es war ein sonderbares, schreckliches Gefühl! Als er zu Ssonja ging, ahnte er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein einziger Ausweg sei; er hoffte wenigstens einen Teil seiner Qual abzuwälzen; aber jetzt, als ihr Herz sich ihm ganz zugewandt hatte, fühlte und erkannte er plötzlich, daß er unvergleichlich unglücklicher geworden war. »Ssonja,« sagte er, »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im Zuchthaus sitzen werde.« Ssonja antwortete nicht; sie weinte. Es vergingen einige Minuten. »Hast du ein Kreuz an der Brust?« fragte sie ihn plötzlich ganz unvermittelt, als sei es ihr so eingefallen ... »Nein, du hast doch keins? Hier, nimm dieses aus Zypressenholz. Ich habe noch ein anderes, aus Messing, von Lisaweta. Wir hatten getauscht: Lisaweta gab mir ihr Kreuz, und ich gab ihr mein Heiligenbildchen. Jetzt will ich das von Lisaweta tragen, und dieses gebe ich dir. Nimm's ... es ist doch von mir. Doch von mir!« bat sie ihn. »Wir gehen doch zusammen, um zu leiden, werden auch zusammen das Kreuz tragen!« »Gib's her!« sagte Raskolnikow. Er wollte sie nicht kränken. Doch er zog sofort die Hand, die er nach dem Kreuz ausgestreckt hatte, wieder zurück. »Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen. »Ja, lieber später, lieber später«, fiel sie ihm begeistert ins Wort: »Wenn du gehst, um das Leid auf dich zu nehmen, dann wirst du es nehmen. Du wirst zu mir kommen, ich werde es dir umhängen, wir werden beten und gehen.« In diesem Augenblick klopfte jemand dreimal an die Tür. »Ssofja Ssemjonowna, darf ich zu Ihnen?« fragte eine bekannte höfliche Stimme. Ssonja stürzte erschrocken zur Tür. Der blonde Kopf des Herrn Lebesjatnikow blickte ins Zimmer hinein. 5. V Lebesjatnikow sah sehr erregt aus. »Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemjonowna. Entschuldigen Sie ... Das dachte ich mir, daß ich Sie hier treffe«, wandte er sich plötzlich an Raskolnikow. »Das heißt, ich dachte mir eigentlich nichts ... Derartiges ... aber ich glaubte gerade ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt geworden«, wandte er sich unvermittelt wieder an Ssonja, ohne den an Raskolnikow gerichteten Satz zu beenden. Ssonja schrie auf. »Das heißt, es kommt mir wenigstens so vor. Übrigens ... Wir wissen gar nicht, was wir tun sollen, das ist es! Sie kam zurück – man hat sie, scheint es, irgendwo hinausgeworfen, vielleicht auch geschlagen ... es scheint wenigstens so ... Sie war zum Vorgesetzten Ssemjon Sacharowitschs gelaufen und hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei einem anderen Geheimrat zu Mittag geladen ... Und denken Sie sich nur: sie lief dann dorthin, wo er geladen war ... zu jenem anderen Geheimrat, und, denken Sie sich nur, sie setzte es durch, daß der Vorgesetzte Ssemjon Sacharowitschs zu ihr herauskam, ich glaube sogar von der Tafel ... Sie können sich denken, was da kam. Man warf sie natürlich hinaus; und sie erzählt, daß sie ihn selbst beschimpft und ihm sogar etwas ins Gesicht geworfen habe. Das klingt sehr wahrscheinlich ... Daß man sie nicht festgenommen hat, verstehe ich einfach nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch der Amalia Iwanowna, man kann aber schwer etwas verstehen: sie schreit und tobt ... Ach, ja: sie schreit und sagt, daß sie, da alle sie verlassen haben, mit den Kindern und einem Leierkasten auf die Straße ziehen wird: die Kinder werden singen und tanzen, und sie auch, und Geld sammeln und jeden Tag vors Fenster des Geheimrats gehen ... ›Sollen nur alle sehen,‹ sagt sie, ›wie die adligen Kinder eines beamteten Vaters als Bettler durch die Straße ziehen!‹ Sie schlägt alle Kinder, und die Kinder weinen. Die Lenja lehrt sie singen, den Jungen tanzen, Polina Michailowna ebenfalls; sie zerreißt alle Kleider und näht ihnen Mützchen, wie sie die Komödianten haben; und sie selbst will ein Becken tragen und darauf schlagen, statt Musik ... Sie will auf nichts hören ... Denken Sie sich nur, was soll daraus werden? Es geht doch einfach nicht!« Lebesjatnikow hätte noch mehr gesprochen, aber Ssonja, die ihm, kaum noch atmend, zugehört hatte, ergriff plötzlich ihre Mantille, den Hut und lief aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Raskolnikow folgte ihr, Lebesjatnikow verließ zugleich mit ihm das Zimmer. »Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« sagte er zu Raskolnikow, mit ihm auf die Straße tretend. »Ich wollte bloß Ssofja Ssemjonowna nicht erschrecken und sagte darum, ›es kommt mir so vor‹; aber es ist gar kein Zweifel möglich. Man sagt, daß bei der Schwindsucht im Gehirn solche Bläschen entstehen. Schade, daß ich nichts von Medizin verstehe. Ich versuchte sie übrigens zu überreden, aber sie will nichts hören.« »Haben Sie ihr von diesen Bläschen erzählt?« »Das heißt, eigentlich nicht von den Bläschen. Auch würde sie nichts verstanden haben! Ich meine aber: Wenn man einen Menschen mit logischen Gründen davon überzeugt, daß er eigentlich keinen Grund zum Weinen hat, so hört er zu weinen auf. Das ist klar. Und Sie sind der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?« »Dann wäre das Leben viel zu leicht«, antwortete Raskolnikow. »Erlauben Sie, erlauben Sie! Katerina Iwanowna könnte es natürlich schwer verstehen. Aber ist Ihnen bekannt, daß man in Paris schon ernsthaft versucht hat, Verrückte durch bloße logische Überredung zu heilen? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein bekannter Gelehrter, ist zur Überzeugung gelangt, daß man sie auf diese Weise heilen kann. Seine Grundidee ist, daß bei Verrückten eine besondere Störung im Organismus nicht vorliegt und daß der Wahnsinn sozusagen ein logischer Irrtum ist, ein Denkfehler, eine falsche Anschauung von den Dingen. Er hat so einen Patienten allmählich widerlegt, und denken Sie sich, er soll Erfolge erzielt haben!! Da er aber dabei auch noch Duschen anwandte, so werden die Erfolge dieses Heilverfahrens natürlich noch angezweifelt ... So glaube ich wenigstens ...« Raskolnikow hörte ihm schon lange nicht mehr zu. Als er sein Haus erreicht hatte, nickte er Lebesjatnikow zu und trat ins Tor. Lebesjatnikow kam zur Besinnung, sah sich um und lief weiter. Raskolnikow trat in seine Kammer und blieb mitten in ihr stehen. – Warum bin ich nur hierher zurückgekehrt? – Er betrachtete die gelbe abgewetzte Tapete, den Staub, sein Sofa ... Vom Hofe her klang ein ununterbrochenes metallisches Klopfen, als ob man irgendwo einen Nagel hineinjagte ... Er trat ans Fenster, reckte sich auf den Zehen und blickte lange mit dem Ausdrucke außerordentlicher Aufmerksamkeit in den Hof hinaus. Der Hof war aber leer, und man sah die Klopfenden nicht. Im Seitengebäude links war hier und da ein Fenster offen; auf den Fensterbrettern standen Töpfe mit verkümmerten Geranien, und vor den Fenstern hing Wäsche ... Dies alles kannte er auswendig. Er wandte sich weg und setzte sich aufs Sofa. Noch nie, noch nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt! Ja, er fühlte wieder, daß er Ssonja vielleicht wirklich hassen werde, und zwar gerade jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte. Warum war er zu ihr gegangen? Um um ihre Tränen zu betteln? Warum muß er unbedingt ihr Leben vergiften?! Ach, diese Gemeinheit! »Ich bleibe allein,« sagte er plötzlich, »und sie wird nicht zu mir ins Zuchthaus kommen!« Nach fünf Minuten hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Ein sonderbarer Gedanke war ihm gekommen. – Vielleicht ist es in Sibirien wirklich besser – kam es ihm plötzlich in den Sinn. Er wußte nicht mehr, wie lange er in seinem Zimmer mit den unklaren Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängten, dagesessen hatte. Plötzlich ging die Tür auf, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zaudernd stehen und sah ihn aufmerksam von der Schwelle her an, so wie er vorhin Ssonja angesehen hatte; erst dann kam sie näher und setzte sich auf ihren gestrigen Stuhl ihm gegenüber. Er sah sie stumm und ganz gedankenlos an. »Sei nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick«, sagte Dunja. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, aber nicht streng. Sie blickte heiter und still. Er sah, daß auch sie mit ihrer Liebe zu ihm gekommen war. »Bruder, ich weiß jetzt alles, alles . Dmitrij Prokofjewitsch hat mir alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich auf Grund eines dummen, gemeinen Verdachts ... Dmitrij Prokofjewitsch sagte mir, daß gar keine Gefahr vorliegt und daß du dies alles unnütz mit solcher Angst hinnimmst. Ich denke es mir anders und begreife vollkommen , wie tief dein ganzes Wesen empört sein muß und daß diese Empörung in dir für immer ihre Spuren hinterlassen kann. Dies fürchte ich eben. Dafür, daß du uns verlassen hast, verurteile ich dich nicht und wage nicht, dich zu verurteilen; verzeihe mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich fühle auch selbst, daß, wenn ich so ein Leid hätte, auch ich von allen fortgehen würde. Der Mutter werde ich davon nichts erzählen, werde aber ununterbrochen von dir sprechen und ihr in deinem Namen sagen, daß du sehr bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen, ich werde sie beruhigen; aber quäle auch sie nicht und komme wenigstens einmal zu ihr: vergiß nicht, daß sie die Mutter ist! Jetzt komme ich aber nur, um dir zu sagen (Dunja schickte sich an, aufzustehen), daß, im Falle du mich irgendwie brauchst oder ... mein Leben brauchen kannst, oder sonst etwas ... so rufe mich, ich werde kommen. Leb wohl!« Sie wandte sich schnell und ging zur Tür. »Dunja!« hielt Raskolnikow sie zurück. Er stand auf und ging auf sie zu. »Dieser Dmitrij Prokofjewitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.« Dunja errötete leicht. »Nun?« fragte sie nach einer Minute. »Er ist ein tüchtiger, fleißiger und ehrlicher Mensch und einer großen Liebe fähig ... Leb wohl, Dunja.« Dunja wurde ganz rot und fuhr dann auf: »Was fällt dir ein, Bruder! Trennen wir uns denn wirklich für alle Ewigkeit, daß du mir ... solche Vermächtnisse hinterläßt?« »Ist ganz gleich ... leb wohl ...« Er wandte sich von ihr weg und ging zum Fenster. Sie stand noch eine Weile da, sah ihn besorgt an und ging tief erregt hinaus. Nein, er war nicht kalt zu ihr. Es war ein Augenblick (der allerletzte), wo er furchtbare Lust hatte, sie zu umarmen, sich von ihr zu verabschieden und ihr es sogar zu sagen: er konnte sich aber nicht mal entschließen, ihr die Hand zu reichen. – Sie wird vielleicht später noch erschauern beim Gedanken, daß ich sie jetzt umarmt habe; sie wird sagen, ich hätte ihr den Kuß gestohlen! – – Und wird sie es aushalten oder nicht aushalten? – fügte er nach einer Weile hinzu. – Nein, sie wird es nicht aushalten; eine solche kann so was nicht aushalten! Solche halten es niemals aus ... – Und er dachte an Ssonja. Vom Fenster wehte Kühle herein. Draußen war es nicht mehr so hell. Er nahm plötzlich die Mütze und ging hinaus. Er konnte sich um seinen krankhaften Zustand natürlich nicht kümmern und wollte es auch nicht. Doch diese ganze ununterbrochene Unruhe und seelische Angst konnten an ihm nicht spurlos vorübergehen. Und wenn er auch noch nicht in einem wirklichen Fieber daniederlag, so vielleicht nur darum, weil diese ununterbrochene innere Unruhe ihn noch auf den Beinen und bei Bewußtsein erhielt, wenn auch künstlich und vorübergehend. Er irrte planlos umher. Die Sonne ging unter. In der letzten Zeit überkam ihn oft ein ganz besonderes Unlustgefühl. Es war darin nichts Scharfes oder Brennendes; aber ihm entströmte etwas Ewiges und Bleibendes, die Vorahnung endloser Jahre mit diesem kalten, tötenden Gram, die Vorahnung einer Ewigkeit auf einem »arschinbreiten Raume«. In den Abendstunden quälte ihn dieses Gefühl gewöhnlich besonders stark. »Und mit diesen dummen, rein physischen Beschwerden, die von irgendeinem Sonnenuntergang abhängen, soll einer keine Dummheiten begehen! Da möchte man nicht bloß zu Ssonja, – auch zu Dunja hingehen!« murmelte er gehässig. Jemand rief seinen Namen. Er sah sich um, Lebesjatnikow stürzte auf ihn zu. »Denken Sie sich nur, ich war eben bei Ihnen, ich suche Sie. Denken Sie sich nur: sie hat ihre Absicht verwirklicht und ist mit den Kindern weggelaufen. Ssofja Ssemjonowna und ich haben sie nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie bleiben an den Straßenecken und vor den Läden stehen. Das dumme Volk rennt hinter ihnen her. Kommen Sie.« »Und Ssonja?« fragte Raskolnikow besorgt, Lebesjatnikow nacheilend. »Sie ist rasend. Das heißt, Katerina Iwanowna ist rasend und nicht Ssofja Ssemjonowna; übrigens ist auch Ssofja Ssemjonowna außer sich. Katerina Iwanowna ist aber ganz rasend. Ich sage Ihnen ja, sie ist endgültig verrückt geworden. Man wird sie alle auf die Polizei abführen. Sie können sich wohl denken, wie das auf sie wirken wird ... Sie sind jetzt am Kanal bei der *schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja Ssemjonowna. Es ist ganz nahe.« Am Kanal, in der Nähe der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung Ssonjas entfernt, drängte sich ein Haufe Menschen. Es waren besonders viel Jungen und Mädchen zusammengelaufen. Die heisere, gleichsam gesprungene Stimme Katerina Iwanownas konnte man schon von der Brücke aus hören. Es war ein seltsames Schauspiel, wirklich geeignet, das Straßenpublikum zu interessieren. Katerina Iwanowna in ihrem alten Kleid mit dem grünen Schal und zerbeulten Strohhut, der auf die Seite gerutscht war, befand sich tatsächlich in einem Zustande von Raserei. Sie war müde und keuchte schwer. Das erschöpfte schwindsüchtige Gesicht sah leidender als je aus (außerdem erscheint ein Schwindsüchtiger im Freien, in der Sonne immer leidender und entstellter als im Hause): aber ihr erregter Zustand dauerte an, und sie wurde von Minute zu Minute gereizter. Sie stürzte sich auf die Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte in Gegenwart des Publikums, wie sie tanzen und was sie singen sollten, versuchte ihnen klarzumachen, warum das nötig sei, geriet in Verzweiflung wegen ihrer Ungelehrigkeit und schlug sie ... Dann brach sie plötzlich ab und stürzte sich gegen das Publikum; sobald sie einen einigermaßen anständig gekleideten Menschen erblickte, der stehen geblieben war, um zuzusehen, begann sie ihm sofort zu erklären, wieso es mit diesen Kindern »aus einem vornehmen, man kann wohl sagen aristokratischen Hause« so weit gekommen sei. Wenn sie in der Menge Lachen oder ein kränkendes Wort hörte, so fiel sie sofort über den Frechen her und begann zu schimpfen. Die einen lachten wirklich, die anderen schüttelten die Köpfe; allen war es interessant, die Verrückte mit den erschrockenen Kindern zu sehen. Die Pfanne, von der Lebesjatnikow erzählt hatte, fehlte; Raskolnikow sah wenigstens keine; doch statt auf einer Pfanne zu trommeln, schlug Katerina Iwanowna den Takt mit ihren ausgemergelten Händen, während Poljetschka singen und Kolja und Lenja tanzen mußten; sie versuchte auch selbst mitzusingen, wurde aber jedesmal bei der zweiten Note von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen – dann geriet sie in Verzweiflung, verfluchte ihren Husten und weinte sogar. Am meisten brachten sie das Weinen und die Angst Koljas und Lenjas aus der Fassung. Sie hatte wirklich versucht, die Kinder wie Straßensänger und Sängerinnen auszuputzen. Der Junge hatte einen Turban aus roten und weißen Fetzen auf und sollte einen Türken darstellen. Für Lenja reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte nur eine rote gestrickte Mütze (eigentlich die Schlafmütze) des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch auf, an der eine abgebrochene weiße Straußfeder festgesteckt war; diese hatte noch der Großmutter Katerina Iwanownas gehört und war bisher im Koffer als eine Familienrarität verwahrt worden. Poljetschka hatte ihr gewöhnliches Kleid an. Sie sah ihre Mutter scheu und bestürzt an, wich nicht von ihrer Seite, verbarg ihre Tränen, ahnte, daß die Mutter verrückt geworden sei, und blickte unruhig um sich. Die Straße und die Menge machten ihr furchtbar Angst. Ssonja folgte unablässig Katerina Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina Iwanowna war aber unerbittlich. »Hör auf, Ssonja, hör auf!« schrie sie, sich überstürzend, keuchend und hustend. »Du weißt selbst nicht, um was du bittest, du bist wie ein Kind! Ich sagte dir schon, daß ich zu der betrunkenen Deutschen nicht zurückkehre. Sollen alle, soll ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines adligen Vaters, der sein Leben lang treu und redlich gedient hat und sozusagen im Dienste gestorben ist, betteln. (Katerina Iwanowna hatte sich schon diese Phantasie zurechtgelegt und glaubte blind an sie.) Soll es nur dieser gemeine Geheimrat sehen. Wie dumm bist du doch, Ssonja, was sollen wir jetzt essen, sag mal selbst? Wir haben dich genug gequält, ich will nicht mehr! Ach, Rodion Iwanowitsch, Sie sind es!« rief sie plötzlich, als sie Raskolnikow gewahrte, und stürzte auf ihn zu. »Erklären Sie doch, bitte, diesem Närrchen, daß ich nichts Klügeres tun konnte! Sogar die Leierkastenmänner verdienen sich ihren Unterhalt; uns wird man aber sofort bemerken, man wird erkennen, daß wir eine arme, adlige, verwaiste, an den Bettelstab gebrachte Familie sind; der Geheimrat wird aber seine Stelle verlieren, Sie werden es sehen! Wir werden jeden Tag vor seine Fenster kommen, und wenn der Kaiser vorüberfährt, werde ich niederknien, diese alle vor mir hinstellen und auf sie zeigen: ›Schütze sie, Vater!‹ Er ist ja der Vater der Waisen, er ist barmherzig, er wird uns in Schutz nehmen, Sie werden sehen, den Geheimrat aber ... Lenja! Tenez vous droite! Kolja, gleich wirst du tanzen! Was heulst du? Er heult schon wieder! Nun, was fürchtest du, Närrchen? Mein Gott, was soll ich mit ihnen machen, Rodion Romanowitsch? Wenn Sie nur wüßten, wie dumm sie sind! Nun, was soll ich mit ihnen anfangen?!« Sie weinte fast selbst (was sie aber gar nicht hinderte, ununterbrochen und sich überstürzend zu reden) und zeigte auf die weinenden Kinder. Raskolnikow versuchte sie zu überreden, nach Hause zurückzukehren, und sagte sogar, in der Absicht, ihre Eitelkeit zu wecken, daß es für sie unpassend sei, wie ein Leierkastenmann durch die Straßen zu ziehen, da sie doch die Absicht habe, Direktrice eines Pensionats für adlige Töchter zu werden ... »Eines Pensionats, ha-ha-ha! Warum nicht gar!« rief Katerina Iwanowna aus, die nach dem Lachanfall wieder einen Hustenanfall bekam. »Nein, Rodion Romanowitsch, dieser Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und jener elende Geheimrat ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein Tintenfaß an den Kopf geschmissen – im Vorzimmer stand auf dem Tisch neben dem Bogen, in den die Besucher ihre Namen eintragen, ein Tintenfaß – das nahm ich, schmiß es ihm an den Kopf und lief weg. Oh, diese Schurken, diese Schurken! Aber ich spucke drauf, jetzt werde ich sie selbst ernähren, werde mich vor niemand mehr erniedrigen! Lange genug haben wir sie gequält! (Sie zeigte auf Ssonja.) – Poljetschka, wieviel haben wir eingesammelt, zeig's her! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh, diese Niederträchtigen! Nichts geben sie her, sie laufen uns nur mit ausgestreckten Zungen nach! Nun, warum lacht dieser Holzklotz? (Sie zeigte auf jemand in der Menge.) Das kommt alles, weil Kolja so ungelehrig ist! Ist das eine Plage mit ihm! Was willst du, Poljetschka? Sprich mit mir Französisch, parlez moi français. Ich habe dich doch unterrichtet, du kennst einige Sätze! ... Wie soll man denn sonst erkennen, daß ihr wohlerzogene Kinder aus adliger Familie seid und keine gewöhnlichen Leierkastenmänner. Wir sind doch keine Hanswürste, wir wollen eine vornehme Romanze singen ... Ach, ja! Was wollen wir denn singen? Ihr unterbrecht mich immer, wir sind aber ... sehen Sie, Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehengeblieben, um auszuwählen, was wir singen sollen, damit Kolja dazu tanzen kann ... denn wir machen alles, denken Sie sich nur, ganz ohne Vorbereitung; wir müssen es besprechen und zuerst proben, und dann gehen wir auf den Newskij, wo viele Menschen aus der höchsten Gesellschaft sind, dort wird man uns sofort bemerken. Lenja kennt nur das eine Lied ›Das Landhäuschen‹ ... Aber immer das ›Landhäuschen‹ und immer wieder das ›Landhäuschen‹ – alle singen das! Wir müssen etwas viel Vornehmeres singen ... Nun, was ist dir eingefallen, Poljetschka? Wenn du doch der Mutter helfen wolltest! Ich habe gar kein Gedächtnis mehr, sonst wäre mir schon was eingefallen! Wir wollen doch nicht das Lied ›Auf seinen Säbel stützt sich der Husar‹ singen! ... Ach, singen wir doch Französisch: ›Cinq sous‹! Ich habe es euch gelehrt! Vor allem aber: da es Französisch ist, so werden alle gleich sehen, daß ihr adlige Kinder seid, und das wird rührender wirken ... Man könnte auch ›Marlborough s'en va-t-en guerre‹ singen: das ist ein wirkliches Kinderlied und wird in aristokratischen Häusern gesungen, wenn man die Kinder in den Schlaf wiegt: Marlborough s'en va-t-en guerre, Ne sait quand reviendra ...« begann sie zu singen. »Nein, lieber schon ›Cinq sous‹! Nun, Kolja, die Händchen in die Seiten, und schneller, und du, Lenja, dreh dich in der entgegengesetzten Richtung, und ich und Poljetschka werden mitsingen und in die Hände klatschen! Cinq sous, cinq sous Pour monter notre ménage! Kchi-kchi-kchi! (Sie bekam wieder einen Hustenanfall.) Bring dein Kleidchen in Ordnung, Poljetschka, es ist an der Schulter heruntergerutscht«, bemerkte sie, Atem holend. »Ihr müßt euch jetzt besonders vornehm und fein benehmen, damit alle sehen, daß ihr adlige Kinder seid. Ich habe doch damals gesagt, daß man die Taille länger und aus zwei Stücken zuschneiden muß. Da kamst du aber mit deinen Ratschlägen, Ssonja: ›Kürzer, noch kürzer‹, und so hat man das Kind ganz verunstaltet ... Nun weint ihr schon wieder alle! Was habt ihr, ihr Dummen? Nun, Kolja, fang an, schneller, schneller, schneller! Ach, dieses unerträgliche Kind ... Cinq sous, cinq sous – Wieder der Soldat! Nun, was willst du?« Durch die Menge drängte sich wirklich ein Schutzmann. Doch im gleichen Augenblick näherte sich auch ein Herr in Uniformrock und Mantel, ein etwa fünfzigjähriger, solider Beamter mit einem Orden am Halse (das letztere war Katerina Iwanowna besonders angenehm und machte auch auf den Schutzmann Eindruck); er reichte Katerina Iwanowna einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und verbeugte sich höflich, fast zeremoniös. »Ich danke Ihnen, mein Herr«, begann sie stolz. »Die Gründe, die uns bewogen haben ... nimm das Geld, Poljetschka. Siehst du, es gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer armen adligen Dame im Unglück zu helfen. Sie sehen hier mein Herr, adlige Waisen, man kann wohl sagen, mit den aristokratischsten Verbindungen ... Jener gemeine Geheimrat saß aber da und aß Haselhühner! ... er stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört hatte ... ›Eure Exzellenz‹, sage ich ihm, ›schützen Sie die Waisen, da Sie den verstorbenen Ssemjon Sacharytsch‹, sage ich, ›so gut kannten und da der gemeinste aller Schurken seine leibliche Tochter am Tage seiner Beerdigung verleumdet hat ...‹ Wieder dieser Soldat! Schützen Sie uns!« schrie sie dem Beamten zu. »Was will dieser Soldat von mir? Wir sind schon vor einem solchen aus der Mjeschtschanskaja-Straße hergelaufen ... Nun, was geht es dich an, Dummkopf?« »Weil es in den Straßen verboten ist. Machen Sie keinen Skandal.« »Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe doch wie mit einem Leierkasten herum, was geht es dich an?« »Was einen Leierkasten betrifft, so muß man dazu eine Erlaubnis haben, Sie sammeln aber auf diese Weise das Volk an. Wo belieben Sie zu wohnen?« »Wie, eine Erlaubnis?!« schrie Katerina Iwanowna. »Ich habe heute meinen Mann beerdigt, was redest du da von einer Erlaubnis?« »Meine Dame, meine Dame, beruhigen Sie sich doch«, fing der Beamte an. »Kommen Sie, ich will Sie nach Hause begleiten. Hier in der Menge ist es unanständig ... Sie sind nicht ganz wohl!« »Mein Herr, mein Herr, Sie wissen nichts!« schrie Katerina Iwanowna. »Wir wollen auf den Newskij gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie denn? Sie weint auch! Was habt ihr denn alle? Kolja, Lenja, wo wollt ihr hin?« rief sie plötzlich erschrocken. »Oh, die dummen Kinder! Kolja, Lenja, wo sind sie hingelaufen? ...« Es war nämlich folgendes passiert: Als Kolja und Lenja, von der Straßenmenge und von der wahnsinnigen Mutter aufs äußerste erschrocken, den Soldaten sahen, der sie irgendwohin abführen wollte, faßten sie einander wie auf Verabredung an den Händchen und rannten davon. Die arme Katerina Iwanowna stürzte weinend und schreiend ihnen nach, um sie einzuholen. Wie sie ihnen weinend und außer Atem nachlief, bot sie einen häßlichen und jammervollen Anblick, Ssonja und Poljetschka eilten ihr nach. »Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren Kinder! ... Polja! Fang sie ... Ich tu es ja für euch selbst ...« Sie stolperte im Laufen und fiel hin. »Sie hat sich blutiggeschlagen! O Gott!« rief Ssonja aus, sich über sie beugend. Alle liefen zusammen und drängten sich um sie. Raskolnikow und Lebesjatnikow waren als die ersten herbeigestürzt; auch der Beamte eilte hin und nach ihm der Schutzmann, der »Ach ja!« murmelte und ärgerlich mit der Hand durch die Luft fuhr, in der Vorahnung, daß die Sache noch große Scherereien machen werde. »Geht weiter, marsch!« jagte er die sich drängenden Leute auseinander. »Sie stirbt!« rief jemand. »Sie ist von Sinnen!« sagte ein anderer. »Gott, steh ihr bei!« sagte eine Frau und bekreuzigte sich. »Hat man den Jungen und das Mädel eingefangen? Da führt man sie ja, die Alteste hat sie erwischt ... Diese Dummen!« Als man Katerina Iwanowna genauer ansah, merkte man, daß sie sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja es glaubte, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm rötete, ihr aus der Brust durch den Mund gestürzt war. »Ich kenne das, hab es schon gesehen«, murmelte der Beamte zu Raskolnikow und Lebesjatnikow. »Das ist die Schwindsucht; das Blut stürzt aus dem Hals, und man erstickt daran. So war es neulich auch mit einer Verwandten von mir, ich war Zeuge, an die anderthalb Glas Blut ... plötzlich ... Was soll man aber tun, sie wird gleich sterben.« »Hierher, hierher, zu mir!« flehte Ssonja. »Hier wohne ich! ... Hier in diesem Hause, es ist das zweite von hier ... Schnell zu mir, schnell, schnell! ...« wiederholte sie, sich bald an den einen, bald an den anderen wendend. »Schickt nach einem Arzt ... O Gott!« Dank den Bemühungen des Beamten wurde alles nach Wunsch besorgt; selbst der Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie halbtot zu Ssonja und legte sie dort aufs Bett. Der Blutsturz dauerte noch an, aber sie kam allmählich zu sich. Ins Zimmer kamen außer Ssonja auch noch Raskolnikow, Lebesjatnikow, der Beamte und der Schutzmann, der vorher die Menge, die bis zur Wohnungstür vorgedrungen war, auseinandergejagt hatte. Polja führte bei den Händchen Kolja und Lenja herein, welche zitterten und weinten. Auch die Kapernaumows kamen herbei; er selbst ein lahmer und schielender Mann von sonderbarem Aussehen, mit borstigen Haaren und Backenbart; seine Frau, die so aussah, als wäre sie ein für allemal erschrocken, und einige von den Kindern mit vor ständigem Erstaunen zu Holz erstarrten Gesichtern und offenen Mündern. Unter diesem ganzen Publikum erschien plötzlich Swidrigailow. Raskolnikow sah ihn erstaunt an und konnte nicht begreifen, woher der plötzlich erschienen war; draußen in der Menge hatte er ihn gar nicht gesehen. Man sprach von einem Arzt und einem Geistlichen. Der Beamte flüsterte zwar Raskolnikow zu, daß der Arzt jetzt wohl schon unnötig sei, ließ aber dennoch nach einem schicken. Kapernaumow lief selbst hin. Katerina Iwanowna war indessen zu sich gekommen, und der Blutsturz hörte für eine Zeitlang auf. Sie sah mit schmerzvollen, doch aufmerksamen und durchdringenden Blicken Ssonja an, die ihr mit einem Tuch die Schweißtropfen von der Stirn wischte, und bat, daß man sie ein wenig hebe. Man setzte sie im Bette auf und stützte sie von beiden Seiten. »Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Hast du sie hergebracht, Polja? Oh, diese Dummen! ... Was seid ihr davongelaufen? ... Ach!« Ihre ausgetrockneten Lippen waren noch voller Blut. Sie ließ die Augen im Kreise schweifen und sah sich um. » So wohnst du also, Ssonja! Ich bin ja noch nie bei dir gewesen ... nun hat es sich doch so gefügt ...« Sie blickte sie schmerzvoll an. »Ausgesogen haben wir dich, Ssonja ... Polja, Lenja, Kolja, kommt her ... Hier sind sie, Ssonja, nimm sie ... ich gebe sie dir in die Hand ... ich habe genug! ... Aus ist es! Ha! ... Legt mich wieder hin, laßt mich wenigstens ruhig sterben ...« Mau ließ sie wieder in die Kissen sinken. »Was? Ein Geistlicher? ... Nicht nötig ... Wo habt ihr denn einen überflüssigen Rubel!? ... Ich habe keine Sünden auf mir! ... Gott muß mir auch so verzeihen ... Er weiß selbst, wie ich gelitten habe! ... Und verzeiht er nicht, so ist es mir auch so recht! ...« Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer immer mehr. Ab und zu fuhr sie zusammen, blickte um sich, erkannte auf einen Augenblick alle, und das Bewußtsein wurde wieder vom Fieber getrübt. Sie atmete heiser und schwer; in ihrer Kehle röchelte es. »Ich sage ihm: ›Eure Exzellenz! ...‹« schrie sie, nach jedem Worte Atem holend. »Diese Amalia Ludwigowna ... ach! Lenja, Kolja! Die Händchen in die Seiten, schneller, glissez, glissez, pas de basque! Klopf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind! ... Du hast Diamanten und Perlen ... Wie geht es weiter? Wenn wir das singen könnten! ... Du hast die schönsten Augen ... Mädchen, was willst du mehr? ... Ja, Schnecken! ›Was willst du mehr!‹ – was sich so ein Narr nicht alles ausdenkt! ... Ja, dann noch dieses: In Mittagsglut im Dagestanschen Tale ... Ach, wie ich es liebte! Ich vergötterte dieses Lied, Poljetschka! ... Weißt du, dein Vater ... pflegte es als Bräutigam zu singen ... Oh, diese Tage! ... Ach, wenn wir es jetzt singen könnten! Aber wie geht es noch, wie geht es noch? ... ich hab es ganz vergessen ... helft mir nach, wie geht es noch?« Sie war in außerordentlicher Erregung und bemühte sich, aufzustehen. Endlich begann sie mit schrecklicher, heiserer, überspannter Stimme zu singen, bei jedem Worte aufschreiend und um Atem ringend, mit dem Ausdruck eines immer anwachsenden Entsetzens: In Mittagsglut! ... im Dagestanschen! ... Tale! ... Vom Blei getroffen! ... »Eure Exzellenz!« schrie sie plötzlich mit herzzerreißender Stimme, in Tränen ausbrechend. »Schützen Sie die Waisen! Gedenken Sie der Gastfreundschaft des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, eines aristokratischen! ... Ha! ...« fuhr sie auf, plötzlich zur Besinnung kommend und alle entsetzt betrachtend; doch sie erkannte sofort Ssonja. »Ssonja, Ssonja!« sagte sie mild und freundlich, gleichsam erstaunt, sie vor sich zu sehen. »Ssonja, Liebste, bist du auch hier?« Man hob sie wieder auf. »Genug! Es ist Zeit! ... Leb wohl, Armste! ... Man hat die Mähre zu Tode geritten! ... Sie kann nicht mehr!« schrie sie verzweifelt und voller Haß auf und fiel mit dem Kopf auf das Kissen. Sie wurde wieder bewußtlos, doch diese letzte Bewußtlosigkeit dauerte nur kurz. Das blaßgelbe, ausgemergelte Gesicht fiel nach hinten, der Mund öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte sehr tief auf und starb. Ssonja fiel über ihre Leiche her, umschlang sie mit den Armen und erstarrte, den Kopf an die eingefallene Brust der Toten geschmiegt. Poljetschka sank zu Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut weinend. Kolja und Lenja, die noch nicht erfaßt hatten, was geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit den Händen bei den Schultern, sahen sich in die Augen, öffneten plötzlich gleichzeitig die Münder und begannen zu schreien. Beide hatten noch ihre Kostüme an: der eine den Turban, die andere das Mützchen mit der Straußfeder. Wie kam aber das lobende Attest plötzlich auf das Bett neben Katerina Iwanowna? Es lag dicht neben dem Kissen, Raskolnikow sah es. Er ging zum Fenster, Lebesjatnikow eilte zu ihm. »Sie ist gestorben!« sagte Lebesjatnikow. »Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen«, wandte sich an ihn Swidrigailow. Lebesjatnikow trat ihm sofort den Platz ab und ging diskret zur Seite. Swidrigailow führte den erstaunten Raskolnikow noch weiter in die Ecke. »Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und das übrige nehme ich auf mich. Wissen Sie, es kommt bloß auf das Geld an, und ich sagte Ihnen doch, daß ich überflüssiges habe. Diese beiden Kücken und Poljetschka will ich in besseren Waisenanstalten unterbringen und für jedes bis zur Volljährigkeit ein Kapital von fünfzehnhundert Rubeln einzahlen, so daß Ssofja Ssemjonowna sich ihretwegen keine Sorgen zu machen braucht. Und auch sie will ich aus dem Sumpfe herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Richten Sie also, bitte, Awdotja Romanowna aus, daß ich ihre zehntausend Rubel auf diese Weise verwendet habe.« »Was für Absichten verfolgen Sie mit diesem Wohltun?« fragte Raskolnikow. »Ach, Sie mißtrauischer Mensch!« antwortete Swidrigailow lachend. »Ich sagte Ihnen doch, daß dieses Geld bei mir überflüssig ist. Können Sie denn gar nicht annehmen, daß ich es einfach aus Menschlichkeit tue? Sie ist doch keine ›Laus‹ gewesen (er deutete mit dem Finger auf die Ecke, wo die Verstorbene lag), wie jene alte Wucherin! Nun, geben Sie es selbst zu – ›soll Luschin wirklich weiterleben und seine Gemeinheiten begehen, und sie soll sterben?‹ Und wenn ich nicht helfe, so wird Poljetschka vielleicht – ›denselben Weg gehen‹ ...« Er sagte dies irgendwie besonders anzüglich , mit listigem Ausdruck, ohne Raskolnikow aus den Augen zu lassen. Dieser erbleichte und erschauerte, als er seine eigenen, an Ssonja gerichteten Worte hörte. Er taumelte zurück und sah Swidrigailow wild an. »Woher ... woher wissen Sie ... das ?!« flüsterte er, kaum noch atmend. »Ich wohnte ja gleich hier hinter der Wand, bei der Madame Rößlich. Hier wohnt Kapernaumow und dort Madame Rößlich, meine alte, ergebene Freundin ... Ich bin der Nachbar.« »Sie?!« »Ja, ich«, fuhr Swidrigailow fort, sich vor Lachen schüttelnd. »Und ich kann Ihnen auf Ehre versichern, liebster Rodion Romanowitsch, Sie haben mich außerordentlich interessiert. Ich sagte Ihnen doch, daß wir einander noch – näherkommen würden, ich hab's Ihnen vorausgesagt, – nun haben wir uns wirklich näher kennengelernt! Und Sie werden sehen, was für ein vernünftiger Mensch ich bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir leben läßt ...« Sechster Teil 1. I Für Raskolnikow hatte eine merkwürdige Zeit begonnen. Vor ihm war gleichsam ein Nebelschleier herabgesunken, der ihn in eine ausweglose und schwere Vereinsamung einschloß. Als er sich dieser Zeit später, lange nachher erinnerte, kam er dahinter, daß sein Bewußtsein sich zeitweise getrübt und daß dieser Zustand mit einigen Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe angehalten hatte. Er war fest davon überzeugt, daß er sich damals in vielen Dingen geirrt hatte, zum Beispiel in den Zeitpunkten und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, als er sich später dessen entsann, erfuhr er vieles über sich selbst nur aus Mitteilungen, die er von anderen erhielt. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem anderen und hielt ein anderes für die Folge eines dritten, das nur in seiner Einbildung existierte. Zeitweise bemächtigte sich seiner eine schmerzvolle und quälende Unruhe, die sogar in eine panische Angst überging. Er entsann sich aber auch, daß es Minuten, Stunden und vielleicht auch Tage vollständiger Apathie gegeben hatte, die sich seiner, im Gegensatz zu der früheren Angst, bemächtigte, – eine Apathie, die dem krank haft-gleichgültigen Zustand mancher Sterbenden glich. Überhaupt bemühte er sich in diesen letzten Tagen, der klaren und vollständigen Erkenntnis seines Zustandes aus dem Wege zu gehen; manche wichtigen Tatsachen, die einer sofortigen Aufklärung bedurften, bedrückten ihn besonders schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von manchen Sorgen befreien zu können, deren Außerachtlassung ihn unvermeidlich und endgültig ins Verderben gestürzt hätte. Die größte Sorge machte ihm Swidrigailow: man könnte sogar sagen, daß Swidrigailow ihm zu einer fixen Idee geworden war. Seit der Zeit, als er die allzu klar ausgesprochenen und für ihn so drohenden Worte von Swidrigailow in Ssonjas Wohnung, in der Todesstunde Katerina Iwanownas gehört hatte, war der gewöhnliche Fluß seiner Gedanken gleichsam gestört. Obwohl aber diese neue Tatsache ihn außerordentlich beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow gar nicht, die Sache irgendwie aufzuklären. Zuweilen überraschte er sich selbst, wie er in irgendeinem entlegenen und einsamen Stadtteile, in irgendeinem elenden Wirtshause nachdenklich allein am Tische saß, ohne an wissen, wie er hingeraten war, und dann fiel ihm plötzlich Swidrigailow ein: er sah allzu klar und unruhig ein, daß er mit diesem Menschen so schnell als möglich sprechen und sich mit ihm, so weit es ging, einigen müßte. Als er sich einmal hinter die Stadtgrenze verirrte, bildete er sich ein, daß er Swidrigailow erwartete und daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet hätten. Ein anderes Mal erwachte er bei Tagesgrauen irgendwo im Gesträuch, auf der nackten Erde, und konnte fast nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Übrigens hatte er in diesen zwei oder drei Tagen nach dem Tode Katerina Iwanownas den Swidrigailow schon an die zweimal getroffen, fast immer in Ssonjas Wohnung, wohin er ohne jede Absicht, stets nur auf einen Sprung kam. Sie wechselten miteinander einige wenige Worte und berührten niemals den Hauptpunkt, als bestünde zwischen ihnen eine Verabredung, darüber vorläufig zu schweigen. Die Leiche Katerina Iwanownas lag noch immer in der Wohnung. Swidrigailow traf Anordnungen für die Beerdigung und sorgte für alles. Auch Ssonja war sehr beschäftigt. Bei ihrer letzten Zusammenkunft erklärte Swidrigailow Raskolnikow, daß er die Kinder Katerina Iwanownas schon irgendwie versorgt habe, daß es ihm dank seinen Verbindungen gelungen sei, Personen zu finden, mit deren Hilfe man die drei Waisenkinder sofort in sehr anständigen Anstalten unterbringen könnte; daß das Geld, das er für sie deponiert habe, dabei sehr nützlich gewesen sei, da es viel leichter wäre, Waisen mit Kapital unterzubringen als solche, die gar nichts haben. Er sagte auch etwas über Ssonja, versprach Raskolnikow, ihn dieser Tage selbst aufzusuchen, und erwähnte nebenbei, daß er sich mit ihm beraten und ihn dringend sprechen müßte, da es sich um eine wichtige Angelegenheit handle ... Das Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow unverwandt in die Augen und fragte ihn nach kurzem Schweigen mit gedämpfter Stimme: »Was ist denn mit Ihnen, Rodion Romanowitsch? Man kann Sie ja kaum wiedererkennen! Wirklich! Sie schauen einen an und hören zu und scheinen nichts zu verstehen. Nehmen Sie sich zusammen. Wir müssen doch wirklich miteinander sprechen; es ist nur schade, daß ich so viel zu tun habe, für mich selbst und für andere ... Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er plötzlich hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor allen Diagen Luft!« Er trat plötzlich zur Seite, um den Geistlichen, der mit dem Küster die Treppe heraufkam, vorbeizulassen. Sie kamen, um die Totenmesse zu lesen. Auf Anordnung Swidrigailows wurden die Messen zweimal am Tage mit großer Pünktlichkeit abgehalten. Swidrigailow ging seiner Wege. Raskolnikow stand eine Weile da und folgte dann dem Geistlichen in Ssonjas Wohnung. Er blieb in der Tür stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, traurig. Im Gedanken an den Tod und im Gefühl der Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas Schweres und Mystisch-Schreckliches; auch hatte er schon lange keine Totenmesse mehr gehört. Es war auch etwas anderes, allzu Schreckliches und Unruhiges dabei. Er sah die Kinder an: sie lagen alle vor dem Sarg auf den Knien; Poljetschka weinte. Hinter ihnen betete Ssonja leise weinend. – In diesen Tagen hat sie mich aber kein einziges Mal angeschaut und kein Wort zu mir gesagt! – fiel es Raskolnikow plötzlich ein. Die Sonne erleuchtete hell das Zimmer; der Weihrauch stieg in leichten Wolken empor; der Geistliche las: »Schenke, Herr, die ewige Ruhe.« Raskolnikow blieb während der ganzen Messe da. Als der Geistliche den Segen erteilte und sich verabschiedete, sah er sich etwas eigentümlich um. Nach dem Gottesdienste ging Raskolnikow auf Ssonja zu. Sie ergriff plötzlich seine beiden Hände und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Diese kurze freundschaftliche Regung überraschte ihn; es kam ihm sogar seltsam vor: Wie? Nicht der geringste Widerwille, nicht der geringste Ekel vor ihm, nicht das leiseste Zucken ihrer Hand! Es war die tiefste Stufe der Selbsterniedrigung. So faßte er es wenigstens auf. Ssonja sagte nichts. Raskolnikow drückte ihr die Hand und ging hinaus. Es wurde ihm so furchtbar schwer zumute. Wäre es ihm in diesem Augenblick möglich gewesen, fortzugehen und ganz allein zu bleiben, und wenn auch fürs ganze Leben, so würde er sich glücklich gefühlt haben. Die Sache war aber die, daß er in der letzten Zeit zwar fast immer allein war, aber sein Alleinsein unmöglich empfinden konnte. Oft ging er vor die Stadt, kam auf eine Landstraße und verirrte sich einmal sogar in ein Gehölz; doch je einsamer die Gegend war, um so stärker empfand er die nahe und beunruhigende Gegenwart von etwas, das wohl nicht grauenhaft war, aber ihn schon gar zu sehr belästigte, so daß er schleunigst in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, in Wirtshäuser und Schenken einkehrte und auf den Trödelmarkt und Heumarkt ging. Hier war es ihm sogar leichter ums Herz, und erfühlte sich viel einsamer. In einem Wirtshause wurde den ganzen Spätnachmittag gesungen; hier blieb er eine ganze Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich später, daß es ihm sehr angenehm gewesen war. Schließlich wurde er aber wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse plagten. – Hier sitze ich höre dem Gesang zu, habe aber was ganz anderes zu tun! – ging es ihm durch den Sinn. Übrigens wurde es ihm sofort klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, daß noch etwas anderes da war, das eine unverzügliche Lösung erheischte, das er aber weder völlig erfassen noch in Worte kleiden konnte. Alles verwickelte sich zu einem Knäuel. – Nein, dann schon lieber den Kampf! Dann ziehe ich schon den Porfirij oder Swidrigailow vor ... Wenn doch schneller eine Herausforderung oder ein Überfall käme ... – Ja! Ja! – dachte er. Er verließ das Wirtshaus und lief fast fort. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter machte ihm plötzlich panische Angst. In der folgenden Nacht erwachte er vor Tagesanbruch im Gebüsch auf der Krestowskij-Insel, ganz durchfroren und im Fieber; er ging nach Hause, wo er erst am Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vergangen, er erwachte aber sehr spät, um zwei Uhr nachmittags. Er erinnerte sich, daß für diesen Tag die Beerdigung Katerina Iwanownas angesetzt war, und freute sich, daß er ihr nicht beigewohnt hatte. Nastasja brachte ihm sein Essen; er aß und trank mit großem Appetit, fast mit Gier. Sein Kopf war frischer und er selbst ruhiger als in den letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über die früheren Anfälle der panischen Angst. Die Tür ging auf, und herein trat Rasumichin. »Aha! Er ißt, also ist er nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikow gegenüber. Er war aufgeregt und bemühte sich nicht, es zu verbergen. Er sprach mit sichtbarem Arger, doch ohne Übereilung und ohne die Stimme besonders zu erheben. Man könnte meinen, daß er von einer besonderen und ausschließlichen Ansicht besessen sei. »Hör!« begann er entschlossen. »Ich kümmere mich den Teufel um euch alle, doch aus dem, was ich jetzt sehe, schließe ich, daß ich gar nichts verstehen kann; glaube, bitte, nicht, daß ich hergekommen bin, um dich auszufragen. Ich spucke darauf! Ich will es selbst nicht! Wenn du sogar selbst alles, alle eure Geheimnisse auskramen wolltest, würde ich vielleicht gar nicht zuhören, würde ausspucken und fortgehen. Ich bin gekommen, nur um persönlich und endgültig festzustellen, ob es wahr ist, daß du verrückt bist. Es besteht nämlich über dich die Meinung (irgendwo, bei irgend jemand), daß du vielleicht verrückt bist oder eine Anlage dazu hast. Offen gestanden, war ich auch selbst sehr geneigt, diese Ansicht zu verteidigen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil gemeinen Handlungen (die durch nichts zu erklären sind), und zweitens wegen deines kürzlichen Benehmens gegen deine Mutter und Schwester. Nur ein Verbrecher und Schurke, wenn nicht ein Verrückter, hätte sie so behandeln können, wie du sie behandelt hast; folglich bist du verrückt ...« »Ist es lange her, daß du sie gesehen hast?« »Ich komme von ihnen. Und du hast sie seitdem nicht mehr gesehen? Wo treibst du dich herum? Sage es mir, bitte, ich war schon dreimal bei dir. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich krank. Sie wollte unbedingt zu dir kommen; Awdotja Romanowna versuchte sie davon abzuhalten; sie wollte aber auf nichts hören. ›Wenn er krank ist,‹ sagte sie, ›wenn ihm der Wahnsinn droht, wer kann ihm dann helfen, wenn nicht seine Mutter?‹ So kamen wir alle her, denn wir konnten sie doch nicht allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür flehten wir sie an, sich zu beruhigen. Wie wir hereinkamen, warst du nicht da; hier auf diesem Platz hat sie gesessen. Zehn Minuten saß sie da, und wir standen schweigend vor ihr. Endlich stand sie auf und sagte: ›Wenn er ausgehen kann, so ist er gesund und hat seine Mutter vergessen; es ist beschämend für die Mutter, vor seiner Schwelle zu stehen und um ein freundliches Wort wie um Almosen zu betteln.‹ Sie kam nach Hause und legte sich hin: jetzt liegt sie im Fieber. Sie sagt: ›Ich sehe jetzt, daß er für die Seine Zeit hat.‹ Mit › Seine ‹ meint sie – Ssofja Ssemjonowna, deine Braut oder Geliebte, – ich weiß es nicht. Ich ging sofort zu Ssofja Ssemjonowna, denn ich wollte alles erfahren, Bruder; – ich komme hin und sehe: ein Sarg steht da, die Kinder weinen. Ssofja Ssemjonowna probiert ihnen Trauerkleidchen an. Du bist nicht da. Ich sah mich um, entschuldigte mich und ging fort, und so berichtete ich es auch Awdotja Romanowna. Alles ist also Unsinn, es gibt gar keine › Seine ‹, es ist also am ehesten Wahnsinn. Da sitzt du aber da und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. Die Verrückten essen allerdings auch; du hast mir zwar noch kein einziges Wort gesagt, aber du bist ... verrückt. Also hol euch alle der Teufel, denn es steckt irgendein Geheimnis, ein Rätsel dahinter, und ich bin nicht geneigt, mir über eure Rätsel den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur so heraufgekommen, um zu schimpfen«, schloß er und stand auf. »Um mir das Herz zu erleichtern; ich weiß aber, was ich jetzt tun soll!« »Was willst du denn jetzt tun?« »Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?« »Paß auf, da fängst noch zu trinken an!« »Woher ... woher weißt du das?« »Auch eine Frage!« Rasumichin schwieg eine Weile. »Da warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und bist niemals, niemals verrückt gewesen«, bemerkte er plötzlich erregt. »Das stimmt: ich fange zu trinken an! Leb wohl!« Und er schickte sich an, zu gehen. »Ich habe über dich, glaube ich, vorgestern mit meiner Schwester gesprochen, Rasumichin.« »Über mich?! Ja ... wo hast du sie denn vorgestern sehen können?« fragte plötzlich Rasumichin erstaunt und wurde sogar etwas blaß. Man konnte ihm ansehen, daß sein Herz langsam und schwer klopfte. »Sie war hergekommen, allein, hat hier gesessen und mit mir gesprochen.« »Sie?!« »Ja, sie!« »Was hast du ihr denn gesagt ... ich meine – von mir?« »Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn sie weiß es selbst.« »Sie weiß es selbst?« »Na, und ob! Wohin ich auch fortgehen würde, was mir auch zustieße, du bleibst ihnen immer eine Vorsehung. Ich übergebe sie dir, sozusagen, Rasumichin. Ich sage das, weil ich sicher weiß, wie du sie liebst, und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar auch schon liebt. Beschließe jetzt selbst, was du für das Beste hältst: – ob du zu trinken anfangen sollst oder nicht!?« »Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wo willst du aber hin? Siehst du: wenn es ein Geheimnis ist, so laß es sein! Aber ich ... werde das Geheimnis erfahren ... Ich bin überzeugt, daß es unbedingt eine Dummheit und ein furchtbarer Unsinn ist und daß du alles allein ausgedacht hast. Ubrigens bist du ein prachtvoller Mensch! Ein prachtvoller Mensch! ...« »Ich wollte dir vorhin noch sagen, du hast mich aber unterbrochen, daß es sehr klug von dir ist, wenn du alle diese Geheimnisse und Rätsel gar nicht erforschen willst. Laß sie vorläufig sein und mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wirst du alles erfahren, und zwar gerade dann, wenn es nötig sein wird. Gestern hat mir ein Mann gesagt, daß der Mensch Luft, Luft und noch einmal Luft braucht! Ich will gerade zu ihm gehen, um zu erfahren, was er damit meint.« Rasumichin stand nachdenklich und erregt da und schien sich etwas zu überlegen. – Er ist ein politischer Verschwörer! Ganz bestimmt! Und zwar unmittelbar vor einem entscheidenden Schritt, – ganz sicher! Anders kann es gar nicht sein und ... Dunja weiß davon ... – dachte er bei sich. »Awdotja Romanowna kommt also zu dir«, sagte er, jedes Wort betonend, »und du selbst willst zu einem Menschen gehen, welcher sagt, daß man mehr Luft braucht und ... und folglich hat auch dieser Brief ... etwas damit zu tun«, schloß er wie vor sich hin. »Was für ein Brief?« »Sie hat heute einen Brief bekommen, der sie sehr aufgeregt hat. Sehr. Sogar furchtbar. Ich brachte die Rede auf dich, sie bat mich aber, zu schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht bald trennen werden, dann fing sie an, mir für etwas heiß zu danken ... dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein.« »Sie hat einen Brief bekommen?« fragte Raskolnikow wieder. »Ja, einen Brief; hast du es nicht gewußt? Hm! ...« Beide schwiegen eine Weile. »Leb wohl, Rodion. Es gab eine Zeit ... wo ich, Bruder ... übrigens leb wohl; nun, es gab eine Zeit ... Leb wohl! Ich muß auch gehen. Trinken werde ich nicht. Jetzt brauche ich es nicht ... Unsinn!« Er schien große Eile zu haben; als er aber schon hinausgegangen war und die Tür fast geschlossen hatte, machte er sie plötzlich wieder auf und sagte, irgendwo zur Seite blickend: »Apropos! Kannst du dich noch an den Mord erinnern, mit dem sich Porfirij zu schaffen macht: an die Ermordung der Alten? Also wollte ich dir sagen, daß man den Mörder gefunden hat, er hat selbst alles eingestanden und alle Beweise geliefert. Er ist einer von jenen Arbeitern, den Anstreichern, denk dir nur! Kannst du dich noch erinnern, wie ich sie hier verteidigt habe? Wirst du es glauben: die ganze Szene, wo er sich mit seinem Kameraden auf der Treppe herumschlug und lachte, als der Hausknecht und die beiden Zeugen hinaufgingen, hat er absichtlich aufgeführt, um den Verdacht von sich abzulenken. Wie schlau, welch eine Geistesgegenwart bei so einem jungen Hunde! Es ist kaum zu glauben; er hat aber alles aufgeklärt und alles eingestanden! Wie bin ich doch hereingefallen! Nun, meiner Ansicht nach ist er bloß ein Genie der Verstellungskunst und der Findigkeit, ein Genie des juristischen Alibi – folglich ist hier nichts Bewundernswertes! Warum soll es auch nicht solche Leute geben? Daß er aber aus seiner Rolle gefallen ist und alles eingestanden hat, macht mir die Sache erst recht glaubhaft. So ist es wahrscheinlicher! ... Aber wie ich damals hereingefallen bin! Ich fuhr aus der Haut, um ihn zu verteidigen!« »Sag, bitte, woher hast du das erfahren und warum interessiert dich das so sehr?« fragte Raskolnikow mit sichtlicher Unruhe. »Auch eine Frage! Warum mich das interessiert! Wie du manchmal fragen kannst! ... Erfahren habe ich es unter anderem von Porfirij. Übrigens habe ich fast alles von ihm erfahren.« »Von Porfirij?« »Ja, von Porfirij.« »Nun, und was ... was denkt er?« fragte Raskolnikow erschrocken. »Er hat mir alles ausgezeichnet erklärt. Er hat es mir psychologisch erklärt, auf seine Weise.« »Er hat es selbst erklärt? Er selbst?« »Ja, er selbst. Leb wohl! Später einmal will ich dir noch mehr davon erzählen, jetzt habe ich keine Zeit. Es gab nämlich ... eine Zeit, wo ich glaubte ... Aber was soll ich jetzt davon reden, ein anderes Mal! ... Warum sollte ich mich jetzt betrinken? Du hast mich auch ohne Wein berauscht gemacht. Ich bin ganz betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken, leb wohl! Ich komme noch einmal vorbei, sehr bald.« Er ging hinaus. – Er ist ein politischer Verschwörer, ganz gewiß, ganz gewiß! – sagte sich Rasumichin endgültig, indem er die Treppe hinunterging. – Er hat auch seine Schwester hineingezogen; das ist beim Charakter Awdotja Romanownas sehr leicht möglich. Sie haben Zusammenkünfte miteinander! ... Sie hat mir aber auch schon Andeutungen gemacht ... Aus vielen ihrer Worte ... und Bemerkungen ... und Andeutungen kann man alles schließen! Wie sollte man sich diesen ganzen Wirrwarr auch anders erklären? Hm! Ich glaubte aber schon ... O Gott, was war mir nur eingefallen?! Es war eine Geistesverwirrung, und ich stehe vor ihm schuldig da! Er selbst hat mich so verwirrt, damals im Korridor vor der Lampe. Pfui! Was war es doch für ein häßlicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Mikolka ist ein braver Kerl, daß er alles eingestanden hat ... Und wie gut läßt sich jetzt alles Frühere erklären! Seine damalige Krankheit, alle seine sonderbaren Handlungen, sogar viel früher auf der Universität, als er immer so finster und verschlossen war ... Was hat aber jetzt jener Brief zu bedeuten? Es wird vielleicht doch etwas dahinterstecken. Von wem mag dieser Brief sein? Ich habe einen Verdacht ... Hm! Nein, ich werde alles erfahren. – Alles, was mit Dunjetschka zusammenhing, ging ihm wieder durch den Sinn, und sein Herz stand still. Und er rannte davon, als hätte er sich von einer Kette losgerissen. Sobald Rasumichin fortgegangen war, stand Raskolnikow auf, wandte sich zum Fenster, ging erst in eine Ecke, dann in eine andere, als hätte er die Enge seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder aufs Sofa. Er fühlte sich wie neugeboren; es stand ihm wieder ein Kampf bevor, also hatte sich ein Ausweg gefunden! Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! Alles war so luftdicht abgeschlossen, hatte angefangen, so qualvoll zu drücken, es war wie ein Alp. Seit dem Auftritt mit Mikolka bei Porfirij glaubte er in der Enge ohne Ausweg ersticken zu müssen. Am gleichen Tage hatte er nach Mikolka die Szene mit Ssonja gehabt; er hatte diese Szene ganz anders durchgeführt und abgeschlossen, als er es sich früher hätte vorstellen können ... also war er plötzlich und radikal schwach geworden! Mit einem Male! Er hatte sich doch damals mit Ssonja geeinigt, hatte sich mit ganzem Herzen geeinigt, daß er mit einer solchen Last auf dem Herzen allein nicht leben könne! Und Swidrigailow? Swidrigailow ist ein Rätsel ... Swidrigailow beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht in dieser Richtung. Vielleicht steht ihm auch noch ein Kampf mit Swidrigailow bevor. Vielleicht bedeutet auch Swidrigailow einen Ausweg; aber Porfirij ist eine andere Sache. Porfirij hat also Rasumichin alles selbst erklärt, hat es ihm psychologisch erklärt! Hat also wieder seine verfluchte Psychologie aufs Tapet gebracht! Porfirij? Kann denn Porfirij auch nur einen Augenblick lang glauben, daß Mikolka schuldig sei, nach allem, was sich zwischen ihm und Raskolnikow abgespielt hat, nach jener Szene unter vier Augen vor Mikolkas Erscheinen, für die es bloß eine einzige richtige Erklärung gibt?! (In diesen Tagen war ihm einigemal diese ganze Szene mit Porfirij bruchstückweise in Erinnerung gekommen; aber sich ihrer ganz und zusammenhängend zu erinnern, wäre ihm unerträglich gewesen.) Es waren zwischen ihnen damals solche Worte gefallen, es hatte solche Bewegungen und Gebärden gegeben, es waren solche Blicke getauscht, es war manches mit einer solchen Stimme gesagt worden und alles hatte bereits solche Grenzen erreicht, daß nach alledem ein Mikolka, welchen Porfirij auf den ersten Blick durchschaut hatte, die Grundlage seiner Überzeugungen niemals hätte erschüttern können! Wie ist es nun gekommen?! Sogar Rasumichin hatte angefangen, ihn zu verdächtigen! Die Szene im Korridor bei der Lampe war also nicht spurlos vorübergegangen. Darum war er gleich zu Porfirij gelaufen ... warum hat aber jener angefangen, ihn irrezuführen? Was für eine Absicht verfolgt er, wenn er Rasumichins Verdacht auf Mikolka lenkt? Er führt gewiß etwas im Schilde, er hat Absichten, aber was für welche? Allerdings war seit jenem Morgen viel Zeit vergangen, viel zu viel Zeit, und Porfirij hat von sich bisher nichts hören lassen. Nun, das ist natürlich schlimm ... – Raskolnikow nahm nachdenklich seine Mütze und wollte das Zimmer verlassen. Es war der erste Tag seit dieser ganzen Zeit, daß er sich wenigstens bei klarem Verstand fühlte. – Ich muß erst mit Swidrigailow fertigwerden – dachte er, – und zwar unbedingt so schnell als möglich; auch der scheint zu warten, daß ich zu ihm komme. – In diesem Augenblick erhob sich in seinem müden Herzen solch ein Haß, daß er imstande gewesen wäre, einen von den beiden zu ermorden: Swidrigailow oder Porfirij. Er fühlte wenigstens, daß er imstande sei, es wenn nicht jetzt so später zu tun. – Wir wollen sehen, wir wollen sehen! – wiederholte er vor sich hin. Kaum hatte er aber die Tür zum Flur geöffnet, als er plötzlich mit Porfirij selbst zusammenstieß. Jener kam eben zu ihm. Raskolnikow erstarrte für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick. Seltsamerweise war er über Porfirijs Besuch nicht sehr erstaunt und fast nicht erschrocken. Er zuckte nur zusammen, machte sich aber schon im nächsten Augenblick auf alles bereit. – Vielleicht ist das die Lösung! Wie leise ist er aber gekommen, wie eine Katze, und ich habe nichts gehört! Hat er vielleicht an der Tür gehorcht? – »Sie haben wohl den Gast nicht erwartet, Rodion Romanowitsch?« rief Porfirij lachend. »Ich hatte schon längst die Absicht, Sie mal zu besuchen. Wie ich eben vorbeiging, dachte ich mir: Warum soll ich nicht für fünf Minuten hinaufgehen? Sie wollen ausgehen? Ich werde Sie nicht aufhalten. Bloß eine Zigarette will ich bei Ihnen rauchen, wenn Sie gestatten.« »Setzen Sie sich doch, Porfirij Petrowitsch. Setzen Sie sich, bitte«, begrüßte Raskolnikow seinen Gast mit einem scheinbar so zufriedenen und freundlichen Ausdruck, daß er wohl selbst über sich erstaunt wäre, wenn er sich hätte sehen können. Nun galt es den letzten Rest seiner Kraft zusammenzunehmen! So zittert ein Mensch zuweilen eine halbe Stunde vor Todesangst vor einem Räuber; wenn ihm aber jener endgültig das Messer an die Gurgel setzt, so verschwindet die ganze Angst. Er setzte sich Porfirij gegenüber und sah ihn ohne zu zwinkern an. Porfirij kniff die Augen zusammen und begann sich eine Zigarette anzustecken. – Sprich doch, sprich doch – drängte es sich aus dem Herzen Raskolnikows: – Nun, warum sagst du nichts? – 2. II »Ja, auch diese Zigaretten!« begann endlich Porfirij Petrowitsch, nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte. »Sie sind schädlich, furchtbar schädlich, und doch kann ich das Rauchen nicht aufgeben! Ich huste, im Halse kratzt es, und ich leide Atemnot. Wissen Sie, ich bin ängstlich und ging darum neulich zu B. – er untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang; als er mich sah, lachte er sogar; er klopfte und horchte an mir herum und sagte schließlich: ›Das Rauchen ist für Sie nichts, Ihre Lunge ist erweitert.‹ Wie soll ich aber das Rauchen aufgeben? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich trinke doch nicht, das ist mein ganzes Unglück! He-he-he, es ist ein Unglück, daß ich nicht trinke! Alles ist doch relativ, Rodion Romanowitsch, alles ist relativ!« – Fängt er schon wieder mit seinen alten Kunststücken an? – dachte Raskolnikow angeekelt. Die ganze letzte Szene zwischen ihnen kam ihm plötzlich in den Sinn, und dasselbe Gefühl wie damals erfüllte seine Seele. »Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend; Sie wissen es gar nicht?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort, sich im Zimmer umsehend. »Ich bin hier in diesem Zimmer gewesen. Ebenso heute; ich gehe gerade vorbei und denke mir: Ich will ihn mal besuchen. Ich komme herauf, die Tür steht weit offen; ich sah mich um, wartete und meldete mich nicht mal bei ihrer Dienstmagd, und dann ging ich wieder fort. Sie pflegen Ihr Zimmer nicht abzuschließen?« Raskolnikows Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porfirij hatte seine Gedanken gleichsam erraten. »Ich komme her, liebster Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, fuhr er mit einem Lächeln fort und klopfte ihn sogar leicht mit der Hand aufs Knie. Aber sein Gesicht nahm fast im gleichen Augenblick einen ernsten und bekümmerten Ausdruck an; Raskolnikow sah darin zu seinem Erstaunen sogar einen Auflug von Trauer. Einen solchen Ausdruck hatte er an ihm noch niemals wahrgenommen und nicht einmal vermutet. »Eine sonderbare Szene hat sich das letztemal zwischen uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Allerdings war auch unsere erste Begegnung sehr sonderbar, aber damals ... Jetzt ist es aber gleich! Nun, hören Sie: ich stehe vielleicht schuldig vor Ihnen da; ich fühle es. Erinnern Sie sich noch, wie wir uns trennten: Ihnen zittern die Nerven und schlottern die Knie, und auch mir zittern die Nerven und schlottern die Knie. Und wissen Sie, es ging damals zwischen uns so gar nicht anständig zu, nicht wie unter Ehrenmännern. Wir sind aber Ehrenmänner, das heißt in jedem Falle und unter allen Umständen Ehrenmänner, das soll man nicht vergessen. Sie erinnern sich noch, was weiter kam: es war einfach unanständig.« – Was hat er denn, für was hält er mich? – fragte sich Raskolnikow erstaunt, Porfirij mit erhobenem Kopf anschauend. »Ich bin zur Einsicht gekommen, daß es für uns jetzt das beste ist, aufrichtig vorzugehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, den Kopf etwas zur Seite gewandt und die Augen gesenkt, als wollte er sein früheres Opfer nicht mehr mit seinen Blicken irritieren und als hätte er seine früheren Kunstgriffe und Methoden verworfen. »Jawohl, solche Verdächtigungen und solche Szenen gehen auf die Dauer nicht. Mikolka war für uns damals eine Erlösung, sonst weiß ich gar nicht, wozu es noch alles gekommen wäre. Jener verfluchte Kleinbürger saß bei mir die ganze Zeit hinter dem Verschlag – können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es natürlich schon; es ist mir auch bekannt, daß er nachher bei Ihnen war; aber was Sie damals angenommen hatten, war gar nicht der Fall: ich hatte nach niemand geschickt und noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen hatte? Wie soll ich es Ihnen sagen: Das Ganze war auch für mich ganz unerwartet gekommen. Es war mir sogar kaum eingefallen, die Hausknechte kommen zu lassen. (Die Hausknechte haben Sie doch sicher im Vorbeigehen bemerkt.) Ein Gedanke hat mich damals durchzuckt, so schnell wie ein Blitz; denn ich war damals gar zu fest überzeugt, Rodion Romanowitsch. Ich will mal – sagte ich mir – zunächst das eine aufgeben, dafür aber etwas anderes am Schwanze packen; so entgeht mir wenigstens das meinige nicht. Sie sind sehr reizbar von Natur, Rodion Romanowitsch, sogar viel zu reizbar, bei allen anderen Grundzügen Ihres Charakters, die ich, wenigstens zum Teil, erfaßt zu haben hoffe. Aber ich konnte mir natürlich damals auch sagen, daß es nicht immer so kommt, daß der Mensch einfach aufsteht und einem die ganze Wahrheit gesteht. Das kommt zwar vor, besonders wenn man einen Menschen ganz aus der Fassung bringt, aber in jedem Falle selten. Das habe ich mir auch damals sagen können. Ich dachte mir: Wenn ich doch bloß ein Endchen erwische! Wenn auch nur ein ganz winziges, doch ein solches, daß ich es mit den Händen packen kann, daß es eine greifbare Sache ist und keine Psychologie. Denn ich dachte mir: Wenn ein Mensch schuldig ist, so kann man von ihm jedenfalls etwas Wesentliches erwarten; es ist sogar erlaubt, auf ein ganz unerwartetes Resultat zu rechnen. Ich hatte damals auf Ihren Charakter gerechnet, Rodion Romanowitsch, vor allem – auf den Charakter! Große Hoffnungen hatte ich damals auf Sie gesetzt!« »Ja, aber ... aber warum reden Sie jetzt immer so?« murmelte Raskolnikow, der selbst seine eigene Frage kaum verstand. – Wovon redet er eigentlich? – fragte er sich ganz fassungslos: – Hält er mich denn wirklich für unschuldig? – »Warum ich so rede? Nun, ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, ich halte es sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich möchte Ihnen restlos darlegen, wie sich alles zugetragen hat, die ganze Geschichte der damaligen – sagen wir Verblendung. Ich habe Sie viel gequält, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein Unmensch. Ich begreife es doch auch, wie schwer es für einen niedergedrückten, doch stolzen, herrschsüchtigen und ungeduldigen – in erster Linie ungeduldigen Menschen ist, dies alles zu tragen! Ich halte Sie in jedem Falle für einen höchst edlen Menschen, sogar mit Anlagen zu Großmut, obwohl ich mit Ihnen in Ihren Überzeugungen nicht einverstanden bin, und ich halte es auch für meine Pflicht, es Ihnen im voraus ganz offen und aufrichtig zu sagen, denn ich will Sie vor allen Dingen nicht betrügen. Nachdem ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich eine Neigung für Sie. Sie werden vielleicht über diese meine Worte lachen? Das Recht dazu haben Sie ja. Ich weiß, daß Sie mich gleich auf den ersten Blick nicht mochten, denn im Grunde genommen ist nichts an mir, wofür man mich hätte lieben können. Sie können davon halten, was Sie wollen, aber ich will jetzt meinerseits mit allen Mitteln den Eindruck, den ich auf Sie machte, verwischen und Ihnen beweisen, daß ich ein Mensch mit Herz und Gewissen bin. Ich sage das ganz aufrichtig.« Porfirij Petrowitsch hielt selbstbewußt inne. Raskolnikow fühlte sich von einem neuen Schrecken ergriffen. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, machte ihm plötzlich Angst. »Alles der Reihe nach zu erzählen, wie es angefangen hat, ist wohl kaum nötig«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort. »Ich werde es auch kaum fertigbringen können. Denn wie kann ich es umständlich erklären? Zuerst kamen Gerüchte auf. Ihnen zu erzählen, was es für Gerüchte waren, wann und woher sie kamen und aus welchem Anlaß die Rede auch auf Sie kam, halte ich gleichfalls für überflüssig. Bei mir persönlich fing es mit einer Zufälligkeit an, mit einer ganz zufälligen Zufälligkeit, die ebenso sein, wie auch nicht sein konnte. Was es für eine Zufälligkeit war? Hm! ... auch davon, glaube ich, lohnt es sich nicht zu reden. Dies alles, diese Gerüchte und Zufälligkeiten vereinigten sich bei mir zu einem Gedanken. Ich gestehe es offen – denn wenn man schon offen spricht, so soll man alles gestehen –, ich war der erste, der damals auf Sie kam. Alle die Vermerke der Alten auf den Sachen usw. – all das ist Unsinn. Solche Dinge kann man hundertweise aufzählen. Ich hatte damals auch Gelegenheit, Genaues über die Szene im Polizeibureau zu hören, auch ganz zufällig, und zwar nicht flüchtig, sondern von einem ganz hervorragenden Erzähler, der, ohne es selbst zu ahnen, diese Szene ganz wunderbar bewältigt hat. Eines griff immer ins andere hinein, eines ins andere, liebster Rodion Romanowitsch! Nun, wie sollte ich mich da nicht nach einer bestimmten Richtung wenden!? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert Verdachtsgründen nie ein Beweis, wie ein englisches Sprichwort sagt. Aber das bezieht sich doch nur auf die Vernunft; doch wenn die Leidenschaften hinzukommen – versuchen Sie nur mit der Leidenschaft fertigzuwerden, denn auch der Untersuchungsrichter ist ein Mensch! Ich erinnerte mich auch Ihres Artikels in der Zeitschrift; wissen Sie noch, bei Ihrem ersten Besuch haben wir ausführlich davon gesprochen. Ich hatte mich dann über Sie lustiggemacht, doch nur, um Sie zu weiteren Äußerungen zu verleiten. Ich wiederhole, Sie waren sehr ungeduldig und krank, Rodion Romanowitsch. Daß Sie kühn, herausfordernd und ernst sind, daß Sie innerlich viel erlebt hatten, das wußte ich schon längst. Mir sind diese Empfindungen bekannt, und Ihren Artikel las ich wie etwas mir Bekanntes. In schlaflosen Nächten und im Zustande von Raserei ist dieser Artikel in Ihrem Kopfe entstanden, unter Herzklopfen mit unterdrücktem Enthusiasmus. Dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus ist in der Jugend gefährlich! Damals hatte ich mich darüber lustiggemacht, jetzt will ich Ihnen aber sagen, daß ich diese erste jugendliche, leidenschaftliche Federprobe als Amateur über alles liebe. Ein Rauch, ein Nebel, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist absurd und phantastisch, aber es leuchtet darin eine Aufrichtigkeit, ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, die Kühnheit der Verzweiflung; er ist so düster, dieser Artikel, aber das ist auch gut. Ich las Ihren Artikel damals durch, legte ihn dann beiseite und dachte mir dabei: ›Mit diesem Menschen wird es nicht so glatt ablaufen?‹ Nun, sagen Sie mir selbst: Wie sollte ich mich nach all dem Vorangegangenen nicht von dem Folgenden hinreißen lassen? Ach, mein Gott, sage ich denn überhaupt was? Behaupte ich denn was? Ich hatte es mir damals nur gemerkt. Was ist denn dabei? – fragte ich mich. Es ist nichts dabei, aber gar nichts, vielleicht sogar absolut nichts. Für mich, einen Untersuchungsrichter, ziemt es sich gar nicht, sich so hinreißen zu lassen: ich habe ja den Mikolka in Händen, und zwar mit Tatsachen, – wie Sie wollen: es sind Tatsachen! auch er kommt mit seiner Psychologie; ihm muß ich mich noch ordentlich widmen, denn bei ihm handelt es sich um Leben und Tod. Wozu ich Ihnen jetzt das alles erkläre? Damit Sie es wissen und mich nicht im Geist und im Herzen für mein damaliges boshaftes Benehmen verurteilen. Es war aber gar nicht boshaft. Ich versichere es aufrichtig, he-he! Sie glauben, ich hätte bei Ihnen keine Haussuchung abgehalten? Natürlich habe ich eine abgehalten, he-he! Es war, als Sie krank im Bettchen lagen. Nicht offiziell und nicht in eigener Person, aber ich habe eine gemacht. Bis aufs letzte Härchen wurde in Ihrer Wohnung alles durchsucht, sogar gleich nach der frischen Spur, aber – umsonst! Ich denke mir: Jetzt wird dieser Mensch kommen, wird selbst kommen, sogar sehr bald; wenn er schuldig ist, so wird er sicher kommen. Ein anderer wird nicht kommen, aber dieser wird kommen. Erinnern Sie sich noch, wie Herr Rasumichin anfing, sich zu verschnappen? Das haben wir absichtlich so gemacht, um Sie aufzuregen, darum haben wir auch das Gerücht losgelassen, damit er sich Ihnen gegenüber verschnappt, denn Herr Rasumichin ist ein Mensch, der seine Entrüstung nicht bei sich behalten kann. Dem Herrn Samjotow waren zuerst Ihr Zorn und Ihre offene Kühnheit aufgefallen; wie kann man auch so im Gasthause herausplatzen: ›Ich habe gemordet!‹ Viel zu kühn, viel zu frech, und wenn er schuldig ist, dachte ich mir, so ist er ein furchtbarer Kämpfer! Wirklich, so dachte ich mir damals. Und ich warte! Ich warte auf Sie gespannt, aber den Samjotow haben Sie damals ganz erdrückt, und ... das ist eben der Witz, daß diese ganze Psychologie zwei Enden hat! So warte ich auf Sie und sehe – Gott schickt Sie mir zu! Da stand mir das Herz still. Ach, was mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen, als Sie hereinkamen – können Sie sich noch erinnern? – Alles sah ich damals so klar wie durch Glas; hätte ich Sie damals nicht so besonders erwartet, so wäre mir auch in Ihrem Lachen nichts aufgefallen. Da sehn wir, was es heißt, in der rechten Stimmung zu sein. Auch Herr Rasumichin damals – ach! und der Stein, der Stein, unter dem die Sachen versteckt liegen? Mir ist es, als sehe ich ihn irgendwo in einem Gemüsefeld liegen. Sie sprachen doch zu Samjotow von einem Gemüsefeld, und dann zum zweitenmal sprachen Sie davon bei mir. Und als wir damals begannen, Ihren Aufsatz durchzunehmen, als Sie ihn zu erklären anfingen, da faßte ich jedes Ihrer Worte doppelt auf, als säße unter jedem Worte ein anderes! So kam ich, Rodion Romanowitsch, bis zur letzten Grenze, und als ich mich mit der Stirn anstieß, kam ich zum Bewußtsein. Nein, sagte ich mir, was fällt mir ein? Wenn man will, sagte ich mir, kann man das alles bis zum letzten Endchen auch im entgegengesetzten Sinne auslegen, und dann wird es sogar noch natürlicher klingen. Ich gestand mir selbst, daß es natürlicher klingen wird. Das war eine Plage! Nein, dachte ich mir, dann will ich doch lieber wenigstens ein Endchen von einer Tatsache haben! ... Als ich damals von diesem Klingeln hörte, erstarrte ich beinahe, es überlief mich kalt. Nun, denke ich mir, da hab ich so ein Endchen! Das ist es! Ich überlegte nicht mehr, ich wollte es einfach nicht. Tausend Rubel hätte ich in jedem Augenblick aus eigener Tasche hergegeben, nur um mit meinen eigenen Augen zu sehen, wie Sie an die hundert Schritte neben dem Kleinbürger hergingen, nachdem er Ihnen ›Mörder‹ ins Gesicht gesagt hatte und Sie ganze hundert Schritt lang nicht wagten, ihn etwas zu fragen! ... Nun, und das Frösteln im Rückenmark? Und dieses Klingeln im Fieber, während Ihrer Krankheit? Warum wundern Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alledem, daß ich mit Ihnen damals solche Scherze getrieben habe? Und warum waren Sie gerade in jenem Augenblick gekommen? Niemand hat Sie doch dazu getrieben, bei Gott, und wenn Mikolka uns damals nicht auseinandergebracht hätte, so ... und erinnern Sie sich noch an Mikolka damals? Haben Sie ihn sich gut gemerkt? Es war doch wie ein Donnerschlag! Wie ein Blitz aus einer Gewitterwolke, wie ein Donnerpfeil! Nun, und wie nahm ich ihn auf? Dem Donnerpfeil glaubte ich kein einziges Wort, wie Sie selbst zu sehen beliebten! Und noch mehr als das! Als Sie schon weggegangen waren und er anfing, außerordentlich vernünftig manche Punkte zu beantworten, so daß ich selbst darüber staunte, – auch dann glaubte ich ihm kein Wort! Sehen Sie, was es heißt, eine felsenfeste Grundlage zu haben! Nein, denke ich mir, Schnecken! Was hat Mikolka mit der Sache zu tun?« »Rasumichin hat mir soeben gesagt, daß Sie auch jetzt noch den Nikolai beschuldigen, und Sie hätten ihn selbst davon überzeugt ...« Sein Atem stockte, und er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie der Mensch, der ihn ganz durchschaut hatte, seine eigenen Worte verleugnete. Er fürchtete, daran zu glauben, und glaubte es auch nicht. In den noch doppelsinnigen Worten suchte er gierig nach etwas Bestimmterem und Endgültigem. »Ja, der Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch, als freute er sich über die Frage Raskolnikows, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Herrn Rasumichin mußte man ausschalten: wo zwei miteinander einig sind, soll der Dritte seine Nase nicht hineinstecken. Herr Rasumichin ist nicht der richtige Mensch, auch ist er ein Außenstehender, ganz bleich kam er zu mir gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, was soll ich ihn in die Sache verwickeln! Und was den Mikolka betrifft, so wissen Sie doch, was er für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse? Erstens ist er noch ein unmündiges Kind, eigentlich kein Feigling, hat aber doch etwas von einem Künstler. Wirklich, lachen Sie, bitte, nicht, daß ich ihn so darstelle. Er ist unschuldig und für alles empfänglich. Er hat ein Herz, ist ein Phantast. Er versteht zu singen und zu tanzen und soll so vorzüglich Märchen erzählen können, daß die Leute sich versammeln, um ihm zuzuhören. Er ist imstande, eine Sonntagsschule zu besuchen, zu lachen, bis er umfällt, wenn man ihm bloß den kleinen Finger zeigt, und bis zur Bewußtlosigkeit zu trinken, doch nicht aus Verdorbenheit, sondern periodisch, wenn man ihn betrunken macht, ganz wie ein Kind. Er hat ja doch gestohlen, kann es aber selbst nicht einsehen, denn er sagt: ›Wenn ich's auf der Erde gefunden habe, so ist es doch kein Diebstahl!‹ Ist Ihnen auch bekannt, daß er ein Altgläubiger ist, das heißt weniger ein Altgläubiger als ein Sektierer? Einige von seiner Familie waren bei der ›Bjeguny‹-Sekte gewesen, und er selbst hat erst vor kurzem ganze zwei Jahre auf dem Lande bei einem frommen Greis als Jünger gelebt. Das alles erfuhr ich von Mikolka selbst und auch von seinen Landsleuten aus Saraisk. Und noch mehr: er wollte sogar in die Wüste fliehen! Großen Eifer hatte er in Glaubenssachen, betete nachts zu Gott und las fortwährend in den alten ›wahren‹ Büchern, bis er fast um den Verstand kam. Petersburg hatte auf ihn einen mächtigen Eindruck gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, auch der Schnaps. Er ist so empfänglich und hat seinen frommen Greis und alles vergessen. Es ist mir bekannt, daß ihn ein hiesiger Maler liebgewonnen hat; er besuchte ihn auch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Er bekam Angst und wollte sich erhängen! Durchbrennen! Was soll man tun, wenn das Volk solche Begriffe von unserer Rechtspflege hat! Gar mancher fürchtet die ›Verurteilung‹. Wer ist schuld? Wie werden sich die neuen reformierten Gerichte einführen? Ach, möge Gott das Beste geben! Nun, im Zuchthause erinnerte er sich wohl wieder des frommen Greises; auch fing er wieder an, in der Bibel zu lesen. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was bei manchen dieser Leute bedeutet, ›das Leiden auf sich zu nehmen?‹ Das heißt nicht, für jemand bestimmten zu leiden; nein, man muß einfach ein Leiden auf sich nehmen, und wenn es von der Obrigkeit kommt, so ist es noch besser. Da hatte ich seinerzeit im Zuchthause ein ganzes Jahr einen sehr stillen und braven Arrestanten sitzen. Nächte lang hockte er auf dem Ofen und las die Bibel; vor lauter Lesen wurde er ganz verrückt und packte eines Tages so mir nichts dir nichts einen Ziegelstein und schmiß ihn auf den Gefängnisdirektor, ohne daß dieser ihm irgendwas getan hätte. Und wie er den Stein schleuderte: er zielte absichtlich einen ganzen Arschin vorbei, um den Mann ja nicht zu verletzen! Nun, man weiß ja, was mit einem Arrestanten geschieht, der einen Vorgesetzten mit bewaffneter Hand überfällt; so ›nahm er das Leiden auf sich‹. Nun habe ich auch den Mikolka in Verdacht, daß er ›das Leiden auf sich nehmen‹ will, oder etwas Ähnliches. Es ist ganz gewiß so, ich habe sogar Beweise dafür. Er selbst weiß nur nicht, daß ich es weiß. Was, Sie werden wohl nicht zugeben, daß aus solch einem Volke so phantastische Menschen hervorgehen können? Das sehen wir aber auf Schritt und Tritt. Der fromme Greis hat jetzt wieder Einfluß auf ihn: besonders nach dem Selbstmordversuch muß er wohl immer wieder an ihn denken. Übrigens wird er mir das alles selbst erzählen, er wird schon kommen. Sie glauben, er wird es aushalten können? Warten Sie nur, er wird schon widerrufen! Von Stunde zu Stunde warte ich, daß er seine Aussage zurücknimmt. Diesen Mikolka habe ich liebgewonnen und will ihn genau erforschen. Und was glauben Sie! He-he! Auf manche Punkte gibt er mir recht vernünftige Antworten. Offenbar hat er die nötigen Mitteilungen bekommen und hat sich geschickt auf alles vorbereitet; bei anderen Punkten blamiert er sich aber furchtbar, weiß gar nichts, hat keinen blauen Dunst und ahnt nicht mal, daß er keinen blauen Dunst hat! Nein, Väterchen Rodion Romanowitsch, Mikolka war es nicht! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne, zeitgemäße Sache, ein Fall, wo das menschliche Herz sich getrübt hat; wo die Phrase zitiert wird, daß das vergossene Blut ›erfrischt‹. Wo gepredigt wird, daß das Wichtigste im Leben der Komfort sei. Hier sind aus Büchern geschöpfte Gedanken, hier ist ein von Theorien gereiztes Herz; hier sieht man die Entschlossenheit zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besondrer Art, der Mensch faßt den Entschluß genau so, wie er von einem Berge herunterspringt oder sich von einem Glockenturme stürzt; er ist auch nicht mit eigenen Beinen zum Verbrechen gekommen. Er vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, hat aber einen Mord begangen, hat zwei Menschen ermordet, nach der Theorie. Er hat gemordet, hat aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, und was er in der Eile erwischt hat, das hat er unter den Stein getan. Es genügte ihm wohl nicht, daß er die Qual durchgemacht hat, als er hinter der Tür stand und man die Tür aufzubrechen versuchte und an der Klingel riß, – nein, er kam dann noch einmal in die leere Wohnung, halb bewußtlos, um die Klingel noch einmal zu hören; er hatte das Bedürfnis, wieder die Kälte im Rücken zu fühlen ... Nun, nehmen wir an, daß er das alles im krankhaften Zustande gemacht hat; aber noch eins: er hat den Mord begangen, hält sich aber für einen anständigen Menschen, verachtet alle, schwebt als bleicher Engel daher, – nein, es ist nicht Mikolka, liebster Rodion Romanowitsch, es ist nicht Mikolka!« Diese letzten Worte waren nach allem, was er früher gesagt und was wie eine Verleugnung des ursprünglichen Verdachts geklungen hatte, gar zu unerwartet. Raskolnikow erzitterte am ganzen Körper, wie von einem Pfeil getroffen. »Also ... wer hat dann ... gemordet? ...« fragte er mit erstickender Stimme, da er sich nicht länger beherrschen konnte. Porfirij Petrowitsch warf sich in die Stuhllehne zurück, als wären ihm diese Worte unerwartet gekommen und als hätte ihn die Frage überrascht. »Wer gemordet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen Ohren nicht. » Sie haben doch gemordet, Rodion Romanowitsch! Sie haben gemordet ...« fügte er fast im Flüstertone, vollkommen überzeugt hinzu. Raskolnikow sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden da – und setzte sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sein ganzes Gesicht zuckte wie im Krampfe. »Die Lippe zuckt ganz wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, scheinbar mit Teilnahme. »Sie haben mich, scheint es, nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer Weile hinzu, »und darum sind Sie so erstaunt. Ich bin ja gerade darum gekommen, um alles auszusprechen und die Sache ganz offen zu behandeln«. »Ich habe nicht gemordet«, flüsterte Raskolnikow wie ein erschrockenes kleines Kind, das man auf frischer Tat ertappt hat. »Doch, Sie waren es, Rodion Romanowitsch, nur Sie und niemand anders«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt. Beide schwiegen, und das Schweigen dauerte erstaunlich lange, fast zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich auf den Tisch gestützt und zerzauste sich schweigend mit den Fingern das Haar. Porfirij Petrowitsch saß ruhig da und wartete. Raskolnikow blickte ihn plötzlich verächtlich an. »Sie kommen wieder mit Ihren alten Geschichten, Porfirij Petrowitsch! Immer die gleichen Kunststücke! Wird Ihnen das nicht zu dumm?« »Ach, hören Sie auf, was brauche ich jetzt Kunststücke? Etwas anderes wäre, wenn Zeugen dabei wären; wir sitzen aber unter vier Augen da und flüstern. Sie sehen doch selbst, daß ich nicht gekommen bin, um Sie zu hetzen und zu jagen wie einen Hasen. Ob Sie gestehen oder nicht, ist mir augenblicklich einerlei. Ich persönlich bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.« »Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie die frühere Frage: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum sperren Sie mich dann nicht ein?« »Nun, das ist mal eine vernünftige Frage! Die will ich Ihnen auch Punkt für Punkt beantworten. Erstens ist es für mich nicht vorteilhaft, Sie sofort zu verhaften.« »Warum ist es nicht vorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie doch ...« »Ach, was macht es, daß ich überzeugt bin? Das ist ja vorläufig nur eine Phantasie von mir. Und was soll ich Sie auch einsperren, damit Sie dort Ruhe haben? Das wissen Sie doch selbst, wenn Sie darauf so bestehen. Wenn ich zum Beispiel den Kleinbürger herbringe, damit er Sie überführt, und Sie ihm sagen: ›Bist du betrunken oder was? Wer hat mich mit dir gesehen? Ich habe dich einfach für betrunken gehalten, und du warst auch betrunken‹ – nun, was soll ich Ihnen darauf antworten, um so mehr, als Ihre Aussage viel wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn seine Aussage beruht nur auf Psychologie, was zu seiner Fratze nicht mal paßt, während Sie das Richtige treffen: der Kerl ist ja wirklich ein Säufer und als solcher bekannt. Ich habe ja auch selbst einigemal zugegeben, daß die Psychologie zwei Enden hat und daß das zweite Ende das dickere ist und viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat und daß ich sonst vorläufig keine anderen Beweise gegen Sie habe. Obwohl ich Sie einmal wirklich einsperren werde und sogar selbst hergekommen bin, um Ihnen das mitzuteilen (was sonst doch gar nicht üblich ist), sage ich Ihnen ganz offen (was ja gleichfalls nicht üblich ist), daß es für mich unvorteilhaft ist. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen ...« »Ja, und zweitens?« (Raskolnikow rang noch immer um Atem.) »Zweitens, weil ich Ihnen, wie ich schon vorher gesagt habe, eine Erklärung schulde. Ich will nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, um so mehr als ich Ihnen aufrichtig gewogen bin, ob Sie es glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich, drittens, mit einem offenen und direkten Vorschlag gekommen, daß Sie sich selbst anzeigen und ein Geständnis ablegen. Dies wird für Sie unendlich vorteilhafter sein, ebenso auch für mich, denn dann bin ich die Sache los. Nun, habe ich aufrichtig gesprochen oder nicht?« Raskolnikow dachte eine Weile nach. »Hören Sie mal, Porfirij Petrowitsch, Sie sagen ja selbst, daß Sie alles auf Psychologie begründen; da sind Sie aber schon bei der Mathematik angelangt. Was, wenn Sie sich irren?« »Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so ein Endchen in der Hand. Dieses Endchen habe ich schon damals gefunden, Gott selbst hat es mir geschickt!« »Was für ein Endchen?« »Das will ich Ihnen nicht sagen, Rodion Romanowitsch. Auch habe ich jetzt in keinem Falle das Recht, die Sache noch hinauszuschieben; ich werde Sie einsperren. Überlegen Sie es sich selbst: mir ist es jetzt doch ganz einerlei, folglich tue ich es nur für Sie. Bei Gott, so wird es besser für Sie sein, Rodion Romanowitsch!« Raskolnikow lächelte gehässig. »Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist auch unverschämt. Selbst wenn ich wirklich schuldig wäre (was ich aber gar nicht sage), warum sollte ich dann Ihnen ein Geständnis ablegen, wenn Sie selbst sagen, daß ich sowieso im Zuchthause zur Ruhe komme?« »Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie doch nicht jedem Worte; vielleicht wird es auch gar keine Ruhe sein! Das ist ja bloß eine Theorie, und dazu nur eine von mir; was bin ich aber für eine Autorität für Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch etwas vor Ihnen? Ich kann doch wirklich nicht alles vor Ihnen auskramen, he-he! Die zweite Frage ist: Welchen Vorteil werden Sie davon haben? Wissen Sie denn auch, was für eine Strafermäßigung Ihnen gewährt werden kann? Bedenken Sie doch, in was für einem Augenblick Sie mit Ihrem Geständnis kommen! Ich bitte Sie! In einem Augenblick, wo schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache verwirrt hat! Ich schwöre Ihnen aber bei Gott, daß ich ›dort‹ alles so einrichten und arrangieren werde, daß Ihr Geständnis ganz unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen wir ganz streichen, alle gegen Sie vorliegenden Verdachtsmomente werde ich vernichten, so daß Ihr Verbrechen wie eine Verblendung erscheinen wird, denn, die Wahrheit zu sagen: es war wirklich eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.« Raskolnikow schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange nach und lächelte wieder; sein Lächeln war aber jetzt ganz sanft und traurig. »Ach, das ist nicht nötig!« sagte er, als ob er vor Porfirij nichts mehr verheimlichen wollte. »Es lohnt sich nicht, ich will Ihre Strafermäßigung nicht!« »Das fürchte ich eben!« rief Porfirij erregt, wie unwillkürlich. »Das fürchte ich eben, daß Sie unsere Strafermäßigung nicht wollen.« Raskolnikow sah ihn traurig und durchdringend an. »Ach, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Es steht Ihnen noch viel davon bevor. Warum wollen Sie keine Strafermäßigung, warum nicht? Was sind Sie für ein ungeduldiger Mensch!« »Wovon steht mir viel bevor?« »Vom Leben! Sind Sie denn ein Prophet, wissen Sie denn viel? Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott gerade hier erwartet. Sie werden ja auch nicht ewig an der Kette sitzen.« »Ich bekomme ja eine Ermäßigung ...« bemerkte Raskolnikow lachend. »Fürchten Sie vielleicht die bürgerliche Schande? Es ist möglich, daß Sie sie fürchten und es selbst nicht wissen, denn Sie sind noch jung! Und doch sind Sie nicht der Mensch, der es fürchten oder sich schämen sollte, mit einem Geständnis zu kommen.« »Ach, ich spucke drauf!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und angeekelt, als wollte er nicht mehr sprechen. Er war schon aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin ... »Ja, Sie spucken drauf! Sie haben jeden Glauben verloren und meinen, daß ich Ihnen roh schmeichele. Haben Sie denn schon lange gelebt? Verstehen Sie viel? Er hat sich eine Theorie zurechtgelegt und schämt sich plötzlich, daß sie zusammengestürzt ist und daß es so gar nicht originell herauskam! Es kam wirklich gemein heraus, das ist wahr, aber Sie sind trotzdem kein hoffnungsloser Schuft. Sie sind gar nicht solch ein Schuft! Sie haben sich wenigstens nicht lange an der Nase herumgeführt, sind gleich bis zu der letzten Grenze gegangen. Für was halte ich Sie denn? Ich halte Sie für einen Menschen, dem man die Gedärme herausschneiden kann, der aber ruhig dastehen und seine Peiniger lächelnd ansehen wird – wenn er nur einen Glauben oder einen Gott findet. Nun, finden Sie ihn auch, und Sie werden leben. Vor allen Dingen brauchen Sie schon längst eine Luftveränderung. Nun, das Leiden ist eine gute Sache. Nehmen Sie doch auch ein Leiden auf sich. Mikolka hat vielleicht recht, daß er nach Leiden strebt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben können; philosophieren Sie aber nicht; geben Sie sich dem Leben einfach, ohne zu grübeln hin; Sie können unbesorgt sein, es wird Sie schon an irgendein Ufer bringen und auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Wie soll ich das wissen? Ich glaube nur, daß Sie noch lange zu leben haben. Ich weiß, Sie nehmen jetzt alle meine Worte als eine auswendig gelernte Moralpredigt hin; vielleicht werden Sie sich ihrer aber erinnern und aus ihnen Nutzen ziehen; darum spreche ich auch. Es ist noch gut, daß Sie nur so eine elende Alte ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie erdacht, so wären Sie imstande, etwas hundertmillionenmal Schlimmeres zu begehen! Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es: vielleicht hebt Sie Gott für etwas auf. Seien Sie doch großherziger und fürchten Sie weniger. Fürchten Sie vielleicht die Größe der kommenden Erfüllungen? Nein, in diesem Falle sollten Sie sich schämen, zu fürchten. Wenn Sie diesen Schritt schon einmal gemacht haben, so müssen Sie sich zusammennehmen. Das verlangt die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie mal das, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben, aber bei Gott, das Leben wird Sie schon an ein Ufer bringen. Sie werden daran später auch selbst Gefallen haben. Jetzt brauchen Sie bloß Luft, Luft, Luft!« Raskolnikow fuhr sogar zusammen. »Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. »Was sind Sie für ein Prophet? Was ist das für eine majestätische Ruhe, von deren Höhe herab Sie mir Ihre weisen Prophezeiungen verkünden?« »Wer ich bin? Ein erledigter Mensch und sonst nichts. Ein Mensch, der vielleicht fühlt und mitfühlt, der vielleicht auch manches weiß, aber schon vollkommen erledigt ist. Sie sind aber eine ganz andere Nummer; Gott hat für Sie ein Leben vorbereitet (wer weiß, vielleicht wird sich bei Ihnen alles auch nur in Rauch auflösen). Nun, was macht's, daß Sie in eine andere Klasse von Menschen übergehen werden? Sie werden doch nicht den Komfort beweinen, Sie, mit Ihrem Herzen! Was macht's, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr sehen wird? Es handelt sieh doch nicht um die Zeit, sondern um Sie selbst. Werden Sie zu einer Sonne, dann werden alle Sie sehen. Die Sonne muß vor allen Dingen eine Sonne sein! Was lächeln Sie schon wieder: daß ich wie ein Schiller rede? Ich wette, Sie glauben, daß ich Ihnen wieder schmeichle! Nun, vielleicht will ich Ihnen wirklich bloß schmeicheln, he-he-he! Sie dürfen mir, Rodion Romanowitsch, vielleicht auch nicht aufs Wort glauben, Sie dürfen mir auch überhaupt nicht glauben, so ist schon mal meine Art, ich gebe es zu; aber eines will ich nur noch sagen: ob ich ein gemeiner oder ein anständiger Mensch bin, das können Sie, glaube ich, selbst entscheiden!« »Wann gedenken Sie mich zu verhaften?« »Ja, so an die anderthalb oder zwei Tage lasse ich Sie noch frei herumlaufen. Denken Sie nach, mein Liebster, beten Sie zu Gott. So ist es auch vorteilhafter, bei Gott, vorteilhafter.« »Wenn ich aber davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln. »Nein, Sie werden nicht davonlaufen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein moderner Sektierer wird davonlaufen, ein Lakai fremder Gedanken, dem man nur ein Endchen von einem Finger zu zeigen braucht, damit er alles glaubt. Sie aber glauben auch an Ihre eigene Theorie nicht mehr – womit wollen Sie dann davonlaufen? Und was sollen Sie auch auf der Flucht tun? Auf der Flucht ist das Leben widerwärtig und schwer. Sie aber brauchen Leben, Sie brauchen eine bestimmte Lage, eine entsprechende Luft; ist aber die Luft auf der Flucht was für Sie? Sie werden entlaufen und dann selbst zurückkommen. Ohne uns können Sie nicht auskommen . Wenn ich Sie aber ins Gefängnis sperre, so werden Sie einen Monat, meinetwegen auch zwei oder drei Monate sitzen und dann plötzlich – denken Sie an meine Worte – selbst mit Ihrem Geständnis kommen, vielleicht sogar für Sie selbst unerwartet. Eine Stunde vorher werden Sie vielleicht noch selbst nicht wissen, daß Sie mit dem Geständnis kommen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich entschließen werden, ›das Leiden auf sich zu nehmen‹; jetzt glauben Sie mir nicht, und doch werden Sie selbst darauf kommen. Denn das Leiden ist eine große Sache, Rodion Romanowitsch; schauen Sie jetzt nicht darauf, daß ich so verfettet bin, das macht nichts, dafür weiß ich manches; lachen Sie nicht darüber, auch im Leiden steckt eine Idee. Mikolka hat recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.« Raskolnikow erhob sich von seinem Platz und nahm die Mütze. Auch Porfirij Petrowitsch stand auf. »Sie wollen etwas spazieren gehen? Der Abend wird schön werden; daß nur kein Gewitter kommt! Übrigens wäre es sogar besser, wenn es die Luft etwas abkühlte ...« Auch er griff nach seiner Mütze. »Porfirij Petrowitsch, bilden Sie sich, bitte, ja nicht ein, daß ich Ihnen heute ein Geständnis abgelegt habe«, sagte Raskolnikow mit strenger Hartnäckigkeit. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, und ich habe Ihnen bloß aus Neugierde zugehört. Doch ich habe Ihnen nichts gestanden ... Merken Sie sich das.« »Gut, ich weiß es schon, ich werde es mir merken – sieh ihn nur einer an, wie er zittert. Seien Sie unbesorgt, mein Lieber, Ihr Wille geschehe. Spazieren Sie noch etwas frei herum, aber zu viel dürfen Sie nicht herumlaufen. Für jeden Fall habe ich noch eine Bitte an Sie,« fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, eine peinliche, aber wichtige Bitte: »für den Fall (an dessen Möglichkeit ich übrigens nicht glaube und dessen ich Sie nicht für fähig halte), für den Fall – nun für jeden Fall –, wenn es Ihnen im Laufe dieser vierzig oder fünfzig Stunden einfiele, der Sache irgendwie anders, auf eine phantastische Weise ein Ende zu machen – zum Beispiel das Händchen an sich zu legen (eine ganz unsinnige Annahme, aber Sie müssen mir schon verzeihen), so hinterlassen Sie, bitte, einen kurzen, aber ausführlichen Bericht, so an die zwei Zeilen, bloß zwei Zeilen, und erwähnen Sie auch das vom Stein; so wird es anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich wünsche Ihnen gute Gedanken und segensreiches Beginnen!« Porfirij ging seltsam geduckt hinaus und vermied scheinbar, Raskolnikow anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete gereizt und ungeduldig, bis jener auf die Straße kam und sich vom Hause entfernt hatte. Dann verließ auch er schnell das Zimmer. 3. III Er eilte zu Swidrigailow. Was er sich von diesem Menschen erhoffen konnte, das wußte er selbst nicht. Doch in diesem Menschen lag irgendeine Gewalt über ihn. Als er das einmal erkannt hatte, konnte er sich nicht mehr beruhigen; nun war auch dazu die Zeit gekommen. Unterwegs quälte ihn besonders eine Frage: ob Swidrigailow bei Porfirij gewesen war? Soweit er es beurteilen konnte, und das hätte er auch beschwören können – war er bei ihm noch nicht gewesen! Er überlegte es sich noch einmal, ließ sich die ganze Szene mit Porfirij wieder durch den Kopf gehen und kam zur Einsicht: nein, er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht! Aber wenn er noch nicht gewesen ist, wird er noch zu Porfirij hingehen oder nicht? Vorläufig schien es ihm, daß er nicht hingehen würde. Warum? Er hätte sich auch dies nicht erklären können, aber selbst wenn er es sich erklären könnte, wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies alles quälte ihn, und doch kümmerte er sich darum nicht. Es war so seltsam, und niemand würde es vielleicht glauben können, aber für sein jetziges, unmittelbar bevorstehendes Schicksal hatte er nur ein zerstreutes, schwaches Interesse. Ihn quälte etwas anderes, etwas viel Wichtigeres, etwas Außerordentliches, etwas, was ebenfalls nur ihn allein und niemand anders anging, aber etwas ganz anderes, etwas Entscheidendes. Außerdem spürte er eine grenzenlose seelische Ermattung, obwohl sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als in allen diesen letzten Tagen. Lohnte es sich aber auch jetzt, nach allem, was vorgefallen war, alle diese neuen lächerlichen Schwierigkeiten zu besiegen? Lohnte es sich zum Beispiel zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfirij gehe? zu studieren, auszukundschaften, seine Zeit zu verlieren für einen Swidrigailow? Oh, wie er dieser Dinge schon überdrüssig war! Und doch eilte er zu Swidrigailow; erwartete er von ihm vielleicht etwas Neues , einen Fingerzeig, einen Ausweg? Der Mensch greift aber manchmal auch nach einem Strohhalm! War es vielleicht das Schicksal oder irgendein Instinkt, was sie jetzt zusammenführte? Vielleicht war es nur eine Ermattung, eine Verzweiflung; vielleicht brauchte er jetzt gar nicht Swidrigailow, sondern einen andern Menschen, und Swidrigailow war ihm nur zufällig in den Weg gekommen? Ssonja? Ja, was hätte er jetzt zu Ssonja gehen sollen? Um sie wieder um ihre Tränen zu bitten? Ssonja war ihm auch schrecklich. Ssonja war für ihn ein unerbittlicher Urteilsspruch, ein unabänderlicher Entschluß. Es galt die Wahl zwischen ihrem und seinem Weg. Besonders in diesem Augenblick wäre er nicht imstande, sie zu sehen. Nein, wäre es nicht besser, Swidrigailow auf die Probe zu stellen: was an ihm sei? Und er konnte nicht umhin, sich innerlich einzugestehen, daß er Swidrigailow schon längst zu etwas brauchte. Aber was konnte zwischen ihnen Gemeinsames sein? Selbst ihre Verbrechen konnten einander nicht gleichen. Dieser Mensch war ihm außerdem unangenehm, offenbar äußerst verdorben, ganz gewiß schlau und verlogen, vielleicht auch sehr bösartig. Von ihm wurde doch manches erzählt. Allerdings hatte er sich der Kinder Katerina Iwanownas angenommen; aber wer weiß, was er damit bezweckte und was es zu bedeuten hatte? Dieser Mensch hatte immer irgendwelche Absichten und Projekte. In allen diesen Tagen ging Raskolnikow unablässig ein gewisser Gedanke durch den Kopf, der ihn furchtbar beunruhigte, obwohl er sich sogar bemühte, ihn von sich zu verscheuchen – so schwer war ihm dieser Gedanke! Er dachte sich zuweilen: Swidrigailow bemühte und bemüht sich auch jetzt noch, ständig in seiner Nähe zu sein; Swidrigailow hat sein Geheimnis erfahren; Swidrigailow hat irgendwelche Absichten gegen Dunja gehabt. Und was, wenn er sie auch jetzt noch hat? Man kann doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß er sie hat? Und was, wenn er jetzt, wo er sein Geheimnis erfahren und auf diese Weise eine Macht über ihn erhalten hat, diese Macht als eine Waffe gegen Dunja gebrauchen wird? Dieser Gedanke quälte ihn zuweilen sogar im Traume, doch nie war er ihm so deutlich zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er auf dem Wege zu Swidrigailow war. Schon dieser Gedanke allein versetzte ihn in düstere Wut. Erstens würde sich dann alles sofort verändern, sogar seine eigene Lage; darum muß er das Geheimnis sofort Dunja mitteilen. Vielleicht muß er sich auch selbst ausliefern, um Dunja von irgendeinem unbedachten Schritte zurückzuhalten. Der Brief? Dunja hat heute früh irgendeinen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe erhalten? (Vielleicht von Luschin?) Allerdings paßt da Rasumichin auf, aber Rasumichin weiß nichts. Vielleicht sollte er alles auch Rasumichin enthüllen? Dieser Gedanke war ihm widerwärtig. Jedenfalls mußte er Swidrigailow so schnell als möglich sehen, – das war sein endgültiger Entschluß. Gott sei Dank, es war hier weniger um die Einzelheiten als um den Kern der Sache zu tun; aber wenn er schon fähig ist, wenn Swidrigailow etwas gegen Dunja im Schilde führt, so ... Raskolnikow war während dieser Zeit, während des letzten Monats so müde geworden, daß er ähnliche Fragen nicht mehr anders lösen konnte als auf die eine Weise: »Dann töte ich ihn!« Das sagte er sich auch jetzt in kalter Verzweiflung, Ein unerträgliches Gefühl preßte ihm das Herz zusammen; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann sich umzusehen: welchen Weg er eingeschlagen hat und wohin er geraten ist? Er befand sich auf dem *schen Prospekt, an die dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er schon passiert hatte. Der ganze erste Stock des Hauses links von ihm war von einer Gastwirtschaft eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die an den Fenstern vorbeihuschten, war das Wirtshaus gesteckt voll. Im Saale sang ein Chor, klangen eine Klarinette, eine Geige und dröhnte eine türkische Trommel. Man hörte auch Weibergekreisch. Er wollte schon umkehren und begriff nicht, wie er auf den *schen Prospekt geraten war, als er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Wirtshauses Swidrigailow erblickte, der mit einer Pfeife im Munde hinter einem Teetischchen saß. Dies verblüffte ihn, er spürte beinahe Entsetzen. Swidrigailow beobachtete und musterte ihn schweigend und wollte, was Raskolnikow gleichfalls in Erstaunen versetzte, wie es schien, aufstehen, um sich leise und unbemerkt aus dem Staube zu machen. Raskolnikow stellte sich sofort so, als hätte er ihn gar nicht bemerkt, und blickte nachdenklich zur Seite, fuhr aber fort, ihn mit einem Augenwinkel zu beobachten. Sein Herz klopfte unruhig. Es stimmte: Swidrigailow wollte offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und schickte sich schon an, zu verschwinden; als er aber aufgestanden war und den Stuhl zur Seite geschoben hatte, merkte er wohl plötzlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Es war wieder so wie bei ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow, als er schlief. Ein schelmisches Lächeln zeigte sich auf Swidrigailows Gesicht, und es wurde immer breiter. Beide wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf. »Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er ihm aus dem Fenster zu. Raskolnikow ging in das Wirtshaus hinauf. Er fand ihn in einem sehr kleinen einfenstrigen Hinterzimmer, das an den großen Saal anstieß, in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim verzweifelten Geschrei eines Sängerchors Kaufleute, Beamte und allerlei Leute Tee tranken. Irgendwo klapperten Billardkugeln. Auf dem Tischchen vor Swidrigailow standen eine angefangene Flasche Champagner und ein halbgefülltes Glas. In dem kleinen Zimmer befanden sich noch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein kräftiges rotbackiges Mädel mit aufgestecktem Rock und einem Tiroler Hütchen mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, trotz des Chorgesanges im anderen Zimmer, zur Begleitung der Drehorgel mit einer ziemlich heiseren Kontraaltstimme irgendein Lakaienlied sang ... »Nun, genug!« unterbrach Swidrigailow sie bei Raskolnikows Erscheinen. Das Mädchen brach sofort ab und blieb in respektvoller Erwartung stehen. Auch ihr Lakaienlied hatte sie mit einer ernsten und respektvollen Miene gesungen. »He, Philipp, noch ein Glas!« rief Swidrigailow. »Ich werde nicht trinken«, sagte Raskolnikow. »Wie Sie wollen, es ist nicht für Sie. Trink, Katja! Heute brauche ich von dir nichts mehr, geh!« Er schenkte ihr ein volles Glas ein und legte einen gelben Rubelschein auf den Tisch. Katja trank das Glas auf einmal aus, wie Frauen immer zu trinken pflegen, das heißt, ohne es abzusetzen und zwanzigmal schluckend, nahm das Geld, küßte Swidrigailow die Hand, was er ihr mit höchst ernstem Gesicht gewährte, und ging aus dem Zimmer; ihr folgte auch der Junge mit der Drehorgel. Beide waren von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow befand sich noch nicht mal eine Woche in Petersburg, aber um ihn herum herrschte schon eine patriarchalische Stimmung. Auch der Wirtshauskellner Philipp war schon sein »Bekannter« und bediente ihn höchst unterwürfig. Die Tür zum großen Saal wurde geschlossen, Swidrigailow benahm sich in diesem Zimmer wie zu Hause und verbrachte hier vielleicht ganze Tage. Das Wirtshaus war schmutzig, gemein und nicht mal zweiklassig. »Ich ging zu Ihnen und suchte Sie«, begann Raskolnikow. »Warum bin ich aber jetzt vom Heumarkt in den *schen Prospekt abgebogen? Ich biege hier nie ein und komme nie her. Ich pflege vom Heumarkt immer nach rechts abzubiegen. Der Weg zu Ihnen führt hier auch gar nicht vorbei. Kaum bog ich ein, als ich Sie sofort erblickte! Das ist doch seltsam!« »Warum sagen Sie nicht gleich: es ist ein Wunder?« »Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.« »Was für eine merkwürdige Art haben all diese Leute!« sagte Swidrigailow, laut auflachend. »Er will nicht zugeben, selbst wenn er innerlich an ein Wunder glaubt! Sie sagen ja selbst, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall sei. Wie sie hier alle fürchten, ihre eigene Meinung zu haben, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch! Ich meine nicht Sie. Sie haben wohl eine eigene Meinung und fürchten nicht, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse geweckt.« »Sonst durch nichts?« »Das genügt doch schon allein.« Swidrigailow war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein wenig. Vom Champagner hatte er nur ein halbes Glas getrunken. »Mir scheint, Sie kamen zu mir das erste Mal, noch ehe Sie erfahren hatten, ob ich fähig sei, das, was Sie eine eigene Meinung nennen, zu haben«, bemerkte Raskolnikow. »Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Und was das Wunder betrifft, so will ich Ihnen sagen, daß Sie die letzten zwei oder drei Tage wohl verschlafen haben. Ich habe Ihnen selbst dieses Wirtshaus genannt, und es ist also gar kein Wunder dabei, daß Sie hergekommen sind: ich habe Ihnen selbst den Weg erklärt, die Stelle angegeben, wo es sich befindet, und die Stunden, wo ich hier zu treffen bin. Wissen Sie es noch?« »Ich habe es vergessen«, sagte Raskolnikow erstaunt. »Das glaube ich. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnis rein mechanisch eingeprägt. Sie haben diesen Weg mechanisch eingeschlagen, streng nach der Adresse, ohne es selbst zu wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, hoffte ich gar nicht, daß Sie mich verstehen würden. Sie verraten sich allzusehr, Rodion Romanowitsch. Und dann noch eins: ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Menschen gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. Wenn es bei uns Wissenschaften gäbe, so hätten die Mediziner, Juristen und Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen können, ein jeder in seinem Fache. Selten wo gibt es so viel düstere, scharfe und sonderbare Einflüsse auf die Menschenseele wie in Petersburg. Was sind schon die klimatischen Einflüsse allein wert! Dabei ist Petersburg das administrative Zentrum Rußlands, und sein Charakter muß überall zum Ausdruck kommen. Es handelt sich aber nicht darum, sondern, daß ich Sie schon einigemal von der Seite beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Aber nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn sinken und verschränken die Hände im Rücken. Sie schauen vor sich und scheinen doch weder vor sich noch neben sich etwas zu sehen. Zuletzt fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie eine Hand freimachen und deklamieren; endlich bleiben Sie auch lange mitten auf der Straße stehen. Das ist sehr übel. Vielleicht beobachtet Sie auch jemand außer mir, und das wäre sehr unvorteilhaft. Mir ist es im Grunde genommen ganz gleich, und ich werde Sie nicht kurieren, aber Sie verstehen mich natürlich.« »Und Sie wissen, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikow und sah ihn prüfend an. »Nein, ich weiß nichts«, antwortete Swidrigailow wie erstaunt. »Nun, dann wollen wir mich aus dem Spiele lassen«, murmelte Raskolnikow düster. »Gut, lassen wir Sie aus dem Spiele.« »Sagen Sie mir lieber folgendes: Wenn Sie herkommen, um zu trinken und mich selbst zweimal herbestellt haben, warum versuchten Sie dann jetzt, als ich von der Straße durchs Fenster hereinsah, sich zu verstecken, und wollten weggehen? Ich habe es sehr gut bemerkt.« »He-he! Und warum lagen Sie, als ich auf der Schwelle stand, mit geschlossenen Augen auf Ihrem Sofa und stellten sich schlafend, während Sie gar nicht schliefen? Ich habe es sehr gut bemerkt.« »Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.« »Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht wissen.« Raskolnikow stemmte den rechten Ellenbogen gegen den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn und sah Swidrigailow unverwandt an. Eine Minute lang betrachtete er dieses Gesicht, das ihn auch früher schon in Staunen gesetzt hatte. Dieses merkwürdige Gesicht erinnerte irgendwie an eine Maske: weiß, rotwangig mit hellroten Lippen, mit hellblondem Vollbart und noch ziemlich dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu schwer und unbeweglich. Etwas furchtbar Unangenehmes lag in diesem hübschen und für sein Alter auffallend jugendlichen Gesicht. Swidrigailows Kleidung war elegant, sommerlich und leicht, besonders viel schien er auf elegante Wäsche zu geben. An einem Finger trug er einen großen Ring mit wertvollem Stein. »Soll ich mich denn auch noch mit Ihnen plagen?« sagte plötzlich Raskolnikow, mit krampfhafter Ungeduld den geraden Weg einschlagend. »Sie sind vielleicht auch der gefährlichste Mensch, wenn es Ihnen einfällt, mir zu schaden, aber ich möchte nicht noch länger Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich um mich selbst gar nicht so besorgt bin, wie Sie wohl annehmen. Hören Sie also: Ich bin gekommen, um Ihnen offen zu erklären, daß, wenn Sie Ihre früheren Absichten gegenüber meiner Schwester noch verfolgen und dabei etwas von dem, was Sie in der jüngsten Zeit erfahren haben, auszunützen gedenken, ich Sie töten werde, bevor Sie mich ins Zuchthaus bringen. Mein Wort ist zuverlässig, Sie wissen, daß ich es wirklich halten werde. Und zweitens, wenn Sie mir irgend etwas erklären wollen – mir schien die ganze Zeit, daß Sie mir etwas sagen möchten –, so erklären Sie es mir schnell, denn die Zeit ist kostbar, und vielleicht wird es sehr bald zu spät sein.« »Wohin eilen Sie denn so?« fragte Swidrigailow, ihn neugierig betrachtend. »Ein jeder hat seine Wege«, versetzte Raskolnikow düster und ungeduldig. »Sie haben mich doch eben selbst zu Offenherzigkeit herausgefordert und wollen schon meine erste Frage nicht beantworten«, bemerkte Swidrigailow mit einem Lächeln. »Sie glauben immer, daß ich irgendwelche Ziele verfolge, und betrachten mich darum argwöhnisch. Nun, in Ihrer Lage ist es ja vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünschte, Ihnen näherzukommen, werde ich mich doch nicht der Mühe unterziehen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Bei Gott, das Spiel ist nicht die Kerzen wert, und ich hatte auch nicht die Absicht, mich mit Ihnen über etwas Besonderes zu unterhalten.« »Wozu brauchen Sie mich dann? Sie scherwenzeln doch die ganze Zeit um mich herum!« »Sie interessierten mich einfach als ein Beobachtungsobjekt. Sie gefielen mir durch das Phantastische Ihrer Lage, das ist es! Außerdem sind Sie der Bruder der Person, die mich sehr interessierte, und schließlich habe ich von derselben Person seinerzeit sehr viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie auf sie einen großen Einfluß haben; genügt denn das noch nicht? He-he-he! Übrigens muß ich gestehen, daß Ihre Frage für mich sehr kompliziert ist und es mir schwer fällt, sie Ihnen zu beantworten. Zum Beispiel: Sie sind doch jetzt zu mir nicht bloß in der gewissen Angelegenheit gekommen, sondern Sie wollen auch etwas Neues hören. Nicht wahr? Nicht wahr?« sagte Swidrigailow eindringlich, mit einem listigen Lächeln. »Nun, denken Sie sich: ich selbst rechnete während meiner Reise hierher im Eisenbahnwagen darauf, daß auch Sie mir etwas Neues sagen werden und daß es mir gelingen wird, von Ihnen etwas zu profitieren! Sehen Sie, so reich sind wir beide!« »Was denn profitieren?« »Was soll ich darauf sagen? Weiß ich denn, was? Sehen Sie doch, in was für einer Spelunke ich die ganze Zeit sitze, und das ist mir ein Genuß, das heißt: weniger ein Genuß, aber der Mensch muß doch irgendwo sitzen. Nehmen wir zum Beispiel diese arme Katja, Sie haben sie doch gesehen? ... Wäre ich doch wenigstens ein Vielfraß, ein Klubmensch und Feinschmecker, aber ich bin imstande, auch solche Sachen zu essen! (Er zeigte mit dem Finger in die Ecke, wo auf einem kleinen Tischchen ein Blechteller mit den Resten eines entsetzlichen Beefsteaks mit Kartoffeln stand.) Übrigens, haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich habe schon einige Bissen heruntergeschluckt und will nicht mehr. Wein zum Beispiel trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen, und auch davon trinke ich im Laufe eines ganzen Abends nur ein einziges Glas, und das macht mir Kopfweh. Jetzt ließ ich mir die Flasche bringen, nur um mich etwas zu stärken, denn ich muß irgendwohin gehen, und Sie sehen mich in einer ganz besonderen Geistesverfassung. Darum versteckte ich mich vorhin wie ein Schuljunge, weil ich glaubte, Sie würden mich stören; aber ich denke (er holte seine Uhr hervor), daß ich mit Ihnen noch eine Stunde bleiben kann, jetzt ist es halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich doch irgendwas wäre, ein Gutsbesitzer, meinetwegen ein Familienvater, ein Ulan, ein Photograph, ein Journalist ... aber ich bin nichts, habe gar keine Spezialität! Manchmal langweilt mich das. Wirklich, ich glaubte, Sie würden mir etwas Neues erzählen.« »Wer sind Sie denn und warum sind Sie nach Petersburg gekommen?« »Wer ich bin? Sie wissen doch: ich bin adlig, habe zwei Jahre in der Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe dann Marfa Petrowna geheiratet und mit ihr auf dem Lande gelebt. Das ist meine Biographie!« »Ich glaube, Sie sind ein Spieler?« »Nein, was bin ich für ein Spieler! Ein Falschspieler ist doch kein Spieler.« »Waren Sie denn Falschspieler?« »Ja, ich war auch Falschspieler.« »Nun, haben Sie auch Prügel bekommen?« »Es kam wohl vor. Warum?« »Nun, man hätte Sie also auch zum Duell fordern können ... und überhaupt macht es das Leben bewegter.« »Ich widerspreche Ihnen nicht und bin auch kein Meister im Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, ich bin hauptsächlich wegen der Weiber hergekommen.« »Gleich nachdem Sie Marfa Petrowna beerdigt haben?« »Nun ja«, antwortete Swidrigailow und lächelte mit einer Offenheit, die einen entwaffnete. »Was ist denn dabei? Mir scheint, Sie halten es für schlecht, daß ich von den Weibern so rede?« »Das heißt, ob ich die Ausschweifung für gut oder schlecht halte?« »Die Ausschweifung! So beurteilen Sie es also! Übrigens will ich Ihnen alles der Reihe nach beantworten, zuerst also über die Frauen im allgemeinen; wissen Sie, ich habe gerade Lust, zu plaudern. Sagen Sie mir, bitte, wozu soll ich mich beherrschen? Warum soll ich die Weiber aufgeben, wenn ich großer Liebhaber von ihnen bin? Es ist doch jedenfalls eine Beschäftigung.« »Also setzen Sie alle Ihre Hoffnungen auf die Ausschweifung?« »Nun, warum nicht –, meinetwegen auf die Ausschweifung! Wie Sie sich auf dieses Wort versessen haben! Ja, ich liebe jedenfalls eine offene Frage. In dieser Ausschweifung ist wenigstens etwas Beständiges, das in der Natur begründet und der Phantasie nicht unterworfen ist, etwas, was im Blute ständig wie Kohlenglut glimmt, was ewig anfeuert und sich vielleicht auch mit den Jahren nicht so schnell auslöschen läßt. Sie werden doch zugeben, daß es eine Art Beschäftigung ist?« »Was freuen Sie sich darüber? Es ist eine Krankheit, und zwar eine gefährliche.« »Ah, da wollen Sie hinaus! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, ebenso wie alles, was über das Maß hinausgeht; darin muß man aber unbedingt über das Maß hinausgehen. Aber das ist, erstens, bei dem einen so und bei dem anderen anders und, zweitens, muß man in allen Dingen Maß halten, und wenn es auch gemein ist, aber was soll man machen? Wäre das nicht, so müßte man sich vielleicht gar erschießen. Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch die Pflicht hat, sich zu langweilen, aber immerhin ...« »Wären Sie imstande, sich zu erschießen?« »Ach, warum nicht gar!« erwiderte Swidrigailow wie angeekelt. »Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon«, fügte er hastig und sogar ohne jede Großtuerei hinzu, die sich in allen seinen früheren Worten zeigte. Sogar sein Gesicht schien verändert. »Ich will die unverzeihliche Schwäche eingestehen, aber was soll ich tun; ich fürchte den Tod und liebe es nicht, wenn man von ihm spricht. Wissen Sie, daß ich zum Teil auch Mystiker bin?« »Aha! Die Erscheinungen Marfa Petrownas! Nun, besucht sie Sie immer noch?« »Ach, reden Sie lieber nicht davon; in Petersburg habe ich noch keine Erscheinungen gehabt, hol sie der Teufel!« rief er eigentümlich gereizt. »Nein, wollen wir lieber davon ... ja, übrigens ... Hm! Schade, daß ich so wenig Zeit habe und mit Ihnen nicht lange bleiben kann, schade! Ich hätte Ihnen schon manches mitzuteilen.« »Was ist es denn, eine Weibergeschichte?« »Ja, eine Weibergeschichte, eine ganz zufällige Sache ... nein, ich meine nicht das.« »Nun, und das Abstoßende dieser ganzen Umgebung wirkt auf Sie schon gar nicht mehr? Haben Sie schon die ganze Kraft verloren, sich Halt zu gebieten?« »Und Sie glauben wohl, daß Sie die Kraft haben? He-he! Ich mußte mich über Sie eben wundern, Rodion Romanowitsch, obwohl ich schon vorher wußte, daß es so kommen wird. Sie reden noch von der Ausschweifung und von der Ästhetik! Sie sind ein Schiller, Sie sind ein Idealist! Natürlich muß das alles so sein, und man sollte sich wundern, wenn es anders wäre; und doch ist es in Wirklichkeit so seltsam ... Ach, schade, daß ich so wenig Zeit habe, denn Sie sind ein höchst interessantes Subjekt! Übrigens, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn schrecklich.« »Was sind Sie doch für ein Großtuer!« sagte Raskolnikow mit einigem Widerwillen. »Bei Gott, ich bin es nicht!« antwortete Swidrigailow mit lautem Lachen. »Ich will nicht streiten, mag ich ein Großtuer sein; warum soll man es auch nicht sein, wenn es so harmlos ist? Ich habe sieben Jahre bei Marfa Petrowna auf dem Lande gelebt und bin darum froh, etwas plaudern zu können, da ich auf einen so klugen Menschen wie Sie gestoßen bin, auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen; außerdem habe ich dieses halbe Glas Champagner getrunken, und es ist mir ein wenig zu Kopfe gestiegen. Vor allen Dingen gibt es einen Umstand, der mich sehr erregt hat, den ich aber ... verschweigen werde. Wo wollen Sie denn hin?« fragte Swidrigailow plötzlich erschrocken. Raskolnikow schickte sich an, aufzustehen. Es war ihm so schwül und schwer und peinlich zumute, daß er hergekommen war. Von Swidrigailow hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er der hohlste und flachste Schurke in der ganzen Welt sei. »Ach! Bleiben Sie noch da«, bat ihn Swidrigailow. »Und lassen Sie sich wenigstens Tee bringen. Nun, bleiben Sie da, ich werde keinen Unsinn mehr schwatzen, das heißt: über mich. Ich will Ihnen etwas erzählen. Nun, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wie mich eine Frau, wie Sie es so nennen, ›retten‹ wolltet Das wird eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, denn diese Person ist Ihre Schwester. Darf ich es erzählen? So schlagen wir auch die Zeit tot.« »Erzählen Sie; aber ich hoffe, daß Sie ...« »Oh, machen Sie sich keine Sorgen! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar in einem so schlechten und hohlen Menschen, wie ich, bloß die tiefste Achtung wecken.« 4. IV »Sie wissen vielleicht (ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt),« begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer ungeheuren Schuld im Gefängnis saß und nicht die geringsten Aussichten hatte, sie zu bezahlen. Es lohnt sich nicht, mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie mich damals Marfa Petrowna loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Bewußtlosigkeit eine Frau zuweilen lieben kann? Sie war eine ehrliche, gar nicht dumme, wenn auch vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich nur vor: Diese selbe eifersüchtige und ehrliche Frau hatte sich nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen und Vorwürfen entschlossen, mit mir eine Art Vertrag zu schließen, den sie während unserer ganzen Ehe einhielt. Sie war nämlich bedeutend älter als ich und trug außerdem immer eine Gewürznelke im Munde. Ich hatte in meiner Seele so viel Gemeinheit und zugleich Ehrlichkeit, daß ich ihr geradeaus erklärte, ich würde ihr unmöglich ganz treu bleiben können. Dieses Geständnis machte sie rasend, aber meine rohe Offenheit schien ihr gefallen zu haben. – ›Also will er mich nicht betrügen,‹ dachte sie sich wohl, ›wenn er es mir selbst im voraus erklärt‹; für eine eifersüchtige Frau ist es aber das Wichtigste. Nach vielen Tränen wurde dann zwischen uns folgender mündliche Vertrag geschlossen: Erstens werde ich Marfa Petrowna nie verlassen und immer ihr Mann bleiben; zweitens werde ich ohne ihre Erlaubnis niemals verreisen; drittens werde ich mir nie eine ständige Geliebte halten; viertens erlaubt mir Marfa Petrowna dafür zuweilen, mich an einem Dienstmädchen zu vergreifen, doch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens soll mich Gott behüten, mich in eine Frau von unserem Stande zu verlieben; sechstens muß ich, wenn ich, Gott behüte, in einer großen und ernsten Leidenschaft entbrenne, es sofort Marfa Petrowna eröffnen. In bezug auf diesen letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau und konnte mich daher für nichts anderes als für einen verdorbenen und leichtsinnigen Menschen halten, der gar nicht imstande ist, sich ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau sind zwei verschiedene Dinge, und das ist eben das ganze Unglück. Übrigens, um über manche Menschen vorurteilslos urteilen zu können, muß man vorher manche voreingenommenen Ansichten und die alltägliche Gewöhnung an die uns vertrauten Menschen und Gewohnheiten aufgeben. Ich habe wohl recht, von Ihrem Urteil mehr zu erhoffen als von dem irgendeines anderen Menschen. Vielleicht haben Sie über Marfa Petrowna schon sehr viel Lächerliches und Unsinniges gehört. Sie hatte in der Tat manche komischen Angewohnheiten; aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich den vielen Kummer, den ich ihr zugefügt habe, aufrichtig bedaure. Nun, das genügt wohl für eine sehr anständige oraison funėbre auf die zärtlichste Frau vom zärtlichsten Manne. Wenn es zu Streitigkeiten zwischen uns kam, schwieg ich meistenteils und kam nicht aus der Fassung, und dieses ritterliche Benehmen führte meistens zum Ziel; es machte Eindruck auf sie und gefiel ihr gut; es gab sogar Fälle, wo sie auf mich stolz war. Aber das mit Ihrer Schwester konnte sie dennoch nicht ertragen. Wie war es nur möglich, daß sie es riskierte, solch, eine Schönheit als Gouvernante zu sich ins Haus zu nehmen! Das erkläre ich damit, daß Marfa Petrowna eine feurige und begeisterungsfähige Frau war und sich in Ihre Schwester selbst verliebt hatte – buchstäblich verliebt. Aber auch Awdotja Romanowna war gut! Ich verstand es sehr gut auf den ersten Blick, daß die Sache gefährlich ist und ... – was glauben Sie? – ich entschloß mich selbst, sie gar nicht anzusehen. Aber Awdotja Romanowna machte selbst den ersten Schritt, ob Sie es mir glauben oder nicht. Werden Sie mir glauben, daß Marfa Petrowna mir anfangs sogar zürnte, weil ich mich über Ihre Schwester immer ausschwieg und die ständigen verliebten Urteile meiner Frau über Awdotja Romanowna so gleich gültig hinnahm? Ich verstehe gar nicht, was sie wollte. Selbstverständlich erzählte Marfa Petrowna Ihrer Schwester mein ganzes Vorleben mit allen Einzelheiten. Sie hatte diese unglückliche Angewohnheit, alle Menschen in unsere Familiengeheimnisse einzuweihen und sich bei allen über mich zu beklagen; wie sollte sie da auch nicht die neue schöne Freundin in alles einweihen? Ich nehme an, daß sie überhaupt von nichts anderem sprachen als von mir, und Awdotja Romanowna erfuhr wohl zweifellos alle jene finsteren, geheimnisvollen Märchen, die man mir zuschreibt ... Ich wette, daß Sie schon etwas Derartiges gehört haben?« »Ich habe gehört. Luschin beschuldigte Sie sogar, daß Sie den Tod eines Kindes verursacht hätten. Ist es wahr?« »Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie mir nicht mit diesen Dummheiten«, entgegnete Swidrigailow widerwillig und angeekelt. »Wenn Sie unbedingt etwas über diesen ganzen Unsinn hören wollen, so werde ich es Ihnen einmal erzählen, aber jetzt ...« »Man erzählte sich auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten und bei dem Sie gleichfalls etwas verschuldet haben.« »Tun Sie mir den Gefallen – genug davon!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtbarer Ungeduld. »Ist es nicht derselbe Diener, der zu Ihnen nach seinem Tode kam, um die Pfeife zu stopfen? ... Sie haben mir sogar selbst schon davon erzählt!« fuhr Raskolnikow immer gereizter fort. Swidrigailow sah Raskolnikow aufmerksam an, und jenem kam es vor, als ob in diesem Blicke blitzschnell ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich: »Ja, es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich interessiert, und darum werde ich es für meine Pflicht halten, Ihre Neugier bei der ersten passenden Gelegenheit in allen Punkten zu befriedigen. Zum Teufel! Ich sehe, daß ich manchem Menschen tatsächlich als eine Romanfigur erscheinen kann. Nun können Sie sich nach alledem selbst denken, wie ich der verstorbenen Marfa Petrowna dankbar sein muß, daß sie Ihrer Schwester so viel Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hat. Ich wage nicht, über den Eindruck zu urteilen, aber es war für mich jedenfalls sehr vorteilhaft. Bei der natürlichen Abscheu Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines immer finsteren und abstoßenden Aussehens tat ich ihr schließlich leid; ich tat ihr leid als ein verlorener Mensch. Und wenn ein junges Mädchen in ihrem Herzen Mitleid hat, so ist es für sie am gefährlichsten. Dann will sie unbedingt ›retten‹ und überzeugen und zum neuen Leben auferwecken und zu edleren Zielen anspornen, zu einer neuen Tätigkeit rufen – nun, man weiß ja, was man sich in dieser Art alles einbilden kann. Ich merkte sofort, daß das Vöglein selbst ins Netz fliegt, und machte mich auch meinerseits bereit. Mir scheint, Sie ziehen Ihre Stirn kraus, Rodion Romanowitsch? Tut nichts, wie Sie wissen, hatte die Sache keine ernsten Folgen. (Zum Teufel, wieviel Wein ich jetzt trinke!) Wissen Sie, ich bedauerte immer, von Anfang an, daß das Schicksal es Ihrer Schwester versagt hat, im zweiten oder dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung irgendwo als die Tochter eines kleinen Fürsten oder Regenten oder Prokonsuls in Kleinasien zur Welt zu kommen. Sie wäre zweifellos eine von jenen, die das Martyrium erduldeten, und hätte natürlich gelächelt, wenn man ihr die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dieses Los selbst erwählt, aber im vierten oder fünften Jahrhundert wäre sie in die Ägyptische Wüste gegangen und hätte dort dreißig Jahre lang von Wurzeln, Verzückungen und Visionen gelebt. Sie lechzt und verlangt bloß danach, für irgend jemand ein Martyrium auf sich zu nehmen, und wenn man ihr dieses Martyrium nicht gibt, so ist sie imstande, aus dem Fenster zu springen. Ich habe etwas von irgendeinem Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche (worauf auch sein Familienname hindeutet, wahrscheinlich kommt er aus einem geistlichen Seminar); soll er nur Ihre Schwester beschützen. Mit einem Wort, ich glaube sie durchschaut zu haben und rechne es mir auch als Ehre an. Aber damals, das heißt zu Beginn einer Bekanntschaft ist man immer, wie Sie wohl wissen, leichtsinniger und dümmer; man hat eine falsche Vorstellung von den Dingen und sieht nicht das Richtige. Zum Teufel, warum ist sie auch so schön? Das ist nicht meine Schuld! Mit einem Wort, es fing bei mir mit einer sehr starken wollüstigen Erregung an. Awdotja Romanowna ist furchtbar keusch, sie ist es in einem unerhörten und noch nie dagewesenen Maße. (Beachten Sie, bitte, ich teile Ihnen dies über Ihre Schwester als eine Tatsache mit. Sie ist vielleicht krankhaft keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und das kann ihr schaden.) Da tauchte bei uns ein Mädchen auf, eine gewisse Parascha, die schwarzäugige Parascha, die man erst eben aus einem anderen Dorfe zu uns gebracht hatte, ein Dienstmädchen, das ich bisher noch nie gesehen hatte, sehr hübsch, aber unglaublich dumm: sie fing gleich zu weinen an, heulte, daß man es im Hofe hörte, und so kam es zu einem Skandal. Awdotja Romanowna suchte mich eines Tages nach dem Essen absichtlich allein in einer Allee im Garten auf und forderte von mir mit brennenden Augen, daß ich die arme Parascha in Ruhe lasse. Das war, glaube ich, unser erstes Gespräch unter vier Augen. Ich hielt es natürlich für eine Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, gab mir Mühe, mich überrascht und verlegen zu stellen, und spielte, mit einem Wort, meine Rolle gar nicht schlecht. Nun begannen Beziehungen, geheimnisvolle Unterredungen, Moralpredigten, Belehrungen, Bitten, Flehen und sogar Tränen, glauben Sie mir, sogar Tränen! Solche Ausmaße kann bei manchem jungen Mädchen die Leidenschaft zur Propaganda annehmen! Ich schob selbstverständlich die ganze Schuld auf mein Schicksal, stellte mich als nach Erleuchtung lechzend und dürstend und wandte schließlich das sicherste und erfolgreichste Mittel, Frauenherzen zu erobern, an, ein Mittel, das niemals und bei niemand versagt und auf jede Frau ohne Ausnahme wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel: die Schmeichelei. Es gibt in der Welt nichts Schwierigeres als Offenheit und nichts Leichteres als Schmeichelei. Wenn in der Offenheit auch nur ein Hundertstel Lüge steckt, so entsteht sofort eine Dissonanz, und die führt zu einem Skandal. Wenn aber in der Schmeichelei sogar alles Lüge ist, selbst dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen angehört; und wenn es auch ein rohes Vergnügen ist, ein Vergnügen bleibt es doch. Wie roh die Schmeichelei auch ist, sie wird doch immer mindestens zur Hälfte als Wahrheit hingenommen. Das gilt für alle Bildungsstufen und für alle Gesellschaftsklassen. Selbst eine Vestalin kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen rede ich schon gar nicht. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, wie ich mal eine ihrem Manne, ihren Kindern und ihren Tugenden ergebene Dame verführte. Wie lustig es war, und wie wenig Arbeit es mich kostete! Die Dame war aber wirklich tugendhaft, wenigstens in ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick den Erdrückten markierte und vor ihrer Keuschheit in den Staub fiel. Ich schmeichelte ihr gottlos, und so oft ich von ihr einen Händedruck oder sogar nur einen Blick errang, machte ich mir Verwürfe, daß ich ihn ihr mit Gewalt geraubt habe, daß sie mir Widerstand geleistet hätte; daß ich sicher nichts bekommen hätte, wenn ich nicht selbst so lasterhaft wäre; daß sie in ihrer Unschuld meine Tücke nicht durchschaut habe und unabsichtlich, ohne es zu wissen und zu ahnen, nachgegeben hätte, und dergleichen mehr. Mit einem Wort, ich erreichte bei ihr alles, aber meine Dame blieb im höchsten Maße davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch sei, daß sie alle Pflichten und Gebote erfülle und nur ganz zufällig gestrauchelt sei. Und wie wütend wurde sie, als ich ihr zuguterletzt erklärte, daß sie meiner aufrichtigen Überzeugung nach gleich mir nur einen Genuß gesucht habe. Auch die arme Marfa Petrowna fiel furchtbar leicht auf Schmeichelei herein, und wenn ich es nur wollte, hätte ich sicher ihr ganzes Vermögen noch bei ihren Lebzeiten auf meinen Namen umschreiben können. (Aber ich trinke so viel und schwatze.) Ich hoffe, Sie werden mir nicht böse werden, wenn ich jetzt erwähne, daß der gleiche Effekt sich auch bei Awdotja Romanowna zu zeigen begann. Aber ich war dumm und verdarb die ganze Sache. Awdotja Romanowna hatte schon einigemal früher (und einmal ganz besonders) eine furchtbare Abneigung gegen den Ausdruck meiner Augen gezeigt; können Sie es glauben? Mit einem Wort, in meinen Augen leuchtete immer stärker und unvorsichtiger ein gewisses Feuer auf, das ihr Angst machte und das sie schließlich zu hassen anfing. Es lohnt sich nicht, alle Einzelheiten zu erzählen, aber kurz und gut, wir gingen auseinander. Da machte ich wieder eine Dummheit. Ich fing nämlich an, mich in der rohesten Weise über ihre Propaganda und Bekehrungsversuche lustigzumachen: Parascha kam wieder auf die Bildfläche, und nicht allein sie; mit einem Wort, es begann ein wahres Sodom. Ach, Rodion Romanowitsch, wenn Sie doch nur einmal im Leben die Augen Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen brennen können! Es macht doch nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas geleert habe: ich spreche die Wahrheit; ich versichere Ihnen, daß ich von diesen Blicken träumte und das Rascheln ihres Kleides schließlich gar nicht mehr ertragen konnte. Wirklich, ich glaubte, daß ich die Fallsucht bekäme; nie hatte ich mir vorgestellt, daß ich in eine solche Raserei geraten könnte. Mit einem Wort, ich mußte mich mit ihr aussöhnen; das war aber nicht mehr möglich. Denken Sie sich nur, was ich dann tat! Wie stumpfsinnig kann doch die Raserei den Menschen machen! Unternehmen Sie nichts im Zustande von Raserei, Rodion Romanowitsch. Ich ging davon aus, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen eine Bettlerin ist (ach, entschuldigen Sie, ich wollte etwas anderes sagen ... aber ist es nicht ganz gleich, wenn es den gleichen Begriff wiedergibt?), mit einem Wort, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, daß sie ihre Mutter und auch Sie zu erhalten hat (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder das Gesicht ...) – und entschloß mich, ihr mein ganzes Geld anzubieten (ich konnte damals etwa dreißigtausend Rubel flüssig machen), damit sie mit mir meinetwegen hierher nach Petersburg flieht. Natürlich würde ich ihr ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen geschworen haben. Glauben Sie es mir: ich war damals so vernarrt, daß, wenn sie mir gesagt hätte: ›Ermorde oder vergifte Marfa Petrowna und heirate mich‹, ich es sofort getan hätte! Alles endete aber mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie werden nun selbst beurteilen können, wie wütend ich wurde, als ich erfuhr, daß Marfa Petrowna diesen gemeinen Federfuchser Luschin aufgegabelt und beinahe eine Heirat gedeichselt hatte, was im Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was ich ihr anbot. Ist es nicht so? Es stimmt doch? Ich sehe, daß Sie angefangen haben, mir sehr aufmerksam zuzuhören ... Sie interessanter junger Mann ...« Swidrigailow schlug ungeduldig mit der Faust auf den Tisch. Er war ganz rot geworden. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine oder die anderthalb Glas Champagner, die er unmerklich in kleinen Schlucken getrunken, auf ihn krankhaft gewirkt hatten, und er beschloß, diese Gelegenheit auszunützen. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor. »Nun, nach alledem bin ich vollkommen überzeugt, daß Sie meiner Schwester wegen hergekommen sind«, sagte er Swidrigailow geradeaus und ohne sich zu verstellen, um ihn noch mehr zu reizen. »Ach, hören Sie auf!« sagte Swidrigailow, gleichsam zur Besinnung kommend. »Ich sagte Ihnen ja schon ... und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.« »Ja, davon bin auch ich überzeugt, daß sie Sie nicht leiden kann; es handelt sich jetzt aber nicht darum.« »Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« (Swidrigailow kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch.) »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Garantie in Dingen, die zwischen einem Gatten und einer Gattin oder zwischen einem Liebhaber und einer Geliebten passiert sind. Es gibt darin immer einen Winkel, der der ganzen Welt unbekannt bleibt und den nur die beiden allein kennen. Bürgen Sie dafür, daß Awdotja Romanowna mich wirklich mit Abscheu angesehen hat?« »Aus einigen Worten und Redensarten in Ihrer Erzählung schließe ich, daß Sie auch jetzt noch Absichten, die Sie unverzüglich verwirklichen wollen, gegen Dunja haben, und zwar höchst gemeine Absichten.« »Wie? Mir sind solche Worte und Redensarten entschlüpft?« rief Swidrigailow mit höchst naivem Erstaunen, ohne dem seinen Absichten zugeschriebenen Epitheton irgendeine Beachtung zu schenken. »Sie entschlüpfen Ihnen auch jetzt. Was fürchten Sie denn so? Worüber sind Sie plötzlich so erschrocken?« »Ich fürchte mich und bin erschrocken? Vielleicht vor Ihnen? Viel eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, cher ami! Was für ein Unsinn! ... Ich bin übrigens betrunken, ich sehe es; um ein Haar hätte ich mich wieder versprochen. Zum Teufel den Champagner! He, Wasser!« Er ergriff die Flasche und schmiß sie ohne jede Rücksicht zum Fenster hinaus. Philipp brachte Wasser. »Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, indem er ein Handtuch naß machte und es sich an den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte umwerfen und Ihren ganzen Verdacht zu Staub machen. Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?« »Das haben Sie mir auch schon früher gesagt.« »Ich habe es gesagt? Dann habe ich es vergessen. Damals aber konnte ich noch nichts Positives sagen, denn ich hatte die Braut noch gar nicht gesehen; ich trug mich bloß mit der Absieht herum. Nun, und jetzt habe ich schon eine Braut, und die ganze Sache ist abgeschlossen; hätte ich jetzt nicht andere dringende Geschäfte vor, so würde ich Sie unbedingt sofort mitnehmen und zu meiner Braut bringen – denn ich möchte Sie um Ihren Rat fragen. Ach, zum Teufel! Es bleiben mir nur noch zehn Minuten. Sehen Sie, hier ist die Uhr; übrigens will ich es Ihnen erzählen, denn meine Heirat ist eine interessante Sache, ich meine, in ihrer Art, – wo wollen Sie hin? Wollen Sie wieder gehen?« »Nein, jetzt gehe ich nicht mehr fort.« »Sie wollen gar nicht mehr fort? Wir wollen sehen! Ich werde Sie hinbringen und Ihnen die Braut zeigen, doch nicht jetzt, denn Sie müssen bald gehen. Sie gehen nach rechts und ich nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Dieselbe Rößlich, bei der ich jetzt wohne? Hören Sie es? Nein, was denken Sie sich bloß, es ist dieselbe, von der man sich erzählt, daß das kleine Mädchen, im Wasser, zur Winterszeit ... nun, hören Sie es? Hören Sie es? Sie hat mir auch diese ganze Sache gedeichselt. Sie sagte mir: Du langweilst dich, zerstreue dich ein wenig. Ich bin aber ein finsterer und langweiliger Mensch. Sie glauben wohl, ich sei lustig? Nein, ich bin finster; ich tue niemand was zu leide, sitze aber in einer Ecke und bin zuweilen drei Tage nicht zum Sprechen zu bringen. Diese Rößlich ist aber eine geriebene Bestie, sage ich Ihnen; sie denkt sich wohl, ich fange mich wieder zu langweilen an, lasse die Frau sitzen und fahre fort, die Frau wird aber dann ihr zufallen, und sie wird sie in Verkehr bringen, das heißt, in unseren Kreisen und noch höher hinauf. Es gibt, sagte sie mir, einen gelähmten Vater, einen ehemaligen Beamten, der in einem Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht bewegen kann. Es gibt, sagt sie mir, auch eine Mama, eine höchst vernünftige Dame. Der Sohn sitzt irgendwo in der Provinz und hilft ihnen nicht. Eine Tochter ist verheiratet und kommt nie zu den Eltern; dafür sitzen ihnen zwei kleine Neffen auf dem Halse (als ob sie nicht genug an den eigenen Kindern hätten), und sie haben ihre jüngste Tochter aus der Töchterschule genommen, die sie noch gar nicht absolviert hat; die wird in einem Monat erst sechzehn Jahre alt, also kann man sie in einem Monat verheiraten. Das heißt, mit mir. Wir gingen einmal hin; so komisch geht es bei solchen Leuten zu; ich stelle mich vor: Gutsbesitzer, Witwer, von guter Familie, mit den und den Verbindungen und einem Vermögen; was macht's, daß ich Fünfziger bin und sie nicht mal sechzehn ist? Wer sieht auf so was? Das ist doch verlockend, ha-ha! Sie hätten sehen sollen, wie ich mich mit dem Papa und der Mama unterhielt. Sie erscheint, macht einen Knicks; nun, Sie können sich denken, noch in kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe; sie errötet wie das Morgenrot (man hatte sie natürlich über meinen Besuch unterrichtet). Ich weiß nicht, was Sie für einen Geschmack in bezug auf Frauengesichter haben, ich bin aber der Ansicht, daß diese sechzehn Jahre, diese noch kindlichen Augen, diese Schüchternheit und diese Tränen der Scham schöner sind als die Schönheit selbst; zudem ist sie auch bildhübsch. Hellblonde Haare, zu Locken gekräuselt, wie ein Lämmchen, volle, rote Lippen, die Füßchen – ein Entzücken! ... Nun, wir lernten uns kennen, ich erklärte, daß ich infolge häuslicher Angelegenheiten Eile habe, und schon am nächsten Tage, das heißt vorgestern, gab man uns den Segen. Von nun an, wenn ich hinkomme, nehme ich sie sofort zu mir auf den Schoß und lasse sie nicht mehr herunter ... Nun, sie erglüht wie das Morgenrot, ich aber küsse sie jeden Augenblick; die Mama sagt ihr natürlich, daß ich ihr Gatte sei und daß es so sein müsse, mit einem Wort, ein Genuß! Mein jetziger Bräutigamstand ist vielleicht noch besser als der eines Gatten. Hier ist das, was man la nature et la vérité nennt! Ha-ha! An die zweimal habe ich mich mit ihr sogar unterhalten, das Mädel ist gar nicht dumm; manchmal sieht sie mich so verstohlen an, daß es durch Mark und Bein geht. Wissen Sie, sie hat das Gesicht wie die Madonna von Raffael. Die Sixtinische Madonna hat doch ein ganz phantastisches Gesicht, das Gesicht einer Trauernden und Wahnsinnigen, ist Ihnen das aufgefallen? Nun, auch ihr Gesicht ist in dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als ich schon am nächsten Tage für fünfzehnhundert Rubel Geschenke mitbrachte: einen Brillantenschmuck, einen Perlenschmuck und einen silbernen Toilettenkasten, von dieser Größe, mit allen möglichen Dingen drin, und da errötete sogar ihr Madonnengesicht. Wie ich sie gestern zu mir auf den Schoß setzte, wahrscheinlich machte ich es schon gar zu ungeniert, da wurde sie über und über rot, die Tränen kamen ihr in die Augen; sie wollte es aber nicht zeigen und glühte nur wie im Fieber. Alle gingen für einen Augenblick hinaus, und als wir beide allein blieben, fiel sie mir plötzlich um den Hals (zum erstenmal), umarmte mich mit beiden Händchen, küßte mich und schwur, daß sie mir eine gehorsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich glücklich machen werde, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres Lebens, alles, alles opfern wolle, nur um meine Achtung allein zu erlangen; ›sonst‹, sagt sie, ›brauche ich nichts, nichts, keine Geschenke!‹ Sie werden doch zugeben, daß ein solches Geständnis unter vier Augen von einem solchen sechzehnjährigen kleinen Engel in Tüllkleidchen, mit blonden Locken, mit jungfräulicher Schamröte im Gesicht und den Tränen des Enthusiasmus in den Augen, anzuhören, – Sie werden doch zugeben, daß es recht verlockend ist! Es ist doch verlockend! Es ist doch was wert, nicht? Es ist was wert! Nun ... nun, hören Sie ... nun, wollen wir doch zu meiner Braut fahren ... aber nicht jetzt gleich!« »Mit einem Wort, dieser ungeheuerliche Unterschied im Alter und in der Entwicklung weckt in Ihnen die Wollust! Werden Sie auch wirklich heiraten?« »Warum denn nicht? Unbedingt. Ein jeder denkt nur an sich selbst, und am lustigsten lebt einer, der es am besten versteht, sich selbst zu betrügen. Ha-ha! Sind Sie denn wirklich so auf die Tugend versessen? Haben Sie doch Erbarmen, Väterchen, ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!« »Aber Sie haben die Kinder Katerina Iwanownas untergebracht. Übrigens ... übrigens hatten Sie doch Ihre Gründe dazu ... jetzt verstehe ich alles.« »Die Kinder habe ich überhaupt gern«, entgegnete Swidrigailow lachend. »In diesem Sinne kann ich Ihnen eine sehr interessante Episode erzählen, die noch nicht zu Ende ist. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft machte ich einen Rundgang durch alle die Kloaken; nun nach den sieben Jahren stürzte ich mich auf alle diese Sachen. Es ist Ihnen wohl aufgefallen, daß ich mich gar nicht beeile, meine frühere Gesellschaft wieder aufzusuchen, alle die Freunde und Bekannten von einst. Nun, ich will mich auch möglichst lange ohne sie behelfen. Sie wissen: bei Marfa Petrowna auf dem Lande haben mich die Erinnerungen an alle die geheimnisvollen Orte und Örtchen, in denen der Wissende so vieles finden kann, halb zu Tode gequält. Hol der Teufel! Das Volk trinkt, die gebildete Jugend verglüht in unerfüllbaren Träumen und Phantasien zu Asche, wird von den Theorien verkrüppelt; irgendwoher sind zahllose Juden zusammengefahren, die das Geld auf die Seite bringen, und alles übrige lebt in Unzucht. So hauchte mich diese Stadt gleich in den ersten Stunden mit ihrem vertrauten Geruch an. Ich geriet auf einen sogenannten Tanzabend – eine schreckliche Kloake (ich aber liebe gerade solche schmutzigen Kloaken); natürlich gibt es da einen Kankan, wie man ihn sonst nirgends sieht und wie es ihn zu meiner Zeit nicht gab. Ja, in diesen Dingen sieht man einen Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein etwa dreizehnjähriges Mädchen, reizend angezogen, tanzt mit einem ›Kavalier‹; ein anderer Kerl tanzt ihr vis-à-vis. Auf dem Stuhl an der Wand sitzt die Mutter. Nun, Sie können sich vorstellen, was das für ein Kankan war! Das Mädchen ist verlegen, errötet, fühlt sich schließlich gekränkt und fängt zu weinen an. Der Kerl packt sie, dreht sie um und produziert sich vor ihr; alle ringsum lachen – ich liebe in solchen Augenblicken unser Publikum, selbst beim Kankan; die Leute lachen und schreien: ›Geschieht schon recht! Man soll keine Kinder herbringen!‹ Nun, mich ging ja die Sache nichts an, ob die Menschen sich da logisch oder unlogisch trösteten! Ich faßte sofort meinen Plan, setzte mich neben die Mutter und begann ihr zu erzählen, daß auch ich hier fremd sei, daß alle Menschen hier so ungehobelt wären und es nicht verstünden, wahre Vorzüge zu unterscheiden und den gebührenden Respekt zu empfinden; ich gab ihr zu verstehen, daß ich viel Geld habe; dann schlug ich ihnen vor, sie in meinem Wagen nach Hause zu bringen; ich begleitete sie nach Hause, lernte sie kennen (sie wohnen irgendwo in einer Kammer in Aftermiete, sind soeben angekommen). Sie erklärten mir, wie die Mutter so auch die Tochter, daß sie meine Bekanntschaft nur als eine große Ehre auffassen könnten; ich erfuhr, daß sie keinen Pfennig haben und nach Petersburg gekommen sind, um sich bei irgendeiner Behörde um irgend etwas zu bemühen; ich bot ihnen meine Dienste und Geld an und hörte, daß sie zu diesem Tanzabend aus Versehen hingekommen waren, in der Meinung, daß dort in Wirklichkeit Tanzunterricht stattfinde; ich machte mich meinerseits erbötig, die Erziehung des jungen Mädchens und den Unterricht in Französisch und Tanzen zu fördern. Sie nahmen meinen Vorschlag mit Begeisterung an, hielten es für eine Ehre, und ich bin mit ihnen auch heute noch bekannt ... Wollen Sie, wir fahren hin, aber nicht jetzt gleich.« »Lassen Sie, lassen Sie Ihre gemeinen, niederträchtigen Anekdoten, Sie verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!« »Ja, der Schiller, da sieht man wieder unsern Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie, ich werde Ihnen mit Absicht solche Dinge erzählen, um Ihre Aufschreie zu hören. Es ist ein Genuß!« »Das will ich meinen; bin ich mir denn jetzt auch selbst nicht lächerlich?« murmelte Raskolnikow voller Haß. Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er den Philipp, bezahlte die Zeche und machte sich zum Fortgehen bereit. »Nun bin ich aber tüchtig betrunken, assez causé!« sagte er. »Es ist ein Genuß!« »Wie sollten Sie auch keinen Genuß empfinden!« rief Raskolnikow, sich gleichfalls erhebend. »Ist es denn für einen solchen geriebenen Wollüstling kein Genuß, von solchen Abenteuern zu erzählen – wenn er dabei auch noch irgendeine ungeheuerliche Absicht in derselben Art hat, und obendrein unter solchen Umständen und solch einem Menschen, wie ich es bin ... Das bringt doch das Blut in Wallung!« »Wenn Sie so reden«, antwortete Swidrigailow mit einigem Erstaunen, Raskolnikow musternd – »wenn Sie so reden, so sind Sie auch selbst ein ordentlicher Zyniker. Jedenfalls steckt in Ihnen ein ungeheures Material dazu. Sie können wohl vieles begreifen ... können aber auch vieles tun. Aber genug. Ich bedaure es aufrichtig, daß unsere Unterhaltung so kurz war, Sie entgehen mir aber nicht ... warten Sie nur ...« Swidrigailow verließ das Wirtshaus. Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war aber gar nicht so berauscht; der Wein war ihm bloß für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, der Rausch verflüchtete sich von Augenblick zu Augenblick. Er war um etwas besorgt, wohl um etwas sehr Wichtiges, und runzelte die Stirn. Irgendeine Erwartung regte ihn anscheinend auf und beunruhigte ihn. In seinem Benehmen gegen Raskolnikow war er in den letzten Minuten plötzlich ganz anders geworden und wurde von Augenblick zu Augenblick gröber und spöttischer. Raskolnikow merkte sich das alles und wurde auch unruhig. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor; er entschloß sich, ihm zu folgen. Sie traten auf das Trottoir. »Sie gehen nach rechts und ich nach links. Oder vielleicht auch umgekehrt. Aber, adieu mon plaisir, auf freudiges Wiedersehen!« Und er ging nach rechts, in der Richtung zum Heumarkt. 5. V Raskolnikow ging ihm nach. »Was soll das bedeuten?!« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich hab Ihnen doch, glaube ich, gesagt ...« »Das bedeutet, daß ich Sie jetzt nicht mehr loslasse.« »Wa-as?« Beide blieben stehen und sahen einander eine Minute lang an, als wollten sie sich messen. »Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen«, sagte Raskolnikow schroff, »habe ich positiv erfahren, daß Sie Ihre gemeinen Absichten gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern mit ihnen mehr als je beschäftigt sind. Mir ist es bekannt, daß meine Schwester heute früh irgendeinen Brief bekommen hat. Sie konnten die ganze Zeit nicht ruhig sitzen ... allerdings konnten Sie unterwegs irgendeine Braut aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich möchte mich persönlich überzeugen ...« Raskolnikow hätte wohl kaum angeben können, was er jetzt vorhatte und wovon er sich persönlich überzeugen wollte. »So! Wollen Sie, daß ich sofort die Polizei rufe?« »Ruf nur!« Sie standen wieder eine Minute einander gegenüber. Swidrigailows Gesicht veränderte sich plötzlich. Als er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow vor seiner Drohung nicht erschrak, nahm er plötzlich eine sehr heitere und freundschaftliche Miene an. »Was sind Sie für ein Mensch! Ich hatte absichtlich mit Ihnen kein Wort von Ihrer Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugierde plagt. Es ist ja eine ganz phantastische Sache. Ich hatte es auf ein anderes Mal verschoben, aber Sie können auch einen Toten reizen ... Gut, kommen Sie mit, ich sage Ihnen aber im voraus: Ich gehe jetzt bloß auf einen Sprung nach Hause, um Geld zu holen; dann sperre ich meine Wohnung ab, miete mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die Inseln hinaus. Sie werden doch nicht mitkommen.« »Ich aber gehe in die Wohnung mit, doch nicht zu Ihnen, sondern zu Ssofja Ssemjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht bei der Beerdigung war.« »Wie Sie wünschen, Ssofja Ssemjonowna ist jetzt aber nicht zu Hause. Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, einer früheren alten Bekannten von mir, die Vorsteherin von Waisenanstalten ist. Ich bezauberte diese Dame, indem ich für alle drei Kinder Katerina Iwanownas Geld einzahlte und außerdem noch einen Betrag für die Anstalten spendete. Zuletzt erzählte ich die ganze Geschichte Ssofja Ssemjonownas, sogar mit allen Einzelheiten, ohne etwas zu verschweigen. Der Effekt war unbeschreiblich. Darum wurde Ssofja Ssemjonowna für heute ins Hotel bestellt, wo sich meine Dame, die von der Sommerfrische kommt, vorübergehend aufhält.« »Macht nichts, ich werde doch zu ihr hinaufgehen.« »Wie Sie wollen, wir sind aber doch keine Weggenossen! Nun, gleich sind wir da. Sagen Sie, ich bin überzeugt, daß Sie mich darum so argwöhnisch ansehen, weil ich bisher selbst so diskret war und Sie mit meinen Fragen nicht behelligte ... Sie verstehen doch? Das kam Ihnen ungewöhnlich vor; ich wette, daß es so ist! Nun, da soll man noch diskret sein!« »Und an der Türe horchen!« »Ah, Sie meinen das!« sagte Swidrigailow lachend. »Ja, ich müßte mich wundern, wenn Sie nach alledem diese Bemerkung nicht gemacht hätten. Ha-ha! Ich habe zwar manches davon verstanden, was Sie damals ... dort ... angestellt und Ssofja Ssemjonowna selbst erzählt haben, aber was ist das eigentlich? Ich bin vielleicht ein sehr zurückgebliebener Mensch und kann nichts mehr verstehen. Erklären Sie es mir um Gotteswillen, mein Liebster! Erleuchten Sie mich mit Ihren allerneuesten Prinzipien.« »Sie können gar nichts gehört haben, Sie lügen!« »Aber ich meine gar nicht das (obwohl ich wirklich manches gehört habe), nein, ich meine nur das, daß Sie fortwährend stöhnen und seufzen. Der Schiller in Ihnen wird jeden Augenblick verlegen. Und jetzt erklären Sie auch noch, man dürfe nicht an fremden Türen horchen. Wenn dem so ist, so gehen Sie hin und sagen Sie den Behörden, daß mit Ihnen so ein Zufall passiert ist: In der Theorie ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man an fremden Türen nicht horchen darf, aber das Recht hat, alte Weiber zu seinem eigenen Vergnügen mit beliebigen Gegenständen zu erschlagen, so fahren Sie doch schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit. Ich spreche jetzt aufrichtig. Haben Sie vielleicht kein Geld? Ich will Ihnen welches für die Reise geben.« »Ich denke gar nicht daran«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt. »Ich verstehe (machen Sie sich übrigens keine Mühe: Wenn Sie nicht wollen, so brauchen Sie nicht viel zu sprechen); ich verstehe, was für Fragen Sie jetzt beschäftigen: Vielleicht moralische? Die Fragen des Bürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber beiseite; was brauchen Sie jetzt diese Fragen? He-he! Weil Sie noch immer Bürger und Mensch sind? Wenn Sie es sind, so hätten Sie sich auch nicht hineinmischen sollen; Sie hätten nicht eine Sache unternehmen sollen, der Sie nicht gewachsen sind. Nun, erschießen Sie sich; oder haben Sie keine Lust dazu?« »Mir scheint, Sie wollen mich jetzt absichtlich reizen, damit ich Sie gehen lasse ...« »Was sind Sie für ein Kauz! Nun sind wir aber schon da, gehen Sie, bitte, die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemjonowna. Sie sehen doch, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie dann die Kapernaumows; ihnen pflegt sie ihren Schlüssel abzugeben. Da ist auch Madame de Kapernaumow selbst. Was? (Sie ist ein wenig taub.) Ist sie fort? Wohin? Nun, haben Sie es gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend heim. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollten doch auch zu mir? So, jetzt sind Sie bei mir. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Dame ist ewig beschäftigt, aber ich versichere Ihnen, sie ist eine gute Frau, vielleicht könnte sie auch Ihnen nützlich sein, wenn Sie vernünftiger wären. Nun, sehen Sie, hier nehme ich aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie, wieviel ich davon noch habe!), dieses aber wird heute noch umgewechselt. Nun, haben Sie es gesehen? Jetzt habe ich keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung wird abgeschlossen, und wir sind wieder auf der Treppe. Nun, wollen Sie, daß ich eine Droschke miete? Ich fahre ja auf die Inseln hinaus. Wollen Sie nicht mitkommen? Ich nehme diesen Wagen zur Jelagin-Insel; was? Sie weigern sich? Sie halten es nicht mehr aus? Wollen wir doch etwas spazieren fahren, macht nichts. Ich glaube, ein Regen zieht auf, macht nichts, wir stellen das Verdeck auf ...« Swidrigailow saß schon im Wagen. Raskolnikow sagte sich, daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblick unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging zurück in der Richtung zum Heumarkt. Hätte er sich unterwegs auch nur einmal umgewandt, so würde er gesehen haben, daß Swidrigailow, nachdem er kaum mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher bezahlte und wieder aufs Trottoir trat. Er konnte aber nichts mehr sehen und war um die Ecke gebogen. Ein tiefer Ekel trieb ihn von Swidrigailow fort. »Wie konnte ich nur, auch nur einen Augenblick, etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem Wollüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus. Raskolnikow hatte dieses Urteil allerdings allzu voreilig und leichtsinnig gefällt. Im ganzen Gebaren Swidrigailows lag etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so war Raskolnikow dennoch fest überzeugt, daß Swidrigailow sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es war ihm schon allzu schwer und unerträglich, an all das zu denken! Seiner Gewohnheit gemäß war er schon nach den ersten zwanzig Schritten, als er allein geblieben war, in tiefe Nachdenklichkeit versunken. Er ging auf die Brücke, blieb am Geländer stehen und begann in das Wasser zu starren. Indessen stand hinter ihm Awdotja Romanowna. Er war ihr am Anfange der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie bemerkt zu haben. Dunjetschka hatte ihn noch nie in dieser Verfassung auf der Straße gesehen und war beinahe erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Plötzlich sah sie Swidrigailow, der sich schnell vom Heumarkt her näherte. Jener schien aber geheimnisvoll und vorsichtig näher zu kommen. Er ging nicht auf die Brücke, sondern blieb abseits auf dem Trottoir stehen, wobei er sich die größte Mühe gab, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Ihr schien es, daß er sie mit seinen Zeichen bat, den Bruder nicht anzurufen und in Ruhe zu lassen, und sie zu sich heranwinkte. Dunja tat auch so. Sie ging leise um den Bruder herum und näherte sich Swidrigailow. »Gehen wir schneller«, flüsterte ihr Swidrigailow zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft erfährt. Ich sage Ihnen gleich, daß ich soeben mit ihm hier in der Nähe in einer Wirtschaft gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn nur mit Mühe los. Er weiß irgendwie von meinem Briefe an Sie und hat einen Verdacht. Sie haben es ihm natürlich nicht erzählt? Und wenn Sie es nicht waren, wer dann?« »Nun sind wir schon um die Ecke gekommen,« unterbrach ihn Dunja, »mein Bruder wird uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht weiter gehen will. Sagen Sie mir alles hier; Sie können ja alles auf der Straße sagen.« »Erstens kann man das alles unmöglich auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Ssofja Ssemjonowna anhören; drittens werde ich Ihnen einige Dokumente zeigen ... Und schließlich, wenn Sie sich weigern, zu mir zu kommen, verzichte ich auf alle Erklärungen und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie nicht zu vergessen, daß ein außerordentlich interessantes Geheimnis Ihres geliebten Bruders sich vollkommen in meinen Händen befindet.« Dunja blieb unentschlossen stehen und blickte Swidrigailow durchdringend an. »Was fürchten Sie?« versetzte er ruhig. »Die Stadt ist doch kein Dorf. Und im Dorfe haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber ...« »Ist Ssofja Ssemjonowna vorbereitet?« »Nein, ich habe ihr kein Wort gesagt und bin auch nicht ganz sicher, ob sie zu Hause ist. Übrigens ist sie wahrscheinlich zu Hause. Sie hat heute ihre Verwandte beerdigt – das ist kein Tag, um Besuche zu machen. Vorläufig will ich mit niemand davon reden und bereue sogar teilweise, daß ich es Ihnen mitgeteilt habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kommt in diesem Falle einer Denunziation gleich. Ich wohne hier in diesem Hause, nun sind wir gleich da. Das ist der Hausknecht von meinem Hause; der Hausknecht kennt mich sehr gut; da grüßt er mich; er sieht, daß ich mit einer Dame gehe, und hat sich schon natürlich ihr Gesicht gemerkt; daß kann Ihnen aber von Nutzen sein, wenn Sie sich sehr fürchten und mir nicht trauen. Entschuldigen Sie, daß ich so offen spreche. Ich selbst wohne in Aftermiete. Ssofja Ssemjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, auch in Aftermiete. Das ganze Stockwerk ist voller Mieter. Was fürchten Sie denn wie ein Kind? Oder komme ich Ihnen so schrecklich vor?« Swidrigailows Gesicht verzerrte sich zu einem herablassenden Lächeln; aber er wollte gar nicht lächeln. Sein Herz klopfte, und sein Atem stockte. Er sprach absichtlich laut, um seine immer anwachsende Erregung zu verbergen; aber Dunja hatte diese eigentümliche Erregung gar nicht bemerkt; die Frage, ob sie ihn wie ein Kind fürchte und ob er ihr so schrecklich sei, hatte sie zu sehr gereizt. »Ich weiß zwar, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, aber ich fürchte Sie nicht im geringsten. Gehen Sie voraus«, sagte sie mit scheinbarer Ruhe, aber ihr Gesicht war sehr blaß. Swidrigailow blieb vor Ssonjas Wohnung stehen. »Erlauben Sie, daß ich mich erkundige, ob sie zu Hause ist ... Nein, sie ist nicht da, dieses Pech! Aber ich weiß, daß sie sehr bald kommen kann. Wenn sie ausgegangen ist, so doch nur zu einer Dame wegen der Waisen, deren Mutter gestorben ist. Ich habe mich hineingemischt und manches besorgt. Wenn Ssofja Ssemjonowna nach zehn Minuten noch nicht zurück ist, so schicke ich sie selbst zu Ihnen; wenn Sie wollen, heute noch. Nun, hier ist meine Wohnung, da sind meine beiden Zimmer. Hinter der Tür wohnt meine Wirtin, Frau Rößlich. Nun schauen Sie her, ich will Ihnen meine Hauptdokumente zeigen: diese Tür führt aus meinem Schlafzimmer in zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Hier sind sie ... das müssen Sie sich etwas aufmerksamer ansehen ...« Swidrigailow bewohnte zwei recht geräumige möblierte Zimmer. Dunjetschka sah sich mißtrauisch um, merkte aber weder in der Ausstattung, noch in der Lage der Zimmer etwas Besonderes, obwohl ihr einiges doch hätte auffallen müssen; zum Beispiel, daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen leeren Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei Zimmer der Wirtin, die fast leer waren. Swidrigailow sperrte die verschlossene Tür im Schlafzimmer auf und zeigte Dunja eine leere Wohnung, die gleichfalls zu vermieten war. Dunjetschka blieb an der Schwelle stehen, ohne zu begreifen, warum man sie aufforderte, es zu sehen, aber Swidrigailow beeilte ich, es ihr zu erklären. »Schauen Sie, bitte, hier hinein, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie diese Tür, sie ist abgeschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Ich brachte ihn aus meiner Wohnung, um bequemer horchen zu können. Dort, gleich hinter der Tür, steht der Tisch Ssofja Ssemjonownas: dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Und ich horchte hier, auf diesem Stuhle sitzend, zwei Abende hintereinander, beide. Male je zwei Stunden – und konnte natürlich manches erfahren, – wie glauben Sie?« »Haben Sie gehorcht?« »Ja, ich habe gehorcht. Jetzt wollen wir aber zu mir gehen, hier kann man nicht mal sitzen.« Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Empfangszimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich ans andere Ende des Tisches, mindestens einen Klafter von ihr entfernt, aber in seinen Augen brannte wohl wieder das gleiche Feuer, das Dunjetschka schon einmal er schreckt hatte. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal argwöhnisch um. Diese Bewegung war unwillkürlich, sie wollte ihren Argwohn offenbar nicht zeigen. Aber die isolierte Lage der Wohnung Swidrigailows fiel ihr doch auf. Sie wollte schon fragen, ob wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, fragte aber nicht ... aus Stolz. Zudem war in ihrem Herzen auch noch ein anderer Schmerz, viel größer als die Angst für sich selbst. Die Qual war unerträglich. »Hier ist Ihr Brief«, begann sie, indem sie denselben auf den Tisch legte. »Ist es denn möglich, was Sie da schreiben? Sie machen Anspielungen auf ein Verbrechen, das mein Bruder verübt haben soll. Die Anspielung ist viel zu deutlich, Sie dürfen jetzt nicht mit Ausflüchten kommen. Nun sage ich Ihnen, daß ich dieses dumme Märchen schon vor Ihnen gehört habe und keinem Wort davon glaube. Es ist ein gemeiner und lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte und weiß, wie und warum man sie erfunden hat. Sie können keinerlei Beweise haben, Sie haben aber versprochen, alles zu beweisen: sprechen Sie doch! Aber ich sage Ihnen gleich, daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube es nicht!« Dunjetschka sagte dies, sich überstürzend, mit großer Hast, und das Blut stieg ihr für einen Augenblick in den Kopf. »Wenn Sie mir nicht glaubten, wäre es dann möglich, daß Sie riskiert hätten, allein zu mir zu kommen? Warum sind Sie dann hergekommen? Aus bloßer Neugier?« »Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!« »Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, ich glaubte, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe; ich habe mich davon überzeugt. Das ist kühn, folglich wollten Sie Rodion Romanowitsch schonen. Bei Ihnen ist übrigens alles göttlich ... Was aber Ihren Bruder betrifft, – was kann ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn doch eben selbst gesehen. Nun, wie sieht er aus?« »Sie begründen doch alles nicht darauf!« »Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Zwei Abende hintereinander hat er hier Ssofja Ssemjonowna besucht. Ich zeigte Ihnen, wo sie gesessen haben. Er hat ihr alles gebeichtet. Er ist der Mörder. Er hat die alte Beamtenwitwe, die Wucherin, ermordet, bei der er auch selbst zu versetzen pflegte; er hat auch ihre Schwester, die Händlerin Lisaweta, ermordet, die zufällig während der Ermordung der Schwester gekommen war. Er hat sie beide mit einem Beil ermordet, das er mitgebracht hatte. Er ermordete die beiden, um sie zu berauben, und hat sie auch beraubt; er hat Geld und noch irgendwelche Gegenstände mitgenommen ... Das alles hat er selbst Wort für Wort Ssofja Ssemjonowna erzählt, die allein das Geheimnis weiß, aber am Morde weder durch Wort noch durch Tat teilgenommen hat; sie hat sich davor vielmehr ebenso entsetzt wie Sie jetzt. Sie können ruhig sein: sie wird ihn nicht verraten.« »Das kann nicht sein!« stotterte Dunjetschka mit totenblassen Lippen; sie rang um Atem. »Es kann nicht sein, es gibt keine, nicht die geringste Ursache, gar keinen Grund ... Es ist eine Lüge, eine Lüge! ...« »Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat sich das Geld und die Sachen angeeignet. Allerdings hat er, nach seinem eigenen Geständnis, weder aus dem Geld noch aus den Sachen Nutzen gezogen, sondern hat sie irgendwo unter einem Stein versteckt, wo sie auch heute noch liegen. Aber nur deshalb, weil er nicht wagte, daraus Nutzen zu ziehen.« »Ist es denn möglich, daß er imstande wäre, zu stehlen, zu rauben? Daß er daran auch nur denken konnte?« rief Dunja und sprang vom Stuhle auf. »Sie kennen ihn doch, Sie haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?« Sie flehte Swidrigailow gleichsam an; sie hatte ihre ganze Angst vergessen. »Es sind darin Tausende, Millionen von Kombinationen und Kategorien möglich, Awdotja Romanowna. Der Dieb stiehlt, dafür weiß er auch selbst, daß er ein Schuft ist; aber ich hörte, daß ein anständiger Mensch die Post beraubt hat; wer kann es wissen, vielleicht glaubt er wirklich, daß er eine brave Tat vollbracht hat! Natürlich würde ich es nicht geglaubt haben, ebensowenig wie Sie, wenn ich es aus zweiter Hand erfahren hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Ssofja Ssemjonowna auch alle Gründe erklärt; sie aber glaubte zuerst auch den eigenen Ohren nicht, endlich glaubte sie es den eigenen Augen. Er hat ihr doch alles persönlich mitgeteilt.« »Was waren es denn für Gründe?« »Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es ist hier, wie soll ich es Ihnen sagen, eine eigene Theorie dabei, dasselbe, warum ich finde, daß zum Beispiel ein einzelnes Verbrechen erlaubt ist, wenn sein Hauptziel gut ist! Es ist natürlich für einen jungen Mann mit Vorzügen und maßlosem Ehrgeiz auch kränkend, zu wissen, daß, wenn er zum Beispiel nur dreitausend Rubel hätte, seine ganze Karriere, die Zukunft seiner Lebensziele sich anders gestaltet haben würden; aber er hat diese dreitausend Rubel nicht. Fügen Sie hinzu die Reizbarkeit und die Erbitterung infolge des Hungers, der engen Wohnung, der abgerissenen Kleidung, infolge der klaren Einsicht seiner häßlichen sozialen Lage, zugleich aber auch der Lage seiner Mutter und Schwester. Am meisten aber der Ehrgeiz, Stolz und Ehrgeiz – aber Gott weiß, vielleicht hat er dabei auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn ja nicht an, glauben Sie es nur nicht. Es ist auch nicht meine Sache. Er hatte auch eine eigene kleine Theorie, eine gar nicht so üble Theorie, daß die Menschen, sehen Sie, in ›Material‹ und in ›besondere Menschen‹ eingeteilt werden, das heißt in solche, für die, infolge ihrer hohen Stellung, das Gesetz nicht gilt, die vielmehr selbst die Gesetze für die übrigen Menschen, für das Material, für den Kehricht aufstellen. Die Theorie ist gar nicht übel, une théorie comme une autre. Napoleon hat ihn furchtbar begeistert, oder vielmehr die Überzeugung, daß sehr viele geniale Menschen das einzelne Verbrechen nicht als Übel ansahen, sondern sich darüber hinwegsetzten. Ich glaube, er hat sich eingebildet, daß auch er ein genialer Mensch ist, das heißt, er war wohl eine Zeitlang davon überzeugt. Er litt sehr und leidet auch jetzt noch unter dem Gedanken, daß er es fertiggebracht habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, sich, ohne nachzudenken, darüber hinwegzusetzen, daß er also kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann erniedrigend, und in unserer Zeit ganz besonders ...« »Und die Gewissensbisse? Sie sprechen ihm jedes sittliche Gefühl ab? Ist er denn so?« »Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich alles getrübt, das heißt, es war wohl nie in besonderer Ordnung gewesen. Die russischen Menschen sind überhaupt ›breite‹ Menschen, Awdotja Romanowna, so breit wie die Erde, und außerordentlich geneigt zum Phantastischen und Unordentlichen, es ist aber ein Unglück, ›breit‹ zu sein, ohne wirkliche Genialität zu besitzen. Erinnern Sie sich noch, wieviel wir beide in dieser Art und über das gleiche Thema gesprochen haben, so oft wir nach dem Abendessen auf der Gartenterrasse saßen? Sie haben mir damals diese ›Breite‹ vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sagten Sie das gerade in derselben Zeit, als er hier lag und das seinige dachte. Unsere gebildete Gesellschaft hat ja keine besonders heiligen Überlieferungen, Awdotja Romanowna; höchstens stellt sich jemand solche aus Büchern zusammen ... oder konstruiert sie aus alten Chroniken. Das sind aber doch meistenteils Gelehrte und, wissen Sie, in ihrer Art Schlafmützen, so daß es für einen Mann der Gesellschaft sogar unpassend ist. Übrigens sind Ihnen meine Ansichten überhaupt bekannt; ich klage absolut niemand an. Ich selbst bin ein Zärtling und Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, daß Sie sich für meine Ansichten interessierten ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!« »Ich kenne diese seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift gelesen, über die Menschen, denen alles erlaubt ist ... Rasumichin hat mir den Artikel gebracht.« »Herr Rasumichin? Einen Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Es gibt einen solchen Artikel? Ich wußte es gar nicht. Das muß aber interessant sein! Wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?« »Ich will Ssofja Ssemjonowna sehen«, sagte Dunjetschka mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Vielleicht ist sie schon heimgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen, Sie soll ...« Awdotja Romanowna konnte nicht weitersprechen; ihr Atem stockte buchstäblich. »Ssofja Ssemjonowna wird vor Anbruch der Nacht nicht heimkommen. So glaube ich wenigstens. Sie mußte sehr bald zurückkommen, und wenn sie noch nicht da ist, wird sie erst sehr spät kommen ...« »Ah, du lügst also! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles gelogen! Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« schrie Dunjetschka, die den Kopf verloren hatte, in einem echten Anfall von Raserei. Fast ohnmächtig fiel sie auf einen Stuhl, den ihr Swidrigailow eilig hinschob. »Awdotja Romanowna, was haben Sie, kommen Sie zu sich! Hier ist Wasser! Nehmen Sie einen Schluck.« Er spritzte sie mit Wasser an. Dunjetschka fuhr zusammen und kam zum Bewußtsein. »Die Wirkung war zu stark!« murmelte Swidrigailow vor sich hin mit finsterer Miene. »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn retten, wir wollen ihm helfen. Wollen Sie, daß ich ihn ins Ausland bringe? Ich habe Geld, in drei Tagen verschaffe ich einen Paß. Und was den Mord betrifft, so wird er noch so viele gute Werke tun, daß alles vergessen sein wird, beruhigen Sie sich. Er kann auch noch ein großer Mann werden. Nun, was haben Sie? Wie fühlen Sie sich?« »Böser Mensch! Er spottet auch noch. Lassen Sie mich ...« »Wohin denn? Wo wollen Sie hin?« »Zu ihm. Wo ist er? Wissen Sie das? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir sind durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Wann haben Sie Zeit gehabt, sie abzuschließen?« »Man konnte doch nicht durchs ganze Haus schreien, was wir hier eben sprachen. Ich spotte gar nicht; es ist mir nur zu dumm geworden, diese Sprache zu führen. Wo wollen Sie denn in dieser Verfassung hingehen? Oder wollen Sie ihn verraten? Sie machen ihn noch rasend, und dann wird er sich selbst anzeigen. Vergessen Sie nicht, daß man ihn schon verfolgt, daß man ihm auf der Spur ist. Sie werden ihn nur verraten. Warten Sie: Ich habe ihn eben gesehen und gesprochen; man kann ihn noch retten. Warten Sie, setzen Sie sich, wollen wir es uns zusammen überlegen. Darum habe ich Sie auch herbestellt, um alles unter vier Augen zu besprechen und gut zu überlegen. Setzen Sie sich doch!« »Auf welche Weise können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?« Dunja setzte sich. Swidrigailow nahm an ihrer Seite Platz. »Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast flüsternd, stotternd und manche Worte nicht zu Ende sprechend. Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Leibe. »Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet; ich ... ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich will ihn sofort fortschicken, ich werde selbst einen Paß besorgen, zwei Pässe. Einen für ihn und einen für mich. Ich habe Freunde, ich kenne Geschäftsleute ... Wollen Sie? Ich nehme auch für Sie einen Paß ... für Ihre Mutter ... was brauchen Sie Rasumichin! Ich liebe Sie ebenso ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann nicht hören, wie es raschelt. Sagen Sie zu mir: Tue das – und ich werde es tun! Ich werde alles tun. Ich werde das Unmögliche tun. Woran Sie glauben, werde auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, nein, nicht so! Wissen Sie auch, daß Sie mich morden? ...« Er fing sogar an, irre zu reden. Mit ihm war plötzlich etwas geschehen, als wäre ihm etwas zu Kopf gestiegen. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür. »Öffnet! Öffnet!« schrie sie, um jemand herbeizurufen, und rüttelte die Tür mit den Händen. »Öffnet doch! Ist denn niemand da?!« Swidrigailow stand auf und kam zur Besinnung. Ein böses und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch zitternden Lippen. »Dort ist niemand zu Hause«, sagte er langsam, jedes Wort betonend. »Die Wirtin ist fort, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich bloß unnütz auf.« »Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!« »Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.« »Ah! Also ist es eine Vergewaltigung!« schrie Dunja auf. Totenblaß stürzte sie in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen schützte, das zufällig in der Nähe stand. Sie schrie nicht; aber sie bohrte ihren Blick in ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht vom Fleck und stand ihr gegenüber am andern Ende des Zimmers. Er hatte sogar die Herrschaft über sich wiedererlangt, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war so bleich wie früher. Das spöttische Lächeln wich nicht von seinen Lippen. »Sie sprachen eben von ›Vergewaltigung‹, Awdotja Romanowna. Wenn es eine Vergewaltigung ist, so können Sie sich denken, daß ich die nötigen Maßnahmen ergriffen habe. Ssofja Ssemjonowna ist nicht zu Hause, zu den Kapernaumows ist es weit: Fünf verschlossene Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich mindestens zweimal so stark als Sie; außerdem habe ich nichts zu befürchten, denn Sie dürfen sich auch nachher nicht beklagen: Sie werden doch Ihren Bruder nicht verraten wollen? Auch wird es Ihnen niemand glauben: Warum ist ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Herrn in die Wohnung gekommen? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder opfern, beweisen Sie nichts: Eine Vergewaltigung läßt sich sehr schwer nachweisen, Awdotja Romanowna!« »Schuft!« flüsterte Dunja entrüstet. »Wie Sie wollen, aber beachten Sie, bitte, daß ich es nur als bloße Annahme ausgesprochen habe. Nach meiner persönlichen Meinung haben Sie vollkommen recht: Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich sagte es nur, damit auf Ihrem Gewissen nicht die geringste Last bleibt, selbst wenn ... selbst wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig zu retten, so wie ich es Ihnen vorschlage. Dann haben Sie sich bloß den Umständen gefügt, nun, meinetwegen der Gewalt, wenn Sie sich ohne dieses Wort nicht behelfen können. Denken Sie doch daran: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter ist in Ihrer Hand. Ich aber werde Ihr Sklave sein mein Leben lang ... hier will ich auf Sie warten ...« Swidrigailow setzte sich aufs Sofa, acht Schritte von Dunja entfernt. Sie zweifelte nicht mehr an der Unerschütterlichkeit seines Entschlusses. Außerdem kannte sie ihn ja. Plötzlich holte sie aus der Tasche einen Revolver, spannte den Hahn und stützte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang von seinem Platze auf. »Aha! So ist die Sache!« rief er erstaunt, doch mit einem gehässigen Lächeln. »Das ändert vollkommen den Gang der Ereignisse! Sie erleichtern mir selbst die Sache ganz außerordentlich, Awdotja Romanowna! Wo haben Sie nur den Revolver her? Vielleicht von Herrn Rasumichin? Bah! der Revolver ist doch von mir! Ein alter Bekannter! Und ich habe ihn damals so gesucht! ... Der ländliche Schießunterricht, den ich Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!« »Es ist nicht dein Revolver, er gehörte Marfa Petrowna, die du ermordet hast, Bösewicht! In ihrem Hause gehörte dir nichts! Ich nahm ihn mir, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Untersteh dich nur, einen Schritt zu machen, und ich schwöre, daß ich dich töten werde!« Dunja war ganz außer sich. Sie hielt den Revolver schußbereit. »Nun, und der Bruder? Ich frage aus bloßer Neugier!« fragte Swidrigailow, noch immer am gleichen Fleck stehend. »Zeig ihn an, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühr dich nicht! Ich werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß, daß du selbst ein Mörder bist! ...« »Sind Sie denn fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?« »Ja, du! Du hast es mir selbst angedeutet; du hast von Gift gesprochen ... Ich weiß, du bist einmal eigens dazu verreist, um dir Gift zu besorgen ... Du hattest alles vorbereitet ... Das warst du ... Das warst du ganz gewiß ... Schuft!« »Wenn das auch wahr wäre, so hätte ich es doch nur deinetwegen getan ... du wärest immerhin die Ursache.« »Du lügst! Ich habe dich immer, immer gehaßt ...« »Aha, Awdotja Romanowna! Sie haben offenbar vergessen, wie Sie sich im Eifer der Propaganda schon beinahe vergeben hatten und ganz weich geworden waren ... Ich sah es Ihren Äuglein an; erinnern Sie sich noch, abends beim Mondschein, als die Nachtigall schmetterte? ...« »Du lügst! (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) Du lügst, Verleumder!« »Ich lüge? Gut, mag sein. Ich habe gelogen. Frauen soll man an solche Dinge nicht erinnern. (Er lächelte.) Ich weiß, daß du schießen wirst, du niedliches Tierchen! Nun, schieß doch!« Dunja hob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit erbleichter, zitternder Unterlippe und wie Feuer leuchtenden großen schwarzen Augen an; sie war entschlossen und wartete nur die erste Bewegung von ihm ab. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver hob, versengte ihn, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er trat einen Schritt vor, und da krachte schon ein Schuß. Die Kugel streifte seine Haare und schlug gegen die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und fing leise zu lachen an. »Die Wespe hat mich gestochen! Sie zielte gerade auf den Kopf ... Was ist das? Blut?« Er nahm ein Tuch aus der Tasche, um das Blut abzuwischen, das in feinem Strome seine rechte Schläfe hinunterrieselte; die Kugel hatte wohl ganz leicht die Kopfhaut gestreift. Dunja ließ den Revolver sinken und sah Swidrigailow halb erschrocken, halb verblüfft an. Sie schien selbst nicht mehr zu begreifen, was sie tat und was da geschah. »Nun, ein Fehlschuß! Schießen Sie noch einmal, ich will warten«, sagte Swidrigailow leise, noch immer lächelnd, aber sein Lächeln war jetzt finster. »So kann ich Sie packen, noch ehe Sie den Hahn gespannt haben!« Dunjetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob wieder den Revolver. »Lassen Sie mich!« sagte sie verzweifelnd. »Ich schwöre Ihnen, ich werde wieder schießen ... Ich werde ... töten ...« »Nun, warum auch nicht ... auf drei Schritte Distanz ist es schwer, nicht zu töten. Nun, und wenn Sie mich nicht töten ... dann ...« Seine Augen funkelten, er kam zwei Schritte näher. Dunjetschka drückte ab, – der Revolver versagte! »Sie haben nicht sorgfältig genug geladen. Macht nichts! Sie haben noch ein Zündhütchen. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.« Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit, mit einem glühend leidenschaftlichen, schweren Blicke an. Dunja begriff, daß er eher sterben als sie loslassen würde. – Jetzt wird sie ihn sicher töten – auf zwei Schritte Distanz! – Plötzlich warf sie den Revolver weg. »Weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem. Eine Last fiel ihm plötzlich vom Herzen; vielleicht war es auch nicht die bedrückende Todesangst allein; in diesem Augenblick empfand er wohl kaum etwas. Es war die Erlösung von einem anderen, viel schmerzvolleren und finsteren Gefühl, das er in seiner ganzen Kraft wohl auch selbst nicht hätte bestimmen können. Er ging auf Dunja zu und nahm sie leicht mit der Hand um die Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht, zitterte aber am ganzen Leibe wie ein Espenblatt und sah ihn mit flehenden Augen an. Er wollte ihr etwas sagen, aber seine Lippen verzogen sich nur, und er konnte keinen Ton hervorbringen. »Laß mich!« sagte Dunja flehend. Swidrigailow fuhr zusammen: dieses »du« klang schon ganz anders als das von vorhin. »Du liebst mich also nicht?« fragte er leise. Dunja schüttelte verneinend den Kopf. »Und ... kannst nicht? ... Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung. »Niemals!« flüsterte Dunja. Es verging ein Augenblick eines schrecklichen stummen Kampfes in Swidrigailows Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog er seine Hand zurück, wandte sich weg, trat schnell ans Fenster und blieb vor ihr stehen. Es verging noch ein Augenblick. »Hier ist der Schlüssel! (Er holte ihn aus der linken Manteltasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzuwenden und ohne Dunja anzusehen.) – Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort! ...« Er starrte unverwandt zum Fenster hinaus. Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen. »Schneller! Schneller!« wiederholte Swidrigailow, immer noch ohne sich zu rühren und umzudrehen. Aber in diesem »Schneller« lag wohl ein schrecklicher Ton. Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, eilte zur Tür, schloß sie schnell auf und stürzte aus dem Zimmer. Nach einer Minute war sie wie wahnsinnig, halb bewußtlos zum Kanal gekommen und lief in der Richtung zur *schen Brücke. Swidrigailow blieb noch an die drei Minuten am Fenster stehen, endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich leise mit der Hand über die Stirn. Ein eigentümliches Lächeln verzerrte sein Gesicht; ein trauriges, klägliches, schwaches Lächeln, das Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon eintrocknete, hatte seine Hand beschmiert; er sah das Blut mit Haß an; dann feuchtete er ein Handtuch an und wusch sich die Schläfe ab. Plötzlich fiel ihm der von Dunja fortgeschleuderte Revolver, der zur Tür geflogen war, in die Augen. Er hob ihn auf und sah ihn sich an. Es war ein kleiner altmodischer Taschenrevolver für drei Schuß; es waren darin noch zwei Kugeln und ein Zündhütchen. Einmal konnte man noch schießen. Er dachte eine Weile nach, steckte sich den Revolver in die Tasche, nahm den Hut und verließ das Zimmer. 6. VI Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr verbrachte er in allerlei Wirtschaften und Kloaken, immer von der einen in die andere ziehend. Irgendwo fand er auch die Katja wieder, die ein anderes Lakaienlied sang, in dem davon die Rede war, daß irgendein »Schuft und Tyrann« – »Fing mich süß zu küssen an.« Swidrigailow traktierte Katja und den Orgeldreher, die Chorsänger, die Lakaien und zwei Schreiber mit Wein. Mit diesen Schreibern hatte er sich eigentlich bloß darum eingelassen, weil sie beide schiefe Nasen hatten: Bei dem einen war die Nase nach rechts gerichtet und bei dem andern nach links. Das kam Swidrigailow wunderlich vor. Sie schleppten Swidrigailow zuletzt in irgendeinen Vergnügungsgarten, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlte. In diesem Garten gab es eine schmächtige dreijährige Tanne und drei Büsche. Außerdem befand sich darin ein »Kursaal«, eigentlich eine Schenke, in der man aber auch Tee bekommen konnte; außerdem standen darin einige grüne Tische und Stühle. Ein Chor schlechter Sänger und ein betrunkener Deutscher aus München, eine Art Hanswurst, mit roter Nase, doch aus irgendeinem Grunde außerordentlich melancholisch, unterhielten das Publikum. Die beiden Schreiber gerieten mit anderen Schreibern in Streit und waren schon dabei, sich mit ihnen zu prügeln. Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er saß schon eine Viertelstunde zu Gericht, sie schrien aber so, daß man unmöglich etwas verstehen konnte. Am wahrscheinlichsten war es, daß einer von ihnen etwas gestohlen und es sogar schon einem zufällig hinzugekommenen Juden verkauft hatte, aber das Geld mit seinem Freunde nicht teilen wollte. Zuletzt stellte es sich heraus, daß der verkaufte Gegenstand ein dem »Kursaal« gehöriger Teelöffel war. Man hatte ihn im »Kursaal« vermißt, und die Sache drohte eine schwierige Wendung zu nehmen. Swidrigailow bezahlte den Löffel, stand auf und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte während der ganzen Zeit keinen Tropfen Wein getrunken und sich im »Kursaal« nur Tee geben lassen, und auch das nur des Anstands halber. Der Abend war indessen schwül und düster. Gegen zehn Uhr waren von allen Seiten schwere Gewitterwolken aufgezogen; es donnerte, und der Regen strömte hernieder wie ein Wasserfall. Das Wasser fiel nicht tropfenweise, sondern stürzte in ganzen Bächen zur Erde. Jeden Augenblick blitzte es, und während eines jeden Aufleuchtens konnte man bis fünf zählen. Bis auf den letzten Faden durchnäßt, erreichte Swidrigailow seine Wohnung, schloß sich ein, öffnete seinen Schreibtisch, holte das ganze Geld heraus und zerriß zwei oder drei Papiere. Dann steckte er das Geld in die Tasche, wollte sich schon umziehen, blickte aber zum Fenster hinaus, hörte das Gewitter und den Regen und gab die Absicht auf. Dann nahm er den Hut und ging hinaus, ohne seine Wohnung abgeschlossen zu haben. Er ging direkt zu Ssonja. Sie war zu Hause. Sie war nicht allein: Um sie herum waren die vier Kinder Kapernaumows versammelt. Ssofja Ssemjonowna bewirtete sie mit Tee. Sie begrüßte Swidrigailow schweigend und respektvoll, sah seine durchnäßte Kleidung und sagte kein Wort. Die Kinder liefen sofort alle in unbeschreiblicher Angst davon. Swidrigailow setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz zu nehmen. Sie machte sich schüchtern bereit, zuzuhören. »Ich verreise vielleicht nach Amerika, Ssofja Ssemjonowna,« sagte Swidrigailow, »und da wir uns wahrscheinlich zum letztenmal sehen, bin ich hergekommen, um einige Anordnungen zu treffen. Nun haben Sie jene Dame heute gesehen! Ich weiß, was Sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es nicht wiederzuerzählen. (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) Diese Menschen haben ihre besondere Art. Was aber Ihre beiden Schwesterchen und das Brüderchen betrifft, so sind sie tatsächlich untergebracht, und das Geld, das ihnen zukommt, habe ich für jeden von ihnen in sichere Hände gegen Quittung eingezahlt. Nehmen Sie übrigens diese Quittungen zu sich, für jeden Fall. Hier, nehmen Sie sie! Nun, das ist erledigt! Hier sind drei fünfprozentige Staatsschuldscheine, im ganzen dreitausend Rubel. Dieses Geld nehmen Sie, bitte, für sich persönlich, und das soll zwischen uns bleiben und niemand soll es erfahren, was Sie auch zu hören bekommen. Sie werden das Geld brauchen, denn das Leben, das Sie bisher führten, ist schlecht, und Sie haben es auch nicht mehr nötig.« »Sie haben mir so große Wohltaten erwiesen, auch den Waisen und der Verstorbenen,« begann Ssonja hastig, »und wenn ich bis jetzt nur so wenig gedankt habe, so halten Sie es nicht ...« »Ach, hören Sie auf, hören Sie auf.« »Für das Geld bin ich Ihnen sehr dankbar, Arkadij Iwanowitsch, aber ich brauche es jetzt nicht mehr. Mich selbst kann ich ja immer ernähren, halten Sie es, bitte, nicht für Undank! Wenn Sie schon so gütig sind, so soll dieses Geld ...« »Es gehört Ihnen, Ihnen, Ssofja Ssemjonowna, und reden Sie, bitte, nicht mehr davon, denn ich habe so gar keine Zeit. Sie aber können es brauchen. Rodion Romanowitsch hat nur zwei Wege vor sich: entweder eine Kugel durch den Kopf oder den Weg nach Sibirien. (Ssonja sah ihn wie wahnsinnig an und erzitterte.) Sie können ruhig sein, ich weiß alles von ihm selbst, und ich bin kein Schwätzer; ich werde es niemand sagen. Es war sehr gut, daß Sie ihm zuredeten, er solle sich selbst anzeigen. Das wird für ihn selbst viel vorteilhafter sein. Nun, und wenn er nach Sibirien muß, werden Sie ihm doch dorthin folgen – nicht wahr? Nicht wahr? Nun, in diesem Falle werden Sie das Geld brauchen können. Sie werden es doch für ihn selbst brauchen, verstehen Sie? Wenn ich es Ihnen gebe, so ist es das gleiche, als wie wenn ich es ihm gäbe. Außerdem haben Sie doch Amalia Iwanowna versprochen, die Schuld zu bezahlen, ich habe es selbst gehört. Was nehmen Sie auch, Ssofja Ssemjonowna, so unüberlegt solche Verträge und Verpflichtungen auf sich? Katerina Iwanowna schuldete dieser Deutschen das Geld, und nicht Sie, spucken Sie doch auf die Deutsche! So kann man auf der Welt nicht fortkommen! Nun, und wenn Sie jemand nach mir oder über mich befragt, – morgen, übermorgen, – man wird Sie sicher fragen –, so sagen Sie nicht, daß ich heute bei Ihnen war, zeigen Sie auch das Geld nicht und erzählen Sie davon niemand. Nun, und jetzt – auf Wiedersehen! (Er erhob sich vom Stuhl.) Einen Gruß an Rodion Romanowitsch! Übrigens: Halten Sie vorläufig dieses Geld meinetwegen bei Herrn Rasumichin. Kennen Sie Herrn Rasumichin? Natürlich kennen Sie ihn. Ein ganz braver Bursche. Bringen Sie ihm das Geld morgen oder ... wenn die Zeit kommt. Vorläufig verstecken Sie es, so gut Sie können.« Ssonja sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah ihn erschrocken an. Sie wollte ihm unbedingt etwas sagen, ihn etwas fragen, aber im ersten Augenblick wagte sie es nicht und wußte auch nicht, wie zu beginnen. »Sie wollen ... Sie wollen ... jetzt bei diesem Regen fortgehen?« »Nun, nach Amerika gehen und den Regen fürchten? ... He-he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemjonowna! Leben Sie, und leben Sie lange, Sie werden anderen nützlich sein. Übrigens ... sagen Sie Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie es ihm wörtlich: ›Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow läßt grüßen!‹ Unbedingt.« Er ging hinaus und ließ Ssonja erstaunt, erschrocken und mit einem unklaren, schweren Verdacht zurück. Wie es sich später herausstellte, hatte er am gleichen Abend in der zwölften Stunde noch einen anderen höchst exzentrischen und unerwarteten Besuch abgestattet. Der Regen wollte noch immer nicht aufhören. Ganz durchnäßt kam er um zwanzig Minuten auf Zwölf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut auf dem Wassiljewskij-Ostrow, in der Dritten Linie des Kleinen Prospekts. Mit Mühe weckte er die Leute und versetzte zuerst alle in große Aufregung; aber Arkadij Iwanowitsch war, wenn er wollte, ein Mann von bezaubernden Manieren, so daß die ursprüngliche (übrigens gar nicht so dumme) Vermutung der klugen Brauteltern, daß Arkadij Iwanowitsch sich irgendwo bis zur Bewußtlosigkeit besoffen habe, in sich selbst zusammenstürzte. Die weichherzige und kluge Mutter der Braut rollte den gelähmten Vater im Krankensessel zu Arkadij Iwanowitsch heraus und begann sofort, ihrer Gewohnheit gemäß, mit gewissen weitausholenden Fragen. (Diese Frau stellte niemals direkte Fragen, sondern begann immer erst zu lächeln und sich die Hände zu reiben; und dann kam sie, wenn sie zum Beispiel unbedingt und sicher erfahren wollte, wann Arkadij Iwanowitsch die Hochzeit zu bestimmen gedenke, mit höchst interessierten und fast gierigen Fragen über Paris und das dortige Hofleben, um dann allmählich und der Reihe nach auf die Dritte Linie auf der Wassiljewskij-Insel zu kommen.) Zu einer anderen Zeit flößte dies alles großen Respekt ein; aber diesmal war Arkadij Iwanowitsch besonders ungeduldig und äußerte den dringenden Wunsch, sofort seine Braut zu sehen, obwohl man ihm gleich am Anfang erzählt hatte, daß die Braut schon zu Bette sei. Die Braut erschien selbstverständlich. Arkadij Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er in einer sehr wichtigen Angelegenheit vorübergehend aus Petersburg verreisen müsse und ihr darum fünfzehntausend Rubel in verschiedenen Scheinen gebracht habe, mit der Bitte, das Geld als Geschenk anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr diese Bagatelle vor der Hochzeit zu schenken. Ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der sofortigen Abreise und der Notwendigkeit, deswegen bei Regen, um die Mitternachtsstunde zu kommen, wurde trotz dieser Erklärungen durchaus nicht ersichtlich, alles machte sich jedoch recht anständig. Selbst die unvermeidlichen Seufzer, Fragen und Ausdrücke des Erstaunens nahmen plötzlich eine ungewöhnlich gemäßigte und zurückhaltende Form an, dafür aber wurde der heißeste Dank geäußert und sogar durch die Tränen der vernünftigsten aller Mütter bekräftigt. Arkadij Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, tätschelte ihr die Wange und versprach noch einmal, sehr bald zurückzukommen; als er in ihren Augen neben der kindlichen Neugier auch eine ernste, stumme Frage las, dachte er noch eine Weile nach, küßte sie wieder und spürte aufrichtigen Arger, daß das Geschenk sofort in Verwahrung der vernünftigsten aller Mütter kommen würde. Er ging und hinterließ alle im Zustande ungewöhnlicher Aufregung. Aber die weichherzige Mama löste sofort im Flüstertone und hastig einige der wichtigsten Bedenken, nämlich, daß Arkadij Iwanowitsch ein Mann mit großen Geschäften und Verbindungen, ein reicher Mann sei; Gott allein könne wissen, was er für Pläne habe; wenn es ihm einfalle, reise er fort, wenn es ihm einfalle, mache er ein Geldgeschenk, also brauche man sich über ihn nicht zu wundern. Es sei natürlich sehr sonderbar, daß er ganz durchnäßt war, aber die Engländer seien zum Beispiel noch viel exzentrischer, und überhaupt kümmerten sich alle Leute der großen Welt sehr wenig darum, was man von ihnen sagt, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er absichtlich so umher, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. Vor allen Dingen dürfe man aber keinem Menschen ein Wort davon sagen, denn Gott allein wisse, was daraus noch werden würde; das Geld müsse sofort eingeschlossen werden, und es sei sicher sehr gut, daß Fedoßja in der Küche geblieben war; das Wichtigste aber sei, kein Wort davon der gerissenen Rößlich zu sagen, und so weiter und so weiter. So blieben sie bis zwei Uhr tuschelnd sitzen. Die Braut ging übrigens viel früher schlafen, erstaunt und ein wenig traurig. Swidrigailow passierte indessen Punkt zwölf Uhr die *sche Brücke in der Richtung nach der Petersburger Seite. Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Wind brauste noch. Er fing zu zittern an und blickte eine Weile mit besonderem Interesse und sogar fragend auf das schwarze Wasser der Kleinen Newa. Aber es wurde ihm bald viel zu kalt, über dem Wasser zu stehen; er drehte sich um und ging in den *schen Prospekt. Lange, fast eine halbe Stunde, schritt er den unendlichen *schen Prospekt entlang, stolperte mehr als einmal auf dem Holzpflaster, hörte aber nicht auf, aufmerksam etwas auf der rechten Seite des Prospektes zu suchen. Hier, fast am Ende des Prospektes, hatte er einmal zufällig im Vorbeifahren ein hölzernes, doch großes Gasthaus bemerkt, dessen Name, soweit er sich erinnerte, ähnlich wie »Adrianopel« klang. Er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht; das Gasthaus war in dieser Einöde ein so sichtbarer Punkt, daß es ganz unmöglich war, es selbst im Finstern nicht zu finden. Es war ein langgestrecktes, hölzernes, schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunden noch Licht brannte und ein reges Leben zu sehen war. Er trat ein und fragte einen abgerissenen Kerl, den er im Korridor traf, nach einem Zimmer. Der zerlumpte Kerl warf einen Blick auf Swidrigailow, schüttelte sich und führte ihn sofort in ein enges, dumpfes Zimmer, das ganz am Ende des Korridors, in der Ecke unter der Treppe, lag. Ein anderes war aber nicht zu haben; alle Zimmer waren besetzt. Der zerlumpte Kerl sah ihn fragend an. »Gibt's Tee?« fragte Swidrigailow. »Kann gemacht werden.« »Was gibt's noch?« »Kalbfleisch, Schnaps, kalten Imbiß.« »Bring mir Kalbfleisch und Tee.« »Sonst wünschen Sie nichts?« fragte der Kerl sogar mit einigem Erstaunen. »Nein, nichts.« Der zerlumpte Kerl verschwand vollkommen enttäuscht. – Das muß wohl ein guter Ort sein, – dachte Swidrigailow: – wie kommt es, daß ich ihn nicht kannte? Ich habe wohl auch das Aussehen eines Menschen, der aus einem Tingeltangel kommt, aber unterwegs schon eine Geschichte gehabt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier absteigt und übernachtet. Er zündete ein Licht an und betrachtete sein Zimmer genauer. Es war eine winzige kleine Kammer, beinahe zu niedrig für Swidrigailows Körpergröße, mit nur einem Fenster. Die Wände sahen so aus, als wären sie aus Brettern zusammengenagelt, und die abgeriebene Tapete war so verstaubt und zerrissen, daß man ihre (gelbe) Farbe noch erraten, aber das Muster nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie es gewöhnlich in Mansarden ist, aber hier befand sich darüber die Treppe. Swidrigailow stellte das Licht hin, setzte sich aufs Bett und versank in Gedanken. Aber ein sonderbares und ununterbrochenes Flüstern im Nebenzimmer, das sich zuweilen fast bis zu einem Geschrei steigerte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Geflüster hatte seit dem Augenblick, als er eingetreten war, nicht aufgehört. Er lauschte: jemand schimpfte und überschüttete einen anderen weinend mit Vorwürfen, aber man hörte nur eine Stimme. Swidrigailow erhob sich verdeckte mit der Hand die Kerzenflamme und sah sofort an der Wand eine Ritze aufblitzen; er ging heran und blickte hinein. In dem Zimmer, das etwas größer war als das seinige, befanden sich zwei Gäste. Der eine, ohne Rock, mit lockigem Kopf und rotem, erregtem Gesicht, stand in Rednerpose da, die Beine weit auseinander, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich mit der Hand vor die Brust und warf dem anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und sogar keinen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe und ihn, wenn er wolle, wegjagen könne; das alles sehe aber der Finger Gottes allein. Der Freund, dem diese Rede galt, saß auf einem Stuhl und hatte die Miene eines Menschen, der sehr gerne niesen möchte, dem es aber nicht gelingen will. Ab und zu sah er mit einem trüben Schafsblicke den Redner an, schien aber nicht die geringste Ahnung davon zu haben, wovon die Rede war, und auch kaum etwas zu hören. Auf dem Tisch brannte ein Kerzenstumpf, standen und lagen eine fast leere Schnapsflasche, Gläser, Brot, Gurken und Teegeschirr; der Tee war schon längst ausgetrunken. Nachdem Swidrigailow dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, verließ er gleichgültig die Ritze und setzte sich wieder aufs Bett. Der abgerissene Kerl, der mit dem Tee und dem Kalbfleisch gekommen war, konnte sich nicht enthalten, wieder zu fragen, ob der Herr nicht noch etwas wünsche, und entfernte sich, nachdem er abermals eine verneinende Antwort bekommen hatte, endgültig aus dem Zimmer. Swidrigailow stürzte sich über den Tee, um sich schneller zu erwärmen, und trank ein Glas, aber essen konnte er nicht, da er jeden Appetit verloren hatte. Offenbar begann er zu fiebern. Er zog Mantel und Jacke aus, wickelte sich in die Decke und legte sich aufs Bett. Er ärgerte sich: »Diesmal wäre es doch besser, gesund zu sein«, dachte er sich und lächelte. Im Zimmer war es dumpf, das Licht brannte trüb, draußen brauste der Wind, irgendwo in einer Ecke nagte eine Maus, und im Zimmer roch es überhaupt nach Mäusen und nach Leder. Er lag da und träumte, ein Gedanke löste den anderen ab. Es schien, als wollte er sich mit seiner Phantasie an etwas Bestimmtes klammern. »Draußen unter dem Fenster ist wohl irgendein Garten«, dachte er ... »Die Bäume rauschen; wie widerlich ist mir das Rauschen der Bäume in der Nacht, bei Sturm, im Finstern, – ein übles Gefühl!« Und er erinnerte sich, wie er, als er vorhin am Petrowskij-Park vorüberging, mit Widerwillen an ihn gedacht hatte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich auch der *schen Brücke und der Kleinen Newa, und er fühlte wieder eine Kälte, wie vorhin, als er über dem Wasser stand. »Nie im Leben habe ich Wasser gemocht, selbst auf Landschaftsbildern nicht«, dachte er sich wieder und lächelte plötzlich über einen sonderbaren Gedanken: »Jetzt müßten mir doch eigentlich jede Ästhetik und jeder Komfort gleichgültig sein, aber gerade jetzt bin ich wählerisch geworden, wie ein Tier, das sich einen passenden Ort aussucht ... im gleichen Falle. Ich hätte eben vorhin in den Petrowskij-Park einbiegen sollen! Kam mir aber wohl zu dunkel und kalt vor, he-he! Beinahe suche ich angenehme Gefühle! ... Übrigens: warum soll ich nicht die Kerze auslöschen? (Er blies sie aus.) Die Nachbarn haben sich wohl schon schlafen gelegt«, dachte er, als er in der Ritze kein Licht mehr sah. »Nun, Marfa Petrowna, jetzt hätten Sie erscheinen sollen: es ist dunkel, der Ort ist geeignet, und der Augenblick originell. Aber gerade jetzt werden Sie nicht kommen ...« Es kam ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde vor seinem Anschlag auf Dunjetschka, Raskolnikow empfohlen hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. »In der Tat, ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um mich selbst zu reizen, was Raskolnikow auch erraten hat. Dieser Raskolnikow ist aber ein geriebener Junge! Große Lasten hat er schon getragen. Kann mit der Zeit ein großer Spitzbube werden, wenn ihm der ganze Unsinn aus dem Kopfe herausfliegt, jetzt will er aber zu sehr leben. In diesem Punkte sind alle diese Leute gemein. Na, hol ihn der Teufel, was geht es mich an.« Er konnte immer keinen Schlaf finden. Allmählich erstand vor ihm das Bild Dunjetschkas, wie er sie vorhin gesehen hatte, und plötzlich lief ein Zittern durch seinen Körper. »Nein, das muß man jetzt schon aufgeben,« dachte er, zu sich kommend, »man muß an etwas anderes denken. Sonderbar und lächerlich: gegen niemand habe ich jemals starken Haß gehabt, habe auch niemals besondere Rachlust gespürt, das ist aber ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch niemals gerne gestritten, bin auch nie hitzig geworden – auch ein schlimmes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles versprochen, – pfui Teufel! Vielleicht hätte sie mich aber auch irgendwie ummodeln können ...« Er schwieg wieder und preßte die Lippen zusammen: wieder erschien vor ihm Dunjetschkas Bild, genau wie sie aussah, als sie nach dem ersten Schuß erschrocken war, den Revolver sinken ließ und ihn leichenblaß ansah, so daß er sie zweimal hätte packen können, während sie nicht einmal die Hand zur Gegenwehr erhoben hätte, wenn er sie nicht selbst daran erinnerte. Er erinnerte sich, wie er in diesem Augenblick etwas wie Mitleid mit ihr spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte ... »Ach, zum Teufel! Wieder diese Gedanken; das muß ich alles aufgeben, aufgeben, aufgeben! ...« Er schlief schon ein, das fieberhafte Zittern war im Abnehmen; plötzlich lief etwas unter der Bettdecke über seinen Arm und sein Bein. Er fuhr zusammen: »Pfui Teufel, das scheint ja eine Maus zu sein!« dachte er. »Ich habe das Kalbfleisch auf dem Tische stehen lassen ...« Er hatte furchtbar wenig Lust, die Decke abzuwerfen, aufzustehen und zu frieren, aber plötzlich fuhr ihm wieder etwas höchst unangenehm über das Bein; er riß die Decke von sich und steckte die Kerze an. Vor fieberhafter Kälte zitternd, bückte er sich und untersuchte das Bett, konnte aber nichts sehen; nun schüttelte er die Decke, und plötzlich sprang auf das Laken eine Maus. Er versuchte sie zu fangen; aber die Maus sprang nicht vom Bett herunter, sondern rannte im Zickzack in allen Richtungen, glitt ihm durch die Finger, lief ihm über die Hand und huschte plötzlich unter das Kissen; er warf das Kissen zu Boden, spürte aber im gleichen Augenblick, wie ihm etwas in den Busen sprang und unter seinem Hemde über den Rücken huschte. Ihn befiel ein nervöses Zittern und – er erwachte. Im Zimmer war es dunkel, er lag wie vorhin im Bette, in die Decke gehüllt, hinter dem Fenster heulte der Wind. »Wie ekelhaft!« dachte er ärgerlich. Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand, mit dem Rücken gegen das Fenster. »Lieber nicht mehr einschlafen!« sagte er sich. Vom Fenster kam übrigens Kälte und Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen, zog er die Decke über sich und hüllte sich in sie. Die Kerze steckte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte an nichts denken; doch Visionen zogen eine nach der anderen an ihm vorbei, Bruchstücke von Gedanken ohne Anfang, ohne Ende und ohne Zusammenhang wirbelten ihm durch den Sinn. Er verfiel gleichsam in einen Halbschlummer. War es die Kälte, die Dunkelheit, die Feuchtigkeit oder der Wind, der draußen heulte und die Bäume bewegte, was in ihm eine hartnäckige phantastische Neigung weckte, – aber er sah plötzlich lauter Blumen vor sich. Ein herrliches blühendes Landschaftsbild tauchte vor ihm auf: ein heiterer, warmer, fast heißer Frühlingstag, ein Pfingsttag; ein reiches, prächtiges Landhaus in englischem Stil, ganz von duftenden Blumenbeeten umgeben; der Eingang umwunden von Schlingpflanzen, verdeckt von Rosenstöcken; eine helle, kühle Treppe, mit einem prächtigen Teppich bedeckt, flankiert von seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Besonders fielen ihm wassergefüllte Glasvasen auf den Fensterbänken auf, gefüllt mit Sträußen von weißen, zarten, stark duftenden Narzissen, die sich auf ihren grellgrünen, dicken und langen Stengeln bogen. Er wollte sich von ihnen gar nicht trennen, aber er ging die Treppe hinauf in einen großen, hohen Saal, und auch hier waren überall an den Fenstern, vor der offenen Tür zur Terrasse und auf der Terrasse selbst Blumen, nichts als Blumen. Der Boden war mit frischgemähtem, duftendem Gras bestreut, die Fenster standen offen, eine frische, leichte, kühle Luft drang ins Zimmer, Vögel zwitscherten vor den Fenstern, und mitten im Saale stand auf einigen zusammengerückten, mit weißem Atlas bedeckten Tischen ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Gros-de-Naples ausgeschlagen und mit weißen Rüschen benäht. Blumengirlanden umrankten ihn auf allen Seiten. Ganz in Blumen lag darin ein kleines Mädchen in weißem Tüllkleid, die wie aus Marmor gemeißelten, zusammengefalteten Hände an die Brust gedrückt. Aber ihre aufgelösten hellblonden Haare waren naß; ein Rosenkranz schmückte ihr Haupt. Das strenge und schon erstarrte Gesichtsprofil war auch wie aus Marmor gemeißelt, doch das Lächeln auf den blassen Lippen war von einem gar nicht kindlichen, grenzenlosen Weh und einer großen Klage erfüllt. Swidrigailow kannte dieses Mädchen; am Sarge gab es weder ein Heiligenbild noch brennende Kerzen, es waren keine Gebete zu hören. Das kleine Mädchen war eine Selbstmörderin, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Sie war nur vierzehn Jahre alt, aber ihr Herz war schon gebrochen, sie hatte sich getötet, durch eine schändliche Tat verletzt, die ihr junges, kindliches Bewußtsein mit Entsetzen und Erstaunen erfüllt, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schande besudelt und ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entrissen hatte, der nicht erhört, sondern frech erstickt wurde in finstrer Nacht, in Kälte, bei feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte ... Swidrigailow kam zu sich, stand auf und trat ans Fenster. Er fand tastend den Riegel und öffnete das Fenster. Der Wind drang rasend in seine enge Kammer und schlug mit frostigem Reif gegen sein Gesicht und seine nur mit dem Hemd bedeckte Brust. Unter dem Fenster befand sich wohl tatsächlich etwas wie ein Garten, vielleicht sogar ein Vergnügungsgarten; wahrscheinlich sang bei Tage auch hier ein Sängerchor und wurde auf den Tischen Tee serviert. Jetzt aber flogen von den Bäumen und Sträuchern Regentropfen ins Fenster, es war dunkel wie in einem Keller, so daß man kaum einige dunkle Flecken, die Gegenstände darstellten, unterscheiden konnte. Swidrigailow beugte sich hinaus und blickte an die fünf Minuten, sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett stützend, unverwandt in dieses Dunkel. Durch die finstere Nacht tönte plötzlich ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. »Aha, das Signal! Das Wasser steigt!« dachte er. »Gegen Morgen wird es in den niedriggelegenen Stadtteilen in die Straßen fluten, die Keller überschwemmen, die Kellerratten werden emporschwimmen, und die Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und fluchend ihren Plunder in die oberen Stockwerke schleppen ... Wie spät mag es jetzt wohl sein?« Kaum hatte er sich das gefragt, als irgendwo ganz in der Nähe, tickend und sich mit aller Kraft beeilend, eine Wanduhr drei schlug. »Ach, in einer Stunde fängt es schon zu tagen an! Was soll ich noch länger warten? Ich gehe gleich von hier weg direkt in den Petrowskij-Park; dort suche ich mir einen großen Strauch aus, ganz vom Regen übergossen, so daß, wenn man ihn nur mit der Schulter berührt, Millionen von Tropfen den Kopf überschütten ...« Er ging vom Fenster weg, machte es zu, steckte die Kerze an, zog Weste und Mantel an, setzte sich den Hut auf und ging mit der Kerze in der Hand in den Korridor, um den abgerissenen Kerl, der irgendwo in einer Kammer zwischen allerlei Gerümpel und Kerzenstümpfen schlafen mochte, aufzusuchen, mit ihm abzurechnen und das Gasthaus zu verlassen. »Es ist der beste Augenblick, einen besseren hätte ich gar nicht finden können!« Er ging lange auf dem langen schmalen Korridor auf und ab, ohne jemand zu finden, und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke zwischen einem alten Schrank und einer Tür einen sonderbaren Gegenstand entdeckte; es schien etwas Lebendiges zu sein. Er beugte sich mit der Kerze darüber und sah ein Kind, ein höchstens fünfjähriges kleines Mädchen, in einem wie ein Bodenlappen durchnäßten Kleidchen, ein zitterndes und weinendes Kind. Es schien vor Swidrigailow gar keine Angst zu haben, sah ihn mit stumpfem Staunen mit seinen großen schwarzen Augen an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange geweint haben, aber schon stillgeworden sind und sich sogar getröstet haben, doch noch immer ab und zu aufzuschluchzen pflegen. Das Gesichtchen war blaß und mager; sie war vor Kälte fast erstarrt, – aber »wie ist sie nur hergeraten? Sie hat sich also hier versteckt und die ganze Nacht nicht geschlafen«. Er begann sie auszufragen. Das Mädchen wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in ihrer kindlichen Sprache. Die Rede war von einem »Mamachen« und daß »Mamachen hauen wird« und von irgendeiner Tasse, die das Kind zerschlagen hatte. Das Mädchen redete ununterbrochen; aus allen diesen Reden konnte man einiges verstehen: daß es ein verhaßtes Kind sei, das von seiner Mutter, einer ewig betrunkenen Köchin, wahrscheinlich im Gasthause selbst, durch fortwährende Schläge ganz eingeschüchtert worden; daß das Kind eine Tasse dieses Mamachens zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie schon am Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf dem Hof im Regen verborgengehalten, sich dann ins Haus eingeschlichen, sich hinter den Schrank versteckt und hier in der Ecke die ganze Nacht weinend und zitternd vor Nässe, Dunkelheit und Angst, daß man sie schlagen würde, gesessen. Er nahm sie auf die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie aufs Bett und begann sie auszukleiden. Ihre durchlöcherten Schuhe, unter denen sie keine Strümpfe hatte, waren so durchnäßt, als hätten sie die ganze Nacht in einer Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett und hüllte sie bis zum Kopf in die Decke. Sie schlief sofort ein. Nachdem er mit alledem fertig war, versank er wieder in düsteres Brüten. »Was mußte ich mich mit ihr einlassen!« sagte er sich plötzlich mit einem schweren und gehässigen Gefühl. »Was für Unsinn!« Argerlich nahm er die Kerze, um hinauszugehen, um jeden Preis den abgerissenen Kerl zu finden und so schnell als möglich von hier wegzukommen. »Ach, das Mädel!« dachte er fluchend, als er schon die Tür öffnete, kam aber noch einmal zurück, um nach dem Kinde zu sehen, ob es schon schlafe und wie es schlafe. Er lüftete vorsichtig die Decke. Das Mädchen schlief fest und selig. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. Aber seltsam: Dieses Rot war greller und leuchtender als sonst das Rot auf kindlichen Wangen. »Das ist fieberhafte Röte«, sagte sich Swidrigailow; »es ist, wie wenn man ihr ein ganzes Glas Wein zu trinken gegeben hätte. Die roten Lippen brennen und glühen, aber was ist das?« Ihm schien es plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, als ob sie sich höben und unter ihnen ein schelmisches, scharfes, gar nicht kindlich blinzelndes Auge hervorblickte, als ob das Mädchen gar nicht schliefe und sich nur verstellte. Ja, so ist es: Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, als ob sie ein Lachen zurückhalten wollten. Nun hält sie sich nicht mehr zurück: Es ist ein Lachen, ein ausgesprochenes Lachen; etwas Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen Gesicht; das ist das Laster, das ist das Gesicht einer Kokette, das freche Gesicht einer feilen französischen Dirne. Schon öffnen sich ganz unverhohlen beide Augen: Sie mustern ihn mit einem glühenden, schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... Etwas unendlich Häßliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen gemeinen Kindergesicht. »Wie! Eine Fünfjährige!« flüsterte Swidrigailow mit tiefem Entsetzen. »Ja ... was ist denn das?« Nun wendet sie sich ihm mit ihrem glühenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah, Verfluchte!« schrie Swidrigailow entsetzt, mit der Hand zum Schlage ausholend. Aber im selben Augenblick erwachte er. Er liegt im gleichen Bette, wie früher in die Decke gehüllt, die Kerze ist nicht angezündet, und durch das Fenster leuchtet weiß der Morgen herein. »Ein Alpdrücken die ganze Nacht!« Er stand zornig auf und fühlte sich ganz zerschlagen; alle Knochen schmerzten ihm. Draußen war ein dichter Nebel, und man konnte nichts unterscheiden. Bald fünf Uhr: Er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog Weste und Mantel an, die noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche den Revolver, nahm ihn heraus und brachte das Zündhütchen in Ordnung; dann setzte er sich, nahm aus der Tasche sein Notizbuch und schrieb auf das Titelblatt, an auffallender Stelle mit großer Schrift einige Zeilen. Er las sie durch, stützte sich auf den Tisch und dachte eine Weile nach. Der Revolver und das Notizbuch lagen gleich neben seinem Ellenbogen. Die erwachten Fliegen klebten auf der Portion Kalbfleisch herum, die er nicht angerührt hatte und die immer noch hier auf dem Tische stand. Er sah sie lange an und versuchte endlich mit der freien rechten Hand nach einer Fliege zu haschen. Lange bemühte er sich, konnte sie aber unmöglich fangen. Endlich er tappte er sich bei dieser interessanten Beschäftigung, fuhr zusammen, stand auf und ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der Straße. Ein milchweißer dichter Nebel lag über der Stadt. Swidrigailow ging auf dem schlüpfrigen, schmutzigen Holzpflaster in der Richtung zu der Kleinen Newa. Er malte sich das während der Nacht hochgestiegene Wasser der Kleinen Newa aus, die Petrowskij-Insel, nasse Wege, nasses Gras, nasse Bäume und Sträucher und endlich jenen bewußten Strauch ... Um an etwas anderes zu denken, begann er voll Ärger die Häuser zu mustern. Weder einen Menschen noch eine Droschke traf er auf dem Prospekt. Traurig und schmutzig sahen die grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Läden aus. Kälte und Nässe drangen ihm durch Mark und Bein, und ihn begann zu frösteln. Hier und da stieß er auf Schilder von Kauf-und Gemüseläden und las jedes aufmerksam. Schon war das Holzpflaster zu Ende. Er erreichte ein großes steinernes Gebäude. Ein schmutziger durchfrorener kleiner Hund mit eingezogenem Schwanz lief ihm über den Weg. Ein vollkommen betrunkener Mensch in einem Uniformmantel lag mit dem Gesicht nach unten quer über das Trottoir. Er sah ihn an und ging weiter. Ein hoher Feuerwehrturm tauchte links von ihm auf. »Bah!« sagte er sich. »Das ist die beste Stelle, was brauche ich den Petrowskij-Park? Hier ist wenigstens ein offizieller Zeuge dabei ...« Bei diesem neuen Gedanken mußte er beinahe lächeln. Er bog in die ***sche Straße ein; hier ragte ein großes Haus mit einem Turm. Vor dem verschlossenen mächtigen Tore des Hauses stand, mit der Schulter daran gelehnt, ein kleines Männchen in einem grauen Soldatenmantel, mit einem messingenen Achilleshelm auf dem Kopfe. Mit verschlafenen Augen schielte er kühl den herantretenden Swidrigailow an. Sein Gesicht drückte jenen ewigen, verdrießlichen Gram aus, der sich so unangenehm ohne Ausnahme allen Gesichtern des jüdischen Volkes aufgeprägt hat. Beide, Swidrigailow und der Achilles, betrachteten einander schweigend eine ganze Weile. Dem Achilles erschien es endlich nicht in der Ordnung, daß ein Mensch, der gar nicht betrunken ist, drei Schritte vor ihm steht, ihn anstarrt und nichts sagt. »Was su-uchen Sie denn hier?« fragte er mit unverkennbar jüdischem Akzent, ohne sich zu rühren und ohne seine Stellung zu verändern. »Gar nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Swidrigailow. »Hier ist nicht der Ort.« »Ich fahre in ein fremdes Land, Bruder.« »In ein fremdes Land?« »Nach Amerika.« »Nach Amerika?« Swidrigailow holte den Revolver hervor und spannte den Hahn. Der Achilles zog die Brauen hoch. »Was sind das für Scherze, hier ist nicht der Ort!« »Warum sollte hier nicht der Ort sein?« »Weil hier nicht der Ort ist.« »Na, Bruder, das ist mir einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragt, so sagst du eben, ich sei nach Amerika gefahren.« Er setzte den Revolver an seine rechte Schläfe. »Hier geht das nicht, hier ist nicht der Ort!« rief Achilles zusammenfahrend, während seine Pupillen sich immer mehr erweiterten. Swidrigailow drückte ab. 7. VII Am gleichen Tage, gegen Abend, um die siebente Stunde näherte sich Raskolnikow der Wohnung seiner Mutter und Schwester – der gleichen Wohnung im Hause Bakalejews, wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Eingang zur Treppe war von der Straße aus. Vor dem Hause verlangsamte Raskolnikow seine Schritte, als schwankte er noch, ob er hinaufgehen solle oder nicht. Er würde aber um nichts in der Welt umkehren: sein Entschluß stand fest. – Außerdem ist es ganz gleich, denn sie wissen noch nichts – dachte er – und sie sind schon gewohnt, mich für einen Sonderling zu halten. Seine Kleidung war schrecklich: alles war beschmutzt, vom Regen während der Nacht durchnäßt, zerrissen und abgetragen. Sein Gesicht war entstellt durch die Müdigkeit, das schlechte Wetter, die körperliche Erschöpfung und den beinahe vierundzwanzigstündigen Kampf mit sich selbst. Die ganze Nacht hatte er ganz allein verbracht, Gott weiß wo. Aber er hatte sich wenigstens entschlossen. Er klopfte an die Tür, und die Mutter öffnete ihm. Dunjetschka war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst stumm vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer. »Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stockend. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße – mit Tränen; aber ich lache ja und weine nicht. Du glaubst, ich weine? Nein, es ist Freude, ich habe nur diese dumme Gewohnheit, daß mir die Tränen fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, bei jeder Gelegenheit weine ich. Setz dich doch, Liebster, du bist sicher müde, ich sehe es. Ach, wie du dich beschmutzt hast!« »Ich war gestern im Regen ...« begann Raskolnikow. »Aber nein, nein!« fuhr Pulcheria Alexandrowna auf, ihn unterbrechend. »Du glaubst wohl, ich werde gleich anfangen, dich auszufragen, nach meiner früheren Altweibergewohnheit; du kannst ruhig sein. Ich verstehe ja, ich verstehe alles; jetzt habe ich die hiesigen Sitten gelernt und sehe wirklich ein, daß man hier klüger ist. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie komme ich dazu, deine Entschlüsse zu verstehen und von dir Rechenschaft zu fordern? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und Pläne im Kopfe, oder es keimen in dir Gedanken; wie soll ich dir dabei in die Hand fallen und dich fragen: Woran denkst du jetzt? Ich ... Ach, Gott! Was laufe ich herum wie eine Verrückte? ... Ich lese eben deinen Artikel in der Zeitschrift zum drittenmal, Rodja, Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. Wie ich ihn sah, schrie ich förmlich auf: Eine dumme Gans bin ich, sagte ich mir, jetzt sehe ich, womit er sich beschäftigt, das ist ja die Lösung der Dinge! Die Gelehrten sind immer so. Vielleicht hat er gerade neue Gedanken im Kopfe; er überlegt sie sich, und ich quäle und störe ihn. Ich lese den Artikel, mein Freund, und verstehe vieles natürlich nicht; so muß es übrigens auch sein: Wie käme ich dazu.« »Zeigen Sie ihn mir, Mama.« Raskolnikow nahm das Blatt und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Artikel. Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er doch das eigenartig schmerzvoll-süße Gefühl, das jeder Autor empfindet, wenn er sich zum erstenmal gedruckt sieht; auch seine dreiundzwanzig Jahre sprachen dabei mit. Das dauerte nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, runzelte er die Stirn, und sein Herz krampfte sich vor furchtbarem Gram zusammen. Alle seine seelischen Kämpfe der letzten Monate kamen ihm auf einmal zum Bewußtsein. Angeekelt und geärgert warf er den Artikel auf den Tisch. »Aber, Rodja, ich mag auch dumm sein, aber ich kann doch darüber urteilen, daß du sehr bald einer der ersten, wenn nicht der Erste in unserer Gelehrtenwelt sein wirst. Und sie wagten es, zu glauben, daß du verrückt geworden seist. Ha-ha-ha! Weißt du, sie haben es wirklich geglaubt. Und auch Dunjetschka, Dunjetschka hat es beinahe geglaubt – was sagst du dazu?! Dein seliger Vater hat zweimal Beiträge an Zeitschriften geschickt: Zuerst Verse (ich habe noch das Heftchen, ich will es dir einmal zeigen) und dann eine ganze Erzählung (ich hatte ihn gebeten, sie abschreiben zu dürfen); so inbrünstig beteten wir beide, daß man es nehme, sie nahmen es aber nicht an! Vor sechs, sieben Tagen war ich totunglücklich, Rodja, als ich sah, wie du dich kleidest, was du ißt und wie du herumgehst. Aber jetzt sehe ich, daß ich damals dumm war, denn wenn du willst, kannst du dir mit deinem Verstand und deinem Talent alles verschaffen. Also willst du es bloß vorläufig nicht und bist mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt ...« »Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?« »Nein, Rodja. Sie ist sehr oft nicht zu Hause und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch – wie dankbar bin ich ihm dafür! – kommt öfters zu mir und spricht immer von dir. Er liebt und schätzt dich sehr, mein Freund. Von deiner Schwester will ich nicht sagen, daß sie unehrerbietig gegen mich wäre. Ich beklage mich ja nicht. Sie hat ihren Charakter, und ich habe den meinigen; sie hat jetzt allerlei Geheimnisse; ich aber habe gar keine Geheimnisse vor euch. Ich bin natürlich fest überzeugt, daß Dunja viel zu klug ist, auch liebt sie dich und mich; aber ich weiß wirklich nicht, wohin das alles führen soll. Du hast mich jetzt ganz glücklich gemacht, weil du hergekommen bist; sie hat dich aber versäumt; wenn sie kommt, werde ich ihr sagen: Als du weg warst, war dein Bruder hier; wo hast du die Zeit zu verbringen geruht? Du sollst mich aber nicht verwöhnen, Rodja: Wenn du kannst, komm zu mir; kannst du aber nicht, so ist eben nichts zu machen, ich werde warten. Ich werde doch immerhin wissen, daß du mich liebst, und das genügt mir. Nun, ich werde deine Werke lesen, werde von allen über dich hören, und ab und zu wirst du auch selbst kommen – was kann ich mir noch Besseres wünschen? Du bist doch eben gekommen, um der Mutter Freude zu machen, ich sehe es ja ...« Pulcheria Alexandrowna fing plötzlich zu weinen an. »Schon wieder fange ich an! Achte nicht auf mich dumme Gans. Ach, Gott, was sitze ich da!« schrie sie auf, von ihrem Platze aufspringend. »Ich habe ja Kaffee und biete dir gar nichts an! So egoistisch ist solch ein altes Weib. Sofort, sofort!« »Mamachen, lassen Sie es, ich gehe gleich fort. Ich bin nicht deswegen hergekommen. Bitte, hören Sie mich an.« Pulcheria Alexandrowna ging ängstlich auf ihn zu. »Mamachen, was auch passiert, was Sie über mich auch hören, was man Ihnen auch sagt – werden Sie mich auch dann noch so lieben wie jetzt?« fragte er plötzlich aus vollem Herzen, als überlegte er sich seine Worte nicht, als wäge er sie nicht. »Rodja, Rodja, was fällt dir ein? Wie kannst du nur so etwas fragen! Wer wird denn mir etwas über dich sagen? Ich werde ja niemand glauben, wer zu mir auch kommt, ich jage ihn einfach hinaus.« »Ich bin gekommen, Ihnen zu versichern, daß ich Sie immer geliebt habe, und bin jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht da ist«, fuhr er in derselben Erregung fort. »Ich bin gekommen, Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr als sich selbst liebt und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und Sie nicht liebe, nicht richtig ist. Sie zu lieben werde ich niemals aufhören! ... Nun, es ist genug: Ich glaubte, daß ich es sagen und damit beginnen müßte ...« Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn stumm, drückte ihn an die Brust und weinte leise. »Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht«, sagte sie endlich. »Ich dachte die ganze Zeit, daß wir dich einfach langweilen, aber jetzt ersehe ich aus allem, daß dir ein großes Leid bevorsteht und daß du dich darüber grämst. Ich habe es schon lange vorausgesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon spreche; ich denke immer daran und schlafe nachts nicht. Diese ganze Nacht hat auch deine Schwester phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe etwas gehört, aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging ich wie vor einer Hinrichtung herum, erwartete immer etwas, und nun ist es gekommen. Rodja, Rodja, wo willst du denn hin? Verreist du vielleicht irgendwohin?« »Ich verreise.« »Das hab' ich mir auch gedacht! Ich kann ja auch mit dir mitfahren, wenn du es brauchst. Auch Dunja; sie liebt dich, sie liebt dich sehr; auch Ssofja Ssemjonowna kann vielleicht mitkommen, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern als Tochter aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns helfen, uns auf den Weg zu machen ... Aber ... wohin ... reisest du?« »Leben Sie wohl, Mamachen.« »Wie! Heute schon!« rief sie aus, als verliere sie ihn für alle Ewigkeit. »Ich kann nicht ... es ist Zeit für mich, ich muß dringend ...« »Und ich darf nicht mit?« »Nein, knien Sie nieder und beten Sie für mich zu Gott Ihr Gebet wird vielleicht erhört werden.« »Laß dich bekreuzigen, dich segnen! Ja, so, so! O Gott, was tun wir!« Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand dabei war, daß er mit der Mutter allein war. Sein Herz war seit dieser ganzen schrecklichen Zeit gleichsam auf einmal weich geworden. Er sank vor ihr nieder, er küßte ihre Füße, und beide weinten, einander umarmend. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit ihrem Sohn etwas Furchtbares vorging, und nun war dieser für ihn so schreckliche Augenblick gekommen. »Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du bist jetzt ebenso, wie du als kleines Kind warst; du bist damals ebenso zu mir gekommen, hast mich ebenso umarmt und geküßt; als wir noch mit deinem Vater in Armut lebten, tröstetest du uns schon damit, daß du mit uns warst; und als ich deinen Vater beerdigt hatte, wie oft haben wir uns umarmt, so wie jetzt, und auf seinem Grabe geweint. Daß ich schon so lange weine, kommt daher, weil das Mutterherz das Unheil ahnt. Als ich dich damals zum erstenmal sah, am Abend, erinnerst du dich noch, als wir erst eben angekommen waren, hatte ich alles aus deinem Blick allein erraten, und mein Herz krampfte sich damals zusammen; und heute, als ich dir öffnete und dich ansah, sagte ich mir gleich, daß die Schicksalsstunde gekommen sei. Rodja, Rodja, du reist doch nicht sofort?« »Nein.« »Kommst du noch einmal her?« »Ja ... ich komme noch.« »Rodja, sei mir nicht böse, ich wage dich nicht auszufragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf, aber sag mir bloß zwei Worte: Ist es weit, wohin du reist?« »Sehr weit.« »Was ist dort, eine Anstellung für dich, oder erwartet dich eine Karriere?« »Was Gott mir gibt ... beten Sie nur für mich ...« Raskolnikow ging zur Tür, aber sie hielt ihn fest und blickte ihm verzweifelnd in die Augen. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. »Genug, Mamachen«, sagte Raskolnikow, der schon tief bereute, daß es ihm eingefallen war, herzukommen. »Doch nicht für immer? Noch nicht für immer? Du wirst doch noch kommen, wirst morgen kommen?« »Ja, ich werde kommen, leben Sie wohl.« Endlich riß er sich los – – – Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich schon am Morgen gebessert. Raskolnikow ging nach Hause, er hatte große Eile. Er wollte allem noch vor Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin wollte er niemand sehen. Als er die Treppe hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom Samowar abwandte, ihn unverwandt ansah und mit den Augen verfolgte. – Ist etwa jemand bei mir? – dachte er. Mit Widerwillen dachte er an Porfirij. Als er aber sein Zimmer erreichte und die Tür öffnete, erblickte er Dunjetschka. Sie saß mutterseelenallein in tiefem Nachdenken da und schien schon lange auf ihn zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschrocken vom Sofa und richtete sich vor ihm auf. Ihr unverwandt auf ihn gerichteter Blick drückte Entsetzen und unstillbaren Gram aus. An diesem Blick allein erriet er sofort, daß sie alles wußte. »Nun, soll ich zu dir eintreten oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch. »Ich saß den ganzen Tag bei Ssofja Ssemjonowna; wir haben dich beide erwartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt dorthin kommen.« Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl. »Ich bin so schwach, Dunja; ich bin so müde; aber ich möchte mich wenigstens in diesem Augenblick ganz in der Hand haben.« Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu. »Wo warst du denn die ganze Nacht?« »Ich weiß es nicht mehr genau. Siehst du, Schwester, ich wollte mich endgültig entschließen und ging lange an der Newa auf und ab. Ich wollte dort ein Ende machen, aber ich brachte es nicht über mich ...« flüsterte er und sah Dunja wieder mißtrauisch an. »Gott sei Dank! Und wir haben gerade das befürchtet, ich und Ssofja Ssemjonowna! Also glaubst du noch an das Leben! ... Gott sei Dank, Gott sei Dank.« Raskolnikow lächelte bitter. »Ich glaube nicht, aber eben habe ich mit der Mutter geweint, wir hielten uns dabei umarmt; ich glaube nicht, aber ich bat sie, für mich zu beten. Gott weiß, wie das gemacht wird, Dunjetschka, ich verstehe nichts davon.« »Du warst bei der Mutter? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt aus. »Hast du dich wirklich entschlossen, es ihr zu sagen?« »Nein, ich habe nichts gesagt ... nicht mit Worten; aber sie hat vieles begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin überzeugt, daß sie es zur Hälfte schon begreift. Vielleicht ist es nicht gut, daß ich bei ihr war. Ich weiß auch nicht, warum ich zu ihr gegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.« »Ein gemeiner Mensch, bist aber bereit, das Leid auf dich zu nehmen! Du gehst doch hin?« »Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entrinnen, wollte ich mich ertränken, Dunja; aber als ich schon über dem Wasser stand, dachte ich mir: wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so werde ich auch die Schande nicht fürchten. Das ist der Stolz, Dunja.« »Der Stolz, Rodja.« Es leuchtete wie ein Feuer in seinen erloschenen Augen auf; es schien ihm Freude zu machen, daß er noch stolz sei. »Glaubst du nicht, Schwester, daß ich vor dem Wasser einfach Angst bekam?« fragte er, ihr mit einem häßlichen Lächeln ins Gesicht blickend. »O Rodja, hör auf!« rief Dunja aus. An die zwei Minuten schwiegen sie beide. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte zu Boden; Dunjetschka saß am anderen Ende des Tisches und sah ihn voller Qual an. Plötzlich stand er auf. »Es ist spät, es ist Zeit! Ich gehe gleich hin, mich anzuzeigen. Aber ich weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.« Große Tränen liefen ihr die Wangen herab. »Du weinst, Schwester, kannst du mir aber die Hand reichen?« »Und du zweifeltest daran?« Sie umarmte ihn. »Indem du hingehst, um das Leid auf dich zu nehmen, büßest du denn dein Verbrechen nicht schon zur Hälfte ab?!« schrie sie, ihn fest umarmend und küssend. »Verbrechen? Was ist das für ein Verbrechen?!« rief er in einem Anfall plötzlicher Wut. »Daß ich eine abscheuliche, schädliche Laus, eine alte Wucherin, die niemand braucht, für deren Ermordung einem vierzig Sünden vergeben werden, die den Armen alle Säfte aussog, ermordet habe – das soll ein Verbrechen sein?! Ich denke gar nicht daran und will es auch gar nicht büßen. Was deutet man mir von allen Seiten auf das Wort, Verbrechen'? Jetzt erst sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, diese ganz unnötige Schande auf mich zu nehmen! Ich entschließe mich dazu bloß aus Gemeinheit und Talentlosigkeit, vielleicht auch noch aus Berechnung, wie dieser ... Porfirij ... mir vorgeschlagen hat! ...« »Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief Dunja voll Verzweiflung aus. »Das alle vergießen,« fiel er ihr fast rasend ins Wort, »das in der Welt wie ein Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das man wie Champagner vergießt und für das man auf dem Kapitol gekrönt und dann als Wohltäter der Menschheit gepriesen wird. Betrachte die Sache doch näher! Ich selbst wollte den Menschen Gutes tun und hätte Hunderte und Tausende guter Werke getan statt dieser einzigen Dummheit, sogar keiner Dummheit, sondern bloß einer Ungeschicklichkeit, denn dieser ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt erscheint, nach dem Mißerfolg ... (nach dem Mißerfolg erscheint alles dumm!). Durch diese Dummheit wollte ich mir bloß eine unabhängige Stellung verschaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel auftreiben, und dann würde alles durch einen im Verhältnis unermeßlichen Nutzen aufgewogen werden ... Aber ich habe auch den ersten Schritt nicht ausgehalten, denn ich bin ein Schuft! Das ist eben die ganze Sache! Und doch werde ich es niemals mit euren Augen ansehen: Wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, so aber muß ich in die Falle!« »Aber das ist doch gar nicht das, gar nicht das! Bruder, was sagst du nur!« »Ah! Es ist nicht die richtige Form, sie ist nicht ästhetisch genug! Aber ich kann doch unmöglich begreifen, warum es respektabler sein soll, die Menschen durch Bomben umzubringen! Die Furcht vor den Gesetzen der Ästhetik ist das erste Zeichen der Schwäche! ... Noch niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt begriffen, und weniger als jemals begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war ich stärker und überzeugter als jetzt!« In sein blasses, ausgemergeltes Gesicht war sogar Blut gestiegen. Als er aber die letzten Worte sprach, begegnete er zufällig mit seinem Blick den Augen Dunjas und sah darin so viel, so viel Qual um seinetwillen, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er diese beiden armen Frauen immerhin unglücklich gemacht hatte. Immerhin war er die Ursache. »Dunja, Liebste! Wenn ich Schuld habe, so vergib mir (obwohl man mir gar nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe)! Lebe wohl! Wir wollen nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch irgendwo hingehen ... Geh jetzt gleich zur Mutter und setze dich neben sie. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte große Bitte an dich. Verlaß sie nicht in dieser ganzen Zeit; ich habe sie in einer Unruhe zurückgelassen, die sie kaum überstehen wird: Sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleib bei ihr! Rasumichin wird mit euch sein; ich habe mit ihm schon gesprochen ... Weine nicht um mich: Ich werde mich bemühen, mutig und ehrlich zu sein, mein ganzes Leben, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande antun, du wirst es sehen; ich werde noch beweisen ... jetzt vorläufig auf Wiedersehen«, schloß er eilig, als er in den Augen Dunjas bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen sonderbaren Ausdruck bemerkt hatte. »Was weinst du so? Weine nicht, weine nicht, wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach ja! Wart, ich hab es vergessen! ...« Er trat an den Tisch, nahm ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein zwischen den Seiten verwahrtes kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das ins Kloster gehen wollte. Eine Minute lang blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesichtchen an, küßte das Bild und gab es Dunjetschka. »Mit ihr habe ich viel davon gesprochen, mit ihr allein«, sagte er nachdenklich. »Ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was später in einer so häßlichen Weise in Erfüllung gegangen ist. Sei ruhig,« wandte er sich an Dunja, »sie war mit mir nicht einverstanden, ebenso wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr ist. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß jetzt alles ganz neu beginnt, daß alles entzweibricht«, rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram verfallend, »alles, alles; bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es selbst? ... Man sagt, es sei zu meiner Prüfung notwendig! Doch wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Was brauche ich sie? Werde ich es denn dann, erdrückt von Qualen und Idiotie, in greisenhafter Ohnmacht nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit besser empfinden, als ich es jetzt empfinde, und wozu soll ich dann noch leben? Oh, ich wußte es, daß ich ein Schuft bin, als ich heute in der Morgendämmerung an der Newa stand!« – – – Beide verließen schließlich das Haus. Es war Dunja schwer, aber sie liebte ihn so! Sie trennte sich von ihm; als sie aber etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich um, um ihn noch einmal anzuschauen. Sie konnte ihn noch sehen. Aber an der Ecke wandte er sich auch um, und ihre Blicke trafen sich zum letztenmal; als er merkte, daß sie ihn ansah, winkte er ungeduldig und sogar ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehe, und bog jäh um die Ecke. – Ich bin böse, ich sehe es – dachte er, als er sich nach einer Minute seiner ärgerlichen Geste gegen Dunja schämte. – Aber warum lieben sie mich so, wenn ich es nicht verdiene! O wär ich doch allein und niemand liebte mich, und hätte ich auch selbst nie jemand geliebt! Dann wäre dies alles nicht geschehen ! Ich möchte aber gern wissen, ob meine Seele in diesen kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren sich so demütigen wird, daß ich vor den Menschen voller Andacht jammern und mich bei jedem Wort Mörder nennen werde? Ja, so wird es sein! Darum verschicken sie mich auch nach Sibirien, das ist es, was sie brauchen ... Da laufen sie in den Straßen herum, und jeder von ihnen ist ein Schuft und ein Mörder, schon seiner Natur nach; und noch schlimmer als das – ein Idiot! Wenn man mir aber die Zwangsarbeit erläßt, so werden sie vor edler Empörung rasen! Oh, wie ich sie alle hasse! – Er vertiefte sich in den Gedanken: – Durch welchen Prozeß kann es so kommen, daß ich mich zuletzt ganz ohne zu klügeln vor allen demütige, mich mit voller Überzeugung demütige? Warum auch nicht? Es muß natürlich so kommen. Werden mir denn die zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes nicht endgültig den Garaus machen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wozu, wozu dann noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wo ich selbst weiß, daß alles sich genau so wie nach Noten abspielen wird und nicht anders! – Diese Frage legte er sich seit gestern abend vielleicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch hin. 8. VIII Als er zu Ssonja kam, begann es zu dämmern. Ssonja hatte den ganzen Tag in furchtbarer Aufregung auf ihn gewartet. Auch Dunja hatte mit ihr gewartet. Dunja war schon am Morgen zu ihr gekommen, eingedenk der gestrigen Worte Swidrigailows, daß Ssonja schon »alles wisse«. Wir wollen die Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Mädchen, ihre Tränen und, wie weit sie sich näher kamen, übergehen. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: Er war doch mit seiner Beichte zuerst zu Ssonja gegangen; in ihr hatte er den Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie wird ihm auch überallhin folgen, wohin ihn das Schicksal auch bringt. Sie fragte gar nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie sah Ssonja mit Ehrfurcht an und machte sie damit sogar verlegen. Ssonja war nahe daran, zu weinen: Sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das herrliche Bild Dunjas, als sie sich von ihr so aufmerksam und ehrerbietig nach ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow verabschiedet hatte, blieb seitdem für immer in ihrer Seele als einer der schönsten und erhabensten Eindrücke ihres Lebens. Dunjetschka hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und war von Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie glaubte immer, daß er zuerst dorthin kommen würde. Als Ssonja allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken zu quälen, daß Rodja vielleicht wirklich Selbstmord begehen würde. Dasselbe fürchtete auch Dunja. Aber sie hatten einander den ganzen Tag mit vielen Gründen zu überzeugen gesucht, daß es nicht möglich sei, und waren ruhiger, solange sie zusammenblieben. Nachdem sie sich aber getrennt hatten, dachte die eine wie die andere wieder nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Swidrigailow ihr gestern gesagt hatte, daß Raskolnikow nur zwei Wege vor sich habe: entweder Sibirien oder ... Außerdem kannte sie seinen Ehrgeiz, seinen Hochmut, seine Eigenliebe und seinen Unglauben. – Können denn der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode allein ihn zwingen, zu leben? – dachte sie schließlich in Verzweiflung. Die Sonne ging indessen unter. Ssonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus – aber sie konnte bloß die ungetünchte Grundmauer des Nachbarhauses sehen. Endlich, als sie vom Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, – trat er in ihr Zimmer. Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Als sie aber sein Gesicht aufmerksam ansah, erbleichte sie plötzlich. »Na, ja!« sagte Raskolnikow mit spöttischem Lächeln. »Ich komme, um mir dein Kreuz zu holen, Ssonja; du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg geschickt. Wie ist es nun: wo es zu handeln gilt, bist du bange geworden?« Ssonja sah ihn erstaunt an. So sonderbar erschien ihr dieser Ton; ein kaltes Frösteln lief über ihren Körper, aber schon nach einer Minute hatte sie erraten, daß dieser Ton und diese Worte gekünstelt waren. Als er mit ihr sprach, sah er auch in eine Ecke, als vermeide er, ihr ins Gesicht zu blicken. »Siehst du, Ssonja, ich habe eingesehen, daß es so vielleicht besser sein wird. Es gibt einen Umstand ... Na ja, es ist lang zu erzählen und hat auch keinen Sinn. Weißt du, was mich bloß ärgert? Es ärgert mich, daß alle diese dummen tierischen Fratzen mich gleich umringen und anglotzen, mir ihre dummen Fragen vorlegen werden, die man beantworten muß, daß sie mit Fingern auf mich zeigen werden ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porfirij gehen; ich habe ihn satt. Ich gehe lieber zu meinem Freund Pulver, der wird sich wundern, bei dem werde ich einen gewissen Effekt machen. Ich muß aber kaltblütiger sein; viel zu viel Galle hat sich in mir in der letzten Zeit angesammelt. Glaubst du mir, ich habe soeben meiner Schwester fast mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist denn das Kreuz?« Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht einen Augenblick ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken sprangen übereinander, er redete irre; seine Hände zitterten leicht. Ssonja nahm schweigend aus der Schublade zwei Kreuze, eines aus Zypressenholz und eines aus Messing, bekreuzigte sich, bekreuzigte auch ihn und hängte ihm das Kreuz aus Zypressenholz um den Hals. »Das ist also ein Symbol dessen, daß ich ein Kreuz auf mich nehme, he-he! Als ob ich bisher wenig gelitten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz, also wie es das einfache Volk trägt; das aus Messing, das Kreuz Lisawetas nimmst du dir; zeig es mir! So hat sie es ... in jenem Augenblick umgehabt? Ich kenne zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein kleines Heiligenbild. Ich habe sie damals der Alten auf die Brust geworfen. Diese Kreuze sollte ich mir jetzt umhängen, wirklich ... Übrigens schwatze ich immer Unsinn; so vergesse ich die Hauptsache, ich bin so zerstreut! ... Siehst du, Ssonja, ich bin eigentlich gekommen, um es dir vorher zu sagen, damit du es weißt ... Nun, das ist alles ... Ich bin ja nur deswegen hergekommen. (Hm! Ich hatte übrigens geglaubt, daß ich mehr sagen würde.) Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird in Erfüllung gehen; was weinst du denn? Auch du weinst? Hör auf, genug; ach, wie schwer ist mir das alles!« Aber in ihm regte sich Mitgefühl; sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen. – Was hat sie bloß? dachte er. – Was bin ich ihr? Warum weint sie, warum verabschiedet sie sich von mir wie meine Mutter oder wie Dunja? Sie wird meine Wärterin sein! – »Bekreuzige dich, bete wenigstens einmal!« bat Ssonja mit zitternder, scheuer Stimme. »Oh, gerne, soviel du willst! Und mit reinem Herzen, Ssonja, mit reinem Herzen ...« Er wollte ihr übrigens etwas ganz anderes sagen. Er bekreuzigte sich einige Male, Ssonja nahm ihr Tuch und warf es sich über den Kopf. Es war ein grünes Drap-de-dames-Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow gesprochen hatte, das »Familientuch«. Raskolnikow kam sogar dieser Gedanke, aber er fragte nicht. Er begann tatsächlich selbst zu fühlen, daß er furchtbar zerstreut und voll häßlicher Unruhe war. Er erschrak darüber. Er war plötzlich bestürzt, daß Ssonja mit ihm gehen wolle. »Was fällt dir ein? Wo willst du hin? Bleibe, bleibe! Ich gehe allein!« rief er in kleinmütigem Zorn und ging beinahe erbost zur Tür. »Wozu dieses ganze Gefolge!« murmelte er hinaustretend. Ssonja blieb allein mitten im Zimmer. Er hatte von ihr nicht einmal Abschied genommen, er hatte sie schon vergessen; ein stechender Zweifel empörte sich plötzlich in seiner Seele: – Ist es auch so richtig, ist es richtig? – dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging. – Kann ich denn nicht mehr stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen? – Er ging aber doch hin. Plötzlich fühlte er endgültig, daß es keinen Sinn habe, Fragen an sich zu stellen. Als er schon auf der Straße war, erinnerte er sich, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche geblieben war und es nicht wagte, nachdem er sie angeschrien hatte, sich zu rühren. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, der gleichsam nur darauf gewartet hatte, um ihn völlig zu verwirren. – Nun, warum, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr: in einer wichtigen Angelegenheit; was war das für eine wichtige Angelegenheit? Ich hatte ihr doch nichts zu sagen! Um ihr zu sagen, daß ich hingehe ? Was ist denn dabei? War es denn notwendig? Liebe ich sie etwa? Doch nein, nein! Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich vielleicht ihr Kreuz? Oh, wie tief bin ich gesunken! Ihre Tränen brauchte ich, ich mußte ihren Schreck sehen, ich mußte sehen, wie ihr Herz schmerzt und sich quält! Ich mußte mich an irgendetwas festklammern, verweilen, einen Menschen sehen! Und ich wagte noch, so auf mich zu hoffen, so von mir zu denken, ich elender Bettler, ich Schuft, Schuft! – Er ging am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Aber bei der Brücke blieb er stehen, schlug plötzlich den Weg über die Brücke ein und ging nach dem Heumarkt. Mit gierigen Blicken sah er nach rechts und nach links, betrachtete gespannt jeden Gegenstand und konnte auf keinen seine Aufmerksamkeit konzentrieren; alles entglitt ihm. – Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich über diese Brücke irgendwohin in so einem Gefängniswagen fahren; mit welchen Augen werde ich dann diesen Kanal ansehen? – Wenn ich mir das merken könnte! – ging es ihm durch den Kopf. – Dieses Schild dort, wie werde ich dann diese Buchstaben lesen? Da steht geschrieben »Genossenschaft«; wenn ich mir nur dieses »a«, diesen Buchstaben »a« merken könnte und dann nach einem Monat ihn wiedersehen; wie werde ich ihn dann ansehen? Was werde ich dann fühlen und den ken? ... Mein Gott, wie gemein ist doch wohl das alles, alle meine jetzigen ... Sorgen! Natürlich, es muß auch interessant sein ... in seiner Art ... (Ha-ha-ha! Woran ich jetzt denke!) Ich werde zu einem Kind und prahle vor mir selbst; warum werfe ich es mir vor? Gott, wie sie stoßen! Dieser Dicke da (wahrscheinlich ein Deutscher), der mich gestoßen hat, weiß er auch, wen er gestoßen hat? Eine Frau mit einem Kinde bettelt; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich selbst. Soll ich ihr nicht spaßhalber ein Almosen geben? Ah, ich hab ja noch ein Fünfkopekenstück in der Tasche! Woher? ... »Hier, hier ... nimm es, Mütterchen! ...« »Gott schütze dich!« antwortete die Bettlerin mit weinerlicher Stimme. Er trat auf den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, mit Menschen zusammenzustoßen, er ging aber gerade dorthin, wo die meisten Menschen waren. Er hätte alles in der Welt hergegeben, um allein zu bleiben; aber er fühlte selbst, daß er keinen Augenblick allein bleiben würde. In der Menge stand ein Betrunkener; er wollte tanzen, fiel aber immer um. Die Leute umringten ihn. Raskolnikow drängte sich durch die Menge, sah den Betrunkenen eine Weile an und lachte plötzlich kurz auf. Im nächsten Augenblick hatte er ihn schon vergessen und sah ihn nicht mehr, obwohl er ihn anstarrte. Er ging schließlich weg und wußte nicht einmal, wo er sich befand; als er aber die Mitte des Platzes erreichte, geschah mit ihm plötzlich eine Veränderung, seine Empfindung ergriff ihn auf einmal ganz mit Leib und Seele. Er erinnerte sich plötzlich der Worte Ssonjas: »Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einem Kreuzweg hin, küsse zuerst die Erde, die du geschändet hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten, und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹« Er erzitterte am ganzen Körper, als er sich dessen erinnerte. So sehr hatten ihn der ausweglose Gram und die Unruhe der ganzen letzten Zeit und besonders der letzten Stunden niedergedrückt, daß er sich der Möglichkeit dieser neuen, vollkommenen und ungeteilten Empfindung sofort hingab. Wie ein Krampf überkam es ihn plötzlich: es entzündete sich in seiner Seele als Funke und ergriff ihn dann plötzlich ganz wie eine Flamme. Alles schmolz in ihm auf einmal, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Wo er stand, sank er zu Boden ... Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde mit Genuß und voll Seligkeit. Er stand auf und verneigte sich noch einmal. »Wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner Nähe. Viele lachten. »Er geht nach Jerusalem, Brüder, nimmt Abschied von seinen Kindern und seiner Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Sankt Petersburg und ihren Grund!« fügte ein betrunkener Kleinbürger hinzu. »Das Bürschlein ist noch jung!« bemerkte ein dritter. »Vom Adel!« sagte jemand mit gesetzter Stimme. »Heutzutage kennt man sich nicht mehr aus, wer vom Adel ist und wer nicht.« Alle diese Rufe und Gespräche hielten Raskolnikow zurück, und die Worte: »Ich habe getötet«, die ihm von den Lippen kommen wollten, erstarben in ihm. Er ließ jedoch alle diese Rufe ruhig über sich ergehen und ging, ohne sich umzusehen, direkt in die Gasse, die zum Polizeibureau führte. Unterwegs tauchte vor ihm eine Erscheinung auf, aber er wunderte sich nicht über sie; er hatte schon geahnt, daß es so kommen müsse. Als er sich auf dem Heumarkt zum zweiten Male, nach links gewandt, verbeugte, sah er etwa fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der Bretterbuden, die auf dem Platze standen; also hatte sie ihn auf dem ganzen Leidensweg begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblick ein für allemal, daß Ssonja ewig bei ihm bleiben und ihm auch bis ans Ende der Welt folgen würde, was für ein Schicksal ihn auch erwartete. Und sein ganzes Herz wandte sich ... aber er hatte schon den verhängnisvollen Ort erreicht ... Er betrat ziemlich sicher den Hof. Er mußte in den zweiten Stock. – Es wird noch eine Weile dauern, bis ich hinaufkomme – dachte er. Überhaupt schien es ihm, als sei der entscheidende Augenblick noch fern, als habe er noch viel Zeit und könne sich noch vieles überlegen. Wieder der gleiche Kehricht, die gleichen Abfälle auf der Wendeltreppe, die Türen aller Wohnungen standen wieder weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank kam. Raskolnikow war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarrten und knickten ein, bewegten sich aber doch. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, um sich zu erholen und als Mensch einzutreten. – Aber wozu? Warum? – dachte er plötzlich, als er seine Bewegung bemerkte. – Wenn ich schon diesen Kelch trinken muß, so ist doch alles gleich! Je schlimmer, um so besser. – Er stellte sich plötzlich die Gestalt des Ilja Petrowitsch »Pulver« vor. – Muß ich denn wirklich zu ihm? Kann ich nicht zu einem anderen? Kann ich nicht zu Nikodim Fomitsch? Sofort umkehren und zum Revieraufseher selbst in die Wohnung gehen? Dann wird sich alles ganz familiär abspielen ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver ... Wenn ich schon trinken soll, dann alles auf einmal ... – Fröstelnd und kaum seiner Sinne mächtig, öffnete er die Tür zum Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Menschen da: er sah einen Hausknecht und noch einen einfachen Mann. Der Bureaudiener schaute nicht einmal hinter seinem Verschlag heraus. Raskolnikow ging ins nächste Zimmer. – Vielleicht geht es auch, daß ich gar nichts sage, – ging es ihm durch den Kopf. Irgendein Mensch, wahrscheinlich ein Schreiber, in Zivilkleidung, schickte sich gerade an, etwas auf seinem Pulte zu schreiben. In einer Ecke machte sich noch ein Schreiber an die Arbeit. Samjotow war nicht da. Auch Nikodim Fomitsch war natürlich noch nicht da. »Ist niemand da?« wandte sich Raskolnikow an den Mann am Pulte. »Wen wünschen Sie?« »Ah! Man hört nichts, man sieht nichts, riecht aber den Russen ... wie heißt es noch in dem Märchen ... hab es vergessen! M-meine Hochachtung!« rief plötzlich eine bekannte Stimme. Raskolnikow erzitterte. Vor ihm stand Pulver; er war plötzlich aus dem dritten Zimmer gekommen. – Das ist das Schicksal selbst – dachte Raskolnikow. – Warum ist er hier? – »Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch. (Er war anscheinend in ausgezeichneter, sogar etwas erregter Stimmung.) – »Wenn in einer geschäftlichen, so sind Sie zu früh gekommen. Ich selbst bin nur ganz zufällig hier ... Übrigens stehe ich zu Ihren Diensten. Ich muß Ihnen gestehen ... wie? Wie? Entschuldigen Sie ...« »Raskolnikow.« »Ach was, Raskolnikow! Konnten Sie denn wirklich annehmen, daß ich es vergessen hätte! Halten Sie mich, bitte, nicht für so einen ... Rodion Ro ... Ro ... Rodionytsch, ich glaube, so ?« »Rodion Romanytsch.« »Ja, ja, ja! Rodion Romanytsch, Rodion Romanytsch! Darauf wollte ich eben kommen. Habe mich sogar einigemal erkundigt. Ich muß Ihnen gestehen, ich habe seit damals aufrichtig bedauert, daß wir Sie damals so ... man hat es mir später erklärt; ich erfuhr, daß Sie ein junger Literat sind und sogar Gelehrter ... und sozusagen die ersten Schritte ... O Gott! Wer von den Literaten und Gelehrten hat seine Karriere nicht mit originellen Schritten begonnen! Ich und meine Frau – wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! Die Literatur und die Kunst! Wenn man bloß eine edle Gesinnung hat, alles andere kann man aber durch Talent, Wissen, Verstand und Genie erwerben! So ein Hut – nun, was bedeutet zum Beispiel ein Hut? Ein Hut ist eine Art Pfannkuchen, ich kann ihn mir beim Bäcker kaufen; aber was unter dem Hut ist und vom Hut verdeckt wird, das kann ich mir nicht kaufen! ... Ich gestehe, ich wollte Sie sogar besuchen, um mich mit Ihnen auszusprechen, glaube aber, daß Sie ... Aber ich vergesse ganz, Sie zu fragen, ob Sie nicht wirklich etwas wünschen. Man sagt, Sie hätten Besuch von Ihren Verwandten?« »Ja, meine Mutter und meine Schwester ...« »Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, – eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, daß wir damals in Hitze gekommen waren. Ein unangenehmer Fall! Daß ich Sie aber damals infolge Ihrer Ohnmacht so sonderbar angeblickt habe, das hat sich später auf die glänzendste Weise aufgeklärt! Aberglaube und Fanatismus! Ich begreife vollkommen Ihre Entrüstung. Vielleicht wollen Sie infolge der Ankunft Ihrer Angehörigen die Wohnung wechseln?« »N-nein, ich bin nur so ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich glaubte, daß ich Samjotow hier treffen würde.« »Ach ja, Sie sind mit ihm befreundet, ich habe es gehört. Nun, Samjotow ist nicht mehr bei uns, – Sie kommen zu spät. Jawohl, wir haben Alexander Grigorjewitsch verloren! Seit gestern ist er nicht mehr vorhanden; ist in ein anderes Ressort versetzt worden ... und hat sich vor der Versetzung mit allen verzankt ... er war sogar recht unhöflich ... Ein leichtsinniger Junge, sonst nichts; er versprach zwar, etwas zu werden; aber was soll man mit ihnen, mit unserer glänzenden Jugend anfangen! Irgendein Examen will er ablegen, aber bei uns ist es immer so: man redet und prahlt, und das ist das ganze Examen. Das ist doch ganz was anderes als zum Beispiel Sie oder der Herr Rasumichin, Ihr Freund! Ihre Karriere ist der wissenschaftliche Beruf, Mißerfolge können Sie davon nicht mehr abbringen! Alle Reize des Lebens sind für Sie, sozusagen, nihil est, – ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! ... Ein Buch in der Hand, eine Feder hinter dem Ohr, wissenschaftliche Untersuchungen – darin schwebt Ihr Geist! Auch ich selbst zum Teil ... Haben Sie die Aufzeichnungen von Livingstone gelesen?« »Nein.« »Ich habe sie aber gelesen. Heute gibt es übrigens sehr viel Nihilisten; nun, das ist auch begreiflich; die Zeiten sind danach, wie meinen Sie? Übrigens sind wir beide ... Sie sind natürlich kein Nihilist! Sagen Sie es aufrichtig, ganz aufrichtig?!« »N-ein ...« »Nein, wissen Sie, mit mir müssen Sie aufrichtig sein, genieren Sie sich nicht, tun Sie so, als wären Sie mit sich allein! Der Dienst ist eine Sache für sich, und die ... Sie glauben wohl, ich wollte sagen, die Freundschaft ist eine Sache für sich? Nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht die Freundschaft, sondern das Gefühl des Bürgers und Menschen, das Gefühl der Humanität und der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Person sein und ein Amt bekleiden, aber ich bin verpflichtet, immer den Bürger und Menschen in mir zu fühlen und mir Rechenschaft zu geben ... Sie brachten eben die Rede auf Samjotow, Samjotow ist imstande, in einem unanständigen Lokal bei einem Glase Champagner oder einheimischem Schaumwein einen Skandal auf französische Manier zu verüben – das ist Ihr Samjotow! Aber ich bin vielleicht vor Ergebenheit und hohen Gefühlen sozusagen zu Asche verbrannt und habe überdies Einfluß, einen Rang, bekleide ein Amt! Bin verheiratet und habe Kinder. Erfülle die Pflicht des Bürgers und Menschen. Aber was ist er? Gestatten Sie mir die Frage. Ich wende mich an Sie als an einen durch die Bildung geadelten Menschen. Auch gibt es jetzt auf einmal eine solche Menge von Hebammen.« Raskolnikow zog fragend die Brauen hoch. Die Worte Ilja Petrowitschs, der wohl eben von Tische kam, schlugen wie inhaltlose Töne an sein Ohr. Einen Teil von ihnen hatte er dennoch verstanden; er sah ihn fragend an und wußte nicht, womit das alles enden sollte. »Ich meine diese kurzgeschorenen Mädels«, fuhr der redselige Ilja Petrowitsch fort. »Ich nenne sie Hebammen und finde, daß diese Bezeichnung treffend ist. He-he! Sie dringen in die medizinische Akademie ein, lernen Anatomie; nun, sagen Sie mir, wenn ich krank werde, werde ich so ein Mädel holen lassen, damit sie mich behandelt? He-he!« Ilja Petrowitsch lachte, durchaus zufrieden mit seinen Witzen. »Es ist allerdings ein maßloser Durst nach Bildung; aber bilde dich und laß es sein. Warum soll man übertreiben? Warum soll man anständige Menschen beleidigen, wie es dieser Schuft Samjotow tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und dann diese Menge von Selbstmorden – das können Sie sich gar nicht vorstellen. – Alles verpraßt sein letztes Geld und begeht dann Selbstmord. Kleine Mädels, Jungen, Greise ... Erst heute früh kam die Mitteilung über einen vor kurzem zugereisten Herrn. Nil Pawlytsch! Nil Pawlytsch! Wie hieß noch dieser Gentleman, über den wir eben die Mitteilung erhielten, der sich auf der Petersburger Seite erschossen hat?« »Swidrigailow«, antwortete jemand heiser und gleichgültig aus dem anderen Zimmer. Raskolnikow fuhr zusammen. »Swidrigailow?! Swidrigailow hat sich erschossen?!« rief er aus. »Wie! Sie kannten Swidrigailow?« »Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hergekommen ...« »Ja, gewiß, er ist vor kurzem zugereist, hatte seine Frau verloren, ein Mann von liederlichem Lebenswandel, und hat sich plötzlich erschossen, und so skandalös, daß man es sich gar nicht vorstellen kann ... hat in seinem Notizbuche einige Worte hinterlassen, daß er bei vollem Verstande sterbe und bitte, niemand für seinen Tod verantwortlich zu machen. Dieser soll Geld gehabt haben. Wie kommen Sie dazu, ihn zu kennen?« »Ich ... war mit ihm bekannt ... meine Schwester lebte in seinem Hause als Gouvernante ...« »So, so, so ... Dann können Sie uns wohl einiges mitteilen. Und Sie haben es gar nicht geahnt?« »Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich wußte nichts.« Raskolnikow hatte ein Gefühl, als ob etwas auf ihn niedergefallen wäre und ihn erdrückt hätte. »Sie sind wieder blaß geworden. Es ist hier bei uns eine so stickige Luft ...« »Ja, ich muß gehen«, murmelte Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe ...« »Oh, bitte sehr, soviel es Ihnen beliebt! Es war mir ein Vergnügen, und ich freue mich, es Ihnen zu sagen.« Ilja Petrowitsch reichte ihm sogar die Hand. »Ich wollte nur ... zu Samjotow ...« »Ich verstehe, ich verstehe, und haben dabei mir das Vergnügen gemacht.« »Ich ... ich freue mich ... auf Wiedersehen ...« stammelte Raskolnikow mit einem Lächeln. Er ging hinaus; er schwankte. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte nicht, ob er noch auf den Beinen stehe. Er begann die Treppe hinabzugehen, indem er sich mit der rechten Hand gegen die Wand stützte. Es schien ihm, als hätte ihn irgendein Hausknecht, der mit einem Buche in der Hand ins Bureau hinaufging, gestoßen; als bellte irgendwo im unteren Stock aus Leibeskräften ein Hündchen, und als hätte eine Frau mit einem Stock nach ihm geworfen und es angeschrien. Er ging hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, in der Nähe des Ausganges stand Ssonja, bleich und starr und sah ihn wie wahnsinnig an. Er blieb vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen leidenden und gequälten Ausdruck, etwas wie Verzweiflung. Sie schlug die Hände zusammen. Ein häßliches, verlorenes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er stand eine Weile da, lächelte und ging wieder ins Polizeibureau hinauf. Ilja Petrowitsch hatte sich hingesetzt und wühlte in irgendwelchen Papieren. Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin auf der Treppe Raskolnikow gestoßen hatte. »Ah! Sie sind wieder da! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit Ihnen?« Raskolnikow kam mit blassen Lippen und starrem Blick näher, trat langsam an ihn, dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte, wollte etwas sagen, konnte aber nicht; man hörte nur irgendwelche unzusammenhängenden Töne. »Ihnen ist schlecht! Einen Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!« Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen nicht vom Gesicht des höchst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch. Beide sahen eine Minute lang einander an und warteten. Jemand brachte Wasser. »Ich habe ...« begann Raskolnikow. »Trinken Sie Wasser.« Raskolnikow stieß mit der Hand das Glas zurück und sagte leise, stockend, doch vernehmlich: » Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit dem Beil erschlagen und beraubt !« Ilja Petrowitsch machte den Mund auf. Von allen Seiten kam man zusammengelaufen. Raskolnikow wiederholte seine Aussage. Epilog 1. I Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eines von den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt ist eine Festung, in der Festung befindet sich ein Zuchthaus. Im Zuchthause sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit dem Tage seines Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen. Das Gerichtsverfahren gegen ihn verlief ohne große Schwierigkeiten. Der Verbrecher hielt seine Aussage bestimmt und klar aufrecht, ohne die Umstände zu verwickeln, ohne sie zu seinen Gunsten zu mildern, ohne die Tatsachen zu entstellen und ohne auch die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er beschrieb bis zum letzten Detail den ganzen Vorgang des Mordes, erklärte das Geheimnis des »Pfandes« (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das man in den Händen der ermordeten Alten gefunden hatte; erzählte genau, wie er die Schlüssel von der Ermordeten genommen hatte, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb auch die Truhe und womit sie angefüllt war; er erklärte das Rätsel der Ermordung Lisawetas; erzählte, wie Koch gekommen war und geklopft hatte und nach ihm der Student erschienen war, und gab alles wieder, was sie miteinander gesprochen hatten; erzählte, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe hinuntergelaufen war und das Geschrei von Mikolka und Mitjka gehört hatte; wie er sich in der leeren Wohnung versteckt hatte und dann nach Hause gekommen war; schließlich gab er den Stein auf dem Hofe auf dem Wosnessenskij-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man später die Sachen und den Beutel auch wirklich fand. Mit einem Wort: die Sache war vollkommen klar. Die Untersuchungsbeamten und die Richter waren unter anderem sehr darüber erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen unter dem Stein versteckt hatte, ohne von ihnen Gebrauch zu machen, besonders aber darüber, daß er sich nicht nur aller Gegenstände, die er geraubt hatte, nicht erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl irrte. Der Umstand, daß er kein einzigesmal den Beutel geöffnet hatte und nicht einmal wußte, wieviel Geld er enthielt, erschien ganz unglaubwürdig. Im Beutel fand man dreihundertsiebzehn Rubel in Banknoten und drei Zwanzigkopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Stein hatten einige zu oberst liegende Scheine, es waren gerade die größeren, sehr gelitten. Lange mühte man sich ab, zu erfahren, warum der Angeklagte gerade in diesem einen Punkte log, während er in allen übrigen Dingen freiwillig und aufrichtig gestand. Schließlich gaben einige (besonders die Psychologen) die Möglichkeit zu, daß er in den Beutel wirklich nicht hineingeschaut hatte und darum auch nicht wußte, was er enthielt; ohne es zu wissen, hätte er den Beutel unter dem Steine versteckt; daraus schloß man aber auch, daß das Verbrechen nur im Zustande einer gewissen vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit verübt werden konnte, sozusagen einer krankhaften Monomanie, zu morden und zu rauben, ohne weitere Absichten auf Bereicherung. Sehr gelegen kam die neueste Theorie von vorübergehender Geistesstörung, die man heutzutage so oft auf manche Verbrecher anzuwenden versucht. Zudem wurde der seit langem datierende hypochondrische Zustand Raskolnikows genau von vielen Zeugen bestätigt – vom Arzte Sossimow, von seinen früheren Kollegen, seiner Wirtin und dem Dienstmädchen. Das alles unterstützte außerordentlich die Annahme, daß Raskolnikow einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe gar nicht ähnlich sehe und daß hier etwas anderes vorliegen müsse. Aber zum größten Verdruß derer, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst fast keine Versuche, sich zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, was ihn zum Morde habe bewegen können und was ihn zum Raube verleitet habe, antwortete er sehr klar mit der rohesten Genauigkeit, daß die Ursache davon seine schlechte Lage, seine Armut und Hilflosigkeit gewesen seien, der Wunsch, die ersten Schritte seiner Lebensbahn mit Hilfe der mindestens dreitausend Rubel zu sichern, die er bei der Ermordeten zu finden hoffte. Zum Morde habe er sich aber infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, der überdies durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die Frage, was ihn veranlaßt habe, mit einem Geständnis zu kommen, antwortete er unumwunden, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. Das alles klang schon beinahe roh ... Das Urteil fiel jedoch milder aus, als man es nach der Art des Verbrechens erwartet hatte, und zwar vielleicht gerade aus dem Grunde, weil der Verbrecher sich nicht nur nicht zu verteidigen versuchte, sondern sogar den Wunsch zeigte, sich noch mehr anzuklagen. Alle die seltsamen und besonderen Umstände wurden mit in Betracht gezogen. Der krankhafte Zustand und die Notlage des Verbrechers vor Ausführung der Tat unterlagen keinem Zweifel. Daß er vom Geraubten keinen Gebrauch gemacht hatte, wurde zum Teil der erwachten Reue und zum Teil dem nicht völlig normalen Zustande seiner geistigen Fähigkeiten bei der Verübung des Verbrechens zugeschrieben. Auch die zufällige Ermordung Lisawetas diente als Umstand, der die letzte Annahme bekräftigte: ein Mensch begeht zwei Morde und vergißt zugleich, daß die Tür offen steht! Schließlich das freiwillige Geständnis gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Sache infolge der falschen Selbstanklage eines entmutigten Fanatikers (Nikolai) außerordentlich verwickelt wurde und außerdem, wo gegen den wahren Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern auch fast keine Verdachtsgründe vorlagen (Porfirij Petrowitsch hatte Wort gehalten) – das alles trug außerordentlich viel zur Milderung des Loses des Angeklagten bei. Außerdem wurden auch andere, völlig unerwartete Umstände bekannt, die für den Angeklagten außerordentlich günstig waren. Der ehemalige Student Rasumichin hatte irgendwo Beweise dafür ausgegraben, daß der Angeklagte Raskolnikow, als er noch auf der Universität war, aus seinen letzten Mitteln einen armen und schwindsüchtigen Universitätskollegen unterstützt und fast ein ganzes halbes Jahr ausgehalten habe. Als dieser gestorben war, hätte er den am Leben gebliebenen alten und gelähmten Vater des verstorbenen Kollegen (der seinen Vater durch seiner Hände Arbeit fast seit seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterhalten hatte) gepflegt, dann diesen Alten in einem Krankenhaus untergebracht und, als er starb, auf eigene Kosten beerdigen lassen. Alle diese Mitteilungen hatten einen gewissen günstigen Einfluß auf das Los Raskolnikows. Seine frühere Wirtin, die Mutter der verstorbenen Braut Raskolnikows, die Witwe Sarnizyna, sagte aus, daß Raskolnikow, als sie noch in einem anderen Hause, an den »Fünf Ecken« wohnten, während einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer schon brennenden Wohnung zwei kleine Kinder gerettet und dabei Brandwunden davongetragen habe. Diese Tatsache wurde genau untersucht und von anderen Zeugen mit ziemlicher Sicherheit bestätigt. Mit einem Wort: die Sache endete damit, daß der Verbrecher in Anbetracht seines freiwilligen Geständnisses und einiger strafmildernder Umstände zu nur acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde. Die Mutter Raskolnikows war noch beim Anfange des Prozesses erkrankt. Dunja und Rasumichin brachten es fertig, sie für die Dauer des ganzen Prozesses aus Petersburg fortzubringen. Rasumichin wählte eine an der Eisenbahn gelegene Stadt in der Nähe von Petersburg, um die Möglichkeit zu haben, den Prozeß regelmäßig zu verfolgen und zugleich möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Die Krankheit Pulcheria Alexandrownas war nervöser Natur und sehr eigentümlich, begleitet von einer wenn auch nicht völligen, so doch teilweisen Geistesstörung. Als Dunja von ihrer letzten Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, traf sie die Mutter schon ganz krank an, im Fieber und phantasierend. Am gleichen Abend kam sie mit Rasumichin überein, was man der Mutter auf die Fragen nach dem Bruder antworten solle, und erfand mit ihm zusammen für die Mutter eine ganze Geschichte, daß Raskolnikow irgendwo sehr weit an die Grenze Rußlands, in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld und Berühmtheit einbringen würde. Aber Pulcheria Alexandrowna stellte zum Erstaunen der beiden weder damals noch später irgendwelche Fragen. Im Gegenteil, sie wußte selbst eine ganze Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um Abschied zu nehmen; machte dabei Andeutungen, daß nur sie allein manche höchst wichtigen und geheimnisvollen Umstände kenne und daß Rodja viele mächtige Feinde habe, so daß er sich sogar verbergen müsse. Was aber seine zukünftige Karriere betraf, so erschien sie ihr als unzweifelhaft und glänzend, wenn gewisse widrige Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein Staatsmann werden würde, wofür sein Artikel und seine glänzende literarische Begabung zeugten. Diesen Artikel las sie fortwährend, las ihn manchmal auch laut vor und nahm ihn sogar mit ins Bett; und doch fragte sie nie, wo sich Rodja jetzt aufhalte, obwohl man es augenscheinlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen, was schon allein ihren Argwohn hätte wecken müssen. Dieses seltsame Schweigen Pulcheria Alexandrownas über gewisse Punkte erschien zuletzt beängstigend. Sie beklagte sich zum Beispiel nicht, daß sie von ihm keine Briefe erhalte, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und Erwartung gelebt hatte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu bekommen. Dieser Umstand war doch gar zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Los ihres Sohnes ahne und zu fragen fürchte, um nicht etwas noch Fürchterlicheres zu erfahren. Dunja sah jedenfalls klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei vollem Verstande war. Ein paarmal war es übrigens vorgekommen, daß sie das Gespräch selbst so leitete, daß es unmöglich war, ihr zu antworten, ohne zu erwähnen, wo sich Rodja jetzt befand; und als die Antworten naturgemäß ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich außerordentlich traurig, düster und schweigsam, was eine ziemlich lange Zeit anhielt. Dunja sah schließlich ein, daß es sehr schwer war, zu lügen und zu erfinden, und kam zum endgültigen Entschluß, über gewisse Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches argwöhnte. Dunja erinnerte sich unter anderem der Worte ihres Bruders, daß die Mutter sie in der Nacht vor jenem schicksalschweren Tage nach der Szene mit Swidrigailow habe phantasieren hören. Ob sie wohl etwas verstanden hatte? Oft, manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen eines düsteren Schweigens und stummer Tränen wurde die Kranke plötzlich hysterisch lebhaft und fing an, laut von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen ... Ihre Phantasien waren bisweilen sehr sonderbar. Man tröstete sie, man stimmte ihr bei (sie sah vielleicht selbst, daß man ihr beistimmte, nur um sie zu trösten), und doch redete sie ... Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers erfolgte das Urteil. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur möglich war. Ssonja ebenfalls. Schließlich schlug die Stunde der Trennung. Dunja schwur dem Bruder, daß dies keine Trennung für immer sei. Auch Rasumichin bestätigte es. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe hatte sich der Plan festgesetzt, in den folgenden drei oder vier Jahren möglichst den Grund zu einem Vermögen zu legen, etwas Geld zu sparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, wo es aber an Arbeitskräften, Menschen und Kapitalien mangele, sich dort, in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, niederzulassen und ... gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Beim Abschied weinten sie alle. Raskolnikow war in den allerletzten Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und machte sich ihretwegen Sorgen. Er quälte sich so sehr um sie, daß es Dunja beunruhigte. Als er die Einzelheiten über die Krankheit der Mutter hörte, wurde er sehr düster. Gegen Ssonja war er während der ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde sehr wortkarg. Ssonja hatte sich schon lange mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow gegeben hatte, zu der Reise fertiggemacht, um der Abteilung von Sträflingen zu folgen, mit der er verschickt werden sollte. Darüber war zwischen ihr und Raskolnikow kein einziges Wort gefallen; aber beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschied lächelte er seltsam bei den glühenden Versicherungen seiner Schwester und Rasumichins über die glückliche Zukunft, die sie alle erwartete, sobald er seine Strafe abgebüßt haben würde, und sagte voraus, daß die Krankheit der Mutter mit einer Katastrophe enden werde. Er und Ssonja traten endlich die Reise an. Zwei Monate später heiratete Dunjetschka Rasumichin. Die Hochzeit war traurig und still. Unter den Geladenen befanden sich übrigens Porfirij Petrowitsch und Sossimow. In der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines festentschlossenen Menschen. Dunja glaubte blindlings, daß er alle seine Pläne verwirklichen werde, und es war ihr unmöglich, nicht daran zu glauben: dieser Mensch zeigte einen eisernen Willen. Auch begann er wieder die Universitätsvorlesungen zu hören, um das Studium zu absolvieren. Jeden Augenblick bauten sie an den Plänen für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, nach fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin setzten sie ihre Hoffnungen auf Ssonja. Pulcheria Alexandrowna gab der Tochter mit Freude den Segen zur Verheiratung mit Rasumichin; aber nach der Hochzeit schien sie noch trauriger und besorgter. Um ihr eine Freude zu bereiten, teilte ihr Rasumichin unter anderem die Geschichte vom Studenten und dessen altem Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt hatte und sogar krank gewesen war, als er im vorigen Jahre zwei kleine Kinder aus dem Feuer gerettet hatte. Diese beiden Mitteilungen versetzten die schon ohnehin verstörte Pulcheria Alexandrowna fast in den Zustand von Verzückung. Sie sprach ununterbrochen darüber, sie knüpfte auch auf der Straße Gespräche an (obwohl Dunja sie ständig begleitete). In den Omnibussen, in Läden, wenn sie nur einen Zuhörer erwischte, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel, wie er den Studenten unterstützt und wie er bei der Feuersbrunst Brandwunden bekommen hatte, und so weiter. Dunjetschka wußte gar nicht, wie sie davon abzuhalten. Schon abgesehen von der Gefahr eines solchen verzückten, krankhaften Zustandes, drohte dabei auch noch die Möglichkeit, daß jemand sich des Namens Raskolnikow aus der Gerichtsverhandlung erinnern und die Rede darauf bringen könnte. Pulcheria Alexandrowna erfuhr sogar die Adresse der Mutter der beiden aus dem Feuer geretteten Kinder und wollte sie unbedingt aufsuchen. Ihre Unruhe erreichte endlich die äußersten Grenzen. Manchmal fing sie plötzlich zu weinen an, bekam oft Fieber und phantasierte dann. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er bei seinem Abschied von ihr selbst erwähnt habe, man müsse seine Rückkehr nach genau neun Monaten erwarten. Sie fing an, die Wohnung aufzuräumen und sich zu seinem Empfang vorzubereiten, begann das für ihn bestimmte Zimmer (ihr eigenes) instand zu setzen, die Möbel zu reinigen, die Vorhänge zu waschen und aufzuhängen und so weiter. Dunja war sehr unruhig, sagte aber nichts und half ihr, das Zimmer für den Empfang des Bruders einzurichten. Nach dem unruhigen, in ständigen Phantasien, freudigen Träumen und Tränen verbrachten Tage erkrankte sie in der Nacht und lag am nächsten Morgen in Fieber und Fieberphantasien. Sie war an einem Nervenfieber erkrankt. Nach zwei Wochen starb sie. In den Fieberphantasien entschlüpften ihr Worte, aus denen man schließen konnte, daß sie viel mehr über das schreckliche Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man angenommen hatte. Raskolnikow wußte lange nichts vom Tode der Mutter, obwohl der Briefwechsel mit Petersburg gleich nach seiner Ankunft in Sibirien in Gang ge kommen war. Der Briefwechsel wurde durch Ssonja vermittelt, die pünktlich jeden Monat nach Petersburg an die Adresse Rasumichins schrieb und pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg erhielt. Die Briefe Ssonjas erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend, aber schließlich fanden sie beide, daß man gar nicht besser schreiben konnte, denn diese Briefe lieferten schließlich doch eine vollkommene und klare Vorstellung vom Schicksal des unglücklichen Bruders. Die Briefe Ssonjas waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten und klarsten Schilderung des ganzen Zuchthauslebens Raskolnikows angefüllt. Man fand in ihnen weder eine Darlegung ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Zukunft noch eine Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Statt aller Versuche, seinen seelischen Zustand und überhaupt sein ganzes Innenleben zu erklären, standen in den Briefen lauter Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, genaue Berichte über seinen Gesundheitszustand, die Wünsche, die er ihr bei ihrem Besuche äußerte, seine Aufträge und dergleichen. Alle diese Nachrichten teilte sie mit außerordentlicher Genauigkeit mit. Das Bild des unglücklichen Bruders trat schließlich ganz von selbst klar und deutlich hervor; hier waren Irrtümer ausgeschlossen, denn es waren lauter sichere Tatsachen. Aber wenig Erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen Nachrichten schließen, besonders im Anfang. Ssonja teilte immer mit, daß er ständig düster und wortkarg sei und sich fast gar nicht für die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den Briefen, die sie erhielt, mitteilte; daß er manchmal nach der Mutter frage; und als sie ihm, nachdem sie gemerkt hatte, daß er die Wahrheit ahnte, ihren Tod mitteilte, so hätte selbst die Nachricht vom Tode der Mutter zu ihrem Erstaunen auf ihn keinen besonders starken Eindruck gemacht; so schien es ihr wenigstens nach seinem Außeren. Sie teilte unter anderem mit, daß er, obwohl er ganz in sich verschlossen zu sein scheine und sich von allen abgewandt habe, sein neues Leben dennoch sehr einfach und offen hinnehme; daß er seine Lage wohl begreife, in der nächsten Zeit keine Veränderungen zum Besten erwarte, keine leichtsinnigen Hoffnungen (die in seiner Lage doch so begreiflich wären) hege und sich fast über nichts in seiner neuen Umgebung, die seinem früheren Leben so wenig gleiche, wundere. Sie teilte auch mit, daß seine Gesundheit befriedigend sei. Er gehe zur Arbeit, der er nicht ausweiche, um die er sich aber auch nicht bewerbe. Gegen das Essen sei er gleichgültig, aber das Essen sei außer am Sonn- und Feiertag dermaßen schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee zu haben; wegen des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, weil alle diese Sorgen ihn bloß ärgerten. Ferner teilte Ssonja mit, daß er im Zuchthause im gemeinsamen Raume mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume habe sie nicht gesehen, aber sie nehme an, daß es dort eng, häßlich und ungesund sei; daß er auf einer Pritsche schlafe, eine Filzunterlage habe und nichts anderes haben wolle. Daß er aber so schlecht und ärmlich nicht aus einer bestimmten, vorgefaßten Absicht lebe, sondern bloß aus Unachtsamkeit und äußerlicher Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja gestand offen, daß er, besonders im Anfang, sich nicht nur für ihre Besuche nicht interessiert, sondern sich über sie fast geärgert habe, wortkarg, sogar grob zu ihr gewesen sei, daß aber mit der Zeit diese Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit geworden seien und er sich sogar gegrämt habe, als sie einige Tage krank gewesen sei und ihn nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Feiertagen vor dem Zuchthaustor oder im Wachthaus, wohin man ihn für einige Minuten zu ihr rufe; an Wochentagen aber bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder in der Ziegelbrennerei oder in den Schuppen am Ufer des Irtysch. Über sich selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige Bekanntschaften zu machen und Protektion zu finden; sie beschäftige sich jetzt mit Nähen, und da es in der Stadt fast keine Schneiderinnen gäbe, sei sie in vielen Häusern unentbehrlich geworden; sie verschwieg bloß, daß Raskolnikow durch sie Protektion bei den Behörden gefunden habe, daß sein Arbeitspensum erleichtert worden sei und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht (Dunja hatte schon in den letzten Briefen eine eigentümliche Aufregung und Unruhe gemerkt), daß er alle meide, daß die anderen Sträflinge ihm feindlich gesinnt seien, daß er tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich teilte Ssonja in ihrem letzten Briefe mit, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital, in der Sträflingsabteilung liege. 2. II Er war schon seit langem krank; es waren aber nicht die Schrecken des Zuchthauslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Verpflegung, auch nicht der abrasierte Kopf und die Sträflingskleidung, was ihn gebrochen hatte: ach, was machte er sich aus allen diesen Qualen und Peinigungen! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit: wenn er sich bei der Arbeit körperlich abgehetzt hatte, konnte er wenigstens einige Stunden ruhig schlafen. Und was bedeutete für ihn das Essen – diese fleischlose Kohlsuppe mit Küchenschwaben? Als Student in seinem früheren Leben hatte er oft auch nicht mal das gehabt. Seine Kleidung war warm und seiner Lebensweise angepaßt. Die Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er sich seines rasierten Kopfes und seiner zweifarbigen Jacke schämen? Vor wem? Vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn doch, sollte er sich vor ihr schämen? Gewiß! Er schämte sich sogar vor Ssonja, die er dafür durch seine verächtliche und rohe Behandlung quälte. Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze. Oh, wie glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Alles würde er dann tragen, selbst die Schande und Schmach. Aber er richtete sich streng, und sein erbittertes Gewissen konnte in seiner Vergangenheit keine besondere Schuld finden außer einem einfachen Versehen , das auch jedem anderen passieren konnte. Er schämte sich gerade dessen, daß er, Raskolnikow, so blind, hoffnungslos, lautlos und dumm nach dem Ratschlusse eines blinden Schicksals zugrundegegangen war und sich vor dem »Unsinn« irgendeines Urteils demütigen und beugen mußte, wenn er sich nur einige Ruhe verschaffen wollte. Eine gegenstandslose und ziellose Unruhe in der Gegenwart, ein ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das er nichts gewann – das erwartete ihn in der Welt. Was liegt ihm daran, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt sein wird und ein neues Leben beginnen kann? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wonach soll er streben? Leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Die Existenz allein hatte ihm niemals genügt, er strebte immer nach Größerem. Vielleicht hatte ihn bloß diese Kraft seines Wollens auf den Gedanken gebracht, daß er ein Mensch sei, der sich mehr erlauben dürfe als alle anderen? Hätte ihm das Schicksal doch Reue gesandt, eine brennende Reue, die das Herz zerbricht, den Schlaf vertreibt, eine Reue, bei deren schrecklichen Qualen man an die Schlinge und einen Sumpf denkt! Oh, wie würde er sich darüber freuen! Qualen und Tränen – das ist doch auch Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht. Er könnte sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher über seine häßlichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn nach Sibirien brachten. Als er sich aber jetzt im Zuchthause, in Freiheit alle seine früheren Handlungen überlegte, fand er sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit erschienen waren. – Wodurch, wodurch – dachte er, war mein Gedanke dümmer als alle anderen Gedanken und Theorien, die in der Welt schwirren und zusammenprallen, solange die Welt steht? Man braucht nur die Sache mit einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen losgelösten Blick anzuschauen, und dann wird mein Gedanke natürlich gar nicht so ... seltsam erscheinen. O ihr Verneiner und Weisen, die ihr einen Fünfer wert seid, warum bleibt ihr auf halbem Wege stehen! – – Warum erscheint ihnen meine Tat so häßlich? – fragte er sich selbst. – Weil sie ein Verbrechen ist? Was bedeutet das Wort Verbrechen? Mein Gewissen ist ruhig. Ich habe sogar ein Kapital verbrechen begangen; der Buchstabe des Gesetzes ist natürlich verletzt, und Blut ist vergossen, nun, nehmt mir nach dem Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf ... und genug! Natürlich, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die die Macht nicht geerbt, sondern an sich gerissen haben, schon bei ihren ersten Schritten hingerichtet worden sein. Aber jene Menschen haben ihre Schritte ertragen, und darum haben sie recht , aber ich habe es nicht ertragen und hatte folglich nicht das Recht, mir diesen Schritt zu erlauben. – Nur darin erkannte er sein Verbrechen an, nur darin allein: daß er es nicht ertragen und ein freiwilliges Geständnis abgelegt hatte. Er litt auch unter dem Gedanken: Warum hatte er sich damals nicht das Leben genommen? Warum hatte er schon am Flußufer gestanden und die Selbstanzeige vorgezogen? Liegt denn eine solche Kraft in diesem Willen zum Leben und ist er so schwer zu überwinden? Hat doch Swidrigailow, der den Tod so fürchtete, diesen Willen überwunden! Voller Qual stellte er sich diese Frage und konnte nicht verstehen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und in seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, daß diese Vorahnung der Vorbote einer künftigen Umwälzung in seinem Leben, seiner künftigen Auferstehung, seiner künftigen neuen Anschauung vom Leben sein konnte. Er ließ hier eher die dumpfe Schwere des Instinkts gelten, die zu zerreißen nicht seine Sache war und die zu überschreiten er wiederum nicht die Kraft hatte (infolge seiner Schwäche und Nichtigkeit). Er sah seine Zuchthausgenossen an und wunderte sich: wie auch sie alle das Leben liebten und an ihm hingen! Es kam ihm sogar vor, daß man im Zuchthause das Leben noch mehr liebte und schätzte, als man es in der Freiheit schätzt. Was für schreckliche Qualen und Martern haben manche von ihnen schon überstanden, zum Beispiel die Landstreicher! Kann denn für so einen wirklich ein Sonnenstrahl, ein dichter Wald, eine kalte Quelle im Dickicht, die er sich schon vor drei Jahren gemerkt hat und nach der er sich wie nach einer Geliebten sehnt, von der er träumt wie auch vom grünen Grase um sie herum und vom singenden Vogel im Gebüsch, so viel bedeuten?! Und als er die Leute noch aufmerksamer betrachtete, fand er noch unerklärlichere Beispiele dafür. Im Zuchthause, in seiner nächsten Umgebung bemerkte er natürlich vieles nicht und wollte es auch gar nicht bemerken. Er lebte gleichsam mit gesenkten Augen; es war ihm unerträglich und widerlich, zu sehen. Aber zuletzt mußte er doch über vieles staunen, und er begann fast unwillkürlich, vieles zu sehen, was er früher nicht mal geahnt hatte. Überhaupt und am meisten machte ihn der schreckliche, unüberbrückbare Abgrund staunen, der zwischen ihm und allen diesen Menschen lag. Es war, als gehörten sie verschiedenen Nationen an. Er und sie sahen einander mißtrauisch und feindselig an. Er kannte und begriff die allgemeinen Ursachen dieser Feindschaft; aber er hätte früher niemals geglaubt, daß diese Ursachen wirklich so tief und stark sein könnten. Im Zuchthause befanden sich auch verbannte Polen, politische Verbrecher. Diese hielten alle übrigen Sträflinge einfach für ungebildete Bauern und verachteten sie; aber Raskolnikow konnte sie nicht so ansehen: er sah klar, daß diese Bauern in vielen Dingen viel klüger waren als die Polen selbst. Es waren auch Russen da, die dieses Volk zu sehr verachteten: ein gewesener Offizier und zwei gewesene Zöglinge eines Priesterseminars. Raskolnikow sah auch ihren Irrtum klar. Ihn selbst aber liebten alle nicht und mieden ihn. Schließlich fing man ihn sogar zu hassen an, – warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, man lachte über ihn, und die, die viel verbrecherischer waren als er, lachten über sein Verbrechen. »Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Es war nicht deine Sache, mit einem Beile zu gehen; das ist nichts für einen Herrn.« In der zweiten Woche der großen Fasten kam er an die Reihe, sich zugleich mit der ganzen Kaserne zum Abendmahl vorzubereiten. Er ging zur Kirche mit den anderen. Eines Tages kam es, er wußte selbst nicht, aus welchem Grunde, zum Streite; alle fielen plötzlich wütend über ihn her. »Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie alle. »Man müßte dich erschlagen!« Er sprach niemals mit ihnen über Gott und über den Glauben, aber sie wollten ihn als einen Gottlosen erschlagen; er schwieg und widersprach ihnen nicht. Ein Zuchthäusler stürzte sich auf ihn in äußerster Wut. Raskolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend; er zuckte mit keiner Wimper, kein Zug seines Gesichtes bebte. Der Wachsoldat stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Mörder, – sonst wäre Blut geflossen. Unerklärlich war für ihn noch eine Frage: Warum hatten sie alle Ssonja so lieb gewonnen? Sie suchte sich bei ihnen niemals einzuschmeicheln; sie trafen sie selten, nur manchmal bei den Arbeiten, wenn sie auf einen Augenblick kam, um ihn zu sehen. Und doch kannten sie sie alle und wußten auch, daß sie ihm gefolgt war, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht und erwies ihnen auch keine besonderen Dienste. Nur einmal zu Weihnachten brachte sie eine Gabe für das ganze Zuchthaus: Kuchen und Brezeln. Aber allmählich hatten sich zwischen ihnen und Ssonja gewisse nähere Beziehungen angeknüpft: sie schrieb für sie Briefe und schickte sie zur Post. Ihre Verwandten beiderlei Geschlechts, die in die Stadt kamen, ließen auf deren Wunsch bei Ssonja Sachen und sogar Geld für sie zurück. Ihre Frauen und Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zur Arbeit kam, um Raskolnikow zu sehen, oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, begegnete, nahmen sie alle die Mützen ab und grüßten sie. »Mütterchen, Ssofja Ssemjonowna, unsere Mutter, du Zarte und Barmherzige!« sagten diese groben gebrandmarkten Zuchthäusler zu diesem kleinen schmächtigen Geschöpf. Sie lächelte und nickte ihnen zu, und sie alle sahen es gern, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten auch ihren Gang, wandten sich um, um zu sehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, wofür sie noch zu loben. Sie kamen auch zu ihr, um sich von ihr in Krankheitsfällen behandeln zu lassen. Raskolnikow verbrachte das Ende der Fastenzeit und die Osterwoche im Spital. Während der Genesung erinnerte er sich seiner Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit träumte er, daß die ganze Welt verdammt sei, irgendeiner schrecklichen, unerhörten und noch nie dagewesenen Seuche zum Opfer zu fallen, die aus Asiens Tiefen über Europa kam. Alle sollten umkommen, mit Ausnahme einiger sehr weniger Auserwählter. Es kamen neue Trichinen auf, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Diese Geschöpfe waren aber mit Verstand und Willen begabte Geister. Die Menschen, in die sie eingedrungen waren, wurden sofort zu Besessenen und Wahnsinnigen. Noch niemals, niemals hatten sich die Menschen für so klug und unwankbar in ihrer Wahrheit gehalten wie diese Angesteckten. Noch niemals hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlüsse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unerschütterlicher gehalten. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und rasten wie Wahnsinnige. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht; ein jeder glaubte, daß er allein die Wahrheit fasse, und quälte sich beim Anblick der anderen, schlug sich vor die Brust, weinte und rang die Hände. Sie wußten nicht, wen und wie man richten sollte, was als gut und als böse anzusehen sei. Sie wußten nicht, wen anzuklagen und wen freizusprechen. Die Menschen töteten einander in einer eigentümlichen, sinnlosen Wut. Sie zogen als ganze Armeen gegeneinander, aber die Armeen begannen schon auf dem Marsche einander zu zerfleischen, die Reihen gerieten durcheinander, die Krieger fielen übereinander her, stachen und hieben, bissen und fraßen einan der auf. In den Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke: man rief alle zusammen, aber wer rief und wozu er rief, das wußte niemand, und alle waren in Unruhe. Sie gaben die gewöhnlichsten Handwerke auf, weil jeder seine eigenen Gedanken und Verbesserungen in Vorschlag brachte, und sie konnten sich nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, sich nicht mehr zu trennen, – begannen aber sofort etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, einander anzuklagen, sich zu prügeln und zu morden. Es kamen Feuersbrünste und eine Hungersnot. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche griff um sich und verbreitete sich immer weiter und weiter. Bloß einige Menschen in der ganzen Welt konnten sich retten: es waren die Reinen und Auserwählten, ausersehen, ein neues Leben und ein neues Menschengeschlecht zu begründen, die Erde zu erneuern und zu reinigen, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimmen gehört. Raskolnikow quälte es, daß dieser sinnlose Fiebertraum so traurig und schmerzlich in seinen Erinnerungen fortlebte, daß der Eindruck dieser Träume so lange nicht weichen wollte. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, heitere Frühlingstage; in der Sträflingsabteilung des Spitals standen die Fenster offen (vergitterte Fenster, unter denen ein Wachtposten auf und ab ging). Ssonja hatte ihn während seiner Krankheit bloß zweimal besuchen können; man mußte jedesmal um Erlaubnis bitten, und das war schwer. Sie kam aber oft auf den Hof des Spitals, vor sein Fenster, besonders gegen Abend, manchmal aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens aus der Ferne auf die Fenster seiner Abteilung zu schauen. Eines Abends war Raskolnikow, der schon fast genesen war, eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig ans Fenster und erblickte plötzlich weit am Spitaltore Ssonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. Es war ihm, als durchbohrte etwas in diesem Augenblick sein Herz; er fuhr zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am folgenden Tage kam Ssonja nicht, am dritten Tage auch nicht; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwartete. Endlich wurde er aus dem Spital entlassen. Ins Zuchthaus zurückgekehrt, erfuhr er von den Sträflingen, daß Ssofja Ssemjonowna erkrankt sei, zu Hause liege und nicht aufstehe. Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Bald erfuhr er, daß die Erkrankung nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits erfuhr, daß er sich nach ihr sehnte und sich um sie sorgte, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, in dem sie ihm mitteilte, daß es ihr schon viel besser gehe, daß es eine unbedeutende, leichte Erkältung sei und daß sie bald, sehr bald ihn wieder bei der Arbeit aufsuchen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft. Es war ein heiterer und warmer Tag. Am frühen Morgen um sechs Uhr ging er zur Arbeit, an das Flußufer, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Alabasterbrennen eingerichtet war und wo der Alabaster gestoßen wurde. Bloß drei Arbeiter gingen dorthin. Der eine von ihnen ließ sich vom Wachtsoldaten in die Festung zurückführen, um irgendein Werkzeug zu holen; der andere begann das Holz zu zerkleinern und es in den Ofen zu legen. Raskolnikow trat aus dem Schuppen ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Balken und begann auf den breiten und öden Fluß zu blicken. Vom hohen Ufer bot sich eine Aussicht auf die weite Umgebung. Vom anderen fernen Ufer tönte kaum hörbar ein Lied herüber. Dort lagen in der unübersehbaren, vom Sonnenlicht übergossenen Steppe als schwarze Punkte die Zelte der Nomaden verstreut. Dort war die Freiheit, dort lebten andere Menschen, die ganz anders waren als die hiesigen, dort schien die Zeit selbst stillzustehen, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und blickte unverwandt und regungslos hinüber, seine Gedanken wurden zu Träumen, zu Kontemplation; er dachte an nichts, aber ein tiefer Gram erregte und quälte ihn. Plötzlich sah er neben sich Ssonja. Sie war unhörbar herangetreten und hatte sich neben ihn gesetzt. Es war noch sehr früh; die Morgenkühle war noch nicht gewichen. Sie hatte ihren alten ärmlichen Pelz an und das grüne Tuch um. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der Krankheit, es war magerer, blasser und schmächtiger geworden. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, reichte ihm aber die Hand scheu, wie immer. Sie reichte ihm die Hand immer so scheu, manchmal reichte sie sie ihm gar nicht, als fürchtete sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm ihre Hand stets mit Widerwillen, empfing sie stets wie geärgert und schwieg zuweilen hartnäckig während ihres ganzen Besuches. Es kam vor, daß sie vor ihm zitterte und in tiefem Kummer von ihm ging. Aber jetzt lösten sich ihre Hände nicht; er sah sie schnell und flüchtig an, sagte nichts und schlug seine Augen nieder. Sie waren beide allein, niemand sah sie. Der Wachtsoldat hatte sich gerade weggewandt. Wie es kam, das wußte er selbst nicht, aber plötzlich packte ihn etwas und warf ihn zu ihren Füßen. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie, und ihr Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang von ihrem Platze auf und sah ihn zitternd an. Aber sie begriff sofort, im Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück auf; sie begriff, und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, grenzenlos liebte, und daß dieser Augenblick endlich doch gekommen war ... Sie wollten sprechen, konnten aber nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon das Morgenrot einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu einem neuen Leben. Die Liebe hatte sie auferweckt, das Herz des einen enthielt unerschöpfliche Lebensquellen für das Herz des andern. Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Es blieben ihnen bis dahin noch sieben Jahre und so viel unerträgliche Qual, so viel grenzenloses Glück! Aber er war auferstanden, und er wußte es, er fühlte es mit seinem ganzen erneuten Wesen, und sie – sie lebte doch nur sein Leben! Am Abend des gleichen Tages, als die Kaserne schon geschlossen war, lag Raskolnikow auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage kam es ihm sogar vor, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn ganz anders ansahen. Er sprach sie sogar selbst an, und sie antworteten ihm freundlich. Er erinnerte sich jetzt dessen, aber es mußte doch so kommen! Mußte sich denn jetzt nicht alles ändern? Er dachte an sie . Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr Herz gepeinigt hatte; er erinnerte sich ihres bleichen, schmalen Gesichtchens; aber diese Erinnerungen quälten ihn jetzt fast gar nicht; er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Qualen sühnen würde. Und was bedeuteten auch alle, alle Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt beim ersten Gefühlsausbruche als eine rein äußerliche, unverständliche Tatsache, die nicht ihm zugestoßen sei. An diesem Abend konnte er übrigens gar nicht lange und dauernd an etwas denken, konnte seine Gedanken nicht auf etwas konzentrieren; jetzt hätte er auch gar nichts bewußt beschließen können; er fühlte nur. Statt der Dialektik begann jetzt das Leben, und in seinem Bewußtsein mußte sich jetzt etwas ganz anderes herausarbeiten. Unter seinem Kissen lag das Neue Testament. Er griff mechanisch danach. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm von der Auferstehung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Zuchthauslebens hatte er geglaubt, daß sie ihn mit der Religion totquälen würde, daß sie immer über das Evangelium sprechen und ihm Bücher aufzwingen würde. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie kein einzigesmal die Rede darauf gebracht und ihm sogar nie das Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Erkrankung darum gebeten, und sie hatte ihm schweigend das Buch gebracht. Bis jetzt hatte er es nicht mal aufgeschlagen. Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke zog ihm durch den Sinn: »Können denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Wenigstens ihre Gefühle, ihre Bestrebungen ...?« Auch sie war diesen ganzen Tag in Erregung, und in der Nacht erkrankte sie von neuem. Aber sie war so glücklich, so unerwartet glücklich, daß sie vor ihrem Glück fast erschrak. Sieben Jahre, bloß sieben Jahre! Im Anfange ihres Glücks waren sie in manchen Augenblicken beide geneigt, diese sieben Jahre für sieben Tage zu halten. Er wußte nicht, daß dieses neue Leben ihm nicht umsonst zufallen würde, daß er es teuer erkaufen und mit einer großen künftigen Tat bezahlen müsse ... Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, – die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus der einen Welt in eine andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung abgeben, aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.