Franz Michael Felder Reich und Arm 1. Kapitel Erstes Kapitel Wie zwei Helden dieser Erzählung sich auf das Osterfest vorbereiten Mit aller möglichen Pracht und Herrlichkeit ward am Karsamstag abends in der Auer Pfarrkirche die Auferstehung des Herrn gefeiert. Unzählige Lichter erhellten die überall verhängte Kirche und beleuchteten das unter Singen und Glockenläuten hinter dem Heiligen Grabe in die Höhe gezogene Auferstehungsbild. Kurz, es war himmlisch, göttlich, flüsterten hernach die aus der Kirche kommenden Weiber und Mädchen einander zu, während sie sich die von der Tageshelle erschreckten Augen rieben. Sogar die zarten, schneeweißen Hände der armen Stickerinnen legten rasch einen Taglohn auf den Teller, welcher zur Aufnahme freiwilliger Beiträge für das neuerrichtete Heilige Grab vor der Kirchentür angebracht war. Die roten Kupferkreuzer, die sich wie recht verdächtige Kerle hinter breiten Sechsbätzlern versteckten, waren wohl nur aus engen Lederhosentaschen herausgelangt worden. Wenigstens war nicht zu leugnen, daß fast alle Männer das »Schauspiel« etwas kühl aufnahmen; sogar einiges Kopfschütteln war zu bemerken. Auf dem Platz neben der Kirche stellten sie sich schweigend zusammen. Jeder schien warten zu wollen, bis das rechte Wort zur Beurteilung der etwas teuern »neuen Mode«, die zwar alles in die Kirche lockte, doch keine Andacht in derselben aufkommen ließ, gefunden sein würde. Lächelnd schauten sie hinauf zu den glühenden und leuchtenden Bergen oder hinaus über den schon etwas dunkeln, geheimnisvoll rauschenden Schnepfauer Wald, neben welchem die Ach den bereits zu Wasser gewordenen Winter laut scheltend hinaustrug. Rechts ob dem Wald erhob sich die stolze Liggsteinpyramide, die kühn emporragte zum blauen Himmel, welchen links neben der Ach die Kanisfluh zu tragen schien. Weiter draußen, dort, wo die äußersten Tannenwipfel des Waldes ins rötlichblaue Licht hineinragten, trugen goldige Engelchen mit Feuerflügeln der scheidenden Sonne den Strahlenmantel nach und winkten dabei mit weiß und rötlich schimmernden Händen ihre letzten Grüße zurück ins Tal. »Viel schöner doch und so, daß man dabei auch etwas empfindet, ist die Art, wie die Natur ihr Auferstehungsfest feiert«, begannen jetzt auf einmal mehrere. Gleich fielen auch andere ein: »Das Osterlied der Vögel im weihrauchduftenden Walde draußen – hört, hört! Und droben in den Bergen das Wiedergeben der angeschwollenen, tosenden Ach – oh, das geht einem durch Leib und Seele, ganz, ganz anders noch als das lateinische Osterlied, welches der Kaplan bis von Innsbruck heraus hat kommen lassen.« Ganze Minuten lang schlug man jetzt überall Feuer, doch der Zunder wollte gar nicht recht »empfangen«. Die krummrohrigen Tiroler Pfeifen blieben kalt, wie gewöhnlich vor der glücklichen Zeit der Zündhölzchen, wenn es einmal etwas zu sehen und auszukopfen gab. Noch hatten viele nicht eingeheizt, als das Mathisle, ein ärmlich gekleidetes Bäuerlein, welches den Wolkengestalten nicht nachblicken mochte, bis es sich die scharfen grauen Augen verdarb, auf einmal ausrief: »Sehet dort! Jetzt kommt der Bot' und geht ins Kronenwirtshaus. Was er wohl alles drin hat in der großen Tasche, daß er gar so eilt?« »Nun, der bringt ja jeden Samstag Zeitungen für die Wirtin oder die, welche vornehm und reich genug sind, ins Herrenstüble.« »Es wäre doch nun ganz in der Ordnung«, begann das Mathisle nach einer Weile wieder, »wenn endlich Hansjörg, der Soldat, ein Briefchen schickte. Ist's doch schon mehr als ein halbes Jahr seit dem letzten, und es wäre die einzige Freude, die er mir machen könnte. Nun, eine Frag' ist wohl jedem erlaubt«, fügte er, das Kopfschütteln der Umstehenden bemerkend, bei und eilte dem Wirtshause zu. »Möchte doch sehen, was das Männchen für ein Gesicht macht, wenn wieder nichts gekommen ist«, lachte der frühere Gemeindevorsteher, der bei den Bauern mehr galt als der behagliche Patron, welcher jetzt diesen Titel hatte. Schon im nächsten Augenblick war's, als ob es da drüben halbe Batzen zu schneien angefangen hätte bei heiterem Himmel; sogar sehr sparsame Hausväter, die sonst nicht einmal jedes Vierteljahr ein Bierglas zu sehen, geschweige denn ein Glas Bier zu trinken bekamen, vermochten jetzt dem Drange nicht zu widerstehen und folgten dem Altvorsteher auf den Tritt, so daß die Gasse beinahe zu schmal wurde. Staunend, mit einer Art von Ehrfurcht sahen viele, die noch ihr Lebtag keinen Brief erhielten, wie das Mathisle jetzt einen solchen gleich einer Siegesfahne jubelnd emporhielt. Es war und blieb halt doch merkwürdig, wie so ein Blatt für dieses kleine, ganz unbedeutende Männchen aus der weiten Welt sich bis da hereinfinden konnte. »Nun, was schreibt der Spitzbube?« fragte der Altvorsteher lächelnd. »Ich hab' erst angefangen, aber kommt nun Ihr und leset es, bevor es ganz dunkel wird«, sagte das Mathisle, indem es davon in die Stube eilte. Mit einer Langsamkeit, die das ihm geschenkte Vertrauen nur schlecht zu würdigen schien, folgte der Altvorsteher dem an ihn ergangenen freundlichen Ruf. Ruhig legte er Mathisles Brief auf den noch etwas feuchten Tisch vor sich hin, bestellte sich einen halben Schoppen Wein, zog dann die Hornbrille heraus, wischte eine Weile mit dem Halstuchzipfel an den Gläsern herum und begann endlich, nachdem er noch den neben ihm sitzenden Gemeinderäten die großmächtige Schnupftabakdose vorgehalten hatte, mit Gemeindedienerstimme zu lesen. Der Brief erzählte viel von Hunger und Kummer; doch, schrieb Jörg unter anderem, werde das nun bald überstanden sein. In einigen Wochen bekomme er Urlaub und könne dann heim, wenn man so gut sei, die Zehrung zu überschicken. Es werde wohl noch etwas da sein von dem, wofür er verkauft worden sei. Die Heimat habe er übrigens noch nicht vergessen und fluche noch täglich, allen, die ihn unter die Soldaten gebracht oder doch dabei ein Auge zugedrückt hätten. Besonders für den Vorsteher sei es eine Schande, daß – Mit den Worten: »Er ist noch immer ein Lümmel«, warf der Letztgenannte das Schreiben auf den Tisch; unmutig verließ er das noch volle Glas und die Stube. Gar so große Eile hatten die anderen freilich nicht; aber keiner mochte den Brief zu Ende lesen, und wer den letzten Tropfen aus dem Glase hatte, machte sich schweigend heim. Nur der junge Erbe des Stighofes, Stighans genannt, rückte gegen das Jösle hinüber und bestellte für sich und seinen ehemaligen Schulfreund eine Halbe Roten, ohne noch daran zu denken, daß er eigentlich mit der Wirtin allein bleiben wollte. Jörgs Brief hatte ihn ganz aus dem Zeug gebracht. Er mußte gleich etwas Gutes tun, um mit sich selbst wenigstens wieder zufrieden zu werden; darum hatte er für das schon seit Jahren fast ängstlich gemiedene Schneiderlein eine Halbe Roten bestellt, und darum wohl rief er jetzt dem Mathisle, welches, schon unter der Türe, den wieder sorgfältig zusammengelegten Brief in die Tasche schob, mit emporgehobenem Glase zu: »Komm noch und trink, und wenn du ihm schreibst, so sag' es mir, daß ich ihm auch einen Gruß oder so etwas mitschicken kann.« »Ist schon gut, recht gut«, rief das Mathisle zurück. »Will schon einmal kommen, wenn's die Alte, will sagen deine Mutter, nicht merkt. Jetzt aber muß ich dem Vorsteher nach und ihn um Verzeihung bitten wegen dem Brief. Ich bin sehr erschrocken, denn unsereiner weiß nie, wo er so einen Mann wieder braucht.« Hans warf dem Männchen einen verächtlichen Blick nach und lief dann in der Stube umher, daß die Gläser auf den Tischen klirrten. Dann begann er auf dem großen Backtrog neben dem hintern Tisch einen wilden Marsch zu trommeln, wobei er von Zeit zu Zeit verstohlen nach dem Jösle hinüberschielte. Dieses saß immer wie angefroren beim Glase, welches kaum aller fünf Minuten ein wenig leerer wurde, wie etwa das Schoppenglas eines armen Studentleins, welches gern um ein billiges im Wirtshause sitzen und die neuesten Zeitungen lesen möchte. Endlich sagte Stighans, ihn dünke, daß es nun heut, am Feierabende, denn doch die höchste Zeit zum Heimgehen sei. Jos gab ihm von Herzen recht, während er das allmählich denn doch etwas erleerende Weinglas mit Wasser wieder füllte. Stighans bereute, wieder einmal einer augenblicklichen Stimmung nachgegeben und alles andere dabei vergessen zu haben, selbst den Zweck seines Kommens, den kein Mensch als die Wirtin erfahren durfte. Jos hatte wohl bemerkt, daß dem Hans etwas fehle, daß aber er ihm da im Wege sei, fiel ihm um so weniger ein, da ja Hans selbst ihn dableiben hieß. Vielleicht, meinte er, müsse er hier auf jemand warten helfen, und da könne er dann, wenn Hans einmal hinausstürmen sollte, auch seine Frage an die Wirtin richten. Aber Hans ging nie hinaus. Immer stärker trommelte er auf dem Backtrog herum, während Jos mit der gähnenden Wirtin von allem Erdenklichen zu reden begann, endlich auch von der nun wieder überstandenen Fastenzeit. Es sei doch nicht zu leugnen, sagte er, daß in jedem Menschen etwas von der Eva stecke, die am liebsten nach den verbotenen Früchten lange. Da seien viele, denen das Fastengebot ungemein viel Redens und Klagens gebe, obwohl man ja so vielerlei kochen könnte, ohne daß man zuerst rauben und morden müßte. Er würde für die Erlaubnis, auch an gebotenen Fasttagen Fleisch zu essen, keine fünf Gulden zahlen, denn ihm sei immer besonders wohl, wenn er nicht an Messer und Blut zu denken brauche. Auch beim Essen komme viel auf die Einbildung an. Daheim bei der Mutter sei ihm an manchem Fasttag wohler gewesen als jetzt beim Krämer, obwohl es dort nicht einmal Eier gegeben habe. »Machest jetzt du da ein Schüsseln- und Tellergeklapper!« fuhr der Stighans den Schulfreund an. Doch schon im nächsten Augenblick zuckte etwas wie ein Lächeln über sein breites Gesicht. Stighans konnte überhaupt nie lange sich über jemand ärgern; er selbst hätte das noch viel weniger ausgehalten, als wer zufällig eben darunter litt. Nach einer Weile fuhr er lächelnd fort: »Man könnte glauben, daß Essen dir die liebste Arbeit wär', wenn man dich heute das erstemal hörte. So schwätzt allenfalls eine Herrenköchin, und ich weiß wahrhaftig nicht, was du damit willst.« »Warten will ich – bis du endlich gehst«, sagte Jos mit kaum verhaltenem Lachen. Es wäre nicht ratsam, jedem Hansen, der eine Halbe zahlt, so zu antworten. Unserem Hans aber tat diese Offenheit recht in der Seele wohl, und fröhlich sagte er: »Da haben wir's. Beide wollen das gleiche. Da sieht man nun, daß gleich und gleich sich nicht immer gern gesellt. Ich hätte dich bald fortschicken wollen, denn daß ich nicht wegen deinem Kuchengeschwätz dablieb, kannst du dir denken.« Und Hans lachte wieder so hell und fröhlich, daß die Schlagfeder auf der neuen Stubenuhr einen Klang gab. Jos sprach ernst, beinahe klagend: »Wir sind uns also nur darum in den Wurf gekommen, weil uns die frühere Offenheit fehlte. Früher hättest du nur gesagt: ›So, Jos, jetzt marsch!‹ Ich wäre dann fort und hätte mich gefreut, morgen die Ursache zu erfahren. Mit dem Vertrauen, Hans, ist auch das rechte Befehlen und das rechte Folgen aus. Aber das ist ja der Welt Lauf. Man hat dich besser gepflegt und begossen, drum bist du weit, weit über mich hinausgewachsen.« »Nun«, bemerkte Hans, »bisher stehen wir leider nebeneinander, jeder wartet; aber für jetzt wird's mir denn doch bald genug, drum sei so gut und geh mit der Wirtin hinaus, sag' ihr deine Sache ganz kurz. Dann komm und laß uns die Plätze wechseln.« »Für mich ist das am Ende gar nicht nötig«, sagte Jos, der Schneider. »Ich will nichts von der Wirtin als Eierschalen, damit ich doch auch meine Freud' hab' am Osterfest.« »Und just das«, rief Hans lachend und mit dem Fuße stampfend, »just das ist's, was auch mich so lange wach erhalten hat.« Die Wirtin, die bisher ruhig auf der breiten Bank beim Backofen saß, verließ rasch ihren Platz, rieb sich die müden Augen, und indem sie die Stube verließ, tat sie alles, was sie schon oft wieder wach und munter gemacht hatte. Es galt ja eine kleine Neckerei, und da hatte sie noch immer von Herzen gern nach Kräften mitgeholfen. Wenn es wie diesmal den Mädchen gelten sollte, besann sie sich freilich immer zweimal, bevor sie ja sagte; doch als Biggel hat auch sie und wohl jede sich manches gefallen lassen müssen. Bis zu ihrem zwanzigsten Jahre tragen die Bregenzerwälderinnen weite Ärmel aus beliebigen buntfarbigen Stoffen, und solche Ärmelmädchen werden noch von allen beinahe wie Kinder behandelt. Nun aber vertauscht das Mädchen diese Ärmel mit dem engen Schalk aus schwarzer Glanzleinwand, und an einem Feste, gewöhnlich am Ostertage, zeigt sich der Biggel zum erstenmal ganz neu gekleidet im Jungfrauenstuhl der Kirche; und wenn die Burschen ihre Eierschalen, die sie dem Biggel als erstes Zeichen ihrer Aufmerksamkeit streuen wollen, auch schon damals nicht mehr bis dorthin tragen durften, so konnten sie doch noch nicht unterlassen, ihm wenigstens etwas Hennenfutter vor das Haus auf die Gasse zu legen; das wird dann von den Eltern der Gefeierten je nach Umständen sehr verschieden aufgenommen, ausgelegt und berechnet. Bald kam die Wirtin mit der Schürze voll Eierschalen wieder in die Stube zurück. Sie war gewöhnt, jedermann zu dienen; umsonst aber wollte sie so etwas nie getan haben und war gerade dann am kargsten, wenn ihre Gegenforderung sich nicht durch Zahlen ausdrücken ließ. Wie sie schon gehört hatte, sollten morgen nicht weniger als acht Biggel ausfliegen. Nun wollte sie denn doch bei so guter Gelegenheit auch erfahren, auf welche von diesen die beiden Burschen, besonders der reiche Stighans, es eigentlich abgesehen. Des Krämers eitler Zusel, die noch kaum neunzehn Jahre hinter sich hatte und die doch – in dem Glauben, ihr stehe gar alles wohl an – sich schon in den Jungfrauenstuhl machen wollte, wäre so ein Streich – für sie eine Demütigung – zwar von Herzen zu gönnen gewesen. Ärgerlich aber blieb dabei der Umstand, daß so eine Aufmerksamkeit von dem reichen Stighans ihr sicher mehr Freude als Verdruß machte. Früher freilich, als Hans mit Zusels älterer Schwester Angelika ein Verhältnis einfädelte, war die alte Stigerin mit Leib und Seele gegen die Krämerei und alles, was drum und dran hing; jetzt aber galt der Krämer etwas mehr im Hause, und es schien für Hansen nicht ganz unmöglich, die Zusel in sein Haus zu bringen, obwohl die ältere Schwester ihm viel besser gepaßt hätte. Nein, schon der unglücklich verheirateten Angelika zuliebe sollte das womöglich verhindert werden. Den wackern Hans verdiente die Zusel nicht und er auch etwas Besseres. Sie wenigstens, die Kronenwirtin, wollte lieber in der ganzen Fastenzeit keine Eier gegessen haben, als daß nun auch noch die Schalen diesem Windspiel zur Freude benutzt werden sollten. Wissen wenigstens mußte sie jetzt Hansens Plan, und mit ihrem Willen sollte Zusel morgen keinen fröhlicheren Tag erleben, als sie verdiente. Gerade als ob das Mädchen, welches nun durchaus zum Tänzeln und Scharwenzeln alt genug sein wolle, dort im Herrgottswinkel sitze, stellte sie sich groß vor den Tisch hin und sagte etwas rauh: »Bisher wolltet ihr beide das nämliche; das war gut für mich, denn so kann ich euch auf einmal bedienen. Ob es aber von jetzt an für euch nicht um so böser wäre, wenn ihr noch länger das gleiche wolltet? Das, ihr Burschen, ist eine ganz andere Frage. Es wäre nicht gut, wenn ihr euch auch vor dem Hause des Biggels wieder treffen solltet wie hier. Macht's daher lieber, wie der Jos schon gesagt hat. Seid so offen gegeneinander wie früher, wo jeder dem anderen lachend seinen Plan mitgeteilt hätte.« Jetzt leerte Jos das Glas mit einem Zuge, stellte es vor sich auf den Tisch und sagte so ernsthaft als möglich: »Wir sind dir großen Dank schuldig für die Schalen und besonders für deinen guten Rat, den wir beim Heimgehen gewiß redlich befolgen wollen.« So aber hatte die Wirtin es nicht gemeint. Die gute Frau besaß auch viel zu wenig Verstellungskunst, um ihre wahre Absicht noch länger verbergen zu können. »Halt, ihr Herren«, rief sie lachend, »bei mir fordert man nicht und nimmt nicht, ohne auch etwas zu geben. Unsereins ist an das gar nicht gewöhnt. Hier sind meine Schalen, und dort ist euer Geheimnis – wollen wir tauschen oder nicht?« Anfangs würde der Stighans gerne darauf eingegangen sein, jetzt aber war es ja Ehrensache, treu zum Gefährten zu halten und sich von der listigen Wirtin auf keine Weise mehr fangen zu lassen. »Nein«, sagte er entschieden, »Tauscher sind wir keine, und nur so Nothändel lassen wir uns keine aufzwängen. Was wir fordern, wird gehörig bezahlt, daß wir nicht auch noch schöne Worte und Buckerle machen müssen. Wir wollen aber bald gehen, drum nur herzhaft gesagt, für wieviel bares Geld wir das Zeug da mitnehmen können.« »Ich mag aber nicht«, sagte die Wirtin trotzig und hielt die Schürzenzipfel fester. »Auch gut«, versetzte Stighans ruhig, »ich glaube, du ließest dich nicht gerne drum ansehen, für so etwas bares Geld genommen zu haben. Behalte du die Schalen für dich und bring uns Eier. Bezahlt sollen sie dir gehörig werden, und das Zeug drin bringen wir wohl heraus, wenn wir vom Kochen auch wenig verstehen. Nicht wahr, Jos?« Dieser war bei den letzten Worten erschrocken nach seinen Taschen gefahren, deren Inhalt Hans viel zu hoch anzuschlagen schien. Der reiche Bauer, die Verlegenheit des Handwerkers bemerkend, warf einen Kronentaler auf den Tisch und sagte: »Da, du Eigennutz, ist bares Geld, lauf nun und bring uns Eier, soviel es dafür leiden mag. Aber mach' schnell, daß wir bald weiter können.« »Das wär' mir noch hübsch, das«, eiferte die sorgsame Hausfrau. »Nein, Bürschchen Liederlich! So wird unter meinem Dache die liebe, gute Gabe Gottes nicht verunehrt und mißbraucht. Habt ihr denn daheim noch nie gesehen und nie gehört, wie man dafür sorgt, daß doch nie ein Tröpflein oder ein Bröselein von dem, was so viele auf der Welt bitterlich mangeln, mit Füßen getreten werde?« Und indem sie ihre Schürze in die großen Hüte der beiden Burschen ausleerte, fuhr sie fort: »Lieber nehmt den Plunder und was ihr wollt umsonst, als daß ihr in meinem Hause, vor meinen Augen so schändlich frevelt. Es hat doch keine Art und keine Gattung mehr in der jetzigen Welt. Alles hält man für erlaubt, wenn man es nur bezahlen kann.« »Da ist's wohl am besten, wenn wir gleich gehen, daß wir dir nicht noch mehr Kreuz machen«, sagte Hans mit etwas gezwungenem Lachen. Jos hatte schon nach dem vollen Hute gelangt. Hans suchte noch kleines Geld für den getrunkenen Wein und folgte dann dem forteilenden Gefährten mit großen Schritten langsam nach. 2. Kapitel Zweites Kapitel Worin sich Hans und Jos etwas deutlicher aussprechen Der Mond war eben aufgegangen und schaute freundlich zwischen den von blütenähnlichen Nebelstreifen umflossenen Bergspitzen aufs neuergrünte Tal herab und auf die Kirche, deren schlanker Turm neben dem tannenbekränzten Fluhfelsen emporragte. Nur unwillig gab der neben dem einsamen Gotteshaus am Felsen vorbeirauschende Strom das trübe Bild des freundlichen Nachtwandlers wieder zurück. Aber wie er auch zischen und tosen, wie drohend er sich gebärden mochte, er war doch nicht imstande, die Ruhe der Bewohner seiner gesegneten Ufer zu stören. Nie schläft wohl der Bauer besser und träumt süßer, als wenn die Flüsse den unwillig grollenden Winter so mir nichts, dir nichts zum Tale hinaustragen. Da öffnet er wohl, trotz den ängstlichen Warnungen der besorgten Hausmutter, sich doch ja vor der Nachtluft in acht zu nehmen, vor dem Schlafengehen die Fenster des Zimmerchens, um das Klagen und Lärmen des aus dem Lande ziehenden Feindes recht deutlich zu hören. Im Winter muß man sich wohl oder übel mit seinen Sorgen ins Zimmer einsperren, und die meisten sind, so sich selbst überlassen, weitaus am schlimmsten dran, weil sie eben nicht viel mehr anzufangen wissen, als ihre Langeweile totzustricken oder den Nachbar zu hecheln, mit dem sie im Frühling und Sommer im schönsten Frieden leben und arbeiten können. Erst das Auferstehungslied der Natur, das Tosen der Bäche, welche endlich die eisige Decke wieder zu sprengen vermochten, öffnet auch die Fenster und die Herzen wieder, daß überallhin ein Gefühl einziehen kann; da reden sie alle wieder von den Arbeiten des Frühlings, während im Winter fast jeder sich mit etwas anderem quälte. Doch unsere beiden Freunde hatten trotz der wunderschönen Osternacht recht ungleiche Gedanken, als sie so auf dem mondbeleuchteten Platze zwischen der tosenden Ach und der stillen Pfarrkirche dahinschritten. Dem Jos tat die frische Nachtluft recht wunderbar wohl, nachdem er in des Krämers engem Schneiderstüblein die ganze Woche für den morgigen Tag fast auf Leben und Tod hatte arbeiten müssen. Ein Gefühl der Freiheit, wie er es noch selten empfand, hob sein Köpfchen, welches er sonst ein wenig hängen zu lassen pflegte. Erst jetzt schien ihm sein Trotz gegen den bisherigen Arbeitgeber nicht mehr nur Folge einer Verstimmung, welche seit Wochen – ja offen sich zugestanden, seit dem Faschingsdienstag, wo er das erstemal auf einen Tanzplatz kam – sein ganzes Wesen belastete. Ja, wenn er jetzt alles wieder überdachte, so kam ihm sein heutiges Betragen, obwohl es ihm den Dienst beim Krämer kostete, ganz gehörig und planmäßig vor. Der harte Winter war nun glücklich überstanden, unter dem wiedergeschmolzenen Schnee wuchs überall Arbeit hervor, so daß er noch nichts verloren geben mußte, auch wenn seine erste Rechnung fehlte und Hans ihn nicht auf den Platz seines bisherigen Knechtes ließ, welchen letzte Woche ein Bericht von der Erkrankung seines Vaters auf dessen stattliches Anwesen zurückrief. Am Ende lag ihm gar nicht so viel an diesem Dienst. Es war ja fraglich, ob er da jemals eine frohe Stunde haben könnte und ob nicht die böse Stigerin oder noch öfter fast die gute Dorothea, Hansens Magd, ihn zum Sterben ärgern würde ... Es gab auch anderwärts Arbeit in frischer, freier Luft, und das war ihm genug. Wenn er sich nur nicht mehr bloß ins Zimmer zu seinen Gedanken einsperren mußte. Das aber hätt' er jetzt nicht mehr ausgehalten, während ihm früher so wohl war bei der Nadel, wenn er leise fröstelnd andere hinaus in Kälte und Nässe gehen sah. Es war gerade, als ob er nirgends mehr Ruhe finden könne, seit er auf dem Faschingsdienstag mit Dorotheen getanzt hatte. Noch ärger wurde das, als es draußen immer mehr erwarmte und der allüberall jubelnd verkündete Frühling ihm gar nichts als das Zimmer voll Fliegen und noch längere Arbeitstage bringen zu wollen schien. Gewiß hätte selbst der Krämer, obwohl der sonst so abhängigen Leuten gegenüber keinen Spaß verstand, die trotzigen Stichelreden seines Schneiders nicht gar so hoch aufgenommen, wenn er seine Stimmung zu fassen und zu beurteilen imstande gewesen wäre. Aber das war des Krämers Sache nur bei Leuten, wo es ihm etwas eintrug. In der Karwoche lagen außer den Wänden des Zimmers auch noch ganze Berge von dringender Arbeit auf dem armen Schneider, den der Krämer nach Belieben einspannen zu können meinte. Schon seit Mittwoch grollte und donnerte es bald da, bald dort; heut abend machten sie sich gegenseitig ihren Standpunkt klar, und darüber hatte es nun Feuer zwischen ihnen gegeben, daß sie so bald wohl nicht mehr zusammen unter einem Dache leben mochten; darum war Jos heut ausnahmsweise lieber ins Wirtshaus als heim zur Mutter, von der er über seinen Wochenbericht schwerlich ein besonderes Lob erwartete. Jetzt aber war ihm wieder ganz leicht. Der Riß zwischen ihm und dem Krämer mußte ja recht groß werden, wenn er den Bitten der guten Mutter gegenüber stark bleiben und einmal aus dieser Krämerhöhle herauskommen sollte. Das beste war immerhin, wenn er auf alles Bitten und Betteln sagen konnte: »Es geht nicht mehr«, wenn ihm selbst auf der anderen Seite das auch etwas traurig vorkommen mochte. »Aber jetzt nichts von Traurigkeit!« rief er sich zu. »Wär's nicht eine Schande gewesen, wo immer man einmal davon erzählt hätte, daß einer der besten Schüler sich ohne die Gnade dieses Krämerwurms nicht mehr ordentlich durch die Welt bringen könne?« Die Leute freilich hatten ihm immer ein faules Mutterbüblein gescholten, weil er nie draußen im Schwabenlande blieb, wo das Einerlei der ungeheuren Kornfelder dem an die nahen Berge Gewöhnten wie eine furchtbar große Rechentafel vorkam. Ja, lieber als bei den wohlgenährten Württembergern, wo so manches arme Landeskind Arbeit und Brot fand, blieb er daheim bei der Mutter. Aber seine Tadler hatten darum denn doch nicht ganz recht. Faul war der Jos nicht. Er sammelte das von der Ach ausgeworfene Holz, daß die Mutter mehr als genug hatte; auch gewann er Beeren für den Pfarrer und andere Liebhaber; ja, man konnte ihn brauchen, wozu man wollte, wenn man ihm nur nichts vom Schwabenland sagte. Diese Furcht vor der Fremde hatte ihn schon früh in die enge Werkstätte beim Krämer getrieben, die von diesem nebenbei auch noch als Rumpelkammer benutzt wurde. Aber so wohl war ihm doch nicht geworden, als Hansjörg, der damals beim Krämer arbeitete, ihn in die Lehre zu nehmen versprach, wie jetzt, wo er sich von dem ewigen Nädeln und Fädeln erlöst fühlte. Aber nun mußte er seine Bitte um Arbeit denn doch ein wenig einzuleiten beginnen. Wenn Hans ihn auch nicht brauchte, so konnte der ihn doch vielleicht irgendwo empfehlen. »Jetzt geht denn die Feldarbeit wieder an«, begann er hustend, »wahrscheinlich schon gleich nach den Feiertagen.« Stighans schien ihn gar nicht zu hören, der hatte jetzt auch an ganz anderes zu denken. Unverwandt schielte er zu jenem kleinen Häuschen drüben über der Ach am Argenstein, dessen halbblinde Fenster mit den runden Scheiben das trübe Bild des Mondes zwischen neubelaubten Buchenästen hindurchschimmern ließen. Was jetzt wohl das Mathisle dort machte? Das arme, verlassene Mathisle, das nicht einmal mit seinen drei Kindern daheim Arbeit und Brot, ja selbst kein gutes Bett hatte! Gewiß dachte es an den Hansjörg, der ihm seine Stütze werden sollte, und dabei ballte es seine Faust vielleicht auch gegen ihn, Stighansen, der ja, wenn auch wider Willen, seinen wackeren Buben zu den Soldaten gebracht hatte. Wie bitter Stighans auch den Tod seines einzigen Bruders Karl beweinte, er wünschte doch oft, daß derselbe, wenn es nun doch einmal sein mußte, ein Jahr früher gestorben wäre, damit er dann nicht mehr zur Rekrutenaushebung hätte mitlosen und verspielen müssen. Daß es ihm nicht um die paar hundert Gulden war, welche er dem Hansjörg, seinem Stellvertreter, zu zahlen hatte, wußte wohl jeder, der den Stighans auch nur ein wenig kennen gelernt hatte. Geizig war er nicht, und seine Sparsamkeit im Kleinen mußte man ihm für Ordnungsliebe auslegen, wenn man seine Freigebigkeit im Großen sah. Freilich, er hatte es, denn er war, obwohl es dem in schlechten Kleidern gleichgültig Daherwatschelnden kein Mensch angesehen hätte, bei weitem der reichste Bauer in der ganzen Gegend. Außer dem Stighof, von dem seine Familie den Namen hatte, und vielen Kapitalbriefen gehörte ihm auch das stattliche Anwesen in Argenau, einem der vielen Weiler des Dorfes, die zusammen die Gemeinde Au bilden, und das schlechte Häuschen mit dem Gut am Argenstein, zu dem er jetzt noch immer so scheu hinüberschielte, während er mit seinem ehemaligen Schulfreunde langsam und schweigend auf dem seit lange zum erstenmal wieder trockenen Platze neben der Kirche hart am Fuße des Fluhfelsens dahinschritt. Erschrocken standen beide still, als sie, plötzlich durch das dumpfe Geräusch der Schritte in ihren Gedanken unterbrochen, auf der gedeckten Brücke sich befanden, welche rechts über die Ach zu den an der Arge liegenden Weilern Argenfall, Argenzipfel und Argenau, dem sogenannten Herrendorfe, führt. Hans war ordentlich froh, daß Jos sich auf einen Balken der Seitenwand setzte, indem er sagte: »Da ist's recht schön und ein gehöriges Durcheinander in den Wasserwirbeln unten. In dem Lärmen und Tosen ist mir immer am wohlsten.« »Mir ist's schon auch recht, daß ich etwas höre«, sagte Hans leise, indem er seinen silberbeschlagenen Tabakkübel aus der Tasche zog. »Da wollen wir eine Weile sitzen und eins plaudern, lauter, als das Wasser tost.« Aber so ein lautes, frohes Gespräch, das alles übertönt und vergessen macht, läßt sich nicht so mir nichts, dir nichts befehlen. Beide wollten unterhalten oder vielmehr unterhalten werden, und doch saßen sie wieder schweigend da, während Hans seinen wohlbeschlagenen Maserkopf aus der mit lieblich duftenden Blättern bis zum Platzen gefüllten Schweinsblase füllte, die Dorothea ihm mit seidenen Bändern hübsch eingefaßt hatte. Jetzt schlug Hans Feuer, und als der von seinem Stein aufzuckende Blitz die mächtigen Balken der sonst vom Dache beschatteten Brücke beleuchtete, dachte er an den armen Hansjörg, der seinetwegen über so manchen Gewehrblitz erschrecken mußte; Jos aber beneidete den Meister, der durch diese Brücke das Dorf verband und ganzen Geschlechtern ein Wohltäter wurde. Dann schauten beide durch eine in der Brückenwand gelassene Öffnung hinab auf die tosend hinausstürzende Ach. Hans erblickte nun auch wieder die schneeweißen Eierschalen neben sich auf einem Balken und sagte lachend: »Merkwürdig, wie man doch bei allem Ernste noch ein Kind ist und am Kindischen seine größte Freude haben kann!« »Und warum auch nicht?« fragte Jos. »Ist einem doch als Kind weitaus am wohlsten! Ich wollte fast, daß ich mein Lebtag ein Kind hätte bleiben können.« »Ich doch nicht«, versetzte Hans schnell. »Glücklich«, fügte er dann sinnend bei, »recht glücklich sind wir da freilich gewesen.« »O gewiß«, fiel Jos, dem das »wir« noch besonders wohlgetan hatte, herzlich ein und begann dann zu schildern, wie wohl ihm damals gewesen, wenn auch ihn, den Jungen der unbeliebten Schnepfauerin, nur höchst selten ein Auge freundlich angeblickt habe. Auch Hans erinnerte sich lachend manches lustigen, tollen Streiches, den sie damals mitsammen machten. Der gutmütige, nur etwas unbeholfene Bursche konnte das lebhafte, zu allem aufgelegte Jösle unter den Kindern der Nachbarschaft weitaus am besten leiden, weil es ihm gewöhnlich auch die lästigen Schulaufgaben machte und überhaupt aus vielen Verlegenheiten half. Hansens Vater fand das ganz in der Ordnung. Dafür ja, meinte er, sei man eben reich, daß man andere gleich einspannen könne, wo man nicht gern selbst ziehe. Die Stigerin war auch nicht gegen das Einspannen, doch sie wehrte Hansen den vertrauten Umgang mit einem Menschen, dessen Dasein nach ihrer Ansicht in den Augen Gottes und aller guten Menschen ein Greuel sein mußte. Die arme Schnepfauerin, die die vom Söhnchen verdienten Kreuzer des reichen Nachbarn recht grausam nötig gebraucht hätte, kam auf den Gedanken, ihr Jösle sei der Stigerin zu arm; doch daß sie damit nicht das Richtige getroffen hatte, bewies später der Umstand, daß sie ihren Hans auch nie neben des reichen Krämers Angelika sehen wollte, weil ihr Vater manches tat, was sie ihm erst vor drei Jahren verzieh, als er den Hansjörg, seinen Schneider, – sie kümmerte sich in der Angst nicht, wie – für ihren jüngeren Sohn zu den Soldaten geschwätzt hatte. Als Hans vorhin sagte, daß er doch die Jahre der Kindheit sich nicht mehr wünschen würde, dachte er sicher an den Zwang, den die Mutter besonders nach dem Tode des alten Stigers ihm und seinem Bruder selig angetan hatte. Sie durften nur mit wenigen, meistens langweiligen, verzogenen Kindern aus den besten, angesehensten Häusern spielen, und so wenig als bei der Wahl ihres Umgangs war ihnen sonst gestattet, sich ihren Gefühlen und Neigungen zu überlassen. Das war noch jetzt nicht anders, nur daß Hans sich nun eher daran gewöhnt hatte. Als Hans heute den Jos zum Mittrinken einlud, dachte er gewiß nicht im entferntesten mehr an eine Auffrischung des alten freundschaftlichen Verhältnisses. Das wäre ja jetzt etwas ganz Neues gewesen, und etwas Neues wollte Hans ebensowenig als sein seliger Vater, dem er in diesem und noch in vielen anderen Stücken merkwürdig ähnlich war. Nur sein Schrecken über den vom Vorsteher vorgelesenen Brief hatte ihn gedrängt, irgend jemandem etwas Gutes zu tun, um dann mit sich selbst wieder etwas zufriedener zu werden. Wenn es dann dem Jos gelang, seinen ehemaligen Freund wieder lebhaft an gemeinsam verlebte schöne Stunden zu erinnern, so darf man doch nicht glauben, daß er da schon als fortgeschickter Schneider und dienstsuchender Knecht oder Tagwerker geredet habe. Solchen armen Jöslein stehen in der Regel viel zu wenige Figuren zur Verfügung, um gute Schachspieler zu werden. Hier auf der dunkeln Brücke, dem einzigen Platz außer seinem Hause, wo niemand ihn wegschicken durfte, war wunderbar obenauf gekommen, was jetzt in ihm arbeitete. Begeistert redete er von der Zeit, in der sie beide Kopf und Hand, Klugheit und Tatkraft, List und Geld immer traulich zusammenzuhalten pflegten, bis er durch das Kommen eines Dritten unterbrochen wurde. Es war der Krämer, der sich gleich hart neben Hansen stellte und vertraulich plauderte, bis er auch den neben ihm im Dunkel sitzenden Schneider erkannte. »So, du bist auch da?« sagte er etwas verlegen. Dann drehte er sich um, indem er auch Hansen recht bald und glücklich heimzukommen wünschte. Bald waren die festen Tritte des für sein Alter noch ungewöhnlich rüstigen, nur etwas nach vorn gebeugten Mannes verhallt. Unsere beiden Freunde aber dachten noch nicht daran, ihm ins Herrendorf hinauf zu folgen, von wo der Schatten seines stattlichen Hauses über den Hügel auf die mondbeglänzte Ach herunterragte. »Ich hätte gedacht«, bemerkte Jos, »der Krämer hätte nun sein Hühnchen für morgen gerupft und müßte nicht auch noch in der Nacht Geschäfte machen, da er ohnehin denen die Haare ausreißt, die sich von ihm kämmen lassen.« »Laß ihn doch einmal gehen!« bat Hans in beinahe befehlendem Tone. »Ja, wir wollen uns die schöne Stunde nicht verderben«, stimmte der Schneider bei. »Sie ist wirklich schön, und mir tut es so wohl, daß wir wieder einmal vertraulich beisammen sind und, wie früher oft, das gleiche haben und das gleiche wollen. Mir ist das Herz so aufgegangen, daß ich keinem Menschen mehr etwas absein könnte. Mit dir ist mir der Mut und die Weichheit von früher wieder gekommen. O Hans, es ist schade, daß du sonst in jetziger Zeit so weit von mir stehst und so hoch ob mir, daß mir schon fast schwindelt, wenn ich zu dir hinaufsehe.« Hansen schienen diese Worte nicht besonders zu gefallen. Hastig langte er nach seinem Hute mit den Eierschalen und schritt über die Brücke auf die Schattenseite hinüber. Jos ging, seine Rede herzlich bereuend, langsam nach. Es war jedenfalls unklug, den Schwachen schon jetzt wieder an die Abneigung seiner stolzen Mutter zu erinnern. Schweigend bestiegen sie die kleine Anhöhe, von der aus sie nun die ringsum an die Berge gleichsam angelehnten Weiler und die einsam stehende Kirche zu übersehen vermochten. Hans stand aufatmend still und sagte lachend: »Dein Schritt paßt noch gerade so zu meinem wie früher. ›Hans und Jösle, Hans und Jösle, Hans!‹ klappt es noch wie früher, wenn wir miteinander über die Gasse gingen. Das ›Hans‹ ist mein Tritt und das andere Gezappel dein Gang. Mir tut es wohl, das wieder einmal zu hören, wenn ich mich auch freue, daß wir seitdem älter und auch etwas klüger worden sind.« »Du hast gut fröhlich sein«, erwiderte Jos. »Fröhlich kannst du zurückschauen und sorglos in die Zukunft. Wer ins Schwabenland hinausfährt, weiß gar nicht, wie weit es ist. Und auch draußen erlebt er ganz anderes, als wer mit der ganzen Habe im Zwillichsack auf dem Rücken ermüdet ankommt und einen Dienst sucht. Ja, Hans, du bist ein glücklicher Wanderer!« »Und du?« »Ich bin müde worden auf meiner bösen Strecke und nun gar noch verirrt.« »Du ermüdet? Das sollte man in den Kalender drucken lassen.« »Warum nicht gar! Von mir mag man nicht einmal reden, geschweige denn schreiben und lesen. Nur wenn ich einmal den Kopf auch ein wenig aufrichten will, hat man Zeit, mich zu tadeln und wie ein Donnerwetter über mich herzufahren.« »Um so etwas nur tät ich mich eben gar nicht bekümmern.« »Ich freilich auch nicht, wenn ich festsäße wie du. Aber den armen Leuten geht zuweilen alles aus, sogar die Geduld. Auch sein Roß und das Rind schützt der Bauer und verzeiht ihnen einen tollen Sprung, wenn sie sich sonst gut halten; so einem armen Teufel gegenüber jedoch kennt man keine Gerechtigkeit und dünkt sich selbst um so höher und besser, wenn man ihm ein rechtes Kohlrabengesicht gemacht hat.« »Ist dir wieder einmal einer auf die Zehen gestanden?« »Sie treten einem nicht bloß auf seine Zehen, sondern auch auf die Hände, den Kopf und das Herz.« »So geht's einem, wenn er zu geduldig ist und sich so wenig zu regen und zu wehren weiß wie du«, spottete Hans. »Wehre dich, wenn du die Katze im Sack bist, mach' eine Faust, wenn du keine Hand hast!« »Lachen über alles oder gehen ist immer das gescheiteste.« »Es ist besser, zwanzig gute Lehren geben, als eine einzige befolgen. Das Kätzlein weiß gar nicht, wie der Maus zumute ist. Stell' dich an meinen Platz in Gedanken, weg von deinem Geld und deinem Anwesen, zu einer Mutter, für die du arbeiten und etwas verdienen möchtest. Kannst du das?« »Ganz leicht.« »Wir wollen gleich sehen. Sag' mir nur, ob man da nur lachen und gehen kann, wenn sich auch das Ehrgefühl niemals regen sollte?« »Aber so als Ladenschneider hast du doch keinem Menschen etwas nachzufragen, wenn du nur deine Sache gehörig machst.« »Als den Bauern, allen Kunden und dem Krämer und der Zusel. Aber schon an der hätte einer genug. Das ist dir eine, viel, viel ärger als drei Wochen Zahnweh. Wenn dich der Alte – denn Vetter mag ich ihn nicht mehr nennen – lange genug gebügelt und geschert hat, fährt auch sie noch daher auf ihrem Hochmut und läßt es mich jeden Augenblick empfinden, daß ich nicht der Hansjörg bin, für den sie ganz ein anderes und ein recht liebliches Paar Augen gehabt hatte. Aber das ist jetzt aus. Ins Haus geh' ich nicht mehr, aber noch einmal bis vor die Tür, um dem Pfau diese Schalen da zu streuen. Sie wär' nach dem Brauch noch zu jung für den Jungfrauenstuhl, drum wird das unseren Biggel nicht wenig ärgern.« »Und was willst du dann?« fragte Hans ernst. »Was ich kann.« »Jetzt gibt's Arbeit genug, wenn einer nicht nur schimpfen, sondern auch schaffen will. Du hast dich freilich an die Stube gewöhnt, und nicht jeder, der einen Knecht oder Tagwerker braucht, würde dich gleich anstellen wollen. Komm nach den Feiertagen zu mir. Man kann dich nicht auf der weiten Gasse lassen.« Hans hatte ungewöhnlich entschieden gesprochen, gerade so, als ob jemand das Gegenteil sagte. Es war ihm auch wirklich, als ob er schon das Kopfschütteln seiner Mutter sehe, an die auch seine letzten Worte gerichtet waren. Jos sagte bei weitem nicht so schnell und freudig ja, als Hans wohl erwartet hatte. »Bei mir«, fing der reiche Bauer wieder an, »bei mir wirst du es dann wohl aushalten können, und Zuseln, die dir böse Augen machen und dich quälen, gibt es auch keine. Die Mutter kümmert sich nicht mehr gar so um alles wie früher, Dorothea aber, die Magd, ist so gut und brav, daß du sicher mit ihr zufrieden bist.« »Das glaub' ich von Herzen gern«, sagte Jos mit einem Seufzer. »Gewiß erleb' ich in deinem Hause nur Liebes und Gutes, aber es kann einem zuweilen auch das Heilsamste und Kräftigste ungesund sein, wenn es zur unrechten Zeit genommen wird.« »Zu stolz wenigstens«, bemerkte Hans etwas streng, »wird dir des armen Mathisles Dorothea hoffentlich nicht vorkommen; aber ich weiß gar nicht, wie du da meinst?« »Honig, zum Beispiel«, sagte Jos, »paßt viel weniger auf den Hemdkragen als auf das Butterbrot«. Jetzt war Hansens Geduld zu Ende. Er meinte es doch so herzlich gut mit dem sonderbaren Trotzkopf. Sogar den lieben Hausfrieden setzte er seinetwegen aufs Spiel, denn es war nicht zu erwarten, daß die Mutter es mit ihm auch habe wie mit dem Krämer, den sie früher gar nicht leiden konnte, der aber jetzt ein Mann ganz nach ihrem Herzen war, so daß Hans ohne seinen Rat kaum eine Ziege kaufen durfte. Hans wenigstens erwartete einen tüchtigen Verweis, daß er so einen ungeübten Knecht ins Haus bringe, einen Menschen überdies, den sie nun einmal nicht leiden könne. Dafür aber hatte er von dem dienstlosen Schneiderlein gerade keinen Dank, doch wenigstens ein freudiges Ja gehofft. Und nun waren solche schlechte Späße der Dank und die Antwort. »Der Teufel«, fuhr er auf, »oder wer sonst Lust hat, mag da dein dummes Gerede deuten und erlesen. Ich will jetzt ganz kurz und gut wissen, ob du am Dienstag kommst oder nicht.« »Ich komme«, sagte Jos, und man konnte ihm dabei leicht anhören, wie wohl ihm wurde, als er endlich mit sich selbst eins geworden war. »Und warum«, fragte Hans, »kommt das denn gar so schwer, daß man fast meinte, man müsse es mit einer Steinschraube heraufwinden?« Das kam dem guten Burschen in diesem Augenblicke so unerwartet und griff dabei so tief, daß er in der Eile nur eine andere, scheinbar gar nicht hierher gehörige Frage hervorzubringen vermochte: »Sagst du mir auch, für welches Mädchen du die Schalen da bekommen hast, nachdem ich gegen dich so offen gewesen bin?« »Von Herzen gern«, antwortete Hans fröhlich, »die sind für Dorotheen, die Magd. Die Wirtin hat also ganz umsonst gefürchtet, es könnte Händel geben ... Solche Späße machen wir immer, und du glaubst gar nicht, wie kurzweilig das dann ist.« »Ich kann es mir wohl einbilden«, sagte Jos leise. Hans aber fuhr munter fort: »Ihr Namenstag fällt in eine Zeit, wo es weder Blumen noch frisches Laub gibt. Ich und der alte Knecht aber, ein herzguter Kerl und nicht so ein Kopfhänger wie du heute, wir haben uns gleich zu helfen gewußt. Wir wollten ihr zeigen, daß wir die Bedeutung kennen, die der sechste Hornung für sie hat. Rate nun, damit du doch deinen Ärger über die Zusel einmal aus dem Gesichte bringst, womit wir dem guten Mädchen seinen Namenstag schmückten?« »Nun, mit was denn?« »Morgens in aller Frühe, noch bevor sich eine Kuh im Stalle regte, haben wir statt Festbäumchen zwei Besen rechts und links neben der Tür ihrer Kammer auf die Stiele gestellt, um welche statt Blumen duftendes Bergheu gewunden und mit alten Hosenträgern befestigt wurde. Schießen konnte nun freilich keiner von uns, ein gehöriges Namenstagsgerumpel aber hat es denn doch geben müssen; das hätten wir durchaus nicht anders getan. Wir suchten auf der Rumpelkammer sorgfältig alles Küchengeschirr, welches sie im Laufe des Jahres und seit länger zerschlagen oder unbrauchbar gemacht hatte, und in einem alten, verwetterten Hute befestigten wir es so ob der Türe, daß es laut klirrend niederstürzte, als diese von innen geöffnet wurde. Die Gute hat herzlich gelacht über diese Aufmerksamkeit, die wie eine andere den guten Willen zeigte; doch du mußt nicht glauben, daß uns der Streich geschenkt geblieben sei.« Jos konnte nicht so herzlich lachen wie Hans, obwohl er sich wenigstens den Schein geben wollte. Er war froh, daß er nun bei dem Gäßchen anlangte, welches zum Hause seiner Mutter hinunterführte. »Also am Dienstag oder vielleicht schon übermorgen will ich kommen«, rief er noch zurück und hätte fast dem Hans eine gute Nacht zu wünschen vergessen. 3. Kapitel Drittes Kapitel Die Schnepfauerin Jos hatte nun doch wieder einen Dienst. Wenn er seiner Mutter erzählte, wie er dem Krämer und seiner Zusel im Unmute derbe Wahrheiten gesagt habe, so brauchte er auf ihr jammerndes: »Was aber nun?« nicht mehr verlegen, sprachlos vor ihr zu stehen. Er hatte jetzt eine Antwort, deren er sich nicht zu schämen brauchte. Gewiß hatte die Gute recht, daß sie ihn stets zur Geduld ermahnte. Jetzt gestand er sich das von Herzen gern, denn erst jetzt wagte er, sich's recht lebhaft vorzustellen, wie schlimm er nun daran wäre, wenn er keinen Platz hätte. Er dachte dann auch, wie die gute Mutter sich freuen werde, daß nun ihr alter Lieblingswunsch, ihn bei seinem Schulfreund im Dienst zu sehen, noch so schnell und unerwartet erfüllt werden sollte. Das alles malte sich Jos beim Heimgehen aus, um doch auch ein wenig fröhlich zu werden. Doch es war alles beinahe umsonst. Nicht, daß ihm etwa vor der alten Stigerin besonders bange gewesen wäre. Seine Erinnerung freilich hatte nur wenig Erfreuliches von ihr bewahrt, doch damals, als er zuweilen in ihrem Hause spielte, kam ihm manches ganz anders vor, als seit er beim Krämer gewesen war. Wer immer bei der reichen Witwe gelebt und mit ihr verkehrt hatte, wußte nur Gutes von ihr zu erzählen, wenn man sie auch ein wenig stolz oder eher seltsam nannte. Jedenfalls war es neben ihr leicht auszuhalten, Hans war die Gutmütigkeit selbst und Dorothea – gewiß auch. Und doch! Das liebliche Mädchen hatte er, wie bereits erwähnt, am letzten Faschingsdienstag seit Jahren wieder zum erstenmal gesprochen, und jenes schmerzliche Gefühl, das er von ihr wegnahm, hatte ihn seitdem nie mehr ganz verlassen. Zuweilen nannte er es den Wunsch, beständig neben Dorotheen zu leben und mit ihr zu arbeiten. Vielleicht aber wurde nun jener Abend das Bild seiner nächsten Zukunft. Er sah das Mädchen von keinem der eben Tanzenden beachtet in einem Winkel stehen und suchte sich ihm zu nähern. »Sie ist eine Magd«, dachte er nach der allgemein im Bregenzerwalde geltenden Regel, man solle nur mit gleichen Vögeln zu fliegen versuchen. So scheu, wie wohl fast jedes arme Bürschchen, welches zum erstenmal im Leben auf einem Tanzboden auftreten will, fragte er, ob sie nicht, statt hier beinahe erdrückt zu werden, sich eine Weile mit ihm herumdrehen möchte. »Von Herzen gern«, antwortete ihre klangvolle Stimme so laut und fröhlich, daß viele die Köpfe umdrehten und das errötende Paar entweder neugierig oder freundlich lächelnd anblickten. Es wurde beiden fast angst, doch das währte nicht lange. Das Tanzen ging wie geflogen. Jos dachte nicht mehr an die Umstehenden; nur noch sie beide waren da und plauderten so viel zusammen, daß das Schneiderlein es vorher so gar nicht für möglich gehalten hätte. Freilich, einem anderen, dem alles Gesprochene erzählt worden wäre, hätte das sicher nicht eben viel Kurzweil gemacht. Man mußte so etwas von Dorotheen selbst hören, die in jedes Wort so gleichsam etwas von ihrem freundlichen Blick, ihrem seligen Lächeln legte und dann wie das liebliche Echo ihres guten Herzens leise und doch so voll und rein erklingen ließ. Nur dann erst konnte man sich eine schwache Vorstellung davon machen, wie schöne Minuten das Schneiderlein am Faschingsdienstag erlebte. Leider waren es nur Minuten, und den neuen Freuden folgten neue Schmerzen schnell nach. Für das arme, scheue Bürschchen stand der Becher der Freude auf zu unsicherer, wankender Unterlage, als daß nicht sofort die darin enthaltene Hefe aufgerüttelt worden wäre, die nun alles verbitterte. Es fehlte gar bald am nötigen Geld, um noch ein Schöpplein einschenken zu lassen, da beim Fortgehen von Hause auf so etwas nicht gerechnet wurde und auch dort nicht gerade viel mehr Bares mitzunehmen gewesen wäre. Schon schlich das arme Jösle, welches noch heute vormittags eine Wirtshausschuld für das Allerschlimmste gehalten hätte, zitternd und bleich dem hölzernen Aufwärter mit dem unbarmherzigen, starren Geldtaschengesichte nach, um ein vertrautes Wort mit ihm zu reden, als der Hans daherpolterte, Dorotheen johlend bei der Hand faßte und eine Maß Glühwein samt geschliffenen Gläsern zu bringen befahl. Wäre Jos imstande gewesen, noch eine Weile in dem Winkel zu bleiben, in den er sich versteckte, so würde er gesehen haben, wie Dorotheens schöne Augen auch an Hansens vielbeneideter Seite ihn immer noch in allen Ecken suchten. Aber als ob der Boden unter seinen Füßen brenne, war er heimgeeilt zur Mutter, der er nun seine Not zu klagen begann. Ja, die arme Schnepfauerin hätte dem freundlichen Leser sagen können, warum das gerade in ihr Kapitel hinein habe kommen müssen. Alles, was der Jos in seinem Unmute so bitter beklagte, lastete auch auf ihr und ward ihr noch doppelt schwer durch den Gedanken, daß eigentlich sie und nur sie an allem schuld sei. »Die Sünden der Eltern werden noch an den Kindern gestraft«, das hörte die Arme schon früher und hatte nur zu oft Gelegenheit, die Wahrheit dieses Spruches zu erfahren. War es ihr nun auch noch so schmerzlich, ihren Jos ganz unschuldig einzig ihretwegen immer wieder angefeindet und zurückgesetzt zu sehen, so hatte sie dabei doch wieder den Trost, daß der arme Junge sich dadurch doch den Himmel verdienen könnte. Damit vermochte sie sich wieder zu beruhigen, wenn Jos einmal mit kaltem Lachen sagte, solche Leute wie er seien einmal dazu da, daß andere ein Vergnügen hätten und nach Belieben auf ihnen herumtrampeln können. Diese Ruhe der Verzweiflung, die sie Geduld und Ergebung in den Willen Gottes nannte, hielt sie für die größte Gnade, die dem Jos verliehen werden konnte. Sie sah darin einen Beweis, daß er wenigstens von Gott nicht verlassen sei. Aber seit jenem Abende war auch dieser Trost verloren. Jos kam als ein ganz anderer heim, und vergebens betete sie seitdem, daß Gott ihm die frühere Ruhe wieder verleihen, unter der ihn drückenden Last nicht auch seine Seele tiefer und immer tiefer sinken lassen möge. Der alte war Jos seit dem Faschingsdienstag allerdings nicht mehr, das hätte nicht nur der Scharfblick der liebenden Mutter wahrnehmen können; aber man hätte die Veränderung ebensogut einem plötzlichen Aufschnellen seiner lange niedergehaltenen inneren Kraft als einem Abnehmen der Gnade Gottes zuschreiben können. Wenn ihn jetzt der Druck der Fesseln schmerzte, an denen er immer gewaltiger rüttelte, so machte ihn das nicht mehr schwach wie früher, sondern immer wilder und trotziger. Das brachte die Mutter beinahe zur Verzweiflung und machte wahr, was sie schon seit Wochen fürchtete. Der Krämer war mit dem Jos nicht mehr zufrieden und gab ihm endlich, als die vielen Arbeiten auf Ostern fertig waren, mit einem Wochenlöhnchen, das die Mutter nur nährte, weil auch sie mit Sticken noch manchen Batzen dazu verdiente, den Abschied. Es wäre ihm bange gewesen, wenn er so ohne besseren Bericht zur Mutter hätte gehen müssen. Der unbewußt in ihm erwachende Wunsch, von jetzt an neben dem lieben Mädchen zu leben und zu arbeiten, hatte ihn in die Nähe des Glücklichen getrieben, der das ganze liebe, lange Jahr kaum von ihrer Seite kam. Hansens Antrag trieb ihm alles Blut ins Gesicht, und auch noch, nachdem er zugesagt hatte, plagte ihn beständig die Frage, wie oft es ihm wohl gehen werde wie am Faschingsdienstag. Ja, er hatte wirklich nur zu kommen versprochen, weil er wußte, daß das die Mutter freuen werde, wie die Arme lange nichts mehr gefreut. Als dann Hans das schöne, frohe Zusammenleben mit Dorotheen schilderte, ward ihm unaussprechlich weh, und er verließ seinen künftigen Brotherrn in der übelsten Stimmung. Vor der Beige von Bach- oder Bettlerholz, welches er und die Mutter nach einer Überschwemmung neben der Ach zusammengelesen hatten, blieb er stehen und sah das Bild des Mondes, wie es von den kleinen, halbblinden Scheiben der Fenster seines Häuschens trüb und traurig zurückgeworfen wurde. »Alles«, rief er laut, »gar alles, auch der liebe Mond kommt verdorben wieder aus so einer Hütte. Ist's da noch zum Verwundern, wenn man auch an mir etwas Ähnliches bemerken will?« Jetzt öffnete sich das Fenster, und eine sanfte Frauenstimme fragte: »Jos – bist du da?« Wie aus dem geöffneten Fenster das trübe Bild des Mondes, so war auch des Schneiders Unmut plötzlich verschwunden. Die Mutter war also auch noch wach. Vermutlich hatte sie bis jetzt immer gestickt, um mit ihrer Arbeit noch vor den Feiertagen fertig zu werden und den Lohn dafür zu erhalten. »Ja, Mutter«, antwortete er ganz eigen weich, und im nächsten Augenblicke knarrte die schwere Haustür. »Ich hab' deinetwegen schon fast Kummer gehabt«, redete die blasse Schnepfauerin den Eintretenden an, indem sie mit der weißen, fast durchsichtigen Hand über die wohl vom vielen Nachtarbeiten so stark geröteten Augen fuhr. »Du kommst sonst immer zur rechten Zeit«, setzte sie lobend bei und versuchte zu lächeln. »Was würdest du aber sagen, Mutter, wenn ich von jetzt an auch abends nicht mehr heimkommen tät'?« fragte Jos, indem er sich neben sie auf die Ofenbank setzte und ihre Hand ergriff. »Großer Gott! Bedeutet es kein Unglück, daß wir so auf den gleichen Gedanken gekommen sind? Wenn du nicht mehr kommen tätest und mir tragen hülfest und dich freutest mit mir, es wäre so schrecklich, daß ich doch hoffe, der liebe Gott werde mir das nicht auch noch aufladen zu so vielem anderen.« »Gewiß nicht, liebe Mutter! Er will dir nur wieder einmal eine rechte Freude machen und hat es drum gefügt, daß endlich dein Lieblingswunsch in Erfüllung geht. Heimkommen aber werde ich nun freilich seltener, wenn ich auch immer nahe bleibe. Ich komme am Dienstag als Knecht auf den Stighof.« Jos begann nun zu erzählen, aber gar nicht so regelmäßig wie sonst. Der guten Mutter sollte die Freude nicht noch dadurch getrübt werden, daß sie erfuhr, wie weh er und der Krämer sich in den letzten Tagen bei jeder Gelegenheit getan. Es war wohl das erstemal, daß er der Mutter etwas ihr Wichtiges verschweigen wollte. Es war ihm aber doch nicht recht wohl dabei, und mit eigener Hast kam er bald auf andere Dorfneuigkeiten, und besonders breit wurde sein Bericht, als er von dem in der Krone vorgelesenen Brief, zu erzählen begann. »Das ist für den Josef Anton noch viel zu früh, wenn der Hansjörg schon wieder heimkommen sollte. Er ist ja noch kaum drei Jahre fort.« Diese Rede war der Schnepfauerin nur so entronnen. Sonst pflegte sie ihren Bruder wie andere nur den Krämer zu heißen, und dem Jos war es von Kindheit an streng verboten, ihn Vetter zu nennen. Dieses Verbot wurde ihm auch nie schwer. Dafür hatte der Krämer durch sein Betragen von je her gesorgt. Nur wenn der Schneider einmal einen rechten Zorn auf ihn hatte, nannte er ihn Vetter Josef Anton – der Krämer meinte, um ihn mit der Erinnerung an die ihm so lästige Verwandtschaft zu ärgern. Vielleicht aber geschah das nur, weil Jos von dem Bruder seiner Mutter jede Unbill doppelt schmerzlich empfand. Heute horchte er erstaunt auf. In so eigener Weise hätte die Mutter nicht geredet, wenn zwischen dem Hansjörg und dem Krämer alles ganz eben gewesen wäre. »Aber«, sagte Jos sinnend, »Hansjörg ist doch mit dem Krämer immer gut ausgekommen. Ich war schon damals dort, ich wüßte mich jedoch nicht zu erinnern, daß er selbst mit der Zusel jemals ein böses Wort gewechselt hätte.« »Ja«, lächelte die Mutter wehmütig, »die zwei sind nur zu gut einig gewesen, sonst hätte wohl Hansjörg nie zu den Kaiserlichen gehen müssen.« »Richtig«, fuhr Jos auf, »das gleicht wieder ganz dem starren, knochigen, felsenköpfigen, grauäugigen alten Sünder. Dem hab' ich's aber heute gesagt, er sehe mit seinen Spitzbubenaugen alle Menschen bloß für Tiere an. Solang er an ihnen herummelken könne, seien sie ihm recht, der beste wie der schlechteste, hernach aber ziehe er allen, und selbst den nächsten Verwandten, die Haut über die Ohren.« »Hast du das sagen dürfen?« »Warum nicht«, fragte Jos zurück und erzählte nun in seinem Eifer auch das, was er der Mutter zu verschweigen beabsichtigte. Endlich kam diese wieder zu Worte. Doch hörte man es dem Ton ihrer Stimme sowohl als dem Ernst ihrer Worte an, wie ihr die Freude darüber, daß das Jösle nun zu Stighansen kommen sollte, durch dessen letzte Mitteilung bedeutend verdorben ward. »So wie du da«, sprach sie, »dürfen unserlei Leute sich nie erbrechen. Die Reichen wollen nichts geschenkt, und das Böse zahlen sie gewöhnlich am reichlichsten wieder zurück. Gewiß, Bürschlein, dein so aufbrausendes Wesen schadet dir mehr als deine Armut. Du magst oft recht haben, aber zum Strafen ist Gott da, wenn er will, und zum Predigen der Pfarrer. So abhängigen Leutlein wie uns schadet es weniger, wenn man alles ißt, was man hat, als wenn man alles sagt, was man wüßte.« »Ach, Mutter, du glaubst nicht, wie weh mir dieses Zusprechen immer tut«, rief Jos und begann, ihre bisher festgehaltene Hand fallen lassend, hastig in der Stube auf und ab zu schreiten. »Kriechen kann ich nicht, und die Wahrheit müßte heraus, wenn ich von so einem Feinde derselben viel abhängiger wäre, als ich wirklich es bin.« Die Mutter sah den Erregten traurig an. Oh, er kannte die Welt, die böse, böse Welt noch nicht. Er war viel zu leichtsinnig, überließ sich zu sehr dem Augenblicke, wie früher auch sie. Auch sie war durch Leichtsinn so unglücklich geworden und hatte aus der zwar armen, aber doch so warmen Heimat fliehen müssen wie eine Verbrecherin. Sie war das Kind ordentlicher Leute. Ihr Haus und ihr Anwesen in Schnepfau hatte sie und ihre Geschwister ernährt. Ihre Mutter war eine arbeitsame Frau, die der Vater als Mädchen im Vorderwalde kennen lernte. Ihre drei Kinder hatten viel von ihrer Lebhaftigkeit und Unternehmungslust. Elisabeth, das jüngste, erlebte die ersten bösen Tage, als ihr Vater, ein gutmütiger, nicht gerade besonders pfiffiger Bauer, bedeutend erkrankte. Schon am dritten Tage sagte man vom Sterben und davon, daß es höchste Zeit sei, mit allem Zeitlichen die letzte Rechnung zu machen. Der gute Mann meinte, unredlich erworbenes Gut besitze er nicht, Schätze hab' er auch keine vergraben, und was durch seinen Fleiß zusammengekommen, sei wohl am schnellsten geteilt und am redlichsten, wenn er alles ohne Testament seinen Kindern zufallen lasse. Es stehe denen dann frei, ob sie noch länger gemeinsam wirtschaften oder gleich alles in Frieden teilen wollten. Der Pfarrer jedoch war ganz anderer Meinung und tat alles mögliche, um seine Kenntnis des Rechtes zur Geltung zu bringen. Den Kindern wurde kalt und heiß, als der fromme Mann dem kranken Vater des langen und breiten ausmalte, wie schlimm der Mutter gehen könnte, wenn man sie der Gnade ihrer Kinder überließe, und daß es daher Pflicht sei, das Vermögen jetzt ihr fast ganz zu verschreiben und das Anwesen um ein billiges an den ältesten Sohn zu verkaufen, daß der dann der Schuldner der Mutter und von ihr abhängig werde. Der Bauer wehrte sich, so gut sich ein strenggläubiger Bauer in einer Krankheit, die er für seine letzte hält, seinem geistlichen Rat, dem Seelenhirten, gegenüber zu wehren imstande ist, und gab dann endlich mit dem peinlichen Gefühl, von der Väter Sitte abweichend, Neid und Unfrieden unter die Seinen zu streuen, in Gottes Namen und der ewigen Seligkeit zulieb' seufzend nach. Des Vaters Zustand begann sich wenige Tage, nachdem er seinen »freien letzten Willen« mit einem Kreuz unterzeichnet hatte, wieder zu bessern. Er wurde noch einmal eine Zeitlang ziemlich gut, aber in seinem Hause war viel, alles anders geworden. Wohl hatten seine Kinder nicht etwa nur mit Taglöhnersinn wie recht eigennützige Erben auf dem einst ihnen zufallenden Erbe gearbeitet. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war in allen so warm, daß Fleiß und Frieden ihre schönsten Blüten treiben und zur Reife bringen konnten. Nun aber, da sie sich auseinandergerissen, ja sich gegenübergestellt fühlten, fiel das schöne Gebäude zusammen wie ein Haus, unter dem jeder Arbeiter den von ihm gezimmerten Tragbalken wieder wegreißt. Die beiden Brüder besonders gerieten so oft in heftigsten Streit, daß das friedliebende Mädchen nicht mehr mit ihnen unter einem Dache leben mochte und sich in das besuchteste Wirtshaus des Dorfes als Magd verdingte. Josef Anton fing einen Hausierhandel an, da er auch nicht mehr für den bevorzugten Bruder umsonst arbeiten mochte. So stand denn nur noch eines seiner Kinder am Bette des unglücklichen Vaters, als dieser ein Jahr später am Kummer über den von ihm angerichteten Hauskrieg starb. Der Erbe des Anwesens verheiratete sich nun mit einem wohlhabenden Mädchen. Seinem Bruder aber schien der Himmel den Verlust des väterlichen Erbes reichlich ersetzen zu wollen. Josef Antons anfangs kleiner Handel gewann immer mehr an Umfang und Bedeutung, wie das kaum anders sein konnte zu einer Zeit, wo noch ganze Dörfer nur von Hausierern bedient wurden, die man überall als Hausfreunde, lebendige Wochenblätter und Ratgeber sehr hoch schätzte. Seine Schwester verlebte unterdessen auf einem Platze, wo manche es gar nicht aushalten zu können meinte, so frohe Tage, wie sie außer dem Vaterhause nimmer zu erleben hoffte. Eben weil sie, ein mittelloses, verlassenes Mädchen, auf der Welt kaum noch etwas Gutes erwartete, wurde es ihr leichter, einen so strengen Dienst zu versehen und selbst die vielen Launen der mit ihrem Manne im dreißigjährigen Kriege lebenden geldstolzen Wirtin – wenn auch nicht immer geduldig – zu ertragen. Da sie aber keinen besseren Platz wußte und nicht heim wollte, ließ sie alles über sich ergehen und blieb. Das war ganz leicht erklärlich, aber daß sie später, da auch andere Leute sie kennen und schätzen gelernt hatten, gar manchen viel besseren Dienst ausschlug, konnte niemand begreifen, weil eben niemand wußte, wie innig sie sich hier gefesselt fühlte. Der Fuhrknecht des Wirtes, ein junger, lustiger Bursche, war der erste Mensch, der ihr kein eigennütziges Kind dieser bösen Welt zu sein schien. Er konnte wirklich so wenig bei jeder Gelegenheit nur seinen Vorteil berechnen als sie. Oft und oft hätte ihn sein Eifer, das Mädchen der Wirtin gegenüber entschieden zu verteidigen, den Dienst gekostet, wenn das Geschäft des tüchtigen Burschen hätte entbehren können. Dem unter rohen, selbstsüchtigen Menschen aufgewachsenen Mädchen wurde ganz eigentümlich, wenn es den armen Burschen mit allem, was er hatte, für sie einstehen sah gegenüber einem Weibe, welches in drei Gemeinden gefürchtet wurde. Hoch klopfte das Herz, wenn es den schönen Burschen vor der polternden Frau stehen sah, der er in schönem Zorne die Meinung sagte, wie es selbst ihr Mann – der arme Schlucker, den die reiche Witwe nur aus Gnade geheiratet haben wollte – noch selten wagte. Ja oft traten dem Mädchen die hellen Tränen in die Augen, wenn ihr Lob von den Lippen des guten Burschen floß. Er wurde dann immer wärmer, und zuweilen klang das, was er sprach, fast wie ein Lied, und auch ihm sah man die Augen erfeuchten, bis er zuletzt kaum noch reden konnte. Und warum tat er das, warum vergaß er nie, ihr ein kleines Geschenk, wenn auch zuweilen nur eine Blume, ein Bildchen mit einem schönen Vers, mit heimzubringen? Einzig nur, weil er der Gutherzigste, der Beste war auf der Welt, antwortete sich anfangs das Mädchen, in dem eine Neigung erwacht war, wie man sie nur denjenigen zu schildern vermöchte, die sich einst auch so ganz verlassen fühlten. Ja später fragte und antwortete sich das Lisabethle gar nicht mehr. Es las jetzt freudig erschrocken die schönen Verslein auf den Bildern, die er von Bregenz brachte, und fand alles natürlich, alles in der Ordnung. Schon redeten sie ernstlich vom Heiraten, sobald sie noch einige Jahreslöhne beisammen hätten, und noch hatte kein Mensch etwas von einem ernstlicheren Verhältnisse gemerkt, was wohl nur dadurch zu erklären ist, daß man sich in diesem Hause nicht viel darum kümmerte, wie und wo das Gesinde – hier Gesindel genannt – sich die seltenen freien Stunden vertrieb. So verlebten denn die beiden schöne Tage, bis Jos zur Rekrutenaushebung berufen wurde. Es war im Frühling, und das Lisabethle sank ohnmächtig auf das von ihm eben sorgfältig gejätete Gartenbeet, als zwei Vorübergehende sich das Ergebnis der Losung berichteten. Hier fand sie Jos, der, da er keinen Ersatzmann zu zahlen vermochte, schon dem Kaiser den Eid hatte schwören müssen. Weinend stürzten die beiden sich in die Arme. Lange jammerten sie, dann vergaßen sie noch einmal das Künftige, die ganze Welt und alles. Beim Grauen des anderen Morgens sah das Lisabethle seinen Jos zum letztenmal. Er hatte die Zeit der Rückkehr in seine Heimat nicht mehr erlebt. Zuerst nach der Abreise des Jos war das Mädchen noch stiller und geduldiger als vorher, nur an der Arbeit schien es keine rechte Lust mehr zu haben. Ja einmal, mitten im Heuen, lief es von aller Arbeit weg und sagte nur, es müsse nach Au, um mit dem Doktor zu reden wegen seinem Kopfweh. So etwas war der Wirtin noch nie vorgekommen, wie viele Mägde sie auch schon gehabt hatte. Je öfter sie nachmittags davon redete, desto zorniger wurde sie und desto fester ihr Entschluß, der liederlichen Person noch heute den Abschied zu geben. Dazu aber war es zu spät. Abends erschien statt der erwarteten Magd eine Base von ihr, die sich vor Jahren in Au, der Nachbargemeinde, verheiratet hatte, um Lisabethles Kleider und den Lohn zu holen, da dieses plötzlich ein wenig erkrankt sei und kein Mensch wissen könne, wann es wieder besser werde. Das arme Mädchen wagte nämlich nicht, bei seiner Mutter eine Zuflucht zu suchen. Die jetzt schrecklich fromme Frau, die keinen Hauskrieg fürchtete, wenn sie, der Aufforderung des Pfarrers folgend, wieder eine fromme Stiftung machte, hätte gewiß für das arme gefallene Mädchen kein Herz, sondern nichts als die bittersten Vorwürfe gehabt. Drum blieb es denn beim armen, kinderlosen Vetter in Au in einem Nebenstübchen, wo es sich mit Sticken und Nähen kümmerlich durchbringen mußte, bis der kleine Jos kam und nun manche Stunde des Tages in Anspruch nahm. Auch jetzt noch ging sie nicht in ihr Heimatsdorf zurück, ja jetzt erst recht gar nicht, denn schon der Gedanke an das, was sie in der Kirche, wo sie getauft wurde und die erste Kommunion empfing, erleben müßte, machte sie erbeben und gab ihr auch Kraft zu jeder Anstrengung, jeder Entsagung, daß sie doch keinen Menschen in Au belästigen und dadurch Veranlassung zu ihrer Ausweisung geben müsse. Noch aus frühester Kindheit her konnte sie sich schrecklich lebhaft vorstellen, was ein verführtes Mädchen hatte ausstehen müssen, als es zum erstenmal am Osterfeste, das strenge Kirchengebot erfüllend, den Gottesdienst mit der ihm von dem Gemeindediener angehängten alten Geige zu besuchen wagte. Der Pfarrer ließ die Übung dieses alten Landesbrauchs zu, wenn dabei der Gottesdienst auch durch die rohesten Späße entweiht wurde. Das gab der Dorfjugend den Mut, sich nach der Messe, die kein Mensch auch nur mit einiger Andacht angehört hatte, wie früher ihre Urgroßväter in zwei Reihen vor der Kirche aufzustellen und die schutz-, ehr- und rechtlos gewordene schöne Sünderin, die zwischen ihnen hindurch mußte, mit Kot zu werfen und auf die roheste Weise zu mißhandeln. Freilich war seitdem manches Jahr vergangen. Niemand hatte mehr von der Sache geredet, und vielleicht war endlich dieser alte Brauch vergessen. Vielleicht aber auch nicht. Unbarmherzige Eiferer und rohe Leute gab es ja noch genug, sagte sich das Lisabethle und wagte selbst am Begräbnistag der Mutter nicht mehr die Pfarrkirche zu besuchen. Es war ihr dabei ein großer Trost, daß sie sich in Au überall ohne Erröten sehen lassen durfte. Ihr Unglück und ihr Fleiß hatten ihr hier manches Herz gewonnen. Man betrachtete sie um so eher als zur Gemeinde gehörend, da man es beinahe als Ehrensache empfand, die nicht zu verstoßen, solange sie durch ihr Betragen keine Veranlassung gab, die hier eine Zufluchtsstätte gesucht hatte. Nicht einmal ein Heimatschein wurde ihr abgefordert, und viele freuten sich darüber, daß es ihr gelang, mit dem, was sie vom älteren Bruder als Erbe erhielt, und mit dem, was der verstorbene Soldat ihr zukommen ließ, das Häuschen in Argenau zu kaufen, welches sie noch vor dem Tode ihrer Verwandten bezog und in dem wir sie auch jetzt noch finden. Da, unter eigenem Dache, schlief sie nun wieder viel besser, und auch die Wochen vergingen etwas schneller. Schon viermal hatte sie den Erdäpfelwinkel im engen, niedrigen Keller geleert und ebenso oft die Knollenfrüchte vom Acker heimgebracht auf dem kleinen Handwägelein, in welchem man sonst den etwas verwöhnten Stighans im Dorfe herumzuführen pflegte. Der kleine Jos sprang fröhlich hinten nach, doch sah man es seinen ersten Höschen ganz deutlich an, daß er auf den Knien auflas, was die Mutter herausgegraben hatte. Es war ein flinkes, talentvolles Bürschchen, über das hinweg nun die Mutter wieder zuweilen in die Zukunft zu blicken wagte. Früher hatte sie als Büßerin alles ruhig über sich kommen lassen, was nach ihrer Ansicht der erzürnte Himmelvater schickte, ohne sich zu rühren und zu regen, ja ohne nur einmal zu denken, daß es anders sein könnte oder sollte. Erst die Mutterliebe vermochte sie aus dieser Starrheit zu bringen, das Schreien des hungrigen Kindes sie aus einem schlummerähnlichen Zustande zu wecken und sie von manchem düstern Traume zu befreien. Mit den neuen Pflichten kam auch Selbstvertrauen und Kraft, manches Widerwärtige von dem schuldlosen Kinde abzuwehren, ihm die Mutter gesund zu erhalten und als solche gleichsam ein neues Leben zu beginnen. Das tat sie denn auch mit Anstrengung aller Kräfte und lebte dabei so abgeschlossen und still, daß wohl kein Mensch sich hätte einbilden können, die Wahl eines neuen Gemeindevorstehers könnte für sie und ihren geringen Verkehr mit der Nachbarschaft irgendwie ein wichtiges Ereignis sein. Und doch war es so. Der neue Vorsteher sah beim Durchgehen der ihm übergebenen Schriften, daß das Lisabethle noch keinen Heimatschein beigebracht hatte, und glaubte nun, von der Vorstehung in Schnepfau einen solchen, wenn auch nur der Form wegen, fordern zu müssen. Die Antwort von Schnepfau aber verwies kurz und nicht ohne Beimischung von Spott auf das Gesetz, nach dem jeder Fremde der Gemeinde gehört und zur Last fällt, in der ihm vier Jahre ohne Heimatschein sich aufzuhalten gestattet wurde. Jetzt hatte alle Milde und Gutmütigkeit auf einmal ein Ende. Bisher hatte man die stille, fleißige Stickerin als eine Unglückliche beschützt und geliebt, keinem Menschen war sie groß in den Augen gewesen; nun aber war sie eine der Gemeinde aufgedrungene Last, gleichsam das lebendige Denkmal einer von der Regierung des Dorfes gemachten Dummheit. Sie hieß nun die Schnepfauerin, und schon in diesem Namen lag etwas, das sich als Mißton fast in jedes mit einer Nachbarin beim Brunnen geführte Gespräch mischte. Die so aus der Heimat Verstoßene wurde immer argwöhnisch beobachtet, niemand traute ihr recht, und sogar der kleine Jos mußte dafür büßen, indem die Stigerin, der die Geschichte wie ein großer Klecks in dem Zeugnis ihres Vetters, des Altvorstehers, erschien, ihrem Hans den Umgang mit dem Jungen einer aus der Heimat verstoßenen Person verbieten wollte. Das war jedoch nur der erste, leider bei weitem nicht der einzige Fall dieser Art. Die meisten Bauern dachten wie die Stigerin und lehrten auch ihre Kinder so denken, während die Ortsarmen durch sie schon im Genusse der Armenkasse verkürzt zu werden fürchteten. Man fuhr wie gewöhnlich mit dem nun einmal aufgelesenen Ärger dort hinaus, wo der Hag am niedrigsten, am schwächsten war, und die arme Schnepfauerin mit ihrem Jösle mußte alles entgelten. Und doch hätte die Unglückliche an diesem Schnepfauer Streich auch ohne die ihr daraus erwachsenden äußeren Plagereien schon genug Herzleid empfunden. Bitterlicher als jetzt oft hatte sie selbst damals nicht geweint, als ihre Scham sie aus der Gemeinde trieb, die nun sie und ihr unschuldiges Kind aufs schmählichste für immer verstieß. Oh, vieles hätte sie tun mögen, um sich Achtung und Liebe zu verdienen. Oft, wenn sie in langen Winternächten arbeitete, bis das allzu sehr angestrengte Auge den auf die Stickerei fallenden hellen Schein der neben das Licht gestellten Glaskugel rötlich und bläulich aufflammen zu sehen glaubte, sann sie nach, ob man sie und ihren guten Willen denn gar nirgends brauche in diesem ewigen Einerlei. Zuweilen wünschte sie, ihr Leben für andere wagen zu können! Aber wenn sie dann das ruhige Atmen des neben ihr entschlummerten Kindes hörte, fuhr sie freudig erschrocken aus ihren Träumen auf und brachte den Liebling mit doppelter Zärtlichkeit ins Bettlein, wie wenn sie ihn wegen dem bösen Gedanken, der sie von ihm abzog, um Verzeihung hätte bitten wollen. Erst das Jösle war vielleicht einmal imstande, sich und ihr wieder Boden zu gewinnen, daß dann auch der alte Vorsteher seine Nachlässigkeit nicht mehr bereuen mußte. Von jetzt an durfte es nicht mehr so schlecht gekleidet herumgehen wie bisher, wenn sie sich darum auch halb blind hätte arbeiten müssen. Sie brachte überhaupt dem Scheine viel eher ein Opfer als früher, wo sie sich noch ganz unbeobachtet glaubte. Man sollte sie nicht für zurückgekommen halten und den Namen Schnepfauerin, der nun einmal nicht mehr wegzubringen war, wieder aussprechen lernen, ohne dabei den Mund zu verziehen. Es galt ja das Wohl, die Zukunft des Kindes, dem sie den Vater ersetzen sollte. Dieser Gedanke gab ihr eine bewunderungswürdige Kraft und Ausdauer, aber niemand war, sie zu bewundern. Sie galt für ein leichtsinniges Geschöpf, und doch war wohl kaum ein Mensch im Dorfe, der innerlich und äußerlich so viel durchzukämpfen hatte wie sie, ohne daß etwas anderes sie belohnte als – der freundliche Blick des seligen Geliebten, den sie in trüben und frohen Stunden immer vor sich zu sehen glaubte. Er war der einzige, mit dem sie sich besprach über die Zukunft ihres Josef, der seine traurige Lage so spät als möglich ganz kennenlernen sollte und daher auch nie merken durfte, was alles sie für ihn tat, litt und entbehrte. Nur daß er arm, daher von Wohlhabenden abhängig sei, sollte er wissen, um deren Launen etwas geduldiger zu ertragen und sich nicht überall schon zu Hause zu wähnen. Ja, in diesem Stück konnte die sonst so zärtliche Mutter recht hart sein. Jösles Klagen über die Ungezogenheit reicher Kinder, ihre Härte und Bosheit, suchte sie, wenn auch mit blutendem Herzen, wegzuscherzen. Da tadelte sie seinen Trotz, wie recht sie ihm auch innerlich geben mochte, und hatte dafür die Freude, zu sehen, daß der Stighans immer noch den Umgang mit ihrem Jösle suchte, wie strenge das ihm auch von der Mutter verboten wurde. Das Schneiderlein hatte ganz recht, wenn es einen alten Lieblingswunsch der Mutter erfüllt glaubte, da es nun als Knecht auf den Stighof kommen sollte. Schon vor vielen Jahren hatte sie daran gedacht, und erst als sie aus dem vertrauten Umgange der beiden Knaben für ihre Zukunft nichts erwachsen zu sehen meinte, konnte sie sich entschließen, den Jos zuerst ins sogenannte Schwabenland zu verdingen und dann, da er dort nicht blieb, bei dem unterdessen wohlhabend gewordenen Bruder Josef Anton, dem Krämer, ein Handwerk lernen zu lassen. Das war die einzige Bitte gewesen, die sie noch an den Bruder richtete, und er hatte sie erfüllt, obwohl er es früher hoch und teuer verschwor, er werde weder sie, die ihm überall im Wege stehe, deren Schande die ganze Verwandtschaft niederdrücke, noch den Jungen jemals unter sein Dach kommen lassen. Es schien ihm endlich gelungen, den Jos wie einen ganz Fremden anzusehen, und diesem fiel es nie ein, ihn durch das Wort Vetter an die nahe Verwandtschaft zu erinnern, wenn er es nicht gerade dem harten Manne zum Possen tat wie heute. Die Schnepfauerin dankte Gott von Herzen, daß der längst gefürchtete Wortwechsel der beiden für Jos noch so gute Folgen hatte. Als echte Bregenzerwälderin sah sie die Aufnahme eines Dienstboten als einen Akt des Vertrauens und großer Hochachtung an. Der nun in Aussicht stehende höhere Lohn freute sie nicht halb so wie der Umstand, daß Jos nun in ein rechtes Haus, mitten in die wichtigste Arbeit hineinkam, gleichsam auf einen besonders erhöhten Posten in der Gemeinde, auf dem nun viele Menschen ihn sehen und hoffentlich auch schätzen lernen konnten. Es gab noch so viel zu besprechen, daß man erst spät in der Nacht ans Schlafen dachte. Die Mutter, besorgt um den leidenschaftlichen, immer etwas raschen, leichtsinnigen Jos und erfreut über seinen Bericht, hätte gleich wieder zu arbeiten anfangen mögen, wenn sie dadurch nicht das hohe Osterfest zu entheiligen gefürchtet hätte. Jos dachte beim Einschlafen noch an seine Eierschalen, die er vor der Mutter sorgfältig verborgen hatte. Sie sollte da nichts zu sorgen bekommen. Im Traum sah er des Krämers Haus mit der großen, buntbemalten Türe, vor der die Eierschalen lagen. Als dann statt der Zusel Stighansens Magd herauskam, erschrak er so, daß er darüber erwachte. 4. Kapitel Viertes Kapitel Was Zusel am Ostersonntag erlebt »Wie das Wetter am Ostertag ist, so wird es jeden Sommersonntag sein.« Diese Bauernregel entstand wohl auch weit weniger durch langjährige Beobachtung als aus den Eindrücken schöner und trüber Ostertage auf Menschen, die sich Kirche, Haus und Feld, Göttliches und Weltliches nur als eines oder doch bloß als gegenseitig sich bindend und tragend zu denken vermochten. Verständige Kinder unserer verständigen, alles teilenden und trennenden Zeit zucken freilich über solche Wetterregeln mitleidig die Achseln und meinen, mit den Festen der Kirche würden Sonne und Nebel nicht viel zu tun haben. Als ob man das nicht schon lange gewußt und allenfalls von Jahr zu Jahr erfahren hätte! Wo fiel es wohl je einem ein, wegen Ostern am Weißen Sonntag ernstlich schönes oder trübes Wetter zu erwarten? Dieser poetische Glaube jedoch hat sich stets vom Vater auf den Sohn vererbt und wird sich vererben, solange Ostern das Auferstehungsfest bleibt, an dem alle Stämme und Stengel sich füllen mit frischem Lebenssaft und um die mit dem Karsamstagswasser geweihten Bächlein die ersten Blumen und Gräser sich wieder herauswagen. Die ernste Karwoche schließt den Winter nicht nur für Mietsleute und Dienstboten, sondern auch für den Bauern, der sich am Ostertag, in dem er das Bild des Frühlings sieht, schon so in die mildere Jahreszeit hineindenkt, daß er, der Himmel und die Erde mögen aussehen, wie sie wollen, nun wieder zum erstenmal im leichten, buntfärbigen Sommerkleide zur Kirche geht. Das müßte ein armes, recht unglückliches Menschenkind sein, das am lieben heiligen Osterfeste gar nichts Funkelnagelneues anzuziehen und gleichsam einzuweihen hätte. Es sehen daher nicht nur ernste Bauern, denen ein trüber Tag die erste und reinste Frühlingsfreude verderben würde, schon früh am Morgen besorgt zum Himmel auf, sondern auch junge, sonst sorglos lebende Mädchen, die denn doch ihren Festschmuck nicht gerne verderben möchten, beobachten ängstlich jedes Wölkchen droben am Himmel und finden es heute fast so unangenehm wie einen Schmutzfleck im neuen Festtagskleide. Schon in der wie gewichst glänzenden engfaltigen Juppe prangend, holen sie endlich auch die allerweißesten Strümpfe aus dem Kasten und öffnen die von Rosmarin duftende Schachtel, in der, von unzähligen Papierstreifen umwickelt, der neue goldgestickte Brustfleck mit dem von Glasperlen gefaßten Namenszuge liegt. Endlich schimmert alles an seinem Orte, der glanzlederne Gürtel mit den drei silbernen Schnallen umfängt die schöne Gestalt und sucht ihre vollen Formen unter der etwas starren Juppe zu verbergen. Nun wär's doch wirklich jammerschade, wenn es regnen würde. Aber wer nichts wagt, gewinnt nichts. Ostern ist's nur einmal im Jahr, und übrigens kann man ja auch einen Regenschirm mitnehmen, der dann im schlimmsten Falle alles ein wenig schützt und doch – nicht alles verbirgt. Noch ein Blick in den verstohlen gekauften kleinen Spiegel hinter den Kleidern im Kasten oder in das gegen die Wand geöffnete Kammerfenster, das weniger Verwöhnten als Spiegel schon manchmal dienen mußte; dann fort zur Nachbarin, um doch auch noch geschwind zu sehen, was die heute wieder Neues hat. Die überall beneidete, getadelte und bewunderte Susanna, des reichen Krämers verzogenes Töchterlein, hatte schon etliche Jahre hintereinander den Dorfbewohnerinnen am Osterfeste gezeigt, was für den kommenden Sommer Mode sein werde; doch einen so schönen Ostermorgen wie den heutigen hatte selbst sie noch niemals erlebt. Nicht einmal wecken mußte man sie heute. Die Magd hatte noch kaum ein Feuer, als sie schon zu ihr in die Küche kam und fragte, ob denn der Kaffee noch nicht bald fertig sei. Auf das »Na« der Köchin befahl sie dieser streng, sich einmal ein wenig zu tummeln, und doch mußte man ihr dann hernach dreimal rufen, bis sie endlich ihren wohlgefüllten Kleiderkasten verließ und in die Stube kam, wo der Krämer lächelnd auf sie wartete. Der Kaffee hätte spottschlecht sein können, ohne daß die sonst von der Magd so gefürchtete Feinschmeckerin es heute bemerkt haben würde. Unter allen, welche fast ein Gefühl hatten, als ob eigentlich der Ostertag nur ihretwegen endlich gekommen sei, blieb wohl keine vor dem Kirchengehen so lange im Schlaf- und Ankleidezimmer wie die Zusel, was ihr auch vom Krämer durchaus nicht verargt wurde, da er ja wußte und oft schon mit unverkennbarem Behagen erzählte, daß die es mit Ankleiden überhaupt ungemein genau nehme. Es verlohne sich das aber bei ihr auch wie nur bei wenigen, fügte er dann nicht ohne Stolz bei, und seltsamerweise gab es nicht viele im Dorfe, die ihm solche Reden öffentlich verargten, eine Nachsicht, die er wohl mehr seiner wirklich schönen Tochter als eigenem Ansehen verdankte. »Er ist eben ein Emporkömmling und hat es nun wie die hungrige Kuh, wenn sie in den Heustadel kommt.« Mit diesen Worten schlossen die meisten Erzählungen von dem stolzen Manne, dem seine frühere Armut und seine gemeine Verwandtschaft immer auf eine ihm freilich nicht erwünschte Weise zu seiner Entschuldigung angeführt wurde. Von ihm, der noch immer für einen Auswärtigen galt, schien kein Mensch viel Gutes zu erwarten. Er konnte tun und reden, was er wollte, ohne jemals ernstlichen Tadel fürchten zu müssen. Der Jos hätte sich über diese Nachsicht nicht so ärgern, sie nicht Kriecherei vor dem Goldenen Kalbe nennen sollen, sondern nur Gleichgültigkeit gegen den Bruder der Schnepfauerin, den Fremden. Eine Zeitlang hatte man sich doch schon etwas mehr um ihn gekümmert. Das war damals gewesen, als er zuerst mit seinem kleinen Kram im Dorfe hausierte und einem der reichsten Mädchen derart den Kopf verdrehte, daß es ihn am Ende noch sogar heiraten mußte. Selbst noch hernach konnten sich viele nicht recht erklären, wie das zuging, obwohl es sechs Monate nach der Hochzeit die kleine Angelika ins Dorf hinaus zu schreien begann. Freilich war der Krämer ein merkwürdig durchtriebener Gesell und hatte als Hausierer so gut als einer jeden bei seiner Eigenheit zu fassen und seinem Zwecke zuzuleiten gelernt. Sein Ehrgefühl vermochte ihn nie zu beschränken; das schadete ihm in der öffentlichen Meinung trotz seines erworbenen Vermögens bei weitem mehr als seine später nach Au gekommene unglückliche Schwester, und es wäre wohl nicht nötig gewesen, der Gefallenen sein Haus zu verbieten, solange er auf Wucher auslieh, mit armen Witwen herzlos die unverschämtesten Nothändel machte und keinen Weg für zu schlecht hielt, wenn er darauf nur zu irgendeinem Vorteil kam. Nur noch lauter wurde freilich das Reden und Lachen über ihn wegen dem Lisabethle, und viele gönnten ihn jetzt als Strafe Gottes dem ehemals so eitlen Mädchen, das nur verächtlich aus seinem hochdachstuhligen Hause auf die wackersten Burschen des Dorfes herabgesehen hatte. Ihn ärgerte es schrecklich und machte ihn mit der Zeit trotzig, daß man ihn nie zu denen zählen wollte, neben welchen er doch im Steuerbuche stand. Aufgeben aber kann ein Mann mit eisernem Willen, der es schon so weit gebracht hat wie der Krämer, seinen Lieblingsplan nicht so leicht. Rom ist auch nicht an einem Tage gebaut worden. Der Boden war jetzt glücklich geschaffen zum Fundament, und das weitere dachte Josef Anton seinen beiden hübschen Töchtern zu überlassen. Die mußten wohl kein Tröpflein von seinem Blut haben, wenn es ihnen nicht fast von selbst wie spielend gelang, auch alle die Türen aufzutun, die man ihm bisher stolz und trotzig vor der Nase zugeschlagen hatte. Mit der Angelika nun hatte dem Krämer seine Rechnung gänzlich gefehlt, und zwar gerade darum, weil die Stigerin fürchtete, daß sie nur zu viele Tropfen von seinem Blute, seiner Art habe. So entschieden war sie noch nie gegen Hansen aufgetreten, hatte es auch noch nie so lange und mit aller Kraft und List zu tun nötig gehabt, als da es eine Neigung im Herzen des Sohnes zu bekämpfen galt, die ein so gemeiner Verwandtschaft entstammendes Mädchen mit Gewalt zu ihrer Schwiegertochter machen wollte. Als Hans endlich der Mutter nachgab, kam die gute Angelika in ein böses Gerede, wie das fast jedem Mädchen geht, wenn es einen Liebhaber verliert, den ihm viele längst mißgönnten, ohne dieses Gefühl auch nur durch ein Wort verraten zu dürfen. Dem Krämer, der wohl wußte, daß der Spott umsonst kommt, wenn man den Schaden hat, machte das weit weniger Kopfweh, als es wohl seinem seligen Weibe gemacht hätte. Ihr war Angelika immer lieber gewesen als dem Krämer, welcher behauptete, daß sie gar nicht seine Art habe. Als dann sein Weib starb, indem sie der Zusel das Leben gab, wurde Angelika, damals sechs Jahre alt, zu einer Verwandten der Mutter gebracht, die Gott von Herzen dankte, daß wenigstens ein Kind ihrer unglücklichen Base nun doch noch ordentlich erzogen werden könne. Der Krämer gönnte ihr diese Freude von Herzen und nahm sich der Zusel um so mehr an, die viel von seiner Art hatte und aus der er nun etwas Rechtes machen wollte. Zuweilen redete er wohl davon, auch die Angelika wieder heimzunehmen, aber neben dem ernsten Wesen war ihm nie recht wohl, und so kam er denn auch nie dazu, obwohl ihm ihre Erzieherin gar nichts recht machte, als da sie ihr Verhältnis mit dem Stighans auf jede Weise begünstigte und mit allen Kräften vor wärts half. Aber als dann der Base doch ihre Rechnung fehlte, empfand er etwas wie Schadenfreude und meinte, zum lieben Glück sei denn auch noch eine Zusel da, die schon fangen werde, was der Angelika entronnen sei. Angelikas mütterliche Verwandte nahmen die Sache viel weniger leicht. Sie hielten es für höchst nötig, die von Hansen, wenn auch wider Willen, so vielen Redereien preisgegebene Base sofort zu verheiraten, um dem Geschwätz für immer ein Ende zu machen, bevor sie bei keinem reichen Burschen mehr etwas gelte. Zum lieben Glück erklärte sich der Andreas, ein wohlhabender Bursche, sogleich bereit, durch die Tat zu beweisen, daß Angelika schon noch einen rechten Burschen bekomme, wenn auch der Hans zurückgetreten sei. Dem Mädchen war er so recht oder unrecht als außer Stighansen fast jeder andere. Sein Leichtsinn machte ihr wenig Sorge, obwohl sie die Hoffnung der Basen, daß sie ihn leicht bekehre, nicht zu teilen vermochte. Sie wollte nun einmal aus dem Gerede heraus und lieber einen Gebieter als zwanzig Gebieterinnen. War er verschwenderisch, wie man sagte, so brauchte sie nicht zu zittern, wenn sie einen alten Topf zerbrach, und sein Leichtsinn ließ sie wohl einmal frei atmen, wenn auch sie ihm das Leben nicht allzuschwer machte. Sie hatte es also immerhin besser als bisher. Der Krämer sprach es offen aus, daß er mit diesem Töchtermann durchaus nicht zufrieden sei; doch ließ er sich die Leute darüber streiten, ob diese Abneigung mehr dem zügellosen Leichtsinn oder der Starrköpfigkeit des Töchtermanns gelte. Andreas selbst kümmerte sich darum nicht viel, nur das verletzte ihn, daß der Krämer die wegen Verwandtschaft eingeholte kirchliche Dispens nicht bezahlen wollte, sondern trotzig sagte, er würde die hundert Gulden lieber geben, wenn er von dieser Verwandtschaft loskommen könne, als dafür, daß nun sein Kind sich wieder darin verheirate. Diese Rede verzieh Andreas dem Krämer nie, und selbst Angelika empfand sie wie eine Beleidigung ihrer lieben seligen Mutter. So kam es, daß Andreas und sein junges Weib nicht viel mit dem Krämer zu tun hatten. Dieser dagegen wendete nur noch mehr all seine Liebe und Sorgfalt der damals dreizehnjährigen Zusel zu, oder – um mit den Nachbarn zu reden – er verzog und verdarb sie, daß man oft zuerst ihm und dann ihr mit der Rute hätte nachlaufen mögen. Der Ostertag war daher auch für ihn ein wahrer Festtag, wie er noch selten einen erlebt hatte. Mit der Auswahl der Stoffe zu neuen Kleidern hatte er es noch viel strenger genommen als selbst Zusel, welche zu oberflächlich war, um sich schon jetzt so ängstlich mit der Sache zu beschäftigen. Der Krämer jedoch wußte aus Erfahrung nur zu gut, daß man schließlich böse Stunden erlebe, wenn etwas nicht recht paßte und allen Anforderungen entspräche. Redlich hatte er das Seine getan bei der Auswahl und dann der Nähterin wenigstens eine Viertelstunde lang vorgepredigt; drum konnte er jetzt auch mit ruhigem Gewissen seines Lieblings Rückkehr aus dem Ankleidezimmer erwarten. Die Geduld aber wär' ihm beinahe ausgegangen, bis sich endlich die Stubentüre auftat und ihn die hohe, im Festschmuck strahlende Gestalt seines wirklich wunderlieblichen Kindes mit dem etwas herausfordernd aufgeworfenen Blondköpfchen sehen ließ. »Nun, wie gefall' ich dir jetzt?« fragte sie mit einem Blicke, daß der Krämer – Stighansen an seinen Platz gewünscht hätte. Ja, sie war schön mit dem lachenden Blick und dem selbstsicheren Trotz, der bei jeder Frage um den kleinen Mund zu spielen schien. Die Leute nannten sie Angelikas treues Ebenbild, der Krämer jedoch fand sie viel, viel schöner. Angelikas ernster Blick machte einem ganz angst. Sie tat oft, als ob sie die Mutter Gottes zu spielen hätte; neben der Zusel aber wurde einem wohl. Die war doch eher ein Mädchen für den etwas unbeholfenen, allzu gewissenhaften Hans. Die sollte der Gemeinde beweisen, daß es früher nicht nur am Ansehen seiner Verwandtschaft fehlte und daß seine Mädchen sich wenigstens durch ihre Erziehung sehr unähnlich geworden seien. »Nun, wie gefall' ich dir?« fragte das Mädchen abermals, und ohne den Krämer zu einer Antwort kommen zu lassen, eilte sie hinaus auf die Gasse, wo man frohe Mädchenstimmen hörte. »Es ist doch ein prächtiges Ding«, sagte er, der Forteilenden langsam folgend. »Lustig wie ein Vogel und stolz. Das ist recht. Besser noch freilich wär's gewesen, wenn sie diesen Stolz schon vor drei Jahren gehabt hätte ... Nun – eine Dummheit kann man ihr schon verzeihen, besonders eine, die ihr jetzt nichts mehr schaden wird.« In der Kirche wird Zusel sich wohl über die Auferstehung des Herrn gefreut haben, wie der Pfarrer das in der Predigt von jedem Christen erwartete, heim aber kam sie nach dem Gottesdienst in der allerübelsten Stimmung. Die ihr entgegeneilende Katze, die plötzlich zischend unter den Kachelofen sprang, mußte das eher bemerkt haben als die Magd, die ihren Bericht über das Aufsehen, welches Zusel heute gemacht habe, nicht eher endete, als da eine Stimme, wie sie dem hübschen Mädchen unmöglich anzugehören schien, ihr zu schweigen und lieber an das Mittagessen zu denken befahl. Der Vater fand sein Kind auf dem Kanapee, wo es das verweinte Gesichtchen in die Kissen vergrub. »Nun?« fragte er nach einer Weile erstaunt. »Nun«, fuhr das Mädchen auf, »jetzt können wieder einmal alle lachen über mich, bis sie genug haben.« »Das hab' ich durchaus nicht bemerkt«, tröstete der Krämer. »Übrigens hat es schon von je geheißen: Neid bringt Glück.« »Dann müßt' ich viel Glück haben, und ich wollte das, nur damit sie dann fast vergehen täten vor Neid.« »Was hat's denn gegeben?« »Aber, Vater, wo bist du denn ins Haus hereingekommen?« »Natürlich durch die Tür. Warum?« »Dann mußt du auch gesehen haben, daß gleich nach dem Gottesdienst – oder wohl auch unter der Messe – die Leute nehmen es nicht so genau ...« Das Mädchen verbarg sein glühendes Gesicht wieder tief in die Kissen. »Eierschalen für den Biggel gestreut worden sind«, ergänzte der Krämer ruhig, und auf seinem Gesicht erschien wieder das frühere Lächeln. »Ja«, sagte Zusel, sich wieder aufrichtend. Sie mußte den Vater ernstlich drum ansehen, daß er das so heiter sagen konnte, als ob es ein fröhliches Ereignis wäre. »Und weißt du auch, von wem?« fragte der Krämer. »Nun, von einem altmodischen Tropf. Ein paar Neidhämmel werden das angerichtet haben.« »Nein«, widersprach der Vater. »Diesen Possen hat dir einer gespielt, daß du dich mit mir darüber freuen kannst.« »Wer?« »Stighans«, antwortete der Krämer mit einer Feierlichkeit, die deutlich genug sagte, für wie wichtig er diese Mitteilung halte. »Der?« fuhr Zusel auf, »also eigentlich die alte Stigerin, der er folgen muß wie ein Schulbub. Was hat denn die gegen mich? Soll ich auch noch dafür büßen, daß ihr dickköpfiger Hans der Angelika zuweilen ein gutes Wort gönnte?« »Die Alte hat nichts gegen dich, und der gute Hans hat nur einen Spaß machen wollen, den du ihm ganz anders, viel besser auslegen solltest.« Zusel war durchaus nicht überzeugt, aber sie schämte sich ihrer Aufregung, und indem sie sich mit Gewalt zur Ruhe zwang, sagte sie, das würde die Stigerin wieder ganz rasend machen. »Die hat jetzt nichts mehr gegen uns«, versicherte der Krämer. »Hätt' auch keine Ursache mehr dazu. Wie kommst du schon darauf, daß Hans so etwas zu tun imstande gewesen sei?« »Der Hans ist nicht so übel. Sein bisheriger Knecht, von dem ich manches aus dem Hause erfuhr, hat mir oft gesagt, er wäre gar nicht so einfältig, als er aussähe, und mit keinem Menschen wäre besser auszukommen als mit ihm.« »Aber der Knecht ist schon vor einigen Tagen fort und hat nicht mehr sagen können, daß ...« »Ich hab' aber die Schalen gestern abend selbst in seinem Hut auf einem Balken der Brücke gesehen.« »Und dann wird er dir gesagt haben, die seien für mich?« »Du einfältiges Mädchen! Das ist gar nicht nötig für mich. Welche von allen andern wäre denn, daß man ihretwegen dem Hans etwas derartiges zumuten sollte?« »Und ich möchte fragen: Welche von allen wär' ihm nicht gut genug? Wie eine aussieht, wird ihn wenig kümmern, und Geld hat er selbst, und für eine Magd könnte die Alte mich nicht brauchen. Wie sollte er da an mich denken, und warum müßte ich mich noch gar freuen, wenn dieses Wunder wirklich geschähe?« »Zusel«, sprach der Vater streng, »deinen Stolz hab' ich dir nicht wie die andern verargt, diese Demut aber ist zu groß. Jetzt gefällst du mir so wenig als den anderen. Ist das eine Rede für dich?« »Aber wär' es stolzer und großartiger, wenn ich mich über so eines Hansen Gunst gleich einem armen Bettler freute? Wünschtest du mich so ähnlich jeder anderen, der die Sorge für die Zukunft auf dem Halse liegt? Wenn ich der Magd einmal irgendwo helfe oder sobald ich sonst einmal versuchen will, was ich könnte, so heißt es gleich, ich solle nur alles sein lassen. Dann sagst du mir, du hättest dir eben darum Tag und Nacht keine Ruhe gegönnt, daß ich es um so ruhiger bekäme. Ich bin dir denn auch dankbar, daß du mir eine so schöne Zukunft schaffen wolltest. So hab' ich denken gelernt. Du sagst mir immer, ich brauche mich um niemand zu kümmern. Gut, also auch um Stighansen nicht, und selbst wenn sein Anwesen noch einmal so groß wäre.« Zusel stand auf, stellte sich kerzengerade vor den erstaunten Krämer hin und fuhr mit immer wachsender Leidenschaftlichkeit fort: »Mein Stolz ist nicht, hoch droben just neben dem oder dem zu sitzen, wenn mir das nicht nach meinem Kopf ist. Was hätte ich dir zu danken, als daß du es mir möglich machtest, fröhlich zu leben, ohne daß ich mich um jemand etwas kümmern muß?« So hatte der Krämer seine Zusel noch nie gehört. Unfähig, seinen Ärger noch länger zu verbergen, wollte er jetzt das Kind von seiner stolzen Höhe bringen. Mehr nur, um sie zu bestrafen, als aus Berechnung sagte er so ruhig, als es ihm in diesem Augenblicke möglich war: »Ich weiß nicht, wie lang es her ist, seit du dich um keinen Menschen kümmerst, doch immer kann das nicht der Fall gewesen sein, wie trotzig du auch jetzt das Köpfchen aufrichten magst. Damals, als der Hansjörg zuerst bei den Soldaten war, hast du ihm noch geschrieben, daß du es ohne ihn hier beinahe gar nicht aushalten könntest.« Das Mädchen sank wie vernichtet aufs Kanapee zurück. Als nun der Krämer, seine Rede beinahe bereuend, seufzend mit der Hand sich über die faltenreiche Stirne fuhr, sagte sie: »Ja, Vater, das und ähnliches hab' ich ihm geschrieben. Ich schäme mich auch gar nicht, das zu gestehen, obwohl ich's jetzt nicht mehr tun würde. Er war ein stolzer Bursche, der nicht immer rechnete, sondern herzhaft zugriff und alles dransetzte, wenn er einmal etwas erreichen wollte. Du wirst mich nicht kleiner, schlechter sehen wollen, Vater, als der Hansjörg ist?« »Gelt, von dem hätte dich der Spaß mit den Eierschalen schon besser gefreut als vom Stighans?« »Ich glaube, ja.« »Nun, da könnte der Hansjörg sich freuen«, lachte der Krämer bitter und fuhr dann nach einigem Besinnen, gleichsam jedes Wort abwägend und zuspitzend, fort: »Es ist nur jammerschade, ja fast zum Verzweifeln, daß er dein Vertrauen, deine bewundernswerte Treue, von der man eine Geschichte in den Kalender machen könnte, so ganz und gar nicht zu schätzen weiß. Aber fragst du denn nicht, wie ich etwas von jenem Brief erfuhr?« »Du hast ja überall deine Berichtmacher und Horcher, als ob du alles am Fädchen ziehen müßtest. Da geht es ja zu wie im Räderwerk der Kirchenuhr.« »Von dem Briefe«, sagte der Krämer mit Nachdruck, »weiß ich nur durch Hansjörg selbst. Von dem Briefe und von noch einigen, verstanden! Später jedoch scheinen sie seltener geworden zu sein, diese verliebten Zettelchen, oder sie müssen ihn sonst minder gefreut haben, kurz, er mochte sie nicht länger aufbewahren. In einem Schreiben, über das man sich so seine Gedanken machen könnte, fragt er mich ohne viele Umschweife, ob er deine Briefe seinem Vater, also dem schwatzhaften Mathisle, zuschicken soll oder ob ich ihm zehn Taler dafür geben würde. Du kannst dir denken, was ich tat. Wahrhaftig, ich hätte dem Spitzbuben auch zehn Goldstücke dafür gegeben, doch scheint er sie eben nicht so hoch geschätzt zu haben.« Wenn der Krämer mit den letzten Worten Zusels Herz noch schmerzlicher treffen, noch schwerer belasten wollte, um jede darin etwa noch lebende Neigung zu erdrücken, so schien er seinen Zweck nicht zu erreichen. Das Mädchen wurde um nichts bleicher und regte kein Glied. Wie erstarrt saß es da und starrte ins Leere. Dem Krämer wurde siedend heiß. Er bereute von Herzen, so der Leidenschaftlichkeit nachgegeben zu haben. Das war dem wohlberechnenden Manne wohl noch selten begegnet. Eben nur, wenn er, statt zu berechnen, empfand, wenn er liebte. Daß das aber seinem hübschen Kinde gegenüber der Fall war, hörte man sogar aus dem Klange der Worte heraus, mit denen er die Erstarrte wieder zu beleben und aufzurichten suchte. »Gott Lob und Dank«, hauchte er unwillkürlich, als sie die noch umflorten Augen wieder auf ihn richtete und die Lippen zu bewegen begann. »Gelt, Vater, ich hab' geträumt!« fragte sie kaum hörbar. »Du bist nicht mehr recht bei dir selbst gewesen.« »Ja, gelt, Vater, und du hast nichts von ihm – dem Hansjörg gesagt?« »Wenn ich nur nichts gesagt hätte.« »Es ist also nicht wahr?« »Oh, wie wollt' ich das jetzt so gern, ich gäb' wahrhaftig viel drum, wenn ich es widerrufen könnte.« Zusel, die sich schon wieder einigermaßen gefaßt hatte, fragte mit tonloser Stimme: »Warum hast du mir denn früher nie etwas davon gesagt?« »Nur in meinem dummen Zorn konnte ich dir weh machen mit der erbärmlichen Geschichte«, sagte der Krämer und verließ das Mädchen, welches wie vernichtet aufs Kanapee zurücksank. Er konnte sein Kind so nicht sehen. Das hatte er angerichtet, und nun fand er kein Wort mehr, das die so schmerzlich Getroffene auch nur ein wenig wieder aufzurichten vermochte. Wohl sagte er sich, daß er länger als ein Jahr schwieg, obwohl er wußte, daß mit der heute gemachten Mitteilung die noch immer vorhandenen Spuren einer ihm so verhaßten Neigung verwischt werden konnten. Ja, das war seine Verteidigung gegen die Vorwürfe des Herzens, aber sie half ihm nichts. Es trieb ihn zuerst fort von ihr und dann wieder vor die Türe ihres Zimmers zurück. Er fand diese verschlossen. Lange blieb er horchend stehen, aber er hörte nichts, nicht einmal ein leises Schluchzen. Des Mädchens Schmerz hatte keine Träne mehr. Regungslos lag es noch, wie der Krämer es hinsinken sah, und verbarg das Gesicht in den weichen Kissen. Oh, die Arme hätte versinken, hätte die draußen hoch aufragenden Berge über sich herstürzen sehen mögen vor Zorn und Scham. Zuerst schien es ihr auch, als ob wirklich etwas Unerhörtes geschehen werde. Alles drehte sich um sie herum; das Zwitschern der Vögel wurde ein furchtbares Hohngelächter, die Ach rauschte immer näher, immer lauter, und bald mußte sie da, unter dem Haus, hier im Zimmer sein und Kühle und Erlösung bringen. Dann aber auf einmal ward es so still, daß sie das Klopfen ihrer Pulse hörte. Der Klang der bekannten Hausglocke, die sie sonst aus dem tiefsten Schlaf geweckt hatte, ließ sie regungslos liegen. Sie kümmerte sich jetzt nicht mehr um den Laden, und es kam ihr wunderbar vor, daß der Vater so rasch wie gewöhnlich die Stiege hinuntergehen und jemandem Rauchtabak geben konnte. War es möglich, daß der jetzt da unten wieder plaudern und handeln konnte, als ob gar nichts vorgefallen sei! Dazu gehörte ein recht herzloser Mensch – und doch noch kein so herzloser, wie der war, den sie bisher so hoch schätzte und der nun ihr teuerstes Geheimnis um einige Gulden verkauft hatte. Ha! Schon früher war das geschehen, und sie hatte noch heute an ihn gedacht und gewünscht, daß er sie sehen, sie wieder einmal mit ihm sprechen könnte. Lange Zeit sann sie und litt, ohne daß auch nur das leiseste Zucken ihren furchtbaren Schmerz verraten hätte. Dann aber schrie sie plötzlich: »O Welt, o du Welt!« Und dann, als ob sie alle Kraft verlasse, sank sie mit dem Seufzer: »Das wäre nun mein Ostertag!« wieder in die Kissen zurück. Erst gegen Abend ließ sie den Krämer zu sich ins Zimmer, welches er und die Magd am Nachmittage mehrmals vergeblich zu öffnen versuchten. Er erschrak über ihr Aussehen, doch hatte er sich wieder so gefaßt, daß er ihr nicht lange wortlos gegenüberstand. »Es ist nun einmal so«, sagte er. »Ich bedaure dich, wenn dieser dein Kummer auch nur aus deinem Eigensinn entstand. Ich glaubte, du würdest den Nichtsnutz endlich vergessen haben.« »Das kann ich nie – nie!« »Aber jetzt doch?« »Jetzt – oh, wie schäm' ich mich. Ich darf nicht daran denken, wie mir noch gestern wohl war, wenn ich an ihn dachte. Ach, wenn er in unser langweiliges Haus kam, dann war's, wie wenn man frische, duftende Blumen in ein Krankenzimmer bringt und dem Vogelsang die Fenster öffnet und dem frischen Luftzug. Und nun! – Ich sehe mich unterhöhlt, ich bin aufs Eis gekommen; drei ganze Jahre ging ich vorwärts, weit, weit hinaus ... und nun bricht alles unter mir zusammen. Hu, mir ist's, als ob ich's krachen hörte.« »Ah, das sind Dummheiten.« »Ja, Vater, du hast recht. Ich hab's nicht mehr gehörig im Kopf, das merk' ich nur zu gut. Ich weiß mir nicht mehr zu raten und zu helfen. Nimm mich, du starker, du kluger Mann, und verkaufe mich oder mache mit mir, was du willst.« 5. Kapitel Fünftes Kapitel Der Mann muß hinaus, es ist ein Graus Die letzten Tage und Stunden daheim, wieviel gibt's da nicht noch zu durchleben! Ist's doch gerade, wie wenn man sich mit tausend Wurzeln und Würzelchen aus dem Boden reißen müßte, auf dem die liebsten Erinnerungen uns umblühen. Jos mußte selbst darüber lächeln, daß ihm der Abschied so nahe ging und er es doch auf dem Stighof immer noch riechen konnte, wenn die Mutter eine Suppe anbrennen ließ. Er lächelte darüber, aber unter Tränen. »Fort ist fort«, meinte er immer wieder und schaute wie fragend zu Stighansens großem Hause mit dem Hirschkopf unterm Dachfirst hinüber. Auch der Mutter ging der Abschied nahe, und dabei hatte sie nicht einmal die Freude, ihn mutig seinem neuen Beruf entgegengehen zu sehen. Selbst ihr Trost, daß er da statt der Zusel die gute Dorothee neben sich haben werde, tat die gehoffte Wirkung nicht. Jos entgegnete klagend, er bleibe darum doch ein armer Teufel, um den das Mädchen sich nur wenig kümmern werde; Zusels Neckereien wären eigentlich noch eher zu ertragen als Dorotheens Mitleid mit dem verjagten oder doch aus dem Dienste geschickten Schneiderlein, welches nun wie sie bei dem gütigen, lieben Hans das Gnadenbrot essen dürfe. Das war wieder eine der vielen, oft so schmerzlich beklagten Wunderlichkeiten, die den guten Jungen gewiß nie glücklich werden ließen. Bald schien es Demut, bald Trotz, sie selbst war noch nicht mit sich eins, wie man es nennen müsse, aber es machte ihr mehr Sorgen als alles andere. Das Gnadenbrot essen! Sie wußte nicht, wie er darauf kam. Hatte doch der Krämer, der ihn zuweilen auch im Stall etwas tun und selbst kleinere Händel für ihn abschließen ließ, nicht selten gestanden, daß im Jos ein tüchtiger Viehpatron verdorben und zum Schneider verpfuscht sei. So einer war wie geschaffen für den etwas unbeholfenen Hans, der sich nicht ungern bei allem, was in Kauf und Lauf kommen sollte, von andern, in der letzten Zeit vom Krämer, raten und helfen ließ. Gewiß hätte man ihn gern gehabt auf dem Stighof, und vom Gnadenbrot wäre nie die Rede gewesen, wenn er nur nicht auch seine Sonderbarkeiten mitgenommen hätte. Das Ärgste fürchtete sie von seinem Eigensinn, seiner Empfindlichkeit und ähnlichen Eigenschaften, die sie zwar an Wohlhabenden oft als schön und selbstverständlich loben hörte, die aber denen, welche nun einmal zum Leiden und Dulden da waren, zur Quelle vieler Leiden und übler Nachreden werden mußten. Das erinnerte sie daran, wieviel sie ihm noch ans Herz zu legen habe. Doch wenn sie dann den guten Jungen mit dem treuen Gesichte des unvergeßlichen Vaters vor ihr stehen sah und der sie mit den tiefblauen Augen so wehmutsvoll anblickte, dann war alles wieder vergessen, was zu einer Predigt hätte werden können. So wie er da war, war er ihr dann recht, und sie konnte nichts mehr, als ihn dem Schutze des lieben Gottes anbefehlen. Er, der ihren liebsten Wunsch noch so gnädig erfüllte, da sie selbst nicht einmal mehr zu hoffen wagte, erhörte wohl auch noch ihre anderen Gebete für seine Zukunft, welche sich nun immer mehr von ihrer, der der armen, strafbaren Sünderin, loszulösen begann. Mit einem wunderbaren Lächeln, in welchem sich Hoffnung und Sorge, Freude und Schmerz gleichzeitig widerzuspiegeln schienen, trug sie in den beiden Feiertagen weit Besseres als gewöhnlich auf das wackelige Tischchen im Herrgottswinkel. Oh, es war ein Opfer der Entsagung, wie nur Mütter es zu bringen vermögen, wenn sie so mit allem, was sie so für die nächste Zeit hatte, vor dem kleinen, ärmlichen Hausaltar neben dem Kruzifix des Sohnes glückliche Zukunft im voraus schon feiern wollte, seine Auferstehung aus dem Grabe ihrer Sündenschuld. Nur der, den die frommgläubige Mutter vom Kreuz auf sich herabblicken sah, konnte die Tränen wahrnehmen, die sie zu verbergen bemüht war, während sie ihm ihre Bitt- und Dankgebete zusendete. Bloß wenn Jos einmal aus der Stube ging, ließ sie ihren Empfindungen freien Lauf. Dann betete sie laut: »O du grundgütiger Gott und Heiland, wie hast du es doch so gut und recht gemacht! Hilf ihm nur auch ferner, immer, und laß dafür mich um so übler dran sein; mich, die doch nichts anderes will und zu nichts anderem da ist, als dem sich zu opfern, für den zu tragen, der nur durch ihre Sünde auf der Welt und unglücklich ist. Er muß fort, darf nicht länger unter der Last meines Kreuzes bleiben. Dann hat er aber niemand mehr zu Rat und Schutz als dich. Du wirst ihn doch nie verlassen – gewiß nicht!« Das Zusammenpacken machte den beiden viel länger zu tun, als man hätte glauben können, wenn man sah, um wie wenig es sich dabei zu kümmern gab. Aber die Mutter hatte eben um so eher Zeit, das wenige sorgfältig zu mustern, wobei sie dann soviel zu richten und auszubessern fand, daß sie die halbe Nacht ihre Nadel nicht mehr aus der Hand brachte. Türen und Fensterläden wurden, wie es für ähnliche Fälle vom Pfarrer strenge befohlen war, sorgfältig geschlossen, damit kein Mensch durch solche Entheiligung der hohen Festzeit geärgert werde, wenn etwa ein verspäteter Wirtshausgast hart vor der niedrigen Stube vorbeigehen sollte. Auch Jos nahm noch einmal seine Nadel zur Hand und dachte mit schmerzlichem Behagen, wie schwer ihm die Anschaffung dieses und jenes Kleidungsstückes geworden sei. Dann lebte er sich ganz in den Tag hinein, an dem er es das erstemal trug. Waren doch solche Tage seine einzigen Festtage, wie wenig man ihn auch eitel auf ein hübsches Kleidungsstück nennen konnte. Dann dachte er wieder daran, wie rasch der Hans einen ganzen Kronentaler nur für Eierschalen hergeben wollte. Dabei schien ihn etwas wie ein Windzug aus dem großen, vollen Hause da drüben so stark anzuwehen, daß ihn beim Anblick seiner abgetragenen Kleider ordentlich zu frösteln begann. Der Scharfblick der liebenden Mutter wäre gar nicht notwendig gewesen, um das zu bemerken. Wenn er wieder ein Kleidungsstück brachte, sprach er es deutlich genug aus, daß er das so durchaus nicht tragen dürfe, während er früher über ähnliche von ihr ausgesprochene Besorgnisse nur gelacht oder bitter bemerkt hatte, daß für Leute seiner Art auch das Schlechteste gut genug sei. Es tat dem guten Weibe tief im Herzen weh, ihn so unzufrieden zu sehen mit dem, wofür auch sie manches, manches Opfer gebracht hatte. »Es ist doch ein Elend, daß er auch gar nie maßzuhalten weiß«, klagte sie. »Früher hat er da das Röcklein trotzig selbst am Sonntag tragen wollen, und nun soll es auch für den Werktag nicht mehr gut genug sein. Am Ende wird er mir nun gar noch kritisch und hochmütig werden.« Diese Sorge wäre wohl den meisten recht überflüssig erschienen, wenn sie das ursprüngliche blaue, nun aber wie mit einem Register aller seit einem Schaltjahr gekauften Tuchgattungen überlegte Röcklein gesehen hätten, welches er beim Einpacken eine Bettlerfahne nannte. Aber ein klein wenig hochmütig und eitel war der Jos denn doch, seine Mutter betrog sich nur, wenn sie wähnte, daß das erst seit der Unterredung mit Hansen am Karsamstag so in ihn gefahren sei. Da war eigentlich gar nichts anders geworden, als daß Jos in der wehmütigen Stimmung dieser Stunden immer frei von der Brust weg reden mußte und daß der Mutter jetzt jedes seiner Worte zu sinnen gab. Der Stolz des Burschen auf seinen guten Kopf und seine geschickte Hand, mit dem er innerlich allen den vom Glück zart und warm Eingewickelten trotzte, wurde von ihr um so weniger bemerkt, da sie ihn, wenn auch ihr selbst unbewußt, immer geteilt hatte. Erst seit dem Karsamstage gingen Mutter und Sohn hierin etwas auseinander. Die erstere fand gerade jetzt, wo beinahe jedes seiner Worte eine ganz eigene Weichheit ausdrückte, soviel Gutes in ihm, daß sie für seine Zukunft viel unbesorgter blieb als er, der nicht ohne Herzklopfen an den Empfang auf dem Stighof zu denken vermochte und sich – wenigstens für den Anfang – so gern auch durch sein Äußeres ein wenig empfohlen hätte. Er dachte sich neben die stolze, strenge Stigerin und die geschickte Magd, malte sich ihren allmächtigen Einfluß auf Hansen so lebhaft aus, daß er sogleich wieder hätte absagen mögen, wenn er sich nicht vor der tausendsappers Magd allzusehr geschämt hätte. Ja, vor der war ihm schon jetzt so angst, daß ihm eigentlich eine Zusel, gegen die er herzhaft grob und trotzig sein durfte, an ihrem Platze weit lieber gewesen wäre. Vergebens bemühte sich die gute Schnepfauerin, ihm die letzten Tage daheim so froh als möglich zu machen. Durch all die tausend Zärtlichkeiten, die die wehmütige Abschiedsstimmung erfindet, macht man einen Menschen nicht heiter, dessen Kraft hauptsächlich in seinem Trotze liegt. Wenn sie ihm das Beste auftischte, wenn sie alles tat, damit er doch in seinem künftigen Glück, in seiner Herrlichkeit auf dem reichen, stolzen Stighof, auch sie und die Heimat nicht ganz vergesse – das hätte sie denn doch mit aller Opferwilligkeit unmöglich ertragen können –, machte sie ihm nur weh, und er wünschte von Herzen, daß er, wenn nun einmal die erste Dummheit beim Krämer nicht mehr zurückzunehmen war, sogleich von diesem weg auf den Stighof hätte gehen können. Der Nachmittag des Montags war unendlich lang für Mutter und Sohn. Die erstere quälte sich mit der Frage, was wohl die neuen Verhältnisse, Ehre und allgemeine Achtung aus ihrem Lieblinge machen würden; dieser aber fühlte sein Herz von tausend lieben Erinnerungen noch schwerer belastet als von der Sorge um die Zukunft. Beide hatten das Gefühl, daß sie so sich nie mehr gegenübersitzen würden, und doch war es trotz allem, was sie gemeinsam zu tragen und zu dulden hatten, so schön gewesen. Ja, schön, aber nun war das eben vorbei. Alles auf der Welt nimmt ein Ende, und – das empfand Jos – am besten ist's, wenn's recht rasch geht. Plötzlich, die Sonne war noch lange nicht über die hochaufragende Kanisfluh hinaus, warf er sich das kleine Bündelein auf die Schultern und sagte mit gewaltsam erzwungener Ruhe: »So, Mutter, jetzt geh' ich und sage dir tausendmal ›Vergelt's Gott‹ für alles Gute. Leb' wohl!« »Wie, was?« fragte die Erschrockene. »Ich hab' noch Fleisch zum Feuer getan, das wollen wir doch abends noch mitsammen essen und uns so wohl sein lassen, als wir können.« »Und uns dabei alles noch schwerer machen«, fiel Jos ein. »Na, Mutter, du hast nun genug Opfer für mich gebracht, und mir wär' jetzt eine angebrannte Suppe, von Dorotheen gekocht, viel lieber; ich könnte sie dann doch darum ein wenig necken.« Die Mutter wollte noch etwas sagen, aber Jos war schon zur Türe hinaus. Jetzt sah er das Haus, in dem er nun leben sollte, mit den großen Stallungen und den stolzen Fenstern, dem hohen Dachstuhl und hundert anderen Zeugen eines großen Wohlstands, den mehrere Neubauten hinten und vorn als einen wachsenden verkündeten. Jos zwang sich zum Lachen darüber, daß ihm der Abschied so schwer werden wollte, als ob er viele hundert Stunden weit gehen müßte. »Du bist doch ein recht dummer Tropf«, murmelte er und wollte schon wieder zur Mutter in die Stube zurück, als eben der Stighans daherschlenderte, der ihm schon von weitem zurief: »So, Jos, es ist recht, daß du endlich kommst! Ich hab' dich gerade aus dem Nest holen und mitnehmen wollen.« »Wohin?« »Nun natürlich nach Emaus, das heißt zum Löwenwirt drüben über der Ach. Auch meine Eigenen sind dort und wer heut' ein wenig lustig sein will. Ist doch der Löwenwirt noch beim alten Brauch geblieben und gibt allen gedörrte Birnen und Nüsse, die am Ostermontag zu ihm kommen. Drum nur flink! Wirf deine Herrlichkeiten da in einen Winkel und nimm dafür die Mutter mit, wenn sie mag! Ich sehe nicht ein, warum die allein heute traurig daheim sitzen sollte.« Das tat dem Burschen recht in der Seele wohl, und wie ein Lichtstrahl der Freude zog es über sein Gesicht. Seinen Augen ging es wie allem, was schnell aus der Kälte an die Wärme kommt; sie wurden feucht, während er wieder ins Häuschen zurücklief, wo er es dann kaum erwarten konnte, bis die überraschte Mutter sich, immer noch widersprechend und dabei zitternd vor freudiger Erregung, ein wenig ordentlich angezogen hatte. Dem Jos war es auch schon darum sehr erwünscht, daß er zuerst allein mit Hansen zusammentraf, weil er von diesem zu erfragen hoffte, was die Stigerin und Dorothee zu dem neuen Knechte gesagt hätten. Doch dazu sollte er keine Zeit mehr finden. Auf dem Wege, der sie an neuergrünten Wiesen, neben Hügelchen, von denen Gänseblümchen und Aurikeln die ersten Grüße des Frühlings still herüberwinkten, und über geschwätzige Bächlein führte, sah Hans zum erstenmal in diesem Jahre seine Felder und Wälder wieder. Mit seltener Lebhaftigkeit redete er von dem, was schon in den nächsten Wochen getan werden könnte, und aus jedem seiner Worte klang die Freude, die ihm seine Bauernarbeit machte. Selbst Jos wurde von dem herzlichen Tone so hingerissen in die Welt seines heiter plaudernden Gefährten, daß er diesen nicht mehr nur für einen einseitigen Bauern hielt, der am Nützlichen allein mit Leib und Seele hing. Nun sah er sich auf einmal behaglich lächelnd als Knecht auf diesem schönen Anwesen, das für sich selbst eine kleine Welt in der großen zu sein schien. Wie herrlich, wenn da nun einmal alles blühte und wogte unter seiner Pflege, wenn die Sense rauschte und Schritt um Schritt hunderte fast mannshoher Halme an die Mahdo wälzte, wenn das duftende Heufuder dem großen Stadel zuschwankte, der bald so voll war, daß man im Winter, wenn die Kühe im Stalle ungeduldig auf ihn warteten, kaum noch Platz hatte, ihnen das selbstgedörrte Futter nach Verdienst und Bedürfnis in kleinen Ballen nach der Reihe aufzuwinden, wie sie nebeneinander im Stalle standen. Die beiden kamen bald so ins Reden hinein, daß es für die ihnen folgende Mutter eine wahre Freude war, obwohl sie dabei eigentlich gar nicht beachtet wurde. Hatte sie sich's auch nicht anders gedacht, als daß ihr Jos schnell und leicht sich in alles hineinleben werde, so war sie doch angenehm überrascht, ihn schon jetzt mit soviel Verständnis reden und fragen zu hören. Er ist doch ein prächtiger Junge, dachte sie mit einem frohen Blicke zum tiefblauen Abendhimmel. Der Hans mochte wohl etwas Ähnliches über seinen Zuhörer denken, während er ihm mit der Länge und Breite eines echten Bauern auseinandersetzte, wie er das und das und warum er es gerade so getan zu sehen wünsche. Jos hatte beim Fragen und Zuhören doppelten Vorteil. Er gewann bei Hansen immer mehr Zuneigung und erhielt manchen bedeutsamen Wink für sein künftiges Verhalten und brauchte nicht mehr wie ein Kind über alles erst zu fragen, wenn ihm das ein mal nicht mehr so günstig aufgenommen, so freundlich beantwortet werden sollte als jetzt. Im Wirtshaus wurde dem Jos und seiner errötenden Mutter an dem Tische neben dem Kanapee Platz gemacht zwischen der Stigerin und ihrer Magd, die den Ankommenden das volle Glas entgegenhielt, aber so, daß man nicht sagen konnte, ob es Hansen oder dem Jos gelte. Jos wußte selbst nicht, woher er den Mut nahm, zu fragen, welcher von ihnen beiden denn auch eigentlich gemeint sei. »In der Zeit, wo du fragst und Umstände machst, hätten beide ganz leicht ein Schlücklein zum Bescheid nehmen können«, antwortete das Mädchen und zog lächelnd das Glas wieder zurück. »Das ist ein schlimmes Zeichen«, bemerkte Hans. »Noch immer hat Dorothee es mir ordentlich zugebracht, wenn sie einmal etwas Gutes hatte; nun aber, da auch der Jos mitkommt, tut ihr die Wahl so weh, daß sie keinem mehr etwas anzubieten wagt.« Die auf diese Bemerkung folgende Stille mußte Dorotheen etwas zu lang vorkommen, denn bald sagte sie: »Jetzt geht ein Engel durch die Stube und schreibt sich etwas auf.« »Vermutlich, daß die Schnepfauerin einmal ins Wirtshaus ging«, meinte Hans. »Und daß ihr der Wirt ein geschliffenes Glas bringt«, sagte Jos und hätte beinahe noch beigefügt: »Wie den Vornehmen«, aber er fühlte dunkel etwas Unpassendes und unterließ es, in diesem Augenblicke so derb an kaum vergessene Gegensätze zu erinnern, die sich gewiß früh genug von selbst wieder geltend machten. Das geschliffene Glas war übrigens nicht das einzige, was den etwas empfindlichen Jos auf das angenehmste überraschte. Hans hatte gesagt, die Mutter sei da mit den Eigenen; darauf hatte denn Jos erwartet, die ganze hochlöbliche Verwandtschaft derer vom Stig in vornehmer Langweiligkeit beisammen an einem eigenen Tische zu treffen. Nun aber sah er statt der ehrwürdigen Reihe die Stigerin mit Dorotheen in einem Kreise von Tagwerkern sitzen, welche gewöhnlich den stattlichen Hof bearbeiten halfen. Früher hatte das Schneiderlein oft gespöttelt über die halberfrorenen Taglöhnerseelen, die sich im Glanz ihrer Herrschaft zu sonnen suchten und es sich noch zur Ehre rechneten, als Schweif des prächtigen Kometen am Himmel des mit einer eingelegten Schiefertafel fast ganz bedeckten Herrentisches beim Kanapee zu gelten. Nun aber gestand sich Jos, es sei denn doch etwas Schönes, dieses Zusammengehören aller, die zur Ehre und zum Wohlstand eines Hauses das Ihrige beitrugen. Es tat ihm wohl, sich mit seiner Mutter in so einem Kreise zu wissen, und er beeilte sich, die seltene Freundlichkeit aller als etwas Selbstverständliches lächelnd zu erwidern. Fröhlich stießen alle auf ein langes, glückliches Zusammenwirken an, nur dem Jos war etwas wunderbar zumute, als unterdessen der Wirt die ledigen Paare auf die Kammer zu dem an diesem Tage wenigstens bei ihm – das wurde besonders stark betont – noch üblichen Nußklopfen einlud. In Stighansens und Dorotheens Gesicht hätte kein Zug sich ändern können, ohne daß es Jos so schnell und wohl viel eher noch als sie selbst bemerkt hätte. Selbst als Hans den Stuhl zurückschob, erschrak Jos nicht, weil er den Entschluß zum Aufstehen noch nicht aus seinem ruhigen Blicke zu lesen vermochte. So hätte er auch die Lippen schwerlich gespitzt, wenn er »Komm, Dorothee!« sagen wollte; damit beruhigte sich Jos, und er hatte recht. Hans blieb sitzen und fragte den Wirt, ob denn bloß auf der Kammer droben Ostermontag sei. »Das gerade nicht!« »Gut, so bring du deine Herrlichkeiten nur her; auch hier ist alles lustig und ledig; oder wenn Verheiratete da sind, so mißgönnt ihnen das Mithalten um Gottes Willen nicht! Ich wüßte nicht, warum die Ledigen auch noch den Vorteil des Nußklopfens vor den Bedauernswerten haben sollten.« »Das ist wieder einmal vernünftig geredet«, rief ein nirgends in der Stube Sichtbarer dem Stighans zu. Jos wäre fast im Zweifel gewesen, ob dieser Beifallsruf etwa ihm selbst entronnen sei, wenn er nicht sofort die wohlbekannte Stimme des Krämers erkannt hätte. Der saß also drinnen im sogenannten Herrenstüble, dessen Türe eine große Spalte offen ließ, und er hätte es nun nicht gerne gesehen, wenn da nun auf einmal nichts mehr als das Geschwätz einiger Verheirateter von strengen Wintern und ungezogenen Kindern zu erhorchen gewesen wäre. Davon kam seine Freude über Hansens entscheidendes Wort, und darum fuhr er jetzt fast singend fort: »Der Hans trifft halt den Nagel auf den Kopf und weiß immer genau das rechte Gewicht aufzulegen. Ja, das ist einer!« »Nur schade, daß er kein Krämer worden ist, wenn ihm allenfalls auch dann das rechte Gewicht nicht abhanden gekommen wäre«, bemerkte Jos, der dem Verhaßten seine Freude soviel als möglich verderben wollte. Es entstand über diese Rede ein Gelächter in der Stube, als ob er weit etwas Witzigeres gesagt hätte. Nur Hans blieb ernsthaft und sagte strenge verweisend: »Das ist etwas grob für deinen Vetter; sei doch nicht gar so kindisch!« Jos, erschrocken aufblickend, begegnete zuerst dem strengen Gesichte der Stigerin, dann brachte ihn eine unmutige Bewegung Dorotheens und die Verlegenheit seiner Mutter noch ganz aus der Fassung. Das durfte nicht so auf ihm liegen bleiben; wie er es auch immer wieder abwälzen mochte, es mußte weg. »Vetter hin oder her«, sagte er ohne langes Besinnen. »Was kümmert der Herr Vetter sich selbst um seine Eigenen? Ich will gar nicht von mir reden; aber da drunten bei den Schnäpslern sehe ich den Andreas, seinen Töchtermann, sitzen und ins Herrenstüble hinüberblicken wie ein Stiefkind.« »Für den Andreas ist dort eben die passendste Gesellschaft«, bemerkte Hans mit seltener Hast. Hatte es schon viel Redens gegeben, daß Jos auf einmal vom Krämer weg auf den Stighof kommen sollte, so mußte ein solches Gespräch um so eher die allgemeine Aufmerksamkeit erregen. Es war auch wirklich so still, daß sogar der zuunterst in der Stube sitzende Gatte Angelikas die über ihn gefallenen Bemerkungen gehört hatte. Die gedrungene Gestalt richtete sich langsam auf, die buschigen Augenbrauen hoben sich, und sein Auge funkelte, als er mit heiserer Stimme sagte: »Hans, der Stich trifft mich nicht mehr. Lieber unter Schnäpslern frei und selbherr als gebunden wie du am Herrentische. Wozu hätte mein Vater gespart und mir kein warmes Winterkleid kaufen dürfen, wenn ich noch jetzt von euerer Gnade abhängig wär'? Laßt mich immer der Lümmel sein, wenn ich nur mein eigener Herr bleibe. Übrigens kann ich ja Stiefvater werden, wenn ich nicht mehr gerne Stiefkind bin. Es gibt noch ganz anständige Leute, die nicht ungern eine Flasche mit mir leeren, wenn ich einmal andere so gnädig bevatern will wie Hans.« »Es wär' klüger gewesen, wenn du die Angelika mitgenommen hättest«, rief Hans dem Erregten verächtlich zu. Andreas fuhr erschrocken zusammen. Dann aber erwiderte er trotzig: »Gelt, du wähnst, es ärgere mich, daß sie nicht mitgeht? Nein, Hans, darüber bin ich endlich hinaus. Ihr habt mich an viel gewöhnt. Sie bleibe nur, wo ihr wohl ist. Ich mach' es auch so. Was hätt' ich auch sonst noch von meinem Geld als die Freud' an euerem Neide?« Das Eintreten des Pfarrers unterbrach den Andreas in seiner immer leidenschaftlicher werdenden Rede. Es wurde stiller in der Stube als in der Schule, und wie Kinder blickten alle zu dem hochwürdigen Gaste auf. Jeder wünschte und fürchtete, daß er sich an seinen Tisch setze. Die Ehre wäre eine große gewesen, wenn man nur etwas mit ihm zu reden gewußt hätte. Der ehrwürdige Greis richtete an manchen ein freundliches Wort, das aber oft nur mit einem leisen Kopfnicken errötend beantwortet wurde. Jetzt war Jos, der eine Zeitlang wie auf Nägeln saß, wieder ganz der Mann. Der Pfarrer setzte sich auch bald neben ihn und begann ein Gespräch über die ihm im Winter geliehenen Bücher, bis er von seiner Häuserin zu einem Schwerkranken geholt wurde. Von diesem begannen nun auch die zurückbleibenden Bauern zu reden, während sie die langen Zipfelkappen wieder aufsetzten. Nur am Tische neben dem Kanapee blieb alles still. Dem Jos aber machte man andere, viel freundlichere Augen als während des von ihm angezündeten Streites, der nun ganz vergessen war. Hans kam unmöglich aus seinem Erstaunen darüber, daß ein Mensch, nicht einmal ganz in seinem Alter, der nur seinen, Lehrer hatte und noch dazu ein armer Teufel war, so sicher und glatt mit dem hochstudiertesten Mann weit und breit zu reden verstand. »Ja, gelt, Mutter!« nickte er der Stigerin zu, die gar nicht zu wissen schien, was für ein Gesicht sie zu dem Vorgange machen müsse. Jos schien sich darum auch gar nicht zu kümmern. Er hatte genug an dem glücklichen Lächeln seiner Mutter, und Dorotheens strahlendes Auge sagte ihm, daß auch sie den Mutigen schätze, der vor dem Pfarrer und einer Stube voll neidischer und besitzstolzer Aufpasser so herzhaft zu reden und sogar seine Meinung über Bücher zu sagen wagte. Der Krämer, der jetzt langsam in die Gaststube herauskam, schien mit einem Blick in den Augen aller gelesen zu haben. Er stieß mit Hansen an und wünschte ihm kalt lächelnd Glück zu dem neuen Knechte, der wenigstens schwätzen könne wie ein Briefträger. Der Handel sei freilich etwas schnell gegangen, doch werde man ihn hoffentlich nie einen übereilten nennen. Er wenigstens gönne dem armen Wicht einen so guten Platz, auf dem er manches lernen könne, wenn er nicht zu eigensinnig sei, recht von Herzen und wünsche nur, daß er ihn lange zu behaupten vermöge. Dienstwechsel sei stets schlimm, da man sich immer allerlei nachzureden wüßte, doch der Gescheitere gebe nach und möge nicht durch Nachreden ganz zwecklos schaden und auch den anderen zum Reden zwingen. »Der Mann scheint mich ein wenig zu fürchten«, dachte Jos, und das freute ihn mehr, als ihn die Zumutung ärgerte, daß er es einem recht bösen, geschwätzigen Weibe gleichtun könne. Behaglich begann er mit den andern über das Sprichwort: »Neue Besen kehren gut, aber die alten wissen die Winkel besser« zu plaudern; der Krämer schlich wieder zu seinem Schoppen zurück; doch blieb er nicht lange ruhig, da es unter so vielen Menschen für ihn gar bald wieder etwas einzufädeln gab. Bald wurde an jedem Tische ein eigenes Gespräch laut, und Jos war wohl beinahe der einzige Bauernknecht, der einige Handwerker bemerkte, welche sich beim Ofen an einem kleinen Tischchen allerlei Äußerungen über die stolzen Bauern und ihr Gesindel zuflüsterten. Sonst war dort auch sein Platz, und heute kam er gewiß nicht ungehechelt weg, wenn sie auch an ihm den ärgsten Spötter verloren. Nun, sie konnten ihn immer als einen untreu gewordenen Zünftler betrachten. Er hatte für sich selbst zu sorgen. Es lebte sich auch gar nicht übel bei einem reichen Bauern. Das Feste, Sichere im Wesen dieser gutherzigen Leute tat ihm wunderbar wohl. Die Mutter hätte gar nicht so ängstlich husten müssen, damit Jos die Witze seiner ehemaligen Gefährten nicht höre, denn er hatte nicht die mindeste Lust, noch einmal Händel anzufangen oder auch nur ein unebenes Wort zu erwidern. Mit dem gutmütigsten Lächeln sah er hinüber zu der alten Stigerin im Herrgottswinkel, welche die von Dorotheens rundlicher Hand ihr vorgelegten Äpfel und Nüsse sich vortrefflich schmecken ließ. Oh, die da unten, ohne festen Boden unter sich und jeder der natürliche Gegner der anderen, sie wußten nicht, was es hieß, zu einem geschlossenen Ganzen zu gehören. Sie waren ja die unbeachteten Diener von Hunderten, da konnte kein Verhältnis zu ihren Kunden entstehen wie zwischen Bauer und Knecht, die sich eine ganze kleine Welt beherrschen halfen, wo es gleichzeitig immer zu schaffen und zu zerstören, zu säen und einzuheimsen gab. Jos hatte schon oft gesagt, Stall- oder Hausgedanken, kurz, der ganze Jammer des Werktaglebens mit allem, was drum und dran hänge, gehöre so wenig ins Wirtshaus als in die Kirche. Jetzt konnte er sich selbst nicht mehr davor erwehren. Die, welche nun etwa wegen seiner Unterhaltung da waren, mußten ihn allerdings merkwürdig schweigsam finden; ihm selbst aber war dabei so wohl wie noch nie. Immer tiefer dachte er sich in sein Knechtleben hinein. Er sah die wohlgepflegten Kühe die Köpfe aufrichten und auf sein Kommen horchen, dann fuhr er mit dem selbst gezogenen Rind aufs Feld und hätte fast überlaut zu jauchzen und zu singen angefangen. Es litt ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Plötzlich leerte er mit wenigen Zügen sein geschliffenes Glas, stand rasch auf, wie wenn er auf einmal zu einem Entschluß gekommen wäre, den er trotz allen Einwendungen sofort auszuführen gewillt sei, und sagte: »Hier wär' alles recht und hübsch, aber ich glaub', deine Kühe, Hans, täten nicht wünschen, daß immer Ostermontag wär'.« Die Magd wollte gleich gehen, um einstweilen ein Futter zu geben. »Das ist jetzt meine Arbeit«, widersprach Jos nicht ohne Selbstgefühl. »Nur den Schlüssel zum Heu müßt ihr mir sagen, dann könnt ihr alle dableiben, so lang' ihr wollt.« Dorothee meinte, man dürfe ihn denn doch nicht wie einen Einbrecher ins öde Haus lassen ohne Gruß und ohne alles. Sie wolle lieber mit und ihn grüßen für alle und ihm Glück wünschen. »Ja, geht nur und gewöhnt euch zusammen!« lachte Hans. Jos verließ rasch die Stube, während Dorothee durchaus noch einmal trinken mußte. Vor dem Hause wartete Jos etwas ungeduldig auf die Magd und eilte dann wie ein von ihr Verfolgter zum Dörfchen Rehmen hinaus. Erst als das kleine Tannenwäldchen am Ufer der Ach sie in seinen Schatten aufnahm, redete Jos das erste Wort, und es kam gar nicht so überlegt heraus, als man nach der langen Bedenkzeit hätte erwarten können. »Mich nimmt's wunder«, begann er und schwieg dann erschrocken darüber, daß er bald laut gewünscht hätte zu wissen, was alle dachten, die ihnen mit so eigentümlichem Lächeln nachsahen. »Was nimmt dich wunder?« fragte das Mädchen, aber erst, als sie wieder aus dem Wäldchen hinausgekommen waren. Es schien Dorotheen auch gar nicht aufzufallen, daß sie keine Antwort mehr erhielt. Sie beide sahen errötend ihre Schatten hart nebeneinander daherschreiten, als ob sie Arm in Arm gingen, bis der Schatten eines mächtigen Baumstumpfs wie ein Riese zwischen sie zu fahren schien. Erschrocken über die gehörnte Gestalt mit dem kurzen Hals wichen sie auf die Seite. Dann lachten beide laut auf und eilten dem über die tosende Ach führenden Stege zu. Erst hier sah Jos, daß auch die Mutter ihm langsam folgte. Er wartete, bis sie bei ihm war, um ihr allen falls hinüberhelfen zu können, wofür sie ihm mit einem freundlichen Lächeln dankte, wie er es noch selten auf diesem kummerbleichen Gesicht gesehen hatte. Sie hatte heut' seit vielen Jahren die schönste Stunde erlebt. Nicht der so seltene Wein, die erlebte Ehre machte sie so froh und weckte tausend Hoffnungen auf eine schöne, glückliche Zukunft. Einmal über das andere drückte sie des Sohnes kräftige Hand, die sie führte, und wenn auch Dorotheens Anwesenheit sie zuerst etwas scheu machte, so konnte sie doch nicht unterlassen, ihre Freude über das Erlebte auszusprechen. Freilich kam sie auch auf die Worte, mit welchen Jos den Krämer neckte, und der Ton ihrer Stimme wurde dabei sehr ernsthaft, aber sie waren schon zu hart bei den Häusern von Argenau, um darüber noch lange reden zu können. Sie dachte wieder an den Abschied, der ihr jetzt weit weniger schwer fiel als zwei Stunden vorher. »Daheim sich wohl sein lassen«, meinte sie, »können arme Leute nun einmal nicht, und, das angenommen, haben es wenige besser als wir, da wir uns ja täglich einen guten Morgen wünschen können.« Sie sprang wie ein junges Mädchen, um dem Jos die eingepackten Kleider aus dem Häuschen zu holen, und als er ihr die Hand reichend »Behüt' Gott!« sagen wollte, meinte sie, es wäre doch lächerlich, soviel Wesens zu machen, wenn man nur in ein Nachbarhaus gehe. Dennoch zitterte ihre Stimme, als sie das sagte. Dann aber mußte ihr eine sehr dringende Arbeit eingefallen sein. Sie drehte sich rasch um und eilte ins stille, öde Häuschen zurück. Stighansens neuer Knecht bemerkte kaum, wie groß ihn die hungrigen Kühe ansahen, bevor sie sich an das ungestüm geforderte Futter machten, so sehr waren seine Gedanken mit dem wunderlich gestalteten Schatten beschäftigt, der sich so zwischen ihn und Dorothee gedrängt hatte. Je länger er ihn vor sich sah oder zu sehen glaubte, desto ähnlicher wurde er dem etwas stark gebauten, kurzhalsigen Stighans ... Jos ließ alles, was er heute sah und hörte, an sich vorüberziehen und war noch mit der Frage beschäftigt, ob Dorothee mit einer goldenen Kette zu fesseln sei vom nächstbesten Hans oder ob nicht vielmehr ein höherer Mut aus diesen lieben braunen Augen blicke. Da hörte er des Mädchens wundervolle Altstimme von dem einsam auf der Alp stehenden Hause und von der Sennerin singen. Oh, wie klang das gleichsam durch all seine Nerven hindurch! Er setzte sich auf einen Melkstuhl und lauschte. Jetzt rechnete er nicht mehr und fragte nichts. Um sein Herz weitete sich's, und feuchten Auges dankte er Gott, daß er da war, es mochte nun kommen, wie es wollte. 6. Kapitel Sechstes Kapitel Der erste Tag im neuen Dienst Im ersten Traum unter fremdem Dache pflegt man Vorbedeutungen für Künftiges zu suchen, als ob man darin wie in einem freilich trüben Spiegel sähe, was man in diesem Hause noch erleben werde. Es tat dem noch etwas scheuen Jos ungemein wohl, als am anderen Morgen beim Kaffeetrinken sich Dorothee sogleich mit der Frage an ihn wendete, was er denn heut' nacht im Traum erlebt und für seine Zukunft Bedeutungsvolles gesehen habe. »Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern«, antwortete er, fast traurig darüber, daß sein Bericht nicht länger währen konnte, denn gestern beim Abendessen war ihm die Stille beinahe peinlich geworden. »Das«, meinte die Stigerin etwas bitter, »könnte leicht bedeuten, daß du in unserm Hause auch nicht viel oder doch nicht viel Unvergeßliches erlebst.« »Ich freilich hab' mir es ganz anders ausgelegt«, wagte Jos zu erwidern. Und als sich ihre Lippen etwas strenge verzogen, fuhr er, wie immer, wenn er sich noch nicht recht sicher fühlte, geschwätzig fort: »Auch ich hätte recht gern eine gute Vorbedeutung gehabt. Nach dem Erwachen hab' ich mich angestrengt wie früher als Schüler, wenn ich mich auf die gestern so mühevoll auswendig gelernte Katechismusaufgabe besann, um mich eines Traumes zu erinnern. Doch das ging nicht und ging nicht, wie müd' ich mich auch sinnen mochte. Ja, ich ermüdete und wäre bald über dem Nachdenken wieder eingeschlafen, als mir, wie vom Schutzengel eingegeben, die Vorstellung kam, nicht ein Traum entscheide über meine Zukunft, sondern ich selbst. Darüber hab' ich mir dann eine ganze Predigt gemacht, und so mutig, so froh bin ich dann zu den Kühen in den Stall gegangen, daß es wohl selbst der kaum glaubt, den mein Jauchzen und Singen weckte.« »So etwas«, meinte Dorothee, »kann man nicht jedem sagen, aber zeigen läßt es sich; drum werden wir schon auch noch davon erfahren.« Solchen Mut wie aus diesen Worten hatte Jos von seiner selbstgemachten Predigt schwerlich gewonnen. Er wurde also doch von dem guten Mädchen liebevoll beachtet. Nun konnte seinetwegen die alte, fette Frau kichern und meinen, man werde eben nicht viel sehen; ihm war das ganz gleichgültig, oder vielmehr es war ihm recht, daß er die beiden sogleich etwas auseinandergehen sah. Nun sagte Hans, der inzwischen seine Kaffeeschüssel geleert und das große Butterbrot verzehrt hatte: »Heut' muß denn doch endlich das Heu abgewogen und heimgebracht werden, welches mir der Krämer vom Lipp gekauft hat. Es kostet wahrhaftig nur einen Spottpreis.« »Ja«, rief Jos, »das war auch so ein Handel, für den man den Krämer einige Wochen einstecken sollte.« »Ein Teufelskerl ist er, der Krämer«, lachte Hans. »Wenn unsereiner da oder dort einmal mit Barem aus der bittersten Not helfen will, so bekommt er nichts mehr als des Teufels Dank dafür zurück. Er aber steckt seine Finger überall hinein und verbrennt sie doch nie, sondern immer hängt etwas nicht Unbeträchtliches daran, wenn er sie wieder zurückzieht. Mit den Leuten, die immer schon vorgegessenes Brot in Bäckers Tagebuch haben, kennt er sich aus, es hat eine Art, und zu fangen und zu binden versteht er sie, daß man oft noch beinahe lachen muß.« Jos fuhr wie von einem Wespenstich getroffen auf und fragte: »Kannst du das Wuchern lächerlich finden?« »Der Lipp ist so mit dem Krämer eins worden«, antwortete Hans ein wenig spitz. »Oh, der braucht den Leuten nicht nachzulaufen. Wie gut sie ihn auch kennen, sie gehen doch freiwillig in seine Falle.« »Freiwillig«, wiederholte Jos verächtlich. »Der Krämer hat dem Lipp sein Darlehen gekündigt, als das Heu billig und nirgends Geld aufzutreiben war als etwa bei solchen, die mit dem alten Sünder unter einer Decke zu spielen scheinen.« Jos war so erregt, daß er, um sich nicht allzuviel Gewalt antun zu müssen, die Stube verlassen wollte, da er sah, daß Schweigen hier jetzt Gold, Weiterreden aber nur Öl in das auf dem Gesichte der Stigerin sich verratende Feuer sei. Schon hatte er die Türe geöffnet, als die Stigerin ihn etwas rauh an den Tisch zurückrief. »Bei uns wird gebetet, bevor man geht«, sagte sie und begann, noch zornrot, eine endlos scheinende Zahl Vaterunser zu beten für Lebendige und Tote, Gott und seinen Heiligen zu Ehren und den armen Seelen zum Trost. Auch Jos brummte mit, von Andacht war aber dabei keine Rede. Dieses gedankenlose Beten mit den Lippen, die noch vor einer Minute den Krämer verteidigen wollten, kam ihm fast wie eine Gotteslästerung vor. Das gute aber war, daß die Stigerin sich in eine ganz andere Stimmung hineingebetet zu haben schien. Nachdem sie endlich das letzte Kreuz gemacht und noch einmal den armen Seelen die ewige Ruhe gewünscht hatte, befahl sie Hansen, doch für Lipps arme Kinder etwas Obst, Weißbrot oder Zucker mitzunehmen. »Die armen Tröpflein«, sagte sie, »haben so selten etwas Gutes, und mit nur wenigem kann man ihnen eine Freude machen, daß sie eins sein Lebtag drum ansehen.« »Und das ist schon eine Kleinigkeit wert«, sagte Jos rauh, aber zum Glück hatte die Stigerin, die schon nach ihrem Speicher geeilt war, diese Bemerkung nicht mehr gehört. Dorothee sah den Knecht mit einem vorwurfsvollen Blicke an. Ja, sie hatte eben auch schon als Kind Weißbrot und Zucker bekommen, drum mußte sie mit allem einverstanden sein und mußte freundlich lächeln beim Abschied vom einzigen Bruder, der jetzt für Hansen des Kaisers Rock trug. Herrgott, wer hätte dem alten Mathisle und Dorotheens kränklicher Schwester alljährlich soundso viel Magdlohn gegeben, wenn Dorothee nicht mehr gelächelt haben würde! Auch das war Zucker und Weißbrot für die armen Tröpflein und Hansjörg der Heustock, den man um ein Sündengeld kaufte. Du lieber Gott, von dem allem siehst du nichts, denn wie ein großer, grauer, undurchdringlicher Schleier fällt das lange und breite Tischgebet darüber herab. Auf dem Wege zu Lipps ärmlicher Behausung erzählte Hans dem Knechte von seinen Kühen und wie er zu jeder einzelnen gekommen sei. Jos erfuhr dabei, daß wenigstens in den letzten Jahren immer der Krämer dazu geholfen und geraten hatte. »Das ist einer, mit dem man die anderen fängt«, bemerkte der langsame Erzähler nebenbei. »Fehlen kann's ihm freilich auch, aber dann hat mir doch die Mutter nichts vorzuwerfen.« Vor dem fast ganz neugebauten Hause des Andreas stand er still und flüsterte dem Knechte zu: »Du, aber der da hätte wieder eine schöne Kuh feil. Die möcht' ich kaufen, aber selbst, denn der Krämer tät wohl eher auf des Töchtermanns Vorteil denken als auf den meinen. Geh doch einmal in den Stall und sieh dir den Weißfuß drum an, was er wert ist. Aber höre noch: Handeln laß dann mich allein! Die Angelika – will sagen: der Andreas – wenn der seinen Rausch von gestern schon ausgeschlafen hat –, sie beide sollen nicht meinen, daß sie mit einem zu tun haben, den man so leicht überlisten kann.« Hans blieb beim Wagen stehen, bis Jos wiederkam und seine Meinung sagte. Dann gingen beide in die Stube, wo sie das sehr übernächtig aussehende Ehepaar beim Morgenessen antrafen. Das schöne, blasse Weib stieß einen leisen Schrei aus, als es Hansen so unerwartet eintreten sah. Andreas aber sagte ruhig und kalt: »Ihr seid da dem Weib in die schönste Predigt hineingekommen.« »Schäme dich!« rief das Weib, und glühende Röte färbte ihr Gesicht, »schäme dich, vor Fremden davon zu reden!« »Der Hans ist dir doch noch nicht gar so fremd, und Jos ist ein armer Teufel, vor dem sich kein Mensch zu schämen braucht.« »Wo keine Scham, da ist auch keine Ehr'.« Hans sagte das nur, weil ihm just nichts anderes einfiel und er doch diesem peinlichen Auftritte so gern ein Ende gemacht hätte. Mit solchen Sprichwörtern ist ein Hans gewöhnt, jeden aus der Fassung und zum Schweigen zu bringen. Hier jedoch hatte er nicht den rechten Mann getroffen. Andreas erwiderte mit bitterem Lachen: »Und wo keine Ehr', ist auch keine Scham. Ich aber bin nun einmal der Lümmel bis in die alten Tage und hab' nichts Gutes an mir, als daß ich zuweilen am hellen Werktag in eine Predigt komme. Nützen tun an mir diese Predigten freilich nichts, als daß ich den Trost daraus schöpfe, sie hab' mich doch immer noch ein wenig lieb.« Bei den letzten Worten hatte seine Stimme ein wenig gezittert. Jetzt war es so still, daß man das im Nebenzimmer erwachende Kind die Mutter zu sich rufen hörte. Die Gerufene flog ans Bettchen, und Mutter und Kind beteten laut ihren Morgenspruch. Andreas fragte unterdessen, was sein früher Besuch eigentlich wolle. Hans brachte stotternd sein Anliegen vor. Er war jetzt gar nicht mehr zum Handeln aufgelegt, wie sicher ihn auch die Angaben seines Knechtes gemacht hatten. So mußte denn Jos das Geschäft abschließen, und es ging um so schneller, da Andreas das Geld gleich holen durfte. In seinem Eifer, zu zeigen, daß man künftig des Krämers Rat nicht mehr nötig haben werde, war Jos bemüht, mit der Not des Verschwenders den Preis des Tieres herabzudrücken. Es gelang ihm das auch so gut, daß sogar Hans es bemerkte und ihn gleich vor dem Hause darüber zur Rede stellte. »Ich sehe wohl, du bist nicht besser als der Krämer«, sagte er. Den Knecht ließ sein Gewissen sogleich erraten, was Hans damit meine. »Aber«, antwortete er, »der Andreas ist denn doch kein armer Lipp.« »Aber er hat auch Weib und Kind.« »Oh, die sind sich selbst genug; sieh nur, wie froh sie sich da oben zulächeln.« Das Weib, welches mit einem wunderlieblichen Mädchen auf dem Arm am offenen Fenster stand, schien wirklich nicht mehr dasselbe, welches vorhin die Stube verließ. Hansen schien dieser Anblick recht in der Seele wohlzutun. Er langte sogleich in die Tasche und warf dem holden Geschöpfe ein großes Stück Zucker zu. Was er sonst noch in der Tasche hatte, warf er in Lipps Stube auf den Boden und hatte am Haschen und Zerren der ärmlich gekleideten Kinder seine Freude. Selbst die Mutter sah eine Zeitlang behaglich lächelnd dem Kriege zu, bei dem ja doch immer eines ihrer Kinder gewann. So gut als Hansen schien ihr aber die Sache doch nicht zu gefallen. Sie ging auf einmal seufzend hinaus, während Hans, der nun seine Taschen geleert hatte, seinen Geldbeutel zog und kleine Kupfermünzen auswarf. Der Eifer der Kinder wurde immer größer, immer weniger schonten sie sich, und es begann bald da, bald dort eines laut zu weinen. Das trieb die Mutter wieder in die Stube zurück. Rasch trat sie ein und sah den reichen Bauern gar nicht wie einen Wohltäter an, indem sie sagte: »Wenn du aus der Leidenschaftlichkeit der Kinder sehen willst, wie grausam nötig wir alles brauchen könnten, so wirst du nun bald fertig sein. Ich könnte dir noch viel erzählen, wenn du nicht selbst an den Heustock denkst, den wir aus purer Armut um einen Spottpreis verkaufen mußten. Mir hat das weh getan, aber doch nicht so weh, als es mir tut, meine Kinder jetzt um des leidigen Geldes willen zum erstenmal in ernstlichen Unfrieden zu sehen.« Der Schusterlipp warf einen großen Leisten so heftig in die Schublade, daß alle anderen Werkzeuge in derselben klirrend aufflogen. Dann sagte er mit schlecht verhaltenem Unwillen: »Sie werden sich noch viel mehr wehren müssen ums liebe Geld. Es gab auch zum Anfangen wohl keine erwünschtere Gelegenheit als heut'. Eins gewinnt ja immer, und wenn dir das nicht recht ist, so mach' dich lieber gleich wieder in die Küche.« Das Weib, so erschrocken über den seltenen Ton in den Worten ihres sonst so guten Lipp, daß sie die Anwesenheit der Fremden gar nicht mehr beachtete, bat mit feuchten Augen: »Sei doch um Gottes willen nicht so! Du weißt ja, daß ich immer dabei bin, wenn es für die Kinder etwas zu verdienen gibt, du weißt, daß es mir da weder zu heiß noch zu kalt ist. Aber, Lipp, nicht gegeneinander sollen sie sein; jedes für sich und gegen die anderen, das tät' mir weher als alles, was sonst unsere Armut mitbringt.« »Wir wollen lieber in den Stadel zum Heu«, murrte der Schuster. »Wenn du einmal auf deine Kinder kommst, kann man dir doch nichts mehr aus- oder einreden.« Die letzten Worte sprach er weich, beinahe freundlich, und Jos hatte das Gefühl, hier wäre doch besser sein als in dem neugebauten Hause des Andreas. Trotzdem aber war er so froh als eine arme Seele über ein Vaterunser, daß man jetzt vom Gehen redete. Rasch wendete er sich und erfaßte den hölzernen Türnagel mit beiden Händen, Hans aber blieb wie angebannt stehen. Eine Zeitlang nestelte er an seinem Geldbeutel herum, dann warf er ihn auf den Tisch und sagte etwas unmutig: »Da, du böses Weib, nimm du die wenigen Taler und verteile sie besser, als ich es kann. Nimm nur!« drängte er, »gleich vor meinen Augen nimm! Es ist nicht gebettelt und auch nicht geschenkt. Ihr beide müßt mir dafür eine Gefälligkeit tun.« »Nur gefordert!« rief Lipp fröhlich. »Ihr dürft von der dummen Geschichte kein Wort mehr miteinander reden«, bedingte Hans und eilte dann so schnell hinaus, daß Jos ihm kaum aus dem Wege kommen konnte. Beim Abwägen und Aufladen des Heues war Lipp in der heitersten Stimmung. Er erzählte viel Liebes und Gutes von seinem Weibe. »Dulden und entbehren«, sagte er, alles entschuldigend, »haben wir zusammen gelernt; aber daß jemand etwas bringt, war uns noch ganz ungewohnt, drum haben wir heut' unsere Sache so schlecht gemacht.« Jos und Hans waren ziemlich schweigsam. Jeder schien mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt, und diese sprachen sie erst aus, als sie beisammen in der Deichsel des schwer beladenen Wagens gingen, der ihnen auf dem ziemlich guten, ein wenig abwärts gehenden Wege langsam nachschwankte. Hans sprach den Wunsch aus, daß doch auch beim Andreas so leicht zu helfen wäre wie hier, dann sollte Angelika keine böse Stunde mehr haben. »Dann«, fragte Jos, »wähnst also du, die Reichen seien schlimmer dran als ein Armer, ein in der warmen Stube Sitzender, der einmal hinaus muß, mehr zu bedauern als der Halberfrorene, den ein Sonnenstrahl erquickt?« »Ich hab' nicht gleich die ganze Welt im Kopfe wie du.« »Aber sag' mir, warum ist Angelika gar so zu bedauern? Sie mußte den Andreas kennen, als sie sein Weib wurde.« »Damals war er nicht so arg wie jetzt.« »Vielleicht ist aber gerade sie an manchem schuld.« »Sie? Angelika?« »Der Vater des Andreas hat ihn hart gehalten, dafür suchte er Ersatz, als er sein eigener Herr wurde. Folgen wie ein Knecht hat er gelernt, sich selbst beherrschen kann er nicht.« »Drum eben hätt' er auf Angelika hören sollen, das hätte ihm keine Schande gemacht.« »Der Krämer sagte, daß sie das auch geglaubt und ihm oft eingeredet habe, gepredigt wie heut', das machte ihn erst recht trotzig. Er mochte nicht mehr daheim sein, suchte Unterhaltung im Wirtshaus und tat so, daß man ihn einen Lümmel nannte. Das größte Unglück, meint der Krämer, sei das, daß er sich jetzt auch selbst für einen Lümmel halte.« »Aber wie du auf einmal den Krämer soviel gelten lassen kannst?« »Der kennt die Menschen sicher so gut als die Kühe, und gleichgültig ist ihm sein Töchtermann denn doch nicht, wenn er sich vielleicht auch wenig um sein Seelenheil kümmert.« »Und der Krämer wüßte also nicht, mit was der guten Angelika geholfen werden könnte?« »Einmal, in der übelsten Laune, hat er gesagt, es wäre vielleicht kein so großes Unglück, wenn ihnen alles niederbrennen tät. Dann aber hat er an sein liebes, hübsches Enkelchen gedacht und ist über seine Rede fast zu Tode erschrocken. Ich aber hab' mich später oft mit dem Gedanken beschäftigt. So ein reiches Muttersöhnchen würde Augen machen in der Schule der Armut. Sehen möchte ich schon einmal, wie mancher sich anschickte, wenn er oft um etwas den doppelten Kreuzweg machen müßte, dem jetzt alles bis vor das Kanapee getragen wird.« Hansen schien dieser Wunsch nicht besonders zu erbauen. Er sagte etwas bitter: »Nun, wunderlicher würden die Reichen sich auf dem Platz der Armen nicht benehmen als diese, wenn man tauschen wollte. Man darf nur daran denken, wie närrisch es in so einer schlechten Hütte zugeht, wenn unverhofft einmal ein Stück Geld oder sonst eine Kleinigkeit hineinkommt. Gerade heute haben wir ein herrliches Beispiel erlebt. Wir, ich und die Mutter, haben auch einmal einen ähnlichen Fall erlebt wie heute beim Lipp. Es ist aber schon lange seitdem. Ich war noch ein ganz kleiner Bursche und hing immer an der Juppe der Mutter. Mein Bruder selig war mit dem Vater, nachher auch mit den Tagwerkern in Feld und Wald, ich aber blieb immer daheim oder bei dir. Nur mit der Mutter ging ich aus, wenn die einmal eine Base besuchte oder den Tagwerkern das Essen brachte. Noch weiß ich's ganz gut, wie das eine schöne Woche war, in der wir am Argenstein einige Tannen zu Schindeln fällen ließen. Das Mathisle hatte gesagt, es übernehme für den Hauszins die Verpflichtung, das Häuschen instand zu erhalten, wenn man ihm das Holz dazu schaffe. Das war freilich nur wenig. Aber wir brauchten das Häuschen einzig nur als Heustadel für das Gut daneben; auf die weite Gasse setzen konnte man das arme Männchen auch nicht, und so nahm denn mein Vater den Antrag an.« »In dem allem«, bemerkte Jos, der den Wagen fast ganz allein ziehen mußte, »sehe ich keine Ähnlichkeit mit dem heutigen Fall.« »Wird schon noch kommen; laß mich nur reden.« »Es ist also eine ganze Geschichte?« »Ja, und Lipp hätte nicht meinen Beutel mitsamt dem Gelde bekommen, wenn ich nicht bei ihm wieder so lebhaft daran erinnert worden wäre.« »Großer Gott, was werde dann erst ich bekommen, wenn ich sie geduldig bis zu Ende angehört habe!« »Überwindung wird's dir sicher genug kosten.« »Nein, erzähle nur«, sagte Jos lächelnd. »Also, wo war ich? Wohl bei unserm Häuschen am Argenstein, in dem schon damals das Mathisle wohnte. Nein – ich war noch nicht dort. Wir gingen erst hinauf, ich und die Mutter. Sie, mit dem eingepackten Mittagsessen für die Holzhacker, kam nur langsam, mir viel zu gemach, vorwärts. Mit einem großmächtigen Butterbrot in der Hand sprang ich voran über Stock und Stein. Da begegnet mir ein Mädchen, noch kleiner als ich, und richtete die schönen Augen auf meine Hand, daß sie mich beinahe zu brennen schien. Ich wußte nicht, wie weh der Hunger tut, aber ich hatte das Gefühl, die gute Dorothee möchte mein Butterbrot. Anfangs wollte ich teilen, aber als ich sie darüber so erfreut sah, schenkte ich's ihr ganz. Sie sprang heim, ich zur Mutter zurück. Als wir nun mitsammen zu Mathisles oder eigentlich zu unserm Häuschen kommen, da steht Dorothee vor der Tür und weint die hellen Tropfen, will es aber mich und die Mutter durchaus nicht merken lassen. Erst als ich frage, ob sie mit meinem Butterbrot schon fertig sei, kann sie sich nicht mehr zwingen und weint nun überlaut. Die Mutter aber hat darum den Lärm in der Stube doch noch gehört, denn ihr ist das bei weitem nicht so zu Herzen gegangen wie mir. Zuerst blieb sie stehen und horchte. Da war wohl zu merken, daß man stritt, aber worum es sich handelte, das konnte man aus den einzelnen Worten nicht erlesen. Just das aber wollte die Mutter wissen. Sie ging in die Stube, ohne lange anzuklopfen, und da hat sie denn sogleich den ganzen Sachverhalt erfahren. Voller Freuden war Dorothee mit ihrem Butterbrot heimgeeilt. Das Mathisle wollte eben auch ins Feld, obwohl es noch nicht zu Mittag gegessen hatte. ›So‹, sagte es, als es Dorotheens guten und ihm so seltenen Bissen sah, ›da gäb' es jetzt noch etwas zum Mitnehmen für die Langeweile.‹ ›Ja, nimm nur‹, soll das Mädchen schnell gesagt haben. Der Vater hat schon nach dem gelangt, was das Mädchen ihm gibt, mit weggewendetem Gesichte wohl, aber doch schnell und ohne zu teilen. Das ist denn seiner Mutter gewaltig zu Herzen gegangen. Er sei herzloser, unverschämter als ein wildes Tier, hat sie ihn angewettert, sonst würde er dem hungrigen Tröpflein doch nicht so den ersten guten Bissen, den es bekomme, wegnehmen dürfen. Nun klagte auch der Mann seine Not und behauptete, das Kind könne doch nicht einzig von diesem Butterbrot, wohl aber von seiner Arbeit leben. Ich weiß nicht mehr, was alles die beiden sich nun im Zorn sagten, wenn schon es mir und der Mutter lang und breit erzählt wurde, wobei denn der Streit von neuem anging, obwohl sie sich im ersten Schrecken recht ordentlich zusammengenommen hatten. Es war, als ob sie nun miteinander zu rechnen angefangen hätten, und mir ist wohl noch nie etwas so nahe gegangen als diese Rechnung. Und doch dachte ich dabei nur an Dorotheen, die zitternd neben dem Vater stand, nicht auch an ihren Bruder und an die ältere Schwester, die während des Lärms miteinander spielten, als ob sie so etwas lange gewohnt waren oder als ob es sie rein gar nichts angehen tät. Mir kam es ganz unbegreiflich vor, daß meine Mutter heute so lange still sein und ganz geduldig zuhören konnte. Dafür aber fuhr sie dann auch endlich um so wilder auf: ›Euch ist nicht zu helfen, ihr Elenden, denn jede Gabe brächte nur neuen Krieg ins Haus. Dem Kinde aber soll geholfen, es darf durch euer Beispiel nicht auch noch verderbt werden. Wie konnte nur Gott euch ein so schönes, unschuldiges Wesen anvertrauen?‹ ›Es wär' ihm von Herzen zu gönnen, daß es euch gehören tat‹, murmelte das Mathisle. ›Gott hat es mir gezeigt‹, sagte meine Mutter, wie wenn sie beten täte, so feierlich, wie ich sie nie gehört hab. ›Sein heiliger Schutzengel hat deutlich genug zu mir gesprochen. Wenn ihr selbst mir das Mädchen wünscht, so will ich es nehmen, bevor ihr es noch gar an eine Zigeunerbande verkauft.‹ So hat meine Mutter gesagt. Vom Mathisle und seinem Weib ist dann noch viel mehr Wesens gemacht worden, als man hätte vermuten können. Besonders dem Weib ist es schwer gefallen, daß man ihr das Kind nehmen wollte und daß sie zu seiner Erziehung nichts mehr sagen, ja es nur höchst selten einmal besuchen sollte. Trotzdem hat sie am Abende des nämlichen Tages das Mädchen und sein kleines Bündelein in unser Haus gebracht. Die gute Mutter Dorotheens – Gott tröste sie im ewigen Leben – hat im voraus für alles Gute mit feuchten Augen gedankt und dem Mädchen zugesprochen zum Abschied, daß mir dabei ganz kalt worden ist. Nun, sie könnte zufrieden sein mit dem Mädchen, wenn sie noch lebte, und mit uns auch, und meine Mutter hat ihre Güte auch nie bereuen müssen.« Jetzt erst bemerkte Hans, daß er und Jos und der Heuwagen noch beinahe auf demselben Platze standen, wo er seine Erzählung begonnen hatte. Jos, der alles lebhaft vor sich sah, was er hörte, hatte immer schwächer gezogen und dachte auch jetzt noch nicht an seine Arbeit. »Nun«, sagte er herzlich, »jetzt begreife ich, warum dir das heute wieder einfallen mußte.« Zu einer anderen Zeit hätte es den Jos ordentlich ärgern können, hier wieder ein neues Band zu sehen, welches das Mädchen an dieses Haus fesseln mußte. In diesem Augenblick aber war er der alten Stigerin von Herzen dankbar für einen Entschluß, der Dorotheen aus ihren elenden Verhältnissen heraushalf. »Es sind doch gute Leute, und sie meinen es redlich, wenn einer es auch nicht immer so empfindet«, dachte er, indem er sich mit seltener Freudigkeit wieder an sein Tagwerk machte. »Da ist's denn doch ganz anders als beim Krämer, der nur für sich selbst wohlhabend ist«, dachte er, als er abends neben Dorotheen beim Nachtessen saß. 7. Kapitel Siebentes Kapitel Jos fängt an gemütlich zu werden Jener Handwerker, welcher sagte, um den Taglohn trage er das ganze Jahr Wasser vom Brunnen in den Bach oder werfe seinem Arbeitgeber Prügel und Steine nach, war gewiß ein armer Mann, der täglich im Schweiße des Angesichtes sein Brot verdienen mußte und auf der Welt nichts Höheres kennen lernte als den Feierabend. Er war doppelt arm, weil er die Freuden der Arbeit nie empfand, weil er sich nicht für einen Schaffenden, sondern nur für ein Werkzeug hielt. Die Bauern haben daher vielleicht gar nicht so unrecht, wenn sie jene Rede einen Fabriklerspruch nennen. Und auch der arme Ladenschneider hinter einem Berge von unfertiger Arbeit, worauf sollte er sich freuen als auf Feierabend und Lohn? Wer soll ihm danken für seinen Fleiß, wer seine Geschicklichkeit loben, wenn es sein Arbeitgeber nicht tut, dem das alles zugute kommt? Ihm fehlt sogar das gemütliche Verhältnis mit seiner Kundschaft, das anderen Handwerkern, die selbst mit dieser verkehren, so wohl tut. Bei seinem Schaffen hat er nicht die Befriedigung, sein Werk allmählich werden und wachsen zu sehen, hier schon die bisherige Tätigkeit belohnend, dort neuen Fleiß, neue Anstrengung fordernd, wie der Bauer, dessen einzelnes Tagwerk einem Nadelstich gleicht an dem Kleide für sich selbst, zu dem ihm sein eigenes Wollen und Können das Maß gibt. Auf dem Stighof, der dem Jos wie eine kleine Welt vorkam, fiel es ihm bald gar nicht mehr ein, daß er eigentlich immer nur für einen anderen arbeiten müsse. Müssen – davon war jetzt keine Rede mehr. Wer hätte die Kühe hungern, die schönen Felder unbearbeitet lassen können? Hier schaffte er nicht mehr wie beim Krämer nur ins Blaue hinein. Die Wohltat jeder Arbeit kam seiner ganzen kleinen Welt zu, der sie, wie der Segen des Herbstes, gleichzeitig Frucht und Samenkorn wurde. Dorothee war ihm bald wie eine Schwester, Hans wie ein Bruder geworden, und das Lächeln der alten Stigerin, die er nicht selten Mutter nannte, seit er erfuhr, wie sie an Dorotheen handelte, belohnte ihn wie das Mädchen, und es tat ihm wohl, wenn die gute Frau ihn und Hansen wegen ihrer Eifersucht neckte. Anderen Leuten, die gern hatten sehen wollen, wie lange die geldstolze, strenge Frau mit dem trotzigen Jos erträglich auskommen werde, kam das bald etwas kopfschütterlich vor. Man wollte bemerkt haben, daß Jos und Dorothee sich lieber hätten, als zur Verrichtung ihrer Arbeiten nötig wäre. Viele Väter wohlhabender hübscher Mädchen, die bisher eine Heirat Hansens mit seiner Magd gefürchtet hatten, begannen wieder neue Rechnungen zu machen und sagten sich sogar, der klugen Stigerin sei vielleicht Dorotheens Liebelei mit dem Knechte ganz erwünscht und sie sehe nicht ungern, daß der so zwischen sie und Hansen gekommen sei. Wenn aber auch die Stigerin so gedacht hätte, so wäre es ihr ein leichtes gewesen, sich selbst zwischen die beiden zu stellen, und sie hätte darum gewiß nicht eine andere Liebschaft großziehen mögen. In dem Stücke war sie ungemein streng. Von jener Weisheit, die den Menschen erst alles durchgenießen und dann ein lebendiges Buch des Predigers werden läßt, hatte sie freilich nichts, und wie jetzt hatte sie schon vor dreißig Jahren immer nur gefragt, was etwas nütze und was im besten oder im schlimmsten Falle daraus entstehen könnte. Einzig ihre vielen Wohltaten wurden nicht auf dieser Waage gewogen. Als das einzige Kind wohlhabender Eltern und von Jugend auf gesunder und kräftiger als ihr Vater, hatte sie schon früh den Sohn ersetzen müssen wie vorher ihre Mutter den Vater. Alles, was in Kauf und Lauf kam, ging durch ihre Hand, und selbst der Neid wußte ihr nicht nachzureden, daß sie dabei jemals einen schlechten Schick gemacht hätte, wenn man nicht ihre Heirat einen solchen nennen wollte. Wer aber sie und diejenigen kannte, welche um sie warben, dem mußte es ganz begreiflich vorkommen, daß sie, wenn nun einmal durchaus geheiratet werden sollte, nur dem Reichsten gestattete, von ihr oder eigentlich ihrem Hofe den Namen Stiger zu bekommen. Nie stellte der Bregenzerwälder sich trotziger, verschlossener der »Welt da draußen« und allem, was aus dieser zu ihm kommen wollte, gegenüber als gleich, nachdem die alte freie Verfassung des kleinen, kaum beachteten Achtales aufgehoben wurde. Früher strebte der Ehrgeiz der Unabhängigen nach Höherem als nach Geld und Gut; man hatte gesucht, in der Gemeinde, im Lande etwas Rechtes zu sein, im Männerrate ein entscheidendes Wort mitzusprechen und sich bei den Wahlen zur Geltung zu bringen. Nun aber mußte auf einmal das alles den studierten Herren überlassen werden, und der Bregenzerwälder sah nichts Besseres mehr vor sich als den Genuß des Erworbenen. Die sogenannten unruhigen Köpfe und Neuerer wurden aus dem Lande verdrängt, wenn sie es nicht vorzogen, freiwillig zu gehen, und die Ruhigen besannen sich bald, es sei nun das gescheiteste, sich wohl sein und die ganze Welt unbekümmert gehen zu lassen. Ward einer einmal in seinem Dorfe zu den Reichern gezählt oder hatte er wenigstens ein Anwesen, welches ihm einen Knecht trug, so konnte er sich hinsetzen zu den großen Vielbeneideten oder mit ihnen die Wette eingehen, wer es wohl am großartigsten zu treiben vermöge. Die Volksfeste, jetzt unter geistlicher und weltlicher Aufsicht stehend, wurden, sobald ihnen der frohe Tanz und das freie Wort fehlten, zu gemeinen Schlemmereien, von denen die Besseren sich ins sogenannte Herrenstüble zurückzuziehen begannen. So wurde denn vom Strom des Vergnügens, der rohesten Genußsucht, fast jeder Ungebundene fortgewirbelt; der Gebundene, durch Not Gefesselte aber stand allein wie eingesandet und warf denen neidische Blicke nach, die ihn lachend sich selbst und seinem Schicksal überließen. Nur die Frauen und Mädchen hatten am häuslichen Herd noch eher eine sichere Stätte. Je weiter die männliche Bevölkerung von der nun einmal eingerissenen Strömung fortgetrieben wurde, desto mehr mußten sie ihre Kräfte üben, damit doch nicht alles zugrunde gehe. Ein Menschenalter später führten sozusagen in allen wohlhabenden Häusern die Weiber das Hausregiment, denn die, in welchen das nicht geschah, waren lange keine wohlhabenden Häuser mehr. Nie standen beide Geschlechter sich mißtrauischer, spröder gegenüber als in dieser traurigen Zeit. Der Wirkungskreis des Weibes erweiterte sich mehr und mehr, aber dieses verlor dabei soviel als der Mann, und das Volk an ihm wohl mehr als an dem letzteren. Herzensgüte und Milde, der Kunstsinn, die Freude am Schönen und die Begeisterung für das menschlich Große schienen ver schwunden und der Mensch zum Stallknechte geworden zu sein. Das unter der Herrschaft der Mannweiber herangewachsene Geschlecht wurde kleinlich, pfiffig, sparsam und arbeitsscheu; der Taler galt alles, und den Wert des Menschen pflegte man in seinem Steuerbüchlein zu suchen. Auch die Stigerin war so ziemlich ein Kind jener Zeit. Nutzen und Schaden – das war ihr Gewissen. Darum hielt sie auch den Reichtum für die Frucht der Arbeit, für den Gotteslohn jeder Entsagung, kurz für die sichtbar gewordene Gestalt aller menschlichen Tugenden und Vorzüge. Sie ging fleißig in die Predigt und nahm alles ohne Grübeln und Deuteln an; aber als einst ein Kapuziner die Behauptung aufstellte, daß Wohlstand und Glück viel öfter eine Strafe Gottes für allzu irdische Gesinnung seien, da mochte sie gar nichts mehr weiter von ihm hören, und als man bald darauf für das Kapuzinerkloster in Bezau die übliche Buttersammlung in der Gemeinde vornahm, war der Stollen, den sie in den Pfarrhof schickte, bei weitem der kleinste, und den Gruß, welcher Dorotheen mitgegeben wurde, wagte diese gar nicht auszurichten. Es war wirklich Dorotheen nicht zu verargen, wenn sie alles für unüberlegt hielt und sogar den kleinen Stollen verstohlen noch einmal in den Keller trug, um ihn ein wenig wachsen zu machen, wofür sie dann aber von der Stigerin, die das sogleich merkte, die strengsten Vorwürfe erhielt, die sie je unter diesem Dache erschreckt hatten. Doch noch am nämlichen Tag hatte die Magd Gelegenheit, zu bemerken, daß die Frau noch keine kärgere Geberin werde; ja wie vielleicht immer, fand ihr mildes Herz Ersatz im Wohltun für das, was es dem strengen Verstand hatte opfern müssen. Wenn sie auf das lange Tischgebet zu reden kam, welches auch während der dringendsten Feldarbeit nicht um ein einziges Vaterunser abgekürzt wurde, so sagte sie: »Gott sieht das und kann's auf andere Weise wieder reichlich ersetzen.« Von ihrer Mildtätigkeit aber redete sie, besonders mit ihren kargen Freundinnen und Basen, am liebsten gar nicht, oder sie sagte ganz kurz, wie um sich zu entschuldigen, sie habe nicht anders können, als dem armen Teufel mit dem oder diesem wieder ein wenig auszuhelfen. Jos hatte diese Seite ihres Wesens, die sie wie eine Schwäche sorgfältig geheimzuhalten, ja mit einer recht unnatürlich rauhen Rinde zu umgeben suchte, erst kennen gelernt, seit er als Knecht mit ihr unter einem Dache lebte. Der unerwünschte Spielgefährte Hansens war ihr, besonders als Vater und Sohn mit seltener Beharrlichkeit für ihn einstanden, zu sehr zuwider, als daß je ein wärmender Strahl aus ihrem Herzen in sein dunkles, kaltes Kindesalter hätte fallen können. Dieses listige, trotzige, dem Vorsteher und ihrer ganzen Verwandtschaft zum Ärger in die Gemeinde hereingeschmuggelte Kind der Sünde war ihr recht in der Seele zuwider, und wenn Hans für seine Mitteilung am Ostermorgen, daß er den Jos als Knecht gedingt hatte, keine besonders lange Strafpredigt hören mußte, so kam das einzig davon, weil sie glaubte, der schwache Schneider werde seinen Platz nicht eine Woche behaupten können. Weil sie aber das ganz bestimmt vorauszusehen meinte, begann sich schon auch das Mitleid mit dem Armen zu regen, in dessen traurige Lage sie sich jetzt unwillkürlich immer wieder denken mußte, bis sein Trotz eine ganz andere Stimmung weckte. Doch Hansens Erzählung beim Heuführen hatte nicht nur diesem Trotz seine Spitze genommen. Mit einer Art Ehrfurcht blickte er zu Dorotheens Mutter und Erzieherin auf. In jedem Augenblicke glaubte er, für tausend dem armen Kinde zugekommene Wohltaten danken zu müssen. Sein ganzes Wesen schien sich in wenigen Tagen verändert zu haben, und die Stigerin nahm mit Freuden den guten Einfluß ihres Hauses auf den etwas verderbten Burschen wahr, den sie nun mit fast mütterlicher Sorgfalt zu umgeben begann. Jos nahm das für einen Ausdruck ihrer Zufriedenheit mit dem Knechte, und dadurch wurde ihm die ungewohnte strenge Feldarbeit bedeutend leichter. Sein Ehrgeiz und der Gedanke, Dorothee dürfe ihn nicht für einen Schwächling halten, gaben seinem schwachen Körper eine Kraft und Ausdauer, wie er früher das wohl selbst kaum für möglich gehalten hätte. Anfangs blickte er am heißen Mittag wohl zuweilen etwas traurig in die schattigen Werkstätten hinein und ließ das Köpfchen hängen, während er wieder an sein Tagwerk ging. Aber immer mehr richtete er sich auf, so daß die Leute bald bemerkten, das Bürschchen sei am guten Tische der Stigerin nicht nur fetter und kräftiger geworden, sondern auch sein Köpflein sei ihm in der immer stark eingeheizten Stube erwarmt, wie allen, die es früher darum ausgelacht habe. Gar so arg, als die Leute meinten, war es nun freilich nicht; aber wenn ein Mensch, den man einmal als so und so sich vorzustellen gewohnt ist, nur in einem Stücke umschlägt, so ist jedermann zu Übertreibungen geneigt, welche eine vorgefaßte Meinung zu bestätigen geeignet sind. Freilich verbrauchte er seine Kraft nicht mehr in trotzigem Dulden; bei den wohlhabenderen Bauern, mit denen er als Seele des Stighofes fast täglich verkehrte, seit ihm den Krämer als Ratgeber und Nothelfer zu verdrängen gelang, hatte er etwas ganz anderes zu suchen als belachenswerte Fehler. Zwar stolzer als ehemals war er nicht, wenn er auch etwas sicherer auftrat und neben Dorotheen seine ehemaligen Gefährten beinahe vergaß; aber ganz der alte schien er auch sich selbst nicht mehr und hielt sich in manchem Stücke für besser. Wie teuflisch hatte er sich am ersten Tage gefreut, wenn er die Besitzer des Stighofes und Dorotheen in ihren Urteilen über etwas auch nur ein wenig auseinandergehen zu sehen meinte! Da glaubte er gleich einen Platz entdeckt zu haben, wo er sich vielleicht zwischen sie hineinsetzen konnte; jetzt aber machte es ihn noch viel glücklicher, sie alle als zusammengehörig zu betrachten. Das Mädchen, das er schon früher zu lieben wähnte, weil er es neidisch, eifersüchtig bewachte, stand jetzt zu groß, zu hoch vor seiner Seele, als daß er noch ärgerlich den Eindruck jedes freundlichen Wortes, jedes Geschenkes auf sein Herz hätte berechnen können. War es nicht recht und ganz natürlich, daß Dorothee auch bei anderen, bei allen etwas galt? Hatte doch er in der Zeit, wo noch die gemeinste Selbstsucht ihn so beherrschte, daß er der Magd keine Freude gönnte, die ihr andere machten, bei Tag und Nacht an sie denken, nur ihretwegen sich oft weit über seine Kräfte anstrengen müssen. Die war eben der Mittelpunkt im Hause, und er schätzte sich jetzt glücklich genug, daß ihm neben ihr zu leben und mit ihr zu arbeiten vergönnt war. Selbst das Haus, die Felder und alles, was sie je betrat, wurde ihm lieber und werter. Immer mehr lebte er sich mit Leib und Seele in den Zauberkreis hinein, aus dem er anfangs nicht ungern auch das liebe Mädchen herausgerissen hätte. Die alte Stigerin mit dem früher rabenschwarzen Haar, auf welchem bereits der Winter lag, und mit der großen Hornbrille auf den grauen Augen, deren ungewöhnlich starke Brauen mit der die niedere, aber breite Stirne bedeckenden Pelzkappe zusammengewachsen zu sein schienen, kam ihm ganz anders vor, wenn er sich vorstellte, wie sie ein armes Mädchen allem Spott und Neide zum Trotz aus der Hütte des Elends, des Unfriedens und der tiefsten Armut rettete, um ihm Mutter zu sein und es so zu einer Dorothee zu erziehen. Oh, er gab ihr von Herzen recht, wenn sie, von der Geschichte redend, mit einem Stolz, der ihm recht in der Seele wohl tat, sich ein Werkzeug des lieben Gottes nannte, der keinen Menschen unschuldig Armut und Not ertragen lasse, bis er dadurch an Leib und Seele verderbt werde. Wohl hundertmal bat er sie, die die gute Dorothee schon damals liebte und schützte, als er noch ein recht ungezogener Junge war, in Gedanken um Verzeihung für die groben Verse, die er auf die nicht besonders schöne und ihm recht in der Seele verhaßte Mutter seines Spielkameraden gemacht hatte, und die Schneeballen, die er in ihren Kamin warf, wenn die Milchsuppe auf dem Herdfeuer stand, und für all die tollen Streiche, durch die er es hatte rächen wollen, daß sie Hansen stets mit einem unheilverkündenden Pfiff heimrief, sobald sie ihn einmal mit ihm spielen sah. Immer mehr lebte Jos sich in die Verhältnisse des lieben Mädchens, sogar in seine Familie hinein, nicht nur Freude und Leid mit ihr teilend, sondern jede Pflicht, alles, was ihr groß und heilig war. Es gab nichts Schöneres für ihn als ihre Erzählungen aus der Vergangenheit, wie unbedeutend sie auch immer sein mochten. Dorothee wurde oft verlegen, daß ihr aufmerksamer Zuhörer später manche Kleinigkeit aus ihrem Leben, die ihr nur einmal im Erzählungsdrange mitsamt allen Nebenumständen einfiel, bei weitem genauer wußte als sie selbst. So wunderbar, als sie meinte, war das freilich nicht, denn oft genug beschäftigte er sich mit jeder Einzelheit, und besonders ihre wichtigen Tage waren bald auch ihm bedeutend geworden, hauptsächlich der zwölfte März, an dem sie in dieses Haus kam, und der zwölfte Hornung, der Abschiedstag ihres Bruders. Früher vermochte er nicht zu begreifen, wie sie nach diesem Tage noch auf dem Stighof bleiben konnte. Jetzt aber dachte er sich nie mehr an Dorotheens, nur noch an Hansjörgs Stelle. Dieser tat dem Wohltäter seiner Schwester gewiß nicht ungern einen so wichtigen Dienst, wenigstens hätte er es sollen, meinte Jos, als er sah, wie treulich Hans noch immer daran dachte und wie überreich er auch dem Mathisle das ersetzte, was allenfalls Hansjörg als Wochenlohn jeden Sonnabend heimgebracht hätte. So rechnete Jos und zeigte damit so gut als einer, was alles die Liebe zu überwinden oder zu verklären vermag. Aber Jos war ja gar nicht mehr verliebt – er war weit über die elende Selbstsucht hinaus, die ihn quälte und bitter machte, als er in dieses Haus, in den Kreis so guter und glücklicher Menschen eintrat. Er wollte Dorotheen nicht mehr vor jedem Blick, jeder Wohltat, kurz vor allem warnen, was nicht von ihm kam. Sie war seine Schwester, der er alles Gute und Erfreuliche recht von Herzen gönnte. Er glaubte seine verliebte Zeit vorüber, seit er nicht mehr jeden Schritt des Mädchens und derer, die mit ihm verkehrten, mit der Ängstlichkeit der Eifersucht beobachtete, seit er, wie er sich selber sagte, sogar das zu opfern vermochte, was eine andere als brüderliche Zuneigung durchaus für sich verlangen würde. Früher hatte er seinen schönsten Tag, wenn Dorothee zu ihm aufs Feld kam und ihm arbeiten half. Dann hatte er Glück in allem, was er machte, und wenn er auch halbe Viertelstunden nur plauderte oder ihr zuschaute, wie flink sie den Rechen durch die schöne Hand gleiten ließ, wie regelmäßig ihre Sense den Halbkreis durchrauschte und die hohen Halme aufeinanderlegte, am Abend hatte er doch immer weit mehr ausgerichtet, als wenn er allein war. Dann kam er sich auch abends beim Heimgehen nicht mehr als ein einsamer, ganz besonders gearteter Trübsalblaser mit von keinem Lebenden geteilten oder auch nur verstandenen Leiden und Sehnsuchten vor. Sogar im frohen Wettgesang der Vögel hörte er sich selbst. Alles in ihm weitete, leichtete sich, und es nahm ihn fast wunder, daß er nicht zu fliegen vermochte. Ja zuweilen war's ihm, als ob er es schon könnte, wenn er sich anders von Dorotheens Seite weggewünscht hätte. Das aber war damals eben nie der Fall. Dorothee sollte nirgends sein, nirgends arbeiten als nur neben ihm. Schon wenn sie mit anderen, besonders wohlhabenden Burschen oder sogar mit Hansen ein freundliches Wort wechselte, klagte er über Zurücksetzung und konnte halbe Tage lang sehr übler Laune sein, gerade als ob man ihm weiß Gott welches große Unrecht angetan hätte. Ja, er war ein recht unerträglicher Mensch gewesen in den ersten fünf Wochen. Nun aber war denn diese verliebte Selbstsucht doch glücklich überwunden. An heißen Julitagen, wo die Blätter an den Stengeln schon vormittags zu erlahmen begannen, konnte er es nicht mehr übers Herz bringen, Dorotheen den ganzen langen Tag neben sich schaffen und schwitzen zu sehen. »Bleib doch daheim, wo du ja genug zu tun hast – wohl mehr als ich draußen«, bat er oft, wenn er aufs Feld zur Arbeit ging, und wie ein Strahl der eben aufgehenden Sonne zog es über sein jetzt auch gebräuntes Gesicht, wenn sie endlich nachgab. Erst dann war sie den ganzen Tag recht bei ihm, und wenn er abends das Getane übersah, so war's wirklich, als ob sie ihm geholfen hätte. Ach, war das eine Lust, so für sie zu arbeiten, und dabei unterhielt er sich besser mit ihr, als wenn sie da war. Ja dann wußte er oft gar nichts zu sagen. Es war ihm ordentlich angst vor dem Mädchen, und was er sagen wollte, wäre immer zu lustig oder zu ernsthaft herausgekommen. Doch nur selten ließ die fleißige Magd ihn allein neben dem rauschenden Wiesenbächlein den Sängern des nahen Waldes lauschen und dem Geschwätz der Blätter. Immer wollte sie dabei sein und helfen, wenn ihr nicht auch Hans daheim zu bleiben befahl. Das aber geschah immer häufiger. Sonst war es dem Burschen nie eingefallen, daß das Mädchen einen strengen Dienst habe. Er hatte sich schon daran gewöhnt, sie von früh bis spät in einem fort arbeiten zu sehen, und wenn er mit der kurzen Pfeife im Munde neben ihr stand, so dachte er nur selten daran, daß er ihr wohl auch ein wenig helfen könnte. Erst Jos hatte ihn, ohne es gerade zu wollen, darauf gebracht. Die Arbeitslust, die sich nun auf einmal in dem sonst etwas trägen Besitzer des Stighofes zu regen begann, hätte in seinem Knechte gewiß allerlei Gedanken und Sorgen wachrufen müssen, wenn er noch immer nur eifersüchtig gerechnet und nicht lieber sich herzlich gefreut hätte über alles, was Dorotheen auf irgendeine Weise zugute kommen mußte. Daß Hans sie gern habe, das war ganz klar, aber wer konnte es ihm verargen? Mußte man ihm nicht gerade darum gut werden, weil er dadurch zeigte, wie weit er über anderen reichen Bauernburschen stehe? Die beiden redeten viel von der Magd, wenn sie allein mitsammen arbeiteten. Dem Jos war es fast zu viel, und besonders weh tat ihm, daß Hans sich so bitter über ihren gemeinen, verschwenderischen Vater aussprechen konnte, über den Krämer dagegen und seinen Töchtermann sich kaum ein tadelndes Wort gefallen ließ. Wenn es der Andreas immer bunter trieb, so beklagte Hans allerdings die arme Angelika, aber nie gab er zu, daß auch diese durch ihr unfreundliches, strenges Wesen ihn aus dem Hause treibe. »Sie passen nicht zusammen und sind mehr unglücklich als schuldig«, sagte er kurz abbrechend. Das Mathisle aber und sein Hansjörg sollten an allem selbst schuld sein, da taten die Verhältnisse gar nichts. Dorotheen war ein besseres Los geworden, weil sie ein besseres verdiente, behauptete Hans und begann dann, seine Magd auf Kosten ihrer Eigenen zu loben. Das wäre dem Jos rein unmöglich gewesen. Die, für welche Dorothee das ganze Jahr sparte und sorgte, mußte er entschuldigen, solange er konnte, dann aber wenigstens ihre Fehler, wie weh ihm diese auch tun mochten, mit dem Mantel der christlichen Liebe zu bedecken suchen. Es fiel ihm nie ein, von Hansens Tadel gegen das Mathisle, den Hansjörg und sogar Dorotheens kränkelnde Schwester auf das Nichtvorhandensein einer wirklichen Neigung zu schließen. Es konnte ja ebensogut in dieser Härte ein Unbehagen des stolzen Bauern verborgen liegen, der sich von so gemeiner Leute Kind gefangen fühlte. Hans ließ dem Knechte nie Zeit, über seine Reden lange nachzudenken. Nicht etwa, daß er unermüdet arbeiten sollte. Hans hielt im Gegenteil das Leben eher für eine Kurzweil als nur für eine Reihe von Tagwerken, und als Arbeiter war ihm sein Knecht fleißig mehr als genug, aber beinahe zu still. Er bat den Jos oft, ihm ruhig etwas recht Lustiges zu erzählen, und hörte dann so aufmerksam zu, als ob Jos sein Ratgeber und Tröster sei. Aber der arme Knecht hatte nicht immer einen lustigen Einfall in der Tasche, und beide waren oft, ja immer herzlich froh, wenn Dorothee mit dem Mittagsessen kam, wie wenig sie bei der ungewöhnlichen Hitze dieses Sommers auch hungern mochten. Wenn sie zum Essen rief, dann kam der Appetit sicher. Oh, ihre Stimme konnte befehlen. Jos hatte noch nie eine ähnliche gehört als vielleicht – denn ganz wunderbar bekannt, ja eigen war sie ihm immer vorgekommen – in seinen Träumen, in denen er überhaupt manches aus seinem jetzigen Leben schon einmal durchgemacht zu haben behauptete, ohne jedoch noch ersinnen zu können, wie es dann endlich gekommen sei. Schon früher wollte er im Traum, oder er wußte selbst nicht wann, unter der großen Buche neben Hansen und Dorotheen gesessen seih, unter der er jetzt sein Mittagsmahl einzunehmen pflegte. Auch dann hatte das Bächlein gemurmelt, und die Vögel hatten laut gezwitschert, wenn Dorothee über seine nun dutzendweise kommenden Einfälle laut auflachte. Aber das hatte er in seinen Träumen denn doch nicht erlebt, daß Dorothee nicht nur für Hansen, sondern auch noch für ihn einen besonderen Lieblingsbissen auspackte. Das war eine Freude! Dorotheens wunderbare Stimme mußte nochmals bittend befehlen, bevor Jos so etwas zu vernichten wagte. Die glücklichsten Menschen wie die besten Frauen sind häufig die, von welchen man am wenigsten zu sagen weiß. Das Glück unseres Knechtes glich nicht der künstlichen Arbeit der Blumenmacherin, die den Kirchenaltar ziert, sondern dem bescheiden blühenden und duftenden Kinde des Frühlings, welches vielleicht kaum Beachtung findet. O schade, daß so ein liebliches, duftumflossenes Kind der schönen Jahreszeit mit aller Kunst nicht auch den Sommer über erhalten bleibt und daß es um so schneller verdirbt, wenn man es der einsamen Stelle entreißt, wo es wuchs und blühte. 8. Kapitel Achtes Kapitel Was Jos mit den Eierschalen dem Krämer und seiner Tochter säte Zu Ostern hatte nicht nur für Jos, sondern auch für den Krämer ein neues Leben begonnen. Die Eierschalen vor der Haustür konnten keine anderen sein als die, welche er am Abende vorher in Stighansens großmächtigem Wetterhut auf einem Balken der Brücke stehen sah. Was war auch natürlicher als das! Angelika und Zusel hätten sich, wären sie im gleichen Alter gewesen, fast zum Verwechseln ähnlich gesehen. Ja, Zusel hatte nach des Krämers Ansicht entschieden noch den Vorzug gegenüber Angelika, welcher der feurige Blick ihrer Schwester fehlte und jenes grelle Rot der Wangen, ohne welches der Bauer sich ein schönes Gesicht nicht zu denken vermag. Schon die Angelika hatte Hansen die Mutter und seine ganze Verwandtschaft kaum zu erwehren vermocht. Jahrelang trauerte er um sie, aber endlich mußte doch Zusel seine Trösterin werden. Das war dem Krämer ganz klar, seit ihm durch die Entfernung Hansjörgs die Gunst der wunderlichen, stolzen Stigerin zu gewinnen gelang. Länger, als im allgemeinen gerade Brauch ist, ließ der Krämer des scheuen Burschen erstes Liebeszeichen vor der buntbemalten Haustüre liegen, als ob das den vielen hier nach dem Gottesdienste Vorübergehenden nicht nur etwas zu raten, sondern viel zu verstehen geben sollte. Das seltsame Betragen seiner Tochter war nicht imstande, ihn für die Länge aus seiner Festtagsstimmung herauszubringen. Nachgesagt muß ihm werden, daß er bereute, dem Mädchen durch seine Mitteilung und seinen Beweis von Hansjörgs Treulosigkeit so weh getan zu haben. Es war das wirklich mehr in der Leidenschaftlichkeit des Augenblicks als, wie sonst das meiste, was er tat, nur aus Berechnung geschehen. Er hätte diese Waffe gegen eine Neigung, die er noch immer im Herzen seines Kindes lebendig fürchtete, schon lange brauchen können, wenn er dem lieben Geschöpfe nicht gar so weh zu tun gefürchtet hätte. Nun aber war es geschehen, das ließ sich nicht mehr ändern, und es galt nur an das zu denken, was jetzt zu tun oder zu verhüten sei. Zusel krankte jetzt an dem, was doch einmal, früher oder später, über sie hätte kommen müssen. Eine alte Geschwulst war plötzlich aufgebrochen. Das tat freilich weh und erschreckte, wenn man sich schon daran gewöhnt hatte; doch die Hoffnung, bald geheilt zu werden, war nun berechtigter als je zuvor. Es mußte schmerzen, sich von dem noch unvergessenen Geliebten so verraten und verkauft zu sehen, aber nun erst mußte sie sich gewaltig zu dem festen, ehrlichen Stighans hingezogen fühlen, der so etwas gewiß niemals getan hätte. Und – das vergaß der Krämer denn doch nicht ganz – ihm hatte es schon auch weh getan, die hinter seinem Rücken an den ihm verhaßten Hansjörg, den elenden Schneider, geschriebenen Briefe zu lesen. Das aber gestand er seinem Kinde jetzt nicht mehr zu. Mit Überlegung, nicht im Ärger wollte er geredet haben, während er sonst sogar seinen berechnetsten Reden und Handlungen etwas Unwillkürliches, einen Schein von Herzlichkeit zu geben suchte. Es schien ihm ein Trost, sich selbst einzureden, daß notwendig alles zum Biegen oder Brechen habe gebracht werden müssen. Erst als er selbst sich das einmal glaubte, war er wieder ruhig und kalt genug zum Rechnen. Nur war ihm, wie sonst gewöhnlich, jeder menschliche Trieb, jedes Bedürfnis und jede Regung des Hasses und der Liebe nichts weiter als eine Naturkraft, die er beliebig einspannen und zu seinen Zwecken ausbeuten zu dürfen meinte. Er tat das um so ruhiger, weil er glaubte und erfahren haben wollte, daß es eigentlich jedermann so mache, nur daß mancher nicht klug genug sei, um viel damit zu gewinnen, wenn nicht sein besonderer Stand, seine Stellung ihm seine Opfer locke. An Beweisen fehlte es ihm nie, wenn seine Tochter das Gegenteil behauptete. Doch pflegte er ihr nicht von dem Pfarrer zu erzählen, der seine Mutter zur Erbin des Vaters gemacht hatte, um dessen Vermögen so seinen Zwecken dienlich zu machen; auch nicht von der geld- und namensstolzen Stigerin, die ihm nie einen freundlichen Blick gegönnt hatte, bis er den Hansjörg für ihren unbeholfenen Jungen zu den Soldaten brachte. Das alles gab ja ihm selbst zu sinnen und konnte ihn noch jetzt so ärgern, daß er meinte, es passe nicht für Mädchen, die nun einmal zum Singen und Lachen und zu einem frohen und erfreulichen Leben geschaffen seien. Wenn daher Zusel ihm vormalte, wie schön das Leben desjenigen dahinfließe, der wie ein Wiesenbächlein immer nur die nächste Gegend in seines Innern Spiegel aufnehme, so sagte er, daß er nur einen Menschen kenne mit dieser Gemütlichkeit, die aber ihn selbst und Weib und Kind höchst unglücklich mache, nämlich den Andreas, seinen Töchtermann. Angelika, die allerdings bei ihren Basen das ängstliche Sorgen und Rechnen habe satt bekommen können, werde vermutlich einmal Abwechslung gewünscht haben. Wenigstens sei ihr, das habe sie oft gestanden, kein Leben schöner vorgekommen als eines, welches immer nur dem gegenwärtigen Augenblick gehörte. Drum sei ihr Hans mit seinem leichten Humor ganz der Rechte gewesen. Sie habe sich wenig drum gekümmert, ob er aus Schwäche oder Kraft, aus Überlegung oder Dummheit entstand, bis sie vom Widerstand der alten Stigerin auf diese Frage gebracht worden sei. Die Zaghaftigkeit des Burschen habe auf Angelika zurückgewirkt und ihr Betragen gegen ihn verändert. »Das«, meinte der Krämer, der jetzt viel öfter als sonst auf die Geschichte kam, »das, nicht etwas das Geschwätz der Weiber, hat die beiden getrennt. Ich kenne Hansen, er kann, wenn's ihm einmal ernstlich drum ist, recht verteufelt eigensinnig sein, selbst der alten Stigerin gegenüber. Hat er doch den Jos, den sie ihr Lebtag niemals leiden konnte, ins Haus gebracht und darin behalten können. Und ich hätte doch gedacht, er sollte es noch eher durchsetzen, wo sich's um ein liebes Mädchen handelte. Und weißt du«, konnte der wohlberechnende Mann dann plötzlich fragen, »wer dem Andreas am ähnlichsten wäre, wenn er in seinen Verhältnissen steckte?« »Nein, wer?« »Der Hansjörg.« Wenn der Krämer auch hundertmal so fragte, so ließ Zusel ihn doch immer selbst antworten, ja sie konnte sich's nie erwehren, daß sie bei Nennung dieses Namens zusammenzuckte. Der Krämer aber schien das gar nicht zu bemerken und fuhr ruhig fort: »Leute, die der Stunde leben, können sich bald selbst für nichts Rechtes mehr halten, dann folgt dem Genusse der Katzenjammer, den man, wie ein Trinker, wieder mit Trinken vertreibt. Wer nicht das Leben für ein Ganzes ansieht, der zerschlägt den schönsten Wandschrank, um ein glattes Brett zu einem Melkstuhl zu bekommen, den er gerade braucht. Just so ist der Andreas. Die Angelika aber hat so viel unter den berechnenden Basen und besonders unter Hansens Unentschlossenheit gelitten, daß ihr der Leichtsinn, die Raschheit ihres jetzigen Mannes eine Weile recht wohl gefiel. Jetzt aber ist sie unglücklich und verachtet ihn. Sie geht wieder zu weit, und gerade der trotzige Stolz, den sie ihn sehen läßt, nimmt ihm noch den Glauben an sich selbst, treibt ihn aus dem Haus und macht ihn schlecht.« »Was wäre denn da noch zu machen?« fragte Zusel traurig. »Sicher nichts, als eine gute Lehre für sich selbst daraus zu nehmen. Über den Andreas hat niemand Gewalt, nicht einmal er selbst. Da schätze ich mir einen Hans, der vor- und nachgibt, auch dem Hausfrieden ein Opfer bringt, wenn es sein muß. Könntest du ihm im Ernste etwas Böses nachreden?« Zusel antwortete nicht, denn sie wußte nur zu gut, wie leicht hier auch der vorsichtigste Widerspruch den sonst so gelassenen Krämer leidenschaftlich machte. Dieser wurde immer dringlicher, denn er fürchtete, daß Hans bald nach der Heldentat am Osterfest einen zweiten Anlauf nehmen werde, und dann sollte der Erfolg ihn nicht wieder abschrecken. Der Krämer sah wohl, wie ungern Zusel noch von Hansjörg reden hörte, drum stellte er ihn immer wieder dem Stighans gegenüber. Wenn sie immer nur an diese beiden dachte, so glaubte er seiner Sache sicher zu sein. Hatte er es doch schon so weit, daß das Mädchen, wenn auch wider Willen, zuweilen den Wunsch verriet, den wunderlichen Stighans etwas genauer kennen zu lernen. Schon als der Geliebte ihrer jetzt so unglücklichen Schwester war er ihr immer bedeutender, je Schlimmeres man von dem Andreas zu erzählen wußte. Nun verbreitete sich durch des Gerichtsboten Weib die Nachricht, der Stiger habe Hansjörgen Geld geschickt und es ihm möglich gemacht, schon in wenigen Wochen auf Urlaub heimzukommen. Den Krämer ärgerte das um so mehr, weil er, wie er nun einmal war, es nicht Hansens Gewissensunruhe wegen der Verschacherung des armen Burschen, sondern einzig und allein Dorotheens Einflusse zuschrieb. Zum Glück und Trost für ihn hatte die Nachricht auch seine Tochter ganz anders zu stimmen vermocht. Das Mädchen hatte ein Gefühl, als ob es, die leichtesten Sommerkleider tragend, in der größten Winterkälte stehe und sich nicht zu regen vermöge, wenn es sich – ohne Liebhaber dem Treulosen gegenüber dachte. Ja, jetzt auf einmal wünschte sich Zusel einen Liebhaber, wenigstens dem Namen nach. Jetzt wollte sie nicht mehr traurig, nicht mehr ruhig sein. Jammerschade, daß es im Sommer, zur Zeit der strengen Feldarbeiten, gar keine Hochzeitsfeierlichkeiten gab. Sie wäre gewiß dabei gewesen und hätte mit dem Nächstbesten gelacht und getanzt bis zuletzt. Oft und oft klagte sie, daß es gar so still im Dorfe zugehe und daß die schöne Jahreszeit nichts als Arbeit für die jungen Leute bringe. Der Krämer lächelte. Beide waren jetzt wieder einig, und im schönsten Frieden redeten sie wohl täglich vom Stighof und seinen Bewohnern. Der Krämer hatte immer wieder etwas ausgekundschaftet, was, wie unbedeutend es auch sein mochte, dennoch ihm und zuweilen auch der Zusel wichtig war. Aus einer Menge solcher Kleinigkeiten brachte der Krämer endlich heraus, daß zwischen Knecht und Magd sich eine ernstliche Liebschaft anzuspinnen beginne. Das nun wäre ihm ganz das Rechte gewesen, denn er sorgte schon immer, daß Dorothee den Hans sowohl als die alte Stigerin am besten kennen und am Ende ihm gar noch einen Strich durch seine wichtigste Rechnung machen möchte. Diese Sorge quälte ihn besonders, seit er, obwohl er die Gunst der wunderlichen Alten gewann, doch immer umsonst die Magd aus dem Hause zu bringen versucht hatte. Dorotheens Liebelei mit dem Sohne der Schnepfauerin aber war der strengen Frau gewiß recht von Herzen zuwider und Hansen auch, wenn allenfalls das Mädchen ihm nicht ganz gleichgültig sein sollte. Zusel aber wollte an diese Liebschaft nie glauben. Sie kenne nun die Leute aus dieser Verwandtschaft, sagte sie. Da sei jedes Wort, jeder Blick berechnet, und aus Berechnung mache man mit dem Jösle nicht viel Wesens. Hansjörg – jetzt redete sie zum erstenmal selbst und unaufgefordert von ihm –, Hansjörg habe oft den Wunsch ausgesprochen: Wenn sie doch arm wäre! – da er ihr dann zeigen wollte, wie wenig er sich ums Geld kümmere und was er für sie zu tun imstande sei. So habe der Falsche gesagt, der sie dann um einige Taler so schmählich verraten. »Zum Glück«, fiel der Krämer ein, »hat er dich nur in die Hände deines Vaters gegeben.« Das Mädchen ging seufzend in die Küche. Dort war es jetzt überhaupt viel häufiger als sonst und überraschte den Krämer sogar einmal mit der Behauptung, daß man eigentlich gar keine Magd im Hause brauchen würde. Sie hatte mehrmals gesehen, wie gut Dorotheen die Arbeit anstehe in der sauberen Schürze und mit zurückgerollten Ärmeln. Das trieb sie zuerst in die Küche. Dann aber hatte sie, die früher bei ihrer Näharbeit den Tag kaum herumbrachte, gar bald auch ihre Freude und Kurzweil an der Arbeit selbst, so daß sie ernstlich die leichtere Hausarbeit allein zu verrichten wünschte. Der Krämer, welcher meinte, das Mädchen wolle sich so nun als Bäuerin ein Ansehen geben, damit auch nicht ganz fehlschoß, gab lächelnd und mit der einzigen Widerrede nach, daß man die gute Magd nicht gleich aus dem Hause jagen könne, sondern ihr erst künden und sechs Wochen Zeit lassen müsse, wie es früher wörtlich ausgedingt worden sei. Das tat er denn auch wirklich, tröstete aber die fast zu Tode erschrockene alte Jungfer damit, daß er lächelnd sagte, gar so ängstlich brauche sie sich nicht um einen anderen Dienst umzusehen; den Winter über beziehe sie den Lohn fort, das Essen verdiene sie daheim auch, und wenn der nächste Frühling komme, vielleicht noch früher, könne man wieder miteinander reden. Die Magd sah große Veränderungen im Hause voraus. Sie machte eine wichtige Miene, während sie ein kleines Trinkgeld einsteckte, und versprach, wie ein Grab zu schweigen, ohne daß der Krämer das gerade von ihr verlangt oder gefordert hatte. Man sieht, der Krämer konnte der Zusel auch Opfer bringen und dabei noch sorgen, daß Reue wegen einer augenblicklichen Laune ihr nicht lange weh tun mußte. Die Zusel aber war noch nicht recht zufrieden, denn sie hätte am liebsten gleich jetzt alles allein übernehmen mögen. Sie konnte es kaum erwarten, bis endlich die zweite Heuernte begann. Sie mußte ins Freie, mußte sich regen und etwas tun. Nicht der um sie besorgte Vater, aber das Rauschen der Sensen hart vor ihrem Hause weckte sie schon früh am Morgen. Dann eilte sie hinaus, begann selbst zu mähen und kam sich viel größer vor, wenn sie die von ihr gemähte Strecke übersah. Es war erst August, aber ihr kamen diese Tage kürzer vor als gewöhnlich die im Winter. Bald nahm sie auch an den Gesprächen der angestellten Tagwerker lebhafteren Anteil. Selbst ein Gespräch vom Arbeiten kam ihr nicht mehr langweilig vor, und sie plauderte selbst so lebhaft mit, als ob sie dabei ganz Neues beobachtet und gedacht hätte. Am muntersten aber und gerade ausgelassen war sie am Freitag vor der Kirchweih. Einem rosenroten Morgen folgte ein ungewöhnlich heißer Vormittag. Die Berge, die man jeden Augenblick noch näher rücken zu sehen meinte, schienen alle zu lächeln, nur die zackigen Felsen schauten etwas düster drein. Und immer größer wurden die dunkeln, geisterhaft ins Tal herabschauenden Köpfe. Auf dem grünlich-roten Flor, der sich von einer Spitze zur anderen zu ziehen begann, zogen feuerrote Rosse kohlschwarze Wasserfäßchen ob das Tal herein. Hart nebeneinander beigten sie sich auf, und ein heftiger Sturmwind band sie plötzlich haufenweise zusammen und hing sie an hochaufragende Felsenköpfe fest. Das Tosen der Ach war mehr ein Pfeifen oder Schreien zu nennen. Das Mittagsläuten, vom eiskalten Wind auseinandergeworfen, war einem Sturmsignale viel ähnlicher als einer Mahnung zu Ruhe und Andacht. Und wer auch hätte jetzt Zeit gehabt zum Ruhen und Beten? Der Pfarrer und sein Amtsgehilfe waren wohl die einzigen im Dorfe, welche sich vor dem drohenden Gewitter heim unters schützende Dach flüchten konnten. Männer, Weiber und Kinder, Krankenpfleger und Handwerker waren wie rasend dran, das am Vormittag so herrlich dürr und fest gewordene Heu noch unterzubringen, bevor der Regen es verdarb, daß nicht nur die Arbeit einer halben Woche, sondern auch die beste Kraft des lieblich duftenden Futters verloren ginge. Hier rasselten leere, dort knarrten und ächzten schwerbeladene Wagen, die, wie vom Sturme getrieben, dem geräumigen Heustadel zuschwankten. Das war ein Rennen und Jagen überall, ein Durcheinander von Befehlen und Erwiderungen, die nur noch der Eingeweihte deutlich fand, wie die Rufe des Seemanns beim Sturm. Kein Mensch ging noch seinen gewohnten Schritt. Selbst Stighans war aus der Fassung gekommen. Es jagte – oder wie man hier sagt, wenn beim Heuen ein Gewitter droht – jeuchte auch ihn so sehr als einen. Im Sprung brachte er ein Fuder heim, welches der Knecht denn doch gar zu breit und zu hoch geladen hatte. Noch hart vor dem engen Stadeltor, welches wohl für ein nicht so bedeutendes Anwesen gebaut war, knackte ein Rad, und der Wagen leerte seine allzu große Last gerade da ab, wo beim Regen, der schon näher und näher kam, auch die lange Dachrinne auszuleeren pflegte. Die, welche Hansen das Futter heimbringen halfen, wollen ihn sogar leise fluchen gehört haben, während er fortlief, um einen schon zum dürren Heu gezogenen Wagen zum Umladen einer Last zu holen, die er schon gerettet glaubte und die nun, hart vor dem Stadeltore, nicht nur schwer von der Dachtraufe bedroht, sondern auch seiner ferneren Tätigkeit ein Hindernis war, welches durchaus zuerst auf die Seite geräumt werden mußte. Andere erlebten ähnliches. Da zog einer zwei aneinander gebundene Wagen auf einmal zu seinem Heu und hatte dann die Heugabel vergessen, ohne welche durchaus nichts zu machen war; dort nahm einer aus Versehen den Wagen seines Nachbarn weg – die Aufregung, der Lärm wuchs mit jedem neuen Donner, der minutenlang durch die Berge rollte. Mancher Zuschauer hätte da seinen Spaß gehabt, aber es gab eigentlich keine Zuschauer mehr, seit der Pfarrer sich in seine hinter der Kirche zwischen Bergen versteckte Wohnung geflüchtet hatte. Selbst des Krämers Zusel tat heute mit, und zwar so streng als eine. Selbst als die ersten großen Tropfen auf den neuen Strohhut fielen, der zu ihrem glühenden Gesichtchen so prächtig stand, ließ sie sich nicht aus dem Felde treiben, wo sie bei ihrer Verteidigungs- und Rettungsarbeit bei dem rauschend dürren Heu weit mehr Freude als sonst beim Zusehen hatte. Mit einem flinken Heuer aus einer anderen Gemeinde wollte sie ausharren bis zuletzt. Und wirklich fuhren die beiden erst mit einem kaum halb geladenen Wagen heim, als es um sie dunkler und dunkler zu werden begann und der Nebel auf sie herabhing, daß sie immer hart an einer Schneewand zu stehen schienen, über die ein mächtiger Wasserfall zischend und brausend herunterstürzte. Tropfnaß kam Zusel heim, die schwarze, glänzende Juppe und der neue Strohhut waren verdorben; dennoch hatte man das Mädchen lange nie so froh und aufgelegt zu jeder Neckerei gesehen als jetzt. Während einige vom Barometer redeten und bedauerten, daß man ihm mehr als der unheilverkündenden Morgenröte geglaubt habe, hatte Zusel, die jetzt wieder trocken gekleidet, frischer und schöner war als je, nur von ihren und des Heuers Heldentaten zu erzählen. »Das war herrlich, und ich hätte noch gern eine Weile fortmachen mögen«, sagte sie mit der Fröhlichkeit eines vom munteren Spiele heimgekommenen Kindes. »Schade nur, daß es gar nicht mehr ging. Aber wir beide, ich und der Heuer, haben uns tapfer gewehrt, drum müssen wir schon noch übermorgen mitsammen Kirchweih halten und auch auf dem Tanzplatze die letzten sein. Nicht wahr, Heuer?« Daß der Heuer ja sagte, versteht sich wohl von selbst. Es war der größte Augenblick, den der Bursche erlebte, wie eine gute Meinung er auch schon früher von sich selbst gehabt haben mochte. Eine ganz neue Welt tat sich vor ihm auf, und bald stand er mitten unter tausend schönen Hoffnungen, so daß ihn selbst der Krämer nicht in die Wirklichkeit zurückzurufen vermochte, wie alltäglich kühl er auch sagte: »Nun, nun! Man muß noch nicht glauben, daß alles schon angebunden sei, was einem einmal etliche Schritte nachläuft. Mädchenlaunen sind übernächtig, und wer ihnen traut, dem kann es gehen wie dem, der über ein schnell entstandenes Eis fährt. Doch ich gönne der Zusel den Spaß, und der Heuer ist wohl klug genug, um selbst ganz richtig über die Sache zu denken.« Mit diesen Worten, nur so im Vorbeigehen flüchtig hingeworfen, glaubte sich der Krämer schon im voraus sicherstellen zu müssen gegen allerlei, was im stolz aufgerichteten Köpfchen des Heuers vielleicht sich zu regen begann. Er konnte sich den raschen Entschluß des wunderlichen Mädchens nur erklären, wenn er als gewiß annahm, was er sich und ihm wünschte. Wenn Zusel jetzt einmal neben Hansen vorbeiging, so redete sie ihn immer ganz besonders freundlich an; ja in der Woche vor der Kirchweih blieb sie wohl auch auf der Gasse neben ihm stehen, als ob sie erwarte, nun müsse er vom nächsten Sonntag anfangen und sie wenigstens um ein Tänzchen bitten. Der Krämer nahm das um so gewisser an, da sie nie die beste Laune von ihm zu holen schien. Tanzen aber wollte Zusel durchaus, das hatte sie schon lange gesagt, und nun sollte wohl auch noch Hans ein wenig geärgert werden. Dazu nun war der Heuer ganz der Rechte. Er stand gar zu niedrig, als daß dieser Spaß mit dem etwas eiteln Menschen für mehr als eine Spielerei gehalten werden durfte. Als daher der Krämer nach seinem Zuspruch Zusels spöttisches Lächeln zu bemerken glaubte, war ihm wieder so wohl wie einem armen Sünder mit dem Beichtschein in der Tasche. Seine Freundlichkeit gegen den Heuer machte, daß diesem der Kamm noch mehr schwoll und er am Samstag mit den vom Krämer angestellten Heuerinnen kaum noch reden mochte. Wer den alten Mann seinen Laden für die Kirchweih herrichten sah, so bedächtig und sicher, der ahnte nicht, wieviel anderes dieser starre Kopf unterdessen rechnete. Aber es mußte gut gehen, die Zahlen schienen zu stimmen, denn über sein hartes Gesicht flog zuweilen etwas wie ein Lächeln. Ja, ja, er hatte schon viel gewonnen. Das Mädchen war wenigstens aus seiner Starrheit, aus dem unverfolgbaren Difteln und Grübeln heraus. Allerdings mußte Zusels toller Streich viel zu reden geben, doch damit war vielleicht mehr zu gewinnen, als im schlimmsten Falle verloren ging. Daß der träge Hans sich am Karsamstage selbst wegen Eierschalen umgesehen hatte, war eine Tat gewesen, wie billiger weise wenigstens in diesem Jahr keine zweite mehr von ihm verlangt werden konnte, wenn es nicht gelang, ihn mit Gewalt zu treiben. Das aber sollte nun geschehen und geschah auch ziemlich sicher durch die Laune seines Kindes. Ja, es stimmte alles so gut, daß der Krämer seine Zusel für ein verteufelt kluges Mädchen zu halten begann. Die Eifersucht oder nichts mehr mußte wirken. Das war ganz klar, nun erfuhr man jedenfalls, woran man mit dem närrischen Burschen sei. Hans war gewohnt, sich alles auf halbem Wege entgegenkommen zu sehen; nun aber sollte er sich wenigstens so rühren und regen lernen um das hübscheste und eines der reicheren Mädchen wie gestern um sein vom Gewitter bedrohtes Heu. Immer siegesgewisser begann der Mann sich Hansens langes Gesicht vorzustellen, wenn der Angelikas Schwester mit dem fremden Heuer auftreten sehe. Stolz, Neid, Mitleid, alles mußte sich regen und den Burschen neben seiner armen, bleichen Magd keine frohe Minute mehr erleben lassen. Und wenn's nun gleich zünden sollte, wenn es ihn mit Gewalt zu Zusel trieb, dann war ja der Heuer eben der rechte Mann, den man jeden Augenblick wieder ganz ruhig fallen lassen durfte, ohne daß dabei etwas zu fürchten war. Und wenn Hans wirklich und wider alles Erwarten sich gar nichts abtrotzen ließ, wenn er noch länger Dorotheens Narr sein wollte und die alte Stigerin das litt, nun, dann war das Mädchen darum noch nicht unglücklich. War er doch mit dem Hansjörg endlich so weit, daß das Denken an ihn der Zusel lästig zu werden begann und sie eine Zerstreuung suchte. Ja, Hansjörg war nun doch glücklich weg. Das war dem Krämer jetzt genug, und freudig hoffte er, daß der morgige Tag etwas Gutes bringen werde, während Zusel sich von der Ungeduld eines tanzlustigen Mädchens nicht mehr das mindeste anmerken ließ. 9. Kapitel Neuntes Kapitel Die Auer Kirchweih Wer, der im hinteren Bregenzerwalde jung war, hätte sich noch nie beim Arbeiten, beim Essen und selbst beim Geldzählen unterbrechen lassen, wenn unvermutet von der Auer Kirchweih die Rede war? Wie ein mächtiger Zauberspruch ruft dieses Wort eine ganze Reihe froher und trüber Bilder wach, die wohl auch den gestandenen Mann und die fleißige Hausmutter noch länger beschäftigen, als sie andere gern glauben ließen. Kaum dürfte je ein Menschenleben hier so arm gewesen sein, daß keine Auer Kirchweih darin liebe, süße Hoffnungen geweckt oder zerstört hätte. Kommt, ihr Väter und Mütter unter der Strecke Himmelsbläue, die man hier sieht, und sagt, ob es nicht eine Kirchweih war, wo ihr euch zuerst als Pärchen öffentlich zeigtet, wo ihr einmal recht seelenvergnügt sein konntet oder euch zum allererstenmal recht grausam ärgern mußtet! Wer wäre wohl so geld- und freundesarm, daß er selbst heute nichts kaufen, niemanden beschenken und erfreuen könnte? Das alte Bäschen dort strickt nicht nur darum die Wochen vorher so fleißig, um eine Kirchweih zu vergessen, sondern auch um dem Schwesterkind an diesem Tag etwas kaufen und damit eine Freude machen zu können. Die Stände (Buden) der aus ganz Vorarlberg und noch weiterher gekommenen Krämer sind den ganzen Tag derart belagert, als ob da um halbe Preise verkauft würde, obwohl vielmehr das gerade Gegenteil der Fall zu sein pflegt. An diesem Tage wird mancher noch unerfahrene Vogel gerupft; am meisten aber scheint man es auf die ziemlich vollen Beutelchen der Sennen abgesehen zu haben, die dieses Fest gewissermaßen als das ihrige betrachten, weil sie da die Erzeugnisse der Alpenwirtschaft zu verhandeln pflegen. Man erkennt sie schon an den Hüten als Älpler, da auf diesen neben den Rosmarinstengeln der Geliebten auch die seltensten, zu dieser Zeit nur noch auf den höchsten Bergen wachsenden Frühlingsblumen zu stecken pflegen. Die Sennen sind neben den großen Alpenbesitzern die Helden des Tages. Aber diese Ehre ist eben nicht umsonst. Man scheint sie dafür herzunehmen, daß sie, die den ganzen Sommer nie aus der Alp kamen, nun schon seit Monaten kaum einem Menschen einen Kreuzer verdienen und gewinnen ließen. Manchem geht in seinem Eifer, zu geben und zu erfreuen, beinahe der halbe Sommerlohn drauf. So wird denn der schäbige Eigennutz der Wirte und Krämer zum dunkeln Hintergrund, von dem sich die Gutmütigkeit der Festgäste um so schöner abhebt. Es ist die Freude am Umgang mit Menschen und an ihren Werken, die die Bewohner der einsamen Alpen unvorsichtig macht, wo sich's ja doch nur um Kreuzer und Batzen handelt. Die wohlbeleibten Käse- und Butterhändler, die, von Sennen und Alpenbesitzern umgeben, beim Kaufhause stehen, der Schellengießer, bei dem die Älpler für den Tag der Heimfahrt sich einrichten, und auch die Tuch- und Lederhändler wissen davon zu erzählen, daß diese Leute schon noch rechnen können, sobald ihr gutes Herz nicht mehr mit im Spiel ist. Auf dem Platz unter der Kirche, rechts und links, wird den ganzen Tag hindurch gehandelt und gelärmt, daß kein Mensch mehr etwas hört vom Tosen der Ach, die sich hart neben dem Platze zwischen niedergestürzten Trümmern des hochaufragenden Fluhfelsens dem Schnepfauer Walde zuwälzt. Die sagenumwobene Kanisfluh und die stolze Liggsteinpyramide schauen ernst und still auf das bunte Getriebe herunter. Doch was kümmern die tausend Geschäftigen hier die ernsten Berge mit ihren dunkeln Tannen und den wunderbaren Sagen? Nur die buschigen, wunderbar duftenden Bergblumen und Alpenrosen auf den Hüten der Sennen vermögen die Blicke der Mädchen zu fesseln, die immer ungeduldiger auf die Tanzstunde warten. Beinahe unerträglich wird nachmittags nach der Vesper die Lage derjenigen, die den Ihrigen noch nicht gesehen oder doch noch nicht gesprochen haben, obwohl ihnen ihre Brüder und Freundinnen schon vor einer Weile sagten, daß »seine« Geschäfte bereits abgetan seien und »er« nun jeden Augenblick kommen müsse. Ihre Ungeduld hinter einem Lächeln verbergend, stehen die Wartenden dutzendweise auf dem etwas erhöhten Eingang zur Brücke, welche über die Ach führt, und überblicken immer wieder mit einem leisen Seufzer verstohlen den Platz, während sie, scheinbar die Lustigsten, mit jedem Vorübergehenden ein recht lautes Gespräch anzufangen suchen. Bei diesen stand heut' auch des Krämers Zusel in aller Pracht und Herrlichkeit, noch schöner, frischer, als da sie zum erstenmal als Biggel auftrat Sie hatte beinahe ihre Freude am Ärger ihrer ehemaligen Schulgefährtinnen, den die immer ungeduldiger Wartenden ihrem Scharfblicke vergebens zu verbergen suchten. Warum auch trauten diese Tröpflein einem Mannsbild und banden ihre Hoffnungen, ihr Glück, die ganze Zukunft an seine Launen fest? Früher freilich – noch als unerfahrenes Kind – hätte auch sie lange so hier stehen und, ihre De- und Wehmut hinter einem bittersüßen Lächeln so gut als eben möglich verbergend, auf ihn warten können. Nun aber war das denn doch überwunden ... Statt nur gezwungen zu lächeln, konnte sie lachen über ihren guten Heuer, den sie nicht eine Minute lang aus dem Auge verlor. Dort drüben stand er bei einigen Bekannten und drehte sich auf den hohen Absätzen der noch gestern abends geflickten Stiefel herum, daß die silberne Uhrkette flog, an welcher sich – wie Neider und Spötter behaupteten – in wohlverwahrter Tasche ein neugewachsener Erdäpfel befinden sollte. Sei dem nun, wie ihm wolle, die silberbeschlagene Tabakspfeife war entschieden nur entlehnt. Der Heuer aber wußte sich damit zu stellen, daß einem ordentlichen Bäuerlein beinahe angst neben ihm werden mußte. Die Blicke aber, die er dann der Zusel drüben vor der Brücke zuschießen ließ, waren denn doch wieder so demütig bittend, daß man es wirklich bewundern mußte, wie diese nur im Kopfumdrehen wieder so streng und stolz und kalt werden konnten. Alles Drängen und Drücken brachte ihn nicht weg von seinem Platze zwischen der bereits heisern Obsthändlerin und dem Laden des Buchbinders, mit dem er zuweilen um den Preis eines silberbeschlagenen Gebetbuches stritt und sich schließlich, als der Buchbinder nachzugeben begann, in seiner Verlegenheit noch derart erhitzte, daß er von dem in den nahen Bergen schon furchtbar tosenden Herbststurme nichts bemerkte, bis das Fluchen des Buchbinders und der übrigen Krämer ihn auf ein Naturereignis aufmerksam machte, welches jetzt gerade recht kam, um seine Geldnot zu verbergen. Die Berge waren schon ganz dunkel, wie glühend rot auch die Abendsonne über den Schnepfauer Wald, der immer näher und näher zu kommen schien, hereinleuchten mochte. Jetzt war alles ganz still, dennoch schien ein gewaltiger Sturmwind alles und alle zu erfassen und zu drehen. Die Krämer begannen so schnell als möglich einzupacken, denn es nahm wohl nur noch der Wind etwas von ihrer Ware mit. Viele Bauern eilten zum Pfarrer und baten ihn, die Unterbringung des noch im Felde aufgehäuften Heues zu gestatten, bevor es vom Winde weiß Gott wohin getragen werde. Diese Dispens war ihnen auch noch selten so schnell und gerne erteilt worden, da der Pfarrer sie an diesem Sonntag viel lieber beim Heu als im Wirtshaus und auf dem Tanzplatze wissen wollte. Jetzt verschwand die Sonne hinter einer buntfarbigen Wolke, die sich wie mit schwarzen Haken an die Spitzen der Berge zu hängen begann. Draußen im Walde brummte, rauschte und knisterte es immer lauter. An der Fluh krachten mehrere Tannen und surrten hart neben der Brücke in die zischende Ach. Drinnen in Argenau knallten die zugeworfenen Fensterläden, und losgerissene Dachschindeln mitsamt den sie bisher festhaltenden Steinen hagelte es von rechts und links auf die Gasse, daß kein Mensch mehr sicher war. Selbst auf dem Marktplatze begann es nachgerade gefährlich zu werden. Zwar von der Wolke der über die Gasse getriebenen Hüte, ausgespannten Regenschirme, Ablaßbriefe, Hosenträger, Heiligenbilder, Knopftafeln und Taschentücher war nicht viel zu ersorgen; doch wurden schon auch die Bretter, welche die nur für diesen Tag aufgerichteten Buden lose genug bedeckten, von beiden Seiten hereingeworfen, und diesen suchte jedermann, auch unser Heuer, so schnell als möglich zu entrinnen. Es war für ihn schon die höchste Zeit, und drüben über der Brücke, wo es ziemlich scharf aufwärts geht, mußte er sich beinahe atemlos laufen, um die Zusel, die wie ein Reh davongeeilt war, noch vor dem Gasthaus »Zum Rößle« glücklich einzuholen. Er kam noch gerade recht und schritt nun senkelaufrecht neben dem hübschen, reichen Mädchen ins Haus, die Stiege hinauf und eines Ganges dem Tanzsaale zu. Hier war es schon so voll, daß Zusel ihm kaum noch zu folgen vermochte. Wer daheim weder Kind noch Rind, im Felde kein Heu zu versorgen hatte, mochte nicht mehr ans Weitergehen denken, nachdem hier einmal ein sicheres Unterkommen gefunden war, wo es auch überdies noch so lustig zuging wie hier. Besonders die nun endlich einmal wieder für einen Tag »entalpeten« Sennen langten auf einmal nach allem nun so lange Entbehrten, was die Gesellschaft dem einzelnen zu bieten vermag. Jauchzend, mit dem vollen Glas in der Hand, umtanzten sie ihre Mädchen und machten dabei so tolle Sprünge, daß wohl auch der ärgste Griesgram sich des Lächelns kaum erwehrt hätte und des behaglichen Gefühls, welches in jedem sich regt, der andere sich einem Genusse gänzlich hingeben sieht. Es gab schon solche, die sich zuflüsterten, was die Welt, der Umgang mit Menschen und die Teilnahme an den Früchten gesellschaftlicher Verbindung dem einzelnen sei, ahne man am ehesten, wenn man den beobachte, der das nur einige Monate entbehrt habe! Aber nur wenige beschäftigten sich jetzt mit solchen Gedanken, und unser Heuer und die reiche Krämerszusel sicher am allerwenigsten. Sie hätten auch kaum geglaubt, daß noch jemand die Sennen beachte. Jeder Kopf und jede Lippe, wähnten sie, bewege sich einzig nur ihretwegen, und ihretwegen suchten die hinteren Zuschauer, sich auf die Zehen stellend, über die anderen wegzusehen, und ihretwegen hätte man jetzt aufgehört zu tanzen und aufzuspielen. Richtig! Sobald der Heuer mit Zusel in den Kreis der Tanzenden trat, begann ein Walzer so lieblich und lustig, wie die guten Musikanten heute wohl noch keinen aufgespielt hatten. Natürlich, einer, mit dem des Krämers hübsches Kind sich öffentlich zeigen mochte, mußte auch nicht auf einer Bettlersuppe daher geschwommen sein, das konnten diese Leute sich denken. Nun aber galt es, sich dieser Auszeichnung auch wert zu zeigen. Hierzu nun gab für ihn, der sich selbst heute gestand, daß er als Gesellschafter nicht besonders viel zu leisten vermöge, der Tanzplatz wohl die beste, ja die einzige Gelegenheit. Daß er der beste Tänzer war, konnte ihm nicht abgestritten werden; er hätte bei den gewagtesten Wendungen ein volles Weinglas auf den Kopf stellen dürfen, ohne etwas für seinen weit hervorstehenden Hemdkragen fürchten zu müssen. Doch das ängstliche Bemühen, es recht schön und künstlich zu machen, kam bald allen lächerlich vor, denen es nicht peinlich war, sich schon beim Zusehen müde werden zu fühlen. Der Heuer jedoch hatte keine Ahnung von einer solchen Wirkung seiner schweißtreibenden Arbeit. »Die werden Augen machen«, dachte er, während er sich zu noch verzweifelteren Sprüngen, einer noch strammeren Haltung zwang. Der Bursche hatte es heute viel strenger als die Woche hindurch beim Heuen. Er war daher auch noch viel schweigsamer als dort und hatte für seine Tänzerin kaum aller fünf Minuten ein schwer zu verstehendes Wort. So hatte diese denn Zeit zum Beobachten, wobei sie sich, wenigstens eine Zeitlang, weit besser unterhielt, als der Heuer sie zu unterhalten vermocht hätte. Gleich hinter ihr her tanzte der Stighans mit seiner Magd. Das närrische, stolze Gänschen hatte doch immer etwas zu reden und zu lachen, so daß Zusel ordentlich Gewalt brauchen mußte, um sich nicht einmal umzukehren und der Schwätzerin zu sagen, man wisse schon noch, wem sie sei, obwohl sie sich auf dem Stighof schon lange gebärde, als ob sie allein der Hahn im Korbe wäre und jeder Tannenwipfel sich nur ihretwegen bewegte. Noch widerwärtiger wurde ihr das Mädchen, als sie es vom Hansjörg reden und dabei die Hoffnung aussprechen hörte, daß er nun wohl bald heimkommen werde. Jetzt ging ihr ein Licht auf. Der Bursche mußte sich opfern, um den gutmütigen Hans für sein Lebtag zum Schuldner zu machen. Darum wohl nur redete das Mädchen von ihm in einer Gesellschaft, wo Hans leicht auch bedeutendere Mädchen hätte bemerken können, wenn er nicht durch diese dumme Geschichte auf einem Punkte festgehalten worden wäre. Sie hatte dem Vater sehr, sehr unrecht getan mit dem Verdachte, daß er den Hansjörg ihr weggetrieben habe. Der ging wohl selbst, als sie sich nicht geneigt zeigte, sich sofort zu verehelichen und ihm einige Tausende zu verschreiben – um so wenigstens der Schwester den Hans zu fangen. Sein Handel mit ihren Briefen bewies ja, daß der Elende zu so etwas schon der Mann sei. Wunderbar, daß ihr das nicht schon längst einfiel, daß sie den guten Vater in so schlimmem Verdacht haben konnte. Wie um Verzeihung bittend, schaute sie zu ihm hinüber. Er stand neben den Musikanten und sah ihr lächelnd zu. Ja, er konnte lächeln und ihr ihre kindische Freude am Tanzen lassen, wenn sie ihm damit vielleicht einen Plan, eine Hoffnung verdarb! Er sorgte so sehr für ihren Namen und hielt sie von allem immer fern, was ihr auf irgendeine Weise schädlich oder nachteilig hätte werden können. Und nun warf sie sich öffentlich, wenn auch nur für heute, an diesen Springinsfeld weg nur wegen einem flüchtigen Vergnügen. Vergnügen? Du lieber Gott, was war es denn Herrliches, sich von dem eiteln Tropfen einige Stunden herumreißen lassen und allen Gaffern ein Schauspiel sein? Ja, heute war Dorothee wirklich besser dran als sie, das mußte sich Zusel gestehen, und sie gestand sich's auch so laut, daß sogar der gute Heuer etwas davon zu merken begann. Sie hätte gern ihren Ärger an ihm ausgelassen und begann daher den Stighans und sein schönes Anwesen über alle Maßen zu loben. Dann erzählte sie, daß sie den Wackeren jeden Augenblick haben könnte, wenigstens würde die ganze Verwandtschaft die Hände nach ihr ausstrecken; sie aber verachte die groben, selbstsüchtigen Leute, also die Mannsbilder, recht von Herzen und brauche sie nur zuweilen zum Spaß, um sich über die Tröpfe wieder recht lustig machen zu können. Zusels Reden waren immer bitterer, je lauter, fröhlicher das Reden und Lachen des nachtanzenden Paares wurde. Aber nicht nur ihr taten Hans und Dorothee ganz unbewußt weh, der Jos war durch sie noch in viel üblere Stimmung gekommen. Und doch saß er ganz im Dunkeln an der Wand auf einem Bänkchen unter jungen Burschen, die bedauerten, nicht tanzen zu können, und Greisen, welche von der guten alten Zeit mit Begeisterung erzählten, daß man hätte glauben können, Jos vermöchte sonst nichts mehr zu hören und an nichts anderes zu denken. Gehört wird er auch nicht alles haben, aber er glaubte dem Hans und Dorotheen die Worte von den glühenden Gesichtern lesen zu können. Die beiden waren so glücklich jetzt, und er blieb vergessen bei seinem Tirolerwein in der dunkelsten Ecke sitzen. Kein Wunder, daß er heute nicht mehr der alte opferwillige Jos war, schienen doch auch jene beiden ganz anders geworden zu sein, seit er nicht mehr allein mit ihnen war und für sie arbeiten mußte. Wie dem Bettler das Almosen hatte Hans ihm einen Taler hingeworfen, damit er sich einen Humor trinken könne, und als er dann bat, ihm doch auch einige Tänze mit der Magd zu erlauben, ja, da hatte diese Hansen angesehen, als ob er über Leib und Seele ihr Vormund sei. Freilich, daß das ihn noch gar so ärgern würde, empfand er damals nicht, sonst würde er den Tanzsaal gar nicht betreten haben. Damals wollte er die beiden als Paar sehen, jetzt ärgerten sie ihn ungeheuer, und sein Glas wurde immer schneller leer. Was auch sollte er an der Kirchweih tun als trinken? Heute brauchte ihn niemand. Ganz war er sich selbst überlassen und konnte tun, was er wollte, wenn er nur morgen wieder für alle schwitzte, sorgte und lief. Da die Zusel, die er doch immer nur für ein eitles Ding hielt, hatte mit einem armen Heuer auftreten mögen, Dorothee aber, die fromme, demütige Magd, hatte für ihn nichts mehr als einen Blick des Mitleides. So nämlich nannte er das, was ihr schönes Auge ihm einmal – verstohlen, glaubte er – in seine Ecke geschickt hatte. Ihm war dabei ganz heiß geworden, und trotzig rückte er noch tiefer in den Schatten seines Winkels, sich selbst quälend mit der Vorstellung, daß der Glücklichen sein Anblick nicht recht angenehm sein könnte. Bald war ihm, daß er hätte heim mögen zur Mutter, um sich auszuweinen; dann wieder regte sich alles in ihm, daß er lärmen wollte und Händel anfangen mit der ganzen Welt. Dennoch kam es zu nichts anderem, als daß das Glas neben ihm von neuem wieder gefüllt und geleert wurde. Des Krämers Heuer hatte, wie eng es jetzt auch sein mochte, soeben einen seiner kunstreichsten Sprünge begonnen, als Zusel ihn, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Kreise der Tanzenden führte und raschen Schrittes mit dem willenlosen Erstaunten den Saal verließ. Bald hernach suchte Hans den Knecht und sagte, ohne sich um sein unfreundliches Gesicht zu kümmern: »Die Zusel ist fort, und uns wird's jetzt auch zu heiß und zu eng. Komm!« Ohne eigentlich zu wollen, folgte Jos dem Paar in die Kammer, wo neben dem Krämer und den Seinigen für die eben Eintretenden gerade noch drei Stühle aufgestellt werden konnten. Dem Jos wurde hier noch heißer als auf dem Tanzplatze. Angst aber war ihm nicht, obwohl er sich von den Angesehensten der Gegend umgeben sah. Er überflog die Gesellschaft mit einem Blicke und sagte dann mit eigentümlichem Lächeln, den Heuer ins Auge fassend: »Heut' laß dir das Gnadenbrot nur schmecken. Vielleicht sitzen wir beide in der Gesellschaft beim letzten Abendmahl, und das schöne, große Osterlamm neben dem Heuer wird wohl ein anderer, möglicherweise sogar noch einer allein bekommen.« Das hätte man allenfalls für die Eröffnung eines jener witzigen und derben Wortgefechte halten können, wie sie der Bregenzerwälder im Wirtshaus liebt. Aber wem auch der Anfang noch nicht besonders auffiel, den ließ doch das Zittern der Stimme bei diesen Worten und der starre Blick des Sprechenden leicht erraten, daß hier Spaß und bitterer Ernst wenigstens stark gemischt sein mußten. Aller Augen richteten sich auf den Heuer. Man war begierig, wie der eitle Mensch so einen Anfall aufnehmen und wieder zurückgeben werde. Dem wäre aber sicher noch wenig Arges eingefallen, wenn ihm nicht die fragenden Blicke der Anwesenden gesagt hätten, es schicke sich schlecht für so ein Bürschchen, so etwas zu sagen, und für ihn noch schlechter, es geduldig hinzunehmen. »Neben so einen Frosch«, rief er plötzlich, »läßt sich unsereiner nicht stellen, und kommst du mir noch einmal so, daß man nicht weiß, ob's gehauen ist oder gestochen, so soll ich sterben, wenn ich dir nicht zeige, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat.« »Das hab' ich in dem Hause schon lange vor dir gewußt«, lachte Jos und fuhr dann mit eisiger Kälte fort: »Es ist nicht zu übersehen, größer, stärker und meinetwegen auch hübscher bist du allerdings als ich, aber gerade das könnte noch dein Unglück werden und dich allenfalls, solltest du etwa gar zu hübsch und gewandt sein, noch unter die Soldaten bringen, wenn du nicht schon fast zu alt dazu wärst. Man weiß von Leuten zu erzählen, die das auch schon erlebt haben.« Das hieß nun wieder einmal zwei oder noch mehrere Fliegen mit einem Schlage getroffen, wie es überhaupt weit herum keiner so gut konnte als der Jos. Der Heuer zwar verstand von der ganzen Rede nicht viel mehr, als daß er schon fast zu alt sein sollte, aber auch das war recht genug, ihm die feurigste Zornesröte ins Gesicht zu treiben und seine Hände zur Faust zusammenzukrämpfen. Der Krämer, obwohl er den Stich jedes Wortes empfand, zeigte sich bei weitem nicht so schmerzlich getroffen wie der Heuer, doch war auch er zu sehr aus der Fassung gebracht, um sich nicht dennoch als den Getroffenen zu verraten. Die Zusel aber tat sich durchaus keinen Zwang an. »Wär' ich doch ein Bub!« hauchte sie, »wär' ich ein Bub', ich wollt' es versuchen, ob man nicht mehr ungestört und ungeschimpft eine Stunde in guter, anständiger Gesellschaft sein könne, ob man sich von jedem Neidhammel allen zusammengescharrten Unrat nachwerfen lassen müsse.« Der einzige, welcher vielleicht mit einem Worte wieder Frieden hätte schaffen können, Stighans, fühlte sich von dem Stiche selbst ein wenig getroffen, und wenn das einmal der Fall war, so hatte er seine Gewalt über den Gegner wenigstens für den Augenblick gänzlich verloren. Wie ein Geschlagener saß er neben Dorotheen, der es anzusehen war, wie sehr es sie schmerzte, eine Familienangelegenheit, die sie selbst noch oft beschäftigte, vom Jos nun schonungslos vor die Öffentlichkeit gerissen zu sehen. Ihren Unmut hatte der Knecht auch sofort bemerkt, und er litt furchtbar unter ihrem vorwurfsvollen Blicke. Ruhiger aber wurde er leider nicht, und das Gefühl, sich doch reicht ungeschickt benommen zu haben, brachte ihn nur noch mehr aus der Fassung. Er saß wie auf Kohlen, und wohl hauptsächlich nur, um das ihm so peinliche Schweigen zu unterbrechen, sagte er, an Zusels Ausruf anknüpfend: »Wo der Unrat so leicht zusammenzubringen ist, muß wenigstens vieles nicht recht sauber sein.« »Wer will das noch ertragen und wer es vergelten?« sagte Zusels Blick, der rasch von einem zum anderen schoß. Endlich blieb er an dem Heuer hangen, nicht mehr stolz, sondern demütig bittend, und ihre Stimme zitterte, als sie fragte: »Kannst du denn nichts als schöne Sprünge machen auf dem Tanzsaal? Warum sitzest du denn auch neben mir, wenn der Lästerer da so redet! Entweder schäme dich meiner oder deiner selbst und geh!« »Hätt' ich ihn doch so in meiner Heimat!« wich der Heuer etwas verlegen aus. »In einem fremden Dorf ist's denn doch nie recht ratsam, sogleich, ohne recht zu wissen warum, mit dem Nächstbesten Händel anzufangen. Bei uns – ich soll sterben, hätt' ich ihn schon lange braun und blau geschlagen!« Den übrigen im Zimmer anwesenden Burschen war es ordentlich eine Genugtuung, daß der Heuer sich des ihm schon lange mißgönnten Platzes neben dem hübschen, reichen Mädchen so unwert zeigte. In manchem regte sich die Lust und fuhr ihm in die Fingerspitzen, der Zusel nun zu zeigen, was er könne und wen man an ihm hätte. Noch ärger wurde das, als das Mädchen rief: »Fremdes Dorf? Ich, die Beleidigte, bin hier nicht fremd.« Der Krämer, der längst auf glühenden Kohlen saß und sich durchaus nicht als getroffen verraten wollte, befahl ihr auf das entschiedenste zu schweigen. Zusel aber fuhr erregt fort: »Ich bin hier nicht fremd, mußt du wissen, und es wird schon noch solche geben, die sich für mich gegen einen Schneider wehren dürfen.« Nun begannen auch die ernsten Väter zu brummen, das Mädchen sei eigentlich herzhafter als alle, die sich gleichsam mit ihm von so einem Knechtlein foppen ließen. Das feuerte die Burschen, denen schon Zusels Rede durch die Glieder fuhr, nur noch mehr an, und Jos sah, wie aller Blicke sich drohend auf ihn zu richten begannen. Es ward ihm so heiß, daß er aufstehen und sich ins offene Fenster legen wollte, da er weder so gehen mochte noch ein Wort reden konnte. Der Heuer, gewohnt, immer auf Wind und Wetter zu achten, hielt nun ein entschiedenes Vorgehen nicht mehr für besonders gewagt, seit er in aller Augen gelesen zu haben meinte. Anfangs dachte er, das Bürschlein würde ohne sichere Hinterhut gewiß nicht so herzhaft auftreten dürfen. Nun aber sprang er auf den Jos und faßte ihn hinten beim Halstuch, als ob es nicht nur seine Ehre, sondern auch sein Leben gegolten hätte. So wären wir denn leider vor einer Wirtshausrauferei. Freilich ist sie, wenn auch nur Bauernknecht und Heuer die Helden sind, ebensogut Ausdruck verschiedener Ideen und Leidenschaften als eine andere, die mit Beobachtung der feinsten Formen vor sich geht. Da es aber beim besten Willen nicht möglich ist, unsere Kämpfer noch geschwind zu adeln und ihnen Schwert oder Pistole in die Hand zu geben, so wär's wohl am besten, wenn man die Sache so schnell als möglich abtun könnte. Die beiden scheinen auch wirklich bald fertig zu sein. Kaum fühlt Jos von hinten sich gepackt, so dreht er sich gegen den Heuer um, und zwar so schnell und mit solcher Kraft, daß er den langen Heuer beinahe niederreißt und dieser das halb zerrissene Halstuch mitsamt dem Jos erschrocken fahren läßt. Während der Heuer das volle Gleichgewicht wieder zu gewinnen sucht und noch bevor er sich von seinem Schrecken auch nur ein wenig erholt hat, steht Jos zornschnaubend mit geballter Faust vor ihm, und das Bürschchen schaut so wild, so drohend zu dem großen Manne auf, daß dieser von Herzen gern die Zuschauer, die erstaunt und wie angebannt dastanden, um Hilfe angerufen hätte. Jos schien das zu bemerken, denn er rief: »Nur mit dir hab' ich's jetzt zu tun, und wenn auch ein anderer noch etwas will, so soll er doch warten, bis ich mit dir fertig bin.« Den Heuer erschreckte das schallende Gelächter, welches dieser Rede folgte. Es war klar, daß man sie beide sich einstweilen überlassen und dem Spaße zusehen wollte. Aug' in Auge standen sie sich etwa eine halbe Minute lang gegenüber, jede Bewegung beobachtend und immer auf Angriff und Abwehr gefaßt. Im Zimmer war es so still, daß man eine Nadel hätte fallen hören. Es war fast unbegreiflich, wie so viele Zuschauer sich ohne Geräusch hereinbringen und Platz finden konnten. Erst als die Wirtin hereinstürzte und nach der Ursache des Streites fragte, wurde es wieder laut. Jeder wollte erzählen und wurde sogleich von dem Nebenansitzenden unterbrochen oder widerlegt. Der Wirtin war's aber auch viel weniger um den Anfang als das Ende des ihr heute doppelt unangenehmen Zwischenfalles zu tun. Ohne lange zuzuhören, begann sie beiden das Kapitel zu lesen und sie mit derben Worten zum Frieden oder zum Heimgehen zu ermahnen. »Meinetwegen«, lachte Jos bitter, »soll der Tropf ungestört gehen, wenn er nichts kann als zierlich tanzen. Ich bleibe hier und hab' ihm nichts abzubitten.« Wie ein wildes Tier stürzte der Heuer auf Jos oder eigentlich auf den Platz, wo der gewandte Bursche noch vor einem Augenblicke stand, der ihn jetzt von der Seite anzupacken suchte. Es war wunderbar, wie das Jöslein sich wehren konnte und wie es rechts und links, hinten und vorn zugleich zu sein schien. Die kräftigsten Streiche des Heuers fuhren in die Luft und rissen ihn selbst beinahe zu Boden, so daß er, nach und nach um mehrere Schritte zurückweichend, in der Verzweiflung endlich nach einer leeren Bierflasche langte, die er als Waffe benützen zu wollen schien. »Jetzt ist's genug«, riefen mehrere Mädchen, die schaudernd seine Absicht errieten. »Nein, laßt ihn mir!« schrie Jos. »Wozu noch?« »Wir sind nicht fertig.« »Aber es ist genug«, rief man von allen Seiten und begann dem Jos einzureden, er habe sich tapfer gehalten, aber das schönste sei doch noch, wenn er nun auch noch zur rechten Zeit wieder aufzuhören wisse. »Ja«, rief Zusel schneidend, »ihr stolzen Burschen meiner Heimat, seid doch so gut und schützt den Fremden, der für mich und meine Ehre einstehen wollte. Schützt den Schwachen, wenn ihr sonst gar nichts tut.« Diese Worte hatten eine wunderbare Wirkung. Der Heuer mit seiner Flasche stand wie vernichtet da; die anderen Burschen aber begannen mit dem Jos in einem ganz anderen Tone zu reden, und der Zusel antworteten sie: »Wir stehen schon auch für dich ein, mußt du wissen, und zwar besser noch als der Beschützer, den du heute mitgebracht hast. Der Heuer soll darum nur ruhig sein, wir wollen das kleine Bürschchen schon wegbringen.« »Hab' noch keine Lust zu gehen«, trotzte Jos. »Es wird am Ende wohl zu helfen sein«, riefen mehrere. »Einem allein geh' ich nicht; wer etwas gegen mich hat, der soll kommen.« »Gehst auch mir nicht?« rief Hans, so zornig über den eigensinnigen Knecht, wie ihn dieser noch niemals gesehen hatte. »Hast du denn auch etwas gegen mich?« »Ja.« »Und Dorothee redet kein Wort für mich?« fragte Jos wehmütig. Alles blieb still. »Oh, wie seid ihr elende Leute!« rief Jos plötzlich. »Alle kniet ihr vor dem Goldenen Kalbe, mag es Zusel heißen oder Hans.« Die Burschen und Hans mit drangen auf den Aufgeregten ein. Dieser floh gegen das offene Fenster und rief mehrere Male: »Auch Hans kommt; alle, und er – er bringt mich um alles!« Jetzt ein Sprung, und der Verfolgte war, ohne daß eine Hand ihn auch nur zu berühren vermochte, aus dem Zimmer verschwunden. Hart neben dem niederstürzenden Strahle der durch ein Gewitter angeschwollenen Dachtraufe lag er auf einer Steinplatte und wälzte sich langsam aus dem Kreise der aufspritzenden kalten Tropfen hinaus. Im Zimmer begann man vom Kriminalgericht und sogar vom Köpfen zu brummen. Wer nicht heimschlich, setzte sich auf einen Stuhl und suchte so schnell als möglich von etwas anderem zu reden. Nur Dorothee begehrte auf, wie man sie noch nie gehört, und Hans saß neben ihr, als ob ihn der Blitz getroffen hätte. Es wurde ihm ordentlich wohl, als die Magd ihn gegen Schick und Brauch verließ und vor das Haus hinabeilte, nachdem sie hörte, daß Jos nicht mehr einen Tritt zu gehen imstande sei. 10. Kapitel Zehntes Kapitel Die Heimkehr »Erbärmliche Kreaturen ihr!« Das war die erste Antwort, welche Jos denen gab, welche sogleich vor das Haus geeilt waren und sich nach seinem Zustand erkundigen wollten. Ja, nun kamen sie zu allen Löchern heraus und streckten die Hälse und die Ohren, um etwa zu sehen, was wohl der so gedemütigte Trotzkopf für ein Armensündergesicht machen werde. Tausend Element, das sollten sie nicht! Aber vergebens strengte Jos sich zum Aufstehen an. Mühevoll hatte er sich mit Händen und Füßen in die Laube des Hauses, den sogenannten Schopf, gebracht, wo er nun doch wenigstens vor dem Regen geschützt war. Hier saß er auf einem kleinen Heubündel und schaute die aus allen Winkeln des großen Hauses kommenden Leute trotzig an. »Jesus, Maria und Josef, sein Kopf ist ja blutig!« riefen mehrere der Herbeigeeilten erschrocken aus. »Hat dich denn einer geschlagen? Wer?« »Niemand als ich selbst«, antwortete Jos und fuhr dann, wie von Widerwillen und Ekel geschüttelt, fort: »Wenn mich einer so geschlagen hätte, hu – einer der Elenden, und ich müßte jetzt auch so wehrlos daliegen und mich von jedem angaffen und bemitleiden lassen – Gott, es wäre, um den Verstand zu verlieren.« »Und wie ist dein Zustand jetzt?« »Jetzt«, lachte der schmerzgequälte Jos bitter, »jetzt hab' ich gar keinen Zustand, nur noch einen Zusitz, das muß doch jedes Kind sehen.« Nur mit größter Mühe und vielen Kreuz- und Querfragen brachten einige Schulfreunde des Leidenden endlich heraus, daß er zwar im Sprung aus dem offenen Fenster glücklich auf die Beine gekommen, dann aber auf der abgewetterten glatten Steinplatte auch noch auf den Kopf gefallen sei. Jos erzählte das, mit vielen bitteren Bemerkungen über die verschiedensten Ausrufe des Mitleids sich unterbrechend. Diese Weichheit, dieses Beklagen des – durch eigene Schuld nur – Geschehenen, was war es anderes als der jämmerliche Tribut, mit dem sie ihrem Hochmut, ihrer frommen Eitelkeit die beste oder eigentlich die schwächste Seite ihres Wesens wiedergewinnen wollten. Ha, Jos hätte rasend werden mögen, als er einen sagen hörte, man könne unmöglich begreifen, warum so ein Unglück Gottes heiliger Wille sei. Also auch an dem sollte der liebe Gott die Schuld haben! Wie, wenn er nun der Gewalt nicht gewichen wäre, wenn er statt dessen einige seiner Gegner verletzt hätte? Dann wär' gewiß nur der Sohn der Schnepfauerin und nicht der liebe Gott an der ganzen Geschichte schuld gewesen. Aber diese Leute kamen eben niemals auf das Richtige. Da standen sie und jammerten über den blutenden Kopf, während ihm sein rechter Fuß wohl zehnmal weher tat. Anfangs freilich wär's ihm selbst auch nicht anders gegangen. Erst als er sich zum Gegenstande eines ihm widerlichen Mitleids gemacht sah, dem er so schnell als möglich entfliehen wollte, empfand er im Fuße einen furchtbaren Schmerz, der bei der ersten Bewegung den ganzen Körper durchfuhr und ihn mit Gewalt auf den blutbedeckten Platz zurückwarf, von dem er sich, da er jede Hilfe trotzig verschmähte, nur langsam wegzubringen vermochte. Jetzt hatte er eine ganz eigene Freude daran, daß die Umstehenden, das Ärgste gar nicht ahnend, noch immer über die gewiß nicht bedeutende Verletzung am Kopfe jammerten. Bitter lachend starrte er die Umstehenden an und wies einzelne, die ihm ihre Dienste anboten, trotzig zurück. Als dann aber die guten Leute sich kopfschüttelnd zu entfernen begannen, wurde ihm auf einmal wunderbar angst. »Laßt mich doch um Gottes willen nicht allein wie ein Tier!« flehte er. »Ihr seht ja, daß ich einen Fuß gebrochen hab' und auch nicht einen Tritt mehr zu gehen imstande bin.« Diese Worte wirkten wie ein gewaltiger Schlag. Alle standen einen Augenblick, als ob ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten, und eilten dann wieder zu dem Unglücklichen, um den sich bald noch ein dichterer Kreis gebildet hatte als vorher. Und nun regte sich in dem Unglücklichen wieder der frühere Trotz, der für das bestgemeinte Wort im besten Falle nur ein bitteres Lächeln zur Antwort hatte. Das wurde nicht anders, bis Jos die Stimme Dorotheens hörte, welche sich mit Gewalt durch die müßigen Zuschauer zu ihm hinarbeitete. »Wie ist's doch gegangen? Was fehlt ihm? Kann er wirklich gar nicht mehr gehen? Ist denn um Gottes willen noch kein Doktor da?« So fragte das Mädchen so schnell nacheinander, daß kein Mensch zum Antworten kommen konnte. Jos strengte noch einmal alle seine Kräfte zum Aufstehen an. Es war vergebens; er mußte sich ins Unabänderliche fügen, mußte leiden, wie er noch niemals litt, an Leib und Seele zugleich. Nichts ist so herb, nichts so beinahe unerträglich, als wenn man auf einmal seine liebsten Pläne und Hoffnungen als tote Last auf dem Gewissen fühlt, wenn man sich sagen muß, daß man sich selbst aus seinem Glückshimmel stürzte. Jos schien ein ganz anderer geworden, seit er Dorotheens auch in der Aufregung noch so leicht erkennbare Stimme hörte. Bisher hatte jede leise Bewegung nur die in seinem Innern kochende Wut verraten, so daß den Umstehenden immer doppelt weh und bange war; jetzt aber begann sein ganzer Körper zu beben, wie vom Frost des Fiebers geschüttelt, und die zitternden Hände suchten umsonst die aus den halbgeschlossenen Augen hervorquellenden Tränen zu verbergen. Dorotheens fortgesetzte Fragen, noch viel dringlicher als die früher von den anderen an ihn gerichteten, die er nur trotzig zurückwies, machten ihn ganz weich, und nur vor Weinen war er nicht imstande, sie so schnell zu beantworten, als sie an ihn gerichtet wurden. Jetzt erst dachte er auch an seine gute Mutter. Sie hatte doch wahrlich nicht verdient, auch das noch an ihm zu erleben. Ach, die lieben Bilder aus vergangenen Tagen, das schöne Leben neben Dorotheen auf dem Stighof, es war nicht etwa nur einfach dahin, verschwunden und verloren, sondern war ihm zur drückenden Last, und alle Rosen, die ihm auf seinem Lebenswege jemals blühten, hatten sich in schmerzlich stechende Dornen verwandelt. Er hatte geglaubt, Dorotheen verachten, hassen zu können als die Gefühllose, die berechnende Geliebte des reichen Bauern, nun aber lag er wehrlos und unfähig zu Spott und Trotz. Nur noch weinen konnte er, und weinen mußte er, wenn ihm auch mit verhaltenen Augen die Anwesenheit der vielen Neugierigen schmerzlich gegenwärtig blieb. Dorotheens Erscheinen und ihre Fragen brachten etwas Leben in die Menge, die vorher wie erstarrt um den Leidenden herumstand. Vielleicht mochten die von der Magd gestellten Fragen an manches Versäumnis erinnern, und dazu kam noch, daß die Veränderung im Wesen des Unglücklichen keinem einzigen ganz entging und alle etwas weicher stimmte. Jedermann wollte nun gleich etwas für ihn tun. Während viele, ohne noch Regenschirme mitzunehmen, forteilten, um den Doktor zugleich daheim und in allen Wirtshäusern zu suchen, brachten die Zurückgebliebenen Salben und Wein, Binden und Tücher aus dem Hause oder trugen aus der Nachbarschaft herbei, was in Hausarzneibüchern belesene Mütterchen nur immer wünschen und empfehlen mochten. Als Dorotheens weiche, jetzt leise zitternde Hand das Haupt des Verwundeten berührte – sie tat das so leise, daß man glauben mußte, er werde es gar nicht merken –, da öffnete er die Augen wieder und schaute zu ihr empor, so freudig stolz und doch auch wieder so demütig bittend, daß das Mädchen erbebte vor dem Blicke, in welchem des guten Burschen ganze Seele lag. Ja, sie, die bisher sich so tapfer gehalten, wurde jetzt schwach und vergaß in der Verwirrung die Umstehenden und was sie eigentlich wollte. Zitternd stand sie da und wurde bald blaß, bald rot, bis ihr endlich die Wirtin ungeduldig das Wasserglas abnahm und den Kopf des Jos zu waschen begann. Erst als der Unglückliche auf die in der Eile zusammengeflickte Tragbahre gelegt und heimgebracht werden sollte, kam Dorothee wieder vollkommen zu sich selbst, und während sie sich umsah, ob nicht auch etwa einem anderen Mädchen beim Anblicke des Blutenden beinahe übel geworden sei – wie ihr –, befahl sie den Trägern die größte Sorgfalt, damit nicht am Ende das Unglück durch ihre Schuld noch größer werde. Während sie nun mit der kleinen, stillen Gesellschaft das Haus verließ, wurde droben getanzt und gejubelt, daß die Fluh drüben über der Ach die frohen Töne auch da noch wiedergab, als sie schon zu weit ins Argenauer Dörflein hineingekommen waren, um aus dem Wirtshause selbst noch etwas hören zu können. Dorotheen kam das jetzt ganz verrückt, ja unmenschlich herzlos und grausam vor, so daß in ihr der Vorsatz erwachte, ihr Lebtag keine Tanzmusik mehr zu besuchen. »Kann man«, mußte sie sich fragen, »so fröhlich sein, nachdem man so kalt und lieblos war? Sieht niemand die Lücke, die das Unglück in dem frohen Kreise riß?« Allerdings lärmte die Fluh herüber, daß man das könne, und von dem, der sich da seufzend zum armen Mütterlein tragen lassen mußte, sagte sie nichts. Aber war's denn am Ende nicht mit jedem Vergnügen so, wenn auch der Leidende nicht so hart daneben und für sie so hörbar ächzte? Was mochte nicht schon vielleicht beim nächsten Nachbar alles vorgefallen sein, während ihr die Stunde in der besten Unterhaltung unerwünscht rasch verging! Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch war der Himmel benebelt, und auf die Tannen herab hingen gewaltige Wolken, von denen der Kalendermacher, nach der für heute angegebenen Tageslänge zu urteilen, durchaus keine Ahnung gehabt haben mußte. Schon lange vor sieben Uhr war es fast plötzlich Nacht und so dunkel, daß die Freunde des unglücklichen Jos, sich mehr auf das Gehör als das Gesicht verlassend, den Weg zwischen den rechts und links noch niederplätschernden Dachtraufen suchen mußten. Es war Dorotheen immer noch gewesen, als ob sie in recht kurzweilige Gesellschaft komme, wenn sie zwischen den ihr so wohlbekannten Häusern dahinschritt. Heute aber konnte sie sich keinen frohen, glücklichen Kreis um die wenigen Lichter herum denken, die sie auf ihrer Wanderung erblickte. Da saß wohl das arme Mütterlein mit dem Rosenkranz in der Hand auf der breiten Ofenbank und erwartete, von Zeit zu Zeit nach dem schwarzen Zifferblatte der alten Schwarzwälderuhr blickend, ungeduldig den einzigen Sohn, der noch im Wirtshaus saß und wohl den halben Sommerlohn verjubelte. Dort am Fenster lehnte die arme Therese, die heute hart neben der Zusel auf dem Brückeneingang den Geliebten erwartete, bis dieser mit einer Angeseheneren, Reicheren, ohne sie noch zu beachten, an ihr vorüberschritt. Hier saßen hungrige Kinder mit der traurigen Mutter bei den ersten Erdäpfeln dieses Jahrganges, die gestern so fröhlich heimgebracht wurden. Man dachte, sie gemeinsam zu essen am Kirchweih tag und Gott dafür zu danken. Nun aber fehlte der Vater, und trotz des Hungers wollte es niemand recht schmecken. Dort polterte der biedere Vater und weinte die Mutter über die ungeratene Tochter, welche, wie man von Freunden, Feinden und Nachbarn hören mußte, ein bemittelter Taugenichts den ganzen Abend auf dem Tanzplatze festhielt. Auch Angelika hatte ein mattes Licht im Zimmer. Ihr Kind half ihr auf den Vater, den Andreas, warten, welcher schon früh etwas angetrunken war und mit einer Kellnerin tanzte. Und immer noch tönte es von der Fluh herüber, die Hörner brüllten, die Burschen lärmten immer wilder, und sicher hätte Dorothee sich beinahe zu fürchten angefangen, wenn sie jetzt mit ihren Gedanken allein gewesen wäre. Vor ihr her trug man den Liebling, den einzigen Sohn der armen Stickerin, die wohl jetzt noch ganz arglos daheim saß, ihre Wochenrechnung machte und nebenbei dem lieben Herrgott dankte, daß ihr Jos einen so guten Platz bekam und denselben auch zu behaupten imstande war. Ganz laut, gerade als ob sie das widerliche Echo von der Fluh sich aus dem Gehör bringen wolle, rief sie schmerzlich aus: »O du Welt, du böse, kalte, herzlose, selbstsüchtige Welt! Du bist ein Wehhaus und ein Tränental, wie es im Kirchengebete heißt.« Wie der vom Sturme vertragene Funken oft in viertelstundenweiter Entfernung als mächtiges, weithin leuchtendes Feuer aufflammt, so spinnt sich dem Aufgeregten, besonders im Dunkel der Nacht, wo Aug' und Ohr so bald an die wenigen äußeren Eindrücke gewöhnt sind, ein einziger Gedanke auf seinem Wege bis zum anscheinend entferntesten wunderbar und beinahe unbemerkt fort. Mit dem einzigen Worte aus einem wohlbekannten Kirchengebete, dem Salve Regina, kam sie vom Lärm des heutigen Tages hinweg in die Kirche, wo sie schon als frommes Kind dem lieben Gotte und der heiligen Mutter so manches Leiden klagte. Auch jetzt wieder versuchte sie zu beten. Aber es ging ihr wie immer – sie konnte viel besser danken als bitten. Wenn sie recht glücklich war, dann fühlte sie sich dem Allvater am nächsten und wurde demütig; hatte sie aber Klagen über die Welt, dann fehlte es ihr nicht an Worten, aber die rechte Andacht wollte nicht kommen, und es war, als ob sie sich schäme, mit so etwas vor den lieben Gott zu treten. Auch heute ging es ihr so, und immer wieder fühlte sie sich in ihrer Andacht gestört, obwohl die Vorangehenden noch kaum ein Wort gewechselt hatten. Sie waren alle noch zu erschrocken, als daß ihnen selbst Dorotheens lauter Ausruf über die böse Welt besonders hätte auffallen können. Während Jos dem Heuer und den anderen gegenüberstand, waren sie alle auf dem Tanzsaal gewesen. Erst der auch dorthin dringende Bericht von dem Unglück ihres ehemaligen lustigen Gefährten hatte sie an seine Seite gerufen, und sie gingen um so lieber mit ihm heim, da nun doch die Lust zum Tanzen ihnen allen gänzlich vergangen war. »Weiß die Mutter schon von der traurigen Geschichte?« fragte einer der Burschen, das bange Schweigen endlich unterbrechend. Diese Frage gab Dorotheen wieder Leben. Sie dachte an den Schrecken der armen Stickerin, wenn nun Jos auf einmal so in ihre Stube gebracht würde. Nein, das durfte nicht geschehen! Vorher sollte das arme Weib so gut als möglich darauf vorbereitet werden. Dorothee eilte voran und sann, wie sie es nun anzugehen habe. Es waren peinliche Gedanken, mit denen sie sich jetzt beschäftigte, und doch war ihr wohler, als da sie noch müßig klagte und betete und einen Wink des Himmels erwarten zu wollen schien. Ja, seit es wieder etwas zu tun gab, fühlte das Mädchen sich mutig, wie es noch selten nach einem Gebete war, welches nur einem Notschrei glich. Vor dem Häuschen der Schnepfauerin aber wurde ihr wieder himmelangst. Zitternd trat sie in die dürftig erleuchtete Stube, wo die Schnepfauerin fast zu Tode erschrak, als sie den späten Besuch endlich denn doch trotz seiner ungewöhnlichen Blässe erkannte. Dorothee begann, sich wunderbar beherrschend, mit einer Abhandlung über den Willen Gottes, ohne den kein Haar von unserem Haupte fallen könnte. Die Schnepfauerin schnitt diese Einleitung kurz und gewaltsam ab. »Du kämst heut' nicht zu mir, wenn du nicht etwas Wichtiges und etwas Schlimmes sagen müßtest. Nun, ich leide schon unter diesem Gedanken so viel, daß es nicht zu sagen ist. Drum schone mich nicht mehr und sage mir offen, warum du da bist.« »Es ist wohl nicht so arg, als du denkst«, antwortete Dorothee langsam. »Der Jos ist nur für einige Wochen arbeitsunfähig geworden bei einem gefährlichen Sprung. Ich möchte der Stigerin nicht gern gleich von der Sache erzählen, du aber wirst schon so gut sein und ihn einige Tage pflegen und warten. Ich stehe dafür, daß dir – von Hansen oder sonst – jedenfalls alles reichlich ersetzt wird, was du tust und anwendest.« »Ist gar nicht nötig«, sagte die Mutter, die viel Schlimmeres erwartet zu haben schien, beinahe fröhlich. »Wer sollte so Zeit und Lust haben, für den armen Jos zu sorgen, wie ich?« Und noch bevor sie fragte, was denn ihrem Sohne begegnet sei, trug sie einen Laubsack auf die breiteste Bank, stellte einige Lehnstühle davor und machte in der Eile ein Bett, so gut es ihr nur möglich war. Als man aber die Tritte der Nachkommenden hörte, ließ die arme Mutter alles liegen, wie es eben lag, erfaßte krampfhaft das auf dem Tische stehende Licht und wankte zur Türe hinaus. Die langsam nachfolgende Dorothee sah, wie die Mutter beim Anblick ihres Sohnes beinahe ohnmächtig auf den Tritt vor der Haustür niedersank und ihr leichenblasses Gesicht in den zitternden Händen verbarg. Dann raffte sie sich mit einer furchtbaren Kraftanstrengung wieder auf und sagte tonlos und hart: »Er soll gewiß auch noch halb erfrieren hier in der kalten Nacht? Seid ihr alle denn von Holz, daß ihr so gar nicht mit leidenden Menschen umzugehen wißt?« Der Armen fiel es nicht ein, daß die Träger nur auf sie warteten. Die guten Burschen verziehen ihr aber gern diese Ungerechtigkeit. Schweigend folgten sie ihr ins kleine Häuschen, als sie das Licht wieder ergriff und rief: »Stoßt doch um Gottes willen nirgends an – oder«, fügte sie in ganz anderem Tone bei, »macht, so gut ihr könnt. Ihr meint's ja redlich und habt ihn bis vors Haus gebracht. Ach, es ist so traurig, aber ich hab' auch schon etwas für fröhlich gehalten, und dann ist's nur zum Unglück gewesen.« Auf die Freunde des Jos würde die wohlgesetzteste Rede nicht einen halb so tiefen Eindruck gemacht haben wie diese wenigen scheinbar gar nicht zusammenhängenden Worte der armen Mutter. Feuchten Auges trugen sie ihren Freund in die Stube und sahen mit Freuden die Mutter wieder etwas gehobener und fester, als sie noch an manches erinnerte, was notwendig sogleich getan und hergerichtet werden mußte. Dann aber wollte sie auch wissen, was denn eigentlich dem armen Jos begegnet sei. Jos, der noch kein Wort gesprochen hatte und auch keines zu sprechen imstande war, zog die Bettdecke übers Gesicht, um unbemerkt weinen zu können. Dorothee begann so schonend als möglich zu erzählen, bis sie durch das Kommen des Arztes unterbrochen wurde. Dieser fand den Beinbruch sehr bedenklich. Aber obwohl er sogar vom Abnehmen des Fußes einige Worte fallen ließ, schien doch der Mutter noch immer das traurigste, daß das alles nur die Folge eines Wirtshausstreites war. Sie machte dem Hitzkopf, den sie doch schon so oft und oft warnte, die bittersten Vorwürfe. Als aber der Schmerzgequälte laut aufseufzte, da eilte sie ans Bett, zog die Decke herunter, daß sie sein Gesicht sehen konnte, und kam dann nicht mehr dazu, ihre Strafpredigt wieder aufzunehmen. Dafür gedachte sie nun der traurigen Zukunft. Die anderen suchten sie zu beruhigen, aber ihre Trostworte weckten nur Widerspruch. Man erinnerte sie daran, daß sie mit solchen Klagen dem Kranken weh tue, und das half. In der Sorge um den Liebling fand sie Kraft und Selbstbeherrschung, ja nach wenigen Stunden sogar eine gewisse Heiterkeit der Seele wieder, so daß Dorothee und die anderen sie und den Kranken selbst viel beruhigter verließen. Jos litt nicht nur an seinen Verletzungen. Zu den quälendsten Vorwürfen wegen seiner Übereilung kam bald auch noch die Sorge für seine und der Mutter Zukunft. Die Mutter fand immer noch eine Art Trost und Aufrichtung in der sorglichsten Pflege des kranken Lieblings; diesem aber war wie ein schmerzlich bitterer Vorwurf, was ihn sonst als sprechender Beweis der Mutterliebe auch unter schlimmen Umständen überglücklich gemacht hätte. Wie aufs tiefste beschämt, wie vernichtet lag er da, sein verwünschter Trotz war gebrochen; nicht niedergeschlagen von den Gegnern, die er im Traume sich wieder und wieder gegenüberstehen sah, sondern mehr geschmolzen von der Wärme der Mutterliebe, die ihn umgab und ganz neue, früher nie gekannte Gefühle in ihm keimen und wachsen ließ. Eine wunderbare Weichheit bemächtigte sich seines ganzen Wesens, so daß er ruhig zuhörte, als später seine Freunde ihm erzählten, wie spottschlecht schließlich auch sein Gegner, der Heuer, noch weggekommen sei. So arg als einen hatte Jos mit seinem trotzigen Benehmen Stighans erzürnt. Eine Demütigung gönnte ihm dieser recht wohl und wäre bereit gewesen, auch das Seine dazu beizutragen. Als er dann aber hörte, wie schlecht dem Jos sein kühner Sprung geraten, da war ihm nicht mehr recht wohl, wenn er sich davon auch nichts anmerken ließ. Er hätte eine schöne Kuh drum gegeben, wenn er damit alles ungeschehen zu machen imstande gewesen wäre. Trotzdem brachten Dorotheens Vorwürfe ihn nicht von seinem Platze, ja diese zwangen ihn, innerlich sich zu seiner Selbstverteidigung immer wieder an das lästige Benehmen seines Knechtes zu erinnern. Er wollte kein wetterwendisches Weib sein wie Dorothee, welche – das hatte er genugsam bemerkt – sich noch vor wenigen Minuten selbst recht von Herzen über den Jos geärgert hatte. So blieb er denn sitzen und sendete Dorotheen einen zornigen Blick nach, als diese zu dem Unglücklichen eilte. Der Heuer hatte sich mit der Miene eines Mannes, welcher sich für den Helden des Tages hält, neben die seit Dorotheens Entfernung ausgelassen lustige Zusel gesetzt und begann nun, Hansen als Kirchweihwitwer auf die derbste Weise zu necken. Die Lacher natürlich hatte er bald auf seiner Seite, obwohl seine Witze zuweilen so ungehobelt waren, daß Zusel sich seiner zu schämen begann. Endlich war Hansens Geduld zu Ende, der Faden riß. Auf sprang er, schlug die Faust hart neben der Stumpfnase des Heuers auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, und donnerte das geputzte Bürschchen an: »Derlei Brocken wirst du noch bekommen, wenn du nicht schon genug hast. Willst du aber nichts mitnehmen, so mach' dich nur im Fluge fort und laß dich nicht mehr sehen, du Händelstifter, solang' du dein gestriegeltes Spitzköpflein und den breiten Hemdkragen in Ordnung erhalten willst.« »Ich soll sterben –«, stammelte der Heuer und sah sich ängstlich suchend im Zimmer um. Aber die Zusel, welche nun durchaus nicht mehr länger neben ihm gesehen sein wollte und bereits mit der guten Gelegenheit zu rechnen begann, warf ihm einen Blick zu, der ihn nicht mehr ausreden ließ. Jetzt war sie entschieden für den Frieden. Der Heuer sah sich allein und nur kalte, höhnende Blicke auf sich gerichtet. So kam er denn bald zu der schmerzlichen Überzeugung, daß Gehen das klügste sei, und langsam, so leise und unmerklich, als es in der Eile nur immer geschehen konnte, rückte er seinen Stuhl so weit vom Tisch aus der Reihe der übrigen Stühle weg, daß er Platz genug zum raschen Aufspringen gewann. Er hätte aber gewiß nicht so aus dem Zimmer rennen, nicht auf jeden Tritt drei Stufen der Stiege unter die Füße nehmen müssen, denn sicher dachte kein Mensch daran, ihm etwas in den Weg zu legen oder ihn gar zu verfolgen. Er eilte ins Haus des Krämers, packte seine Sachen zusammen und hinterließ bei der Magd den Auftrag, ihm nach Abzug seiner Zeche den Heuerlohn so schnell als möglich nachzusenden. Im Wirtshaus »Zum Rößle« ging es nun wieder so lustig zu, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Man gedachte auch des Geschehenen fast nur dadurch, daß man sich erfreut aussprach, nun doch der lästigen Händelstifter glücklich losgeworden zu sein. Stighans hatte sich unter allgemeinem Beifall auf des Heuers Stuhl gesetzt, hart neben Zusel, die ihm des Knechtes wegen keine Vorwürfe mehr machte. Der Krämer war überglücklich. Aber wie wohl ihm bei den jungen Leuten auch war, so schickte er doch den Hans mit seiner Zusel großmütig von sich weg auf den Tanzsaal, den diese erst spät in der Nacht verließen. Hans begleitete die Zusel heim, trank noch den in der Eile gemachten Kaffee und eilte dann – dem Morgen noch zu entrinnen – auf den stillen Stighof, wo die schon wieder tätige Dorothee ihm einen guten Tag wünschte. 11. Kapitel Elftes Kapitel Wie man schiebt und geschoben wird Wieviel auch, seit man das »Volk« als Kunstobjekt zu behandeln begann, über Bauern und besonders über Bauernmädchen geschrieben wurde, es ist doch immer noch fraglich geblieben, ob die guten Kinder sich mit der Kirchweih mehr die Woche vorher oder nachher in Gedanken beschäftigen. Wahrscheinlich wird man, wenn noch dreißig Jahre Dorfgeschichten geschrieben und alle deutsche Erdenwinkel durchstöbert sind, sich für die Woche hernach entscheiden. Bei einzelnen kann das schon jetzt als ausgemacht gelten. Zusel hatte nicht viel, wenigstens gar nichts Besonderes gehofft. Nur einmal ein wenig Lärm wollte sie haben, und nun war aus dem Spaße ganz unvermutet Ernst geworden. Jetzt war der Ehrgeiz des Mädchens wach. Was sich so wie von selbst angezettelt hatte, das mußte nun fort und fertig gewoben werden, damit sie sich vor Hansjörg, wenn er wiederkam, nicht mehr so gleichsam in ihrer Blöße sehen zu lassen brauchte. Der Bursche war ihr jetzt wieder viel im Sinn, woran vielleicht auch die von Jos gemachten Anspielungen einige Schuld haben mochten. Sollte wirklich der Vater ihn in des Kaisers Rock gebracht haben? Sie fragte, horchte, sah in den Rechnungsbüchern nach und ergab sich nicht mehr, bis es ihr klar geworden war, daß der Krämer wirklich nur Mathisles Abhängigkeit benützt habe. Aber diese Entdeckung wirkte jetzt nicht mehr so, wie sie noch vor wenigen Monaten gewirkt haben würde. Wohl konnte sie den armen Burschen bedauern, aber sein Briefhandel war dadurch nicht entschuldigt. Hansjörg war eben ein Mensch, der so wenig fest auf seinem Platze stehen konnte als der Heuer. Ob aus der nämlichen Ursache, war ihr jetzt ziemlich gleichgültig. Ihr Liebhaber mußte ein ganzer Mann sein; woher es ihm kam, blieb ihr immer das nämliche, wenn es nur da war. Hansjörg und der Heuer, sie waren sich so ziemlich gleich, denn beide zogen schon vor dem ersten Hindernisse jämmerlich ab. Das waren keine Männer; einen Mann aber wollte sie nun an ihrer Seite wissen, der sie schützen und jeden Angriff von ihr abwehren konnte. Als Jos sie mit seinem Spotte erröten machte und der Heuer rat- und tatlos neben ihr sitzen blieb, da hatte die Stolze es einmal ganz durch und durch empfunden, wie wehrlos ein Mädchen neben dem aus Armut und – Gemeinheit herausgewachsenen, vielleicht schuldbewußten Vater steht. Ja, er hatte recht, dieser Vater, sein stolzes Gebäude mußte stürzen, wenn sie ihm nicht das schützende und bindende Dach aufsetzte. Und sollte sie das nicht von Herzen gern, um in alle Zukunft froh und sicher wohnen zu können? Wie sie doch einmal so an Hansjörg hatte kommen können? Man hatte geredet, gelacht, nach und nach die gleichen Ansichten bekommen und sich aneinander gewöhnt, man wußte selbst nicht wie. Es war eben gefährlich neben so einem berechnenden Burschen, gerade wie jetzt für Hansen neben dessen Schwester. Freilich verriet Dorothee durch ihr Weglaufen von Hansen eine Neigung für den ehemaligen Schneider, aber Zusel erfuhr ja an sich selbst, wie wenig derlei launenhaften Spielereien zu trauen sei. Wohin konnte der leichtsinnige Hans nicht von dem Mädchen noch gebracht werden, wenn erst Hansjörg wiederkam und den Ratgeber machte! So einfältig, als sie sonst wohl geglaubt, war Hans jedenfalls nicht, das hatte sie aus der mehrstündigen Unterhaltung mit ihm erfahren; aber schwach war er, und besonders der Magd gegenüber recht schwach, sonst würde er sie, die ihm so schmählich davonlief, schon am Tage nach der Kirchweih aus dem Dienste geschickt haben. Freilich suchte sie sich zu bereden, daß das eben nur seine Gleichgültigkeit verrate, aber es wollte nicht recht gehen, und Zusel, die nun siegen mußte um jeden Preis, nachdem sie einmal angefangen hatte, ließ die beiden bald auch durch andere in und außer dem Hause auf Schritt und Tritt beobachten. Wer sucht, der findet. Das gilt auch von einem Menschenpaar, dem man einmal ein Liebesverhältnis zumutet, und gilt besonders, wenn die Beobachter und Beobachterinnen für jede Mitteilung reichlich belohnt werden. Zusel bekam bald jeden Abend Bericht und arbeitete sich so immer tiefer in die Sache hinein. Bald vermochte sie Hansen, den sie jedesmal sah, wenn er mit Sense oder Rechen vorüberging, bei weitem nicht mehr so unbefangen etwas Witziges nachzurufen als in den ersten Tagen nach der Kirchweih. Später hatte sie nur noch ein scheues »Guten Morgen« für ihn, und wenn er sie dann erstaunt, fragend ansah, so gab ihr das aufs neue zu denken, weil sie dadurch etwa eine der schon von jemand gemachten Beobachtungen bestätigt wähnte. Nachdem das letzte Heu beim Krämer glücklich untergebracht war, verkehrte das Mädchen fast nur noch mit Leuten, welche von Stighansen redeten. Dadurch gewannen die unbedeutendsten Reden und Handlungen des guten Burschen in den Augen der Zusel eine Wichtigkeit, daß man davon leicht auf eine starke geheime Neigung schließen konnte. Es war auch ganz natürlich, daß das von den zum Aufpassen Bestellten bald genug geschah. Sie vermochten aber das viel eher geheimzuhalten als das, was sie an Hansen und Dorotheen beobachteten oder dem Beobachteten unterlegten. Auf einmal kamen über Hansen und seine Magd die sonderbarsten Gerede ins Dorf. Kein Mensch wußte, woher, denn sie waren überall auf einmal, und Zusel fand, freilich durch ihre Veranlassung und Schuld, nun allgemein bestätigt, was sie geahnt und gefürchtet hatte. Es war schrecklich, daß das Mädchen nicht nur den unschuldigen, unerfahrenen Burschen an die Ketten der Sünde zu schmieden und daran festzuhalten wußte, sondern selbst die alte Stigerin blind und taub zu machen verstand. Durch solche Mittel und auf solchen Wegen sollte der stattliche Hof, auf dem redliche, sittenstrenge Väter in Gottesfurcht walteten und alles zusammenhielten, nun einer herabgekommenen Freundschaft zufallen? So ging es jetzt hin und her, daß Zusel, der das immer einen Stich gab, beinahe zur Verzweiflung gebracht wurde. Auch der Krämer hörte solches Gerede gar nicht gern. »Die altbackene, fromme Dorothee«, meinte er, »wäre selbst nie so gefährlich als dieses Geschwätz, das Hans und vielleicht sogar auch die alte Stigerin nur für den Lärm der Neidestrommel halten. Wenn das geschieht, dann freilich kann aus der kindischen Liebelei etwas Großes werden.« »Da sieht man's«, klagte Zusel, »auch du glaubst an diese Liebelei!« »Oh, die nur ist nicht gefährlich«, lachte der Krämer, »und besonders dir nicht.« Und das errötende Kind mit wohlgefälligem Lächeln betrachtend, fuhr er nach einer Pause schmeichelnd fort: »Gefährlich hätte dir nur eine werden können, und die bist du selbst mit deinem trotzigen, leidenschaftlichen Sinne. Seit ich diese eine nicht mehr fürchten muß, fürchte ich gar nichts mehr. Wenn du nur nichts verdirbst, dann muß es gehen, auf diese oder jene Art. Die alte, geldgierige Stigerin ist auch noch da, und Hans wird müssen, wenn er nicht will.« »Aber ich will nicht und muß nicht, wenn es so klingt«, sagte Zusel entschieden. »Alles wär' mir wie Gift und Messer, was nur so gezwungen käme. Die Zusel ist zu stolz, um sich einen Liebhaber hur so gleich einem Gefangenen zuführen zu lassen. Selbst, freiwillig soll er kommen – oder gar nicht.« Der Krämer, dem der Erfolg immer die Hauptsache und das einzige war, was er im Auge hatte, fand seine Tochter geradezu unbegreiflich. In der letzten Zeit hatte er sie für recht verliebt gehalten, drum glaubte er, nun müsse ihr jeder Weg recht sein, auf dem der Geliebte ihr entgegengeführt werden könne. Wunderbare Leute, diese Weibsbilder! Schon an seiner Seligen hatte er zuweilen etwas bemerkt, was ihm rein unverständlich war. Der Mann saß und sann, bis es zu dunkeln begann. Auf einmal entstand draußen an der Haustür ein Gerumpel, als ob nicht nur ein, sondern wenigstens ein Dutzend Türklopfer in Bewegung gesetzt würden. Zusel wollte sehen, was es gebe. Sie verließ das Zimmer mit den Worten: »Den Hans mag ich unter solchen Umständen gar nicht, und du brauchst in der Sache nichts mehr zu tun.« Aber noch bevor der Krämer sich von seinem Erstaunen über diese Rede wieder erholt hatte, schoß das Mädchen zurück und hauchte fast atemlos: »Jetzt, Vater, jetzt haben wir's. Der Hansjörg ist da! Geh doch du, denn ich kann ihn in seinen Soldatenkleidern, kann ihn jetzt durchaus gar nicht mehr sehen.« »Was mag er wollen?« fragte sich der Krämer, während das Mädchen in seine Kammer eilte. Langsam und jeden Tritt noch langsamer ging der Mann der Haustüre entgegen. »Daß der Spitzbub' schon heute kommen muß«, murmelte er. »Es steckt doch noch ein Tropfen vom früheren Blute in ihm, ein böser, giftiger Tropfen, und kein Mensch kann sagen, wie lange das Mädchen so fortläuft, wenn er kommt. Mit Hansen ist's wie aus. Sie hat keinen Sinn fürs Vermögen, denn die Verwöhnte weiß nicht, mit wie blutsaurer Arbeit man es erwerben muß. Wunderliches, ehrgeiziges, demütiges, opferwilliges, selbstsüchtiges Volk – diese Weiber! Am End' ist's gut, daß Hansjörg mich trifft. Er soll nicht Lust kriegen, so bald wiederzukommen.« Und der Krämer sah wirklich recht grimmig aus, als er der Türe zuschritt, seine Hand aber zitterte beim Öffnen gewiß ärger, als wenn er je einem Grenzjäger öffnete, der nach den wohl versteckten geschmuggelten Waren zu suchen kam. Er erwartete etwas ganz Besonderes und nahm alle seine Kraft zusammen. Trotzdem prallte er zwei Schritte zurück, als er die hohe Gestalt des schönen Kaiserjägers in der kleidsamen Uniform erblickte, die seinem ganzen Wesen etwas Stolzes, Sicheres gab, vor dem dem Handelsmann himmelangst wurde. Der Krämer hatte seine Sprache verloren; auch der Mann mit dem schönen, etwas gebräunten Gesichte schwieg eine Weile und schien unterdessen jeden Augenblick noch größer zu werden. Endlich wünschte seine klangvolle Stimme einen guten Abend. »Was ist gefällig?« »Ich hab' mich nur sehen lassen wollen in des Kaisers Rock.« Dieser Trotz im Tone gab auch dem Krämer wieder Kraft. »Dann«, sagte er, »hättest du lieber am hellen Tage kommen sollen.« »Kann schon auch noch geschehen. Ich werde überall sein, wie das böse Gewissen.« »Hättest du sonst nichts wollen?« fragte der Krämer etwas scheu. »Einen Pfeifenkopf kaufen.« Das Geschäft war bald abgetan, und der Kaiserjäger verließ brummend das Haus. »Was da«, rief der Krämer, die Schublade zuschlagend, daß die porzellanenen Pfeifenköpfe klirrten, »so einen Taugenichts, der mit lauter Kupferkreuzern zahlt, sollte unsereiner fürchten? Dummheit!« »Ist er fort?« fragte Zusel, die unbemerkt bis unter die Ladentüre geschlichen war. »Natürlich, warum sollte er dableiben?« »Ich glaub', er sei ins Dorf hinein.« »Ist mir gleichgültig.« »Aber mir nicht. Wenn er nun auf den Stighof geht?« »So wird Hans keine große Freude haben.« »Oh, ich auch nicht!« »Pah!« »Der Kuppler und Verführer hat uns noch gefehlt. Wenn ein anderes Haus ins Geschrei käm' wie der Stighof, dann tät's Predigten und Christenlehren geben, daß jedes Kind sie heimzutun wüßte. Ist's doch im Frühling denen von der Kanzel aus nachgetragen worden, die vor dem bestimmten Alter sich in den Jungfernstuhl machen. Hier aber will man nichts sehen und nichts sagen, wenn schon das ganze Dorf davon voll ist.« Der Krämer stand neben dem Ladentische und sann. Dann plötzlich sagte er: »Mädchen, das ist gar nicht so übel«, und ging hinaus. Am anderen Tage ging er zur Messe und dann in den Pfarrhof. Langsam schritt er durch den Garten, in dem er den greisen Pfarrer vergebens hinter schon welkenden Blumenbüscheln und Rosenhecken zu erspähen suchte. Vor der Türe band er sich noch das Halstuch fest, ordnete den Hemdkragen, nahm die Zipfelkappe ab und trat auf das einladende »Herein« herzhaft in die Stube. Der Pfarrer saß beim Frühstück und sah den seltenen Gast etwas strenge an. Doch länger als einige Augenblicke vermochte der gute Mann gegen keines seiner Pfarrkinder unfreundlich zu sein. »Es wird doch nichts fehlen, daß Ihr selbst einmal kommt?« fragte er und fuhr dann lächelnd fort: »Es ist mir lieb, daß ich mich Ihres Besuches auch wirklich freuen darf.« »Ich hätte vielleicht zu einer etwas passenderen Zeit stören sollen«, stotterte der Krämer. »Ich gehöre meiner Gemeinde zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht«, antwortete der Pfarrer. Der Krämer setzte sich auf den ihm gebotenen Stuhl und begann: »Es ist vielleicht nur eine Einbildung, was mich hertreibt; aber solche Einbildungen können oft vom Schutzengel kommen oder von den armen Seelen. Mir einmal sind in meinem Leben schon weit weniger lebhafte Vorstellungen verhängnisvoll geworden. In den letzten Tagen und ganz besonders heut' ist's mir immer ganz merkwürdig vorgestanden, ich sollte für die Seelen meiner guten Schwiegereltern doch auch etwas mehr tun, als was öffentlich und sozusagen nur anstandshalber für sie geschah. Zum Beten freilich hat unsereiner keine Zeit, drum tat ich gern für die Seligen ein Dutzend heilige Messen in aller Stille lesen lassen.« »So«, sagte der Pfarrer trocken und schritt langsam gegen den Schreibtisch. Dem Krämer war ordentlich wohl, daß der Pfarrer ihn endlich aus den Augen ließ. Der durchdringende Blick hatte ihm zuletzt beinahe die Sprache genommen. Jetzt plauderte er wieder so behaglich wie einer, der eben einer Gefahr entrann und nun jede Spur der gehabten Angst wegzulächeln sucht. »Mit meinen guten Schwiegereltern«, erzählte er, »hab' ich denn doch nicht immer im schönsten Frieden gelebt. Was konnten sie für die ererbte Denkungsart? Oh, es war gewiß nicht böser Wille, wenn sie mich meine frühere Armut und die Fehler meiner Schwester oft schmerzlich empfinden ließen. Ich ertrug das um so geduldiger, weil ich selbst noch manchen Fehler abzubüßen hatte. Ich hab' viel gelitten, aber der liebe Gott hat mich dafür gesegnet, mehr als ich hoffen konnte – viel mehr, Herr Pfarrer! Als Vater kann ich immerhin zufrieden sein – wenigstens mit dem Kinde, welches von mir erzogen wurde. Die Zusel hat freilich noch nicht alles im Kopf wie ich. Natürlich, junge Mäuse bemerken nur den Speck, ältere auch die Fallen, in welchen er liegt. Im ganzen muß ich das Mädchen loben und sagen, für dieses Alter könnt' ich sie kaum anders wünschen. Verstand und Ernsthaftigkeit kommen erst mit den Jahren, das weiß ich nur zu gut von mir selbst und muß ihr im Grund verzeihen, daß sie sich mit Mathisles Hansjörg etwas zu tief einließ. Er war eben als Ladenschneider im Haus, und man weiß wohl, daß es kein Gut tun kann, wenn Feuer und Stroh so nahe zusammenkommen. Mich hat's schon lange gewundert, daß das auf dem Stighof, wenigstens scheinbar, immer noch so gut tun kann. Verbrannte Kinder fürchten das Feuer, und ich muß gestehen, daß ich da nicht immer nur müßig hätte zusehen mögen. Die gute Alte aber scheint nichts zu merken, und der Herr Pfarrer wird leider die Wichtigkeit der Sache bisher auch noch zu wenig erkennen.« Der Pfarrer, welcher mit immer noch größeren Schritten die Stube durchmessen hatte, blieb jetzt vor dem erschrockenen Krämer stehen und fuhr diesen an: »Ich hab' in Konstanz studiert!« Der Krämer verstand den Sinn dieser Worte nur zu gut. Der alte Pfarrer hatte seine Studien schon damals vollendet, als der Bregenzerwald noch zum Bistum Konstanz gehörte. Er meinte sich ordentlich damit, kein Brixner zu sein, und ermangelte nicht, den jüngeren Geistlichen gegenüber seinen Hirscher und Wessenberg mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens zu verteidigen. So brachte er sich unter seinen eifrigen Berufsgenossen in den Ruf eines allzu freisinnigen Mannes, und bald betrachteten ihn seine Amtsbrüder nur noch so von oben herab, wie einen verirrten Führer, dem die rechte Erleuchtung fehle. Ihn aber schien das wenig zu kümmern. Lächelnd eilte er aus ihrer Gesellschaft zu seinen Büchern heim. Mit den Jahren aber erlag er mehr und mehr seinen Eigenheiten. Wenn andere Geistliche und besonders die ihm beigegebenen Kapläne das Betschwestertum großzogen, so sah er darin nur einen Schachzug gegen sich selbst, und der Ärger darüber, daß man ihn so zu unterhöhlen trachte, ließ ihn bald zu streng und bald zu milde vorgehen. Besonders stolz war er auf den unbestrittenen Ruf, daß er ein Mann des Friedens und für keinerlei Schwätzereien zugänglich sei. Es lag auch etwas von diesem Stolz in den Worten, mit denen er den Krämer und seit Jahren jeden heuchelnden und schmeichelnden Zuträger abgefertigt hatte. Der Krämer saß auf seinem Stuhle wie ein verhagelter Frosch. Er sah sich erraten, daher er denn von Stighansen und seiner Magd nichts weiter mehr sagen, sondern sich vor allem wieder selbst so gut als noch möglich aus der Schlinge ziehen wollte. Das ging wohl am besten, wenn er nochmals an den eigentlichen frommen Zweck seines Kommens erinnerte. Schon ihm selbst gab der Gedanke daran wieder eine gewisse Sicherheit, so daß er, während er die Zipfelkappe aus der Tasche zog, zwar leise, aber doch ziemlich fest zu sagen wagte: »Nun, der Herr Pfarrer muß ja seine Hirtenpflicht kennen. Messen aber für Verstorbene werden wohl auch in Konstanz gelesen?« »Ja«, antwortete der Pfarrer mit erzwungener Ruhe, »in Konstanz und überall; ob man ein paar Gulden zahlt oder nicht, wird wenig ändern. Da kommt's beim Stifter auf die Absicht an. Ist die gut, so ist alles gut; mir selbst aber schmeichelt das gar nicht, und ich mag mich durch solche Stiftungsgelder auch in keinem Kloster besonders empfehlen lassen. Wer ein Opfer bringen will, der komme mit reinem Herzen, sonst muß ich ihn bedauern. Ich will damit niemand beleidigen, aber gegen so wackere Leute wie die vom Stighof solltet Ihr niemand aufreden wollen, verstanden? Ein altes Weib kann Hans doch als Magd nicht anstellen.« »Aber –« »Gut – weiß schon, daß Dorothee Euch im Weg ist, Euer Goldfischlein unterzubringen und reichen Fischfang zu halten. Der gute Hans könnte mich wahrhaftig dauern. Er ist schon was Rechtes wert, und die Dorothee auch. – Nur nicht gemuckst! Wo die ganze Gemeinde fürs Reden und Lügen bezahlt wird, darf der Pfarrer doch auch noch etwas sagen, wenn er es umsonst tut. Der Dorothee tät ich ein rechtes Glück gönnen, aber dreinreden möcht' ich weder so noch so, denn ich hab' in Konstanz studiert –« Der Krämer war zum Pfarrhof hinaus, als ob ein Sturmwind ihn erfaßt hätte, und heim kam er, ohne etwas davon zu merken. Aber müde fühlte er sich, unaussprechlich müde, so daß er eine Weile sich erschnaufen mußte, bevor er seiner Tochter das Erlebte zu erzählen imstande war. Der Bericht wurde etwas ungenau, so daß Zusel daraus die Überzeugung schöpfte, der Pfarrer müsse von Dorotheen schon gewonnen sein. »Zum Pfarrer hätte man eigentlich gar nicht gehen sollen«, meinte sie. »Wär's aber anders gegangen, so würdest du alles jetzt dein Werk heißen«, antwortete der Krämer ärgerlich. »Beim Kaplan werden deine Freundinnen sicher das Ihrige tun. Mein Gang hat doch zuwege gebracht, daß wir wissen, woran wir mit dem alten Konstanzer sind.« »Das hätte man sich denken können.« »Nicht so leicht«, widersprach der Krämer. »Nicht viele würden Dorotheen vor dir den Vorzug geben.« Jetzt stellte sich Zusel in Gedanken zum erstenmal neben das stille, fleißige, bescheidene Kind. Sie dachte sich an den Platz des Pfarrers und derer vom Stighof und wechselte die Farbe. »Heiraten wird sie Hans aber doch nie«, tröstete der Krämer. »Da wird die alte Stigerin entschieden auf deiner Seite sein, und die ist denn doch noch mehr als der wunderliche Pfarrer.« »Mir ist Hans am meisten«, klagte Zusel. »Der sollte wollen, und sonst sollte dann meinetwegen alles dagegen sein. Ja, erst dann wär's hübsch und könnte man seine Freud' haben an einer Liebschaft. So aber, wie du die Sache nimmst, ekelt's mich ordentlich an, und ich hab's schon gesagt, daß ich keinen mag, den man mir mit Gewalt zuführen muß. Weit lieber ging ich noch heut' in ein Kloster.« »Oho!« »Ja ja, man hat mir schon gesagt, wie es dort eine mit meinen Mitteln so gut haben könnte, und der Himmel wäre gewiß.« Der Krämer kannte die Launenhaftigkeit seines Kindes zu gut, um diese Worte besonders ernsthaft aufzunehmen. Vielleicht war's auch nur ein Seitensprung, um ihn von der Hauptsache abzubringen. Das sollte aber nicht so leicht gehen. Er fragte geradezu: »Du willst also den Hans nicht?« »Eben will ich ihn, und nur daß er nicht auch will, noch lieber als ich, könnte mich zum Weinen bringen.« »Dann sind wir ja eins.« »Bei weitem nicht. Mir ist sein Vermögen ganz gleichgültig.« »Du bist halt eben verliebt. In der Ehe wird das schon wieder anders kommen.« »Verliebt bin ich nicht. Wenigstens war mir Hansjörg einmal viel lieber. Wenn nur der nicht gerade jetzt gekommen wäre, daß noch eine Weile alles beim alten bleiben dürfte. Aber ich bin im Gerede. Es muß etwas geschehen, und ich weiß nicht, was. In meinem Kopf dreht sich alles um und um. Vater, du kluger Mann, mach' mich ruhig. Du hast mir den Hansjörg genommen, nimm mir auch den Hans! Dir muß das noch viel leichter werden. Gib ihnen Geld, tu, was du kannst, daß niemand mehr von mir und von ihm und von Dorotheen rede. Tu das, oder ich werde krank und sterbe.« Der Krämer verließ unmutig die Stube, Zusel blieb allein. Aber schon einige Minuten später schlich eine ihrer Freundinnen, die Köchin des Kaplans, so leise zu ihr herein, daß Zusel sie erst bei ihrer leisen Anrede erschrocken auffahrend wahrnahm. »Ich hab' dir nur noch geschwind etwas erzählen wollen«, flüsterte die Betschwester. »Ich dir auch«, sagte Zusel etwas unfreundlich. »So erzähle nur, ich muß gleich wieder gehen, damit mich niemand hier sieht.« »Man darf dich hier schon sehen.« »Aber so erzähle doch«, drängte die Köchin. »Wir haben die arme Dorothee denn doch zu sehr ins Geschrei gebracht. Es könnte sie leicht den Dienst kosten, wenn einmal die alte Stigerin etwas davon erfährt.« »Das soll es auch«, fuhr die Betschwester auf. »Wenn du auch erkalten solltest im frommen Eifer, die Mitglieder des Dritten Ordens, den der Kaplan selbst errichtete in diesem Dorfe, haben sich der Sache kräftig angenommen, und dir winkt die Siegespalme schon auf Erden, wenn du nicht wankst. Dorothee ist eine Sünderin, und die Mutter unseres Ordens, bei der du sehr wohlan bist, hat unter den Schwestern ein tägliches Gebet für sie und um Ausrottung des Ärgernisses angeordnet. Das wird wirken.« »Ist Dorothee denn auch im Orden?« »Keine Rede, aber wir haben die Pflicht, für große Sünder und für Bedrängte zu beten.« »Dann betet nur auch für mich!« »Warum nicht gar! Das würde dich gleich in ein böses Gerede bringen.« »Wie denn in ein Gerede?« »Man hat so seine Gedanken über die, für welche man betet, und es gibt viel zu viele, die diese Gedanken, die man natürlich nicht immer für sich selbst behält, zu erhorchen wissen. Aber um so fruchtbarer ist unser Gebet. Ich will dir zu deiner Aufrichtung nur ein einziges Beispiel erzählen. Unser jetziger Pfarrer war in der ganzen Gemeinde seiner Lauheit wegen beliebt, und es schien unmöglich, die Leute darauf zu bringen, daß etwas nicht in Ordnung sei, da ja Frieden und Eintracht herrschte. Lachte doch noch fast alles mit, als er die ersten Schwestern unseres Ordens ihrer vielen Kommunionen wegen Tabernakelmäuse nannte. Nun, wer zuletzt lacht, der lacht am besten. Wir begannen, für ihn um Erleuchtung und einen christlichen Eifer zu beten, und schon steht er ziemlich ohne Einfluß, wie gefällig er sich auch gegen jedermann zeigt. Nur noch der Doktor, die Zeitungsleser und einige Fremdler stehen auf seiner Seite. Der verspottete Kaplan aber ist zu Ehren gekommen in der Gemeinde, bei den anderen Geistlichen und auch beim Bischof, der dem guten Manne, von Haus aus blutarm und niedrig, seinen Eifer noch auf dieser Welt belohnen kann. Soviel vermag unser Orden selbst gegen den Pfarrer.« Zusel hatte erstaunt zugehört. Von dem vielen Gehörten war ihr nur noch eines ganz klar, daß der Pfarrer nicht den rechten Eifer habe. Sie sagte: »Was du erzählst, kommt mir fast wie ein Wunder vor.« »Das ist es auch.« »Daß ihr aber recht habt, weiß ich wegen dem Pfarrer. Daß der manches zu leicht nimmt, haben wir selbst erfahren. Es ist wohl recht, wenn man dem auf die Finger klopft.« »Und die Dorothee sollten wir schonen? Du willst Hansens arme Seele nicht retten?« »Laß mich darüber nachsinnen.« Die Köchin stand auf, öffnete die Tür und fragte zurück: »Wir haben für dich angefangen, sollten wir gegen dich enden?« »Wer so viel kann, muß recht haben. Ich gehe in Gottes Namen mit und will das Meine tun«, antwortete das Mädchen langsam mit bebender Stimme. 12. Kapitel Zwölftes Kapitel Eine Versöhnung Während wegen Stighansen soviel geredet, vermutet, gehofft, gewünscht und gefürchtet wurde, bewegte dieser sich arglos in Haus und Feld. Recht aufpasserische Nachbarinnen freilich wollten behaupten, das Gerede über ihn und seine Magd mache ihm weit mehr Kopfarbeit, als er sich anmerken lasse. Sonst hab' er immer mit Dorotheen gesungen, schon am frühen Morgen, und in der ganzen Nachbarschaft habe man keinen Menschen früh zu wecken gebraucht. Jetzt aber bleibe den ganzen Tag alles still, und man könne leicht auf den Glauben kommen, daß Hans kein gutes Gewissen habe. Etwas jedenfalls müsse ihm über das Leberlein gekrochen sein, da man ihn auch nie mehr neben Dorotheen arbeiten sehe, neben der er sonst in der letzten Zeit noch gewisser als ihr Schatten gewesen. Wer aber Hansens kräftige, gedrungene Gestalt so sicher und gleichsam stich- und kugelfest in den wenigstens achtpfündigen Holzschuhen unter der breiten Stalltüre sah, mit dem stolz aufgerichteten Krauskopf ob den beiden lateinischen roten H, welche die Hosenträger mit den breiten Querbändern über Brust und Rücken auf dem blauen Werktagshemde bildeten, der verließ den beinahe trotzig und doch auch wieder so gutmütig unter schwarzen Lockenrädern herausblickenden Burschen mit der festen Überzeugung, daß dem noch nichts aufs Leben oder auch nur bis an die Haut gekommen sei. Unter dem, was ihm jetzt Sorge machte und was allenfalls für Minuten seinen Humor verderben konnte, war das Gerede wegen seinem Verhältnisse mit der Magd ganz hinten dran. Gehört hatte er allerdings davon und sich etwa eine Viertelstunde darüber geärgert, weil möglicherweise doch auch die Mutter davon hören konnte, die in diesem Stücke sehr streng war. Aber dann konnte er sie ja fragen, warum denn das Mädchen am Kirchweihtag so ganz gegen alle Art von seiner Seite weg und dem händelsüchtigen Knechte nachgelaufen sei. Gewiß, mit diesem konnte er die Mutter beruhigen, viel besser beruhigen als sich selbst. Ihn wurmte dieser Streich noch immer recht gewaltig, und das Gerede von einem heimlichen Liebesverhältnis mit Dorothee kam ihm fast wie ein Hohn vor. Das war für ihn eine Demütigung, welche sogar die schöne Zusel nicht wegzulächeln vermochte; ein Schlag für sein Herz, der ihn schon genugsam dafür gestraft hätte, daß er den Knecht so ganz sich selbst und seinem traurigen Schicksal überließ. Und doch kam etwas noch viel Ärgeres. Jos, der kluge, unentbehrliche Jos, der Ratgeber und Helfer in allen Fällen, war arbeitsunfähig geworden und mußte daheim liegen in der unruhigen, peinlichen Zeit der Viehmärkte, wo es auf dem Stighof so viel zu tun und zu sinnen gab. Das blieb jetzt Hansens schwerste Sorge, weil es die nächste war. Sie konnte diese breite, hosenträgerumpanzerte Brust recht schwer drücken, wenn er ratlos vor einem listigen Viehhändler stand, welcher die Bäche aufwärts schwätzen zu können schien. Jetzt erst fühlte er, was das verteufelte Bürschchen war, und viel leichter als sich selbst seine Untätigkeit verzieh er ihm, daß es das Köpfchen auch einmal ein wenig hatte aufrichten wollen. Jetzt stand Jos bei ihm zu hoch, als daß er noch hätte Unrecht auf Unrecht häufen und einen der vielen Burschen anstellen können, die ihm unter den vorteilhaftesten Bedingungen ihre Dienste antrugen. Er wollte sich, bis Jos wieder ein wenig hergestellt war, mit Taglöhnern behelfen. Freilich lebten die sich weniger in alles hinein, was zum Hause gehörte, als ein Knecht, ließen auch eher dies und jenes außer acht; aber ob jetzt hundert Gulden mehr oder minder aufgingen, kam weit weniger in Betracht als die Ehre des Stighofes, die es soweit als möglich zu retten galt. Unter Ehre denkt man sich sehr verschiedenes. Fast jede Lebensstellung bildet dafür ein eigenes Gefühl; doch überall wird schließlich die Frage entscheidend, ob es dem Menschen um das Sein oder nur um den Schein zu tun ist. Im ersteren Falle findet er die Befriedigung seines Ehrgefühls in der Ruhe des Gewissens, die ihn bei allen äußeren Stürmen aufrechterhält, im anderen kann ihm nur Kühnheit oder der Zufall und die Blindheit der Menge, die nur dem Scheine folgt, dazu verhelfen. Hans dachte nie daran, daß das Gerede wegen der Magd seiner oder der Ehre des Hauses weh tun könne, weil er sich Dorotheen gegenüber nichts vorzuwerfen hatte, als was er nun selbst büßen mußte, nämlich die stolze Trägheit, mit welcher er den trotzigen Knecht in seiner üblen Laune ganz dem Schicksal überließ und schließlich durch sein ungeschicktes Auftreten zum Äußersten trieb. Wenn er hören mußte, er habe dem Knechte nicht geholfen und sei sogar noch gegen denselben im entscheidenden Augenblicke aufgetreten, weil er, wie Jos ja selbst deutlich genug verraten, den lästigen Nebenbuhler nicht nur habe entfernen, sondern auch demütigen wollen, so tat ihm das weit weniger weh, als wenn man sagte, er habe den Knecht verlassen, wo er mit einem Worte den Frieden hätte herstellen können, und der Beweis wäre nun geliefert, daß er selbst neben dem betrunkenen Jos noch der Dümmere sei. Das hatte Hans von einigen Freunden des ehemaligen Schneiders hören müssen, und das schnitt furchtbar tief ein. Entschuldigt freilich war Jos damit noch nicht. Das Bürschchen tat damals viel zu stößig und war zu sehr obenauf. Es tat gar nicht wie gewöhnlich und war kaum noch für den klugen Jos zu erkennen. Wer aber konnte das so gut wissen als Hans? Jeder hat einmal seine schwache Stunde, und wer soll ihn dann ertragen und zurechtweisen so gut als möglich, wenn nicht die, die ihn besser kennen? Dorothee hatte das auch gesagt, und er, zu redlich, um seine Fehler hinter fremde zu verstecken, ließ ihr ohne Widerrede vollkommen recht; nur meinte er, daß eine kleine Demütigung dem Jos denn doch nicht übel getan hätte. Er sagte das an dem Morgen nach der Kirchweih, als er die Magd in der Küche traf, und hatte dabei schon etwas Schlaf in den Augen. Der aber verging ihm, als das Mädchen sich hart vor ihn hinstellte und sagte: »Weißt du nicht, daß einem leicht Seifenschaum in die Augen kommt, wenn man ihn mit Gewalt weißwaschen will? Warum soll gerade er, der Fleißige, Durchtriebene, Unermüdete, von dessen Kraft und Kühnheit du und dein Hof das ganze Jahr zehren, an dem Tage gedemütigt werden, an welchem ihr alle euch in euerer Herrlichkeit zeigt und mit allem prahlt, was ihr habt?« Hans eilte aus der Küche, als ob er fürchte, die aufgeregte Magd könnte ihm mit einem Topf voll siedenden Wassers nachstürmen. Das war aber auch alles, was die beiden in der Woche nach der Kirchweih über diese Geschichte miteinander redeten. Sie redeten überhaupt nicht mehr, als die Verrichtung der täglichen Arbeiten unumgänglich notwendig machte, und die Nachbarinnen hatten nicht ganz unrecht, wenn sie behaupteten, daß die beiden sich mit solchem Fleiß mieden, als sie sich in den Wochen vor der Kirchweih gesucht hätten. Das Unglück des armen Jos, den Dorothee jeden Abend besuchte, und seine unsicher gewordene Zukunft mit der seiner vielgeprüften Mutter machten dem Mädchen um so mehr Kopfweh, da es selber sich nichts vorzuwerfen hatte. Wenigstens in den ersten Tagen nicht. Nach und nach aber war denn der armen Magd nicht mehr recht wohl neben dem immer mürrischeren, immer schweigsameren Hans. Das Gefühl der Abhängigkeit begann ihre Teilnahme für Jos zu schwächen und sie immer schwerer, immer schmerzlicher zu drücken. Auf dem Stighofe hielt man sie so, daß sie kaum anders einmal an ihre Stellung gegenüber den Besitzern dachte, als wenn sie den außerordentlich großen Jahreslohn empfing. Dann war sie gerührt von so großer Güte, und mit tausend guten Vorsätzen ging sie gleich an ihre Arbeit, um wenigstens so vieler Wohltaten sich nicht unwert zu zeigen. Dieses Abhängigkeitsgefühl konnte aber bei so liebevoller Behandlung um so weniger lange dauern, da nur kindliches Pflichtgefühl sie noch an die Heimat am Argenstein fesselte, seit die Mutter einem jahrelangen Leiden erlag. Wohl trug sie dem alten, geldgierigen Vater und der kränkelnden Schwester jeden verdienten Kreuzer zu, ja sie versagte sich noch manches, um ihnen einen frohen Tag machen zu können, was, wie sie wußte, mit Geschenken immer gelang; aber sie lieben, so recht gern haben und alles vor ihnen abschütteln, was drückte, das konnte sie nie. Es fehlte ihr Achtung und Vertrauen, doch wagte sie sich das nie zu gestehen und errötete vor sich selbst bei der Frage, was denn in der engen, heißen Stube ihr so die Brust beklemme und sie immer fast mit Gewalt hinaus und auf den Stighof zurücktreibe. Um sich wenigstens dem Vater gegenüber zu entschuldigen, hatte sie ihm einst gestanden, daß sie sich eigentlich nicht mehr am Argenstein, sondern auf dem Stighof in den seit mehr als fünfzehn Jahren gewohnten Verhältnissen recht und ganz daheim fühle. Eine kleine Strafpredigt oder wenigstens einige Klagen über dieses Geständnis hätte das Mädchen entschieden viel lieber gehabt, als sie das Lächeln sah, mit welchem das Mathisle sein kurzes: »Schon gut, ganz recht!« begleitete. Von jetzt an ward es ihr immer noch heißer in des Vaters kleiner Stube, in welche sie jedoch kaum noch jedes Halbjahr zu kommen pflegte. Was nun aber, wenn sie mit Hansen nicht mehr einig wurde, wenn er es ihr immer nachtrug, was sie gesagt und getan, als er einmal nicht gerade ihr zum Dienst gehandelt hatte? Am ersten Tage nach der Kirchweih antwortete sie sich auf diese Frage ganz kurz, sie könne auch anderwärts ihr Brot verdienen. Bei ruhigerer Überlegung jedoch war sie mit dieser Antwort in keiner Weise mehr zufrieden, obwohl sie keine andere finden konnte. Wenn sie an den Vater, an ihre Pflicht gegen ihn und die Schwester dachte, mußte sich sich sagen, auch Jos hätte an seine Mutter denken und sich anders benehmen sollen. Erst seit Hans so mürrisch an ihr vorüberschoß, wußte sie recht, wie gut er sonst immer war. Nur einmal hatte er sich so gegeben, daß sie ihn kaum noch kannte; aber wenn er am Kirchweihtag den Knecht seine Unzufriedenheit empfinden ließ, und mehr tat Hans ja eigentlich nicht, so war das noch immer weit eher in der Ordnung, als wenn sie dann Hansen, ihren größten Wohltäter, darum öffentlich tadelte. Dem Mädchen ging's wie ein Stich ins Herz, wenn es dem mürrischen Burschen begegnete, denn es hatte keine Ahnung, daß oft nur seine Ratlosigkeit wegen einem Kuhhandel ihm die Stimmung verdarb und daß er überhaupt sich selbst noch weit mehr vorzuwerfen habe als ihr, die ihn eigentlich nur mit sich selbst noch unzufriedener gemacht hatte. Am Sonntage nach der Kirchweih ging Hans wie jeden Sonntag, wo die Hitze während des Nachmittagsgottesdienstes ihn durstig machte, in die Kronenwirtschaft, die des guten Bieres wegen besonders berühmt war. Kaum hatte er sein Glas vor sich, als auch der Krämer, hier ein etwas seltener Gast, sich neben ihn hermachte und von allem redete, was er von der Kirchweih mit heimgebracht hatte. Der Mann wurde dabei so lang und breit, wie vielleicht kaum den vertrautesten Freundinnen gegenüber ein Mädchen, welches da zum erstenmal im Leben auf dem Tanzplatz aufgeführt wurde. »Recht lustig«, schloß er endlich laut und beinahe feierlich, »prächtig ist alles gewesen. Jede Stunde, jede Minute ein neues Vergnügen. Ich hab' noch keine solche Kirchweih erlebt, und doch weiß jedermann, daß ich schon weit in der Nähe herumgekommen bin. Musik, gute Weine, ordentliche Bedienung, nun, das sind so Sachen, die unsereiner immer und überall findet, aber seltener trifft sich's, daß ganz die rechten Leute sich zusammenfinden. Da wurde denn doch einmal mit dem Gesindel gehörig aufgeräumt. Lächerlich noch zu allem Unfall ist dem Jos gegangen.« »Wenn etwas an der ganzen Geschichte noch lächerlich sein sollte«, betonte die Wirtin streng, »so wär' das gewiß nur der Umstand, daß ein Mensch so ganz zum Krämer wird, daß er auch Menschen verhandeln und umtauschen will wie Tuch und Mehl um einen Heustock.« Hans hatte unwillkürlich die Augen geschlossen wie immer, wenn ein unerwartetes Wort ihn wie ein Schlag traf, den er wehrlos hinnehmen mußte. Er sah nicht mehr, wie aller Blicke sich auf ihn richteten, aber er fühlte es ebensogut, als er den Hieb der Wirtin auf den Heustock gefühlt hatte. Die schon mitgebrachte üble Laune hatte ihn viel empfindlicher gemacht, als er sonst gegen derlei Bemerkungen zu sein pflegte. Gewöhnlich mochte Hans mit jedem Menschen sich gern unterhalten, und über einen guten Einfall konnte er herzlich lachen, ohne zu fragen, von wem er sei. Mancher wohlhabende Wälder kümmert sich vor allem um Stand und Vermögen seines Gesellschafters, damit er einen Maßstab für die Länge und Vertraulichkeit der Unterhaltung gewinne. Hans aber pflegte nur seinem Gefühle zu folgen. Er konnte jeden sogleich verlassen, der ihm nicht paßte, sobald er irgendwo Besseres wußte; nur heute, als der Krämer zu ihm her katzenbuckelte, blieb er trotz dem in ihm sich regenden Widerwillen wie angenagelt sitzen. Das vom Krämer gebrauchte Wort »lächerlich« machte ihn schwach und empfindlich für die Zurechtweisung der Wirtin, welche er ganz bestimmt erwartet hatte. Nein, lächerlich war's nicht, was dem guten Jos begegnete, als er, zu bescheiden, um gegen den Brotherrn aufzutreten, sich so gut als noch möglich durch die Flucht aus der Sache wickeln wollte. Die Wirtin hatte – wie gewöhnlich – ganz recht, daß sie den herzlosen Mann gehörig abtrumpfte und auch daß sie ihn, Hansen, einen Heustock nannte. Ja, er war wirklich der träge, dumme Heustock gewesen, heute aber wollte er der um keinen Preis mehr länger sein. War auch der Wirtin nicht ganz zu entrinnen, so wollte er denn doch ihre Predigt nicht mit dem Krämer anhören; besonders da nicht mehr, als der, statt seine frühere Rede zu verbessern, ganz trocken sagte: »Dir, du strenge Predigerin, würde die Geschichte schon auch lustiger vorgekommen sein, wenn sie unter deinem Dach und bei deinem Weine sich zugetragen hätte.« Solche Krämerantwort auf einen so gegründeten Vorwurf war Hansen in seiner jetzigen Stimmung gerade, was er noch brauchte, um rasch aufzustehen und vom vollen zweiten Glase wegzugehen. Wenn er auf der steinernen Stiege vor dem Hause nur ein bißchen stillgestanden, so hätte er hören müssen, wie scharf die Wirtin dem Krämer auseinandersetzte, daß sie ihr Geschäft eigentlich nur aus Liebhaberei betreibe. »Wär' ich nur wegen dem lieben Profitchen da«, sagte sie, »und wär' mir das, wie dir, das Gewissen und alles, dann müßt' ich ja jedem schmeicheln und streicheln, wenn ich ihm auch viel lieber mit Feuer in den Pelz fahren tät'. Ich ehre aber und achte mein Geschäft, drum soll es auch mich ehren und nicht etwa meine beste Tugend, meine Offenheit, von mir zum Opfer fordern. Wenn du nun noch nicht merkst, wie unberechnet ich bin und wie gleichgültig gegen den Gewinn, den mir gewisse Leute bringen, so sollst du das noch heut, noch diese Stunde von mir erfahren.« Der Krämer schien aber schon genug zu haben. Er saß so demütig und still bei seinem Glase, daß die Wirtin ihre Heftigkeit beinahe bereute und etwas unwillig über sich selbst die Stube verließ. Sie glaubte, dem Manne denn doch gar zu rauh gekommen zu sein, weil es ihr nicht einfiel, daß ihre Auseinandersetzung es weit weniger sei als Hansens schnelles und ganz unerwartetes Fortgehen, was ihm jetzt sichtlich Kopfarbeit machte. Hans würde jetzt weit weniger bald schwach und mitleidig geworden sein als die Wirtin. Ja zum Lachen hätte ihn der Anblick des sonst so großen Mannes bringen können, der stumm dasaß, mit den mageren Fingern einen langsamen Marsch trommelte und den Takt dazu ächzte. Aber Hans sah und hörte jetzt in dieser Gegend nichts mehr. Heim lief er, als ob ihm der Kopf brenne, und die schwere Haustür schlug er hinter sich zu, wie wenn zu weltewigen Zeiten ihm kein Mensch mehr nachkommen sollte. Die Stube fand er brütig heiß, die Pfeife wollte nicht ziehen, und der Kaffee war so schlecht, daß er Dorotheen ernstlich darum tadeln wollte. Doch da sagte ihm die Mutter, er sollte wissen, daß die sogar am Werktag in jeder freien Minute beim Jos drunten stecke, geschweige denn am Sonntag, wo Krankenbesuch sogar vom Pfarrer als gutes Werk empfohlen sei. Ja, ja, das war richtig! Hans empfand etwas wie Eifersucht. Aber das ihn quälende Gefühl war doch ganz ein anderes, als da er die Angelika zuerst mit dem leichtsinnigen Andreas vertraulich tun sah. Damals fuhr ein rechter Ärger über die böse Welt in ihn, jetzt aber war's ihm, als ob der Boden unter seinen Füßen weiche. Er vermochte sich nicht mehr auf der Höhe zu behaupten, die die Mutter ihm damals mit Erfolg als seinen Platz anwies. Wie vernichtet stand er da und sann eine Weile. Dann verließ er das Haus, und als ob es an eine Feuersbrunst ginge, eilte er der Wohnung der armen Stickerin und ihres kranken Sohnes zu. Auf der hinteren Bank, hart neben dem wohlgepflegten, lieblich duftenden Rosmarinstock, war dem Jos das Bett gemacht worden, so sauber und nett, daß es mit dem Rosmarin zu seinen Füßen und dem Glase voll hochstengeliger Feld- und Gartenblumen beinahe einem Altar der Mutterliebe glich. Dem Eintretenden war's wirklich nicht anders, als ob er in die Kirche komme zum Beichten. Jetzt erst begann er sich vorzustellen, was alles diese guten Leute leiden müßten. Er verstand auf einmal, was es bedeute, daß die Mutter auch das Kreuz aus dem Tischwinkel genommen und ob dem Leidenden zwischen zwei Heiligenbildern aufgehängt hatte. Die Arme wollte ihn mit allem umgeben, was je sie getröstet oder auf andere Gedanken gebracht hatte. Konnte das etwas nützen, wie schön es auch war? Oh, gewiß nicht viel! Hans wenigstens gestand sich, daß ihm schon die wohlgepflegten Pflanzen zuwider sein würden, wenn sie ihn immer ans Freie erinnerten, während er keinen Augenblick aus dem Schatten könnte. So da liegen und in den schönen Sommertagen sich nicht regen und nicht bewegen dürfen, leiden wie ein angebundenes Tier, dabei auf Gnad' und Ungnade sich dem Doktor mit seinen scharfen Messern und Binden und dem Schicksal überlassen wie die Katze im Sack, schon das – und es wollte Hansen noch immer mehr einfallen – war so ganz gegen seine Natur, quälte ihn schon als Vorstellung so, daß er augenblicklich kein Wort der Anrede finden konnte. Er hatte eine so peinliche Empfindung wie früher in der Schule, wenn unvermutet ein Knabe mit eisernem Nagel über eine Schiefertafel fuhr. »Guten Abend«, brachte er endlich mit Mühe hervor und war nicht wenig erstaunt, daß Jos so freundlich, ja gerade heiter zu antworten und seinen Gruß zu erwidern vermochte. Etwas erklärlicher allerdings wäre ihm das geworden, wenn er sich gleich anfangs weit genug in das Stübchen hineingewagt hätte, um auch Dorotheen erblicken zu können, die schweigend im hinteren Ofenwinkel gerade dem Jos gegenübersaß. Doch wenn er auch die gesehen, wenn er sich in der Aufregung noch an die Worte seiner Mutter erinnert hätte, alles, was in diesen Menschen vorging, wäre ihm doch noch nicht begreiflich geworden. Wo so ein verwöhnter Hans nichts mehr vermutet und nichts mehr sucht, da finden arme Leutlein das Beste, denn gerade da offenbart sich recht der Schatz der heiligen, reinen, selbstlosen Mutterliebe, welcher in dem Grade wächst, wie das launische Glück seine Gaben zurückzieht. In der Hütte der Armut, wo sie so viel Platz hat, da waltet sie allein und beinahe allmächtig, so daß es schwer zu beschreiben und doch jedem leicht begreiflich zu machen ist, der dabei selbst an eine liebe Mutter denkt. Als Jos damals das Durcheinander von der Kirchweih in Gedanken etwas erlesen hatte und mit sich so gut als eben möglich eins geworden war, begann ihn die Vorstellung zu quälen, daß er nie mehr der Mann zu einem gehörigen Tagwerk werde, um sich und die Mutter wenigstens vor der äußersten Not zu schützen. Jedes freundliche Wort der Guten ward ihm ein Vorwurf, jede Äußerung ihrer Teilnahme, ihres Mitleids traf den von eigenen Vorwürfen nicht Freien viel schmerzlicher als der bitterste Tadel. Aber wie so viele Liebe und Sorgfalt ihn auch beschämten, er vermochte doch nicht lange zu widerstehen. Es war, als ob er das Herbste, Drückendste allmählich wegbrächte in stillvergossenen Tränen, die er jetzt häufiger fast als in seinen Kinderjahren weinen mußte. Es tat ihm wunderbar wohl, sich mitten in seiner Armut so reich und bei seinen großen Fehlern so innig geliebt zu wissen. Er ward demütig von Herzen, und drum trug er leichter die Last, die er nun einmal zu tragen hatte. Wenn die Mutter neben ihm bei der Stickerei saß und so vertraulich mit ihm plauderte, war es ihm oft, als ob die schönste Lebenszeit, die der Knabenjahre, wieder gekommen und alles seitdem Erlebte nur ein Traum sei. Wirklich war er auch wieder weich und fromm und fügsam wie damals, wurde auch wie ein Kind behandelt, und nur der Gedanke an die Zukunft schlich wie ein düsterer Schatten durch seine schönen Träume. Es war auch die Zukunft der Mutter! Er war zu bedauern, und die Stickerin neben ihm auch, wenn ihm solche Gedanken kamen, und sie kamen immer häufiger. Die Mutter fand kein Wort, sie zu bannen, Dorotheen aber war das schon durch ihr Erscheinen, wenn auch ohne Wissen und Willen, gelungen. Hätte er auch auf ihre Fragen nach seinem Befinden eine betrübende Antwort geben können? Es war ihm doch recht wohl jetzt, und es gab Augenblicke, wo er sich sagte, Dorotheens Teilnahme sei schon wert, daß man sie durch ein Leiden errege. Es ging auch sonst gleich alles besser, als er im ersten Schrecken gefürchtet hatte. Seit der Doktor das Bein wieder einrichtete und verband, fühlte er oft so lange gar keinen Schmerz, bis er sich vergaß und zu unruhig wurde. Aber Dorothee redete ihm darum so eindringlich zu, daß er dann selbst im Traume noch daran denken zu können glaubte. Nur als Hans kam, hatte er unwillkürlich aufspringen wollen. Aller Groll gegen ihn war vergessen, und heiter fragte er den reichen Arbeitgeber, der den Türnagel noch immer nicht aus der Hand gelassen hatte: »Du wirst endlich sehen wollen, wie lang der Knecht braucht, bis die Kirchweih gehörig ausgeschlafen ist?« »Ja, es ist eine schlimme Geschichte«, antwortete Hans, der in des Knechtes heiteren Ton nicht überzugehen vermochte, etwas unbeholfen. Ihm kam die freundliche Frage ganz unerwartet und beinahe auch unerwünscht. Hätte Jos den Mürrischen gemacht und ihn am Ende tüchtig ausgescholten, so würde er ihm schon auch gesagt haben, wieviel an dem Unglück auf Josens eigene Rechnung komme. So aber konnte Hans nichts tun als dastehen wie ein armer Sünder und sich schämen. Einen Augenblick bedauerte er wirklich, daß er nicht lieber beim Krämer in der Krone geblieben war. Dann aber schritt er ans Bett heran, erfaßte die Hand des Knechtes und rief: »Sind doch wir beide wieder einmal Narren gewesen! Dorothee hat –« Hans hatte erst in diesem Augenblick die Genannte im Ofenwinkel erblickt und hielt nun verlegen inne. »Was hast du denn von der gleich erzählen wollen?« fragte das Mädchen. »Nun«, murrte Hans, »du solltest mich gut genug kennen und mich für keinen Verleumder halten. Da hättest du gar keine Sorge haben, ja nicht einmal kommen müssen.« »Ich bin ja schon vor dir dagewesen«, trotzte das Mädchen. »Dich«, fuhr es dann halb im Scherz und halb im Ernste fort, »dich haben wir beim Krämer vermutet, und daß der keinem Menschen zu nahe tritt, ist bekannt genug. Also nichts für übel!« Durch diese Worte ward Hans wieder an die heutige Rede des Krämers erinnert, die ihm diesen jetzt noch mehr zuwider machte. »Nein«, sagte er, »mit dem laß mich gehen, wenn du das von Dorotheen noch hören willst.« »Nun, ich bin ja still und höre.« »Dorothee hat – aber nein, das sag' ich nicht mehr.« »Der Krämer«, ahmte das Mädchen Hansens Redeweise nach. »Nur still und laß mich: Dorothee–« Der beiden Blicke waren sich freundlich begegnet. Sie mußten laut lachen, und Jos und die Schnepfauerin lachten mit. »Dorothee«, begann Hans nun herzhaft, »hat ganz recht gehabt, als sie mir am letzten Sonntag tüchtig den Marsch machte.« »So,« spottete das Mädchen, »und dieses Bekenntnis hätte man fast mit Winde und Hebstange heraufholen müssen?« »Nun ist's da, und du kannst machen damit, was du willst.« Das Mädchen war hocherfreut, nun Hansen doch wieder freundlich zu sehen. Sogar Jos, der zuweilen schon selbst nicht ungern ein wenig zwischen die beiden geworfen hätte, fühlte sich erleichtert, als er eine schwere Sorge des Mädchens, auch aus seinem ungeschickten Benehmen erwachsen, wieder schwinden sah. Er nahm an den nun folgenden Gesprächen so lebhaften Anteil, daß ein nur Hörender ihn für den Gesundesten unter allen gehalten hätte. Es war ihm auch wirklich noch selten an einem Sonntage so herzlich wohl gewesen. Nur als Hans und Dorothee die Stube verlassen hatten und er sie von seinem Lager aus hart nebeneinander dem stolzen Stighofe zuschreiten sah, zog etwas wie eine Wolke über sein ausdrucksvolles Gesicht, und der Fuß begann recht weh zu tun, gerade als ob das in den letzten Stunden Versäumte und Verplauderte sogleich wieder eingebracht werden müsse. 13. Kapitel Dreizehntes Kapitel Eine Unterredung im Herrenstüble Die Unterhaltung mit Jos war so lebhaft, daß Hans dabei ganz vergaß, er habe einen Kranken besuchen wollen. Dachte er doch nicht einmal mehr daran, den Knecht zu fragen, ob er auch so bald als nur menschenmöglich wieder auf den Stighof zu kommen entschlossen sei. Das kam wohl zum Teil davon, weil das Benehmen des Burschen eine solche Frage wirklich fast unnötig erscheinen ließ, hauptsächlich jedoch unterblieb sie darum, weil Hans jetzt um den Jos besorgter war als um sich selbst. Daheim war ihm das ärgste an der Geschichte gewesen, daß er dem geschickten Knechte unrecht tat und ihn nun missen sollte; nun aber begann er sich dessen angebundenes, sorgenvolles Leben zwischen den engen vier Wänden vorzustellen, und dagegen war nur eine Kleinigkeit, was seit der Abwesenheit des unersetzlichen vertrauten Nothelfers ihn gedrückt und beunruhigt hatte. Erst jetzt ärgerte er sich recht über den Krämer, welcher die Stirn hatte, das lächerlich zu nennen. Im Heimgehen machte er seinem Herzen etwas Luft. Die Magd war erstaunt, ihn gleich einer eifrigen Betschwester, die mit der ganzen bösen Welt im Kriege lebt, am Krämer und seinem falschen Kätzchen herumtadeln zu hören. Dorothee mochte die Zusel auch nicht besonders wohl leiden, aber endlich ging ihr denn Hans doch gar zu weit, und beinahe bittend empfahl sie ihm Maß und Billigkeit in Lob und Tadel. Besonders betonte sie, daß man einem Menschen seiner Eltern und Verwandten wegen nichts geben und nichts nehmen dürfe, was er nicht selbst von ihnen habe. Das aber war von Hansen gar zuviel gefordert gegenüber einem Mädchen, welches er sich vergebens mit Gewalt aus dem Kopfe bringen wollte. Zusel hatte denn doch zu viel von ihrer älteren Schwester, als daß sie ihm ganz gleichgültig hätte bleiben können. Wie mit Gewalt zog es ihn immer wieder zu ihr, aber dabei hatte er stets das Gefühl, daß das Mädchen ihn um den Frieden mit sich selbst bringen, ihn unglücklich, ja sogar schlecht machen werde. Er empfand das am lebhaftesten, als er aus dem Hause des Jos kam, gegen den auch nur die Zusel aufgehetzt hatte. Darum stellte er alles in bunter Reihe vor sich auf, was er über das Mädchen wußte oder gehört hatte, in dem guten Glauben, sich schließlich dahinter gegen sie verschanzt und sicher zu machen. Hans sagte sich sogar, daß Zusel mit der stolzen Gestalt ihrer Schwester gleichsam sein böser, die etwas strenge, dabei aber doch so demütige Dorothee dagegen sein guter Engel sei. Unter dem Worte Engel aber dachte er, wie wohl jeder Bregenzerwälder, an ein ungemein ernsthaftes, strenges Wesen, und neben dem Mädchen war ihm auch wirklich beinahe zumute wie einem Feiertagsschüler neben dem Pfarrer. Er nahm daher Dorotheens Zuspruch hin, ohne viel darauf zu erwidern. Daheim wurden ihm die Stunden bis zum Abendessen so lang, daß er Gott von Herzen dafür dankte, daß es nun wieder sechs Tage zum Arbeiten gab, ehe man abermals einen langweiligen Sonntag erleben mußte. Er arbeitete wieder so oft als möglich neben Dorotheen, obwohl jene Scheu gegen das Mädchen immer noch nicht ganz überwunden war. Am Abende jedes Tages schickte er sie selbst, sich nach dem Befinden des Knechtes zu erkundigen. Es wollte ihm fast zu lang immer beim alten bleiben, und als es wieder Sonntag wurde, suchte er im Herrenstüble beim Rößlewirt den Doktor auf, um sich ernstlich nach dem Stande der Dinge zu erkundigen und, wenn's möglich war und er sich's ordentlich vorzubringen getraute, dem Arzte etwas mehr Fleiß zu empfehlen. Doch mit solchen Herren wußte er nicht gut umzugehen. Was er sagen wollte, konnte er allerdings ganz gut vorbringen, aber die gestellten Fragen brachten ihn dann gleich in Verlegenheit, weil er sich darauf eben gar nicht vorbereiten konnte. Sonst wurde Hansen nicht so leicht bang. Er machte, so gut er konnte, und dann ging's. Geschlittet oder mit dem Wagen galt ihm gleichviel, wenn er nur ans Ziel kam, und das gelang noch immer. Wenn's schwer hielt, trank er vorher zwei Schoppen Tiroler, und dann war er der Mann. Wie? Sollte das nicht auch vor einer Unterredung mit hochgestellten Herren gut sein und die Zunge beweglich machen wie sonst? Den Versuch war's jedenfalls wert, und wenn's nun gelang, dann sollte noch einer kommen und sagen, daß er niemals einen klugen Einfall habe! Er dachte schon daran, künftig sogar der Mutter diese Behauptung nicht mehr unbestritten zu lassen. Siegesicher trat er erst in die Gaststube und machte sich mit einem Eifer an den ersten Schoppen, daß bald auch der zweite geholt werden mußte. Mit einer Beredsamkeit, die den funkelnden Inhalt der Gläser lobte, erzählte er der Wirtin im Vertrauen, was er vorhabe, und war nicht wenig erstaunt, für seinen Einfall kein besseres Lob davonzutragen. Die gute Frau wollte ihn durchaus nicht mehr ins Herrenstüble lassen, doch war es unmöglich, den immer Aufgeregteren zurückzuhalten. Mit der Zipfelkappe in der Hand trat er ein, setzte sich, und ohne die übrigen Anwesenden zu beachten, redete er den Doktor an: »Ich hätte nur sagen wollen, daß ich alles zahle, was der Jos noch kosten mag. Anfangs dachte ich, mir davon nichts anmerken zu lassen, weil er wohl schneller hergestellt werde, wenn kein besonders gutes Trinkgeld für viele Ständ' und Gäng' zu erwarten sei.« »Ich hab' eben schon auf Hansen gerechnet«, lachte der Doktor fröhlich, »lieb aber ist's mir doch, das nun selber zu hören. Auch ich werde redlich das Meine tun und dafür sorgen, daß er in einem Vierteljahr wieder beinahe der alte ist.« Hans hatte den Wein ziemlich empfunden, jetzt aber wurde er wieder ganz nüchtern. So ernsthaft hatte er die Sache bisher nicht genommen. Es war ihm, als ob der Pfarrer predige, als der menschenfreundliche Arzt fortfuhr: »Helfen sollte hier, wer kann, denn es wär' jammerschade, wenn ein so talentvoller Mensch der Gesellschaft verloren wäre und noch gar an der Ungunst der Verhältnisse zugrunde gehen sollte.« »Das tut er hier gewiß nicht«, meinte der Pfarrer, und der ebenfalls anwesende Vorsteher schüttelte beistimmend den Kopf, daß seine lange seidene Zipfelkappe auf den Tisch fiel. »Ist der Spitzbub' doch selbst als Knecht durchgekommen, obwohl ihm das sicher kein Mensch zugetraut hätte.« Das hob Hansen wieder auf die rechte Höhe. Herzhaft wagte er dem Vorsteher in die Rede zu fallen: »Allerdings hab' ich es ihm angesehen, sonst würde er auf dem Stighof gar nicht angestellt worden sein. Ich weiß noch nicht, wie ich es machen soll, wenn man ihn so lange mangeln muß.« »Es wäre gut, wenn er gar nichts tun möchte«, meinte der Doktor. »Wo aber die Hand ruhig bleiben muß, da arbeitet so ein unruhiger Kopf doppelt und kommt auf allerlei Gedanken. Ich besorgte, er könnte der Gesellschaft verloren gehen. Dafür hab' ich natürlich meinen Grund. Wir sehen sie am Schnapstische, alle, die die Ungerechtigkeit unserer Zustände, die man Schicksale nennt, empfinden. Sie trennen sich vom Bestehenden und finden doch nichts Größeres, wo sie sich freudig anschließen. Da ist der Hansjörg am Freitag wieder heimgekommen. Er war ein ordentlicher Bursche, aber das Unrecht, welches ihm vom Krämer geschah, hat ihn trotzig und in seiner Weise stolz gemacht. Mir ist's nicht lieb, daß er immer beim Jos steckt, der – mit Verlaub, Hans – für seine treuen Dienste auch nicht besser belohnt wurde. Man sage mir nichts von dem Eigensinn, dem Trotz des Burschen. Das eben ist zuweilen der Ausdruck der Kraft, mit der er sich durchs Leben hilft und welcher auch der Stighof schon manches verdankt. Jetzt ist er aus der ordentlichen Bahn geworfen, und die Unzufriedenen beginnen sich um ihn zu versammeln, besonders arme Teufel, die dem Krämer wegen Verschuldung um einen Sündenlohn arbeiten müssen, und alte Fremdler, die aus Frankreich noch einige Brocken von 1789 mitgebracht haben.« »Dann kann am Ende noch hier die schönste Revolution erleben, wer alt genug dazu wird«, bemerkte der Pfarrer. Den Doktor machte das Lächeln, welches diese Worte begleitete, etwas warm. Er zwang sich zur Ruhe, indem er entgegnete: »Die Geistlichen verbieten nicht nur den Ehebruch, schon der Kuß ist ihnen vom Übel. Sie mögen ihre Gründe dafür haben wie ich die meinen, wenn ich es bedauere, daß man sich gegenseitig immer zwingt, eher das Trennende als das Gemeinsame aufzusuchen und herauszukehren. Davon der Kampf des selbstgewaltigen Reichen gegen den Trotz des Armen, der, von jenem ein böses Beispiel nehmend, ihn weiter und weiter treibt. Elende Zustände, wenn ein Mensch mit etwas Selbstgefühl sich nicht einmal als Bauernknecht behaupten kann. Aber auch natürlich, denn zum Tragen hat Gott Tiere geschaffen. Wer etwas mehr kann, sollte fort. O schade, daß so einer hier nie zum Studieren kommt!« »Sie betrachten den Jos ja schon als einen verlorenen Mann.« »Ich rede nicht von ihm allein, sondern von jedem, der zu kräftig ist zum Kriechen und zu gebunden, um frei zu gehen; ich rede von einem großen Teil derjenigen, die jetzt ihr Elend am Schnapstische vertrinken.« »Das ist aber immer so gewesen«, meinte der Vorsteher. »Nein, das war anders, als ein Tag noch mehr wert war als ein Taglohn und ein Mensch mit allen Gaben des Ebenbildes Gottes mehr als ein geerbtes oder zusammengeschachertes Vermögen.« »Sie halten also den Taler doch nicht für den Gott der Welt?« fragte der Pfarrer. »Er ist überall gerade das, wozu man ihn macht. Da belebt er den Verkehr und bringt Segen, dort und hier ist er der größte Tyrann. Früher hieß der Mensch seines Glückes Schmied, jetzt ist das Steuerbüchlein das Wanderbuch, welches uns den Lebensweg, oft sogar die Mutter unserer Kinder vorschreibt.« »Das aber«, fiel der Pfarrer ein, »ist in der Welt draußen gewiß wenigstens nicht besser.« »Drum hätte Jos studieren sollen. Wer fähig ist, die Kluft zwischen Arm und Reich zu übersehen, dem bietet nur die Bildung einen Notsteg mit schützendem Geländer.« »Man denkt gern an die Jahre des Lernens«, sagte der greise Pfarrer lächelnd. »Man bekommt noch spät beim Gedanken an die damalige Tatenlust neuen Mut. Ich hab' noch in Konstanz studiert und könnte lang erzählen, welche Klüfte zu überbrücken ich da einem Gebildeten zugetraut hätte. Aber wir wollten davon reden, was denn auch jetzt beim Studieren herauskäme außer Lateinischem und Griechischem. So ein armer Tropf wie der Jos müßte Geistlicher werden wohl oder übel, denn beinahe alle Stipendien sind nur unter dieser Bedingung zu gewinnen, und ein Weltlicher kann überhaupt nur schwer Unterstützung finden. Das Volk ist nun einmal schon so.« »Wissen Sie, warum?« »Ich hab' in Konstanz studiert und brauche wenigstens mir selber da nichts vorzuwerfen. Gut! Unser Mann kommt also nach Brixen.« »Warum gerade nach Brixen?« »Er muß die echteste Lehre haben, um so bald als möglich einen ordentlichen Platz zu bekommen, wo er sich wenigstens ohne Schulden durchbringt. Der Arme wird immer auf Unterstützung sehen müssen, und es ist dafür gesorgt, daß er sie nicht überall findet. Der, dem sein Wissen eine Art Selbständigkeit gibt, mag sich mit dieser behelfen, so gut er kann, oder aus der Not eine Tugend machen, wenn man kleinlichen Beamtenehrgeiz und Veräußerlichung Tugend nennen will wie unser Kaplan, der sich am Schlusse jedes Jahres öffentlich auf der Kanzel damit großtut, unter seinen Amtsbrüdern im Verhältnis zur Zahl der anbefohlenen Schäflein am meisten Hostien verbraucht zu haben. Fragt man, ob nun mit den vielen Beichten auch Besserung, mit den unzähligen Liebesmahlen auch Liebe ins Dorf gekommen sei, so sagt euch der immer zur Rede, aber nie zur ordentlichen Antwort bereite Mann, es sei ihm auch gelungen, den Söhnen sterbender Väter noch ein paar fromme Stiftungen vor der Nase wegzuschnappen.« »Sie sehen schwarz, ich habe doch auch studiert.« »Aber nicht so arm und abhängig nach rechts und links, wie so ein armer Tropf es tun müßte. Drum glaub' ich trotz allem Schönen, was man mit Recht von der Bildung sagt und von den Brücken, die sie bauen soll, für einen wie den Jos ist's besser, wenn er hier für Kopf und Hand Beschäftigung findet« Jetzt rückten auch Hans und der Vorsteher etwas näher zum Tisch, wie Spieler, die nach langem Harren und vergeblichem Hoffen wieder einmal eine gute Karte zum Mittun bekommen. Hans hatte sich eine Weile mit der Vorstellung zu versöhnen bemüht, daß Jos noch ein Vierteljahr, dreizehn lange Wochen liegen, er unterdessen ohne den Knecht sich behelfen oder einen anderen anstellen solle. Machte ihm schon die Frage, welches klüger sei, nicht wenig Kopfarbeit, so war es doch viel mehr noch Mitleid mit dem nicht ohne seine Schuld Unglücklichen, was den redlichen Burschen so schnell ernüchtern ließ. Erst zuletzt hörte er wieder, wovon geredet wurde, gerade als der Pfarrer aussprach, was für den Burschen das beste wäre, und schnell wollte er sagen, die Sorge für den Jos sei seine Sache und brauche kein Mensch ihn zu bedauern. Aber der Vorsteher, bemüht, das Gespräch nicht mehr aus bekannten Gleisen in Höhen entgleiten zu lassen, die für ihn geradezu unerreichbar waren, kam dem stets etwas langsamen Hans mit einem Antrage zuvor: »Jos«, rief er fröhlich, »wär' am Ende ganz der Mann, der mir schon lange fehlt. Guter Kopf, ein wenig stolz, fertige Hand zum Schreiben und die Geduld eines Schneiders! Ist's nicht, als ob er von Gott schon lang zu meinem Schreiber bestimmt wäre? Meine Buben überlassen ihm das Amt von Herzen gern. Einträglich ist's genug, und nebenbei kann er auch noch mit der Nadel arbeiten. Was sagt ihr zu meinem Plan?« »Er ist gar nicht übel«, sagte der Pfarrer, »und die Zeit, wo er doch als Knecht nicht arbeiten kann, ist gerade recht, ihn zu versuchen.« »Da hab' ich denn doch auch noch ein Wörtlein mitzureden«, meinte Hans. »Aber«, versetzte der Pfarrer bittend, »wenn er allenfalls den Jahreslohn schon empfangen hat, so wirst du das doch nicht wie ein Bleigewicht auf ihn werfen, daß es ihn in Knechtschaft niederdrücke für immer?« »Davon ist keine Rede.« »Und die Arbeit auf dem Stighof können Hunderte so gut verrichten als er.« »Das«, fiel Hans etwas spitz ein, »weiß denn unsereiner doch wohl selber am besten.« »Allerdings – aber jedenfalls ist er zu ersetzen, drum soll ihm niemand im Wege sein, wenn er einen wichtigen Schritt machen kann. Er ist in der Gemein de von vielen schief angesehen. Eine einträgliche Stelle, man könnte fast sagen, die erste nach dem Vorsteher, wird ihm Vertrauen und Achtung gewinnen.« Das nun hätte Hans dem Pfarrer allenfalls auch unterschrieben, wenn er etwas lieber mit Feder und Papier zu tun gehabt hätte. Ihm aber hatte die edle Schreibkunst immer für halbes Hexenwerk gegolten, und obwohl er sonst dem Knechte wirklich mehr zutraute als sich selbst, ward ihm doch schwarz und weiß vor den Augen, als dem Bürschchen, welches er noch vor kurzem mit drei Worten in Stall und Feld schicken konnte, ein so wichtiges Amt zugestanden wurde. Erst jetzt schien ihm Jos ganz unentbehrlich, und klagend fragte er: »Was soll denn aber ich machen?« »Dorotheens Bruder«, tröstete der Doktor, »ist viel stärker als Jos, ich würde gleich den anstellen, damit er auch wieder einen sicheren Weg vor ihm hätte.« »So, den?« fragte Hans beinahe verächtlich. »Ja, den«, sagte der Doktor ruhig. »Zur Arbeit ist er sicher so gut als der ehemalige Schneider. Dorotheen gegenüber ist er auch viel weniger gefährlich als Jos, welcher nach den Äußerungen am unglücklichen Kirchweihtag ein Aug' auf das flinke Mädchen geworfen hat.« Das wirkte auf Hansen wie ein Schlag. Er hatte sich daran gewöhnt, das Mädchen von ihm abhängig zu denken, obwohl er es Dorotheen niemals empfinden ließ. Das böse Gerede, worin Zusel ihn wegen der Magd gebracht hatte, machte ihm weit weniger Kopfweh als diese Rede. Ja jenes schmeichelte ihm noch, da er den darin liegenden Stachel in seiner Gutmütigkeit kaum bemerkte; die leicht hingeworfene Bemerkung des Doktors aber wirkte um so stärker, da ihm Jos nun alles ein anderer Mann war, als während er ihn noch zum größten Teil vom Stighof abhängig dachte. Nun erst war ihm von der Kirchweih alles, gar alles klar. Es litt ihn nicht mehr im Herrenstüble, welches jede Minute noch heißer zu werden schien. Er mußte ins Freie, mußte sich ein wenig erspazieren wie immer, wenn er etwas nur mit Nachdenken nicht zu verwinden imstande war. Er mochte ziemlich weit in der Nähe herumgehen, denn er kam erst vor dem Nachtessen heim, eine Weile nach Dorotheen, die den Jos besucht hatte, und beinahe in besserer Stimmung als sie. Das war übrigens diesmal bald geschehen. Nach der Kirchweih hatte Dorothee manches in sich verarbeiten müssen, aber sie war doch imstande, sich so zu beherrschen, daß die Stigerin nicht im entferntesten auf den Gedanken kam, auch sie konnte bei der Geschichte mit Jos auf die oder jene Weise beteiligt sein; heute aber fiel ihr das seltsame Benehmen des Mädchens denn doch auf, und zwar umso mehr, da sie keinen Grund dafür von Dorotheen erfragen konnte. Das allerdings betonte Dorothee etwas stark, daß sie den Bruder erst am dritten Tage, und noch dazu in einem fremden Hause, das heiße bei der Stickerin und ihrem Jos, angetroffen habe. Die Stigerin, die schon lange an einem großen Erdäpfel herumschälte, ohne dabei das Mädchen aus den Augen zu lassen, fand diese an Dorotheen gar nie bemerkte Empfindlichkeit um so unerklärlicher, weil es mit dem Bruder wenigstens nie mehr als mit den anderen Eigenen zu tun gehabt hatte. Die Frau sprach das offen aus, worauf denn Dorothee zu verstehen gab, daß das noch nicht alles sei, daß sie aber lieber gleich schlafen gehen als noch von allem reden möchte. Sicher hätte Dorothee auch weit etwas Ärgeres noch viel lieber getan. Für wie kindisch wäre sie wohl gehalten worden, wenn jemand erfahren hätte, daß ihr Jos so weh getan mit der Mitteilung seines Entschlusses, das Dienen eine gute Sache sein zu lassen und wenigstens nie mehr auf den Stighof zu gehen. Ihr erster Gedanke war, an dem sei nur einzig der Hansjörg schuld. Man hörte es aus allen seinen Reden, daß er den Stighans durchaus nicht leiden konnte. Er sagte offen, der Hans habe mit dem Krämer unter einer Decke gespielt, und ihm wäre selbst das Fortgehen nicht so schwer geworden als der Gedanke, daß er nun dem einen Dienst tun und für ihn durch Feuer und Wasser gehen müsse. So redete ihr Bruder heute vor allen Burschen, welche den Jos besuchten; was erst mochte er ihm heimlich schon aus- und einzureden versucht haben? Er war ja den ganzen Abend mit Jos im Gespräch über einen Plan, den er eine kleine Verschwörung gegen den Krämer nannte. Die anwesenden Handwerker, bisher von dem Blutsauger abhängig, sollten sich zusammentun und einen Handel mit ihrer Arbeit anfangen. Hansjörg versprach, durch Schleichhandel das, was das Land nicht selbst hervorbringe, so billig als einer zu besorgen. Dann wurde auch berechnet, daß man schon soviel bares Geld zusammenbringe, als ein kleiner Anfang brauche. Hansjörg schien vor Begierde zu brennen, dem Krämer diesen Possen zu spielen, und Dorothee hätte daraus die Abneigung des Jos gegen den von ihr erwähnten Knechtsdienst erklärt, wenn er seine Antwort ihr nicht gleichsam wie eine Beleidigung mit der Gewalt und Beredsamkeit eines recht Zornigen entgegengeworfen hätte. Was wollte die Rede sagen, er möge nicht länger auf dem Stighof das fünfte Rad am Wagen sein? Es war gerade, als ob sie glauben sollte, er komme wegen ihr nicht mehr, und doch tat das gewiß niemand weher als ihr. Sie drei hatten so froh zusammen gelebt, und nun sollte das aus sein und sie zittern müssen für die trotzigen Waghälse, sooft Gott den Tag schickte. Daß aber Dorothee von dem jetzt nicht reden mochte, war um so erklärlicher, weil sie sich nebenbei wieder mit dem Gedanken zu beruhigen suchte, daß das auch einer jener vielen an langen Sonntagen unter lebhaften Burschen entstandenen Pläne sein könne, die schon am anderen Morgen bei ruhiger Überlegung nur noch belächelt werden. Das Nachtmahl ward schweigend genommen, und schon kam Dorothee gähnend und sich recht schläfrig stellend aus der Küche zurück, als Hans scheu und leise, wie wenn er einen Fehler einzugestehen hätte, der Stigerin erzählte, wenigstens ein Vierteljahr werde Jos noch daheim bleiben müssen. »Ohne Brot und sich selbst überlassen!« jammerte Dorothee, die sich jetzt nicht mehr zu beherrschen vermochte. »Wohin«, fuhr sie strenge fort, »wohin kann die Not und das Mißtrauen ihn in der langen Zeit noch treiben?« Hans hatte dem Mädchen durchaus nicht erzählen wollen, für welchen Prachtkerl der Jos bei rechten Männern gelte. Es war ihm schon peinlich, neben der lieben Dorothee nur daran zu denken. Dem letzten Ausrufe gegenüber jedoch zwang es ihn mit Gewalt zum Reden. Jedes Wort traf ihn wie ein Stich, und gleichsam aufschreiend versetzte er: »Dem Jos ist's ja sein Glück. Man hat mir's deutlich gesagt, er sei zu gut zum Knecht. Gemeindeschreiber soll er werden, der erste Mann nach dem Vorsteher, und weiß Gott was noch. Der Pfarrer und die Herren selber haben's gesagt.« Dorothea sah den Burschen erstaunt an. Sie schien Ton und Gehalt seiner Rede nicht wohl vereinbaren zu können. Hans war sich im Leben noch nie so klein vorgekommen wie jetzt, als er auf einmal etwas in ihrem Gesichte leuchten sah, als ob ihr ganzes Wesen juble: »Das hab' ich mir gedacht!« Da mußte gleich auch er etwas tun, um dem Jos die Freude des Mädchens nicht ganz allein zu lassen. »Als Knecht ist Jos verloren«, sagte er trocken. »Ich hab' schon an einen anderen gedacht und will gern hören, was du dazu sagst.« »Wer ist es?« »Hansjörg.« »Gott Lob und Dank!« rief das Mädchen, und das Weinen wär' ihm fast gekommen vor Freude. Nun war doch alles, alles recht. Hansjörg kam auf einen guten Weg und war dem Jos nicht mehr gefährlich. Dorothee wußte selbst nicht, welches sie besser freue. Beides aber machte sie so glücklich, daß sie dem Hans hätte um den Hals fallen mögen. Jetzt mußte noch alles heraus, was sie gedrückt und gequält hatte. Sie weinte Tränen der Freude, während sie erzählte, wie viel sie um der beiden Burschen willen schon litt, besonders nachdem sie dieselben beisammen gesehen habe. Das sei für alle ein großes Glück, daß die wieder getrennt würden, und noch auf eine Weise, daß man's gar nicht besser hätte wünschen können. So gut hätten es nur die Reichen! Die könnten überall helfen, wenn sie nur wollten; doch es gebe nicht viele, auf die man sich verlassen könne und von denen etwas zu hoffen sei. Hans freute sich wieder an Dorotheens Freude. Er sah sich dem Jos gegenüber im Vorteil und begann den guten Burschen fast zu bemitleiden. In dieser Stimmung erzählte er alles, was er heute von ihm gehört hatte. So plauderten die zwei, die sich noch vor kurzem stumm und mißtrauisch gegenübersaßen, so froh und offen, daß es endlich der alten Stigerin zu gemütlich wurde. Man könnte vor Glück noch gar betrunken werden, sagte sie; der Anfang scheine schon gemacht, und da man morgen keine Zeit hätte, den Rausch auszuschlafen, so sei wohl das klügste, wenn man sich jetzt eine gute Nacht wünsche. Dorothee tat das ebenso schnell, als sie seit Jahren jeden Befehl der Stigerin auszuführen gewohnt war. Sie ging um so lieber, weil die Rede der strengen Frau sie denn doch ein wenig unangenehm berührt und abgekühlt hatte. Jetzt unterschied sie schärfer als je zwischen Mutter und Sohn. Die erstere war streng, blieb beim alten, und ihre Güte war vielleicht nur Ausdruck ihres stolzen und dabei behaglichen Wesens. Wie an ders bei Hansen! Der war ihr noch selten so groß erschienen wie jetzt. Selbst neben den Jos durfte sie ihn herzhaft stellen, ohne daß er viel verlor. Sie dachte überhaupt mit ganz anderen Empfindungen an den ehemaligen Knecht, seit er ihr nur noch durch sein unerklärliches Benehmen Sorge machte. Erst im Traum sah sie ihn wieder deutlich vor sich, aber nicht mehr als armen Schneider, sondern als Besitzer des Stighofs. Er war von einer ganzen Menge von Leuten umringt, die alle Rat und Hilfe bei ihm suchten. Er gab nicht nur Geld, sondern auch was aus mehr als einer augenblicklichen Not helfen konnte. Sein Wort wirkte auf alle. Streitende gingen versöhnt, Traurige getröstet von ihm, und so beredt wie er war kein Mensch, als wer eben von ihm redete. Nur sie durfte ihm nicht sagen, was ihr fehle. Sie wußte es aber auch eigentlich selbst nicht, und doch war ihr so weh, daß sie weinte. Als Jos dadurch auf sie aufmerksam wurde, erschrak sie so, daß sie erwachte. Hansen tat es später doch weh, daß das Mädchen sich mehr über die schönen Aussichten des Jos zu freuen schien als um ihres Bruders willen. Unwillig schlug er die Türe seines Zimmers zu und verbrachte eine schlaflose Nacht. 14. Kapitel Vierzehntes Kapitel Zusel und Angelika Dorothee kam durch Zusels fromme Freundinnen immer ärger ins Geschrei. Sogar der Zusel war zuweilen bang vor dem, was durch sie angerichtet wurde, wenn sie schon fest glaubte, daß Dorothee wenigstens alles tun würde, wodurch sie den unbeholfenen Burschen möglicherweise fangen könnte. Bestand aber ein sündhaftes Verhältnis noch nicht, so durfte doch auch das Entstehen desselben verhindert werden. Das war Zusels Trost, neben der Hoffnung, daß sie sich bald in Ehren aus der Sache ziehen und dann auch ihre Werkzeuge wieder wegwerfen könne. Sehr bedenklich aber war es, daß trotz allem Dorothee noch immer auf dem Stighof blieb. War denn die Stigerin unempfindlich für die Ehre des Hauses, oder hatte die Magd auch sie schon gewonnen? Der Krämer, der immer gut unterrichtet sein wollte, behauptete freilich das Gegenteil, aber seiner Tochter war das nur ein schlechter Trost. Sie hätte, besonders da sie einmal die schlimmen Folgen des durch sie erregten Lärms empfand, auch etwas von der beabsichtigten Wirkung erleben mögen. Allerdings galt jetzt das sündhafte Verhältnis der beiden auf dem Stighofe für eine ausgemachte Sache; nun aber begannen die Leute sich auch an das wunderfreundliche Paar Augen zu erinnern, welches Zusel Hansen am Kirchweihtage gemacht hatte. Dorothee lief damals von dem Burschen weg und kam doch hernach mit ihm ins Geschrei. Zusel, hieß es, war also nicht imstande gewesen, etwas zu erlächeln. Hans habe nicht so unrecht. Vielleicht komme er mit einer Armen – wenn's nur eine brave Person sei – weit besser durch die Welt, als wenn mit dem Halben von dem, was der Krämer erschachert, seine Zusel auf den Stighof gebracht würde. Dort sei gewiß jetzt kein unredlich erworbener Kreuzer, und schon das sei mehr für ein Ehepaar, das von vorn anfange, als wenn mit ein paar tausend erheirateten Gulden der Unstern ins Haus hineinkommen tät, wie man das schon so oft erlebt habe. Hübsch nun wäre die Zusel allerdings, aber sie wisse schon auch davon, und daß sie sich es dann zuweilen so sehr anmerken lasse, sei entschieden nicht hübsch. Zudem wisse jeder, daß man keinem ein schönes Weib und ein hübsches Roß mißgönnen dürfte, weil sie beide vornezu verdient werden müßten. Hauptsache sei für einen Besitzer des Stighofes im Grunde doch unbescholtener Name, schönes Gemüt und eine geschickte Haushälterin. Das Geld komme weniger in Betracht als die Frage, was denn sonst aus der Verwandtschaft Gutes oder Böses zu erben wäre. So sei zu urteilen; und wenn man so urteile, müsse man die Zusel eine schöne Sache sein lassen. Freilich aber sei damit noch nicht gesagt, daß Hans darum nun gleich mit der Magd hätte anbinden sollen. Zusel, der solche Bemerkungen von den Betschwestern beinahe täglich zugetragen wurden, prüfte ängstlich, was daran wahr sei. Nebenbei suchte sie zu berechnen, welchen Eindruck nun alles zusammen auf Hansen und seine Mutter machen werde. Das konnte sie dann recht unglücklich machen. Ihre Neigung zu Hansen war doch von der Art, daß sie nicht nur ihn fangen, sondern durch eigenen Wert gewinnen wollte. Derlei Bemerkungen taten ihr daher doppelt weh. Dem und jenem wollte sie wieder eine Rede bei passender und unpassender Gelegenheit gehörig heimzahlen, wobei sie stets ungemein leidenschaftlich zu Werke ging. So verwickelte sie sich bald überall in böse Händel und wurde von den früheren Freundinnen und von allen, die es wahrhaft gut mit ihr meinten, fast ängstlich gemieden. Wenn sie nachsann, was alles in wenigen Wochen durch sie und wegen ihr geschah, dann hätte sie versinken mögen vor Scham; und laut – um ihre Gedanken zu verscheuchen – sprach sie den Vorsatz aus, in Zukunft nur sich Hansens wert zu machen, den sie aber um jeden Preis nun haben müsse. Der wunderliche Bursche tat jetzt wieder so hölzern und fremd, als ob er nie mit ihr von der Kirchweih heim sei. Woher sollte das kommen als von dem Gerede, welches über sie umlief? Was war also gewonnen, wenn auch Dorothee schließlich noch vom Platze kam? Ein Gewissen freilich brauchte sie sich daraus nicht mehr zu machen. Dorothee hätte Hansen einzig nur um des Geldes willen genommen, was bei ihr – der Vater mochte schon seine Rechnungen haben – wahrhaftig nicht der Fall war. Je länger sie der Sache nachsann, desto klarer ließ es die Eigenliebe erscheinen, daß nur uneigennützige Neigung zu dem guten Burschen sie so unvorsichtig und leidenschaftlich habe werden lassen. Denn – wieviel Herzeleid hatte nicht dieser Hans ihr schon gemacht! Hansjörg mußte einst seinetwegen fort, und ihr selbst ließ er seit Wochen keine ruhige Stunde mehr! Auch ihrer armen Schwester schon war es früher nicht besser gegangen. Ach, jetzt auf einmal dachte sie mit ganz anderen Empfindungen als sonst an Angelika, ihre Leidensgefährtin, deren sonderbares Wesen sie früher nicht begriff, nun aber ganz gut zu verstehen meinte. Ja, Angelika war allein fähig, auch sie zu verstehen und ihr zu sagen, woran sie sich halten, wie sie sich wieder aufrichten könne. Ihre jetzigen Freundinnen, die sie eigentlich recht von Herzen verachtete, hatten sich wie Bleigewichte an ihre Schwäche gehängt und sie noch tiefer niedergedrückt. Der Vater verstand sie auch nicht, und von den mütterlichen Verwandten war schon gar nichts zu erwarten. Also zu Angelika, der edlen, die das nämliche ertrug und doch noch aufrecht zu stehen vermochte! Ihre Angst vor Angelikas strengem Wesen half die Gemeinheit und der Leichtsinn ihrer jetzigen Freundinnen überwinden. »Alles Geschwätz, alle Schmeichelei dieser Elenden für ein Wort von ihr, der es mit Hansen gerade ging wie mir, obwohl sie ihn vielleicht eher verdient und glücklicher gemacht hätte als ich!« rief sie eines Tages und ging, ohne sich wie sonst noch besser anzukleiden, zum Hause hinaus. Vergebens fragte der Krämer zweimal, wohin sie wolle. Dem Mädchen kam sein Gang wie ein Ergeben in sein Schicksal vor. Es dachte sich schon in der Lage der Schwester und fand dabei eine innere Beruhigung, die ihm während der Blütezeit seiner Hoffnungen gefehlt hatte. Das stattliche, überall neu angeschindelte Haus, in welchem die Schwester wohnte, nahm sich noch viel stolzer aus neben dem alten Stadel, der jetzt nur noch als Holzbehälter und zum Aufbewahren der Wagen und Schlitten benutzt wurde. Zusel ging jeden Schritt langsamer. Was für eine Ausrede für ihr Kommen sollte sie brauchen? Aber sie kam ja nur ins Haus ihres Schwagers, zu eigenen Leuten, sagte sie sich, emporblickend zu den Reihen grün angestrichener Fensterläden und zum hohen Dachstuhl, wo noch der Busch zu sehen war, welchen die Zimmerleute nach Vollendung ihres Werkes aufgesteckt hatten. Es tat ihr wohl, ihre Schwester in diesem schönen Hause zu wissen. Ihre Entsagungswilligkeit schwand schneller noch, als sie kam. Zusel dachte an Stighansens stattlichen Hof – vielleicht zum erstenmal – und stellte sich vor, wie prächtig es nun wäre, wenn sie beide, die Kinder des vom Neide so vielgeschmähten Krämers, so stolz neben der Gasse im Herrendorfe wohnen und den Neidhämmeln hinter schneeweißen Vorhängen auf die Gasse herab nachlachen könnten. In so einem Hause konnte man sich schon auch etwas gefallen lassen, und für gar zu unglücklich brauchte sich Angelika doch nicht zu halten, wenn ihr auch manches an ihrem Gatten nicht gefiel. Sie war doch etwas wunderlich, altmodisch, und ein lustiger Mann wie der Andreas konnte mit ihr unmöglich gut auskommen. Mit solchen Gedanken beschäftigte sich das Mädchen, noch immer stille stehend, und vielleicht wäre sie gar nicht mehr zu der wunderlichen Schwester hinein, wenn sie nicht den neugierigen Blicken einiger Vorübergehender zu entrinnen gewünscht hätte; sie ging schnell durch den Schopf, öffnete geräuschlos die Türe und ließ sich durch den Empfang der Schwester, wie wenig ermutigend er auch sein mochte, nicht im mindesten erschrecken. Die auf dem Wege zusammengestellte Einleitung hatte sie freilich vergessen, aber die wäre doch in der jetzigen Stimmung auch nicht mehr zu brauchen gewesen. »Du wohnst recht schön hier«, begann sie, nachdem sie sich für den etwas kühlen Gruß der Schwester bedankt hatte. »Hohes Haus, großes Kreuz drin«, antwortete die Schwester, indem sie sich wieder mit der Umkleidung der Puppe zu beschäftigen begann, die ihr wunderliebliches Kind ihr lächelnd reichte. »Ich möchte dir tragen helfen«, sagte Zusel wehmütig. »Gelt«, fuhr sie, sich zu einem heiteren Tone zwingend, fort, »du meinst, wir Ledigen sollten gar nicht wissen, wie wohl euch Eheleuten ist, wenn ihr mit euern Kindern wieder zu spielen beginnt. Ja, Schwester, ich möchte dir tragen helfen an deinem Kreuz und trage vielleicht auch schon mehr daran, als du glaubst.« »Jedermann hat zu tragen genug an den Früchten seiner eigenen Torheit.« Dieser ernste Ton in einer so freundlichen Stube, neben so holdem Kinde, mitten im Wohlstand, den die Verschwendung des Mannes ja noch kaum zu verkleinern vermochte! »Bist du denn noch immer nicht glücklich?« fragte Zusel eigen weich. »Wer ist das und weiß es? Wer? Etwa dein – unser Vater? Er hat mehr, als er sich früher träumte, aber um so größer sind seine Wünsche jetzt. Du könntest der Stolz der Gemeinde sein, aber eben weil du das fühlst, bist auch du nicht glücklich.« »Du nimmst die Sache zu ernst.« »Für dich wohl, denn du spielst. Mit dem Größten und Heiligsten, selbst mit deiner, nicht nur mit der Ehre und Zukunft anderer spielst du. Das hab' ich nie getan und muß doch schon so schmerzlich büßen.« »Ich weiß, was du meinst, aber ich halte mich nicht für schuldig. Nur eine Kleinigkeit, einen Schneeballen gleichsam hab' ich fallen lassen. Was kann ich dafür, daß er im Rollen zur Lawine heranwuchs, die mich selbst gewaltsam mit fortriß?« »Laß mich gehen, ich kenne das«, sagte Angelika bitter. »Mich haben alte Weiber erzogen, die ärgsten Schwätzerinnen im Lande, nur haben sie die Sache feiner zu treiben verstanden als die Leute, mit denen du jetzt umgehst. Ja, da konnte man etwas lernen. Alle Gemeindeangelegenheiten sogar wurden von Vorsteherin und Rätin verhandelt und dabei geprüft, was wohl am besten zum Einschlag in ihren Zettel passe, denn immer hatte man Günstlinge, denen man gern das Wasser auf ihre Mühle richten, und andere, denen es zerstörend durch den angesäten Acker geleitet werden sollte. Waren einmal die Weiber eins, dann hatte die Meinungsverschiedenheit der Männer nicht mehr viel zu bedeuten. Die ganze Gemeinde hatten meine Basen und ihr Kreis am kleinen Finger. Alle menschlichen Fähigkeiten, Kräfte und Leidenschaften, Stand, Besitz, Abstammung, kurz alles ward hier geschätzt, gezählt, abgewogen und verhandelt, ohne Liebe, rein nach Willkür, wie es jetzt auch die Betschwestern tun möchten, nur etwas anständiger noch, da man damals noch nicht jeden Gegner gleich einen Gottlosen nennen durfte. Alles kam auf diesen Markt, jede Veränderung im Dorf mußte, es mochte eine Hochzeit oder ein Testament sein, zuerst hier gutgeheißen werden. Schon da aber hat mich das angewidert, und die Leute, die sich ziehen und treiben ließen wie Schafe, sind mir so erbärmlich vorgekommen, daß ich's ums Leben nicht geglaubt hätte, eines Tages meine stolze, eigensinnige Schwester in einem noch schlechteren Netze zappeln sehen zu müssen. Nicht einmal an meiner Heirat mit Andreas, wie sie auch ausgefallen sein mag, kann ich dem aus unserem Verhältnis entstandenen Gerede die Schuld geben. Im hohen Rate, das heißt an den Kaffeetischen der beiden Verwandtschaften, die überall im Dorf das Kraut fett werden lassen, war man eigentlich gegen unsere Hochzeit eins und hatte dafür seine Gründe. Den reichen Basen des Andreas war mein Vater nicht gut genug; meine Erzieherinnen aber hielten den Andreas für einen leidenschaftlichen Menschen und meinten, nur wer so sei wie er, könne mit ihm gut durchkommen; an andere werde sich der auch durch den Pfarrer nicht binden lassen.« »Und warum hast du ihn denn doch genommen?« fragte Zusel, welche der Erzählenden anfangs gähnend, dann aber immer aufmerksamer zugehört hatte. »Schon der Trotz gegen die Basen«, antwortete Angelika leidenschaftlich, »war viel stärker, als du dir einbilden kannst. Er lag schon früh in mir – seit ich zum erstenmal vom Vater geredet hatte. Die Bedeutung dieses Namens bekam ich erst von anderen Mädchen meines Alters. Nun fragte ich auch meinem Vater nach, und viel, viel haben sie mir vergiftet mit der Antwort. Alle Kinder hatten gute Väter, ja sie sagten, es gebe gar keine bösen, und der meine sollte doch nur ein herzloser, unfreundlicher, ja ein böser Mann sein. Das aber brachten sie nicht in mich hinein. Nur auf mich gelegt hat sich's wie eine Last. Einmal bin ich verstohlen zum Vater geschlichen und hab' ihm alles erzählt. Drauf ist ihm das Wasser in die Augen gekommen, das hab' ich gesehen, und drum ist's mir nicht mehr eingegangen, was später über ihn gesagt worden. Auch anderes ist mir nun immer minder eingegangen. Ich war innerlich so eigensinnig, daß es kein Mensch geglaubt hätte. Die, welche mich zogen und nährten, galten mir immer weniger, je schärfer ich ihnen aufpaßte. Auch mit dem Vater war ich unzufrieden, daß er mich nicht zu sich nahm und meinen Bitten darum nur die Antwort werden ließ, ich würde doch nicht mehr zu ihm passen, weil ich schon zuviel andere Luft in mich aufgenommen. Und nun denke dir, wenn ein reicher Bursche kam, der unter den Mädchen auslesen konnte und durchaus nur mich haben wollte trotz allem Einspruch derer, die mir wie Gift waren! Ich hatte mein Lebtag noch nie so etwas Großes gesehen als seine Festigkeit, seinen Trotz, und in meinem Alter hielt ich das für Liebe zu mir, nicht für die Laune eines verwöhnten, eigensinnigen Muttersöhnchens. Das ist die ganze Geschichte.« »Aber Hans?« fragte Zusel kaum hörbar. »Der war ein lieber, guter Bursche, aber still. Ganz früh sind wir oft und oft beisammen gewesen. Später sahen wir uns etwas seltener. Er war fast scheu gegen mich. Ich glaubte jedesmal, wenn ich ihn traf, wir hätten fast nichts geredet, und es war mir schon neben ihm nicht recht, daß wir uns nicht noch etwas, noch viel – ich wußte jedoch nie recht, was – zu sagen hatten. Trotzdem gaben mir die Worte, die wir wechselten, hernach so viel zu sinnen wie sonst kein langes Geschwätz. Ihm mußte das auch so gehen, denn er wußte alle meine Reden so genau, daß mir dabei ordentlich angst wurde. Daß wir uns gern hätten, haben wir uns nie gesagt, das verstand sich ja von selbst. Nur der Mutter hat Hans es verraten, als einmal auf dem Stighof über mich losgezogen wurde. Drauf ist dann der gute Bursche zu mir gekommen – es war im Garten und abends zwischen Feuer und Licht. Ich seh' ihn noch, wie er dastand und mir sagte, nun dürften wir nie mehr zusammen, denn die Mutter hab' ihm aus der Übertretung dieses Gebots eine schwere Sünde gemacht Wir dachten damals an keine Liebschaft, auch nicht an Widerspruch. Es war, wie wenn man über einen schönen Weg geht, und nun rollt ein Stein vom Berge herunter und trifft den fröhlichen Wanderer. Es war im ganzen kein Zusammenhang, keine Ordnung, keine Gerechtigkeit, und doch ließ sich nach unserer Ansicht nichts daran ändern. Lange nahmen wir Abschied und weinten. Klar aber war mir alles erst hernach, erst als der Andreas Ernst machte. Nun erst hatte ich meinen Ärger über den schwachen Hans, der gleich nachgab. Da war doch Andreas ein anderer Mann. Damit wollte ich mich trösten, dennoch hab' ich Hansen weder verzeihen noch mich einmal recht über ihn ärgern können. Jetzt wär' ich vielleicht noch glücklich verheiratet, wenn Andreas der alte geblieben wär'. Aber sein Trotz richtete sich gegen mich, und nun hatte er bei allen Unarten wieder die ganze Verwandtschaft auf seiner Seite, und ich nur muß daran schuld sein. Ach, wär' doch der Vater arm geblieben, daß wir unbemerkt unseren Weg durchs Leben gehen könnten! Dann hättest du deinen Hansjörg, und nicht so, wie er jetzt ist, ich aber –« Zusel warf einen fragenden Blick auf das spielende Mädchen. »Das macht nichts«, sagte die Mutter mit schmerzlichem Lächeln. »Hast du geglaubt, ich würde dir etwas sagen, was sein Vater nicht hören dürfte? Was nicht unter die Leute soll, behält man am besten ganz für sich, denn aus dem Sack ist fort. Das hättest in deinen Jahren auch du wissen und deine ohnehin nicht ganz ebenen Angelegenheiten nicht jedermanns Gnad' oder Ungnad' überlassen sollen.« »Aber, Schwester, auch andere Mädchen, wenn sie einen recht von Herzen gern hätten –« »Werden schwach und unüberlegt«, fiel Angelika ein, »aber nicht so erbärmlich wie du. Auf solche Wege treibt Liebe nicht. Sie gibt eher Kraft zum Dulden.« »Was hab' ich denn getan?« »An der Kirchweih wär' ohne dich alles ruhig und friedlich geblieben.« »Jos hat unseren Vater geschimpft.« »Ja, als ich seine Worte gehört, ist mir zumut worden, daß ich gewiß keine Schlägerei mehr angehetzt hätte.« »Der Unmut regt sich in jedem Menschen auf andere Art. Sogar beim nämlichen ist's ungleich. Ich hab' auch schon zu lachen angefangen, wenn ich lieber dreingeschlagen hätte.« »Aber warum ist denn Hans mit Dorotheen so auf einmal ins Geschrei gekommen?« Zusel bückte sich, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und machte sich mit dem spielenden Kinde zu schaffen. »Was hast du davon«, fuhr Angelika strenger fort, »daß nun Jos krank ist und alle anständigen Leute ihn auf deine Rechnung hin bedauern? Er wäre vielleicht der einzige gewesen, der dir Dorotheen bald genug aus dem Wege geschafft hätte.« Zusel sah die Schwester groß an. »Schäme dich«, rief diese, »nicht einmal rechnen hast du bei aller Herzlosigkeit gelernt und sonst schon gar nichts.« Über des Mädchens schönes Gesicht zog etwas wie ein Lächeln, als es sagte: »Du mußt nicht ungerecht werden. Gleiches Gewicht soll man brauchen bei dem, was man kauft und was man hergibt. Mir ist's ein Vorwurf, daß meine Neigung und ihre Gewalt mich vielleicht zu etwas Unüberlegtem, ja zu recht Närrischem brachte, und nun sagst du in der nämlichen Predigt, du habest Hansen seine Schwachheit nie verzeihen können.« Das junge Weib errötete. Zusels Absicht, Angelika aus ihrer Strafrede und in Verlegenheit zu bringen, war erreicht. Aber der Sieg wurde dem Mädchen bald wieder streitig gemacht. Angelika fragte: »Hast du den Hansjörg auch schon gesehen, seit er heimgekommen ist?« »Ich hörte dich sagen, jedermann hab' an seinen Dummheiten zu tragen genug; warum denn magst du dich immer auch um so etwas noch kümmern?« fragte das Mädchen, ohne daß es sich auch anstrengte, seinen Zorn zu verbergen. »Ich glaubte nicht, daß ich dir mit dem so weh tun werde«, sagte Angelika, die über den leidenschaftlichen Ausbruch der Schwester wirklich erschrocken war. »Wenn dir aber das schon so hart ans Leben geht, ja – dann weiß ich erst recht nicht, wie du von so großer Neigung zum Stighofbauern reden kannst.« »Um seines Geldes halber doch gewiß nicht«, antwortete Zusel leidenschaftlich. »Der Vater hat mir genug erworben. Selbst seine Ehre wurde dem Gewinn geopfert. Glaubst du, ich werde nun auch noch mein Glück opfern? Nein, Angelika, so elend bin ich nicht. Aber Hansen muß ich haben. Ihn und nicht den Stighof. Bis dahin soll Hansjörg mich gar nicht mehr sehen – der Elende, der mich verriet und meine Briefe an den Vater verkaufte für ein Sündengeld! Ha, wie wird's mir kalt und heiß, wenn ich mich nur vor seinen Blick denke, so elend, so verlassen, wie der Treulose mich gemacht hat. Den ersten Burschen in der Gemeinde will ich und lache, wenn das dann seine sanfte Schwester zur Verzweiflung bringt.« Angelika, die zuerst ihre Schwester erstaunt, erschrocken ansah, gewann ihre Ruhe in dem Grade, wie Zusel die ihre verlor. Jetzt endlich glaubte sie, klar zu sehen und den Weg gefunden zu haben, auf dem das arme Mädchen wieder zum Frieden mit sich und der Welt gelangen konnte. Angelika dachte nicht mehr an den strenge rechnenden Krämer, der den Hansjörg schwerlich je als seinen Töchtermann anerkannte. Sie hatte Mitleiden, und nur ihrem Herzen folgend, sagte sie: »Hansjörg war ein wackerer Bursche, nur der Vater hat ihn vom rechten Wege mit Gewalt vertrieben.« »Gibt's denn für dich gar keine Arbeit, als uns aufzupassen?« fragte Zusel spitz. »Die tun die Basen meines Mannes für mich«, antwortete das Weib wehmütig lächelnd. »Die tragen alles zusammen auf meine Rechnung. Was du und der Vater tun, wird als meine unsaubere Wäsche ausgeklopft, daß ich im Staube fast ersticken muß.« »Nun – und was weißt du noch mehr?« »Du und der Soldat, ihr steht euch noch ziemlich gleich. Ihr beide seid in der Irre herumgelaufen, und es wäre nicht recht, wenn nun eins das andere einen schlechten Führer hieße, sobald ihr euch wieder sehet. Setzet den Kampf zwischen Reichen und Armen nicht fort, begießet nicht noch einmal mit Tränen die Sünde des Vaters. Reicht euch lieber die Hände und machet vereint das Geschehene wieder gut!« »Wo denkst du denn jetzt hin? Wir sind auf der Welt«, sagte Zusel, doch in einem Tone, der ihre Bewegung deutlich genug verriet. »Schau einmal so einem Kinde recht, recht tief in die Augen!« rief Angelika mit einem zärtlichen Blick auf das spielende Mädchen. »Tu' das – und dann sag' mir, ob du die böse Welt mit ihren Kämpfen und Rechnungen nicht vergessen kannst. Und dann denke dir, ob du ihm mehr wünschest als Eltern, denen gemeinsame Liebe Kraft gibt und was sie brauchen. Dann wirst du empfinden, wie sündlich du vorhin geredet hast.« Das Mädchen seufzte. Angelika fuhr fort: »Auf mir liegt's jetzt bleischwer wie etwas Furchtbares; der Vater ist immer mit zu abhängigen Leuten umgegangen, um den Menschen noch zu schätzen. Ach Gott, sie alle sind ihm nur wie sein Kram! Jetzt ist er im Fallen, und dem Fallenden rollen die Steine von selber nach. Halbe Nächte läßt mich das nicht schlafen, besonders wenn auch der Andreas nicht ordentlich daheim ist. Jedes Geräusch erschreckt mich, und ich werde ganz furchtsam. Gestern am hellen Morgen durfte ich kaum in den alten Stadel, um zu sehen, warum denn in der Nacht dort ein Gerumpel entstand, als ob alle Heuwagen übereinander gefallen seien.« »Und was hast du denn gesehen?« »Zuerst nichts als Hansjörgs große Tabakspfeife, die der Seltenheit wegen jedes Kind kennt.« »Und dann?« »Dann auf dem Heustock ganz kleine Hügelchen, die aber nicht von selbst entstanden sein konnten. Wir haben jetzt nur noch wenig Heu dort. Ich durchsuchte es, bevor ich die umgestürzte Holzbeige wieder aufzurichten begann, und fand Tabak, Schießpulver und ähnliche geschmuggelte Ware.« »Das also war der Geist?« »Ja, Mädchen, der böse Geist, der dich und den Vater nie ruhen lassen wird. Hansjörg hat jetzt keine Freude mehr an einem ordentlichen Leben, die könntest nur du ihm wiedergeben.« Zusel schien eine Minute mit sich selbst zu kämpfen, dann auf einmal sagte sie traurig, aber entschieden: »Es ist ja alles aus!« »Was ist aus?« »Ich gehöre dem Vater, das hat der nicht verdient. Ich will die Strecke nicht wieder zurück, die er so mühsam erklomm. Er war ein Schleichhändler, mein Mann soll etwas Besseres sein. Wir haben mit dem Soldaten nichts mehr zu tun.« »Das ist zweifelhaft«, antwortete Angelika, die sich nun auch nicht mehr beherrschen konnte. »Schon das Unrecht bindet euch an ihn, und wenn man Hansjörgs Warenlager findet, so muß der Verdacht auf meines Mannes Schwiegervater fallen.« »Richtig, das ist der Witz«, rief Zusel. »So weit geht der Mensch. Das will ich gleich dem Vater sagen. Gute Nacht!« »Um Gottes willen höre!« flehte Angelika. »Ich habe gehört genug.« »Stürze den Unglücklichen nicht noch tiefer. Ich hab' nicht einmal dem Mann etwas davon sagen dürfen. Es ist meine erste Unredlichkeit, weil ich den schützen will und muß, dem der Vater so großes Unrecht tat. Ich hab's, geschworen.« »Und ich will Rache«, antwortete Zusel kalt und stürzte ohne Abschied zur Türe hinaus. 15. Kapitel Fünfzehntes Kapitel Im Walde Im ersten Augenblick wollte Angelika der Rasenden nach, wollte noch unter der Haustüre sie mit Gewalt festhalten und ihr den Schwur abzwingen, daß sie nie und nimmer dem Unglücklichen sein Gäu verraten wolle. Aber womit sollte sie das Mädchen zu diesem Schwur zwingen, wenn selbst Mitleid und Liebe zum Vater, der an allem die Schuld hatte, rein nichts über dieses Felsenherz vermochten? Für so hatte sie die Zusel nicht gehalten, sonst würde sie kein Wort verraten haben. Einen Stein, meinte sie, müßt' es erbarmen; die Zusel aber ließ sich das Elend des noch nicht vergessenen Geliebten erzählen, heuchelte noch Rührung, bis sie alle Fäden in der Hand hatte, und eilte dann, ihn womöglich noch tiefer ins Verderben zu bringen. Vorhin sagte sie, aus dem Sack sei fort, und nun? Sie hätte versinken mögen vor Reue und Scham, dennoch versuchte sie nicht, sich mit ihrer guten Absicht zu trösten. Da stand sie und konnte gar nichts tun, was wirklich zum Frieden führen mußte! Wenn sie den Soldaten warnte, so konnte auch das wieder neue Feindschaft erregen. Angelika stand und sann und betete, bis ihr Kind sie von neuem erschreckte. Es hatte manches von dem Mann im Stadel aufgefaßt und behalten, und sie bekam nun genug zu tun damit, ihm die Sache recht lächerlich und unbedeutend darzustellen und soviel Unmögliches einzustreuen, daß, im Fall es plaudern sollte, sich der Andreas nichts mehr aus der Sache mache. Zusel mußte schon der Leute wegen etwas langsamer durchs Dorf hinausgehen, als ihr anfangs lieb und ihrem Gemütszustande angemessen war. Gewaltsam mäßigte sie ihre Schritte, und das zwang sie gleichsam, auch ruhiger zu denken. Was Angelika von einer Versöhnung mit Hansjörg sagte, tat ihr um so weher, da sie es für unmöglich hielt. Und nun weckte Angelika noch gar mit Drohungen ihren Trotz! Es war gut, daß sie ging, denn nie war sie so hart und kam so weit, als wenn ihr Widerspruchsgeist die Herrschaft über ihr Herz gewann. Sobald dieser schwieg, begann sich die Stimme des Herzens wieder zu regen. Die Worte Angelikas fingen wieder zu wirken an, und noch ganz anders, als da Zusel, ihr gegenüberstehend, nur auf Trotz und Verteidigung sann. Hansjörg konnte doch seine Waren daheim nicht wohl verbergen! Wenn er hausieren wollte, so mußte er damit gleich mitten unter den Leuten sein. Vielleicht ganz zufällig hatte er unter dem Dache eines der Ihren Sicherheit gesucht. Sollte er sie alle für Verräter halten, sie alle verachten? »Nein«, rief das Mädchen, »mir soll er nichts vorwerfen können!« Sie kam mit dem Vorsatze heim, dem Vater einstweilen kein Wort von der Sache zu sagen. Sie hielt ihn auch, als der Vater sich etwas besorgt über die Anwesenheit eines Grenzjägers im Dorfe aussprach und dabei merken ließ, daß ihm jetzt eine Durchsuchung des Hauses nicht lieb wäre, da man sich für den Winter, wo die Schleichwege über die Berge ganz ungangbar seien, mit manchem einrichten müsse, was so ein Grünrock nicht zu sehen brauche. Am anderen Tage berichtete die Magd, auf dem Stighof sei laut die Rede davon, der Soldat, Dorotheens Bruder, werde im Winter den Knechtsdienst dort versehen; allem nach müsse die Sache schon abgekartet sein; wenigstens Hans und Dorothee täten so gegenüber der alten Stigerin, die sich immer noch nicht recht darein ergeben wolle. »Hat Hans denn einen Narren gefressen an diesem Gesindel?« fuhr der Krämer auf. »Was soll aus dem Tropfen werden, wenn er in Haus und Stall und Feld nicht mehr von diesen Leuten loskommt?« Zusel war über den Bericht der Magd sehr erfreut. Eine Zentnerlast ward ihr damit vom Herzen genommen. Unbefangen teilte sie dem Vater das Geheimnis mit, welches sie belastet und ihr eine schlaflose Nacht gemacht hatte. »Es ist dem Burschen doch zu gönnen, daß er wieder auf einen ordentlichen Platz kommt«, schloß sie. »Er soll nicht sein Lebtag uns fluchen und alle Schuld an dem, was er tut oder unterläßt, auf uns werfen können.« Zu einer anderen Zeit hätte dem Krämer diese Rede auffallen und ein scharfes Verhör seines Kindes, das noch nie in der Art mit ihm von Hansjörg redete, hervorrufen müssen; jetzt aber war er so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er den Vorwurf gar nicht merkte, der für ihn in dieser Rede lag. »Schleichhändler«, murmelte er, in der Stube herumschreitend, »erst Schwärzer und dann Knecht, erst ein freies, bewegtes Leben, wie es dem Waghals ansteht, und nun in das Einerlei auf dem Stighof, wo er in der Woche kaum den Schwärzertaglohn verdient bei aller Plage. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Gewiß, er wird nicht Hansens, er wird Dorotheens Knecht. Für sie will er arbeiten und Hansen dabei sagen, was alles er ihm habe opfern und für ihn tun müssen. Will doch dem Trotzkopf einmal sagen, was er da macht und – ja, das muß gehen.« Der Krämer sah in dem Soldaten so gut den Rächer als Angelika. Drum sollte, mußte er bei seinem Stolz und Trotz erfaßt, gebunden und in eine Tiefe gezogen werden, wo auch Zusel ihn schaudernd sah, ohne daß noch ihr Mitleid sich regte. Der Krämer hatte seinen Plan fertig, einen in jeder Weise vorteilhaften Plan. Tatendrang trieb ihn aus der engen Stube und ließ ihn nicht mehr ruhen, obwohl er nicht gleich ans Werk schreiten durfte. Noch nie kam es ihn so hart an, den geeigneten Zeitpunkt ruhig abwarten zu sollen, als jetzt. Lange stand er unter der Haustüre und sann auf eine Zerstreuung. Plötzlich schoß sein Kopf in die Höhe. Dann verschwand er im Haus, um eine Minute später mit Hut und Stock wiederzukommen. Rasch lief er hinunter zur Brücke, und eine Minute später war er auf dem Wege, der an der grauen, vielköpfigen Fluh neben der Ach zu den Dörfern der Sonnenseite führt. Beim Schneeschmelzen oder wenn die Ziegen im Wald ob dem kahlen Felsen weideten, sah er von seinem Hause aus hier schon manchen Stein herunterstürzen, der dann, auf dem eingesprengten Felsenweg zu vielen Stücken zerschlagen, weiße Ringe in die blaue Ach graben zu wollen schien. Freilich ging er hier auf dem Kirchweg für die guten Bauern da droben, die ihn frommgläubig einen Glücksweg nannten, aber sein Blick blieb wie gebannt an den in den Felsen gehauenen Kreuzen, die, geschehenes Unglück verkündend, jenes Glaubens zu spotten schienen. Wie leicht konnte aus hundert Ursachen da droben einer der vielen Steine sich lösen und ihn unversehen in die Ewigkeit bringen. »Ich will beichten, nächstens, sobald ich mit Hansjörg im reinen bin, und dem steht es ja frei, zu tun, was er will. Ich werde ihn nicht zwingen, nur reden mit ihm«, rief er aus, immer zu den hervorhängenden Tannen aufschauend, als ob er damit den Geist beschwichtigen wollte, welchen die Sage als Wächter für fromme Kirchgänger da oben hausen ließ. Er rief so laut, daß der Geist, wenn er auch nur mit Menschenohren versehen war, es trotz dem Tosen der Ach hören mußte. Dabei lief er immer schneller, denn zurück durfte er fast noch weniger als vorwärts, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er endlich mit einem fröhlichen »Gott Lob und Dank« unter dem letzten über den Weg herausragenden Felsenkopfe vorüber war. »Wenn jetzt Hansjörg da droben gestanden wär'!« dachte er noch zitternd und schloß die Augen; aber der Bursche stand drohend vor ihm, bis er sie wieder öffnete und beinahe erstaunt die friedlich nebeneinander stehenden Häuser vor ihm sah, umkränzt vom herbstlich buntfarbigen Wald unter dem Felsen, der die wunderbar blaue Decke des Himmels zu tragen schien. Alles war so friedlich und still, daß er sich seine Aufregung nicht mehr zu erklären vermochte. »Schrecklich«, hauchte er, »wär' so ein Tod ohne Feuer und Licht freilich, aber wenn man nun so krank daheim liegt und die Sterbkerzen sind schon gerichtet und man hat der Magd schon Befehl gegeben, die Immen, wenn er in den letzten Zügen liegt, auf einen anderen Platz zu stellen, daß sie nicht auch mit dem Herren und Hausvater sterben ... man könnte gleich krank werden vor Angst, wenn man sich's denkt, und kommen tut's halt doch und bald, wenn man schon so alt ist wie ich. Kräftig bin ich wohl noch, aber das ist wie dieser schöne Herbsttag. Er macht nur die Blätter gelb und treibt nichts mehr als Zeitlosen. Auch die fehlen meinem Kopfe nicht. Ja, bald ist's aus, und was sagen sie dann, und was machen sie mit dem, was ich erschwitzt und ersprungen hab'? Ich muß mir's gefallen lassen und kann nichts mehr machen.« Wäre dem Mütterlein, welches dort in dem schattigen Schöpfe seines Häuschens saß und spann, zumute gewesen wie dem Krämer, es hätte gleich zu beten angefangen um ein seliges Sterben und eine glückliche Ewigkeit. Aber das Weiblein hatte ganz andere Gedanken, als es den Krämer kommen sah, der ihr schon lange mit Versteigerung seines schönen Waldes da droben ob dem Dorfe gedroht hatte. Ihm war es gewiß, der harte Mann komme nur, um sein Guthaben zum letzten Male zu fordern, und es hatte nicht ganz unrecht, denn wirklich trieb ihn nur das da herauf. Den schönen Wald wünschte er lange zu kaufen, und nun sollte das seine Kurzweil werden. Aber an der Fluh drunten war ihm ein ganz anderer Kopf gewachsen. Nein, alle Welt sollte sich nicht freuen über seinen Tod wie die Ameisen da neben dem Wege, die sich eben an eine überfahrene Eidechse machten. Er machte der Witwe entgegen ein so freundliches Gesicht, als ihm nur möglich war, und als er sah, daß sie ihn anreden wolle, sagte er: »Weiß alles, wenn du nur einen Zins gibst. Verkauf' nur eine einzige Tanne, das wird mehr als reichen. Ich brauche Holz und will mir gleich da droben einen Stamm aussuchen.« Der gerührte Dank der Witwe tat ihm weh, und furchtbar brannten die Freudentränen, die sie weinte, seine Seele. Er hatte doch nur getan, was recht und billig war, und daraus machte man soviel Wesens. Gab's ein schärferes, vernichtenderes Urteil über sein bisheriges Leben und Wirken? Dieser Dank, weil er einer armen Witwe den einzigen Besitz nicht um ein Sündengeld abdrückte, sobald er sie in der Hand hatte! Ohne Abschied ging er weg und bog, ohne noch auf den Weg zu achten, sogleich aus dem Dörfchen gegen die Halde, die, in frischem Grün prangend, der liebste Weideplatz der jetzt frei auf den Feldern sich herumtreibenden Kühe und Ziegen geworden war, da in der Ebene unten neben den dritten Grasstoppeln des Jahrgangs nicht viel Grünes mehr gefunden werden konnte. Dem Krämer wurde ganz wunderbar zumute mitten in dem Schellenläuten dieser friedlichen Tiere. Sie ließen sich gehen, neideten sich nicht, und der Mann begann sich vor ihren fragenden Blicken beinahe zu fürchten. Er lief so rasch aufwärts, daß er sich, als er ob den Weideplatz kam, ermüdet auf einen bemoosten Stein setzte. Hier nun konnte er ungesehen verschnaufen und sich das Schellengeklingel wieder aus den Ohren kommen lassen. Schon früher, er konnte sich noch ganz gut erinnern, wann und unter welchen Verhältnissen, war er mehrere Male hier gesessen auf dem nämlichen Steine und hatte so von oben hinausgeschaut über die Häuserreihen rechts und links neben den beiden Ufern der Ach, deren Tosen hier kaum noch gehört wurde. Dort unten wohnte keiner, mit dem er, der einzige Krämer seit Jahren, der alles im Dorfe kaufte und verkaufte, noch nichts zu tun gehabt hatte. Sonst, wenn er hier saß, mußte er lächeln über die guten Tröpfe da drunten, für deren Vorsehung er sich selbst, die Herren im Pfarrhof und einige alte Basen und Pflastersibyllen hielt. Und noch war ja alles beim alten. Noch arbeiteten und verbrauchten sie alle für ihn, und doch wollte und wollte jenes Lächeln, jenes behagliche Gefühl nicht mehr kommen! Dort drüben im entlegensten Winkel der Gemeinde, in der Gruben, stand das schlechte Hüttchen des armen Holzhackers. Grad' erst am letzten Sonntag hatte der für den hart verdienten Wochenlohn seiner Herzallerliebsten einen silbernen Rosenkranz gekauft und sich dabei von ihm übertölpeln lassen. Aber – mochte das Silber des Geschenkes auch falsch sein, die Liebe des opferwilligen Burschen, der nicht einen Kreuzer mehr herunter marktete am hohen Preise, die war gewiß echt, und das hatte wohl den höchsten Wert auf dieser Welt, wo es soviel Unechtes, Falsches gibt. Vielleicht machte die beiden echte Liebe glücklicher als echtes Silber! Es erfaßte den Mann eine Art Heimweh, als er so viele zum Teil recht ärmliche Häuser überschaute, in denen er friedliche, gutherzige, gläubige und glückliche Leute wußte, denen höchstens einige Taler fehlten und – denen kein Mensch auf der weiten Gotteswelt im Wege war. Und er, der sich so plagte, ihnen auf den Köpfen herumtrampeln zu können, was hatte er bei seinem scheinbaren Erfolge bisher davon, und was dann, wenn er neben so einem auf dem Friedhofe lag? Einmal war das so, vielleicht schon bald – »Und dann?« »Auf, fort!« Der Krämer dachte nicht mehr an den Zins, welchen er sich im Walde der armen Witwe hatte suchen wollen, wie viele Tannen da auch über ihn in das tiefe Blau des wolkenlosen Himmels hineinragten. Hier hörte er nichts mehr vom Schellengeläute der Kühe, die drunten an der Halde weideten. Aber auch das Brummen der von einem leisen Lüftchen geschüttelten Wipfel erschreckte ihn. Zwischen diesen jahrhundertealten Stämmen kam er sich recht klein vor. Auch hier war Friede. Es wurde ihm unheimlich im grünen Halbdunkel. Lange suchte er nach einer offenen Stelle, wo die Sonne hereinschien, um sich abermals zu setzen. Dumpf und unsicher hörte er einige Axthiebe fallen. »Ich möchte kein Holzhacker sein – und doch wollt' ich, daß ich einer sein könnte«, sagte er, mit seinem Stock an den Stamm einer Tanne schlagend, daß er selbst über das Geräusch und den eigentümlichen Nachhall weit im Walde erschrak. Als Knabe war er so gern im stillen Wald, und dieser Nachhall machte ihm Spaß. Wie wohl ward ihm damals, wenn er etwas tat, selbst, eigenhändig auf der Welt etwas anders machte, als es war. Und jetzt, in der kurzen Zeit seit damals schon so starr, so – nein! Er war doch noch nicht gar so alt, war noch ziemlich rüstig, konnte doch auch noch etwas tun, um sich aus dem Gedankenspinngewebe zu reißen, wenn er sich recht ermannte. Früher schlug er nur so drein, daß es Fetzen hagelte ringsum, wenn ihm etwas überzwerch in den Kopf kam. »Wollen doch sehen, was er noch kann!« rief er aufspringend, grub mit der Hand einen Stein von ziemlicher Größe los, und bald stürzte derselbe funkensprühend im Halbdunkel über den felsigen Abhang in die Tiefe. »Halt, Freund!« rief eine Stimme, über welche der Krämer fast zum Sterben erschrak. Zwischen zwei jungen Tannbüscheln erschien eine Gestalt, eine große männliche – der Hansjörg in seinen besseren Bauernkleidern. Noch vor zwei Stunden war der Krämer gewillt, diesen Menschen so schnell als möglich aufzusuchen und ein vertrautes Wort, ein wichtiges, mit ihm zu reden. Jetzt aber wollte er ja gar nichts als hier sein und allein. »Was willst denn du da?« fragte er etwas rauh. Hansjörg kletterte am Felsenkopf herauf wie eine Waldkatze, ohne darauf zu achten, daß er's nur wenige Schritte weiter rechts oder links viel bequemer gehabt hätte. Erst als er hart neben dem Krämer stand, antwortete er: »Was ich wolle? Nun, wenigstens nicht ruhig warten, bis mir ein Stein an den Verstandskasten springt und zu den sieben Löchern, durch die schon zu viel heraus und hinein kommt, noch das achte schlägt. Stein und Bein paßt denn doch wohl nicht überall so gut aufeinander als in den hochweisen Reden der alten Stigerin.« »Was tust du denn da unten?« »Jetzt natürlich nichts mehr.« »Du bist also fertig?« »Das ließe sich mit einem einzigen Worte beantworten, nicht wahr?« »Kommst wohl wieder aus dem Bayrischen?« »Ursprünglich von daheim wie die Kinder.« »Aber heut?« »So nach und nach«, antwortete Hansjörg lachend, »könnte man noch von viel Dümmeren manches er fahren. Gewiß hast du aber nichts bei dir, daß man etwa von Gemeinde wegen antworten muß.« Das war aber dem Krämer denn doch selbst in seiner heutigen Stimmung zuviel. »Wenn du einmal dem Gemeindediener in die Hände kommst, wirst du es schon merken. Es gibt aber noch ganz andere Kerle mit Haar auf den Zähnen, die dich in unliebsamer Weise zum Reden zwingen könnten.« »Dann«, spottete Hansjörg, »müssen's freilich andere sein als der, welcher hier ist.« »Weißt du, Bürschchen, daß gestern und heut ein Grenzjäger bei der Kronenwirtin ist?« »Das heißt bei ihrer Bierpfanne. Solang er dort ist, ist er nicht hier.« »Nur ein Wort von mir zu diesem, und –« »Und eins von der Wirtin sind zwei.« »Eins ist genug.« »Dann will es der Grenzjäger – ich kenn' ihn ganz gut – gewiß lieber von der Wirtin, wenn sie auch schon ein bißchen alt ist.« »Nur deinetwegen«, rief der Krämer, »wird er den Eid nicht brechen wollen. Ich gelte etwas beim Amt. Noch nie hat es gegen mich gesprochen, und wenn ich will, kann ich ihn noch heut zu einer Hausdurchsuchung treiben.« »Der würde Augen machen drüben am Argenstein und suchen.« »Die Sach' ist nicht halb so spaßig. Mein Töchtermann, der Andreas, will deinen schlechten Kram nicht mehr länger unter seinem Dach.« Hansjörg wechselte die Farbe, doch schon einen Augenblick später sagte er gefaßt: »Das ist mehr als ein Wort, und zudem nicht von dir.« Der Krämer biß sich auf die Lippen. Er hatte schon zuviel gesagt, denn wenn er den Burschen nun nicht gleich fing, so konnte er ihm wieder ganz entrinnen. Da mußten schon andere Saiten aufgezogen werden. »Andreas«, sagte er gemütlich, »ist eigentlich ein guter Löffel und tut fast immer, was ich will.« »Und du«, lachte der Bursche, »mußt einstweilen, was ich will, dann hab' ich also dich und den Andreas, zwei Fliegen mit einem Schlag, oder ist eins noch gar ein Hummel?« Der Krämer sah den Soldaten erstaunt, erschrocken, fragend an. Er sah dessen Auge wild aufblitzen, als er nach kurzem Schweigen, welches dem verlegenen Mann wohl Zeit zu einer Frage lassen sollte, erklärend fortfuhr: »Wer kann, der tut, was sein Vorteil ist, und macht nicht viel Federlesens, hast du einmal gesagt. Nun gut, heut' bin ich der Stärkere. Krämer, ich kann! –« »So«, sagte der Erbleichende mit vor ohnmächtiger Wut bebender Stimme, »du schleichst also in Wäldern und Tobeln umher, eins dann plötzlich wie ein Straßenräuber zu überfallen!« Hansjörg stellte sich hart vor den Krämer, der an allen Gliedern bebte. Stolz und wunderbar groß stand der Bursche da. Seine Wangen glühten, seine Augen blitzten, sein glühender Atem traf die mit kaltem Schweiß belegte Stirn, und seine kräftigen Hände erfaßten die Schultern des in sich Zusammensinkenden, während er mit donnernder Stimme rief: »Du elender Wicht! Schau, ich möchte dich zerreißen, und ich wär's imstand. Vernichten könnt' ich dich, zertreten, daß man nichts mehr säh' als einen unsauberen Platz, wo gewiß nie mehr Gras wachsen, nie mehr ein noch so müde gehetztes Tierlein ruhen tat. Du bist mir aber zu erbärmlich. Ich will nicht dein Richter sein, denn es gibt einen, der noch viel mehr weiß. Nur zeigen will ich dir, wie elend du bist, wenn du einmal aus deiner zusammengeschacherten Herrlichkeit herauskommst in gesunde Luft. Dir spricht nichts für als dein Alter, und das ist nicht ehrwürdig. Aber fürchten mußt du dich nicht vor mir. Hier unter heiterem Himmel übergeb' ich dich dem Strafgericht des furchtbaren dreieinigen Gottes! Es gab wohl Tage, Wochen, Jahre, wo ich uns so zusammen daher wünschte mit verflucht heißem Wunsch, brünstiger, als ich jemals ein Gebet zum Himmel schickte. Auf ganz andere Weis' noch hätt' ich dir den Meister zeigen wollen. Jetzt aber ist's mir genug so, und ich mag das Kreidemännchen nicht wegwischen. Seine Kraft steckt ja doch nur im Schimmel, der sich daheim um seine Taler legt.« Dem Krämer war es, als ob der Boden unter ihm wanke. Vernichtet sank er zusammen. Hätte er die Kraft seines Gegners gehabt, es wäre ein furchtbarer Kampf entstanden und hätte wenigstens einen von ihnen nicht mehr lebendig vom Platze gelassen. Begann es doch jetzt zuweilen in seinen Armen zu zucken und zog ihn fast mit Gewalt vom Boden auf, aber, jedesmal noch schwächer, sank er zwischen die halbverdorrten Waldgrashalme zurück. Wohl sah ihn niemand als Hansjörg, aber ihm war, ob der Wald, ob jeder Stamm, jeder Grashalm Augen und Ohren bekommen hätte. Die welken Blätter schienen sich kichernd etwas zuzuflüstern, die ernsten Tannen schüttelten brummend die bebarteten Äste, und die Vögel ob den Wipfeln erzählten sich etwas und flogen wieder weg. Oh, wenn auch er hätte fliegen können bis – ja, wo hätte er denn gleich etwas gegen den Menschen tun und sich beruhigen können? Jetzt empfand es der Krämer so schmerzlich wie noch nie, daß seine Kraft wirklich nur in seinen Talern liege. Es war ihm das kein neuer Gedanke, aber sonst hatte er ihn stark, tätig gemacht, heute schien er ihn vernichten zu wollen. »Ich bin sonst ein guter Kerl«, begann Hansjörg nach langem Schweigen beinahe mitleidig. »Nur dein böses Gewissen hat dich niedergedonnert. Ich wäre ganz ruhig da drunten geblieben, bis die Nacht mich und meinen letzten verbotenen Pack bedeckt hätte.« »Den letzten?« fragte der Krämer lauernd. »Ich will ein ordentlicher Mensch werden.« »Du gehst auf den Stighof. Ist das klug?« »Nein, zum Bauernknecht paß ich wohl trotz der Kraft nicht.« »Das glaub' ich auch«, sagte der Krämer, dem allmählich wieder etwas leichter wurde. »Aber«, sagte Hansjörg, »wohin wär' ich besser? Und hineinleben kann man sich in alles. Hab' ich mich doch sogar ans Kasernenleben gewöhnen können, so daß mir selten etwas den gottgesegneten Appetit verdarb. Der schlimmste Tag war der, wo ich dir von Zusels Briefen schrieb. Ich hatte ein Viertelhundert Prügel überkommen, weil ich einem erstickten Studenten, dem sein Vater dann eine hohe Stelle kaufte, nicht viel mehr Buckerle machte, als er verdiente. Herrgott, und daheim saßen sie behaglich und verhandelten Menschen und Waren! Die Zusel schrieb auch seit Monaten nicht mehr. Alles schien aus, und ich saß ohne Geld im Arrest und hatte keine Aussicht mehr auf die schon täglich erwartete Beförderung. Da schrieb ich in der Wut an dich wie ein dummer Junge, der abgetragener Butter auch das Brot nachwirft. Dein Geld hat mich gar nicht gefreut. Einige Freunde haben's vertrunken an einem Tag. Ich hab' nicht einmal helfen mögen und habe geweint die hellen Tropfen. Mir war's, als ob ich lachende Erben das Liebste meines liebsten Freundes verzechen sähe.« Wider Willen mußte der Krämer sich das Bild, das Hansjörg da brachte, recht lebhaft ausmalen. Ja, lachende Erben – das machte den Schluß. Aber Susanne war dazu zu weichherzig. Jetzt wurde sein Trost, was ihm sonst immer im Wege war. Ja, die Zusel war ein gutes Kind. An die wollte, mußte er sich halten, die noch glücklich machen. Es ging leicht, wenn sie nur diesen Burschen aus dem Sinn schlagen konnte. Das aber schien ihm nie schwerer als jetzt, wo er ihn, wenn auch zähneknirschend, achten mußte. Den Kopf auf den im Moose ruhenden Arm gestützt, saß der Krämer sinnend, heimlich Rache brütend, neben dem Burschen, der sich nach der Aufregung immer mehr in liebe Erinnerungen verlor. »Ach Gott«, rief er aus, »wie hab' ich's dumm und schlecht gemacht, daß mich das gute Mädchen mein Lebtag drum ansehen muß, wenn es auch sein Herz nicht mehr so schwer traf, wenn auch die Lieb' vergangen war neben dir wie die Blumen unter Schnee! Schuld bist nur du, alter Sünder, daß ich so tief, tief herabkam.« Jetzt hatte der Krämer einen Ableiter gefunden. Trotzig richtete er sich auf und sagte: »Wer das Herz hat zu solchem Streich, soll nur sich selbst bei der Nase nehmen. Wurde von mir ein liebendes Herz verraten für so niederen Preis?« Der Krämer hatte wirklich das Gefühl, für seine Zusel einzustehen. Das gab ihm wieder Mut und machte ihn hart und fest, wieder ganz zum alten. Seine Klugheit hatte des Burschen Schwäche heraus und suchte gleich etwas damit zu machen. Nur einen Handel, bei dem er selbst mehr wagte als sein Gegner. »Zu geschehenen Dingen«, meinte er, »muß man das Beste reden; wichtiger für uns drei – ich meine Zusel auch – ist die Zukunft.« »Die hast du mir zerstört.« »Es ist grell in dein Leben eingegriffen worden, aber nur für Stighansen. Das weiß der und wird noch etwas gutmachen wollen. Meinen tut er es wohl gut, aber mir kommt's vor, ob da einer dem anderen die Handschuhe leihen tat zu Strümpfen. Ich möchte dir besser helfen, da ich auch etwas gutzumachen habe.« Mit diesen Worten leitete der Krämer ein langes und breites über die Eigenheiten der geld- und namensstolzen Stigerin ein, neben der ein tüchtiger Bursche kaum auszuhalten vermöchte, wenn er noch viel mehr eine Knechtsnatur hätte, als das an Hansjörg zu bemerken sei. Der Krämer wurde um so eifriger, weil er nicht bloß den anderen, sondern auch sich selbst über zeugen wollte, daß er es nur gut meine. »Arbeite du wieder für mich – für uns«, schloß er eine lange Abhandlung, »und du sollst nicht mehr an der Klage sein.« »Nein«, antwortete Hansjörg entschieden, »lieber mich noch einmal verkaufen lassen und für immer. Im Stüble neben dem Laden – das hab' ich verschworen – soll mich kein Mensch wieder sehen, wenn ich so alt werde wie die Sünde.« »Ist mir lieb zu hören«, lächelte der Krämer. »Kein Mensch weiß, was es wieder gäb', wenn du und das Blitzmädel unter einem Dache lebten.« Die Wangen des Burschen röteten sich. Er sah Zusels Vater erstaunt an und fragte mit unsicherer Stimme: »Was soll ich machen?« »Daheim für mich arbeiten.« »Um ein hübsches Vermögen tat ich nicht mehr immer sitzen.« »Nicht nötig; du sollst genug Bewegung haben.« »Was hättest du denn im Kopf?« »Bleib, was du bist, ein Schwärzer, und mach' mit mir gemeine Sache«, sagte der Krämer. »In meinem Laden kommt alles am besten fort. Auch brauchst du dann mich so wenig zu fürchten, als unsereiner das Amt zu fürchten hat. Du bist sicher, an Betriebskapital und Lohn soll's nicht fehlen, und du mußt nichts als das klug gewählte Warenlager teilen mit einem, der dir ein mächtiger Freund werden kann. Daß dann die bisherige Feindschaft ein End' hat, ist auch noch etwas wert.« »Knecht«, stotterte Hansjörg nach einer Weile, »wär' ich freilich nicht gern, und wir könnten immer wieder aufhören –« »Allerdings, wir binden uns gegenseitig und machen uns gegenseitig frei. Du müßtest nicht einmal nur mir als Schwärzer dienen; doch als Soldat und sonst wird es gut sein, wenn wir jedes Aufsehen vermeiden. Es wär' sogar gut, wenn du zum Schein ein wenig mit der Nadel arbeiten tätest. Zu verdienen brauchst du nicht viel.« »Und wenn man mich fängt?« »Ich werde dir helfen auf jede Art, wenn du mich nicht angibst. Aber laß immer die Ware lieber fangen als dich. Ich weiß, daß Zusel viel lieber einmal die paar Taler weniger erben will.« Dieser Schluß wirkte mehr als alles andere. Bald waren sie handelseins und reichten sich die Hände. »Morgen kannst du etwas Geld haben«, rief der Krämer schon im Gehen. Jetzt war er in der besten Stimmung. Die Todesgedanken kamen nicht mehr; trotzdem aber suchte er einen Alpweg, der über die Fluh hinaus und neben dem Liggstein gerade zur Kirche hinunterführte, um den gefährlichen Weg unter dem Felsen neben der Ach zu vermeiden. Vorzuwerfen übrigens hatte er sich nichts mehr. Hintergedanken hatte Hansjörg so gut als er, und mancher wohl wäre nicht imstande gewesen, so einem Grobian auch nur zum Scheine die Hand zu geben. Das war also überstanden, und in Zukunft wollte er denn doch etwas gewissenhafter vorgehen, besonders wenn einmal Zusel Stigbäuerin war. Hansjörg kletterte mit tausend neuen Plänen und Hoffnungen zu seiner Ware, um da das Dunkel der Nacht zu erwarten. Am Tage darauf, es war ein Sonntag, predigte der Kaplan von den Pflichten der Arbeitgeber und Dienstboten, besonders von jungen Mädchen, die einer teuflischen, unvernünftigen Berechnung ihre Ehre und Tugend opferten. Der Prediger wollte nichts Verächtlicheres kennen, als wenn so ein magerer, blonder, blauäugiger Brocken so einer fetten Maus in die Falle gelegt werde. Nach dem beinahe endlosen Vortrage sagte der Krämer ziemlich laut: »Man hätte Dorotheens schmutzige Wäsche doch nicht so auf die Kanzel bringen sollen.« Diese zarte Andeutung wäre nicht mehr nötig gewesen, da ohnehin schon fast alles nur an die Magd auf dem Stighofe dachte. 16. Kapitel Sechzehntes Kapitel Das Echo der Predigt auf dem Stighof Wie es Büchlein gibt, über die wieder viele und großmächtige Bände geschrieben werden, so gibt es im Bregenzerwalde Predigten, über die und denen nach gleich wieder in allen Ecken gepredigt wird, wenn sie auch nicht halb so lang und »kräftig« sind wie die, welche der Kaplan diesmal gehalten hatte. Wie eine Lawine fuhr sie durchs Dorf. Einige meinten, man hätte auch von dem und diesem reden können, und fingen dann andere durchzuhecheln an. Eins war man nur noch darüber, daß es mit Dorotheen ein wahres Elend sein müsse. Auf den Stighof brachte der Kanzelvortrag kaum größere Aufregung als in andere Häuser, wo Eltern ihren Kindern zusprachen, sich das zum Spiegel zu nehmen. Aber zwei oder beinahe drei kleine Predigten wurden aus der großen doch auch gemacht. Eine war für Hansen ganz allein, und es wurde daher von der Stigerin, bevor sie begann, die Stubentüre sorgfältig verriegelt. »Heut unter dem Gottesdienst«, sagte sie, jedes Wort scharf betonend, »ist's mir geworden, als ob nun Sterben für mich das nächste und wohl auch bei weitem das allerbeste sei.« »Ich hab's ja gesagt, du solltest lieber in Gottes Namen daheim bleiben und eine gute Meinung machen«, sagte Hans und fuhr dann, als die Mutter den Kopf schüttelte, wehmütig fort: »Du bist nun einmal nicht mehr für die grelle Herbstluft genatürt und solltest dich um Gottes willen mehr schonen.« »Schonen!« wiederholte die Stigerin bitter. »Schone nur du mich, wenn ich wieder eine frohe Stund' haben soll. Aber ja, du hast mich schonen wollen! Ich sollte nicht merken, was schon die ganze Gemeinde gemerkt hat, und das macht mir so Kummer und liegt wie ein Berg auf dem Herzen. Wenn ich einmal auf Dorotheen zu reden kam und auf das, was mir schon seit einigen Wochen fast jedes Lüftlein zuwehte, ja, da tatest du, ob du nicht fünfe zählen könntest. Ich hab' dich zu dumm gehalten zur Verstellung und zu gut und blieb ruhig, bis ich mich nun von jeder Obst-und Besenhändlerin für die Überlistete, die blinde Affenmutter ansehen lassen muß.« »Und warum denn das?« fragte Hans, der noch immer nicht recht wußte, wovon denn eigentlich die Rede sei. »Wegen der Dorothee, Mathisles Dorothee, unserer Magd, wenn du sie kennst.« Hans erschrak, aber nicht weil er nun an die zum größten Teil verschlafene Predigt dachte, sondern weil er glaubte, daß es sich um das Verhältnis des Knechtes mit der Magd handeln werde. Die Mutter war ein wenig stolz und hielt viel auf die Ehre ihrer Verwandtschaft, besonders aber ihres Hauses. Es konnte ihr wohl nicht gleichgültig sein, wenn das Mädchen offenbar dem Knechte vor ihm den Vorzug gab. Die Stigerin hatte natürlich für seine Verlegenheit eine andere Auslegung, und unwillig fuhr sie ihn an: »Jetzt stehst du da wie das Schaf am Hag, und alle Verstellung ist aus. Ach Gott, wie einfältig und dabei doch so schlecht!« »Mit wem bist du heut aus der Kirche?« »Geht dich nichts an; was ich weiß, hätt' ich von jedem hören können.« Hans wußte nicht, was er denken sollte von »jedem« und vom Kopfschmerz, über den die Mutter in den letzten Tagen immer geklagt hatte. »Wir wollen lieber von anderem reden«, sagte er. »Derlei Geschwätz macht mir und dir wohl mehr Kopfweh, als es eigentlich wert ist. Ich hab' selbst genug zu verwinden, wenn man mir auch nicht noch schwer macht, und ich glaube, daß das ganz nur meine Sache, daher auch nur meine Sorge sei.« »Das glaub' ich aber nicht!« erwiderte die Mutter heftig. »Wie hab' ich mir es doch sauer gemacht alle Tage, hab' sogar die größten Löcher in meine Nächte hineingebrannt, um nur den Hof und das Anwesen gehörig im Stande zu erhalten, bis du gewachsen sein würdest. Und nun steht der Lümmel lang und breit da wie ein Klosterkoch, und sogar sein Schweigen bestätigt, was ich Närrin sonst nie habe glauben wollen, nämlich den Spruch: Kleine Kinder kleines Kreuz, große Kinder großes Kreuz. Hätte ich gewußt, wie es gehen werde, dann wäre es gewiß nie so gegangen. Aber wem wär's eingefallen, daß Dorothee auf die Art uns danken werde.« Durch diese Worte glaubte Hans seine Vermutung nur zu sehr bestätigt zu hören. Undank aber durfte er denn doch dem Mädchen nicht vorwerfen lassen. »Mutter«, begann er etwas schüchtern, »wenn's auch für uns nicht ehrenhaft ist und besonders mir weh tut, daß sie mich nicht will, so –« »Eben will sie dich fangen, du Tropf. Wenn sie sich gar noch ziert, so wird sie dich halt schon am Faden haben, aber noch fester machen wollen. Du steckst schon drin, daß du mich von Herzen gern ein wenig zu dir sehen lassen solltest; aber statt dem will man mich gar nicht einmal mehr in die Kirche lassen, seit auf allen Gassen von dem sauberen Pärlein geredet wird.« »Von welchem Pärlein?« »Jetzt steht er wieder da wie der Gottverlaßmichnicht. Von wem denn als dir und der Magd? Hat es je so einen Tropfen gegeben, wie du einer bist, seit man warm kocht und doch wenigstens mit dreißig Jahren ein bißchen etwas in den Verstandskasten bekommt? Ich aber soll meine Gesundheit schonen, mich in acht nehmen vor der Herbstluft, um doch noch jahrelang die Herrlichkeit mitansehen zu können neben dem alten Mathisle. Tat mir auch not! Schon lang hätt' ich sterben sollen, schon da, wo ich Dorotheen, die Hexe, in –« »Jetzt das ist denn aber doch zu arg!« konnte Hans endlich einfallen, als die Stigerin, noch nach mehr ähnlichen Ausdrücken suchend, einen Augenblick innehielt. »Mir tät es Freud' machen, wenn sie mich so gern hätt', als man sagt.« »Dein Geld nur hätt' sie gern, dich, wie du bist, tät keine gern haben.« »Dann will ich mich vor den Reichen in acht nehmen, die brauchen mein Geld nicht, geradeso wenig als ich das ihre. Überhaupt heiratet jeder für sich, drum soll man es ihm überlassen. Mir kommt es ungemein groß und wichtig vor, sich auf sein Lebtag an ein Weibsbild zu binden. Ich mein', das muß so aus einem herauswachsen; aber wenn man den gesäten Erdäpfeln oder Rüben jeden Tag nachgräbt, wächst gar nichts. Das war grad' auch so ein Gezisch und Getue bei verschlossenen Türen, bis man die gute Angelika dem Andreas verkuppelt hatte, und nun –?« »Die geht mich nichts an, und ich weiß nicht, warum du noch mit der alten Geschichte kommst.« »Wer daran keine Schuld hat, kann um so leichter und ohne Gewissensplag' eine gute Lehre daraus nehmen. Es wär' für beide Teile besser gewesen, sie hätten sich gar nie gesehen. Er mag nun einmal nicht mit ihr gehen, drum kommt er gerade dann am meisten auf den Abweg, wenn sie auf dem rechten ist. Warum bin nicht ich an sie verkuppelt worden? Dann hätt' ich jetzt den Batzen schon gegolten. Zusel hat auch keinen besseren Vater als sie, denn der Krämer ist seitdem noch kein Heiliger worden.« »Und sonst natürlich ist nur noch die Magd für dich im Dorf und auf der Welt.« »Man redet also von uns beiden?« fragte Hans lächelnd. »Eben.« »Und tadelt uns?« »Wenigstens dich. Daß sie dich gern hätt', ist etwas, das man sich einbilden kann. Sie ist ja nicht einmal hübsch mit dem blassen Gesicht, den großen Betschwesteraugen und dem fuchsigen Haar.« »Hübscher freilich wär' Angelika gewesen.« »Und Zusel gleicht ihr, ohne das Alter, wie ein Ei dem anderen.« »Auch sie ist hübsch. Wenn ihr Blick eins trifft, wenn sie einem zulächelt und dann den Mund wieder so stolz und trotzig spitzt und das Näschen aufwirft, meint man schon –« »Was meint man?« »Man müsse rasend werden, daß so ein – ja noch ein herrlicheres und vor allem besseres Wesen so elend verschachert werden konnte. Ja, Mutter, damals war ich ein Tropf, sonst wär's anders gegangen.« »Lassen wir das Alte, solang wir am Jetzigen so genug haben. Die Magd soll noch heut' aus dem Haus, denn nach dieser Predigt will ich euch nicht mehr unter einem Dache wissen, solang ihr beide ledig seid.« »Dann«, sagte Hans entschlossen, »dann muß ich gleich fragen, ob sie mich nicht heiraten möchte.« »Möchte!« schrie die Stigerin, mit dem Fuße stampfend, »möchtest du sie?« »Sobald sie sonst nicht mehr bei uns und alles im alten bleiben kann.« »Das geht nicht mehr, denn sie ist mit dir nun und du bist wegen ihr in ein greuliches Geschrei gekommen. Ich glaub' selbst nicht alles, nicht das Halbe – aber ...« »Und ich geb' jetzt schon gar nicht mehr nach. Nachgeben hieße alles bestätigen und alles auf sie werfen. Mutter, was würde dein Herrgott sagen? Er nimmt es sonst in Kleinigkeiten so genau, daß man glauben sollte, du dürftest ihm gar nicht mit so etwas kommen, denn das ist grundschlecht und schändlich. Da kommt das Mädchen in unser Haus als kleines Kind, noch unverderbt, ein Engel, wenn es gestorben wär'. Von dir nur ist es erzogen worden, denn das Mathisle hast du nicht bei ihr und sie kaum einmal bei ihm gelitten. Dorotheen haben wir auf dem Gewissen und alle bösen Reden und alles, was sie jetzt aus unserem Hause mitnehmen müßte. Wär' sie schlecht, so hätten wir die Schuld und dürften sie nicht fortschicken; wir müßten nicht verschlimmern, sondern gutmachen auf jede Art und um jeden Preis. Das darf ein hilfloses Mädchen erwarten, wenn einmal die vom Stighof sich seiner angenommen haben. Wer A sagt, muß auch B sagen.« Hätte sich Hans eine Woche lang auf diese Rede vorbereitet, es wäre nicht besser, ja weniger gut gegangen, als da er ganz nur dem Herzen folgte. Daß er das tat, bewiesen die großen Tropfen, die er sich dabei verstohlen aus den Augen wischte. Er hätte sich nicht schämen müssen, und vor der Mutter schon gar nicht, denn diese war selbst gerührt und sagte mit kaum noch erzwungener Strenge: »Wie man sich jetzt regen kann, und sonst tut man wie gefroren. Wer soviel weiß, der sollte über so was gar nicht reden mögen. Geh nur und mach' einstweilen, wie du willst, es wär' da doch alles Widersprechen umsonst.« »Ich will lieber eigenköpfig heißen, als wenn ich selber mich für schlecht halten müßte«, brummte Hans, während er die von der Mutter geschlossene Stubentür öffnete und ging. Jetzt war die Stigerin mit sich selber weit weniger zufrieden als mit ihrem Sohne, der seine Sache nun einmal gar nicht schlecht gemacht hatte. Ganz uneben war nicht, was er sagte, doch ein Ausweg durfte gesucht und womöglich benützt werden. Wenn auch Jos das Mädchen gern hätte? Und fast war es gewesen, ob Hans das selber fürchte. Da wär' etwas zu erforschen gewesen, wenn sie sich nicht so leicht gefangen gegeben hätte. Daß doch einem so viel zu spät einfällt, wo es nur noch quält, statt zu nützen! Sie kannte Hansen, sie wußte, wie er sich für etwas warm machen konnte, während er der Überredungskunst beinahe unzugänglich war. Wenn er jetzt einen halben Tag ohne Beschäftigung mit sich allein blieb, dann war ihm das Mädchen gewiß schon zu einer halben Heiligen und schöner als selbst Angelika geworden. Jetzt noch wollte er Dorotheen nur glücklich wissen, und das wollte sie auch. Glaubte er an eine Neigung des Mädchens zum Knechte, so war jetzt vielleicht noch etwas zu machen, ehe das arme Kind wußte, daß ein Hans und ein Stighof zu bekommen war. Aber gleich mußte man dran. Dorothee sollte – damit beruhigte sie ihr Gewissen – durch ein schönes Heiratsgut entschädigt werden. Sie ging hinaus, um den Sohn noch einmal zu sich zu rufen, und erschrak fast zu Tode, als sie den Hansjörg die Stiege herauf kommen sah. Es war ihr, ob sie von ihm hören müsse und schon höre, zuerst hab' man die schönsten Jahre seines Lebens verhandelt und nun sollte noch die Schwester verschachert werden. »Was willst du?« fragte sie ängstlich, als er hart vor ihr stehen blieb. »Wo ist Hans?« »Er wird sich ankleiden zum Nachmittagsgottesdienst, und ich muß auch machen, daß ich beim Zusammenläuten in der Kirche bin.« »Aber den Kirchweg wirst du doch nicht mitnehmen, wenn du gehst?« »Dumme Frage!« »Nun, dann geh meinetwegen. Ich und Dorothee können auch später nachkommen.« Die Stigerin hatte keine Lust mehr, mit Hansen zu reden. Sie schickte den Burschen zu Dorotheen in ihr Stübchen und war froh, gleich wieder aus seiner Nähe zu kommen. Bald rief die große Glocke die Besitzer des Stighofs zur Andacht. Jedes hatte dem lieben Gott viel und jedes anderes vorzutragen. Hansjörg und Dorothee saßen beisammen in der Wohnstube. »Was hättest du eigentlich wollen?« fragte das Mädchen, nachdem es die Vorhänge ausgezogen hatte, um sich den Vorübergehenden zu verbergen. »Wenn ich dir das alles sagen sollte, so würdest du mehr vom Gottesdienst versäumen müssen, als dir lieb zu sein scheint. Laß dir daher lieber in aller Kürze sagen, was ich nicht will.« »Und was denn?« »Nicht hier Knecht werden.« »Nicht?« fragte die Schwester erschrocken. »Nein.« Eine Weile saßen beide schweigend nebeneinander, dann stellte Hansjörg sich kerzengerade vor der Schwester auf und sagte: »Ich gleiche doch keinem Knechte.« »Das ist nur Soldatenstolz.« »Oder Demut«, erwiderte Hansjörg. »Ein rechter Bauer tat mit mir nicht lang zufrieden sein, dann hätt' ich nur die Schand' und du den Ärger. Ich bin empfindlich, eigensinnig, hochmütig und nur das nicht, was man sein muß, wenn man mit Schaufel und Gabel exerzieren will.« »Sag' du nur lieber gleich, du mögest das liederliche Schwärzerleben nicht lassen.« »Nun, wenn's besser klingt, kann ich das sagen.« »Und ich hab' mich schon so gefreut, daß du nun doch noch zum Rechten kommen werdest«, klagte das Mädchen. »Ich will eben weiter.« »Ja, in den Turm, wo man die Spitzbuben einsperrt und alle, die die Gesetze trotzig übertreten.« »Noch bin ich auf guten Füßen, und man wird mich auch nicht so leicht fangen. Man hat in der Regel die Kraft schon vor einem Wagnis, die man dabei braucht, sonst ist man nur ein halber Kerl.« »Aber um so jämmerlichen Gewinn, Bruder!« »Du begreifst das Lustigste bei der Sache gar nicht. Das ist eben, sich täglich durchzuschlagen und nach dem Entrinnen aufatmend schon wieder einen neuen Plan zu machen. Sie haben mich zum Krieger gemacht. Auch du hast es geschehen lassen – mit Lächeln –, und es ist recht; aber nun hab' ich halt an Feldzügen und Eroberungen mehr Freude, als wenn wieder ein Rock gemacht oder ein Heufuder geladen ist. Geschafft wird ohnehin schon überall so viel, daß man kaum noch Arbeit findet und nur anderen damit im Weg ist; wer aber wohlfeile Ware schafft in unser abgeschlossenes Tal, daß nicht mehr einer ganze Gemeinden allein aussaugen kann, der nützt mehr. Und er soll nur nicht glauben, daß ich nur ganz ihm gehöre. Doch das gehörte zu dem, was ich will, und davon zu reden, haben wir heut' keine Zeit. Auch ist's mir zu heiß in der Stube da. Es wird einem fast angst vor lauter Vornehmheit. Droben auf den Bergen, da hat man es weit und frei, und ein österreichischer Jodler hallt aus dem Bayrischen zurück, als ob es gar keine Grenzen und keine Grenzjäger geben tät.« »Es gibt aber, und wenn sie dich einmal doch fangen sollten?« »Oh, den Hansjörg fängt man nicht mehr so leicht, als man meint. Weder der Krämer noch die Grenzer. Nur einmal, in der letzten Woche und beim ersten Gang, haben die Spitzbuben mir ein Päcklein abgejagt. Ich bin so müd gehetzt worden, daß ich den Plunder wegwerfen mußte, um selbst zu entrinnen. ›Das muß wieder eingebracht werden‹, hab' ich mir gesagt und mich gleich wieder mit einem großen Sack über die Berge gemacht.« »Großer Gott!« »Es ist ein herrlicher Tag gewesen da oben. Ihr da habt noch euer Lebtag nie so einen gesehen. Da ist es still gewesen in mir und rings um mich herum, so daß ich's ganz gut hörte, wie zwei Grenzer in einer öden Alphütte sich was zubrummten, als ich vorüberschritt.« »Und hast du nicht an mich gedacht und an den Vater, und bist du vorwärts?« »Versteht sich, und dann tüchtig beladen wieder zurück.« »Hast du denn alles schon auf den Bergen droben gehabt, daß es so schnell ging?« »Das ist oft der Fall, und die Grenzer, die richtig noch da waren, haben auch so etwas vermutet. Wie von Wespen gejagt, sprangen sie heraus und schrien: ›Halt!‹ Hansjörg aber hielt nicht, ob sie rufen, laufen oder schießen mochten.« »Jesus Maria! Sie schössen?« »Allerdings, aber der Soldat darf nie fürchten.« »Ja, als Soldat fällt er für Gott, Kaiser und –« »Stighansen mit seinem Handgeld – als Schwärzer dagegen für sich selbst. Aber laß mich weiter erzählen! Das Beste kommt zuletzt« »Mir grauset's.« »Abwärts halfen alle Heiligen. Wie im Winter ein Schlitten, schoß ich mit meiner Last über die glatten Bergheuplätze hinab, rutschte durch Halden, sprang über Felsen und verschwand im Gebüsch.« »Gottlob und Dank im hohen Himmel!« »Ich war einstweilen sicher, und ein weithin hallender Jauchzer verkündete das meinen guten Freunden, die mir zitternd auf Umwegen nachkletterten. Nun hörte Gott mich ächzen und den allerjämmerlichsten Klagton versuchen, bis ich die Verfolger herankeuchen hörte. Dann klomm ich wieder abwärts mit meiner Last, aber so gemach, daß sie mir immer näherkamen und bis auf einen Schritt bei mir waren, als ich wie ein halb zu Tode Gesprengter niederfiel und meinen Plunder im Sack über den Felsgrat ins Tobel warf.« Dorothee rückte ungeduldig hin und her. »Es wär' nun Zeit in die Kirche«, sagte sie. »Du mußt aber doch noch hören, wie es gegangen ist mit dem Pack.« »Ich tät es lieber hören, wenn du ihn dem armen Vater gebracht hättest.« »Der«, lachte Hansjörg, »würde Augen gemacht haben, fast wie meine Freunde! Laß mich aber nur der Ordnung nach erzählen. Da lag ich und keuchte so jämmerlich, daß die Burschen es aufgaben, mich mit Rippenstößen zum Pack zu treiben. Einer bewachte mich, bis der andere mit großer Müh und viel Schweiß den Schatz gehoben hatte. ›Ein Fäßlein Tabak‹, meinte er. ›Hast du schon aufgemacht?‹ fragte mein Wächter. ›Narr, ich konnte kaum stehen‹, antwortete der andere schaudernd. Nun wurde aufgeknüpft, und aus dem Sacke kugelte ein kurz abgesägter Tannenblock, so rund und glatt, daß man sich zum Schindelnmachen keinen hübscheren denken konnte. Meine Grenzer standen da wie verhagelt, mir aber war die Müde vergangen, und lachend sagte ich ihnen, wenn es keinen Schnee habe, könne man solche Klötze nicht auf Schlitten laden und trage sie lieber in Säcken aus dem Walde heim, wenn's nicht an der Kraft dazu fehle. Es war wohl strafbar, daß ich auf das ›Halt‹ nicht stillestand, aber sie hätten sich geschämt, mich jetzt auf das Gericht zu nehmen, und, wie die Katze vom heißen Brei weg, schlichen sie den schlechten Weg hinab.« Ganz gegen Hansjörgs Erwarten belohnte die Schwester seine Erzählung nicht mit dem leisesten Lächeln. Fast schaudernd sah das Mädchen aus den grauen Augen des Bruders etwas leuchten, was weniger Mut und Tatenlust als Trotz, Schadenfreude, Rachsucht oder sonst etwas Schreckliches sein mußte. »Du bist mir ganz fremd worden«, sagte sie traurig. »Nie könnte mich freuen, was anderen nur den Beruf schwer macht.« »Der Beruf«, antwortete Hansjörg mit einem mitleidigen Lächeln, »der Beruf, du gutes Ding, ist nichts anderes als das Leitseil, an dem sie unsereinen nach Wunsch und Willen in der Welt herumführen. Als Soldat muß ich im Frieden berufsmäßig der Ankläger meiner Freunde, im Krieg der Mörder der sogenannten Feinde werden. Mach' ich da nicht auch anderen den Beruf schwer? Aber sogar wenn ich daheimsitze, still und unbemerkt zwischen den vier Pfählen, wenn ich die Nadel walten lasse in schönem, stillem Tuch und statt meiner nur einen Rock nach dem anderen ins Feld schicke, mach' ich anderen den Beruf schwer, und je fleißiger wir schneidernde Soldaten sind, desto hitziger ist der Krieg ums Leben, um die Kundschaft nämlich und ums tägliche Brot. Das sind so Gedanken eines Verkauften, wenn er von da droben herabschaut auf die wunderbar närrische Welt und seinen Ärger vergißt im Lachen darüber, daß sich sonst kein Mensch weit herum darüber ärgert und das alles ganz in Ordnung gefunden wird. Machen die Grünröcke mir's nicht auch schwer? Und werde ich hier Knecht, so hab' ich einen anderen, heiß' er Peter oder Paul, von Kost und Most verdrängt. Krieg ist überall, und ich will, am liebsten da mittun, wo doch auch noch ein Spaß zu erleben ist.« Dorothee stand vor ihrem Bruder, wie ein Mensch vor einem Ungeheuern Ereignisse steht, welches ihn um so mehr erschüttert, weil plötzlich dessen Ursachen und Wirkungen in ihrer Nacktheit so hart vor ihn hintreten, daß er nicht einmal mehr das Walten einer höheren Macht, sondern nur noch den furchtbar regelmäßigen Lauf der Dinge darin zu erkennen vermag. So hatte der Bruder werden müssen, und doch sollte, durfte er nicht so bleiben. Sie würde – das fühlte sie, wenn sie ihn entschuldigen wollte, viel stärker, als ihr augenblicklich lieb war – an seinem Platze nicht so geworden sein; aber vergebens suchte sie, was in ihr sich dagegen aufgelehnt hätte, in ein Wort zu fassen, um dem Bruder es wie ein schöpferisches »Werde« zuzurufen. Es klang recht traurig, als sie mit abgewandtem Gesichte fragte: »Möchtest du nicht am liebsten ruhig leben und brav werden?« »Das wird nicht allen so leicht und so gut belohnt, als man sagt. Nur dir lächelt Stighans dafür so freundlich zu, daß der Kaplan keine Ruhe mehr bekam, bis er darüber eine Predigt hielt.« Dorothee verstand diese Rede nicht, obwohl sie vormittags, wie gewöhnlich, dem ganzen Gottesdienste beigewohnt hatte. »Mit mir ist's anders«, plauderte Hansjörg weiter. »Mir stünde das Dulden nicht an, und meine größte Kraft gibt mir der Trotz. Sie haben mir es aber auch danach gemacht mein Lebtag. Der Vater –« »Laß ihn«, fiel das gute Kind ein, »auch er hat es hart gehabt, und die Mutter ist viel zu früh gestorben.« »Mutter!« rief der Bursche traurig. »Ja, sie konnte recht gut sein, sie war es, aber auch wieder furchtbar hart. Da hab' ich gesehen, was die Not aus den besten Menschen macht. Dich hat ihr Unfriede mit dem Vater aus dem Hause getrieben und unter ein besseres Dach gebracht, ich aber mußte bleiben, und alle Hiebe, die Vater und Mutter in groben Reden sich austeilten, fielen vor allem auf mich, bis ich hart und unempfindlich war, so daß mir bald ein Sonnenblick der Mutterliebe fast weher machte als das Ärgste, was ihre üble Laune mir antat. So ein Blick begann das Eis zu schmelzen, welches sonst den furchtbaren Riß in unserem Hause bedeckte. Gott tröste sie im ewigen Leben! Sie hat es doch nicht mehr erleben müssen, mich zu einem Handwerk zwingen zu sehen, für das ich am allerwenigsten Neigung hatte. Der kräftigste, trotzigste Bursche im Dorf, mußte ich ein Schneider werden, weil ich das beim Vater umsonst ein wenig lernen und dann gleich beim Krämer Arbeit nehmen konnte. Man hatte schon Jahre daraufhin gesündigt, und zwar so, daß ich mich nicht mehr freimachen konnte. Die Schuld wurde größer von Jahr zu Jahr, so daß man mich endlich an Hansen verhandelte. Diese Schule hab' ich durchmachen müssen, drum ist mir denn auch ein schönes Vermögen das Höchste auf der Welt geworden. Wie ist der Krämer ein Mann und lebt trotz Neid und übeln Nachreden in aller Herrlichkeit! Und warum? Zuerst weil er ein unerfahrenes Mädchen verführte. Das machte ihn zum Herrn ihres Vermögens, und nun hat er sich natürlich gar alles erlauben dürfen. Und nun war eine Tochter da neben mir im Haus, ein übermütiges, keckes Ding, und die sah mich gern. Ja, ja, der Krämer tat sich recht, daß er mich aus dem Haus und aus dem Dorfe schaffte, denn die reiche Zusel hätte mein werden müssen um jeden Preis. Wohl hat mir das Mädchen nachgeweint und nachgeschrieben von ewiger Liebe. Aber daran hab' ich nicht geglaubt. Wär' doch auch ich gleich wieder einer anderen nachgegangen, wenn mich das Glück wieder auf den Weg einer so Reichen geführt hätte. Drum – ja, ich will nur beichten, daß doch auch hier etwas Gutes geschieht unter dem Gottesdienst –, drum hab' ich dann sogar die Schreiberei von ihr um ein Sündengeld an den alten Krämer verschachert in der verworfensten Skorpionsstunde meines Lebens. Als ich heimkam und das hübsche Kind sah – Herrgott! Ich hätte mir alle Haare ausraufen mögen. Erst jetzt seh' ich, wie hübsch sie ist, und ich weiß nicht, ist's Reue oder was, das mich mit Gewalt immer zu ihr zieht und mich selbst dem Krämer gegenüber, den ich von ganzer Seele hasse, immer wieder so schwach macht. Er sagte mir oder verriet doch, daß mich sein hübsches Töchterlein auch noch nicht ganz vergessen habe.« »Und nun läßt du dich wieder fangen von der Lügenspinne?« fragte Dorothee im Tone des Vorwurfs. »Der Krämer«, antwortete Hansjörg, »hat es mir in einem großen Augenblick gesagt, und ich glaub' es, denn ich empfinde nur zu gut, wie mir selber zumute ist.« »Der Krämer meint es aber gewiß nicht redlicher mit dir als mit anderen.« »Ich mit ihm auch nicht. Wenn er glaubt, daß ich nur für seinen Laden über die Berge gehen werde, dann trügt er sich viel ärger als ich. Das ist nur, um in seinem Hause nicht ganz fremd zu werden.« »Er kann dich aber verraten beim Gericht.« »Ich ihn auch.« »Die Großen beißen einander nicht.« »Eben drum auch muß man sich an diese hängen, wenn man sicher sein will.« »Wenn du so etwas im Kopf hast«, sagte das Mädchen ungewöhnlich streng, »so ist die heutige Predigt für dich schon ganz besonders wichtig. Es wär' doch traurig, wenn's dich träfe, wenn du als Dienstbot arbeiten tätest, und dein Lohn wäre der Zorn Gottes, der ja will, daß man ihm allein dienen und keine fremden Götzen daneben haben soll. Weißt du, der Kaplan hat die, welche dienen um Befriedigung der sündhaften Begierden, den Zauberern verglichen, die ihre arme Seele dem Schwarzen verschrieben aus Geldgier und Zeitlichkeit. Mir ist das schrecklich vorgekommen, und doch hab' ich da noch gar nicht an dich gedacht. Es ist mir nicht eingefallen, daß es dich treffen könnte.« »Oder gar dich auch noch«, bemerkte Hansjörg. »Du hast recht! Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle. Ich mein' es nicht bös, und es kommt mir selbst wunderbar vor, wie ich von deiner Erzählung weg an die Predigt denken muß.« »Du hast recht, daß du nicht gleich dich selbst bei der Nase nimmst, das tun schon die anderen. Aber laß sie dich nur beneiden. Neid bringt Glück.« »Mich nähme man dafür her?« »Ja, dich und den Hans, den dir nicht nur die recht grausam übel gönnen, welche bei Prozessionen noch das Kränzlein tragen müssen.« »Mir – mißgönnen sie – ihn?« »Ja; aber tu du nur jetzt nicht mehr gar zu falsch, nachdem ich doch auch so offen gegen dich gewesen bin. Du wärst nur ein Närrchen und er ein Klotz, wenn du ihn nicht bekommen tätest.« »Aber, Hansjörg –« »Man vermutet von anderen nur und redet ihnen nach, was man selbst an ihrem Platze getan hätte, drum auch brauchst du vor keinem Menschen rot zu werden, und am allerwenigsten vor mir. Ich hab' dem Stighof schöne Jahre geopfert, es ist recht, wenn er sie meiner Schwester zurückgibt. Ich gönne dir dein Glück von ganzem Herzen.« »Ja, ich bin glücklich hier, und du könntest es auch werden. Komm doch, schlag deine Leidenschaften nieder! Man kann's mit einem Ruck, wenn man die Faust ballt und recht trotzig tut. Ich mach' es immer so, wenn mich Kummer plagt um den Vater, dich oder – und der Kummer sitzt doch noch viel tiefer, als was dich vom ordentlichen Weg treiben will.« »Wenn du für mein Vertrauen nichts hast als diese Predigt«, bemerkte Hansjörg unmutig, »so wär's fast schad', wenn ich die ganze Vesper versäumen tät. Daß ich nicht gewillt bin, Knecht zu werden, hast du verstanden.« »Nützt alles Einreden nichts?« »Nein.« Eine Minute später schritten die beiden schweigend über die längst leere Gasse des verödeten Herrendorfes hinaus der Kirche zu. 17. Kapitel Siebzehntes Kapitel Ratlosigkeit und Entschluß Hansjörg hatte nicht ganz unrecht, wenn er Dorotheens Predigt für eine Decke hielt, hinter der das Mädchen ganz andere Gedanken und Empfindungen zu verbergen suche. Ernst aber war es ihr mit dem Zuspruch doch; sie hätte ihn in der Verlegenheit gar nicht mehr finden können, wenn er ihr nicht ganz obenauf gelegen wäre. Erst als sie schweigend neben dem Bruder zur Kirche schritt, fragte sie sich ernstlich, ob er mit der Predigt des Kaplans wohl recht gehabt haben könnte. Sie wußte sich aber so wenig vorzuwerfen, daß sie wieder ziemlich ruhig darüber wurde. Als sie aber in die Kirche kam, man sang eben den letzten lateinischen Psalm, da drehten Männer und Weiber die Köpfe um, sahen sie lange an und schienen dann Wichtiges sagen zu müssen. Ihr wurde siedig heiß und himmelangst. Auch das wieder schien man zu merken und auf allerlei Weise auszulegen, denn noch unverschämter starrte man sie an, noch länger steckte man die Köpfe zusammen, und weniger, um zu beten, als um einen Punkt für den unsicher werdenden Blick zu gewinnen, zog sie ihr kleines Andachtsbüchlein heraus. Gelesen aber hat sie nicht, die Buchstaben schwammen auf dem weißen Blatte so schnell durcheinander, daß ihr die Augen übergingen, sobald sich diese fest auf eine Zeile richten wollten. War sie denn in der Kirche, dem Hause Gottes, wo alle gleich, alle Sünder sind, aber auch alle Ruhe und Trost finden können und Schutz vor den Stürmen, die da draußen toben? Es kam ihr wie eine Entweihung des heiligen Ortes vor, daß sie heute so viele zeitliche Gedanken und Erinnerungen mit da hereinbrachte, und doch war sie vergebens bemüht, derselben loszuwerden. Was sie dem Bruder noch nicht recht glauben wollte, war ihr jetzt furchtbar klar geworden. Alle sahen sie um die heutige Predigt an, alle dachten an den Stighof und weiß Gott an was, während der Kaplan droben vor dem prächtig geschmückten Altar ein lateinisches Kirchengebet eintönig heruntersang, welches außer ihm und dem Pfarrer kein Mensch in der ganzen Versammlung verstand. Warum betete er nicht lieber, daß man es verstehen konnte? Vielleicht wäre doch ein Gedanke drin gewesen, der ihr hinausgeholfen hätte über die Beziehungen und Verhältnisse des Werktagslebens! Ihr Andachtsbüchlein hatte sie ja zu Hause auch. Nur in dem lesen hätte sie dort auch können, und noch besser als da, wo sie sich von jedem anblicken und ihn dabei unwillkürlich auch seine Rechnung machen lassen mußte. Es war heute in der Kirche gar nicht wie sonst. Noch immer hatte sie da, wo reich und arm nebeneinander knieten und gemeinsam zum Mahl der Liebe gingen, sich als Kind Gottes gefühlt; heute dachte sie nur an ihre Armut, ihre Abhängigkeit. Wenn sie zu beten versuchte, war's nur ein Flehen zu Gott, daß doch er sie nicht verlasse und noch fernerhin den Schutzengel mit guten Einsprechungen sende an die, von deren Gunst ihr guter Verdienst und damit das Wohl des Vaters und der Schwester abhängig sei. Aber selbst in diesem Zusammenfassen ihrer zeitlichen Sorgen wurde sie durch das vielleicht ihr heute auch besonders auffällige Benehmen der Umstehenden gestört. Sie alle schienen ihre Wechseltische hier aufgeschlagen und das Haus Gottes zu einer Höhle des Neides, des Ehrenmordes gemacht zu haben. Nur einer in den unteren Stühlen war so in seinem Gebetbuch, daß er weder sie noch die anderen zu bemerken schien – Stighans. Der hätte gewiß auch Grund gehabt, sich zu ärgern, und besonders über sie, wegen der er – wie der Bruder sagte – ins Gerede und in die Predigt hineingekommen war. Und doch war ihm auch unter dem Mittagsessen gar nichts anzumerken; die alte Stigerin freilich tat etwas wunderlich. Es war das aber auch weniger zum Verwundern, als daß Hans alles so gelassen hinnehmen konnte. Das war denn doch ein anderer Mann als Jos, dessen Leidenschaftlichkeit sie seit einem halben Jahre schon so oft erbeben machte! Freilich brauchte er sich um Kleinigkeiten auch nicht viel zu kümmern. Er stand fest auf dem Erbe seines Vaters, Jos dagegen mußte sich jede Stufe mühevoll erkämpfen. Das mochte den guten Burschen so trotzig gemacht haben, wie er damals war, als er ihr sagte, daß er nicht mehr auf den Stighof kommen werde. Freilich, zu erklären war allenfalls sein Benehmen, aber darum ärgerte das eins doch. Zwar nicht so recht und ganz wie heute die unverschämten Blicke – nur »a bitzle«, doch so, daß man es ihn nicht ungern auch etwas empfinden ließ. Und wie beim Jos war's auch bei Hansen. Wenn man auch seinen heitern Sinn, seine unverwüstliche Seelenruhe dem schon durch seine Stellung gegebenen Gefühle der Sicherheit zuschreiben konnte, so tat sie einem doch wieder wohl, und man freute sich, bald wieder zu ihm zu kommen auf seinen stillen Stighof. Wie schlimm wäre sie doch jetzt daran, wenn auch er noch dem Winde folgte? Ängstlich dachte das Mädchen, wie viele Leute er nun vielleicht wieder reden höre, bis er daheim sei. Sie Verließ mit den ersten die Kirche, und der Weg nach Argenau kam ihr endlos vor. Wen alles konnten die Stigerin und Hans auf dieser Strecke antreffen, wie vielerlei hören! Heute tat ihr die Freundlichkeit der Bäuerin so wohl, daß sie nun in der Küche ein inniges Gebet zum Himmel schickte, was sie in der Kirche nicht vermocht hatte. Es kam aber auch die Frau ihr so freundlich entgegen, daß dem armen Mädchen, welches ihrer Heimkehr mit Sorge entgegensah, vor freudiger Rührung das Wasser in die Augen schoß. Das waren Leute! Viel wohler wurde einem zumute, viel frömmere und bessere Vorsätze konnte man neben ihnen machen als selbst in der Kirche. Und nun kam auch Hans und erzählte, daß er heute gar keine Lust gehabt habe, mit den anderen Burschen in die Krone zum Bier zu gehen, um da ihr dummes Geschwätz zu hören. Wenn böse Leute sie nun einmal alle zusammennähmen, so wollten sie auch gehörig zusammenhalten, so treu und fest, bis man vor Ärger darüber gar nichts mehr sagen möge. So redete Hans, und die Stigerin hatte nicht einmal ein Wörtchen dagegen einzuwenden. Dem Mädchen war ganz wunderbar zumute. Hansjörg hatte also vielleicht doch nicht ganz unrecht, wenn er eine Neigung Stighansens andeuten wollte. Noch wurde ihr fast angst vor diesem Gedanken, aber Hans galt ihr jetzt zu viel, als daß sie sich nicht immer mehr und lieber damit beschäftigt hätte. Auch die Freundlichkeit der alten Stigerin, die man fast eine mütterliche nennen konnte, begann sie für einen Beweis zu halten, daß die gute Frau sich mit dem Gedanken, sie einmal als Stighofbäuerin zu sehen, schon ein wenig vertraut gemacht habe. Dorothee hatte wirklich nicht ganz unrecht. Wenn die Stigerin das Mädchen weit weniger gern gehabt hätte, als das wirklich der Fall war, so hätte Hansens Rede doch genügt, sie an ihre Pflicht als Erzieherin zu erinnern und das Glück des Kindes ihr zu einer Gewissenssache zu machen. Freilich wär' ihr jetzt jedes erlaubte rechtliche Mittel, Dorotheen aus dem Hause und mithin Hansen aus dem Gerede zu bringen, fast um keinen Preis zu teuer gewesen. Aber in Unehren sollte sie nicht aus dem Hause, da sie doch entweder unschuldig an allem war, was man sagte, oder gewiß auch Hansen sein Teil an allem zufiel. Nein, unglücklich werden für immer nur eines Geredes wegen durfte die nicht, welcher Mutter zu sein die Stigerin einmal gelobt hatte. Lieber wollte sie Hansen mit dem Mädchen, das an und für sich gewiß so gut als eine zu ihm gepaßt hätte, vor den Altar treten sehen, wie sehr das auch immer gegen ihre Rechnungen sein mochte. Glücklich mußte Dorothee werden, nur, wenn's menschenmöglich war, nicht gerade um den allerhöchsten Preis; denn näher noch als das angenommene lag ihr doch noch immer das eigene Kind am Herzen, ihr einziger Sohn, den sie fast zu enterben glaubte, wenn sie keinen anderen Ausweg als eine Verehelichung der beiden zu finden imstande war. Aber noch weniger als bei der Mutter tat die Predigt und taten die durch selbe gutgeheißenen Verleumdungen bei Hansen die Wirkung, die der Krämer ganz bestimmt erwartet hatte. Erst nachdem es Hansen von allen Seiten vorgehalten wurde, daß nur er und die Magd gemeint, sogar zum Greifen deutlich gezeichnet worden seien, ward er recht fest und sagte mit Stolz, daß er dem Übel leicht abhelfen könne, wenn Dorothee gar so gern Stigbäuerin werden möchte. Ja, nun trotzte Hans aller Welt, daheim aber, wo er die so unschuldig Verfolgte so sicher und doch auch so demütig ihre Wege gehen und die vielen Arbeiten verrichten sah, konnte er zuweilen recht weich werden. Nein, die sollte man ihm nicht mehr nehmen! Diese Freude sollte dem Neid und dem Eigennutz nicht werden! Eine Angelika fand er doch nicht wieder, und da gab es nichts Besseres, als dieses edle Wesen so hoch und frei zu stellen, als er's konnte und als sie an innerem Wert über den meisten stand. Nach der Kirchweih war Hans dem Mädchen gegenüber gewesen wie ein Bürschlein, welches das der Mutter geholte Öl verschüttete. Wie dieses eine halbe Stunde zu spät mit den sorgfältig zusammengelesenen Scherben des Kruges, kam er mit seinen Klagen gegen den Knecht heim. Dorothee war seine Richterin, und erst die Versöhnung mit ihr gab ihm auch den Frieden mit sich selbst wieder. Schon stand jetzt das Mädchen so hoch, daß er eifersüchtig werden konnte, und als er sie nun gar seinetwegen verleumdet sah, stand sein Entschluß, sie zu heiraten, damit die Plagerei doch einmal ein Ende habe, so fest, daß sich alle darüber wunderten, die ihn einmal seine Abneigung gegen den Ehestand aussprechen hörten. Dorotheen war jetzt wunderbar zumute. Es kam alles so unerwartet, daß sie weder recht daran glauben noch sich darüber freuen konnte. Es war freilich ein großes Glück für sie und die armen Ihrigen. Aber es war ihr, wie es einem sein müßte, der auf einen Berg getragen würde. Ließe man ihn droben auf der furchtbaren Höhe, rings von Abgründen umgähnt, plötzlich allein, so käm' er gewiß nicht dazu, sich an der herrlichen Aussicht zu erfreuen. Ach, auch sie sah rings um sich neidische Aufpasser, geldstolze Basen und Unheilstifter aller Art. Sie war eben nicht durch sich selbst auf diese Höhe gekommen, sondern nur durch ein Zusammenwirken von Umständen, die ihr jeden Augenblick wieder untreu werden konnten. Auch andere dienten so treu wie sie, ohne solchen Lohn zu erhalten. Jos tat dem Hofe so viel, und nun lag er daheim. Wohl sagte sie sich, daß ja Hans neben ihr stehen würde auf der stolzen Höhe; aber wie lieb und recht ihr auch der Bursche war, so konnte sie doch kein solches Vertrauen zu ihm gewinnen, daß sie ganz ruhig wurde. Besonders quälte es sie, wenn sie aus seinen Reden etwas wie Trotz gegen den Kaplan und gegen alle, die fürs ganze Dorf Wetter machen wollten, herausklingen hörte. Jene Predigt machte ihr noch viel Kopfweh, und immer häufiger fragte sie sich, ob sie denn auch wirklich von jenen herben Vorwürfen so frei sei, als sie anfangs glaubte. Sie fand freilich nichts, und doch wollte ihr Gewissen nie ruhig werden. Ach, wie gern hätte sie bei jemandem um Rat fragen und einmal alles in ein vertrautes Herz ausschütten mögen! Aber an wen sollte sie sich wenden? Sie dachte zuerst an Jos, aber nur um heftig den Kopf zu schütteln, ohne daß sie sich noch sagte, warum das nicht gehen werde. Den Rat des Vaters aber und all der Ihrigen konnte sie sich denken. Diese Leute hatten nie ein Verständnis für ihre Gedanken und Gefühle. Die Not hatte sie hart und geldgierig gemacht. Ja, die Not! Aber nun konnte sie ja helfen und mußte dabei nicht einmal ein Opfer bringen! Ja, Hans hatte sie recht gern, und die Stigerin tat auch, als ob sich wenigstens von der Sache reden lasse, ja vermied leise Andeutungen bei weitem nicht so ängstlich als sie selbst. »Es darf gehen und kann gehen«, sagte sie sich in der folgenden Woche wohl hundertmal, aber immer war sie mit ihren Gedanken, mit ihrer unerklärlichen Angst am alten Fleck. Es ging eben nicht. Irgendwo mußte ein Querholz in die Speichen hereinragen, und sie bemühte sich vergebens und sann Tag und Nacht, um die Stelle zu finden. Es war ihr peinlich, immer nur noch an das zu denken, und dennoch suchte sie in freien Stunden gerne die Einsamkeit auf, um sich ungestört ihren Gedanken überlassen zu können. So schritt sie am folgenden Samstag abends dem kleinen Weidenwäldchen zu, welches sich unter Argenau südöstlich an der Ach hinaufzieht und den von ihr in früheren Jahren angerichteten Schaden so gut als möglich verdecken zu wollen scheint. Eine Bregenzerwälderin auf einem Spaziergang – das ist etwas Seltenes! Ihr, der es doch bei Tag und Nacht, im Sommer und Winter an nichts weniger als an Bewegung fehlt, muß gewiß etwas viel zu eng, zu schwer geworden sein, wenn sie auch noch in den so seltenen Stunden der Ruhe und der Erholung die geselligen Kreise flieht und einen Gang macht, um die Einsamkeit aufzusuchen. Man kennt sie alle, die am Feierabend noch herumgehen wie der Schatten an der Wand und dabei tun, als ob sie an ihrem Kopf voll Gedanken recht grausam schwer zu tragen hätten. Wenn man ein Mädchen so auf einmal die schönsten Spaziergänge oder am Ende gar die allergreulichsten Schluchten und Tobel aufsuchen sieht, dann achtet man sorgfältig auf alles, was sie redet und tut, ob etwa nichts beweise, daß sie sich beinahe hintersinnt habe. Findet man aber noch alles in Ordnung, so sieht man ihr mitleidig nach und denkt an ein herbes, tiefes, kaum noch erträgliches Weh, an selbstverschuldetes Herzeleid, eine Liebe ohne Hoffnung oder an eine recht unglückliche Ehe. Auch die Angelika trug immer häufiger ihr Hauskreuz feuchten Auges in das Wäldchen neben der Ach hinab. Wenn ihr Kind beim Spielen oder unter dem Abendgebete einschlief und auch in Haus und Stall alles versorgt war, dann trieb es die Unglückliche, die doch noch nicht schlafen konnte, gar bald aus dem Hause. Es war ihr noch immer fast unmöglich, den Andreas in betrunkenem Zustande heimkommen zu sehen; ja aufpasserische Leute wollten bemerkt haben, daß sie nicht selten erst nach ihm ins Haus gehe, vermutlich, weil das das einzige Mittel war, einen Wortwechsel mit ihm zu vermeiden. Freilich mochte der Mann sich auch hierüber ärgern, aber Angelika konnte ungemein eigensinnig sein, wo sie die Schuld ganz nur dem Gatten zuschreiben zu dürfen meinte. Auch heute traf Dorothee das unglückliche Weib. Sie saß hart neben der Ach auf einem moosbedeckten Steine und warf die ihr vom warmen Herbstwinde zugetragenen welken Blätter scheinbar gedankenlos in den rasch vorüberstürzenden Fluß. Ihren Kopf bedeckte statt der schweren Pelzkappe nur ein weißes Tuch, und Dorotheen kam es gerade vor, als ob sie eine Leidtragende mit dem bei Begräbnissen üblichen weißen Trauerschleier, dem sogenannten Sturz, erblicke. Da sie sich schon bemerkt sah, wagte sie nicht mehr zurückzutreten, wie bang ihr auch wurde neben Hansens ehemaliger Geliebten, die ihr in dem Halb dunkel des Waldes fast wie ein höheres Wesen erschien. Lang suchte sie vergebens nach einem Worte, die unglückliche Ernstblickende anzureden, und erbebte leise, wie vom Frost geschüttelt, als diese, sie immer schärfer ins Auge fassend, endlich fragte: »Hat auch dich die böse Welt schon da herausgetrieben? Kannst auch du ihr nur noch dienen und deine Kräfte opfern, aber dich nicht mehr mit ihr freuen, ruhen und genießen?« Dorothee sann verlegen nach, wie und warum sie denn eigentlich da herausgekommen sei, oder vielmehr sie sann, was sich denn eigentlich darüber Vernünftiges sagen ließe. Sie wollte sich nur ein wenig erspazieren, um – weil es daheim nichts mehr zu tun gab und – weil man ja keinen Tag sicher war, ob nicht der Winter dem freien Herumgehen in Feld und Wald ein Ende machen und alles ins Haus einsperren werde für lange Zeit. Sie floh eigentlich niemand und hatte auch keine Freude, sich mit der Welt unzufrieden zu zeigen. Sie war herzlich erschrocken, als Angelikas Rede sie daran erinnerte, daß ihr müßiges Herumtappen eine solche Auslegung zulassen würde. »Warum«, fragte sie endlich, »sollte denn eins nicht einmal, bevor es schneit, noch gern einmal in einer freien Stunde, wo nichts Gutes und nichts Wichtiges versäumt wird, einen Gang durch das schöne, ruhige Wäldchen machen, auch wenn man mit Gott und der Welt zufrieden und in der besten Stimmung ist?« Noch selten hatte Dorothee solche lange Frage in einem Atemzuge getan. Sie mußte eben eine zustimmende Antwort haben, um dann so bald als möglich wegzukommen. »Nun, meinetwegen wohl«, sagte Angelika trocken. »Es hat jeder Mensch Liebhabereien, aber gewöhnlich streift sich das bald ab, wie die Blätter der Alpenrose, wenn sie vom Stamm wegkommt. Ist auch gar nicht schad' um die Rose, wie hübsch sie sein mag. Sie ist nicht zum Verbrennen und taugt nichts ins Futter. Ich glaub', es gibt viele, die es dem lieben Gott verargen, daß er ganze Strecken Boden mit diesen Rosen angegärtnert hat. Schau' mich nur nicht gar so groß an, wir redeten zuerst von Liebhabereien, dann von den Rosen. Ist's nicht eins? Hier hat man Gärten, aber die brauchen sie nur für Rüben und Kraut. Das ist nützlich. Denk' einmal an einen Menschen, der alles so genug hat, daß er gar nicht mehr auf den Nutzen sehen muß! Gute Nacht, Ordnung und Fleiß und Friede und Tugend! Und wer da nicht gleich mit ›Schlaf wohl‹ sagt, der kann da heraus und Blätter in den Bach werfen und ihnen nachsehen, bis ihm die Augen übergehen. Ja, Mädchen, du bist meine Leidensgenossin, meine Schwester, drum hab' ich dir auch soviel zu sagen. Wir beide haben keine Eigenen mehr, die uns verstehen, drum gehören wir uns. So ganz allein ist das Leben doch gar zu langweilig.« »Du hast ja dein Kind«, bemerkte Dorothee beinahe streng. »Seine Zukunft macht mir schwere Sorgen.« »Und Arbeit«, fuhr das Mädchen fort, »gibt's auf so einem Hof alle Hände voll.« »Dazu vergeht einem aber die Lust gar bald, wenn andere zum Fenster hinauswerfen, was man mit Mühe zum Schlüsselloch hereingebracht hat.« »Mir«, sagte das Mädchen, »ist auch die Arbeit eine Liebhaberei. Wieviel hab' ich schon verschwitzen können! Hat man den Kopf ganz frei für jeden Gedanken, der kommen will, dann kann man über keinen Weg, oft nicht einmal in die Kirche, ohne daß einem etwas aufstößt und viel ärger ist, als wenn's bei der Arbeit schief geht. Ich weiß gewiß, daß auch du bei der Arbeit am glücklichsten bist und dir auch bald nicht mehr so einsam vorkommst.« »Hast du es auch verarbeiten können, daß sie deinen Bruder verkauften?« »Das tat mir da noch nicht so weh. Ich selbst hätte für Hansen durch ein Feuer mögen, drum fand ich's in Ordnung, daß der Bruder ging für den guten Hans.« »Ja, das glaub' ich, denn auch ich hätte viel für ihn tun können. Wir haben uns früher auch oft und gern getroffen. Viel- und vielmal sind wir da heraus, haben dem Wirbeln und Wallen der Ach zugesehen, haben Blätter hineingeworfen und uns dann über ihren Gang verwundert. Die von mir wurden rasch erfaßt, aber nach allen Seiten hinaus und dann wieder in die ärgsten Strudel hineingetrieben, bis sie mit Hansens großen Ahornblättern endlich wieder zusammengekommen sind. Ich hab' an diesem kleinen Wunder oft meine Freude gehabt und denk' noch jetzt daran, wenn ich ein Blatt im Flusse schwimmen sehe. Auch der Jos ist vielmal dabei gewesen. Schon da hat er Hansen vielfach dienen müssen, wie später auch noch, und jetzt sitzt er vergessen daheim.« Dorothee fuhr erschrocken zusammen. Dann aber sagte sie um so leidenschaftlicher, weil ihre Worte hauptsächlich an sich selbst gerichtet waren: »Vergessen ist er nicht, und wir alle auf dem Stighof haben schon viel für ihn getan.« »Dein Bruder wird sogar die Arbeit auf dem Hofe für ihn tun, da er doch ausgebraucht ist.« »Das ist nicht wahr«, sagte Dorothee traurig. »Nicht?« fragte Angelika, die ihre bittere Rede sogleich bereut hatte. »Er bleibt also – ach Gott, sein jetziges Handwerk ist recht gefährlich.« Das endlich war Dorotheens Herzen ein verwandter Ton. Jetzt trat sie näher zu dem wunderlichen Weibe, welches sie bald zu bemitleiden, bald zu hassen schien. Der letzte Ausruf gewann ihr Herz um so mehr, weil sie im Augenblicke nicht daran dachte, wie sehr Angelika dem eine glückliche Zukunft wünschen müsse, der durch ihren Vater einst aus seiner eingeschlagenen Bahn geworfen war. »Er hätt' etwas werden können und wär' bei uns nicht zu bedauern gewesen«, klagte das Mädchen. »Ja, gewiß, dehn Hans hat viel gutzumachen. Just so viel als mein Vater. Wenn er auch kein so geübter Knecht gewesen wär', man hätte sich leiden müssen und denken, in der Zeit, wo er dem Kaiser dienen mußte, hätten auch andere manches vergessen können. Oder sonst, wenn man daran sich nicht mehr erinnerte, wär' er doch der Schwager. Ja, der sollte doch kein Schleichhändler sein, damit auch die Alte mit der Verwandtschaft ein bißchen zufrieden wär'. Die sieht auf so etwas, und den Hans hat sie am kleinen Finger.« »Gute Nacht«, sagte Dorothee unmutig. »Wir wollen aber doch erst auch reden.« »Reden, einem deutsch Gutes und Böses sagen möcht' ich schon auch, aber da weiß man nie, ob es gehauen oder gestochen gilt.« »Ich hab' dir weh getan, gutes Kind, aber mir selbst noch viel weher«, sagte das schöne Weib in ganz verändertem Tone. »Gewiß, ich gönne dir sein Vermögen so gut als einer. An ihn denken darf ich auch noch, nicht wahr? Auch du denkst vielleicht später an einen anderen.« Dorothee hatte die letzten Worte nicht mehr gehört. Schon ragte eine Wand von Buschwerk empor zwischen Angelika und dem offenen Platze, wo Dorothee aufatmend zum tiefblauen Himmel emporblickte. Die Sonne war bereits hinter der Kanisfluh verschwunden. Nur einzelne geflügelte Wölklein trugen ihre letzten Grüße über die Talenge herauf. Im Dorfe hörte man das Schellengeläute der zum Brunnen getriebenen Kühe, und die Ziegen eilten von den Bergen ihren Ställen zu. Aus den nahen Scheuern duftete das Heu wie reifes Obst, alles war in schönstem Frieden und schien sich gesättigt zur Ruhe begeben zu wollen. Dorothee kam nur langsam vorwärts, wie schnell sie sich anfangs heimmachen wollte. Waren ihr auch Angelikas Reden größtenteils unverständlich geblieben, so hatten sie ihr Herz doch mit einer ganzen Reihe quälender Gedanken belastet. Hansens Mutter und der stolzen Verwandtschaft war nicht einmal Angelika gut genug gewesen, und nun sollte sie, die Magd, an den Platz, während der treue Knecht daheim lag! Einem von ihnen beiden geschah nicht recht, oder es mußte aus den jetzigen Verhältnissen noch ganz anderes erwachsen, als man augenblicklich vermuten konnte. Auch der Vorwurf wegen dem Bruder gab dem Mädchen zu sinnen. Es hätte doch schon damals etwas tun können bei Hansen, wenn es jetzt soviel bei ihm galt. Ums bare Geld hätte er auch einen anderen Stellvertreter für sich bekommen. Durfte sie den Hansjörg opfern für die allerdings zahllosen Wohltaten, die nur sie erhielt? Während sie stand und sann, trugen zwei Mütterchen die mit dürrem Buchenlaub gefüllten Bettsäcke nicht weit von ihr vorüber. »Mein Ältester«, sagte die eine Laubsackträgerin, ohne die unfreiwillige Lauscherin zu bemerken, »hielt sich auch mit aller Kraft an einem Dornstrauch fest, als vor einem Jahr droben am Üntscherspitz das Bergheu unter seinen Füßen wegzurutschen begann.« »Das wohl«, entgegnete die andere, »aber Dorothee hält sich im Fallen an anderen Menschen fest und reißt sie mit in den Abgrund der Schande. Hans ist mit ihr ins Gerede gekommen. Nun hält er sie für die Unglückliche, und da will der gute Bursche sie beide durch eine Verbindung retten. Bei ihm ist's nur Mitleid und Trotz gegen die Leute, und aus Dummheit und Eigensinn ist noch nie viel Gutes entstanden.« Gefühlvolle Menschen, deren Einbildung sich beständig in einem engen Kreise bewegt, pflegen noch mehr als andere jedem Gegenstand, jedem Erlebnisse die Farbe ihrer augenblicklichen Stimmung zu leihen. Alles lebt, liebt, jubelt und weint mit ihnen, und der unbedeutendste Vorgang wird auf diese oder jene Art in Zusammenhang mit ihrem Leben gebracht. Es geschah, um sie zu mahnen, aufzumuntern oder das Künftige anzudeuten. Hätte Dorothee die beiden Mütterlein zu anderer Zeit so reden gehört, so wäre sie dadurch allenfalls an andere närrische Schwätzereien derselben erinnert worden; jetzt aber waren es nicht etwa kurzweg die und die, sondern ein höheres Wesen hatte jene wenigen und doch so inhaltsschweren Worte durch sie gesprochen. Wie hätte sich alles so gut treffen, sie gerade diese Worte hören müssen, wenn daraus nichts Wichtiges werden sollte? War wirklich sein Entschluß nur aus Trotz entstanden, oder hatte er sie wahrhaft gern? Das erste konnte sie nicht glauben, und wenn sie das zweite annahm – sie suchte und fand dafür Gründe –, so hätte sie lange schon gehen sollen. Dann hatte der Kaplan recht. Feierliches Glockenläuten erklang im Tale. Die Berge gaben mit den den Feierabend verkündenden Klängen die frohen Lieder der Arbeiter wieder, die nun aus Feld und Wald zu den Ihren zurückkehrten. Ein leises Lüftchen schüttelte die mächtigen Buchen, und mit dem letzten Laub rieselten tausend Keime auf den nur noch mit Zeitlosen bedeckten Grund. Herbst und Samstag –! Man steht gern einmal still, um eine gewisse Strecke des Lebensweges von solchen Höhen aus zu übersehen. Viele gingen jetzt zur Beichte und ließen sich helfen bei ihrer Rechnung. Ach, auch sie hätte sich in diesem Augenblicke zum Pfarrer gewünscht! Warum fiel es ihr denn nicht schon längst ein, wohin sie sich wenden müsse in ihrer Ratlosigkeit? »Wenn ihr«, hatte der edle Greis in der Schule gesagt, »keinen Freund auf der Welt mehr habt und niemand, der euch hinaushilft aus Nebel und Nacht, oh, so glaubt nicht, daß ihr das allein könnt, glaubt euch nicht zuviel, sondern nehmt teil an den Schätzen der Gnade, der Erfahrung und des Trostes, die die Kirche durch den Beichtvater anbietet; wendet euch an ihn, der nicht wegen den Gesunden auf guter Weide, sondern gerade wegen den Kranken und Verirrten jeden Sonnabend und an jedem Heiligen Tag im Beichtstuhl sitzt, um zu helfen, zu trösten und zu erlösen!« Ganz deutlich wußte das Mädchen noch jedes Wort, so daß es die ganze Rede wie gelesen hersagen konnte. Und dabei wurde sein Gesicht immer heiterer. Ja, es wollte beichten, alles sagen, wie es war, und dann den Zuspruch erwarten. Eine Gewissenssache war's jedenfalls, und die wichtigste, die es noch gehabt hatte. Der Priester an Gottes Statt sollte nun sprechen und seinem Herzen Ruhe gebieten. 18. Kapitel Achtzehntes Kapitel Eine Beichte ohne Reue Dorothee kam in der heitersten Stimmung auf den Stighof, wo man bereits mit Ungeduld die Köchin erwartete. Gewöhnlich war es ihr noch unlieber als den anderen, wenn ihretwegen etwas nicht in gewohnter Ordnung vorwärts ging. Heute aber ging ihr die etwas unfreundliche Frage der alten Stigerin, wo denn um Gottes willen sie so lang und so Wichtiges zu tun habe, daß das ganze Haus auf sie warten müsse, weit weniger nahe als die Freundlichkeit, mit der man den neuen Knecht begrüßte, einen kräftigen Burschen, der bald nach ihr mit Sack und Pack auf dem Stighof ankam. Diese Leute hatten den armen Jos schon ganz vergessen, seit ein anderer ihn zu ersetzen versprach! Auch an ihren Bruder dachte kein Mensch mehr. Wenn nur das Rad vorwärts ging, um den Treiber kümmerte man sich nicht viel. Mit keinem Worte wurde des bisherigen Knechtes gedacht; das tat dem Mädchen so weh, daß es, obwohl für die spät gekommene Köchin sicher nicht die rechte Zeit zum Reden war, in immer offeneren Andeutungen an das frohe Zusammenleben mit Jos und an seine Verdienste um den Hof erinnern mußte. Hans sah sie dabei recht unfreundlich an, die Stigerin aber schnitt bald mit der trockenen Bemerkung: »Andere Leute sind auch wieder Leute«, jede weitere Erörterung ab. Ja, was gab es auch Wichtigeres, als daß das Nachtessen im rechten Augenblick auf dem Tische stand und gedüngt und gemäht wurde, wenn der Mond im rechten Himmelszeichen stand! Das Mädchen ward recht böse auf die alte, harte Frau, während es Hansen, der nichts anderes daheim lernen konnte als selbstsüchtige Rücksichtslosigkeit, nach Kräften zu entschuldigen suchte. Aber auch das wollte ihr nicht recht gelingen. Denn so ein böses Gesicht hatte der Jos doch nie verdient, und ihr sollte es denn doch hoffentlich auch nicht gelten. Freilich war der Hans aus Liebe zur Bequemlichkeit gut und böse, wie es die Umstände gerade mit sich brachten; aber wenn ihre Erinnerung auch an sein Gewissen geklopft haben sollte, so durfte er sie nicht mit einer neuen Ungerechtigkeit abweisen. Noch in ihrem Schlafkämmerlein machte die Sache ihr Kopfarbeit. Wenn sie allenfalls, was ihr immer wahrscheinlicher wurde, nach der morgigen Beichte diesen Dienst verlassen mußte, so konnte ja die Stigerin wenigstens Hansen damit schnell trösten, daß doch andere Leute denn auch wieder Leute seien. Sie malte sich's schon lebhaft aus, wie es dann sein werde, und fand fast einen Trost darin, daß es ihr dann gehe wie dem guten Jos, ja daß sie, der die Verleumdung schon überall den Boden unterwühlt, noch tiefer als er falle, aber doch keinen Menschen mitreiße. Keinen? Nicht den Vater, der den hübschen Jahreslohn, den sie gewiß nur hier erhielt, so grausam nötig brauchte, seit er selber kaum noch etwas verdienen konnte? »Nein«, rief sie laut, »er soll nicht mit mir fallen! Lieber will ich mich an den Dornstrauch der Arbeit festhalten, wie blutig mir die Hände dabei auch werden mögen. Wenn einmal solche Bedenken mich hielten, dann wär' ich wahrhaft nicht besser, als der Kaplan gesagt hat. Erst will ich den Frieden mit mir selbst. Den gibt es morgen auf die oder jene Art, und dann – oh, dann bin ich wieder zu allem fähig und stark!« Und nun konnte sie sich niederlegen und ruhig schlafen, wie sie seit Wochen nicht mehr geschlafen hatte. Kein beunruhigender Traum quälte sie mit den Gedanken und Fragen, welche sie in der letzten Zeit bei Tag und Nacht beschäftigen und ihr keine frohe Stunde mehr lassen wollten. Ihr hohes Bett mit dem zum Platzen vollen Laubsack stand hart neben dem Fenster, welches sie offen gelassen hatte, um eher von den Klängen der Avemariaglocke geweckt zu werden. Aber sie erwachte noch vorher, und das galt ihr für ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte sie der Schutzengel so ungewöhnlich früh geweckt. Hurtig stand sie auf und hätte sich kaum schneller ankleiden können, wenn's gleich an eine Feuersbrunst gegangen wäre. Nur die letzte Arbeit, das Ordnen der großen blonden Zöpfe, nahm ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch, und immer noch war sie nicht zufrieden mit sich selbst, obwohl sie vor keinem Spiegel stand, aus dem sie einen Grund zu weiteren Anstrengungen hätte ersehen können. Jetzt erst fragte sie sich, was sie denn eigentlich nun zu beichten habe. Sie wollte losgesprochen werden von der inneren Unruhe, die sie quälte. Es mußte klar werden, ob ihr Gewissen oder Launenhaftigkeit sie vor einer Verbindung mit dem reichen Burschen immer noch zurückschrecken lasse. Ja, sie wollte eben gar nicht beichten, nur um Rat fragen beim Beichtvater. Und doch sollte sie sich auch anklagen, sollte losgesprochen werden. Ihr Gewissen ward von etwas recht furchtbar schmerzlich gedrückt, aber sie konnte diesem Etwas keinen Namen geben, wußte weder, woher es kam, noch, warum es da war, sondern nur, daß es etwas recht Sündhaftes sein müsse, weil sie noch nie ein innerer Vorwurf so gequält hatte. Sollte sie vielleicht sagen, daß sie sich über Hansen zuweilen noch recht ärgern könne? Richtig war das, obwohl sie ihn für einen herzguten Kerl hielt, den man gern haben müsse, wenn man ihn recht kenne. Ja, Hans war ihr trotz allem nicht recht – vermutlich, weil sie ihn eben ganz nach ihrem Kopfe haben wollte. Da steckte es! Das Gute an ihm war seine Güte gegen sie und die Ihrigen. Es fehlte nur noch, daß er sich nicht ganz von ihr beherrschen ließ! Der Kaplan hatte daher ganz recht in seiner Predigt. Die Sache steckte schon viel tiefer, als sie bisher selber glaubte. Schon meinte sie, klar zu sehen, und nun gleich sollte alles das wieder heraus, wieviel anderes dabei auch mitgerissen werden möchte. Sie war mit den Zöpfen fertig und spitzte schon den kleinen Mund, um das Licht auszublasen, als der Glockenschlag der alten Schwarzwälderuhr sie erschreckte. Wie war das möglich? Das Mädchen war über sich selbst erstaunt und hielt die Hand gegen die Wärme des Lichts, um sich zu überzeugen, daß nicht etwa das alles nur ein Traum sei. Aber nein, sie war hellwach und zählte fünf Glockenschläge der alten Uhr, die ihr schon so viele glückliche Stunden zählte. Und heute konnte der bekannte Klang sie erschrecken, als ob nun die letzte derselben geschlagen hätte! Unmöglich war es allerdings nicht, daß ihr der Dienst vom Beichtvater ausgeredet wurde. Ängstlich blickte sie eine Weile in ihrem kleinen Zimmerchen herum; ob sie wohl noch manches Mal hier schlief? Die ernsten Heiligenbilder an der Wand gegenüber dem hohen Bette neben dem bunt bemalten Kasten schienen die Häupter zu schütteln, alles im Zimmer begann sich zu regen und tausend liebe Erinnerungen in ihr zu wecken. Sie konnte das Licht nicht mehr löschen, konnte nicht auf einmal, vielleicht für immer, den lieben kleinen Raum verschwinden lassen, um dann im Dunkel herumzutappen. Mit zitternder Hand erfaßte sie den Leuchter und trug ihn mit bis in den Schopf vor der Haustüre, wo ein leichter Windstoß das kleine Flämmchen sogleich verblies. Dennoch war es ihr hell genug von dem Leuchten und Glühen daroben über dem Üntscherspitz, der sich mit seiner Schneekappe immer tiefer in die Flammentore des Tages steckte und kleiner und kleiner zu werden schien. Noch einmal, beim Knarren der langsam hinter ihr ins Schloß fallenden schweren Haustüre, ging Dorotheen ein Stich ins Herz. Nun war sie herausgesperrt, und ein Fremder, der strenge Geistliche, kam zwischen sie und die guten Leute, welche sie eben verließ. Aber nun trat sie ins Freie; ein frischer Wind wehte sie an und schien ihr Kraft und Mut einzuhauchen. Wie das schwache, erloschene Lichtlein drin gegenüber dem Lichtmeer, in welches die Berge sich tiefer und tiefer eintauchten, kamen auch ihre Sorgen und Wünsche hier im Freien ihr recht klein und unbedeutend vor. Wie froh sangen die Vögel von den herbstlich gelben Buchenwäldern dem schönen Morgen entgegen, ohne sich viel um das Nahen des Winters zu kümmern, der schon von den Bergen ins Tal herunterblickte. Sollte sie, für die die Vorsehung schon so väterlich sorgte, da sie selbst noch unerfahren und schwach war, denn weniger auf den Schöpfer trauen als diese Tiere? »Weg mit aller Kleinlichkeit und mit allem, was nur belastet und niederdrückt«, rief sie, und ihr Schritt ward immer schneller. »Komm, Heiliger Geist«, betete sie, sich zur Gewissenserforschung vorbereitend, »erleuchte meinen Verstand, bewege meinen Willen, daß ich meine Sünden recht und vollständig beichten möge! – Die Sorge um seine und die Zukunft der Eigenen ist nur Mißtrauen gegen Gott und sich selbst. Weg damit und mit allem Hochmut, aller Selbstsucht und allem, was Zeitliches wie eine Last sich ans Herz hängen will!« Voll Mut ging das Mädchen in die schwach erhellte Kirche und schritt vorwärts bis zu dem langen Stuhl neben dem Hochaltar, wo bereits zwei Beichtkinder auf die Ankunft des Geistlichen warteten. Hier begann sie ihre Selbstanklage zu ordnen, bis endlich, ganz weiß gekleidet, der Kaplan erschien und sich nach einem kurzen Gebete vor dem sonntäglich geschmückten Hochaltar in den Beichtstuhl einschloß. Dorothee hätte sich eigentlich den Pfarrer gewünscht. Noch heute ward ihr etwas bang, wenn sie an den großen Mann mit dem blassen, kalten Gesichte dachte. Jetzt aber sah sie im Beichtvater nicht mehr den oder jenen, sondern nur noch den Stellvertreter Gottes, und sie hätte gleich die erste vor dem Beichtstuhlgitter sein mögen, um von ihrer Last so schnell als möglich befreit zu werden. Dann aber fiel ihr wieder ein, daß sie ja noch immer nicht eins sei, wie und über was sie sich anzuklagen habe. Wieder sann sie und betete und kam nicht vorwärts, bis die erste und dann auch die zweite der vor ihr Knienden das Gitter verließ. Noch war sie nicht fertig, als ihr schon der Priester lateinisch den Segen erteilte. Sie kniete vor dem Gitter nieder, bezeichnete sich mit dem Kreuze und begann dann mit bebender Stimme, selbst dem Geistlichen kaum hörbar: »Ich hab' vor zwei Monaten das letztemal gebeichtet. Seitdem aber bin ich durch eine Predigt und durch anderes auf den Gedanken gekommen, es sei vielleicht nicht alles recht und wie es vor Gott sein sollte zwischen mir und meinem Dienstherrn. Ich weiß mir nichts vorzuwerfen, aber die Sache drückt mich, und da hätt' ich denn mehr um Rat fragen wollen, ob –« »Du möchtest ihn wohl gern heiraten?« fragte der Kaplan, der, das Mädchen schon beim ersten Wort erkennend, sich nun sogleich an das Gerede der Ordensschwestern erinnern mochte. »Ebenda wird es wohl stecken«, antwortete das Mädchen. »Er gilt viel bei mir, durch ein Feuer tat ich für ihn gehen, und doch ist etwas unrecht, und ich weiß gar nicht, was.« »Ja, ja, durch ein Feuer«, sagte der Kaplan und begann das Mädchen in eine Menge von Kreuz- und Querfragen zu verwickeln, die es größtenteils nicht einmal verstand. Es konnte fast immer ruhigen Gewissens mit Nein antworten, und doch wurde ihm heiß und kalt, als es sagen mußte, ob sie sich nie geküßt hätten, ob sie auch jeden Abend gehörig die Kammer schließe, und ähnliches, was nach Dorotheens Gefühl weder in den Beichtstuhl noch sonst wohin gehört hätte. Etwas nachdenklich wurde sie auf die Frage, wie ihr denn sei, wenn seine Hand unversehens oder absichtlich die ihrige berühre. Sie fühlte ein eigenes Zucken im rechten Fuß, der so oft beim Essen den des neben ihr sitzenden Jos gesucht hatte. Der Geistliche merkte ihre Verlegenheit und wurde nun noch dringlicher. Ob sie auch Geschenke von ihm erhalten habe? Wie oft? Verstohlen vor den anderen Hausgenossen? Wie sie dafür gedankt, was sie versprochen, zugestanden und sich vorgenommen habe, wenn sie einmal beschenkt worden sei? Das nun waren lauter Fragen, auf welche das Mädchen etwas, ja sogar viel zu antworten wußte. Der Kaplan hielt eine kleine Rede und wollte dem guten Mädchen klarmachen, daß schon das freiwillige Verbleiben in der nächsten Gelegenheit zur Sünde vor Gottes Augen ein großes Unrecht sei. Er schloß mit der ernstlichen Mahnung, vor allem für die unsterbliche Seele zu sorgen und daher noch heute den gefährlichen Dienst zu verlassen. Wenn eine Heirat mit dem Arbeitgeber dem Willen Gottes gemäß wäre, so könnte sie darum doch noch einmal zustande kommen. Jetzt das aber war denn Dorotheen doch gar zu arg! Warum hätte sie sich denn nicht freuen sollen über die vielen Beweise von Hansens Zufriedenheit? Freilich nicht so wie der Geizhals über seine Taler; aber das war auch bei ihr nie der Fall, indem sie fast alles nur wieder den Ihrigen zukommen ließ. Der Kaplan sagte wohl, daß geschenkte Pracht das Auge blende, sich wie ein Dorn ins Herz bohre und nur zu leicht auch die Unschuld verwunde. Doch ihr ging das nicht mehr recht ein. Hatte sie doch das Prächtigste, das Köstlichste von Hansen nicht so gefreut wie das kleine, ganz einfache Gebetbüchlein, welches Jos ihr im letzten Frühling vom Pfingstmarkt von Dornbirn mit heimbrachte! Überhaupt stand sie nicht gern beim Beichtvater im Ansehen, als ob nur teure Geschenke von ihr geschätzt würden und sie schon beim Gold und Silber hart und kalt geworden. Nein, so schlecht war sie denn doch nicht und hatte zum Beispiel den armen Jos noch immer, seit sie ihn recht kannte, für so viel oder noch mehr als den reichen Stighans gehalten mitsamt aller seiner Pracht und Herrlichkeit. Sagen mochte sie davon jetzt freilich nichts, ihr selbst aber war es durch die vielen vom Beichtvater an sie gerichteten Fragen noch viel, viel klarer geworden als jemals vorher. War es ihr doch, wenn sie im Wald oder auf dem Felde, mit Hansen oder nur vom blauen Himmel gesehen, neben dem guten Knechte saß, wenn ihr Blick den seinen traf oder sie ihm etwas aus der warmen Hand nehmen sollte, gerade so, wie der Kaplan in seinen Fragen gesagt hatte. Dorotheen ward auf einmal ganz wunderbar leicht und wohl, gerade so, wie wenn schon alles abgeschüttelt und die Lossprechung bereits gewonnen wäre. Sie fühlte jetzt, wo es ihr fehlte. Der Jos war ihr lieber als Hans, und ihr ganzes Innere wehrte sich gegen eine Verbindung mit dem reichen Bauern, obwohl sie ihm nichts Übles nachzureden wußte. Das und nur das war das Unrecht, vor dem sie so gezittert hatte. Nun – Gott Lob und Dank im hohen Himmel! – fühlte sie sich glücklich darüber hinaus für immer. Eine Weile freilich, da hatte der Kaplan ganz recht, vermochte das Geld sie zu blenden wider Wissen und Willen. Jetzt aber war sie mit Hansen fertig. Drum eben hielt sie auch sein Haus nicht mehr für so gefährlich. Wo noch hätte sie wohl wieder einen so guten Platz gefunden, von dem aus sie auch den Ihrigen soviel helfen konnte, wie auf dem Stighof bei den guten Leuten, die doch ihr und denen sie schon lange ganz eigen geworden war? Ja, jetzt wollte sie erst recht wieder dem guten Hans dienen und mit den Ihrigen sich seines Wohlwollens freuen und für ihn beten. Warum auf die weite Gasse eilen, wo unter dem Dache keine Gefahr mehr war, sondern Schutz und Sicherheit für sie und die Ihrigen? Hätte sie nur sich selbst angehört oder den Vater getrost und mit gutem Gewissen ihrem Bruder überlassen dürfen, dann hätte sie schon auch gehen mögen, wo Jos nicht mehr bleiben konnte und man ihn so schnell wieder vergaß. Ja, damals, als Hans den guten Burschen, den treuen Jugendfreund, den unermüdlichen Knecht nicht nur seinen Gegnern überließ, sondern sich selbst an ihre Spitze stellte und ihn dadurch zu jenem verzweifelten Sprunge trieb, da hätte sie gleich auch zusammenpacken, noch am nämlichen Tage gehen sollen, statt sich mit Hansen auf sein erstes gutes Wörtlein hin wieder zu versöhnen. Sie ließ bald sich wieder wohl sein, als ob gar nichts geschehen wäre, suchte das Unrecht zu vergessen, begann sogar ihre eigenen selbstsüchtigen Rechnungen zu machen. Das war es, und nur das, was ihr Gewissen belastete. Der Unfriede mit sich selbst währte auch gerade seit der Kirchweih, obwohl dann erst das, was sie seit der Predigt am vorigen Sonntage hörte und erlebte, sie recht ins Nachdenken und Grübeln gebracht hatte. Jetzt aber war das vorbei. Dem unglücklichen Jos konnte sie gewiß mehr nützen, wenn sie blieb und Hansens Gewissen weckte, daß es ihm gehörig sagte, wie ein großes Unrecht er an dem Burschen wieder wenigstens nach Kräften gutzumachen habe. Solche Gedanken gingen dem Mädchen viel schneller, als sie wiedergegeben werden können, im Kopfe herum und ließen es nur wenig von der langen Rede des Geistlichen hören, der immer entschiedener auf ein sofortiges Verlassen eines Dienstes drang, der nicht nur dem Heile der armen Seele, sondern auch ihrer Ehre recht grausam gefährlich sei. Nun erinnerte sich Dorothee wieder an das entstandene Gerede und sagte nicht ohne Bitterkeit: »Was die Ehr' anbelangt, ist das Tuch schon zerschnitten, so daß es doch immer eine Naht gibt, man mag wieder flicken und machen, soviel man will.« »Um so leichter«, meinte der Kaplan, »läßt der Arbeitgeber dich gehen und wird dir sogar noch ein gutes Unterkommen suchen helfen.« »Nein, der weiß grad' so gut wie ich, daß alles erlogen, was über mich in Umlauf gekommen ist.« »Darum schadet's ihm doch.« »Aber nicht so viel als mir, wenn ich tun wollte, wie wenn alles lautere Wahrheit – –« »Der Christ sucht seine Ehre in der Verdemütigung.« »Ich will ja doch auch alles über mich ergehen lassen, wenn Gott mir beisteht.« »Er entzieht seine Gnade denen, die trotzig auf sich selbst bauen und in der Gefahr zum Bösen freiwillig verbleiben.« In Dorotheen wurde das Gefühl, daß ihr, wenn auch nicht mit Absicht, sehr unrecht geschehe, stets lebendiger, besonders seit sie an die in der letzten Zeit entstandenen Schwätzereien erinnert worden war. Sie sah im Beichtvater wieder eher den Mann, der, wenn auch nur im Eifer und mit bester Absicht, sich viel zu sehr an die Meinung scheinheiliger Leute zu halten pflege. Es wuchs daher auch ihr Eigensinn in einer Weise, daß sie selber darüber erschrak. Trotzdem aber konnte sie nicht unterlassen, auf den letzten Vorwurf zu erwidern: »Freiwillig gehen wohl wenige von den Eigenen weg und dienen anderen ums tägliche Brot.« »Wer hochmütig ist und träge, der will herrschen, selbst um den Preis der unsterblichen Seele. Wir sind fertig, und du hast noch heute den Dienst zu verlassen.« »Ach, was würde der Vater sagen und Hans und – Nein, Herrl – Euer Hochwürden! –« »Du willst also das nicht versprechen?« »Nein«, antwortete Dorothee entschlossen. »Ich sehe nun die Sache ganz anders und mache mir kein Gewissen mehr zu bleiben.« »Nun – in Gottes Namen, dann kann ich dir auch nicht helfen, dich nicht lossprechen. Gelobt sei Jesus Christus!« »In Ewigkeit«, sagte Dorothee laut und verließ sicheren Schrittes den Beichtstuhl. 19. Kapitel Neunzehntes Kapitel Ein kleiner Hauskrieg, bei welchem Hans eigensinnig wird Erstaunt gewahrte Dorothee, daß es während ihrer Beichte in der Kirche schon ganz hell geworden war. Über die Berge herein, welche hart vor den hohen Kirchenfenstern zu stehen schienen, leuchtete und funkelte es so goldig blendend, daß das Mädchen auf den Stufen unter dem Chorbogen ganz gewiß einen Fehltritt getan hätte, wenn es hier nicht gar zu gut »zu Hause« gewesen wäre. Selbst mit geschlossenen Augen mußte sie hier durchkommen und kam auch wirklich mit geschlossenen Augen durch. Wie sie nun die Augen sich erholen lassen wollte von dem grellen Glanze und ihr Blick in dem noch etwas dunkleren unteren Schiffe der Kirche zu ruhen suchte, gewahrte sie erschrocken die vielen Andächtigen, deren Augen recht ernste Fragen an sie zu richten schienen. Ais sie endlich in ihrem Stuhl ankam, verkündete feierliches Glockenläuten den sofortigen Beginn der Frühmesse. Sie hatte also das erste Glockenzeichen gänzlich überhört und war demnach mehr als eine Viertelstunde, ja, nach dem Tagen zu schließen, sogar mehr als eine halbe Stunde im Beichtstuhl gewesen. Was mußten diese Leute jetzt über sie denken, und was erst, wenn man sie unter der vom Pfarrer gelesenen Messe nicht mit den andern, die gestern und heute beichteten, zur Kommunionbank gehen sah? – Einen Augenblick beschäftigte und plagte Dorotheen hauptsächlich diese Frage, doch kaum länger als einen Augenblick, während manches andere Mädchen an ihrem Platze darüber gewiß den beklagenswerten Seelenzustand sowohl als auch alles andere gänzlich vergessen hätte. Die Lossprechung – hätten die meisten gerechnet – war ja schon morgen, am Fest Allerheiligen, von einem weniger scharfen Geistlichen der Nachbargemeinde zu bekommen; aber von denen, die heute da in der Kirche waren, und von allen, welche mit diesen in den nächsten vierzehn Tagen redeten, war man darum noch keineswegs losgesprochen. Ja bei diesen ging's gewiß erst recht an, wenn jetzt auch noch ein fremder Geistlicher aufgesucht wurde. In der Regel kann so ein Mädchen aus eigener Erfahrung wissen, was man alles über ein nicht absolviertes Beichtkind denkt und wie erbarmungslos jedermann darüber herzieht. War es doch gewöhnlich schon selber dabei, wenn des Unglücklichen ganzer Lebenslauf durchgegangen, wenn alle seine Beziehungen und Verhältnisse siebenmal umgekehrt wurden, um das entweder herauszufinden oder hineinzulegen, was etwa heute im Beichtstuhl hängen geblieben war. Das ist vielen die erste, die größte und sogar die einzige Sorge; drum denkt man, wenn man so ein junges Mädchen von gewöhnlichem Schlag ist – Mannsbilder sind viel weniger ängstlich –, wie herrlich es doch wäre, wenn ihm nun auf einmal recht grausam übel würde und seine Wangen erblassen täten, daß man es kaum noch zu erkennen vermöchte. Doch das Gesicht brennt, die Pulse fliegen, und von so einer schönen Ohnmacht ist gar keine Rede. Trotzdem steckt man schon unter dem Staffelgebet den schweren silbernen Rosenkranz ein, als ob es gleich aus wäre, beim Gloria setzt man sich nieder, stützt unter dem Evangelium das Köpfchen auf die ein wenig zitternde Rechte, während die Linke das schneeweiße Schnupftuch und den von der Stuhlnachbarin entlehnten Rosmarinstengel festhält. Schon vor der Wandlung scheint es trotz allem Riechen nicht mehr zum Aushalten, nach derselben aber wankt die Bedauernswerte zur Kirche hinaus. Während nun die anderen Beichtkinder zur Kommunionbank hinlenken, steht sie draußen bei einem Brunnen, und wenn sie sich von jemand gesehen glaubt, wird Wasser getrunken, mehr, als man sonst am heißesten Sommertage für menschenmöglich gehalten hätte. Dorothee kam zu dem allem nicht. Demütig und ohne sich noch um die anderen Leute zu kümmern, kniete sie vor dem Muttergottesaltar in ihrem Stuhl und fragte sich nun, wie es denn möglich gewesen, daß im Beichtstuhl nach so vielen guten Vorsätzen sie solcher Eigensinn habe ankommen können. Freilich sah und fühlte sie, daß Hans in Zukunft ihr nicht mehr gefährlich sei, aber war es nicht dennoch ihre Pflicht, dem Beichtvater zu folgen? Sie wünschte seinen Rat, um dann aus und draus zu sein, und nun hatte sie ihm nicht einmal gesagt, was beim Erforschen des Gewissens sich zwar noch nicht zeigte, doch im Beichtstuhl ihr auf einmal kam wie eine höhere Eingebung, die sie aber statt dankbar und demütig nur trotzig machte ... Wär's möglich gewesen, so würde sie jetzt, gleich mitten unter der Messe, wieder in den Beichtstuhl gegangen sein und das Versprechen gemacht haben. Aber dann hielt sie das nur wieder für Angst vor dem Urteil der Menschen und sagte sich, daß das – wenigstens jetzt – zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens noch durchaus nicht nötig sei. Entschieden hatte der Geistliche das Ganze noch weniger verstanden als sie selbst, das schienen schon seine wunderlichen Fragen zu beweisen. Warum sich also noch viel um sein Urteil kümmern, wenn man ein viel richtigeres gewonnen hatte? Sie war ja nun losgesprochen von ihrer Last, fühlte sich wieder eins mit sich selbst, und das blieb die Hauptsache. Anders reden hätte sie sollen; aber es war in sie gefahren wie wohl auch in den Jos am Kirchweih fest. Nun, für sie, die dadurch ins klare kam, hatte sogar das sein Gutes. Vielleicht konnte also doch auch dem Burschen etwas Wünschenswertes aus jener traurigen Geschichte kommen. Unter der Messe betete sie fast mehr für ihn als für sich selbst, wobei ihr so wohl zumute wurde, daß sie es kaum bemerkte, wie die anderen Beichtkinder zur Kommunionbank schritten und nun aller Blicke sich von neuem auf sie zu richten begannen. Es heißt allgemein: Der Schein trügt. Richtiger wär's wohl, wenn man sagte: Der Mensch betrügt sich selbst, denn er hat seine Freude, trotz aller Erfahrung, am Scheine. Kommt man einmal mit Bauern und Bäuerinnen auf das Kapitel von Schein und Sein, ja dann lächeln sie recht vornehm und richten die Köpfe gehörig auf; da dürfen sie die Meinung um so herzhafter sagen, weil das nun sie selber gar nichts angeht. Es gilt nur den hoffärtigen Stadtleuten in ihrer teuern Herrlichkeit, die nicht kalt und nicht warm zu machen vermag. Sie aber, die Bauern, haben diesen Fehler nicht und sind nicht eitel. Was würden die Leute dazu sagen, wenn auch sie sich um den Schein kümmerten, sich etwa gar über den Stand kleiden und gnädige Herren spielen wollten? Dadurch müßte man ja den Kredit und sogar für die Kinder oft die schönsten Aussichten auf eine gute Versorgung verlieren. Drum doch beileibe keinen Aufwand machen um des Scheins willen wie die Stadtleute, viel lieber zu demütig, zu einfach und ärmlich! Es ist doch weit genug bekannt, wie einer steht und daß er es leicht großartiger geben, viel mehr Aufwand machen könnte, wenn er dazu nicht zu bescheiden wäre und eben an. Einfachheit und Sparsamkeit seine größte, seine einzige Freude hätte. Dorothee, die bisher stets ziemlich unbeachtet gebliebene Magd, galt und hielt sich selbst für gleichgültig gegen Urteil und Meinung derjenigen, an die sie nicht durch ihre Dienstpflicht gebunden war. Heute aber zeigte sie das auf eine Weise, die der erwähnten Gleichgültigkeit anderer Bauern so ziemlich glich. Sie blieb ruhig an ihrem Platze, als die anderen die Kirche verließen, und zog abermals ihr Gebetbüchlein heraus. Daran konnte man sehen und sollte sehen, wie leicht sie diese Blicke ertrug, wie wenig sie sich um die vielleicht entstandenen Gedanken kümmerte und wie stark ihr gutes Gewissen sie machte. In ihrem Büchlein stand freilich ganz anderes, aber davon sah sie nichts, schon weil sie es lange verkehrt in der Hand hielt. Sie kam erst darauf, als ihr Auge einem auf sie gerichteten Blicke des Pfarrers, der wegen Unwohlsein die Kirche bald nach der Messe wieder verließ, ins Büchlein zu entrinnen suchte. Sie fand und las das Gebet einer christlichen Hausmagd, wodurch sie nun wieder an die vielen Arbeiten erinnert wurde, die ihrer auf dem Stighofe warteten und noch morgens, vor dem Beginn des eigentlichen Gottesdienstes, verrichtet werden mußten. Sie schloß das Büchlein, steckte den Rosenkranz ein, dachte wieder an den Stighof und kam nun von neuem ins Grübeln und Sinnen hinein. Aber je mehr die, welche sie aus dem Beichtstuhl und später nicht zur Kommunion gehen sahen, die Kirche verließen, desto herzhafter gab sie sich nun sogar in den Stücken recht, die ihr sonst noch wenigstens etwas bedenklich erschienen. Sie wiederholte sich noch einmal jedes Wort des Kaplans und ihre Antworten, dabei richtete sie das Köpfchen immer mehr auf, und sie trug es wirklich so hoch wie sonst nur selten, als sie endlich die Kirche verließ. Und schnellen Schrittes, dem heiteren Herbstmorgen, der Berg und Tal vergoldete, fröhlich entgegenlächelnd, ging sie kurz darauf durch Argenau hinein. Den Begegnenden, die sich ein wenig stellen und ein Gespräch mit ihr anfangen wollten, wünschte sie nur einen guten Morgen, aber nicht aus übler Laune, sondern weil ihr einfiel, daß es schon vor einer Weile sieben geläutet hatte. Da durfte sie neben und unter ihr kein Gras mehr wachsen und keinen Reifen vergehen lassen, wenn sie noch in der Küche und überall rechtzeitig fertig sein wollte, so daß die Stigerin keine Veranlassung mehr zu neuem Tadel fand. Und das sollte sie nicht. Lange genug schon hatte Dorothee hier, wenigstens halb und halb, das Gnadenbrot gegessen. Jetzt aber mochte sie nichts mehr geschenkt. Nur Magd wollte sie sein, eine fleißige, ja eine unentbehrliche Magd für ein gehöriges Hauswesen, wie das auf dem Stighof war. Dann konnte dem Vater und ihr das Gerede nicht lange schaden, welches über sie in Umlauf kam und vielleicht von heute an sogar noch ein wenig ärger wurde. »Gott und gute Menschen haben mir zu einer Zeit geholfen, wo ich selber gar nichts war als ein armes, hilfloses Ding, für das niemand als sein Elend um Hilfe, um Erbarmen flehte. Gott und gute Menschen sind aber überall und helfen, wenn man redlich das Seine tut.« So tröstete sich das Mädchen, als allerlei trübe Gedanken kommen und ihm schwer, recht schwer machen wollten. Sie dachte daran, wie wunderbar Gott sie bisher geführt, wie ihr noch nie unbelohnt blieb, was sie tat, und wieviel sie der Stigerin zu verdanken habe. Dafür wollte sie nun doch auch etwas sein in der Stunde der Prüfung und ihrer Erzieherin Ehre machen. Als Jos gestürzt, aus seiner Bahn geworfen, scheinbar vernichtet zu Hause lag, bekam Hans aus der Unterredung des Doktors mit dem Vorsteher einen Respekt vor ihm, daß es eine Freude war. Das galt ihr für ein Muster und Beispiel, daß sie sich's gar nicht anders gewünscht hätte. Es war ihr ordentlich lieb, noch keinen Rauch ob dem hohen Hausdach zu sehen. Das Kochen war ja ihre Arbeit, und heute wollte sie zeigen, wie leicht sie auch eine versäumte halbe Stunde wieder einzubringen imstande sei. Fröhlich sprang sie die Treppe hinauf, und ohne vorher sich umgekleidet zu haben, eilte sie in die Küche, wo sie einstweilen Wasser zum Kaffee obs Feuer bringen wollte. Noch kein Verweis der zuweilen etwas strengen Stigerin hatte sie so erschreckt wie jetzt die Entdeckung, daß hier schon gekocht worden, und ihre Stimme war unsicher, als sie, in die Stube tretend, den am großen runden Tische sitzenden Hausgenossen einen guten Morgen wünschte. »Für heute«, bemerkte die Stigerin etwas rauh, »ist's mit dem guten Morgen schon fast zu spät.« »Ja«, stammelte Dorothee, »verspätet hab' ich mich allerdings, und viel ärger, als ich selbst meinte; aber –« »Aber!« fiel die Stigerin hastig ein. »Wenn Weihnachten auf einen Freitag fällt, so hört das Fastengebot auf, und Fleisch darf essen, wer will und bis man genug hat. Du bringst wohl auch so ein Aber mit, welches die alte Hausordnung über den Haufen wirft? Ist's nicht ein Ereignis wie das, welches am Heiligen Tage gefeiert und anpsalmiert wird, wenn einmal jedermann dich ansieht und etwas dabei denkt? Das, wirst du gewähnt haben, sei schon wert, daß man von der Regel abgehe und eine halbe Stunde Dienst versäume?« Dem armen Mädchen war das Wasser in die Augen gekommen, es schwieg. »Ja, du kannst mir nun wieder Augen machen«, eiferte die Bäuerin, »es gibt Flecken, welche die salzigste Träne nicht mehr aus dem Lebenswandel waschen kann.« Dorothee wollte nun auch reden, doch die Stigerin ließ ihr noch kein Wort. »Kurz und gut!« rief sie, »heut' machest du mich nicht mehr zum Narren wie vor Jahren einmal, als ich dich in einer bösen Stunde zum erstenmal sah. Wär' ich da nicht gar zu gut gewesen und hätte dich an uns gebunden, so hätten wir heut' auf dem Stighof einen besseren Morgen als den, welchen du uns hintennach noch wünschen kannst. Wir haben dich emporziehen wollen, und nun drückst du uns hinab. Der faule Apfel steckt nur die frischen an. Ich hätte wohl wissen sollen, daß es gar nie anders, nie umgekehrt gehen kann, aber ich bin immer viel zu gut.« So ging es noch lange fort, bis das Mädchen endlich erfuhr, daß die Stigerin schon alles wisse, was heute in der Kirche beobachtet wurde. Es gelte, so klagte die Mutter, schon überall für eine ausgemachte Sache, daß heute sich öffentlich bestätiget habe, was über Hansen und seine Magd schon seit länger in Umlauf gekommen sei. Man sage sogar schon, Hansen wäre wohl vor kurzem beim Beichten um kein Härlein besser als ihr gegangen, wenn er auch so redlich gewesen wäre wie sie oder so klug, um die Sache richtig beurteilen zu können. »Nun darüber«, schloß die Stigerin, »haben wir noch viel zu reden. Was man so sagt unter den Leuten, ist nicht wie Siegel und Brief, darum darf man sich nie gar zu viel kümmern, aber denn doch auch nie so wenig, daß man in deiner heutigen Lage noch die Stirn hat, den Leuten eine halbe Stunde lang ohne Not groß in den Augen zu sein und wie eine Schandtafel für unsere ganze Verwandtschaft dazustehen, und besonders für den großen Einfaltspinsel da!« Das war für Hansens Geduld zuviel auf einmal, wie wenig es auch immer scheinen mochte im Verhältnis zu dem, was er sonst immer ziemlich geduldig über sich ergehen ließ. Wenn er allein bei der Mutter war, so tadelte diese schließlich immer nur seine Unempfindlichkeit, wovon auch zuerst die Rede gewesen sein mochte. Heute aber ließ er sie dazu nicht mehr kommen. Was die Mutter über Dorotheen sagte, tat ihm um so weher, weil auch er sich recht von Herzen über das Mädchen ärgerte. Was denn hatte sie, die er für die Unschuld selber hielt, so Großes zu beichten, daß der Kaplan es ihr nicht einmal abnehmen konnte? Sollte er sich auch hier wieder betrogen haben? Noch wollte er es nicht glauben, aber das »Einfaltspinsel« der Mutter traf ihn doch schmerzlicher als gewöhnlich und brachte ihn in jene Stimmung, wo er um jeden Preis widersprechen mußte, gerade wie wenn dadurch das etwa verlorene Ansehen rasch wieder zu gewinnen wäre. »Wenn die Geschichte mich besonders viel angeht«, sagte er, »so sollte doch auch ich das erste Recht haben, darüber zu reden. Ein bißchen predigen werd' ich wohl auch können, sonst müßt' ich ja gar keinen Blutstropfen von meiner Mutter haben. Aber zu einer gehörigen Predigt und schon voran als Fundament gehört ein schönes Evangelium. Für ein solches nun kann man denn doch die Vermutung und das Durcheinander von lieblosem Geschwätz nicht halten. Zuerst, bevor man anderen die Wege weisen kann, muß man doch auch selber wissen, woran man ist. Ihr Weiber wollt alles mit Reden richten, ich aber kann und mag niemand die Meinung sagen, solang ich noch gar keine eigene Meinung habe. Kurz und gut, in die jetzige Schwätzerei hinein will ich nicht noch ärger verwickelt werden.« »Eben darum, du Verblendeter, Undankbarer, hab' ich mich wehren wollen.« »Zu spät, wie gewöhnlich«, bemerkte Hans bitter. »Warum zu spät?« »Man hätte dem Krämer kein Türlein offen lassen dürfen, wenn der seinen Unrat nicht hereinbringen sollte.« »Du hast aber schon früher mit dieser Verwandtschaft zu tun gehabt.« »Ja, und jetzt möcht' ich gleich alles wiederholen, was damals gegen den alten Sünder gesagt wurde. Dorotheen hat nur er so ins Geschrei gebracht. Aber mit derlei Mitteln fängt man Hansen nicht. Da gewinnt der Krämer wenig und macht seine Zusel nur noch unglücklich wie die gute Angelika.« »An der Geschichte bin aber ich nicht schuldig.« »Dann ist die Lehre, die man daraus nehmen kann, um so wohlfeiler.« War Dorothee zum Teil froh, daß das Wetter sich so auf eine andere Seite zu ziehen schien, so tat es ihr doch recht von Herzen weh, Mutter und Sohn so unfreundliche Worte wechseln zu hören. Solche Hauskriege waren ihr immer ungemein peinlich, wenn sie selbst auch nichts zur Veranlassung derselben beitrug; heute aber hätte sie um alles in der Welt nicht mehr länger dabei zu sein vermocht. Für sich selbst hatte sie schon eine kurze Verteidigungsrede nicht eben von höflichster Art zusammengestellt. Die würde sie gehalten haben, wenn's noch länger in dem Ton fortgegangen wäre, welchen die Stigerin anfänglich anschlug. Jetzt aber vermochte sie das rechte Wort nicht mehr zu finden. Geräuschlos verließ sie die Stube, ohne noch an ihren Kaffee zu denken, der eingeschenkt auf dem Tische stand. Sie hatte weder Hunger noch Durst und war herzlich froh, daß es in der Küche noch so manches anzurichten gab, obwohl sie nicht mehr mit der Freudigkeit arbeiten konnte, die ihr noch vor einer halben Stunde gar alles leicht gemacht hätte. Unterdessen verteidigten sich Mutter und Sohn immer tapferer; die Worte wurden um so weniger gewogen, als man endlich gewahr wurde, daß die Magd sich entfernt hatte. Die Stigerin sagte Hansen, er dürfe sich schon ein wenig einreden lassen, denn er habe doch für nichts Talent als für seinen Stall, aber auch das nur so, daß er nicht einmal auf seinen Kopf ein Kälblein für zehn Taler kaufen dürfe. In dem Stück arte er ganz nur seinem Vater nach. Dagegen gute Blutstropfen hab' er von dem Seligen keine geerbt. Der habe doch seine Schwächen gekannt und sei daher immer fügsam und nachgiebig gewesen. Über seinen Vater nun ließ Hans nicht so leicht etwas kommen, wie sorgfältig man es auch, gleich einer bösen Pille, ins Zwetschkenfleisch versteckte. Ja er konnte der Mutter gegenüber es offen aussprechen, daß er den Guten noch jetzt bedauere und als großen Dulder verehre. Die Stigerin kam daher jetzt nur noch in der größten Erregung auf ihren Mann zu sprechen; dann verlor sie überhaupt alle Kraft zum Überlegen, während Hans gerade im Zorn am klarsten zu denken schien. Auch heute sprach er sich so klar und entschieden aus, wie man es von ihm wohl nie erwartet hätte. Er sagte: »Ich hab' auch noch Blut von anderen Leuten und schlage vielleicht nicht ganz aus der Art, wenn ich zuweilen ein bißchen eigensinnig bin und glaube, meine Herzensangelegenheiten – das sind wichtigere als die des Stalles – gehen niemand mehr an als mich.« »Redet man so jetzt?« rief die Stigerin aufspringend. »Bin ich die Mutter, oder bist du sie?« Hans saß ruhig am Tisch und machte ein ganz ernsthaftes Gesicht. »Wenn du mein Mann wärst«, sagte die Stigerin nach einer Weile, »so ließe sich das noch viel eher ertragen. Man weiß ja schon, wie die Männer alle sind. Dir aber, dem eigenen Kinde, das ich so klein und schwach gesehen, das ich mit soviel Mühe gehen lehrte und groß zog, dir kann und will ich den heutigen Morgen nie mehr vergessen. Das gräbt sich tief, tief ins Herz und tut recht grausam weh!« Sie zog das Taschentuch heraus und bedeckte das Gesicht. »Tut man doch heut' wieder einmal, und weiß kein Mensch, warum es nötig wär'!« murrte Hans, der sich schon etwas schwächer fühlte. »Nur deinetwegen, zu deinem Wohl.« »Oho!« »Ja, so ist's, und wenn du nicht eben der Hans wärst, müßtest du das auch einsehen.« »Ich bin aber der Hans«, sagte der Bursche, herzlich froh, daß die Mutter so schnell wieder in eine andere Tonart überging. »Ja, du siehst und merkst immer nichts, bis dir eine Kuh auf den Fuß tritt.« »Ich merke wohl, wie man jeden Zufall hereinzieht, um dem guten Mädchen, der Dorothee, böses Spiel zu machen.« »Nennst du das einen Zufall, daß ihr Beichtvater sie nicht einmal mehr lossprechen kann?« »Der Kaplan hat nicht so viel erfahren, als ich in der letzten Zeit an dem Mädchen gesehen habe.« »Was hast du denn gesehen?« »Seit im Sommer«, erzählte Hans, »die Zeit weiß ich nicht mehr so genau, kommt mir die Magd in gar allem ganz verändert vor. Nach der Kirchweih schien es mir mehrmals, als ob eine böse Krankheit in ihr stecken müsse. Trotzdem war sie unermüdet früh und spät wie sonst, ja fast noch fleißiger, wenn es sein konnte. Nur zuweilen, wenn sie sich nicht gesehen wähnte, stand sie wie angenagelt und gebannt oder als ob sie etwas recht schwer drücke. Dann und wann hätt' ich sie von Herzen gern heimgeschickt ins Bett, aber wenn ich sie noch so freundlich anreden wollte, erschrak sie und redete so heillos närrisches Zeug, daß ich ihr im Ärger darüber zuerst vielmal kein gutes Wort mehr gönnen konnte. Jetzt aber weiß ich, daß man viel von dem, was sie über sich selbst und über andere sagt, bei weitem nicht so grell nehmen muß, wie sie es gibt. Es wär' gut gewesen, wenn das auch der Kaplan gewußt hätte.« Die Stigerin, welche aufmerksam zugehört hatte, sagte mit seltenem Ernst: »Ich fürchte, daß auch du das nicht kennst, will aber Gott auf den Knien danken, wenn du wenigstens keine Schuld hast.« Hans besann sich: »Das wegen dem Jos auf der Kirchweih allerdings hat sie sich recht grausam zu Herzen genommen. Fast nur um sie darüber hinauszubringen, hab' ich dann ihren Bruder anstellen wollen, da sein Herumstreichen ihr viel Kummer machte.« »Sie hätt' wohl den Jos lieber gehabt?« »Nein, sie hat nach der Kirchweih gesagt, der werde dem Stighof nicht mehr dienen.« Die Stigerin ward immer nachdenkender. Immer schneller zog sie den langen Rosenkranz zwischen den rundlichen Fingern herum. Plötzlich warf sie ihn auf den Tisch, und im nächsten Augenblick würde Hans ihre Gedanken erfahren haben, wenn nicht eben Dorothee zur Tür hereingekommen wäre. Sie bat um Erlaubnis, nach dem Gottesdienste den Vater zu besuchen, und schloß mit der Bemerkung, daß sie noch selten mit einer solchen Bitte gekommen sei. Diese Bemerkung war so überflüssig, daß die Stigerin, nachdem sie kurz ja gesagt, der wieder Forteilenden beinahe ängstlich nachsah. »Da ist nicht alles in Ordnung«, flüsterte sie, »so scheu, so blaß. Es ist, wie ich dachte. Für das Mädchen ist Heiraten das beste, für dich aber nicht, wenn du dir nichts vorwerfen mußt.« »Ich weiß nichts.« »Nun, angelogen hast du mich noch nie. Dummheiten machst du schon, aber Schand' auf die Verwandtschaft und ein Mädchen ins Unglück bringen wirst du nicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, drum wird es wohl der Jos sein. Wenn wir den Spitzbuben doch nur nie ins Haus gelassen hätten!« »Eine Liebschaft?« fragte Hans ängstlich. »Eine Verführung, und wenn du noch nichts gemerkt hast, so bist du dümmer als dumm.« »Da kenn' ich mich freilich nicht aus.« »Aber ich ganz gut. Alles wird nun dich dafür hernehmen, drum ist's wohl das beste, wenn man ihr so schnell als möglich zum Heiraten hilft. Einige hundert Gulden Heiratsgut können wir den beiden schon geben, und dann geht's.« Hans war auf einmal ein ganz anderer. »Jos«, rief er, »der Lümmel, hätte das Mädchen verführt? So hätten sie uns hintergangen, und nun sollten wir noch Geld ausgeben und ihnen zusammenhelfen? Na, so dumm ist denn der Hans doch nicht!« »Nur nicht so laut; sie könnte dich hören.« »Sie soll und jedermann soll hören, daß der Hans nicht auf den Kopf gefallen ist.« »Aber damit verdirbst du mir dann meinen Plan.« »Das will ich auch, wenn er so ist, daß eine Schlechtigkeit dabei noch belohnt werden soll!« »Nun, dann magst du es haben, wenn drei Gemeinden von dir reden. Und das kommt gewiß, wenn wir nicht helfen. Ich möchte Dorotheen gleich rufen.« »Nein, Mutter! Die drei Gemeinden sollen sich heiser krähen, wenn sie mir nur nicht so eine Dummheit nachreden können.« »Aber–« »Nichts da! Jetzt läutet es schon bald in die Kirche, und wir sind noch nicht einmal gehörig angelegt. Es wär' doch sicher Sünde, wenn wir wegen derlei Schneckentänzen auch nur ein halbes Vaterunser versäumen täten.« Das alles sagte Hans in einem Atemzug und verließ dann hastig die Stube. 20. Kapitel Zwanzigstes Kapitel Dorothee besucht ihren Vater »Dem unbeliebten Krämer wird auch die beste Ware nur getadelt.« Vom unbeliebten Geistlichen hat man im Bregenzerwalde keine ähnliche Redensart, obwohl man auch gegen diesen durchaus nicht gerechter ist. Schöner als unser Kaplan hat an diesem Sonntag wohl weit herum kein Geistlicher die Messe gesungen: trotzdem ließ Dorothee sich nicht aus dem Lesen bringen und hatte nur einen mitleidigen Blick für die, welche, dem geübten Sänger lauschend, zuweilen ihre Gebetbücher schlossen und es machten, wie auch sie früher es jeden Sonntag gemacht hatte. Ja, wären die gesungenen Gebete und Psalmen deutsch gewesen, so hätten sie vielleicht ihr frommes Herz über die Erlebnisse des Tages zu erheben vermocht; so aber kam es ihr beinahe widerlich vor, daß ein frommer Mann so singen mochte nach der wichtigen Unterredung, die er heute morgens mit ihr gehabt hatte. Sorgte der denn gar nicht, wie sie das alles in sich verwerchen und noch dazu das Gerede der ganzen Gemeinde ertragen werde? Nein, dazu stand er zu groß und zu prächtig droben auf den Stufen des geschmückten Altars, und das Rauchfaß schwang er so zierlich, als ob's auf der Welt nichts Wichtigeres gäbe. Dorothee kam sich wie eine Ausgestoßene vor. In ihrem Stuhl wurde es ihr immer enger, und sie war herzlich froh, daß sie endlich den vielen schmerzlich treffenden Blicken, welche schon ihr Hiersein ihr zu verargen schienen, wieder entrinnen konnte. Ja, jetzt war sie nicht mehr so fest und sicher wie noch nach der Unterredung mit dem Beichtvater. Schon der Empfang auf dem Stighof hatte ihr den Mut genommen, die Ruhe des Herzens erschüttert. Drum wollte sie über Mittag zum Vater und ihm den Rest des vor kurzem erhaltenen Jahreslohns bringen. Da war sie gewiß ein willkommener Gast. Wenn sie heimkam und Geld brachte, dann sagte ihr der Vater in einer Stunde mehr Liebes und Gutes, als sie sonst in einem ganzen Jahr hörte und auch zu hören wünschte. Dieses Schmeicheln und Loben des Vaters tat ihr so weh, daß sie, um es nicht erleben zu müssen, schon seit einigen Jahren den verdienten Lohn durch den Knecht auf dem Stighofe heimtragen ließ. Heute aber mußte sie liebe, gute Worte hören, wie selbstsüchtig sie auch immer gemeint sein mochten, mußte die Freude der Eigenen über ihr Erworbenes sehen und – vielleicht doch auch teilen, denn das blieb wohl nun alles, was sie von ihrem bisherigen Leben hatte. Sie eilte so schnell als möglich über den Platz. Dennoch hörte sie, wie ein Freund des Jos mehreren Bauern sagte, daß es dem Schneider ganz unmöglich sei, die bestellten Sachen alle zur bestimmten Zeit zu liefern, wenn er nicht einen Gesellen auftreiben könne. Das gab Dorotheen wieder Mut. »Wenn auch ein Ast unter den Füßen bricht«, dachte sie, »so fällt man drum noch nicht aus der Welt, sondern bloß vom Kirschbaum zurück auf den festen, sicheren Boden, der überall fruchtbar ist und den Fleißigen nährt. Das Glück und seine Kinder sind launisch! Aber ich will stark sein und trotzig werden wie Jos. Oh, jetzt erst jetzt versteh' ich ihn ganz.« Das Mädchen lief noch rascher und richtete das Köpflein immer höher auf. Alles war vergessen, seit sie sich in das kleine Stübchen dachte, wo jetzt der noch etwas blasse Schneider und Gemeindeschreiber saß. Was war die ganze Herrlichkeit des Stighofes gegen ein Leben, welches nicht hauptsächlich dem lieben Vieh, sondern den Menschen diente. Wenn auf dem Stighof ein dreitägiges Kälblein kurz vor Mitternacht recht erbärmlich schrie, so mußte alles aus dem ersten Schlafe heraus, und kein Mensch fand mehr Ruhe, bis der Tierarzt auf die eine oder die andere Art geholfen hatte; wenn aber Jos um Hilfe rief, dann war's umsonst. Hansjörg hatte nicht so unrecht, daß er lieber etwas anderes tun wollte als da Knecht sein, wenn es nur nicht etwas gar zu Gefährliches gewesen wäre. Warum sollte er nicht lieber dem Jos bei seiner Arbeit helfen? Sie hätte sich doch nichts Angenehmeres denken können und glaubte daher, daß es ihr noch gelingen müsse, ihn zu bereden. Mit solchen Gedanken langte sie vor dem kleinen Häuschen an, welches ihr Vater seit seiner Verehelichung bewohnte. Die schwere, niedrige Haustür war noch geschlossen, und nichts regte sich, bis des Vaters kleiner Pudel das Mädchen wie eine Landsfremde wild anbellte. Ach, so fremd war sie hier, daß nicht einmal der Wächter des Hauses sie kannte! Das wär' wohl anders gewesen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Machte sie die Not auch hart, so hatte sie doch ein Herz für ihre Kinder und wäre gewiß nicht dahin zu bringen gewesen, daß sie den Hansjörg verkauft hätte. Aber die Lebenden müssen sich selber helfen. Die Mutter war vielem Bösen durch den Tod entronnen. Da, neben dem früh gealterten, durch bittere Erfahrungen lieblos, hart, selbstsüchtig gewordenen Vater, dem wilden Bruder und der kränkelnden Schwester, hätte sie ein Leben gehabt, wie man es ihr nicht wünschen konnte. Man mußte Gott danken, daß die so Empfindliche von dem erlöst wurde, was sie doch nicht anders zu gestalten vermocht hätte. Dorothee saß auf der Bank neben der Haustür, erwartete die Heimkehr des Vaters und sann und betete, bis sie in der Stube einige Tritte zu hören meinte. Die kleinen Fensterchen waren zwar niedrig genug, aber zu trüb und verklebt, als daß man hätte sehen können, wer sich drinnen geregt. Eins der Ihrigen aber mußte es sein, da der Pudel sofort zu bellen aufhörte und sich neben die Türschwelle legte. »Ja so, du kommst endlich wieder einmal«, rief eine schwache, heisere Mädchenstimme. Die unvermutet Angeredete fuhr erschrocken auf und erblickte hinter einer in die Verklebung des Fensters gerissenen Öffnung das bleiche Gesicht ihrer Schwester. »Bist du denn nicht in der Kirche gewesen?« fragte sie Marien, als diese gleich darauf die Haustür aufschloß. »In der Frühmesse wohl, soweit ich sie nicht verschlief, wie das leicht geht, wenn man mehr als die halbe Nacht arbeitet. Vormittag hab' ich eine Stickerei fertigmachen müssen, die gleich nach dem Essen abzugeben ist.« »So, so«, sagte Dorothee, der es nicht recht war, daß also auch die Schwester sie in der Frühmesse gesehen und vermutlich schon da von ihrer ungültigen Beichte gehört hatte. »Du mußt mir nicht verargen, was mir sogar der Pfarrer erlaubt hat«, sagte Marie, die sich Dorotheens trüben Blick ganz anders erklären zu müssen meinte. »In den letzten Nächten hab' ich mich fast blind gearbeitet, um doch den Sonntag feiern zu können, aber es war alles umsonst. Wenn ich dich erwartet hätte – mit deinem Lohn –, hätt' ich mir freilich etwas mehr Zeit gelassen.« »Du solltest wirklich nicht so streng, ja du solltest gar nicht sticken. Der Doktor hat es dir doch schon vor Jahren verboten.« »Er sollte kommen, der Doktor, sollte neben dem Vater leben und für ihn den Tisch decken müssen! Die Herren haben gut reden.« Dorothee schaute die Schwester traurig an. Das war einst in der Schule weitaus das schönste Mädchen, wenigstens in den ersten Schuljahren. Dann aber wurde sie zum Sticken gehalten, daß sie nie mehr eine freie Stunde hatte. Die Lieferanten von Stickereien streckten dem Vater von Herzen gerne ziemlich bedeutende Summen vor, um die beste Stickerin der Gegend recht lange an sich zu binden. So mußte sie denn arbeiten, bis sie so bleich wurde, wie sie jetzt, etwas nach vorn gebeugt, vor Dorotheen stand. »Aber am Sonntag solltest du dir doch Ruhe gönnen!« sagte sie mitleidig. »Auf das hin«, antwortete Marie hüstelnd, »muß ich dir sagen, was ich schon dem Doktor gerne gesagt hätte. Man darf nicht glauben, ich sei gern bei der Stickerei gesessen, wenn meine Schulfreundinnen früher vor dem Hause sangen und spielten, oder abends, wo es oft so lang währte, daß der Vater mich wach machen mußte mit einem greulichen Fluch.« »Hat der denn gar nie genug?« fragte Dorothee mit schlecht verhaltenem Unmut. »Sei doch nicht bös über ihn, ich verdiene mir mit allem Fleiß nicht einmal das tägliche Brot. Die meisten Stickerinnen sind hier nur so nebenbei, mehr zum Zeitvertreibe, bei der Nadel. Sie kümmern sich daher auch nicht viel um den Lohn. So behält der Lieferant den Wurf in der Hand, und unsereins kann nichts Besonderes anfangen, wenn seine Arbeit auch mehr wert wäre als die von Stickerinnen, deren Hände an viel rauhere Arbeiten gewöhnt sind. Kaum einmal bekomme ich so feine Arbeit, als ich mir wünschte. Nur in der letzten Zeit hab' ich etwas für eine Ausstellung machen müssen. Ich bin dem Herrn in der Schweiz drüben dankbar, daß er mir so schöne Arbeit überließ, wenn ich auch täglich nur zehn Kreuzer verdiente. Ich hab' einen großen Fleiß gehabt und glaube, daß die Arbeit ihm Ehre machen werde.« »Und hast du nichts als täglich zehn Kreuzer?« »Und in der Nacht noch zehn, wenn ich arbeite, bis mir alles vor den Augen herumtanzt.« »Es ist ein Elend!« »Heut unter dem Gottesdienst ist es mir gewesen wie damals, als die Kinder vor dem Hause spielten. Ich bin mir vorgekommen als eine, die an nichts auf der Welt ein Recht hat.« »Leidet ihr denn wirklich Not?« »Ja, Hunger!« »Hunger?« fragte Dorothee erschrocken. Was waren dagegen ihre kleinen, meistens nur eingebildeten Leiden und Sorgen! »Großer Gott!« rief sie aus, »ich helfe doch, soviel ich kann!« »Davon sagt auch niemand; aber wir beide verdienen nicht viel, und Hansjörg steckt alles nur in seinen Handel und sagt, daß er sich schon einmal für uns habe verkaufen lassen. Ja, Schwester, der Friede fehlt – und damit der Segen Gottes und alles. Die beiden reden vielmal gegeneinander, daß ich in den Boden versinken möchte oder gleich davonlaufen, wenn ich nur wüßte, wohin.« »Ach, daß ich doch recht und für immerzu helfen vermöchte!« »Du wirst das schon können, wenn du einmal auf dem Stighof zu befehlen hast. Mir und dem Vater ist das jetzt immer der beste Trost –« Dorothee sank auf eine Bank zurück. Marie bemerkte nicht, wie weh sie der Schwester mit diesen Worten getan hatte, denn sie sah den Vater kommen und erinnerte sich nun daran, daß sie zur Bereitung des gewiß schon fertig erwarteten Mittagsmahls noch nicht einmal Feuer angemacht habe. Sie schickte Dorotheen aus dem etwas kühlen Vorhaus in die Stube, damit sie unbemerkt ein Ei und etwas gutes Mehl zur Bewirtung des seltenen Gastes in der Nachbarschaft auftreiben könne. Dorothee begab sich in das dunkle Wohnzimmer mit dem großen Ofen und den schwarzen Wänden. Nirgends ein Schmuck oder etwas, das das Auge zu fesseln vermochte. Die Erinnerungen, die in Dorotheen erwachten, kamen ihr wie ein böser Traum vor. Sie dachte an die freundlichen Zimmer auf dem Stighof und sagte sich, daß es doch nur Ehrensache für Hansen wär', auch wieder einmal an dieses Nest zu denken. »Bist du auch da?« redete sie der Vater etwas unfreundlich an und ging dann, ohne ihr noch einen Blick zu gönnen, rasch in der Stube auf und ab. Heute schien keines der glatten Worte kommen zu wollen, mit welchen sonst ihr Lohn und ein besonderer »Gruß« der alten Stigerin erwartet wurden. Das erschreckte sie noch mehr, als was sie schon von der Schwester hören mußte. Sie wäre gern zu dieser in die Küche, doch wagte sie sich nicht mehr zu regen, als des Vaters kurze gedrungene Gestalt sich wie drohend hart vor sie hingestellt hatte. Lange saß sie zitternd und schweigend, bis sie endlich Mut gewann, der ihr unerträglich gewordenen Stille ein Ende zu machen. »Wie lebt Ihr, Vater?« fragte sie mit bebender Stimme. »Von einem Tag in den anderen, wenn das allen falls auch gelebt heißt«, antwortete das Mathisle, indem es sich zum Lachen zwang. Es gelang ihm aber so schlecht, daß es den Versuch sofort wieder aufgab und sich seufzend auf einen alten Lehnstuhl warf. »Fehlt Euch etwas?« wagte das Mädchen wieder zu fragen. »Alles.« »Ich hab' Geld mitgebracht; freilich ist es nicht gerade mehr viel, aber –« »Das wär' wenigstens das. Nur her mit. Ich höre Hansjörgen, den Lümmel, schon vor der Tür, und was der einmal sieht, hat unsereiner gesehen.« Dorothee zog ein kleines Beutelchen heraus, welches ihr der Vater sofort entriß und einsteckte. Dann durchschritt er etwas langsamer als vorher die Stube und begann vom Wetter zu reden. Hansjörgen, der die Schwester kühl, aber doch freundlich begrüßte, schien des Vaters lange Lobrede auf die wunderschönen Herbsttage verdächtig vorzukommen. Lächelnd bemerkte er: »Es ist doch ein Glück, daß es immer so genug Wetter gibt. Immerfort hat der Vater etwas in dasselbe zu wickeln, und besonders erst halbfertiges Zeug liebt er darin zu verstecken. Aber gar so viel Wetter können wir doch in dem elenden Neste da nicht brauchen, drum will ich gleich eine Ladung mit hinausnehmen; auf die Art gibt's Platz und können wir nachher um so näher zusammenrücken.« Gar so schlimm konnte er doch nicht sein, der das jetzt so gemütlich sagte, nur um eine leicht zu machende Beobachtung auszusprechen, nämlich die, daß man ihn hier noch nicht vermissen würde. Er sollte jedoch dieses Gefühl nicht länger haben. »Bleib nur da!« sagte die Schwester und hätte gern etwas recht Witziges beigefügt, wenn ihr nur auch etwas eingefallen wäre. Ihr aber ging das Spötteln hier nicht so leicht wie dem Bruder, der sich nun auch über Marien lustig machte, da diese unter die Stubentür kam und rief, daß sie sich wahrhaft schäme, weil sie nicht einmal etwas Ordentliches aufzutischen imstande sei. »Wenn du dich schämst«, entgegnete er, »so brauchst du nicht vor uns zu stehen wie ein magerer Küchenzettel, sondern du kannst dich in den Mehltrog verstecken und mit dem Schmalztopf läuten, bis dein Schmarren verzehrt ist.« Das nun aber war denn Dorotheen doch gar zu arg, und bei nächster Gelegenheit wollte sie den Bruder ernstlich daran erinnern, daß so etwas nicht einmal für Unbeteiligte ein Spaß sei, geschweige denn für solche, die darunter leiden müßten. Zu dieser Predigt aber kam sie nicht, hatte dagegen bald Ursache, dem Bruder dankbar zu sein, daß er alles niederspotten konnte, was wie ein böses Gespenst sich aufrichten und Schwermut erregen oder Unfrieden stiften wollte. Unter dem Essen pflegen die Bregenzerwälder sehr wenig zu reden. Arme und Reiche löffeln schweigend ihre Suppe aus der für alle mitten auf den Tisch gestellten großen Schüssel und wischen alsdann den mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen bezeichneten Löffel am Tischtuch ab, was immer soviel heißt als: »Ich habe genug, und ihr könnt mit dem Dankgebet anfangen.« Hansjörg aber, der die üble Stimmung der Tischgenossen sah, schien viel mehr an die Erheiterung derselben als an die Stillung seines Hungers zu denken. Besonders gern beschäftigte er sich mit den Torheiten der Angesehensten in der Gemeinde. Für Dorotheen hatte dieses schonungslose Bloßlegen menschlicher Schwächen anfangs etwas ungemein Peinliches. Bald aber sah sie im Bruder nicht mehr nur den scharfen Beobachter, der aus der Welt herein für die heimatlichen Verhältnisse ganz einen anderen Maßstab brachte, sondern einen herzguten Menschen, dem die Welt wohl wie ein aus erbärmlichen Kleinigkeiten zusammengesetztes Wehhaus vorkommen mochte, der ihr auch wirklich zuweilen mit dem halben Gesichte zu lachen und mit dem halben zu weinen schien. Recht lieb ward ihr Hansjörg, als sie einmal zu merken meinte, was er niederspotten und was darüber aufrichten wollte. Er schien ihr etwas, ja ziemlich viel vom Jos zu haben, drum ging denn auch ihr das Herz auf, und sie sprach einen Gedanken aus, den die bitteren Klagen der Schwester in ihr geweckt hatten. »Dem Jos«, begann sie, »hast du vorgerechnet, es sollte jeder sein eigener Brotherr sein. Dem Jos wolltest du auch dazu helfen, warum nicht ebenso dir und den Deinigen? Mit dem Geld, welches du in den Handel steckst, könntest du doch auch ein kleines Gütchen, eigene Arbeit kaufen.« »Ja, ein sehr kleines Gütchen, welches wohl Arbeit machte, mich aber nicht nähren hülfe.« »Warum nicht? Andere Leute –« »Gut – andere Leute stehen auch nie auf dem Fleck Welt, wo ich just bin. Ein Bauerngut ist ein Werkzeug, wie eine Nadel, aber eins, das nur ein Kapitalist sich anschaffen kann.« »Es muß aber doch auch seinen Zins tragen.« »Nur den, der noch darauf liegt, und das ist in der Regel der wirkliche Wert des Anwesens. Man bringt aber auch ein Opfer, wenn man so ein Werkzeug will, man zahlt mehr als den wirklichen Wert. Auf einem großen Anwesen bringt man sich noch durch, auch wenn's gerade um das zu teuer ist, was man als eigenes Vermögen besaß; drum trachten die Bauern, die sich doch mit dem Hofe nur abgeben, so sehr auf Vergrößerung ihres Grundbesitzes, daß im kleinen gar nicht mehr anzufangen ist.« Hansjörg mußte lange reden, bis es Dorotheen klar war, daß nur durch dieses Opferbringen für das Werkzeug der Preis der Bauerngüter bestimmt und mit dem durch den Holzhandel und dergleichen wachsenden Geldreichtum so regelmäßig hinaufgetrieben werde, daß es schon zum voraus zu berechnen sei. Es war ihr heute eine Erholung, sich mit solchen die ganze Aufmerksamkeit fordernden Gedanken zu beschäftigen. Um so schmerzlicher traf es sie, als Hansjörg schließlich sagte: »Nun siehst du, wie schwer es geht. Ich bin schon zu alt, um noch reich zu werden, du aber machst am klügsten, daß du auf den Stighof kommst. Dann, wenn einmal der dicke Hans weg ist, kann auch ich mein Glück bei der Zusel wieder versuchen.« »Ja, wenn!« rief das Mathisle, wischte den Löffel hastig ab, ließ sein Messer zuschnappen und begann dann das übliche lange Tischgebet so schnell, daß die anderen ihm kaum zu folgen vermochten. Dorothee, der Hansjörgs letzte Worte einen doppelten Stich ins Herz gaben, hatte noch selten so zerstreut gebetet. Wohl hätte sie für die Eigenen sich zur Herrin auf dem Stighof heiraten lassen mögen, solange sie sich nicht besser kannte; nun aber war das gegen ihr Gewissen. Sich schon so auf den Webstuhl gespannt und in hundert verschiedene Berechnungen eingezettelt zu sehen, kam ihr jetzt doppelt unheimlich vor. Dieser Hansjörg konnte so gut rechnen und sagen, was andere können und sollen, er aber tat nichts als reden. Wie anders war der Jos! Die besprochene Berechnung – sie war richtig, und eine Menge Beispiele dafür konnten leicht in der nächsten Umgebung gefunden werden – kam gewiß von dem guten Burschen. Aber der rechnete dann auch für sich einen Weg heraus, auf dem er mit seiner armen Mutter in Ehren durch die Welt kommen konnte. Sie nahm sich vor, das dem Bruder ernstlich ans Herz zu legen. Dieser aber verließ gleich nach dem Tischgebet die Stube, indem er sagte, daß Dorothee nicht seinetwegen gekommen zu sein scheine und er daher auch nicht länger stören möge. Als es zum Nachmittagsgottesdienste läutete, wollte auch Dorothee mit ihrer Schwester, welche die fertige, wirklich zierliche Stickerei in ihr bestes Taschentuch eingeknüpft hatte, die düstere Behausung verlassen. Doch das Mathisle befahl ihr zu bleiben, da man noch allerlei zu besprechen habe. Er ging der Schwester nach, um die Haustüre zu schließen, und kam dann schnell wieder in die Stube zurück. Dorotheen ward himmelangst, obwohl der Vater jetzt bedeutend ruhiger schien, als da sie ihn zuerst gesehen hatte. In seinem unsicher und scheu herumirrenden Blicke suchte sie zu lesen, was nun kommen solle, bis er endlich fragte: »Warum hat dich der Kaplan heut' nicht losgesprochen?« »Weil ich nicht versprechen wollte, meinen Dienst sogleich zu verlassen.« »Aber was um Gottes willen hast du denn auch gebeichtet, du große Einfalt?« »Eigentlich gar nicht viel. Er wollte nur wissen, ob Hans mir manchmal etwas geschenkt habe.« »Das geht doch die Herren gar nichts an!« fuhr das Mathisle auf. »Soll man denn bloß für ihre Missionen und in ihre Klöster hinein schenken dürfen, die Eigenen seiner Dienstboten aber verhungern lassen? Oh, geh mir doch mit dieser –« »Vater, ich bitte, redet doch nicht noch etwas Sündhaftes, erzürnet nicht auch den lieben Gott! Was habt Ihr in dem Elend als seine Gnad' und seine Liebe?« »Er soll nur einmal kommen, dieser gerechte Gott, und soll gehörig dreinschlagen, daß man wieder ein wenig Respekt vor ihm bekommt. Jetzt geht es zu in dieser seiner Welt, daß man gar nicht mehr weiß, wo er ist.« »Ach, Vater, wenn Ihr so redet –« »Er soll nur auch die beim Kopf nehmen, die mich zur Verzweiflung bringen. Wenn er alles gar so genau nähme, so könnten gewiß nicht mehr alle Kapläne davon erzählen, und ich hätte schon eine viel bessere Welt angetroffen. Aber sag', was hast du noch mehr gebeichtet?« »Das muß ich nicht und will ich nicht«, sprach Dorothee, sich stolz aufrichtend, mit fester Stimme. Einen Augenblick sah sie das Mathisle fast erschrocken an, dann fragte es spöttisch: »Was willst du denn, Mädchen?« »In die Kirche, denn es ist die höchste Zeit.« Mit einem Lehnstuhl bewaffnet, stellte sich der kleine Mann vor die Stubentür und schrie: »Du bleibst mir da und erzählst mir alles, oder es gibt ein fürchterliches, ein doppeltes Unglück. Ich merke, daß ich mich nicht mehr bezwingen kann. – Sage nur gleich, was hast du gebeichtet?« »Nichts – als was ich schon gesagt habe.« »Nichts – überall nichts«, jammerte der Vater. »Mit nichts kommt man zu nichts. Du Närrin, warum läufst du zur Kirche, wenn du nichts zu sagen hast? Der Kaplan hielt das wohl nicht für möglich, glaubte nur eine Heuchlerin vor sich zu haben, und darum wurdest du nicht losgesprochen.« »Aber ich hab' mir, so wahr mir Gott helfen möge, gar nichts vorzuwerfen!« »Bald genug wirst du auch nichts mehr zum Einstecken haben. Ich wollte lieber, daß du uns recht viel vorzuwerfen hättest.« »Der Kaplan verstand mich nicht. Ich bleib' darum aber doch im Dienst und will auch immer nach Kräften helfen.« »Solang das geht; aber wie lang wähnst du, Tröpflein, daß du noch bleiben könnest, nachdem du so herabgesetzt bist? Kurz und gut, jetzt ist's aus. Die Stigerin wird dich nicht mehr im Hause lassen.« »Ich hab' aber doch nichts Unrechtes getan.« »Das ist mir nur ein schlechter Trost.« »Vater!« »Ich weiß, was ich will, du aber willst mich umbringen mit deiner dummen Ehrlichkeit. Für Leute von unserer Art ist die liebe Tugend ein teurer Spaß. Wir müssen selbst schieben, oder wir werden geschoben. Ist es recht gewesen, den Hansjörg unter die Soldaten zu lassen? Recht? Lächerlich! Aber klug war es, wenn man auf dich rechnen konnte. Mit der Zusel ist's aus gewesen, da hat's nun gegolten, den Hans anzubinden an sein Gewissen. Bloß den Krämer mit seiner Forderung hätt' ich allenfalls schon noch abfertigen können.« Das Mathisle redete mit einer Kälte, die Dorotheen das Blut beinahe zum Stehen brachte. Nun aber fuhr es wild auf: »Der Bursche konnte tot, zum Krüppel geschossen werden, dennoch hab' ich ihn gewagt, um den Töchtermann zu fangen. Durch dich aber, du närrische Tugend, hab' ich beide verloren. Dein Ruf ist hin durch deine Schuld, und auch uns hast du die ganze Zukunft verdorben.« »Ich hab' aber doch nichts getan.« »Das ist der Trost jedes Faulenzers, aber damit bringt man es nicht weit. Ich wollte bei Gott lieber, der Kaplan hätte Grund gehabt, dich nicht loszusprechen. Aber so wegen nichts und wieder nichts aus allem heraus und so ins Geschrei hineinzukommen, das – ja, Mädchen, das ist schon zum Wütendwerden!« »Aber«, wagte Dorothee dem wirklich beinahe rasend gewordenen Vater zu erwidern, »ehrlich währt denn doch am längsten. Hansjörg mit aller List und Berechnung bringt es auch zu nichts, wie mutig, ja toll er es auch anfängt; dagegen ...« »Hansjörg ist ein Lümmel. Er mag nicht, und du kannst nicht; aber was hast du noch mehr sagen wollen?« »Dagegen kommt Jos in Ehren, und wenn auch langsam, doch sicher, immer mehr empor.« »Hab' ich mir doch gedacht, daß es da steckt!« schrie das Mathisle und schwang den noch immer krampfhaft festgehaltenen Stuhl um sich herum, daß es surrte. »Herrgott im Himmel! Also darum nur mußt du beichten? Du dummes, leichtsinniges, elendes Ding bringst mich noch rein um!« »Vater!« »Nichts mehr, kein Wort mehr dein Lebtag, du verfluchter und vermaledeiter Balg, wenn du noch etwas mit diesem Schneider, diesem hergeschmuggelten Bettler zu tun hast.« »Aber –« »Schwöre mir ihn ab, gleich, bei allem, was du hoffest und wünschest, was dir heilig und trostreich ist!« Draußen begann der Hund zu bellen. »Vater«, stammelte das Mädchen, »wenn jetzt jemand kommt –?« »So wird man etwas Greuliches, unsere ermordeten Leichen, sehen, wenn du nicht schwörst.« »Ach du mächtiger, grundgütiger Gott!« jammerte Dorothee. Der Vater mit seinem Stuhl kam näher. Er schwang ihn so gewaltig, daß er an der niedrigen Decke der Stube ein Bein abschlug. Das Hundsgebell wurde wilder. »Dorothee!« stammelte der Wütende. »Ich schwöre ja!« schrie das Mädchen und sank auf die breite Ofenbank zurück. Das Mathisle stand lange stumm und bewegungslos, als ob es sich auf das eben Vorgegangene besinne. Dann wollte es sehen, was dem Kinde fehle, welches wie leblos auf der Bank lag. Da bellte der Hund noch wilder. Wer um Gottes willen kam denn jetzt? Es eilte, wieder mit dem Stuhl bewaffnet, ans Fenster und sah nun den Krämer mit einem überkindeten Bauern vorüber-, vermutlich seinem Walde zu schreiten. Die beiden warfen dem treuen Wächter Steine nach und machten ihn so wütend, daß ihn auch das noch immer zitternde Mathisle kaum zu beschwichtigen vermochte. Bis es ihm gelang, unbemerkt an den Vorübergehenden das aufgeregte Tier zu sich ins Haus zu locken und zum Schweigen zu bringen, hatte sich seine Stimmung bedeutend gemildert. Mit einer gewissen Scheu ging er langsam in die Stube zurück, wo er Dorotheen noch gerade so traf, wie er sie – nach seinem Dafürhalten schon vor langer Zeit – verlassen hatte. So leise wie nur möglich setzte sich der Mann auf die knarrende Bank und wagte kaum zu atmen, bis das Mädchen, endlich sich langsam aufrichtend, wie im Traume sagte: »Ach Gott, wie war das eine böse, eine schreckliche Stunde!« »Ich bin weit getrieben worden«, stammelte der Vater. »Ich will und muß auch Gewalt brauchen, wie der Krämer. Der aber hat's angefangen und ist viel der größere Sünder als ich; den müßte Gott zuerst, lange vor mir strafen. Einmal hab' ich an die Gerechtigkeit geglaubt, jetzt aber weiß ich, daß man sich selber helfen muß, so gut oder so schlecht man kann.« »So will ich meinen Vater nun nicht mehr hören!« rief Dorothee. Mit furchtbarer Kraftanstrengung sprang sie auf und verließ die Stube. Der Vater suchte sie nicht mehr daran zu hindern. »Wir haben uns verstanden«, sagte er scharf. »Gewalt für Gewalt, wenn die göttliche Gerechtigkeit schläft. Solang die Reichen mit den Menschen machen, wie sie wollen, solange Gott dem Krämer sein Handwerk nicht legt, gilt zwischen uns, was wir eben ausgemacht haben.« Unter der Stubentür kehrte Dorothee sich noch einmal um und schien etwas sagen zu wollen. Sie warf einen langen, wehmütigen Blick in die dunkle, unfreundliche Stube. Dann plötzlich drehte sie sich um und verließ das Häuschen so schnell, als ob der Boden unter ihren Füßen zu brennen begonnen hätte. 21. Kapitel Einundzwanzigstes Kapitel Wie Dorothee die Lossprechung bekommt Als Dorothee wieder im Freien war und sich von einem frischen, kräftigen Lufthauch angeweht fühlte, wollte das eben Erlebte ihr nur noch wie ein schrecklicher Traum vorkommen. Hatte sie so Ungeheures wirklich gesehen und gehört, oder war es nicht vielmehr eine Vorstellung aus jenem Zustande, in dem sie ziemlich lang auf der breiten Ofenbank gelegen sein mochte? Sie besann sich, wie es denn vorher gewesen, bis sie wirklich den Vater wiedersah mit dem Stuhl in der Hand und seine Worte nochmals zu hören meinte. Es war aber alles das so – närrisch, daß sie selbst diesen Vorstellungen, wie sie sie auch erbeben machten, noch immer nicht glauben wollte. Das fromme Mädchen war, wie beinahe jede Bregenzerwälderin, von der Schule auf gewöhnt, in allen Ereignissen einzig bloß Belohnung und Strafe des gerechten Gottes zu sehen. Das heutige Erlebnis aber wußte sie mit nichts aus ihrer Vergangenheit in Zusammenhang zu bringen. Hatte sie, der traurigen Lage der hilflosen Ihrigen gedenkend, sich in der letzten Zeit auch als Herrin auf dem Stighofe gewünscht, so tat sie das gewiß niemals aus Selbstsucht, und es war zu hart, daß der Vater, für den sie sich opfern wollte, sogar an den guten Jos zu denken verbot. Unrecht, ja wohl sogar Sünde – das gestand sie sich nach langer, sorgfältiger Gewissenserforschung – war es freilich gewesen, daß sie schon ganz im Ernste an eine Verehelichung mit Hansen dachte. Sie schätzte den Burschen – und vermutlich nur der erhaltenen Wohltaten wegen – zu hoch und verzieh ihm zu viel. Hatte sie es doch noch gar für eine Gnade gehalten, daß er sie nicht aus dem Dienste jagte, nachdem sie ihm wegen seiner Treulosigkeit gegen Jos ein wenig die Meinung gesagt. Und schon vor Jahren fand sie es ganz in der Ordnung, daß der Bruder seine Freiheit, seine Zukunft um ein Sündengeld an den reichen Burschen verkaufen mußte. War's zum Verwundern, wenn man jetzt, wo das erhaltene Geld verbraucht sein mochte und sich an Hansjörgen die Folgen jenes Bluthandels zeigten, vom Stighof einen weiteren Ersatz zu fordern sich berechtigt wähnte? Mußten Vater und Bruder nicht annehmen, sie betrachte Hansen schon als den Künftigen, da sie nicht ein tadelndes Wort für jenen bedauerlichen Handel hatte? Sie hätte mit Zusprechen und Bitten das alles verhindern können. Auch der Bruder war, wie sie, zu einem furchtbaren Eide gezwungen worden, der alle seine Hoffnungen zerstörte und ihn, den trotzig gewordenen, zum Kriege trieb gegen die gesellschaftliche Ordnung. Nun hatte das Mädchen die Schuldge funden, welche es büßen zu müssen meinte. Schaudernd blickte es zum tiefblauen Himmel empor und dankte dem Gerechten für diese Erkenntnis, die ihm in diesem Augenblicke wirklich ein großer Trost war und Kraft verlieh, auch dem Ärgsten mutig und voll Vertrauen auf den weisen Leiter der Menschenschicksale entgegenzugehen. Jetzt mußte sie die Folgen früherer Herzlosigkeit tragen; einmal hätte sie es anders machen können. Freilich wäre dadurch all dieses Elend nicht unterblieben; Hans hätte doch einen Ersatzmann gekauft und vermutlich das Lebensglück eines anderen zerstört. Sie und die Ihrigen trugen nur am Elend, an der Not der ganzen Klasse. Arme Leute mußten sich eben verkaufen lassen auf die oder auf jene Art; drum war's, wenn auch nicht recht, so doch erklärlich, daß der Vater, der das wohl oft im Leben erfuhr, den höchsten Preis aus ihr lösen wollte. Lange stand Dorothee auf der Brücke, die über die Ach führt, und beschäftigte sich mit diesen neuen Gedanken, bis sie trotz Sonnenschein und warmer Herbstluft wie im strengsten Winter zu frieren begann. Nur schon weil sie arm war, mußte sie für eine listige Verführerin gelten, die den reichen Burschen um jeden Preis in ihr Netz zu bringen suche; der Besuch daheim und was sie da zu erleben hatte, bewies deutlich genug, daß dieses Vorurteil gegen die Armen auch nicht ganz unbegründet war. »Macht denn das Geld auch tugendhaft?« fragte sich das Mädchen, blickte aber dabei nicht mehr zum Himmel empor, sondern nieder in den Strom, der unter der Brücke dahinbrauste. Wenn jetzt die Brücke zusammengebrochen wäre – dann hätte doch alle Not ein Ende gehabt ... für sie wenigstens; die Ihrigen freilich ... »Du wirst dir da nicht etwa gar noch ein Leid antun wollen?« fragte die helle, klangvolle Stimme der Kronenwirtin das Mädchen, welches über dieses Erraten seiner Gedanken noch mehr als über die unvermutete Anrede der Frau erschrak, die, ohne bemerkt zu werden, bis hart neben Dorotheen herangetreten war. »Ich wollte nur – ich komm' eben vom Vater herüber«, stammelte die Verlegene. »Ich glaub' schon, daß es nicht so weit mit dir ist, aber eben drum solltest du dich auch nicht öffentlich in so einen Verdacht bringen. Die Kirche ist aus, und mehr als hundert Augen blicken von allen Seiten auf dich. Was man dabei denkt, kann ich, die sonst doch nicht eben zu den Bösdenkenden gehört, mir selber abnehmen.« Dorothee schloß unwillkürlich die Augen. »Ich hab' dich von meinem Haus aus gesehen und bin geschwind herüber, um dich zu holen, denn mir fiel etwas Schlimmes ein. Jetzt aber seh' ich, daß dir gar nicht wohl ist. Du zitterst, als ob es Winter wär', und dabei glühen deine Wangen wie im Fieber. Komm nur mit mir und trink vor allem ein kräftiges Glas Wein; das wird dir wohltun an Leib und Seele. Unterdessen verlaufen sich dann die Leute wieder ein wenig. Es wird dir lieb sein, nicht gar so vielen Blicken zu begegnen.« »Ich bin ein armes Mädchen«, sagte Dorothee, »das ist das einzige, dessen ich mich zu schämen hätte.« »Vor mir nicht«, sagte die freundliche Wirtin. »Wenn das das Ärgste ist, so richte dein Köpflein nur wieder auf und denke, du seiest noch lange nicht am schlimmsten dran.« »Aber schlimm genug«, meinte Dorothee, welche der Wirtin langsam folgte. »Du hast recht – wenigstens zum Teil. Nennt man doch im gewöhnlichen Leben das Betragen eines liederlichen, streitsüchtigen und unredlichen Menschen ein ärmliches. Er tut ärmlich! Damit ist einem sein Urteil gesprochen.« »Ja«, fiel Dorothee leidenschaftlich ein, »und wenn man es anders will und nicht sein Herz und die Ruhe des Gewissens ums Geld verkauft, so handelt man gegen die Ordnung und mag es büßen. Nirgends wird man verstanden, nirgends mehr geschätzt.« »Ach, Mädchen, was mußt du gelitten haben, daß du so urteilen lerntest! Aber gar so arg ist es denn doch nicht. Zwar niemand hat die ganze Welt und kann allem das Rechte treffen; aber liebe, gute Menschen, denen man ganz trauen kann und darf, solche findet jeder, der ihrer wert ist. Hast du denn keine mehr?« Dorotheen traf der Wirtin vorwurfsvoller Blick. »Kann und darf!« wiederholte sie. »Noch vor fünf Minuten hab' ich niemand gehabt, jetzt aber ...« Tränen erstickten ihre Stimme. Unterdessen waren sie vor dem Wirtshaus angelangt. Die Frau führte Dorotheen am Arme die steinerne Stiege hinauf und durch die geräumige Küche ins Herrenstüble, um den Blicken der im Gastzimmer Anwesenden zu entgehen. Es war Dorotheen ganz wunderbar zumute, als sie einige Minuten später im sauber getäfelten Zimmer mit den wunderbar schönen Bildern und dem großen Spiegel vor einem guten Schoppen saß und durch die halboffene Türe die in dem vollen Gastzimmer geführten Gespräche hörte. Viele suchten für die nächsten Tage Arbeit und Brot, boten ihre Arbeitskraft öffentlich an und trieben sich dabei die Löhne herunter. Nun wurde die Waldung versteigert, welche der Krämer unter dem Gottesdienst mit dem bisherigen Besitzer besichtigt hatte. Der Krämer bot etwas über den verhältnismäßig sehr niedrigen Anschlag, und nun wartete der Ausrufer vergebens auf ein höheres Angebot. Endlich schrie man ihm von allen Seiten zu, er solle doch der langweiligen Geschichte ein Ende ma chen, da ja der Krämer schon mit allen eins sei, welche die Mittel hätten, den Wald zu kaufen. »Nicht wahr, da geht's wunderbar zu?« fragte die Wirtin, als sie endlich wieder etwas freie Zeit für ihren Gast im Herrenstüble gewann. »Es tut einem weh und wohl zugleich, das Durcheinander zu hören«, antwortete Dorothee. »Weh, so viele leiden zu sehen, und fast wohl, da man das Eigene dabei wieder ein wenig vergessen kann. Es ist doch ein Trost, wenn auch ein schwacher, sich mit so vielen leidend zu denken. Man lernt den anderen vieles vergeben, und Gott wird hoffentlich noch barmherziger sein, als man selber ist.« »Wenn man sich nur nichts vorzuwerfen hat.« »Wer ist so gut?« fragte Dorothee. »Oh, viele sind nicht schuld an ihrem Unglück.« »Das wollt' ich sonst nie glauben.« »Und nun?« »Hab' ich es erfahren und empfunden. Jetzt aber möcht' ich wissen, was denn Gott tut.« »Er hat die Menschen einander gegeben, daß sie sich lieben und sich helfen nach seinen Geboten, nicht so sich bekriegen, wie du es da draußen und überall hörst. Tun sie das nicht, so folgt die Strafe von selbst. Den Reichen kann sein Überfluß tiefer hinabdrücken als den Armen seine Not. Oder um wieviel ist der Krämer besser, seit er einer der Reichsten wurde? Er hat nur noch mehr Gewalt für seinen bösen Willen. Ja, Mädchen, mir hat der Pfarrer genug erzählt. Wer im Beichtstuhl redet, daß man ihn nicht lobt, gilt mir mehr als die, welche sich dann, sei es aus Dummheit oder Lieblosigkeit, über ihn hermachen, als ob kein guter Faden mehr an ihm wär'. Das sag' ich unverhohlen. Wenn der Krämer mit seinem Anhang dich noch um den Dienst bringt und du dann als ehrliche, unverdorbene Magd zu mir kommen kannst und magst, so will ich dir mit Freuden die Tür auftun, es mag dann Tag oder Nacht sein.« »Das ist guter Bescheid und großen Dank wert«, antwortete Dorothee gerührt. »Glück, Gunst, Neigung, alles ist übernächtig auf der Welt. Man kann immer nur sagen, was gewesen ist, nie, wie es noch kommen wird. Aber nicht bloß darum, schon als Beweis des Vertrauens tut mir der Antrag recht im Herzen wohl, wenn ich auch nicht glaub', daß ich so schnell werde daraus Ernst machen müssen. Der Hans gibt um solche Redereien nicht viel.« »Aber heut' haben sie ihm schon auch warm und kalt gemacht.« »Meint Ihr?« »Ich weiß es. Heut', als er nach dem Gottesdienst seinen Enzianer trank, ging es gehörig über ihn her.« »Was haben sie gesagt?« »Sei nur froh, wenn du es niemals hören mußt. Des Kaplans Predigt und deine Beicht' nimmt man zusammen und glaubt, entweder mit Hansen oder dem Jos müsse nicht alles in Ordnung sein. Man beginnt schon, den reichen Bauern so halb und halb aus der Sache zu wickeln.« »So!« rief Dorothee mit einer Lebhaftigkeit, welche die Wirtin zuerst fast erschreckte, »der Jos ist also jetzt auch noch mit hineingekommen! Das laß ich mir gefallen. Er kann sich nun um so eher denken, daß an dem ganzen Gerede kein wahres Wort sei.« Die Wirtin blickte Dorotheen erstaunt an und sagte nicht ohne Strenge: »Was Hans denkt, ist jetzt für seine Magd am wichtigsten.« »Hans steht auf sich selbst und tut, was er will.« »Du kennst die Welt noch schlecht, wenn du glaubst, daß nur wir Weiber uns nach dem Winde drehen. Ja, dann ist's zum Teil gut, daß Gott dich schon jetzt etwas erfahren läßt.« Die Wirtin wurde wieder in die Stube gerufen. Auch Dorothee stand auf, dankte für den Wein und noch mehr für das, was dabei ihr Herz erleichtert hatte. Die freundliche Frau war anfangs bemüht, Dorotheen, die ihr noch sehr aufgeregt schien, zurückzuhalten, da ja das Glas noch nicht einmal zur Hälfte geleert sei. Dorothee sagte jedoch, sie wäre soviel derlei Getränk gar nicht gewöhnt, wenig aber mache ihr leicht und wohl. Zudem sei es ihr immer, als ob es nicht recht wäre, so in einem fremden Hause vom Brotherrn zu reden, während es daheim vielleicht dies und jenes zu tun gäbe. Sie sehnte sich wirklich zurück zu den stillen häuslichen Verrichtungen, die ihr die Stigerin seit längerer Zeit fast ganz allein überließ. Da vergaß sie alles andere, konnte den Zusammenhang leicht übersehen und war ganz in ihrer Welt. Das Reden und Tun der Menschen aber tat ihr weh und drückte ihr Herz wie eine Last, unter der sie sich nicht mehr frei regen konnte, wie gern sie auch eingegriffen und etwas getan hätte. Ja, sie kannte die Welt noch nicht, da hatte die Wirtin ganz recht; aber sie wußte doch schon zuviel von ihr, als daß ihr das Plaudern der Leute in der Gaststube und das Klingen der Gläser noch ein Vergnügen machen konnte. Das schönste war für sie und das beste, treulich ihre Pflicht zu tun, daß kein Mensch einen Grund zum Tadeln hatte. Dann konnte sie das Gerede vorüberschwirren lassen wie einen Herbststurm, vor dem sich kein Mensch fürchtet, wenn er nur sein Schindeldach gehörig mit Steinen überlegt und festgedrückt hat und auch sich selbst nicht auf der weiten Gasse befindet. Wäre sie heute wie sonst ordentlich zu Hause geblieben, statt sich großtun zu wollen mit ihrem Gelde, dann hätte sie gewiß nicht so Schlimmes erlebt. Mit solchen Gedanken kam sie vor den Stighof, den sie ihr Daheim zu nennen so gewohnt war, daß sie es auch noch jetzt nicht lassen konnte, obwohl sie eben von den Eigenen kam und nicht wußte, wie lange sie noch hier bleiben durfte. Sie begrüßte das Haus, schon da sie nur dessen hohen Dachstuhl über die anderen Häuser herüberragen sah, mit dem Gefühl des Wanderers, welcher eine liebe Stätte, den Schauplatz seiner frohesten Tage, nach langer, mühevoller Reise wieder betritt mit dem festen Vorsatze, nun – wenn's irgend möglich – für immer dazubleiben und unbekümmert um die Welt, die er nun genugsam kennt, sich hier so nützlich und angenehm als nur immer möglich zu machen. Aber wie es dann gewöhnlich solchen Wanderern begegnet, daß sie nicht mehr alles finden, wie sie auf mühevoller, unsicherer Fahrt sich's träumten, so fand auch Dorothee nicht mehr alles, wie sie es erwartet hatte und gewohnt war. Etwas freilich mochte davon kommen, daß sie jetzt auch zu scharf beobachtete, zu ängstlich jedes an sie gerichtete Wort auf der Goldwaage wog, um nicht sowohl Hansen als die Stigerin ganz erstaunlich verändert zu finden. Was die Stigerin heute morgens noch mehr als Vermutung aussprach, indem sie der Liebe zum gutmütigen Sohne und der Abneigung gegen Jos folgte, hörte Hans nach dem Gottesdienste überall so bestimmt behaupten, daß ihm die Sache mehr als bedenklich zu werden begann. Die Leute glaubten, es geschehe dem Burschen gewiß ein großer Dienst, daß er noch so ziemlich ungeschlagen aus der Geschichte gewickelt werde; doch sie täuschten sich. Wenn Dorothee so falsch war, dann konnte man an keine Tugend mehr glauben und keinem Menschen trauen. Das aber wäre Hansen unerträglich gewesen. Er glaubte fest noch immer an Dorotheens Unschuld, daher war es ihm nicht genug, daß das Gerede ihn selbst jetzt schonte. Unschuldig mußte das Mädchen sein, aber seine Neigung zum Jos – ja, die hielt er jetzt für eine ausgemachte Sache, und das wurmte ihn mehr, als er sogar sich selbst gestehen wollte. Davon wohl kam es hauptsächlich, daß er den Vorschlag der Mutter, Dorotheen um jeden Preis und so schnell als möglich aus dem Hause zu bringen, immer vernünftiger fand. Ärgerlich, daß nun das frohe Zusammenleben mit Dorotheen, die ihm die Schwester ersetzte, noch auf so unangenehme Weise zu Ende sein sollte, erklärte er sein Einverständnis mit dem Plane der Stigerin auf eine Weise, daß diese nicht wußte, was sie daraus machen sollte. »Mit diesen Weibsbildern«, murrte er, »sollte man gar nichts zu tun haben oder, wenn das nicht geht, gleich die Allerärgste heiraten, damit sie sich für einen gegen die anderen Weibsleute wehre. Dieses Gelärm wird mir denn doch zu arg, seit auch ein Geistlicher dahintersteckt, der das Unheiligste bekreuzigt und segnet, daß jeder schon zum voraus verdammt ist, der sich noch dagegen wehren will. Dorothee muß heiraten, und wenn sie noch keinen hätte, so tat gleich ich sie nehmen aus purem Trotz; aber man kann ja darüber reden.« Unter der Kinderlehre kam Hans zu dem Entschluß, das Mädchen gleich offen zu fragen, ob es lieber ihn oder den Jos zum Manne möchte. Nach dem Gottesdienste eilte er gleich heim, obwohl er wußte, daß in der Kronenwirtschaft eine Versteigerung stattfinden sollte, bei der er nicht ungern auch ein wenig mitgetan hätte. Ungeduldig wartete er nun auf die Magd; aber die wollte nicht kommen. Das verdarb ihm von neuem seine Stimmung, und bald war er mit der Stigerin wieder übers Kreuz, da er sich nun gar nichts mehr sagen lassen wollte. So, unzufrieden über das lange Ausbleiben und noch aufgeregt vom Wortwechsel mit der Mutter, traf ihn die Magd, welcher er jetzt um alles kein gutes Wort hätte geben können. »Ich hab' schon gedacht, du machest eine Wallfahrt nach Einsiedeln oder Rankweil«, brummte er. »Mädchen, die man nicht mehr losspricht, suchen gern die Beichtväter dort auf, die sie nicht kennen und längst allerlei Brocken gewohnt sind.« Solchen Gruß erwartete das Mädchen nicht. Die Wirtin schien also ganz recht zu haben, wenn sie besorgte, daß es hier nicht lange mehr gut tun werde. Etwas hastig antwortete sie Hansen: »Ich kann schon auch hier losgesprochen werden, wenn ich nur verspreche, was man will.« Hans bereute zwar seine Rede; doch um sich das nicht anmerken zu lassen und weil er hoffte, mit dem armen Mädchen schon so nach und nach wieder einlenken zu können, fragte er mit erzwungener Härte: »Was will man denn?« »Daß ich dich – daß ich den Dienst verlassen soll«, antwortete das Mädchen, welches durch diese Frage und diesen Ton sich aufs neue verletzt fühlte. »Das ist wohl auch das allergescheiteste«, bemerkte die Stigerin, welche beide nicht ungern auseinandergeraten sah. »Man muß sich immer in die Zeiten oder die Menschen schicken, wie sie sind, und dafür sorgen, daß die Kirche noch im Dorfe bleibt. Wir sind lange friedlich beieinander gewesen und wollen uns nun auch im Frieden trennen, wenn einem Gerede, das dir mehr als uns schadete, nur dadurch noch abzukommen ist.« Dorothee hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sagte nun mit halberstickter Stimme: »Oh, dieses Reden alles braucht es nicht. Nur durch euere Güte bin ich hergekommen als armes Kind und gehe nun mit dankbarem Herzen. Mit schwerem Herzen freilich auch; aber ihr verzeiht mir es wohl, wenn ich nicht so leicht ein Haus verlasse, wo so viele Lieb' und Güte mich fast vergessen ließ, daß es nicht meine Heimat sei. Nun, Gott wird mich weiter führen«, fügte sie nach einer Pause bei und wollte, da sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, das Zimmer verlassen. »Wohin denn gleich?« fragte die Stigerin etwas unsicher. »Meine Sachen einpacken«, antwortete Dorothee. »Das tut nicht gar so not«, wehrte die Stigerin. »Gleich schon zum Jos hinein wirst du denn doch nicht wollen, heim aber kommst du noch lang. Man gönnt jeder Magd so viel Zeit, daß sie sich gehörig auf den Umzug vorbereiten kann. – Und du bist mir mehr gewesen als Magd«, fügte sie immer weicher werdend bei. »Ich merke so etwas an mir selbst. Ich hab' mir fest vorgenommen, für dich zu sorgen, und will es auch halten, drum darf dir für die Zukunft nicht gar zu bange sein. Komm nur, wenn dir etwas mangelt, und auch an einem hübschen Zehrpfennig soll's nicht fehlen.« Dorothee schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte gewiß nie nur einen Kreuzer Lohn von euch genommen, wenn's mir nicht um die armen Eigenen gewesen wäre. Aber etwas dafür nehmen, daß man jetzt meiner los wird, kann ich sogar diesen zuliebe nicht.« »Aber dir zuliebe dürftest und wirst du, wenn du wieder zu dir selbst kommst, doch nehmen, was wir dir als Beweis unserer Zufriedenheit von Herzen gern geben.« »Solche Beweise hab' ich täglich bekommen und mich daran gefreut, ohne mich einer Sünde zu fürchten. Jetzt aber sind wir fertig. Meinen Lohn hab' ich heute den Eigenen gebracht und – ich muß offen sagen – auch da wieder von Herzen für die Rettung aus dem Hause drüben gedankt. Aber jetzt – Mutter – Stigerin – laßt uns scheiden und uns das Herz nicht noch schwerer machen –« »Das wird mir nun doch gar zu ernsthaft«, sagte Hans in einem Tone, welcher deutlich verriet, wie sehr die letzten Worte des immer schöner und schuldloser vor ihm stehenden Mädchens ihn ergriffen. »Wo um Gottes willen wolltest du doch gleich wieder ein ordentliches Unterkommen finden?« »Dafür«, antwortete Dorothee, »haben Gott und gute Menschen schon gesorgt. Ich kann gleich heut' noch als Magd bei der Kronenwirtin einstehen.« Hansen hatte wohlgetan, sich das arme Mädchen ganz von ihm abhängig zu denken. Nie hatte sich sein Kopf stolzer aufgerichtet als bei dem Gedanken, daß er dieses holde Wesen aus seiner Niedrigkeit erheben und auf einen seiner würdigen Platz stellen könne mit einem Worte. Schmerzlicher traf ihn noch nichts als die Mitteilung, daß das Mädchen ohne sein Wissen und Zutun sich geholfen habe. Er fuhr auf, wie wenn ihn eine Wespe gestochen hätte. »Also darum«, rief er zornig, »hat die Mutter vom Jos heut' so viel mit der Wirtin zu zischeln gehabt unter der Kirchentür.« »Ich weiß das nicht.« »Aber ich weiß nun, daß du falsch bist wie Galgenholz. Alles war heimlich abgekartet. Uns ging das nichts mehr an. Wir haben jetzt lange genug für dich gesorgt.« »Sei das, wie es wolle«, beruhigte die Stigerin den Sohn, welchen seine Aufregung kaum noch auf dem Stuhle litt. »Jeder Mensch hat ein Recht, für sich selbst auf seine Weise zu sorgen, und er soll das auch, wenn er sich einmal seinen Erziehern entwachsen glaubt. Der Platz in der Krone ist nicht schlecht, wenn man mit der Alten auszukommen weiß.« »Ich wünsch' ihr Glück«, sagte Hans unmutig, »und mehr scheint sie von uns nicht mehr zu wollen.« Dorothee ging oder vielmehr wankte weinend in ihr Zimmer; Hans holte einen großen Sack aus der Rumpelkammer, warf ihn vor die Mutter auf den Tisch und rief: »Den da kann man ihr bringen, wenn sie gleich einpacken will.« »Sei doch nicht so ungeschickt!« bat die Mutter. »Ja, gelt, daß sie mir nicht noch überall Böses nachredet wie eine fortgejagte Wäscherin? Oh, nicht eine Hand tat ich dafür umkehren. Sie soll nur machen, wie sie will, denn schon zu lange hat sie sich immer verstellen müssen, daß man glaubte, Roß und Wagen könnten sie nicht von uns bringen.« »Es ist aber doch recht, daß sie geht« »Ganz recht. Jos könnt' am End' gar noch eifersüchtig auf mich werden. Drum wird sie so große Eile haben.« »Du hast vergessen, was das Gerede der Leute dabei tat.« »Ich wäre fest gestanden, und sie hätt' es neben mir wagen dürfen. Aber da muß man sich immer nach dem Nebel richten wie die Weiber bei der Wäsche. Zuerst lauter Wörtlein, so eben und glatt, daß man darauf leicht fallen und den Kopf verlieren könnte; dann läutet's eine ganz andere Glocke, und nun macht man einen Kopf und dreht sich und geht wie ein Bettler von einem Wucherer.« »Du bist sonst im Urteilen so billig als einer.« »Ich hab' auch noch nie so was Unbilliges erlebt. Was heißt das bißchen Lärm gegen das, was Angelika leidet; aber die ist noch nicht davongelaufen, obwohl es auch einen geben tät, der sie besser zu schätzen wüßte als ihr Mann.« »Großer Gott«, jammerte die Stigerin, »muß ich meinen Buben so sündhaft reden hören von dem Weib eines anderen! Schäme dich vor dem hellen Tag!« »Ich bin nicht schuld, daß sie das Weib eines anderen wurde.« »Nun«, begütigte die Mutter, »ich hab' jetzt nichts mehr gegen die Verwandtschaft, und Zusel, die hübschere, ist noch zu haben.« »Ja, falscher, treuloser als Dorothee kann sie gewiß nicht sein, und dabei ist sie zu herzhaft, um sich wegen einem Gerede zu kümmern. Immer lustig, hübsch, klug; ja, die Zusel ist nicht so übel und dabei der Angelika fast ähnlich.« Während Mutter und Sohn sich so allmählich wieder näherten, hatte Dorothee ein Kleidungsstück nach dem anderen in den Überzug ihrer Bettdecke zu packen begonnen. Sie kam damit um so langsamer vorwärts, weil sie immer wieder daran denken mußte, bei welcher Veranlassung sie dies und jenes erhielt Erst jetzt empfand sie es recht lebhaft, wieviel sie diesen Leuten zu verdanken hatte. Zuerst glaubte sie, so, noch halb im Unfrieden und mit dem Gefühl, daß ihr sehr unrecht geschehen sei, werde sie am leichtesten gehen; doch beim Anblick der vielen Geschenke Hansens und der Stigerin nahm ihre Aufregung bedeutend ab. Endlich aber fragte sie sich: »Bist du denn gar so in diese Herrlichkeiten vernarrt?« »Nein!« rief sie, indem sie alles ordnungslos aufeinander warf, um dann so schnell als möglich von hier fortzukommen. Dennoch war es schon beinahe dunkel, bis endlich alles beisammen war, was sie nicht einzupacken vergaß. »Nun, in Gottes Namen!« sagte sie, indem sie ihr Bündlein anfaßte, sich noch einmal die großen Tropfen von den Wangen wischte und dann mit geschlossenen Augen das Zimmer verließ. In der Stube war ihr nicht mehr anzumerken, wieviel sie in den letzten Viertelstunden gelitten hatte. »Ich will Euerer Erziehung immer Ehre machen«, sagte sie beinahe heiter zur Stigerin, welche die Fassung des Mädchens um so mehr in Erstaunen setzte, da sie selbst das Weinen kaum erwehren konnte. »Geh mit Gott, und der heilige Schutzengel begleite dich und zeige dir gute Wege und gute Menschen!« sagte sie, indem sie in das Weihwasserkrüglein hart neben der Türe langte und des Mädchens Stirne segnend bekreuzigte. Dorothee bat noch, ihr Hansen, welcher nirgends mehr zu sehen war, herzlich zu grüßen und ihn um Verzeihung zu bitten wegen allem Unrechten, was sie je aus Schwäche oder Unwissenheit gesagt und getan habe. Dann verließ sie die Stube und das Haus. Jetzt war sie im Freien, im Weiten, allein. Ihre Erzieher hatte sie verlassen, ihre größten Wohltäter. Nun wollten wohl auch die Eigenen nichts mehr von ihr hören, und den guten Jos hatte sie abschwören müssen! Im ersten Augenblicke kam ihr das alles wie eine ungeheure Übereilung vor, und sie wußte nicht, ob sie vorwärts gehen sollte oder wieder zurück. Dann aber entsann sie sich des Geschehenen und jedes gewechselten Wortes ganz genau und ohne dabei wieder weich zu werden. »Wo es einmal so klingt, ist gut gehen«, sagte sie sich und schritt rasch durch das Herrendorf hinaus, dann hinunter zur Kirche und der Kronen Wirtschaft zu. Der alten Stigerin hat ihre Rechnung jämmerlich gefehlt. Hans kam erst recht ins Gerede hinein, als am anderen Tag, am Fest Allerheiligen, jedermann davon erzählte, Dorothee sei nun doch noch losgesprochen worden, weil sie den Dienst auf dem Stighofe verlassen hab' und bei der Kronenwirtin eingestanden sei. 22. Kapitel Zweiundzwanzigstes Kapitel Bei der Brunnenstube Die wackere, noch etwas altmodische Wirtin und Dorothee kamen sehr gut miteinander aus. Das Mädchen gewöhnte sich viel schneller an das unruhige Leben einer Wirtsmagd, als selbst die Wirtin erwartet hatte. Gerade das ewige Kommen und Gehen, die Gespräche über die verschiedensten Angelegenheiten und Verhältnisse, das ganze Durcheinander der Gaststube war Dorotheen schon darum erwünscht, weil es sie den ganzen Tag niemals zu sich selbst kommen ließ. Recht lieb war ihr auch, daß sie nur jeden Gast gehörig, ja sogar reichlich bedienen, sonst aber nicht besonders viel Wesens machen mußte. Die Kronenwirtschaft war ein recht eigentliches Bauernwirtshaus. Die Wirtin schien das Geschäft nur zu Ehren des verstorbenen Mannes fortzuführen, um es einst dem einzigen Töchterlein im alten guten Rufe abtreten zu können. Die Gäste, die hier kamen und gingen, waren um so mehr geachtet, je williger sie sich von der guten Frau auch ein wenig bemuttern ließen. Man durfte ihr aber das Vertrauen schon schenken. Sie schien nicht nur die Sprüche und Redewendungen ihres unvergeßlichen Seligen, sondern etwas, ja sogar viel von seinem ganzen Wesen geerbt zu haben. Da war alles einfach, aber solid, wie in ihrer Hauseinrichtung, die auf den ersten Blick recht bäuerlich altmodisch aussah, aber durch ihre Zweckmäßigkeit jeden befriedigte. Nützlich, vernünftig und klar, das waren ihre Lieblingsworte, und mit diesen ließen sich auch all ihre Reden und Handlungen bezeichnen. Um so mehr setzte Dorotheen ein Auftrag in Erstaunen, den sie am Abend vor dem Martinstag erhielt. Sie gebot sich aber so schnell, daß die Wirtin den Schatten gar nicht bemerkte, der dabei über das Gesicht des Mädchens flog. Es war ein Glück für Dorotheen, daß sie gerade nicht besonders scharf beobachtet wurde, denn es handelte sich um einen alten Brauch, den man im Hause seit Urgroßvaters Zeit – und kein Mensch wußte, wie lange vorher schon – übte und über den die sonst so nüchterne Frau sich um so weniger zweifelnd oder gar spöttelnd hätte befragen lassen, weil auch sie mit ganzem Herzen daran hing. Dorothee langte schon nach dem Weihwasserkrüglein an der Wand neben der Stubentür, um sich gleich in ihr freundliches Dachkämmerlein zur Ruhe zu begeben, als sie von der Wirtin mit eigen feierlicher Stimme, die etwas Wichtiges zu verkünden schien, in die Küche gerufen wurde. Sie folgte, so schnell sie konnte, denn ihr war's lieb, wenn es noch etwas zu tun gab an diesem wunderbar schönen und doch so stürmischen Abend. Vorhin, als sie den die Stube lang sich hinziehenden Zechtisch abgeräumt hatte und ihren Blick alsdann durchs mondbeglänzte Tal schweifen ließ und der Sturm einige Fensterläden zuschlug, wurde sie wieder so wach, daß sie viel lieber noch an irgendeine Arbeit als gleich ins Dachkämmerlein ging. Auf dem schneeweiß gescheuerten Schranke in der geräumigen Küche, über dem sich ein vierfacher Rahmen voll glänzenden Porzellangeschirrs an der Wand hinzog, stand ein großer Topf, den die Wirtin soeben mit Weißbrot, Butter, Honig und Schweizerkäse – von ihrer Alp – füllte. Als sie Dorotheen bemerkte, sagte sie: »Leg' dich noch einmal ordentlich an, daß dir der Föhn nichts schadet, und bring das alles unserem Brunnen.« Dorothee sah die Wirtin erstaunt fragend an. Wohl hatte sie von dem schon damals ziemlich aus der Übung gekommenen Brauche gehört, am Martinsabend die im Jahre gebrauchten Quellen – Ursprünge – zu speisen, aber es kam ihr doch sonderbar, beinahe lächerlich vor, da sie eine sonst so nüchterne, wohlberechnete Frau die Sache noch so ernsthaft nehmen sah. »Ich hab' das noch gar nie getan«, flüsterte sie beinahe bittend, »ich weiß auch nicht, wie man es machen muß, und es wär' mir lieb, wenn Ihr diesmal den Knecht schicken tätet, der doch heut' auch sonst nicht mehr besonders viel anfangen wird.« »Das geht nicht.« »Warum?« fragte Dorothee, nachdem sie eine Sekunde schaudernd das Tosen des immer mächtigeren Sturmes gehört hatte. »Es muß ein Mädchen, eine Jungfrau sein.« Dorothee, die es ordentlich fröstelte, wagte nochmals zu fragen: »Warum?« »Meines Mannes Großvater selig«, erzählte die Wirtin, »soll das einmal unterlassen haben, dafür hat ihm dann der Ursprung im nächsten Sommer auch kein Wasser mehr gegeben. Seitdem ist's immer getrieben worden, und mein Mann selig soll auch in dem Stücke mit mir zufrieden sein. Vielleicht haben auch die Ursprung' ihren eigenen Schutzpatron, wie das Feuer den heiligen Florian, dessen Bild man in jedem christlichen Hause findet. Jedenfalls heiß' ich dich nichts Schlimmes, nur das, was ich selbst als Magd in diesem Hause früher jeden Martinsabend habe tun müssen.« »Und wie habt Ihr es denn gemacht?« fragte das Mädchen, welches nun seinen Mut wieder wachsen fühlte. Die Wirtin stellte zwei Teller vor sich auf den Küchenschrank und begann: »Siehst du, das rechts ist die Fluh und das links der Fuß vom Liggstein. Drin, da zwischen den Bergen in der Enge, wo am längsten Sommertag die Sonne nur wenige Stunden zu sehen ist, hart neben dem Weg, den die Schleichhändler und Alpknechte benützen, wenn's einmal Eile hat, grad' wo der Wald angeht, mitten in einem Buchenkranz, unter hölzernem Deckel, ist im Boden ein ausgehöhltes Holz, ein Trog. Das ist unsere Brunnenstube, wo mehrere Ursprünge gesammelt sind, um in einer Leitung bis zu unserem Hause geführt zu werden. Da gehst du hin. Die Schaufel darfst du aber nicht vergessen, denn mit der mußt du hart neben die Brunnenstube gegen Sonnenaufgang vergraben, was ich dir da zusammengerichtet habe. Ich summte dabei gewöhnlich ein frommes Lied, und mein Lebtag nie hab' ich mich so gern gehört als da. Noch weiß ich's ganz gut, als ob es gestern gewesen, wie da die fallenden Tropfen klangen und rauschten, die Baumwipfel flüsterten und es dann wieder, wie in der Kirche unter der Wandlung, still, ganz still worden ist. Ich tät am liebsten selbst gehen und lang, lang drüben bleiben, wie vor zwanzig Jahren. Wie wird mir doch so eigen, und alles liegt noch so lebhaft vor mir, daß ich dir gleich erzählen muß, wie mir damals gegangen ist.« Beide setzten sich auf die an der Fensterwand hinlaufende Bank; Dorothee knüpfte den ihr übergebenen Topf mit zitternden Händen in ein weißes Tuch, die Wirtin aber erzählte: »Ich bin da Magd gewesen, aber du mußt nicht glauben, daß meine Eigenen den lächerlich kleinen Lohn gerade nötig gehabt hätten. Von der Stickerei wußte man damals noch nicht viel, aber ein Vater, der nicht eben gebunden war, hätte sein Mädchen auch um den schönsten Lohn ungern das ganze Jahr in der Stube sitzen lassen. Man meinte, gerade wohlhabenden Mädchen, denen später vielerlei durch die Hände geh', könne es nicht schaden, wenn sie schon in den jungen Jahren ein bißchen herumgepudelt würden und die Arbeit so lernten, daß auch die eine Freude daran hätten, die nicht mit der Verliebtheit des Vaters oder der Mutter urteilten. Besonders der Dienst in einem ordentlichen Wirtshaus ward einem jungen Mädchen recht herzlich gegönnt, wenn es sich nur auch gehörig zu stellen wußte. Nun, mir hat es an dem nicht gefehlt und auch nicht an Burschen, die ich hätte haben können. Es gab manchen Spaß, und ich mag oft schuld gewesen sein, daß einer länger dablieb, als es bisher seine Gewohnheit war. Ich meinte, den jungen Wirt müsse es freuen, wenn ich ihm so Kundschaft warb, und nichts hat mir so weh getan, als ihn immer stiller und unfreundlicher gegen mich zu sehen. Zuweilen wollte ich ihm einmal gehörig das Kapitel lesen, aber zu dem bin ich Schwache doch nie gekommen, denn ich hab' gleich gemerkt, daß ich ihm noch viel eher den Dienst aufkünden könnte. Das aber wollt' ich wirklich tun. Da kam der Martinsabend und sah just aus wie der heutige. Ich wußte schon, was ich zu tun hatte, doch sann ich über ganz anderes, und so kam es denn, daß ich Einfalt zur Brunnenstube hinauflief und vergaß, was ich zur Speisung hätte mitnehmen sollen. Der Wirt mußte mein Versehen schon bemerkt haben, und eben das war mir zehnmal ärger als der Gang zurück, den ich nun wieder noch machen mußte. Der Spott des Wirtes über jedes Versehen war in der letzten Zeit so spitz, daß man zehnmal eher einen kräftigen Vorwurf ertragen hätte, auf den sich wieder etwas Gesundes entgegnen ließ. ›Das tut's da nicht mehr, und du mußt fort auf einen anderen Platz!‹ rief ich überlaut und erschrak dann selbst über den sonderbar fremden Klang meiner Stimme. Wenn du allein am Ursprung stehst unter den gelben, flüsternden Wipfeln und du das Murmeln und Plätschern hörst, ganz allein, als ob es nur für dich da wär', dann beginnt sich das Fallen der Tropfen, das einen Saitenklang von sich gibt, in die Weise eines wunderbaren Liedes zu ordnen, das dir ganz bekannt ist, obwohl du es auf der Welt noch nie gehört haben kannst. Dann wird's dir weit und wohl, alles ist dir gut und recht, und du bist nicht mehr fähig zu einem Entschluß, der irgend etwas ändern könnte. Mir wenigstens ist es so gewesen. Ich bin dagesessen wie verzückt, bis das gefallene Laub unter den Buchen raschelte und auf einmal – der Wirt mit dem Vergessenen hart vor mir gestanden ist. ›Trifft man dich doch einmal allein, wo man ein vertrautes Wort mit dir wechseln kann?‹ fragte er. ›Jawohl‹, hab' ich gesagt, ›wenn deine Spottsucht auch ein vertrautes Wort aufkommen läßt.‹ Jetzt redeten wir lang hin und her, wir räumten uns erst gehörig herunter, dann wurde alles klar zwischen uns, und acht Wochen später sind wir Brautleute gewesen. Drum denk' ich noch jeden Martinsabend an den Ursprung am Alpweg und bleibe treulich beim alten Brauch, wie sehr der auch sonst aus der Übung gekommen ist.« Dorothee, welche zuerst das ihr Übergebene den hungrigen Eigenen weit besser als dem Ursprung am Alpwege gegönnt hätte, ward tief ergriffen von der Erzählung, aus der sie eine so schöne Neigung zu dem Seligen heraus klagen und jubeln hörte. Der ihr befohlene Gang ward nun fast zu einer gottesdienstlichen Verrichtung. Sie mußte der Wirtin zum Abschiede die Hand drücken, was wohl die meisten Bregenzerwälderinnen noch nie in solchen Fällen gesehen, geschweige denn selber getan haben. Hastigen Schrittes verließ Dorothee das Haus. Die Wirtin ward ihr das bewundernswerte Weib, indem sie sich als Stellvertreterin ihres Seligen dachte. So, meinte Dorothee, hätten die meisten Menschen einen Gedanken, ein Gefühl, woran sie sich in allen Stürmen mit Herz und Seele festhalten könnten. Ach, und sie stand einsam, abgerissen überall, und ein furchtbarer Eid bannte sie und trennte sie sowohl von den Ihrigen, deren Selbstsucht sie dazu zwang, als auch von dem Geliebten, dessen Bild jetzt bei Tag und Nacht vor ihrer Seele stand. Wann sollte das enden, wann sie das aufklärende, versöhnende Wort finden? Schaudernd blickte sie hinüber zu dem stattlichen Hause des Krämers, wo noch alle Zimmer beleuchtet schienen. Es ward ihr kalt und heiß, als sie daran dachte, daß ihre Erlösung an das Verderben jenes Mannes geknüpft sei. Lange Zeit lehnte sie an dem schon etwas morschen Stamm einer vielästigen Buche, so in Gedanken verloren, daß sie das Tosen des immer wilderen Sturmes kaum bemerkte, bis derselbe einen halbdürren Ast von ihrer Buche brach und surrend hart neben ihr niederwarf, daß die vielen Zacken sich mehr als fußtief in den Boden bohrten. Einen lauten Schrei ausstoßend, sprang das Mädchen von der gefährlichen Stelle weg und empfand, als einmal der erste Schreck überstanden war, ein ganz eigenes Behagen, alle Glieder nach Belieben regen zu können. Sie hatte ein Gefühl, als ob ihr Leben und Gesundheit aufs neue wiedergeschenkt worden sei. »Es ist doch schön auf der Welt!« rief sie, emporblickend zu den stillen, ernsten Bergen, die jetzt mit Sternen bekränzt schienen. Nie noch hatte sie den Liggstein, der stolz und wie ein Wächter des Tales über den Schnepfauer Wald gegen die Kanisfluh hinüberragte, so aufmerksam betrachtet und so klar gesehen, wie jetzt im Scheine des Mondes. Die Schatten der vom Sturme geschüttelten Tannen, welche zwischen den übereinander gewölbten Steinschichten hervorwuchsen, zogen an dem rot und bläulich schimmernden Felsen auf und ab und schienen ihr zu winken. Der Wald dort, welcher sich in der noch nicht beleuchteten Tiefe weit bis an den Streifen Himmelsbläue hinzog, welcher zwischen den beiden Felsenköpfen herunterhing, hatte sich viel zu erzählen. Geheimnisvoll rauschten und flüsterten die rötlich schimmernden Buchen und die ernsten Tannen, wenn wieder ein Sturm ob ihren Wipfeln dahinfuhr, daß man sogar das Tosen der blauen, tausend Silberstreifen über die von den Bergen gestürzten Steine werfenden Ach nicht mehr hörte. Endlich in der geschützten Schlucht der Brunnenstube angelangt, wo nicht mehr Äste, sondern bloß noch die welken Blätter sich regten, empfand Dorothee, wie wahr die Wirtin das Gefühl schilderte, von dem man hier erfaßt und gehoben wurde. Noch nie hatte sie wie jetzt die Bewegung des Gehens und den Gebrauch jedes ihrer Sinne als Wohltat empfunden. Lange war sie zu nichts fähig als zum Sehen, Hören und Bewundern der herrlichen Gotteswelt, deren Anblick und Genuß ihr eben wieder geschenkt worden war. Selbst in der Kirche, wo zuweilen man ches noch an die Not und Plage des Alltagslebens erinnerte, war ihr noch selten so leicht und frei gewesen wie hier. Nie hätte sie geglaubt, daß sie bei der wunderbar lieblichen Musik der Ursprünge mit solcher Andacht ihrem Opfer ein Grab graben würde, denn noch nie sonst war ihr eine Quelle fast wie etwas Lebendiges erschienen. Jetzt aber lauschte sie dem Geplauder der Tropfen so aufmerksam, daß sie das ihr aufgegebene Vaterunser für den seligen Wirt beinahe vergaß. Erst als die Arbeit fertig, fiel es ihr ein. Als sie nun auf einem ganz mit Moos bedeckten Stein kniete, laut und langsam betend, war's ihr gerade, wie wenn der Geist des Verstorbenen sie umschwebte. Von den zitternden, rauschenden Buchen ringsum rieselten Blätter herab auf die Beterin und das Opfergrab, welches sie mit Moos bedeckt hatte. Sie begann unwillkürlich ein zweites Vaterunser zu beten. Da fiel der erste Mondstrahl hell und voll auf ihr fast wie verklärt leuchtendes Gesicht. Einen Augenblick später war der ganze Platz erhellt. – Dorothee stieß einen lauten Schrei aus und wankte einige Schritte zurück. Nicht weit vor ihr erblickte sie, an einen Buchenstamm gelehnt, eine männliche Gestalt. Nur das Gesicht wurde noch vom Schatten eines Astes bedeckt. »Wer ist da?« fragte das Mädchen, alle Kraft zusammennehmend und schon auf dem Sprung zur Flucht. »Niemand als ich.« Diese Antwort war sehr unbestimmt. Dorothee jedoch hatte schon an der Stimme genug. Diese Stimme würde sie überall und unter allen Umständen sogleich erkannt haben. »Ach Gott, es ist Jos!« jammerte sie und langte nach ihrer Schaufel, als ob sie so schnell als möglich zu gehen entschlossen sei. »Was tust du da?« fragte Jos, indem er langsam dem Mädchen näher trat, welches noch immer zwischen Gehen und Bleiben schwankte. Endlich lehnte sie die Schaufel an einen Buchenstamm und sagte: »Ich hab' die Brunnenstube speisen müssen.« »Ich kann nicht begreifen«, begann Jos nach einer Weile, »wie eine sonst verständige Frau noch solche Dummheiten treiben läßt.« Diese Rede tat Dorotheen weh. Jetzt dachte sie nicht mehr ans Gehen. Erst sollte Jos eine bessere Meinung von der Wirtin bekommen. Sie setzte sich neben den Burschen auf einen Stein und erzählte, was jene hier als Mädchen einst erlebt habe. Aufmerksam hörte Jos zu; auch als Dorothee geendet hatte, blieb er eine Weile ganz still. Endlich aber sagte er: »Der Platz ist ganz dazu gemacht, einmal frei auszusprechen, was man sonst in sich vergraben mußte – da drunten, wo jetzt der Sturm zieht. Auch ich hab' dich heute zu mir hergewünscht, Gott hat mich erhört, und aus dem schöpf ich die Hoffnung, daß nun alles noch gut werde. Viel, viel hab' ich zu sagen und zu fragen, ich will gleich anfangen, so treibt mich die Ungeduld, und zudem weiß ich nie, wann dein Bruder kommt und uns stört.« »Hansjörg?« fragte das Mädchen erschrocken. Es hatte dem Bruder oft einen ordentlichen Freund gewünscht, und besonders den Umgang mit dem fleißigen Jos hatte es ihm recht von Herzen gegönnt, weil der ihn wohl so leicht als einer wieder auf den rechten Weg bringen konnte. Als nun aber allem nach die beiden hier sich treffen wollten, wußte sie nicht mehr, welchen sie für den Leiter und Führer des anderen halten sollte. Jos fühlte sich durch den Ton der Frage verletzt. »Dein Bruder«, antwortete er, »scheint dich lieber zu haben als du ihn.« »Der Schein trügt.« »Ich bin froh, wenn es das ist«, sagte Jos mit Wärme, »Hansjörg braucht jetzt Liebe. Nur seinen Tadlern und Aufpassern zulieb' wird er nicht viel tun und nicht viel unterlassen.« »Das glaub' ich auch«, versetzte Dorothee näher rückend. »Gerade du vermöchtest viel über ihn und könntest ihn weit bringen.« »Wir schaffen auch wirklich zusammen jetzt.« »Gott Lob und Dank im hohen Himmel!« jubelte das Mädchen, dem seine Freude recht ordentlich an zusehen war, obwohl es im Schatten eines noch nicht entblätterten Astes saß. »Aber«, sagte es dann, sich besinnend, »mich nimmt's doch wunder, daß ich noch nichts davon gehört habe.« »Das kommt nicht an den Wirtstisch, und es wäre schlimm, wenn jeder davon zu erzählen wüßte«, lachte Jos, fuhr dann aber, das Erschrecken des Mädchens bemerkend, in ganz anderem Tone fort: »Davon jedoch können wir auch neben dem Hansjörg noch reden. Jetzt sag' mir lieber, wie es dir auf der Wirtschaft gefällt? Du glaubst nicht, wie viel ich mich schon darum sorgte.« »O du guter Jos, mir geht ja ganz wohl!« »Nein, Dorothee, das sagt man nicht in dem Ton; so redet man, wenn man krank oder ganz unglücklich ist. Hast du denn kein Vertrauen mehr wie früher, wo du mir alles sagtest?« »Was aber soll ich dir sagen? Ich bin kaum zwei Wochen im Haus. Die Wirtin hält mich wie eine Mutter, und sonst tat ich nur wünschen, daß die anderen Hausgenossen mit mir so zufrieden wären, als ich es mit ihnen bin.« »Dann ist's noch schlimmer«, klagte Jos. »Warum noch schlimmer?« fragte das Mädchen mit einer Hast, welche wohl seine Streitlust verraten sollte. »Weil dann dein wunderliches Benehmen einen noch tieferen, schmerzlicheren Grund hat. Du glaubst gar nicht, wie gut ich deine Stimme kenne. Sie ist mir wie ein Lieblingslied, welches man ganz in sich aufgenommen hat, so daß man gleich jeden falschen Ton darin merkt. Wie mancher bei der Arbeit sein Liedchen summt, so hör' ich dich stundenlang reden in mir, aber nicht so wie heute. Dann bist du ganz das, was immer mich anlächelt, wenn ich auch nur den Namen Dorothee von einem Gassenbuben höre, der dabei vielleicht an ein Butterbrotbäschen denkt. Heut' kommst du mir fremd vor, aber doch nicht so fremd, als du dich stellen willst. Ein tiefes Leid klagt aus jedem deiner Worte. Gewiß, ich hätt' es dir gegönnt, wenn bloß die Kronenwirtin dran schuld gewesen wäre. Das wär' nur ein Dorn am Strauch, dem wieder zu entrinnen sein würde. Gefährlicher sind die Dornen, die man schon im Leib hat; die schmerzen sehr und machen krank.« Nun konnte Dorothee nicht mehr trotzig und kühl antworten. Es fehlte dem armen Mädchen alles, was dazu gehört hätte. Seine Stimme klang weich und etwas unsicher, als es fragte: »Gibt es nicht auch Dornhecken, zu denen wir gebannt sind und von denen wir uns immer wieder weh tun lassen müssen?« Kein Dornstich hätte das Jösle schmerzlicher treffen können als diese Frage, die alles wieder umzuwerfen schien, was aus Vermutungen auf das in letzter Zeit Beobachtete gebaut werden konnte. Wer anders war wohl mit diesem Vergleich gemeint als Hans, den sie noch nicht aus dem Herzen brachte, an den sie noch gebannt war, wie weh er ihr auch immer getan hatte? »Hast du noch das Heimweh auf den Stighof?« fragte das arme Bürschchen mit bebender Stimme. »Nein, Jos«, antwortete Dorothee fest, und es ward ihr dabei so leicht, ob sie nun erst die Lossprechung des Kaplans verdient hätte. Auch dem Jos war wieder leicht ums Herz; leichter selbst, als da er hörte, daß nun Dorothee vom Stighof auf die Kronenwirtschaft gekommen sei. Und auch das schon tat ihm wunderbar wohl, und sein Fuß besserte von dem Tag an so schnell, daß auch der Doktor darüber staunen mußte. Doro-theens eigenes Nein aber war noch viel mehr wert als alles, was aus einem vielleicht nur zufälligen Zusammentreffen von Umständen sich herausrechnen ließ. Jos dachte nicht mehr an den immer schmerzenden Dorn, von welchem Dorothee gesagt hatte. Wenigstens jetzt einmal atmete er frei auf und sagte fröhlich: »Auch ich hab' mich nie mehr auf den Stighof gewünscht, wohl aber zu dir. Ich passe nicht zum Bauern, das hab' ich im Sommer nur zu gut empfunden, aber auch, daß mir neben dir und für dich alles, gar alles möglich wär'. Anders hab' ich mir nach der Kirchweih niemals erklären können, daß ich es nur so lang auszuhalten vermochte.« »Mir kommt es vor, ob du dem Hans jenen Abend noch immer nicht vergessen habest.« »Es ist nicht mehr viel davon in mir, aber jetzt muß auch das Versteckteste heraus«, antwortete Jos. Dann, des Mädchens zitternde Hand erfassend, fuhr er fort: »Du glaubst gar nicht, wie wohl es mir tut, hier unter Gottes freiem Himmel, ganz in der Stille gar alles aus mir herauszureden, was drückt und quält.« »Tu das nur, wenn du es kannst«, sagte das Mädchen traurig. »Ich kann und muß es, aber auch du solltest es können wie früher. Du tust ja, wie wenn sich etwas zwischen uns gestellt hätte. Was ist's denn, wenn du kein Heimweh auf den Stighof hast?« »Das plagt mich nie«, sagte das Mädchen, und Jos glaubte dabei einen leisen Druck ihrer Hand zu empfinden, die ihm aber so schnell entzogen ward, als die seinige denselben erwidern wollte. »Ich will dich nun in Gottes Namen mit Fragen gehen lassen«, sagte Jos etwas verlegen. »Sag' mir nur noch, ob ich dir etwas helfen, etwas tun kann, wodurch dir vielleicht denn doch etwas abgenommen würde.« »Ja, das kannst du.« »Und was?« fragte Jos, indem er den Kopf wieder aufrichtete und dem trüben Blick des Mädchens ein fröhliches Gesicht sehen ließ. Dorothee rückte näher zu ihm und flüsterte: »Tu für den Hansjörg, was du kannst! Benutze deine Macht über ihn zu seinem und deinem Heil. Er traut dir, und du hast ihn auf dem Gewissen.« »Weißt du das so gewiß?« fragte Jos etwas verlegen. »Von dir kann er lernen, wie man mit blutsaurer Arbeit alles Mißtrauen, alle Hindernisse überwindet. Ich weiß aus Erfahrung, wie leicht man sich auf einen schweren Weg macht, wenn ein Mutiger voran ist. Ich fühle, wie hoch du über ihm stehst, wenn du willst, ich –« Das Mädchen stockte. »Nun, wir tun jetzt auch mitsammen. Bin ich doch da, um auf ihn zu warten.« »Aber der Führer ist er. Du hilfst ihm etwas tun gegen das Gesetz, dem wir folgen müssen.« »Aber nichts Sündhaftes.« »Was gegen das Gesetz geht, ist nicht recht. Wie es uns schützt in unseren Rechten, so schützt es auch andere. Es sieht weiter als wir, drum sollen wir es auch achten, wo wir es nicht verstehen.« »Ich hätt' auch lieber einen großen Hof geerbt«, sagte Jos etwas unmutig, »als armer Teufel aber muß ich mich wehren, wie es geht Unser mehrere haben sich zusammengetan, um die Sache in Gang bringen zu können.« »Wenn's nur etwas anderes wär'«, klagte Dorothee. »Ich hab' auch schon gedacht, die Armen sollten so zusammenhalten wie die Reichen, aber zu etwas Ordentlichem. Ihr da kommt mir fast vor wie die Bauern, welche sich vereinbarten, um auf der letzten Versteigerung beim Kronenwirt einen Wald recht wohlfeil an sich zu bringen. Beide Teile handeln gegen das Gesetz. Jene schadeten einem, ihr dem Staate.« Diese Rede Dorotheens bewies, wieviel sie sich in Gedanken mit dem Schleichhandel beschäftigt und daß sie auch andere, die mehr davon verstanden als sie selbst, gelegenheitlich darüber befragt hatte. Jos jedoch war über diesen Beweis, daß das Mädchen auch jetzt noch an ihn denke und für ihn sorge, nichts weniger als erfreut. Schüchtern begann er der lieben Predigerin auseinanderzusetzen, daß er immer an sie denke und nur ihretwegen soviel wage. Vor den Menschen nehme man sich in acht, und Gott werde seine gute Absicht sehen und ihm verzeihen. Dorotheen wurde heißer und heißer. Sie merkte, auf was alles der gute Bursche noch kommen werde. Und schon fühlte sie nicht mehr die Kraft in sich, ihm in seinen Auseinandersetzungen zu widersprechen und vielleicht mit einem Worte alle seine Hoffnungen zu zerstören. Hoffnungen auf eine Zukunft, die, ach, auch ihr so lieblich erschien, daß sie hätte weinen, laut aufschreien mögen bei dem Gedanken, daß niemals etwas daraus werden könne! Ja, sie mußte fort, das war ihr furchtbar klar. Nicht mehr länger durfte sie zuhören und den guten Burschen reden lassen. Auf einmal, ohne sich zu erklären, wollte sie wegspringen und heimeilen ... auf einmal – jetzt, nur noch einen Augenblick, eine halbe Minute neben ihm, und dann scheiden fürs ganze Leben. – Ja, scheiden! ... Sie erfaßte krampfhaft die Hand des Burschen, ihre Blicke begegneten sich innig und inniger, und mit einem Seufzer, in dem der ganze Schmerz und die ganze Wonne eines Menschenlebens lag, sank sie an seine Brust. Da nun ruhte sie und weinte. Er legte den zitternden Arm um den weißen Hals, welchen der Schatten der Buchenäste gar nicht zu treffen schien. In der Brunnenstube rauschte es ganz wunderbar, das Fallen der einzelnen Tropfen klang wie Saitenspiel, das Flüstern der Wipfel da droben wie Gesang. Dorotheen war's, als ob sie nun alles, alles herausweinen könnte, was bisher sie erdrücken und ersticken wollte, während Jos vergebens nach Worten für seine Empfindungen suchte. Vergessen war die böse, böse Welt und alles, womit sie diese beiden Herzen schon belastet hatte, vergessen alle Verhältnisse und Verbindungen, selbst Vater und Mutter – wenigstens eine Zeitlang und viel länger, als die Glücklichen glaubten, die jedes Zeitmaß verloren. Dann durchzuckte es das Mädchen wie ein furchtbarer Schmerz. Es stieß einen leisen Schrei aus und schien dann etwas sagen zu wollen, aber wieder wurde seine Stimme von einem Strome noch heißerer Tränen erstickt. Wenn der Schutzgeist der Ursprünge noch in der nun folgenden Viertelstunde bei seinen Opfergaben weilte, so segnete er gewiß das Paar, welches wie angebannt unter den Buchen saß und sich schweigend umschlungen hielt. Wurde doch selbst Hansjörgen, der unbemerkt nahe genug kam, um beide zu erkennen, so wunderbar zumute, daß er, da er sie nicht stören, nicht auf einmal aus ihrem Himmel bringen wollte auf die böse Welt, wieder zurückschlich und in der Ferne nur leise, doch so laut, daß die beiden es hören mußten, ein Soldatenliedchen zu summen begann. Das tat Hansjörg, der sonst so fest rechnete, die Schwester einmal als Bäuerin auf dem Stighof, auch zu seinem Vorteil, walten zu sehen. Seit Hans Dorotheens oder ihrer Verwandtschaft sich so schämte, daß er sie gleich aus dem Dienste ließ, hätte Hansjörg ihm so ein Mädchen wie seine Schwester gar nicht mehr gegönnt. Des Vaters schonungslose Selbstsucht war jetzt seinem Wesen fremd, und die Mitteilung desselben, Dorothee habe den Jos abschwören müssen, war' ihm gewiß recht schwer auf dem Herzen gelegen, wenn er die Sache so ernsthaft wie Dorothee genommen hätte. Doch er wähnte, dem Vater sei der Jos nur zu arm. Wenn das einmal etwas anders und der Vater überzeugt sei, daß man den dicken Hans nicht mehr fangen könne, werde das im Zorn gesprochene Wort von Herzen gern zurückgenommen werden. Auch den Jos brachte er zu dieser Ansicht und machte ihn so fest, daß den guten Burschen die Zurücksetzung Dorotheens zuweilen ordentlich ärgern konnte, wie manche Sorge dadurch ihm auch abgenommen wurde. Hansjörg war noch begieriger, den Jos in seinen für einen Schneider so vorteilhaften Schleichhandel zu ziehen, seit er damit auch für seine Schwester zu sorgen meinte. Der Krämer konnte doch nicht verlangen, daß man einzig für ihn über die Berge gehen werde. Jos hatte den Gewinn viel nötiger, der z.B. von billigen Seidenstoffen zu machen war. Er war schwer zu bereden. Endlich aber, als auch andere Handwerker ihn drängten und ihm ihre Sparpfennige vorzustrecken versprachen gegen die Zusage, daß er ihnen, wenn sie etwas kauften, keinen Profit berechne, hatten sich die beiden geeinigt, und heute kam Jos, um den ersten Warenballen abzuholen. Nur Dorotheens Predigt brachte ihn um den Mut, ihr das offen zu sagen. Jetzt freilich hätte er ihr alles sagen, hätte nötigenfalls ihr in allem nachgeben mögen. Aber dazu blieb keine Zeit mehr, als Hansjörgs leiser Gesang das Mädchen aufschreckte. »Ach Jesus, wer kommt?« »Gewiß niemand als Hansjörg«, beruhigte Jos. »Aber was will der?« »Sei ohne Sorgen, der sagt dem Vater gewiß nichts.« Dorothee schien zuerst erschrocken über diese Erinnerung an den Vater und das ihm gegebene Wort. Gleich jedoch richtete sie sich stolz auf und rief: »Was geht ihn auch diese Stunde an? Gott hat sie mir gelassen, und ich fühle, wie ganz sie hineingehört in mein Leben, wie der Frühling ins Jahr. Aber weißt du denn auch schon, was ich habe versprechen müssen?« »Hansjörg hat es vom Vater selbst, aber er nimmt's nicht besonders ernsthaft. Der Vater wär' wohl zurückzubringen, wenn ich nur etwas mehr Vermögen hätte. Das, Dorothee, nur das ist der Grund, daß ich auch den Schleichhandel betreibe.« »Ach Jos, warum doch mußt du mir diese Stunde noch so verderben!« »Ich tu das gewiß nicht. Ich will nur machen, daß wir noch viele solche Stunden erleben können und dürfen.« »Mir wird nie mehr wohl sein, wenn ich an dich denke.« »Sei nur unbesorgt. Unser gefährlichster Feind ist der Krämer, aber Hansjörg dient auch ihm und mir nur so nebenbei. Wenn der später etwas von unserem Zwischenhandel merkt, wird er doch nicht mit mir auch sich selbst in Verlegenheit bringen wollen.« »Wir tragen am gleichen Unglück, wir sollten es gemeinsam und demütig tragen, bis Gott hilft. Es ist nicht mehr in Ordnung, wenn man sich nur auf den Eigennutz anderer und auf List und Frechheit verlassen muß. Ich hab' keinen gekannt, der dabei noch ein guter Mensch geblieben ist. Ich möchte dich lieber arm sehen als wie den Krämer, und ich weiß, was arm sein heißt und was ich dabei leiden werde. Du solltest Hansjörgs guter Engel werden, und nun verführt er dich! Komm, laß ihm seinen Plunder und geh mit mir!« bat das Mädchen und erfaßte seine Hand. »Das kann ich doch unmöglich; denk', er ist auch dein Bruder, und ich darf ihn nicht verlassen.« »Und ich kann dich nicht als Schwärzer denken«, sagte das Mädchen; sein Händedruck aber, mit dem es schied, schien dem Jos doch wieder zu verzeihen. Jos stand zitternd, zweifelnd, ratlos, bald vier Schritte vorwärts, bald zwei zurück gehend. »Sie ist gut«, rief er, »viel zu gut für diese Welt, und wenn man es da zu was bringen will, darf man ihr nicht folgen. Ich handle gegen ihren Willen, aber doch für sie, nur für sie.« Jetzt stand Hansjörg neben ihm. Etwa zehn Minuten später eilte Jos mit der Last, welche er Dorotheens Bruder abgenommen hatte, so schnell als möglich ins Dorf zurück. Hansjörg, der durch nichts andeutete, was er sah, und auch die heimeilende Schwester nicht zu bemerken schien, machte sich wieder über die Berge, um noch vor dem Grauen des Morgens auch den Krämer zu bedienen, von dem er in der vorletzten Nacht schon über die Grenze geschickt worden war. 23. Kapitel Dreiundzwanzigstes Kapitel Dorothee kommt abermals in ein Gerede »Ach, Jos, warum doch mußt du mir noch diese Stunde verderben?« jammerte Dorothee, als der Geliebte ihr mitteilte, auf was für eine Art er für sie beide wirken werde. Aber so eine Stunde läßt sich nicht so leicht wieder verderben, und besonders schon gar nicht dadurch, daß man hernach für den mutigen, opferwilligen Mitgenossen derselben zittern muß. Wäre die Liebe die große, mächtige Weltbeherrscherin, wenn sie sich nur aus wohlgeordneten Verhältnissen wie das Resultat oder die Probe einer Berechnung ergäbe und wenn sie so den Weg schon geebnet finden müßte? Dann segnete sie nie des Armen baufällige Hütte, dann wäre sie die Qual des größten Teils der sorgenbeladenen Menschheit, die sie nur noch tiefer unter ihre Lasten begrübe. Die wahre Liebe aber erhebt über die Kleinlichkeiten des Lebens. Sie überwindet die Selbstsucht und alle anderen Suchten, deren Jammergestalten die, welche sie ihres Segens unwert hält und strafen will, als ihr Bild verehren, zu spät erst den Abweg erkennend, auf welchen ihr Götzendienst sie geführt hat. Eine ganz unglückliche, ganz hoffnungslose Liebe gibt es eigentlich gar nicht; denn die Liebe findet Hoffnung und Glück immer und überall wieder in sich selbst. Der Liebende, der im Kampfe mit entgegenstrebenden Verhältnissen erläge, gliche nur erst dem gefangenen Weisen, welcher doch noch besser daran ist als sein roher Überwinder, der noch immer den Lichtstrahl der Wahrheit fürchtet, welchen er nicht einzusperren vermag. Die Neigung hat einen strengen Wertmesser bei sich, für den es fast jeden Tag etwas zu tun gibt; hat aber einmal die Liebe gesprochen und ihren Schatz in ein Herz ausgeleert, dann wird alles aufgewogen, was auch die ärgsten Plaggeister der Menschen in die andere Waagschale werfen mögen, und die Macht der Verhältnisse ist wenigstens innerlich überwunden. Die Liebe nährt sich nicht mehr bloß von dem Werte ihres Gegenstandes, sondern durch sich selbst glaubt sie, hofft sie und ist glücklich. Auch das ärmlich gekleidete Dorfkind, der einfachsten Erziehung entwachsen, kann so leicht und wohl noch leichter etwas von diesem Segen der Liebe empfinden als die fleißigste Romanleserin, wenn es darüber auch nicht so gut wie diese jeden Augenblick ein langes und breites zu machen weiß. Eine schöne Strecke des Lebensweges legt man gern in der Erinnerung wieder zurück, wenn man auch für einzelne Stellen leichter eine Farbe, ein Bild als eine sprach gerechte Bezeichnung findet. Der Gewinn für sich selbst kann gewiß in beiden Fällen der gleiche sein. Dorothee sann Tage, Wochen über das, was Jos und was sie mit ihm seit einem Jahr erlebt hatte. So entstand ihr ein Zug nach dem anderen, bis das Bild eines Mannes, den sie zitternd bewundern mußte, lebendig vor ihrer Seele stand. Vieles freilich war in seinem Wesen, was ihr Sorge machte, aber auch das webte nur wieder den Teuern tiefer in ihre Gedanken und Träume, selbst in ihre Gebete hinein. Er mußte so sein, wie er war, sonst wär' er nicht mehr er gewesen; und so wie er war, war er ihr auch recht, obwohl sie sich's niemals gestand. So, beständig nun auf ihn blickend, für ihn sorgend und betend, übersah sie stets die Kluft, welche sie wohl für immer von ihm trennte. Wenn sie aber einmal daran dachte, so sagte sie sich, daß diese Welt eben kein Himmel sei und jeder Mensch seinen Teil zu tragen habe. Hierüber waren ihr erst in der Gaststube der Kronenwirtin die Augen aufgegangen. Da erst erfuhr sie recht, was alles im Leben sich zwischen die Menschen und ihr mit Aufopferung aller Kraft verfolgtes Ziel stellen kann und welch verzweifelte Anstrengung zur Beseitigung solcher Hindernisse gemacht werden. Von solchem Kämpfen und Treiben hatte sie auf dem friedlichen, stillen Stighofe neben dem behaglichen Hans keine Ahnung bekommen. Seit sie vernahm, wie man's da und dort getrieben hatte, war es ihr leichter, den Vater zu entschuldigen und somit auch das ihm gegebene Versprechen etwas weniger wichtig zu nehmen. Je länger sie die Leute beobachtete, desto mehr kam sie dazu, alles nur der Gunst oder Ungunst der Verhältnisse zuzuschreiben. Menschliche Leidenschaften und Schwächen wurden selten so milde beurteilt wie von ihr, die bald fast in jedem Gesunkenen bloß noch einen Niedergedrückten sah, der endlich seiner Last erlegen war wie ihr Vater, und in jedem Waghals einen Helden, der auf gewöhnlichem Wege seine Pläne so wenig ausführen konnte als Jos und daher ohne Rücksicht auf das Urteil der Menschen alle Schranken überspringe. Jeden von diesen begleiteten auf seinen gefahrvollen Wegen ihre Glückwünsche, seit sie stets für den Jos und ihren Bruder zittern mußte. Derlei Gedanken und Sorgen waren für sie große Wohltaten. Womit sonst hätte sie sich beschäftigen, wie sich wieder ganz herausbringen sollen aus der engen, düsteren Wohnung ihrer armen Eigenen, wenn sie nicht hätte zur Brunnenstube fliehen können in Gedanken oder ins Durcheinander des Lebens, wie man es in der Gaststube beobachten und innerlich mitleben konnte. Wie ihr in ihrer jetzigen Stimmung Dezembersturm und Schneegestöber lieber war als ein stiller, warmer, nebliger Tag, so freuten sie auch recht lebhafte, mitunter fast gar zu laute Gäste weit mehr als diejenigen, welche sich still hinsetzten und mit einer Amtsmiene ihr Geldlein zu verzehren begannen. Unter allen, die sie mit der öffentlichen Meinung und mit dem Hergebrachten im Kriege sah, war nur einer ihr lange Zeit recht von Herzen zuwider, nämlich der Andreas, Angelikas Gatte, dem sie gar keine menschlich schöne, liebsame Seite abgewinnen zu können meinte. Zuerst hielt sie ihn für einen verzogenen reichen Bauern, der, immer am Gängelbande geführt, sich selbst nie habe weisen und leiten lernen, für einen Spielball jeder Laune der Menschen und des Zufalls. Auf diese Weise nun erklärte sie sich auch seine Verbindung mit der guten Angelika, die doch unmöglich aus dem Herzen der beiden herausgewachsen sein konnte. Ein Beweis für ihre Vermutung lag schon in dem, was sie damals auf dem Stighof sah und hörte, wie heimlich auch die Stigerin ihre Kämpfe mit Hansen gekämpft hatte. Bald aber kam sie zu der Überzeugung, daß eigentlich nur Angelika das Opfer elender Berechnungen geworden sei; dieser Andreas mit dem harten, abgewetterten Gesicht und der gewaltigen Stimme, neben der nichts anderes mehr zu hören war, schien sich nie von etwas anderem als von seiner Leidenschaftlichkeit beherrschen zu lassen. Sagte doch der Trotzkopf es der Wirtin, die ihn einmal ernstlich an seine Gatten- und Vaterpflicht erinnern wollte, ganz offen, wie eine schon ausgemachte Wahrheit, daß es für ihn da gar keine Pflichten gäbe. Die, welche nun einmal zu ihm gehörten, hätten ja noch immer mehr als genug daheim, um recht anständig leben zu können. Er gönne dem Weib die Freude, ihn die meiste Zeit gar nicht zu sehen; dafür nun müsse sie ihm, wohl oder übel, eine Kurzweil im Wirtshaus erlauben. Seine Schulden würden gewiß in der Ordnung bezahlt, und sonst brauche doch ein Mann in seiner Lage sich nicht um alle die altmodischen Hausmannsregeln zu kümmern und könne seines Besitzes auf seine Weise sich freuen, wenn er nur frei von der Dummheit sei, sich dabei noch viel um so hohle Worte wie Ehr' und guten Namen zu kümmern. So sagte der Andreas und machte dabei ein paar Augen, daß wohl mancher Mann am Platze der Wirtin sich vor seiner schon oft erprobten Faust gefürchtet und von Glück gesagt hätte, wenn gleich alles wieder aus gewesen wäre. Die Wirtin aber war durchaus nicht von der Art. Sie kümmerte sich auch nicht viel um die Kundschaft eines Mannes, der sich mit solchen Grundsätzen großtat. Andreas mußte nun eine lange, sehr gesalzene Predigt hören, und so schnell kam Schlag auf Schlag und traf so richtig, daß ihm nicht einmal mehr einfiel, er könnte ja gehen und dadurch sich aus der wachsenden Verlegenheit retten, ja, da die Wirtin ihm lebendig ausmalte, wie gut er es daheim hätte, wenn ein ordentliches Leben wieder den Segen Gottes auf sein Haus zöge, wie er aber statt dessen sich Weib und Kind entfremde, daß sie seiner sich schämen müßten, da wurde der Mann ordentlich weich und ließ die Wirtin nicht weiter ausführen, warum auch die ärmste Bettlerin mit Angelika noch lange nicht tauschen würde. »Sie liebt mich nicht mehr und glaubt mir nicht, das treibt mich aus dem Hause zu anderer Kurzweil. Es wird nie mehr besser, und drum kann ich auch nichts verderben, wenn ich mich auch räche, daß sie durch ihren finsteren Ernst mein Lebensglück zerstörte«, rief Andreas trotzig, aber doch etwas weich. Der Wirtin gefiel diese Antwort durchaus nicht, und sie verließ gleich die Stube. Dorothee dagegen, die neben der Stubentür am runden Haustische mit der großen Schiefertafel stand und des Pfarrers messingenen Bierkrugdeckel wieder glänzend fegte, glaubte aus dieser Rede des Andreas etwas wie eine Klage herausgehört zu haben. Nun erschien ihr selbst dieser Mann in viel günstigerem Lichte, als ihn sonst die öffentliche Meinung sehen ließ. Angelika war wirklich nicht mehr wie früher. Das Finstere, Abstoßende ihres Wesens hatte Dorothee schon an jenem Abende vor der ungültigen Beichte auf ihrem Spaziergang empfunden. Und beim Andreas kam dazu noch, daß sie mit besonderer Vorliebe von Stighansen zu erzählen schien. Jos hatte so ängstlich gefragt, ob sie, Dorothee, nicht mehr das Heimweh auf den Stighof habe; wie weh nun mußten dem Andreas von seinem Weibe dergleichen Andeutungen tun und ihm das Leben unter seinem eigenen Dache verbittern. Man sieht, wie sich's das Mädchen schon angelebt hatte, sich in die Verhältnisse der Gäste mit Benutzung aller früher gemachten Beobachtungen hineinzuleben und mit ihnen und für sie zu sinnen und zu sorgen. Schon zu oft hatte sie die wunderbare Wirkung eines lobenden, tadelnden oder beruhigenden Wortes wahrgenommen, um nicht zuweilen auch so ein schöpferisches Werde sprechen zu wollen. Besonders nötig und auch nicht ganz vergebens schien ihr das jetzt beim Andreas. Freundlich, beinahe bittend sagte sie, daß der Mensch nie verloren sei, bis er sich selbst aufgebe, daß man aber bei anderen Einfluß und Achtung erst wieder gewinne, wenn man sich selbst und seiner Empfindlichkeit befehlen und sich wieder achten gelernt habe. Andreas antwortete so vernünftig, daß Dorothee sich in ein langes Gespräch mit ihm einließ und am Schlüsse desselben schon recht viel ausgerichtet zu haben meinte. Von jetzt an wendete sich Andreas immer nur an sie, sooft er kam, was immer häufiger geschah, und die Wirtin durfte ihm auch nicht einen Schoppen mehr bringen, obwohl er von Dorotheen ebenfalls zuweilen hören mußte, daß es nun genug sei, was er sich immer gleich beistimmend gefallen ließ. Dorotheen freute das um so mehr, da es ihr ja nur ganz natürlich, nicht etwa bloß geheuchelt schien. Seit langem schon machte wohl niemand ihm ein freundliches Gesicht, als wer etwa dabei seinen Vorteil suchte. Mußte ihm nicht wohl werden, als er sich wieder freundlich behandelt sah von ordentlichen Leuten, so daß er auch in den Augen anderer wieder ein wenig zu wachsen begann! Dorothee hatte die größte Freude, ihn fast jeden Abend noch stiller zu sehen, so daß endlich auch die Wirtin sein Benehmen zu loben begann. Wenn sie nur immer einen freien Augenblick gewinnen konnte, setzte sie sich zu ihm und begann ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, wie sehr dabei die anderen Gäste dann auch die Köpfe zusammenstecken mochten. Die Wirtin war nämlich bei den letzten unter allen, welchen das etwas verdächtig schien. Man erinnerte sich wieder daran, daß das Mädchen sich auch mit Stighansen so weit einließ, daß es aus dem Dienste treten mußte, damit es im Beichtstuhl wieder gehörig losgesprochen werde. Zwar wollte niemand etwas wissen und niemand etwas gesagt haben, aber das galt für eine ausgemachte Sache, daß das Mädchen reichen Leuten gegenüber ungemein schwach und blind sein müsse, sonst würde es wenigstens mit diesem landesbekannten Taugenichts nach den früher gemachten Erfahrungen in kein Gerede mehr gekommen sein. Die Wirtin, die Dorotheen recht von Herzen liebte, würde dem Andreas gerne das Haus für immer verboten haben; aber sie fürchtete, dadurch dem nun einmal entstandenen Gerede noch einen Scheingrund zu geben, wie Hans, da er das arme Mädchen mitten in der Zeit fortschickte. Wollte sie Dorotheen warnen, so sagte diese, sie habe solches Gelärm schon gewohnen müssen und wolle nun durch den vielgeschmähten, unglücklichen Andreas beweisen, daß noch nicht jeder schlecht sei, den man verdamme, sondern mancher bloß durch solches Urteil den Glauben an sich selbst verliere und wirklich schlecht werde. Wurde die Wirtin, die es recht gut meinte, über solche Antwort ärgerlich, so konnte sie Dorotheen wohl zum Weinen, aber nie zum Nachgeben bringen. So saß die gute Frau eines Tages in der Stube bei ihrem Strickstrumpf, und während Masche sich an Masche reihte, sann sie darüber nach, wie wohl das unerfahrene Mädchen am besten von seiner Bekehrungssucht zu heilen wäre. Da polterte der Stighans herein und verlangte, sogleich ein vertrautes Wort mit ihr zu reden. Im Herrenstüble angelangt, zupfte der Bursche verlegen am Halstuch, während die Wirtin die Türe schloß, und sagte dann, rasch wie immer, wenn er kaum den rechten Anfang finden konnte: »Was ist denn anders worden in der Kronenwirtschaft, daß da ganz ein ordentliches Mädchen so ins Geschrei kommen kann?« »Gerade so«, versetzte die Wirtin, »hätte man vor kaum einem halben Jahre auch die auf dem Stighofe fragen können.« »Nein«, widersprach Hans, »diesmal ist's viel ärger, und wer ihr zusieht, muß fast wider Willen glauben, was der Wein aus dem Großsprecher herausredet.« »Aus welchem Großsprecher?« »Natürlich dem Andreas.« »Was weiß denn der?« »Kurz und gut, daß er bei Dorotheen alles gelte, daß er sie fast um einen Finger wickeln könnte. Sicher sagt er zehnmal mehr, als wahr ist, aber er sollte gar nichts zu sagen den Mut haben; und wenn mancher herkommt und beide so vertraulich tun sieht, glaubt er schon alles bestätigt. Ich kenne das Mädchen freilich besser, möchte denn aber doch erfahren, was es mit dem Andreas immer zu reden gibt. Du mußt das wissen, sonst würdest du es gewiß nicht leiden. Von der Art bist du nicht, daß du solche Goldvögel um jeden Preis fangen und rupfen lassen willst.« »Ich meine doch auch«, sagte die Frau nicht ohne Selbstgefühl. »Wie kann aber Dorothee so blind werden und nicht merken, wer der Mensch ist und wohin er sie bringen möchte?« »Ja«, sagte die Wirtin scharf, »sie muß sich beim Weinen über andere trübe Erfahrungen die Augen gewaltig verdorben haben. Andere, seit langem kurzsichtige Leute haben die gefährlichen Stellen im Gedächtnis, aber sie scheint eben an diesen Zustand noch nicht recht gewöhnt zu sein.« »Ich verstehe das nicht.« »Nun – dann werd' ich dir mit einem Holzschlegel winken müssen. Wenn man von denen, die man schätzt und liebt, so wie sie dich geschätzt hat, nur feige Treulosigkeit erlebte, was um Gottes willen soll man dann von anderen denken? Anfangs drückt so eine Erfahrung beinahe das Herz ab, später muß man an allem verzweifeln oder alles entschuldigen. Dorothee nun ist zum Verzweifeln zu gut. Jetzt glaubt sie jedes Fehlers Ursprung zu wissen, der Mensch hat immer keine Schuld, und alles ist nur durch die Verhältnisse so geworden. Sie muß das wohl, um den Leuten ein freundliches Gesicht machen zu können, so auslegen. An dem nun bist gewiß du so viel als einer schuld. Wie weh muß es ihr getan haben, als ein dummes Gerede dich schwach machte. Nun will sie größer sein als du, und den Glauben an das Urteil der Menge hat sie verloren, weil sie weiß, wie unschuldig sie damals verschrien und von dir verlassen wurde.« Hans stand eine Weile wie angedonnert, dann rief er: »Nur nicht aufbegehrt! Sie hätte nicht gar so schnell gehen müssen. Mich hat das mehr geärgert als alles andere. Wärest nur du nicht auch noch dazwischen gekommen, so würde nun alles in schönster Ordnung sein.« »Damals«, fiel die Wirtin, die aus diesen Reden durchaus nicht klug werden konnte, ungeduldig ein, »damals hast du dich nicht so viel um des Mädchens Ehre bekümmert und um seinen guten Ruf wie heute.« »Damals«, erwiderte Hans, »hab' ich der Mutter gefolgt und heute meinem eigenen Herzen.« »Solches Geschwätz«, fuhr die Wirtin auf, »hätt' ich von dir nicht mehr zu hören erwartet. Jedes Kind weiß, wie ganz dich der Krämer in seiner Schublade hat, seit das auch der Mutter in ihren Kram paßt. Und nun kommt der Spitzbub' und redet mir von seinem Herzen, als ob ich alles gerade so leicht entschuldigen tat wie Dorothee.« Hans fühlte sich jetzt viel zu sehr im Rechte, um so schnell wieder seine Fassung zu verlieren. »Die Mutter«, sagte er, »hätte jetzt auch gegen Angelika nichts mehr. Aber das ist schon zu spät. Sie ist gebunden, und ich kann sie nicht mehr erlösen, aber hoffentlich doch noch ein wenig etwas für sie tun.« »Für wen?« »Muß ich auch noch mit dem Holzschlegel winken? Für Angelika –« »Dann winke und deute nur zu, denn ich verstehe dich noch immer nicht.« »Dann bist du doch auch nicht gar so klug und hast alles gar so klar aus dem Kaffeesatz, wie man meint. Ich bin der Hans, aber als Dorothee mit dem Andreas ins Gerede kommen ist, da ist mir doch gleich etwas eingefallen, und dir kommt es jetzt noch nicht einmal in den Sinn. Ich hab' mir eingebildet, wie weh dieses Gerede der Angelika tun müsse. Diese Vorstellung hat mir keine Ruh' und an nichts mehr eine rechte Freude gelassen.« »An Angelika«, fragte die Wirtin erstaunt, »an die hättest du zuerst gedacht?« »Allerdings, und hab' ihr gewiß alles treulich nachempfunden, was die Arme litt. Ich kann das schon auch. Zwar bei so Mädchen, die jeder Wind herumdreht, kann kein Mensch erraten, aus welchem Dorfe sie eben wieder läuten zu hören meinen, und ich mag mich auch nicht besonders viel darum kümmern. Ein Weib aber hält vor allem, selbst vor ihrem Glück, an der Ehre des Hauses und hängt mit Leib und Seele fest an denen, mit welchen sie leben und Schand' oder Ehre teilen muß.« »Du kennst die Weiber ziemlich gut«, spottete die Wirtin, obwohl oder gerade weil sie dem Burschen innerlich recht lassen mußte. Hans aber sagte ganz ruhig: »Ich hätte schon lange geheiratet, wenn man gleich ein Weib nehmen könnte. So ein unerfahrenes Ding jedoch ist nur zum Kurzweilen, zum Singen und Springen recht.« Der Wirtin kam diese Ansicht so vernünftig vor, daß sie dieselbe Hansen schwerlich einmal zugetraut hätte. Noch etwas ungläubig fragte sie: »Ist dir das schon immer so vorgekommen?« »Nein, der Verstand kommt einem erst mit den Jahren. Damals, als Angelika noch ledig und ein junges Mädchen gewesen ist, ja, da hätt' ich sie nicht anders wünschen können – in keinem Stücke. Später ist's mir so worden, und an den Mädchen gefiel mir das am besten, was dann zum Segen des Hauses mit in den Ehstand genommen werden kann. Es ist nicht die oder die gute Eigenschaft, und ich wüßte nicht, wie ich alles zusammen, was ich meine, ganz kurzweg nennen sollte. Auch Empfindlichkeit für die Ehre der Familie gehört dazu, drum hab' ich mir gleich vorgestellt, wie weh der Angelika so ein Gerede tun müsse. Wohl hat man schon früher hören können, daß er, wie ein Lediger, mit allen Kellnerinnen bis Bregenz hinaus bekannt sei; aber das war so allgemein und übertrieben, daß es viel weniger in die Augen stach, als was man jetzt von Dorotheen hört. Du nun kannst da viel ausrichten mit einem ernsten Wort, und ich halte das auch für deine Pflicht.« »Du hast recht«, sagte die Wirtin, und mehr konnte gewiß einer nicht verlangen, welcher kam, sie an ihre Pflicht zu erinnern. Hans ging auch recht zufrieden heim, obwohl er nicht wußte, wie leicht es ihm diesmal hätte fehlen können bei der Kronenwirtin, die sich noch von ganz anderen sehr ungern einreden und gar von der Ehre ihres Hauses vorpredigen ließ. Nun wurde Dorothee sogleich ins Herrenstüble gerufen, die Türe wieder geschlossen und ihr dann das ganze Gespräch mit Hansen mit nur wenigen Auslassungen mitgeteilt. Es war das anfangs nicht der Plan der Wirtin, doch als Dorothee sogar jetzt noch recht haben wollte, schien es ihr das klügste, Hansen selbst, den doch nicht jedes leere Geschwätz in der Welt herumtrieb, gegen sie auftreten zu lassen. Als nun das kam, was Andreas gesagt haben sollte, wechselte das Mädchen die Farbe. »Nun helfe mir Gott!« rief es mit tonloser Stimme, »denn ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Drückt denn die Armut so tief nieder, daß man in allem, was unsereins tut, nur etwas Schlechtes sehen kann?« »Nun danke Gott für die Einsicht und glaube nicht, daß es dein Beruf sei, überall einzugreifen! Dazu muß man fester stehen als du. Denk' an den faulen Apfel, der den frischen ansteckt, statt neben ihm frisch zu werden!« Schweigend verließ Dorothee das Herrenstüble und ging still wieder an ihre Arbeit. Es war Sonnabend und gab daher noch viel zu tun für den morgigen Tag, für den man, wie jeden Sonntag, auf sehr viele Gäste rechnen konnte. Das Mädchen aber beeilte sich, um fertig zu werden, bevor der Andreas kam. Vielleicht ging ihm auch alles um so schneller aus der Hand, weil es darauf hielt, seinen Unmut zu verwerchen und keinen Augenblick zu sich selber zu kommen. Wohl noch selten oder nie war die fleißige Magd so früh in ihr Dachkämmerlein gekommen als heute. Zum Schlafen war sie freilich nicht aufgelegt, aber sie hatte schon genug daran, doch nun allein und unbeobachtet sein zu können. Aufatmend öffnete sie das Fenster und schaute hinaus über die eingeschneiten Häuser, aus denen man da und dort noch ein Lichtlein schimmern und wie ein immer breiter werdender bläulich-gelber Streif über den Schnee vor dem Fenster hinausleuchten sah; und hinauf zu den rötlich schimmernden Bergspitzen, deren eigentümliches Glühen wohl eine Sturmwoche verkünden mochte. Leise schlich die Ach hart neben dem Hause dahin, und Dorothee wollte sich zwingen, in Gedanken ihren Lauf bis zum Bodensee zu verfolgen, in der Hoffnung, daß auf dem langen Wege doch irgendein Zeitvertreib zu finden sein werde. Es gelang ihr nicht, die Gedanken anzubinden. Schon vor der Haustüre begegnete der aufgeregten Einbildung Andreas, wie er leibte und lebte, und sie begriff nicht mehr, wie sie sich um ihn so viel kümmern konnte, ihm es schon für ein Großes hielt, daß er sich einige Male wie andere vernünftige Menschen zu benehmen suchte. Wenn er anders geworden wäre, hätt' es ihn gewiß früher heimgetrieben zu Weib und Kind, daß man ihn daran nicht mehr hätte mahnen müssen. Das alles mußte Dorothee sich jetzt gestehen, und es war ihr dabei stets, als ob jemand mit durchdringenden Blicken sie verfolge. Schon wollte sie das Fensterchen schließen, da glaubte sie das Geräusch von Tritten zu hören und sah gleich darauf, wie ein schwerbeladener Schlitten von zwei Männern vor dem Hause vorbeigezogen wurde. Das Mädchen horchte. »Wenn doch nur der Sturm noch wartet, bis wir auch dem Krämer seine Sachen unters Dach gebracht haben«, flüsterte der eine. Dorothee zitterte. Sie hatte die Stimme des Geliebten erkannt. »Sei du zufrieden, wenn du deinen Plunder hast. Der Krämer kann mir einige Träger mitgeben oder meinetwegen alles bei der Brunnenstube verschneien lassen«, versetzte Hansjörg mit heiserer Stimme. Dorotheen war's, als ob der schneidende Windstoß ihr den Geruch fauler Äpfel entgegentrüge. Erschrocken fuhr sie zurück und schlug das Fenster vielleicht noch um so heftiger zu, damit die beiden daran erinnert wurden, wie leicht man sie belauschen könnte. Der Schleichhandel kam ihr noch nie so verdächtig vor wie jetzt, aber mit den beiden, die sie eben gehört hatte, war sie doch nicht so bald fertig wie mit dem Andreas. Es wär' ein Büchlein davon zu schreiben, wie sie von den schrecklichsten Gedanken, dann wieder von bösen Träumen gequält wurde, wie sie sann und betete, bis endlich – endlich das Morgenrot über die nahe Fluh heraufdämmerte. Zum lieben Glück hatte man diesen Tag das Haus voll Gäste, die das Mädchen kaum einen Augenblick zu sich selbst kommen ließen. Es waren viele da, die über Mittag trotz ihrer Sparsamkeit lieber im Wirtshaus blieben als in ihre entlegeneren Wohnungen eilten, da sie es für eine Gewissenssache hielten, besonders an einem so stürmischen Tag wie dem heutigen, wo Gott sich seinen Zorn einmal recht anmerken ließ, auch den nachmittägigen Gottesdienst nicht zu versäumen. Auch Andreas war über Mittag nicht heimgekommen und saß auf seinem alten Platze. Als Dorothee nun einmal einen freien Augenblick hatte, wollte er sie, ohne die vielen Anwesenden zu berücksichtigen, sogleich neben sich auf einen Stuhl ziehen. Das Mädchen jedoch sprang, einen Schrei ausstoßend, mehrere Schritte zurück und schickte dann, als es von seinem Schrecken sich wieder ein wenig erholt hatte, die Wirtin an den Tisch, wo nun Andreas den Ärger an den in einem Weinglas aufgestellten Zigarren auslassen zu wollen schien. »Ist das ein elendes Kräutlein, das nicht brennt und nicht geht, elend wie die ganze Wirtschaft«, rief er immer wieder, versuchte ein Stück nach dem andern und warf es dann zum Fenster hinaus. Der Wirtin ward das endlich zuviel, und als nun Andreas gar noch die Äußerung fallen ließ, er denke nicht daran, die weggeworfenen Stücke zu bezahlen, sagte sie ihm vor allen Leuten die Meinung, daß er es zur Erforschung des Gewissens nicht besser und genauer hätte wünschen können. Er sagte auch spottend, hier könne man sich nun auf die Beichte gehörig vorbereiten, aber niemand lachte über diese Bemerkung, und ihn selbst erschreckte die plötzlich entstandene Stille so, daß er, anfangs verlegen, sich nun erst recht in seinen Zorn hineinzureden begann. Immer wieder dachte er ans Beichten. Noch nie kam er sich so schlecht vor als jetzt, da auch Dorothee ihn verließ, deren Freundlichkeit ihm doch so wohlgetan hatte. »Aber weg mit solchen Gedanken!« sagte er sich, ein volles Glas Wein hinunterstürzend, und schrie: »Kein Gericht und kein Amt kann mich zwingen, geschmuggelte schlechte Ware zu zahlen, die hier um den Preis der guten verkauft wird. Zeigt mich nur an, dann werdet ihr Wunder sehen. Ich kenne die Ware schon auch.« »Sie ist von deinem Schwiegervater, und noch kein Mensch hat sie getadelt«, versetzte die Wirtin. »Natürlich«, spottete der Andreas, »weil die dummen Bauern was Rechtes gar nicht kennen. Ich aber will schon Zeugen bringen, welche sagen, daß ich's kenne. Wer mit mir Händel anfängt, muß sie haben.« »Mache, was du kannst«, sagte die Wirtin. Dorothee zitterte für den Geliebten und ihren Bruder. Alles Frühere für den Augenblick vergessend, näherte sie sich ihm, und es gelang ihr leicht, den schon etwas Angetrunkenen zu besänftigen. Er zog sie neben sich und sagte: »Du Trotzkopf hast nicht einmal mehr mit mir dich unterhalten wollen!« »Ich will noch nicht«, rief das Mädchen und machte eine vergebliche Anstrengung, sich zu befreien. Die Wirtin eilte der noch Ringenden zu Hilfe, doch sie kam schon zu spät. Dutzende von Händen hatten den Andreas beim Kragen, bei den Haaren, den Händen, überall erfaßt, und eine Minute später lag er neben der steinernen Stiege vor der Türe bei den zerstreuten Zigarren im Schnee. »Das ist euch nicht geschenkt!« hörte man ihn keuchen, indem er sich aufrichtete. »So geht man nicht heim; ihr sollt aber merken, wohin ich gegangen bin, und bis dahin will ich nicht mehr in dieser Gemeinde übernachten; fort, fort!« Und fluchend eilte er weg, wirklich nicht seiner Heimat, sondern dem Schnepfauer Walde zu. 24. Kapitel Vierundzwanzigstes Kapitel Wie sich der Andreas rächt und was daraus entsteht Als Hans am Samstag aus der Krone heimging, wo er die Wirtin an ihre Pflicht als Hausmutter erinnert hatte, wurde er vom Krämer, der ihn nicht gern von Dorotheen kommen sah, zu einer Unterredung in die Stube gerufen. Ein Wort gab nun das andere, und man trennte sich nicht mehr, bis Hansens Heirat mit der Zusel eine ausgemachte Sache war. Hans wünschte die Hochzeit noch zu verschieben, der Krämer jedoch war um so weniger dazu geneigt, weil er bei der Unterredung die unentschlossene Rat- und Tatlosigkeit des Burschen aufs neue kennen lernte. Schnell mußte da wohl alles gehen, wenn es nicht wieder vergehen sollte. Daß er Dorotheen besuchte, nachdem diese von Zusels Freundinnen abermals ins Geschrei gebracht wurde, blieb jedenfalls verdächtig. Der Krämer tat nun alles, um die Sache so schnell als möglich ins reine zu bringen. Er versprach dem stolzen Töchtermann sogar, nun als Mitglied einer angesehenen Verwandtschaft seine allerdings zuweilen entehrenden Händelchen, die böse Zungen Wucher zu nennen beliebten, für immer aufzugeben, sobald sein Laden geräumt sei. Hansen wurde schon um vieles leichter, als ihm endlich das Ja glücklich abgeschwätzt war. Nun hatte das Predigen der Mutter ein End', und er war doch im klaren darüber, was er zu tun hatte. Man täte nicht recht, es nur dem vom Krämer aufgestellten Weine zuzuschreiben, daß ihm so wohl wurde neben dem schönen, heute seltsam stillen Mädchen und er spät abends in der besten Stimmung das Haus verließ. Den Krämer hatte es etwas nachdenklich gemacht, daß die Gläser des Paares beim Anstoßen keinen Klang von sich geben wollten, obwohl er sah, wie ungeschickt der Bursche sein Glas in die Hand nahm. Schließlich aber lachte er über sich selbst, die gute Stimmung stellte sich wieder ein, und er begann an der Erfüllung des gegebenen Versprechens zu arbeiten. Von jetzt an wollte er ganz ruhig und behaglich leben. Sogleich schrieb er an einige Geschäftsfreunde, um die in letzter Zeit gemachten Bestellungen zu widerrufen, und erfreute sich dabei noch an dem Weine, welchen die Verlobten auf dem Tische hatten stehen lassen. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl, kreuzte die Arme und malte sich seine Zukunft mit den lieblichsten Farben, bis Hansjörg kam und um einige Träger zur schnellen Beförderung der Waren bat, die er glücklich bis zur Brunnenstube beim Liggstein gebracht habe. Der Krämer gab ihm drei Taler und sagte: »Da nimm und suche dir deine Leute selber aus, aber zu erst komm und trink.« Erstaunt sah der Schwärzer die Gläser auf dem Tisch. Dann tat er einen herzhaften Schluck. Der Krämer fuhr fort: »Bring' alles zum Andreas in den Stadel. Ich mag nicht hinein, damit ich weniger verraten werde. Jetzt schon gar nicht mehr, da nun doch alles bald aus ist. Der Vater der jungen Stighoferin treibt keine solchen Händel mehr, und du kannst mir morgen deine Rechnung bringen.« Dem Hansjörg war es im Kopf, als ob ihm jemand unversehens eine recht gottserbärmliche Ohrfeige gegeben hätte. Alles drehte sich surrend um ihn herum, und ohne auch nur noch gute Nacht gesagt zu haben, verließ er die Stube. Mit welcher Lust er nun an die Ausführung des Auftrages ging, den er mit den drei Talern erhielt, kann sich wohl denken, wer noch so wenig als er vergaß, welche Hoffnungen ihm der Krämer einst im Wald ob der Halde gemacht und seither immer mehr oder minder genährt hatte. Trotzdem aber merkten die gedungenen Gehilfen, unter denen auch der Jos wieder war, nichts Besonderes an ihm als seine Ermüdung, die sie natürlich fanden, sobald sie die Lasten sahen, die er den Tag über zur Brunnenstube geschafft hatte. Am Sonntag, während in der Krone der Andreas hinausgeworfen wurde, rechneten Hansjörg und der Krämer, der heute nicht karg war, im Frieden miteinander ab. Kein böses Wort wurde gewechselt. Hansjörg war dem Krämer sogar zu still, zu ergeben, und er hätte ein gesundes Aufbegehren weit lieber gehabt als diese Ruhe, die weiß Gott was verbergen mochte. Es war eine förmliche Herausforderung, als der Krämer schließlich sagte: »Von der Heirat kannst du erzählen, wem du willst. Am nächsten Sonntag wird sie freilich verkündet, aber es ist mir lieb, wenn die Leute schon jetzt wissen, woran sie sind.« »Zu Befehl«, sagte der Soldat trocken und ging. Ihm tat die Geschichte zu weh, als daß er hätte aufbegehren können. Nur Klagen hatte er, Klagen über seine Einfalt, die ihn ins Netz des bekannten Spitzbuben geraten ließ, und über die böse Welt. Aber um alles hätte er seine Gefühle vor dem herzlosen Manne nicht äußern mögen. Nun war der Krämer am Ziel. Er sah seine kühnsten Hoffnungen sich der Erfüllung nahen, und es waren doch elende Kleinigkeiten genug, ihm die Freude zu verderben. Zuerst lag das Klirren der Weingläser ihm in den Ohren, und nun hatte er stets Hansjörgs ernstes Gesicht mit dem unheilverkündenden Schatten vor sich. Schonungslos hatte der Mann jeden getreten oder geworfen, der ihm auf dem Wege zu seinen Zielen hindernd entgegentrat, und nun sollte er nicht einmal mit bloßen Einbildungen fertig werden. Leichter freilich wär's gegangen, wenn er Zuseln recht fröhlich gesehen hätte. Die aber schlich wie ein Schatten herum und fragte wohl fast ein dutzendmal, was doch auch Hansjörg zu der schnellen Wendung der Dinge gesagt habe. Erst am Montag, als der Krämer das Haus verließ und an seine neue Stellung in der Gemeinde, ja sogar schon an Ämter und Ehrenstellen dachte, die dem wohlhabenden Mitglied einer solchen Verwandtschaft in seinem Ruhestand nicht mehr fehlen konnten, vermochte er sich des Errungenen wieder ganz von Herzen zu freuen. Er machte, damit Hans nicht in seinem Behagen gestört werde und nur mit seiner Mutter über sein Vorhaben rede, die zur Vorbereitung der Hochzeit nötigen Schritte selbst und weidete sich an dem Erstaunen der Leute, daß die Sache noch so schnell ins reine gekommen sei. Ein Vergnügen aber war ihm auch dafür zu gönnen, daß er an einem so stürmischen Tage den Pfarrer und den Vorsteher, Musikanten und Kleidermacherinnen aufsuchen mußte. Sicher würden alle Häuser abgedeckt worden sein, wenn nicht die allerdings nur noch unbedeutende Schneelast die Schindeln festgehalten hätte. Dabei stoben die großen Flocken herum, daß man halbe Viertelstunden lang nicht von einem Hause zum anderen sehen konnte. Wer einen Gang zu machen hatte, kam geschlossenen Auges auf dem verwehten Wege daher, als ob er einen schwerbeladenen Schlitten nachziehen müßte. Doch wenn ein vorteilhaftes Geschäft zu machen war, pflegte der Krämer sich weder von Schloßen noch Schneeflocken abschrecken zu lassen. Und galt es jemals ein vorteilhafteres als heute? Am Sonntag mußte Zusel sich als Braut gehörig stellen, und nun sollten Schuster, Schneider und Näherin den Arbeitszuwachs doch rechtzeitig erfahren. Es ging schon stark gegen Abend, als er, von seinen vielen Ständen und Gängen zurückkommend, vor dem Hause des Rößlewirtes anlangte, dem er noch den gewiß willkommenen Auftrag hinterlassen wollte, daß er sich auf einen gehörigen Hochzeitsschmaus vorzubereiten habe. Des alten Mannes übrigens noch ziemlich gute Augen waren von der Schneewolke, die ihn im Freien überall umgab und jeden dunkleren Ruhepunkt verhüllte, so angegriffen und geblendet, daß er einen Grenzjäger, der ihm unter der Haustüre entgegenkam, beinahe noch umgestoßen hätte. Und noch war der Schreck über den unvermuteten Anblick des grünen Kragens ihm nicht aus den müden Gliedern, als ein kräftiger Arm ihn in einen Winkel schob und Hansjörgs aus Tausenden zu erkennende Stimme ihm kühl und fast verächtlich einen guten Abend wünschte. »Jetzt ist's gefehlt!« klagte der fast zu Tode erschrockene Krämer und taumelte in die Stube. Hier aber ward er nicht besonders freundlich empfangen. Mehrere Tausende der von ihm gekauften Zigarren hatte der Grenzjäger hier gefunden und für streng verbotene Ware erklärt. Nach dem Berichte des Wirtes war es nur dem Treiben und Fortdrängen Hansjörgs, der als des Grenzjägers Schlafkamerad noch viel bei ihm galt, und seinen listigen Antworten auf alle an den Wirt gerichteten Fragen zuzuschreiben, daß der Krämer nicht verraten wurde. »Er ist aber doch der Verräter. Niemand kann das wie er und hat so viel Grund, wenn er ein Auge hergeben will, daß ich beide verliere«, jammerte der Krämer. »Die Kronenwirtin«, erzählte nun eine Magd, »hat viel eher deinen Töchtermann, den Andreas, im Verdacht. Er soll gestern bei ihr im Zorne fort sein und mit etwas Derartigem gedroht haben.« Der Krämer, nur Hansjörgen fürchtend, glaubte das nicht, aber mit Schrecken dachte er an die im Stadel versteckten Waren. Sollten die ihn jetzt, wo er aufhören wollte, noch in Unglück und Schande bringen? Mit der Kronenwirtin mochte der Trunkenbold Händel haben, doch ihn, den Schwiegervater, durfte er wohl schon aus Eigennutz nicht in eine so hohe Geldstrafe bringen. In der Krone fand die erste Haussuchung statt. Dorothee mochte dem Bruder das geschwind berichtet haben, und nun ließ das übrige sich denken. Andreas machte die erste Dummheit nur, weil er nichts von der Ware in seinem Stadel wußte. Aber Hansjörg, der verkaufte, ins Joch gespannte, angelogene, ausgebeutete und weggeworfene Hansjörg, mußte heute die Gelegenheit, sich zu rächen, mit Freude benützen. Dem sonst so weitsehenden Mann hätte einfallen sollen, daß der beeidete Soldat fürchten mußte, am tiefsten in die ihm gegrabene Grube zu fallen. Er meinte, der Kampf zwischen Verstand und Leidenschaft sei schwer zu berechnen, und da hatte er ganz recht. Selbst ihm gelang es nicht, sonst würde er viel ruhiger bei seinem Schoppen gesessen sein. Hansjörg, der auch den Vorrat seines Freundes, den ganzen Reichtum des Jos und die Sparpfennige seiner armen Freunde neben der Ware des Krämers verborgen wußte, war fast zu Tode erschrocken, als er vom Grenzjäger, den er zufällig antraf, erfuhr, warum er bei dem Unwetter mit dem betrunkenen Andreas ins Dorf gekommen sei. Wohl redete der alte Bekannte so freundlich und offen, daß Hansjörgen alle Angst wieder vergangen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, der Krämer könnte von einem der Wirte verraten werden, um sich straffrei zu machen. Schon sich selbst und dem Jos zulieb' mußte der Spitzbube diesmal geschützt werden. Zum lieben Glücke kannte er den Grenzjäger als einen grundgemütlichen Kerl, der gewiß kein Wässerlein trübte, wenn's nicht von seiner traurigen Pflicht gefordert war. Da schien es das klügste, gleich mit ihm in alle Wirtshäuser zu gehen, die durchsucht werden mußten, und mit Scherz und Ernst so viel als möglich alles abzuschneiden, was den pflichttreuen Freund etwa zu weiteren Fragen und Untersuchungen zwingen mußte. Wohl war das ein sehr gewagtes Spiel, aber der Schwärzer fand kein anderes Mittel, sich und diejenigen, an die sein Schicksal nun einmal gekettet war, zu retten. Der Krämer aber legte den Eifer ganz anders aus, mit welchem Hansjörg sich dem Grenzjäger nach dem Berichte des Rößlewirtes dienstbar zu zeigen suchte. Wenn er sein eigener Angeber wurde, so suchte er sich doch jedenfalls noch einen vielleicht mächtigen Fürsprecher zu gewinnen. Das erklärte alles, oder besser, der Krämer glaubte, daß er an Hansjörgs Platze so handeln würde. An seinem Platz! Es war das erstemal, daß der Krämer sich in die Lage eines Menschen dachte, der ein Opfer seiner Geldgier wurde. Jetzt aber tat er das, gedachte schaudernd der großen Rechnung, welche gestern nicht ausgeglichen ward, und glaubte nun zu wissen, was er zu erwarten habe. Und was Hansjörg, dem er vielleicht zweimal sein Lebensglück zerstörte, gegen ihn auch unternehmen mochte, er konnte ihm nicht unrecht geben. Ja, das war noch beinahe das quälendste, daß bei allem dem ein herzliches Mitleid mit dem Armen sich in ihm zu regen begann. Es litt ihn nicht lange bei seinem Schoppen. Auf mußte er, fort, hinaus in Nacht und Sturm, wo er wenigstens ungestört sinnen konnte. Mit zitternder Hand legte er zwei Sechser neben den kaum berührten Schoppen und ging. Jetzt schien ihm der verschneite Weg nicht mehr gar so schlecht zu sein, auch peitschte der Sturm einem den Schnee nicht mehr gar so arg ins Gesicht als nachmittags. Nur sehen konnte man auch jetzt nicht weit, das war womöglich schlimmer geworden; und doch hätte er es vermeiden mögen, unversehens jemandem zu begegnen, da man ja leicht Verdacht schöpfen konnte, wenn man ihn auf dem Wege sah, während ein Grenzjäger im Dorfe verweilte. Unwillkürlich verließ er den durchs Dorf hinein zu der Wohnung des Andreas führenden Weg und merkte nun, daß ihn der alte Schnee ganz vortrefflich trug. Er lief also gerade so bequem oder unbequem ob dem Dorfe hinein als durch die verschneite und überdies unter der glatten Decke des neugefallenen Schnees recht holperige Gasse, mußte nicht zwischen Häusern hindurch und war sicher, daß ihm kein Mensch begegne. Schon eilte er hinauf, als ob es das Leben gelte. Schon mußte er jedem, der im Dorfe war, in der Schneewolke verschwunden sein, und doch eilte er immer noch weiter hinauf, bis er sich endlich ein wenig stillzustehen und zu verschnaufen gezwungen fühlte. Bitter lachend sank er zusammen. Es wurde ihm jetzt nicht so schnell zu kalt auf dem neugefallenen Schnee. Er saß und sann, während es im Tale dunkler und dunkler ward. Zum Teil war es ihm doch noch lieb, daß Hansjörg sich zu solchem verräterischem Spitzbubenstreich fähig zeigte. Nun hatte man wenigstens die Beruhigung, ihn an und für sich schon für einen grundschlechten Kerl halten zu dürfen, an dem wohl nicht viel mehr zu verderben gewesen war. Die tausend Gulden, oder was der Spaß allenfalls kostete, konnte er den Kindern ohne Sorge noch wegnehmen, und mithin war dann alles wieder aus. Alles? Wahrhaftig nicht. Es blieb noch der heillose Spott und die frömmelnde Schadenfreude aller der Einfaltspinsel zu überstehen, die in den elenden Nestern ihrer Väter gewissenhaft am Hungertuche nagten und schon längst gerne sehen wollten, wie lang er es treiben könne, bis ihm endlich das Wasser in die Schuhe rinnen werde. Nicht überstanden und sicher kaum zum Überstehen war das Gejammer der alten Stigerin, die mit frommem Augenverdrehen jedes Abweichen von Gesetz und Ordnung zu verdammen pflegte. Ängstlich malte der Krämer sich die traurigen Folgen dieses verwünschten Zwischenfalles aus, alles Mögliche, ja noch viel Unmögliches fiel ihm ein, nur das nicht, daß Hansjörg ihn so gut als möglich aus der Geschichte zu wickeln bemüht sei. Wäre er nur sicher gewesen, daß die beiden jetzt noch nicht im Stadel herumschnüffelten, so würde er gleich hinabgegangen sein und wenigstens soviel als irgend möglich zu retten versucht haben. Vielleicht noch das meiste! Ja, und dann wäre Hansjörg vergebens sein eigener Verräter geworden! Es war zum Rasendwerden, ruhig hier sitzen zu sollen, während da drunten weiß Gott was geschehen oder versäumt werden konnte. Traurig blickte er über das Dorf, welches wie ein schwarzer Strich unter ihm sich hinzog, wenn das Schneegestöber einmal für eine Minute freie Aussicht ließ. Alles war dann ruhig und still, die meisten Häuser mußten des Unwetters wegen schon von allen Seiten geschlossen sein, denn nur hier und da sah man den Schimmer eines Lichtes. Jetzt saßen sie beim Nachtessen oder beim Abendrosenkranz still und behaglich, wie er es früher daheim hatte, da die Eltern noch lebten und alles im Frieden beisammen war. Welch ein unruhiges Leben hatte er durchlebt seit damals, wieviel sich versagt und wie oft gegen die eigene Überzeugung reden und handeln müssen, um schließlich hier zu stehen wie ein Ausgestoßener, während der Sturm jeden heimtrieb und auch des elendesten Nestes froh machte. – Regierte denn nicht Geld die Welt? Oder fehlte ihm das? Nein, er war einer der Wohlhabendsten – und sollte nicht mehr in sein Heimatsdorf, etwa zu seiner armen Angelika und ihrem holden Kinde gehen dürfen? Jetzt gleich wollte er es zeigen, und mochte daraus entstehen, was wollte, er konnte schon zahlen. Nebenbei ließ sich dann wohl erhorchen, wie es im Stadel stand. Vielleicht gelang es ihm noch, wenigstens den Tabak und das Schießpulver auf die Seite zu bringen und die ungestempelten Kalender und den Kaffee und die Tuchballen und alles. Dann konnte er später, so zwischen Feuer und Licht, auch ganz behaglich daheim sitzen, so behaglich als einer. Das bisherige Leben war nur ein beständiger Krieg gewesen, nun aber mußte Frieden werden für die letzten Tage. Ein Heimweh, eine nie so empfundene Sehnsucht nach einem ruhigen, gottgefälligen Leben erfaßte ihn. Die Lichter da drunten sah er nur noch in den Tränen schwimmen, die seinen Augen entquollen. Er wollte gewiß ordentlich und fromm werden, recht fromm, und zur Messe gehen und Stiftungen machen und alles – nur noch heute, zum letztenmal, sollten List oder Gewalt ihm irgendwie durchhelfen. Hansjörg mußte noch ungefährlich gemacht und Zusel in Ehren versorgt werden auf dem Stighof, sonst war's ja gar nicht möglich, seinen guten Vorsätzen gehörig nachzukommen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, war er, immer schneller gehend, endlich beim Stadel seines Töchtermanns angelangt. Derselbe stieß gegen die durchs Dorf gehende Gasse hinab hart an den hinteren Teil des der Gasse entlang stehenden Hauses, den die Stallungen und Heulager einnahmen, während die Wohngebäude sich jenseits des mitten auf dem hohen Dachfirst aus dem Schnee hervorragenden Kamins befanden. Aber wie fern auch der Stadel der Wohnstube stand, hörte der Krämer doch, wie Angelikas Margretle mit vor Weinen halberstickter Stimme der Mutter rief. Zuerst glaubte er, sich jetzt um Wichtigeres kümmern zu müssen als das Schreien eines Kindes, dessen Mutter gewiß in der Nähe war. Aber das Kind rief immer schmerzlicher, so daß er endlich, wenn auch mürrisch, hinüberfragte: »Wo ist denn die Mutter?« »Beim Großvater.« »Das ist nicht wahr«, sagte er etwas freundlicher. Das Mädchen mit den goldigen Locken und dem schnellen Blicke hatte längst sein Herz gewonnen, und er spielte lieber mit ihm, als er früher mit seinen eigenen Kindern gespielt hatte. Margretle wußte das, und seine Stimme klang viel heiterer, als es dem schon Erkannten zurief: »Komm doch herein! Ich geh' gleich mit, wenn die Mutter auch wegbleibt.« Der Krämer vergaß, warum er herkam, und ging in die Stube. Das Mädchen war allein und erzählte, daß die Mutter schon vor dem Dunkelwerden das Haus verlassen habe. »Der Vater«, klagte dann das Kind, »ist nachmittag heimgekommen und hat nicht mehr gehen und kaum reden können. Dann ist er ins Bett. Die Mutter ist aufs Kanapee gefallen und liegen geblieben, aber sie hat nicht geschlafen. Geweint hat sie recht grausam, und ich hab' auch weinen müssen. Die Kühe haben das Futter viel zu spät bekommen, dann ist die Mutter fort zu dir und hat gesagt, sie frage dich, ob es nicht auch für uns noch Platz gab' in deinem Hause, weil es hier doch nicht mehr zum Aushalten sei.« Nun konnte der Krämer sich alles erklären. Es tat ihm wohl, daß jetzt auch Angelika, die sich bisher immer etwas scheu stellte, zu ihm die Zuflucht nehmen und so das Werk ihrer stolzen mütterlichen Verwandten öffentlich verdammen wollte. Nun waren noch schöne Tage zu erleben in seinem Hause. »Möchtest du zu mir?« fragte er freundlich. Das Kind warf einen traurigen Blick nach dem Schlafzimmer des Vaters und antwortete: »Ich möchte nicht mehr dableiben, wenn die Mutter gehen tät. Wenn doch nur der Vater nicht krank wär'! Oh, du hättest ihn heute sehen sollen! Er hat nicht einmal essen mögen, und der fremde Mann mit dem langen Rock und dem grünen Kragen und dem großen Messer ist allein bei dem Braten gewesen, den Mutter schon gestern abends für den Vater gerichtet und heute weinend wieder gewärmt hat.« Das erinnerte den Krämer wieder an den Stadel. Hastig langte er nach der Laterne auf dem buntbemalten Wandschrank, und indem er die darin stehende Lampe rasch anzündete, sagte er: »Die Mutter kommt schon, leg' dich nur aufs Kanapee, bis sie kommt, und schlaf – oder bete.« Ohne sich noch um die Einwendungen des Kindes zu kümmern, verließ der Krämer die Stube und eilte dem Stadel zu. Seine Hast, die alle Vorsicht vergaß, mußte ihn verraten, wenn irgendein Beobachter in der Nähe war. Trug er doch sogar die Laterne ganz frei in der Hand, als ob es keinem Menschen auffallen könne, wenn er gesehen werden sollte. Von vorsichtigem Horchen vor Eröffnung des großen Tores war keine Rede mehr. Erst als er im Stadel war, dachte er daran, wie sehr er die beiden schon hier zu treffen fürchtete. »Gott Lob und Dank!« hauchte er, als er alles in Ordnung fand. Auf dem Boden, unter welchem er seine Waren versteckt wußte, lagen eine Menge Hobelspäne, wie sie Hansjörg immer herumzustreuen pflegte. Die, in viele Teile zerlegt, hier an der Wand aufgebeigten Heuwagen warfen lange, gespensterhaft aussehende Schatten an Wand und Decke, deren sonderbares Nicken und Winken dem Krämer grausig vorkam, einem anderen aber sicher nur das Zittern der Hand verraten hätte, welche die Laterne krampfhaft festhielt. Endlich stellte er sie auf den Boden – und schrie vor Schrecken laut auf, als er dabei die Schatten länger werden und gegen ihn herausfahren sah. Seine Hand war zu unsicher, sein Arm zu kraftlos, um gleich eines der schweren Bretter zu heben, welche, lose nebeneinander gelegt, den Boden des Stadels bildeten. Er glaubte jemand reden zu hören, und nun dachte er mit Schrecken an seine Vorsichtslosigkeit beim Hereingehen. Es war nichts Gewisses zu erhorchen, denn der Sturm, obwohl er jetzt bedeutend nachgelassen hatte, pfiff, brummte und klapperte noch überall. Aber das nun – was war das? Sturmläuten in der Pfarrkirche! Der Krämer fuhr zuerst erschrocken auf, dann aber zog etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. »Gott, nun bin ich sicher da, gewiß ganz sicher. Jetzt haben sie zu tun ohne mich. Wie doch alles auch wieder zu etwas gut ist! Es soll nur brennen meinetwegen, wenn nur –« Er eilte vor den Stadel, um zu sehen, wo Feuer ausgebrochen sei. Aber er sah nichts und hörte, da es wieder windstill geworden war, die Glocke ganz regelmäßig anschlagen, während die Wellen des Sturmes nur einzelne Klänge da hereingetragen hatten. Ha, nur Feierabend läutete es, zur Ruhe und zum Gebet. Alle konnten daheim bleiben und sich wohl sein lassen, nur er nicht. Und da kamen auch noch zwei schnellen Schrittes die Gasse herauf?! Der eine just so groß wie der Grenzjäger – und auch der lange Rock und die Bewaffnung?! Herrgott! Und der andere redete und war wie der ganze, leibhaftige Hansjörg. Oh, jetzt hätte es brennen sollen, fürchterlich, daß alles zu tun gehabt hätte. Fliehen? Ein Alter zwei Jungen entrinnen? Unmöglich! Und zudem hatte er sich vorhin schon mit der Laterne verraten. Die beiden kamen näher, näher – Brennen mußte es, oder er war verloren, gefangen neben den Beweisen wie ein Dieb! Und dann das Lächeln Hansjörgs – und Dorotheens, wenn gar auch aus Zusels Heirat nichts mehr werden sollte. Das konnte man um keinen Preis erleben! Wäre der Krämer noch wenige Sekunden auf seinem Platze geblieben, so hätte er die beiden hinter dem stattlichen Hause seines Töchtermannes wieder verschwinden sehen. Aber es litt ihn nicht mehr auf seinem Platze. Schon in der nächsten Minute mußten sie im Stadel sein, daran hätte er seine Seligkeit setzen dürfen. Nun, sie sollten schon Arbeit bekommen, daß er auf eine Weile vergessen wurde. Als ob es das Leben gelte, sprang er in den Stadel zurück, riß das Licht aus der Laterne, zündete mit zitternder Hand in einen Haufen Hobelspäne, und schon im nächsten Augenblick wälzte sich die Flamme, größer und größer werdend, über den Boden hin gegen die ordentlich aufgebeigten Heuwagen, deren Schatten jetzt der Krämer mit furchtbarer Schnelle kleiner und kleiner werden sah. Schon knisterte und prasselte es, daß nichts mehr zu hören war vom Tosen des Sturmes, der jetzt das Tor aufwarf und die schon überall emporleckenden Flammen gegen den Holzvorrat hintrieb, welcher in der dem Hause zugekehrten Ecke des Stadels aufgehäuft war. Die Hitze wurde schon fast unerträglich. Der Krämer hatte gleich fliehen und das Löschen und Lärmschlagen seinen Verfolgern überlassen wollen, jetzt aber stand er zitternd und innerlich verzweifelnd vor seinem Werke, bis es ihm zu heiß wurde. Sollte noch gar das Haus in Gefahr kommen und die Nachbarschaft? Himmel, das hatte er nicht wollen! Ohne noch an die Folgen zu denken, die es für ihn haben mußte, wenn er hier von denen angetroffen wurde, die zuerst zur Hilfe herbeieilten, trug er einen Arm voll Schnee nach dem anderen herein, um vielleicht die wachsende und wachsende Flamme doch noch ein wenig zu zähmen. Erst als er gelbliche Streifen an der Decke herumziehen sah, wie vorher die Schatten der jetzt in vollem Brande stehenden Heuwagen, und als draußen die Dachtraufe zu plätschern begann, nicht nur wie wenn der heißeste Frühlingstag den Schnee zu schmelzen beginnt, sondern gerade wie ein Brunnen, sank er vernichtet nieder und starrte gleich einem Wahnsinnigen in die immer wilder um sich schlagende Flamme, bis hart neben ihm ein Dachbalken herunterstürzte und zwei Bretter des Bodens brach, daß er nun auch sehen konnte, wie seine Warenballen Feuer fingen. Mit einem lauten Schrei dachte er an das Schießpulver und stürzte hinaus. Ohne zu wissen, wohin er ging, eilte er wieder ob das Dorf hinauf. Er hatte keinen anderen Gedanken mehr als den, dem Schießpulver und dem furchtbaren Geprassel zu entrinnen. Ohne Furcht, sich zu verraten, würde er um Hilfe gerufen haben, wenn er nicht durch den Schreck und die Angst um Besinnung und Stimme gekommen wäre. Aber die Nachbarn in ihren wohlverschlossenen Häusern hörten jetzt das Geprassel und eilten hinaus. Die ersten kamen mit leeren Händen auf den erhellten Platz, als eben das letzte Wasser des auf dem Dache geschmolzenen Schnees in das leise zischende Flammenmeer tropfte. Schon begann auch die Dachtraufe des Hauses zu rinnen, und lawinenartig stürzte der Schnee vom hohen Dachstuhl nieder. Ein gewaltiger Windstoß trieb die weit über den Stadel hinwallende Flamme gegen das Haus, an dessen oberer Ecke sie schon im nächsten Augenblick mit der Schnelligkeit des Sturmes rechts und links emporklomm. Das Feuer schwoll und schwoll, die einzelnen Flammenstränge liefen wie Bäche zusammen, der Sturm trug den ersten schrillen Klang der Sturmglocke wie einen Wehruf übers Dorf, dessen hintere Hälfte verloren war, wenn der Wind nicht ruhiger wurde. Die zum Löschen Herbeigekommenen jammerten, beteten und riefen den Bewohnern des weiter und weiter nach vorn in Brand stehenden Hauses. Viele Nachbarn eilten, um die eigene Habe noch zu retten, und dem mit Hansjörg herbeigekommenen Grenzjäger fehlte es wieder an Leuten, als er, um weiteres Unglück zu verhüten, das Haus niederzureißen befahl. Die Gegenwärtigen wollten nicht an ein so schönes Haus. »Und Andreas?« riefen mehrere. »Und Angelika?!« schrie Hans, der in diesem Augenblick atemlos herbeistürzte. Während nun die Bauern, auf die Feuerspritze wartend, die Nachbarhäuser mit einer schützenden Schneemauer zu umgeben anfingen, sprang Hans, abwechselnd Andreas und Angelika rufend, um das Haus herum. Endlich polterte der erstere in seinen Holzschuhen heraus und eilte den brüllenden Kühen zu. »Wo sind Weib und Kind?« fragte Hans in furchtbarer Aufregung. »Weiß nicht«, war des Andreas kurze Antwort, dann eilte er in den schon überall brennenden Stall, um die brüllenden Tiere zu erlösen. Eben waren die ersten Männer mit Feuerhaken angekommen und hatten die Antwort des Andreas gehört. Daß er noch nicht ganz ernüchtert war, wußten sie nicht, und seine Herzlosigkeit kam ihnen so unnatürlich vor, daß sie wie erstarrt stehen blieben und den aus einer Rauchwolke heraustaumelnden Tieren nachsahen. Nur Hans war immer unruhiger. »Angelika!« schrie er, daß es den Leuten durch Mark und Bein ging, und mit einer Schnelligkeit, die kein Mensch ihm zugemutet hätte, sprang er durch den schon brennenden Schopf in das Haus. Zwei Flammensäulen schlugen hinter ihm zusammen und fuhren durch die nicht mehr ganz zugeworfene Türe dem Burschen nach. Die Zuschauer sprachen ein stilles Gebet, bis sie in der Andacht gestört wurden durch ihren Ärger über Andreas, der jetzt seiner letzten Kuh nach aus dem Stalle schwankte. Hunderte standen ums Haus herum, und jeder wollte befehlen, obwohl er selbst nicht wußte, was er sollte. Einzelne sagten vom Niederreißen des Hauses, aber ihnen wurde erwidert, es seien noch Leute drinnen, und so geschah denn eigentlich nichts, wieviel auch jeder tat und wie günstig die Zeit auch gewesen wäre. Der Wind hatte gänzlich aufgehört, und ruhig verglühten die letzten Reste des Stadels auf dem Boden. Andreas starrte eine Weile in die Glut, dann rief er: »Plündert das Haus, ihr Narren! Werft alles heraus, das Geld, die Kleider, Herrgott, und das Kind und – –« Niemand wußte, ob die Hölle sich aufgetan oder der Blitz vom Himmel eingeschlagen habe. Auf einmal war's da, wo der Stadel stand, hell – furchtbar, gewaltig. Balken, Steine und Eisenzeug flogen aus der blitzartigen Flamme. Andreas lag schwer getroffen im Schnee, den das Blut des Bewußtlosen färbte. Des Krämers Pulverfaß war in die Luft geflogen. 25. Kapitel Fünfundzwanzigstes Kapitel Was an diesem Abend noch weiter geschah Auch Zusel und Angelika, die beisammen in der mit Heiligenbildern verzierten, ungewöhnlich stark eingeheizten Wohnstube saßen, hatten das nur in einzelnen Klängen vom Sturm da herüber geworfene Feierabendläuten gehört. Aber wie seltsam auch die Glocke klang, die beiden Schwestern dachten doch an gar nichts Besonderes. Stehend beteten sie laut den Englischen Gruß und setzten sich dann wieder zu dem kleinen Tischchen, auf welchem Zusel die verschiedensten Seidenstoffe zur Auswahl für ihre Hochzeitsärmel ausgelegt hatte. Das Mädchen prüfte, verglich, stellte sich bald näher, bald ferner, wand jedes Stück um die schöngeformten runden Arme und schien über die Vorbereitungen zur Hochzeit alles andere vergessen zu haben. Oder war es gar etwas noch Ärgeres als nur ihr Leichtsinn, was ihr bang machte, wenn Angelika von der Zukunft redete und sie sogar zum Weinen brachte, da die so unglücklich verheiratete Schwester sagte, daß nun sie den einsamen Väter zu pflegen und ihm nach Kräften frohe Tage zu machen gedenke? Angelika kam zu der Überzeugung, daß die Leidenschaft für Hansen, wohl nur aus Trotz und Hochmut entstanden, fast schon wieder mit den anfänglich im Wege stehenden Hindernissen vergangen sei. Hansens ehemaliger Geliebten tat diese Bemerkung jetzt noch doppelt und dreifach weh. Sie konnte die Frage nicht mehr zurückhalten, ob wohl Dorothee und Hans einander unglücklich gemacht hätten. Zusels kleiner Mund konnte sich recht unschön verziehen bei dem Ausruf: »Du bist auch noch auf der Seite der Elenden, die mir Hansen hat wegnehmen wollen!« »Sie hat ihn vielleicht so innig geliebt wie du.« »Das wär' für so ein armes Ding schon anfangs eine Dummheit gewesen.« »Wenn aber so eine Neigung ohne jede Aussicht war, hättest du das arme Mädchen bedauern sollen, statt sie mit den allergemeinsten Mitteln zu bekriegen, ja fast zugrunde zu richten«, sagte das Weib, und ohne das unfreundliche Gesicht der Schwester bemerken zu wollen, fuhr sie, immer wärmer werdend, fort: »Vor dir steht eine schöne Zukunft, wenn du nur nichts Böses mit hineintragen mußt. Sonst aber wär's schade, wahrhaftig schade um alles. Denke dir nur, daß du jetzt nicht mehr bloß für dich allein da bist, sondern daß ein gewiß lieber, guter Mensch nun sein Schicksal an das deine knüpfen will. Es wär' schon grad' zum Weinen, wenn du nicht einmal empfinden solltest, wie wichtig das ist. Hans gehört dein, du kannst glücklich werden, wenn dein Weg zum Glücke rein ist. Wäre doch die Welt so weit und groß oder der Mensch so gut und vernünftig, daß niemand gestoßen und getreten würde, wenn man auf diesem Wege vorwärts ginge! Euch beide will, muß ich glücklich sehen, das Gegenteil tät mir noch weher als alles andere.« »Zur Unterweisung«, antwortete Zusel spitz, »hat man uns auf den Freitag zum Pfarrer befohlen. Du bist mir gar nicht die Rechte zum Predigen über glückliche Ehen. Es fehlt da zu sehr am guten Beispiel.« »Aber nicht an Erfahrung.« »Gut, so benütze sie nur für dich!« »Es ist schon zu spät, wenn man einmal gegen sein Herz, gegen sein Gewissen gehandelt hat in einer so wichtigen Sache – wenn das große Ja vor dem Altar nur eine Lüge gewesen ist. Ein kleines Unrecht, nur eine Verirrung ragt oft wie ein Schatten in die ganze Zukunft hinein. Ich bitte dich um Hansens, um deines Glückes willen, keinen Fluch mit in die Ehe zu nehmen. Oh, die Tropfen sind furchtbarer Same des Unglücks, die über eine Verbindung in gerechtem Schmerz geweint werden! Denk' an Hansjörg und an Dorothee!« »Das«, lachte Zusel gezwungen, »sind freilich nur Schatten, und vor denen fürcht' ich mich nicht. Die sollen meinetwegen nur hereinragen ...!« In diesem Augenblicke begann die Sturmglocke zu läuten, und vor dem Haus entstand ein gewaltiger Lärm. Aus dem Durcheinander von Fragen und Antworten brachte Angelika schließlich heraus, daß es hinten im Dorf irgendwo brenne, daß aber Genaueres in dem Schneegestöber nicht zu erkennen sei. »Jesus Maria, mein Margretle!« jammerte die junge Mutter schon unter der Stubentür. »Um Gottes willen, Schwester, komm!« »Was kann ich tun?« fragte Zusel ruhig. »Es wird jetzt nicht gerade bei dir brennen müssen. Der Vater ist nicht da, jemand aber muß daheim sein. Ist mir eigentlich auch ganz recht. Wochenlang hätt' ich keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht, wenn ich so ein Elend mitansehen müßte.« Der größte Teil dieser Rede war von Angelika nicht mehr gehört worden. Mit einem »Ach Gott!« stürzte sie die Stiege hinunter und befand sich jetzt schon mitten unter denen, die auch zum Retten und Helfen auf den Schauplatz des Unglückes eilten. Der Schmied mit den jüngeren Burschen der Gemeinde war fluchend bemüht, die Feuerspritze unbeschädigt durch die enge Gasse und noch überdies zwischen Zaunpfählen, die starr aus dem Schnee herauf in den Weg hineinragten, halb zerfallenen Mauern und Holzbeigen hineinzubringen. Es war aber nicht mehr möglich, auch bei dem hinter einem Hause rechts und links aufgehäuften Bauholz vorbeizukommen. Mit unsäglicher Mühe mußte die Spritze wieder um die ganze Länge des Hauses zurück und aus der Gasse auf den Schnee gebracht werden, dessen untere Schicht zwar ziemlich hart, aber doch nicht fest genug gefroren war für solche Last. Nur schrittweise war hier, wo keine Pferde mehr benützt werden konnten, dem brennenden Hause näher zu kommen. Auf den Ruf des Schmieds ging es einen Ruck um den anderen. Auch Weiber und Mädchen halfen ziehen und stoßen oder waren doch wenigstens mit anderen am Platze. Sogar Angelika stand still und dachte ans Helfen. Aber die Angst der Mutter trieb sie bald wieder vorwärts auf dem schlechten Weg. Sie mußte doch vor allem wissen, ob ja nicht ihr Haus bedroht oder gar von dem Unglücke getroffen sei. Der Sturm ließ nach, das Schneegestöber legte sich, und am bleiernen Himmel sah man da und dort ein Sternlein flimmern. Im Dorfe ward es immer heller, und jetzt fuhr's über den Schnee wie der Blitz. Der gleich folgende Schlag war dem des fernen Donners ähnlich. Angelika hatte bei der furchtbaren Beleuchtung schon genug gesehen. Einen leisen Schrei ausstoßend, sank sie zusammen, aber schon im nächsten Augenblick eilte sie über den Schnee, wie es nur eine Mutter konnte, der es das Leben des einzigen Kindes zu retten galt. Das Auffliegen des Pulverfasses hatte auch dem Krämer, welcher ziemlich nahe dem brennenden Hause bewußtlos im Schnee lag, die Besinnung wiedergeweckt. Erschrocken sprang er auf und sah, wie das stattliche Gebäude schon an drei Ecken in Flammen stand. Alles, was er in den letzten Viertelstunden durchmachte, lag auf ihm mit furchtbarer Schwere und würde den Greis wieder in den früheren Zustand niedergedrückt haben, wenn er nicht noch ans Margretle, das liebe, gute Kind, gedacht hätte. Das lag nun in dem brennenden Hause, vielleicht von der erwarteten Mutter träumend oder von ihm, während sich die Flamme näher und näher wälzte, immer lauter brummend und prasselnd, wie vorhin im Stadel. Diese Vorstellung gab dem Krämer alle seine Kräfte mit einemmal wieder. Wie oft auch der Schnee jetzt unter seinen schweren hastigen Tritten brechen und er fast knietief einsinken mochte, dennoch kam er früher als Angelika vor dem Hause an. Ach, alle die vielen sah er einzig mit der Rettung der anderen Häuser beschäftigt. »Niemand«, rief er verzweifelnd, »niemand hat ein Herz für das arme Kind, niemand, niemand!« Kein Mensch hatte gesehen, was der Krämer litt, als er den Himmel röter und röter werden, die ernsten Felsenköpfe da droben immer heller leuchten sah, während die Sturmglocke läutete. Niemand wußte noch, daß auf ihm allein alles mit doppelter Schwere liege, was diese Stunde der ganzen Gemeinde brachte. Aber eine Empfindung davon weckte schon der Ton seiner Stimme. Es war etwas in seinem Ausruf, das alle schaudern machte und ihr Mitleid mit dem sonst so unbeliebten Mann erregte, daß auch die Nachbarn sogar nicht mehr an die Gefahr dachten, die ihren Häusern drohte. Es war nur den folgenden Worten des Krämers zuzuschreiben, daß man sich bald wieder von ihm abwandte und besorgt nach den immer mehr zusammenschmelzenden Schneemauern blickte. Der unglückliche Mann sah die Leute rat- und tatlos herumstehen. Er wußte nicht, daß alle mit Schmerzen warteten, bis Hans wiederkomme, daß man dann das Haus niederreißen und wenigstens der ärgsten Gefahr ein Ende machen dürfe. Mit heiserer Stimme rief er: »Steht ihr denn alle müßig, wenn man aus Menschenliebe sich regen sollte? Regt euch nur, ihr tut's nicht umsonst! Hundert, tausend Gulden, alles dem, der mir das Margretle wiederbringt!« Ein unwilliges Gemurmel war die Antwort. »Er soll sein Geld nur behalten«, hieß es, »das Leben ist dafür niemand feil. Beim nächsten Windstoß ist alles aus, und besser wär's, wenn man das Haus gleich niederwerfen tät.« Der Schnee zum Erhalten der schützenden Mauern vor den Nachbarhäusern war immer schwerer herbeizuschaffen. Schon flogen brennende Schindeln von der Stubenwand darüber hinaus, und fast alles eilte den bedrohten Gebäuden zu. Der Krämer schrie ihnen nach: »Seid ihr Menschen? Um alles nicht einmal einer! Und ich habe so viel getan fürs Geld, alles ums Geld! Herr und Gott, ich, ich muß das Margretle retten oder mit ihm sterben! Ja, sterben will ich, wenn man gar nicht mehr helfen kann.« Den Bauern fiel es in der Verlegenheit nicht ein, ihm zu sagen, daß Hans schon hinein sei und gewiß das mögliche tun werde. Prüfend schauten sie sich um; es schien schwer, noch ins Haus, und unmöglich, später wieder herauszukommen. Jetzt kam Hansjörg mit einer Leiter und lehnte sie vor der Wohnstube an. Viele wehrten ab und sagten: »Das Haus muß zusammengestürzt werden, sobald Hans herauskommt, oder gar noch früher.« »Ist Hans drin?« fragte der Krämer, und ohne noch auf Antwort zu warten, die er schon aus den Gesichtern las, machte er sich auf die Leiter und rief: »Ich muß auch hinein, und ihr mögt dann einen dreifachen Mord begehen. Ich muß retten. Hab' ich alles das Elend im Stadel angerichtet, um nicht für einen Schleichhändler zu gelten, so will ich doch nun kein Mörder sein!« Hansjörg wollte den Aufgeregten, Verzweifelnden zurückhalten. Der aber machte sich mit Anstrengung aller Kräfte los und schrie, daß es alle hörten: »Ich hab' das Feuer angelegt im Stadel, als ich den Grenzjäger merkte, und ich will nun auch mit ihm kämpfen. Laßt den Mordbrenner retten oder zugrunde gehen!« Ein Fenster klirrte, und der Krämer verschwand hinter der ersten Flamme, die ein leiser Windstoß an dieser Seite des Hauses vorübertrieb. Jetzt brannte das Haus auf allen Seiten. Hansen mußte das Entrinnen jeden Augenblick schwerer, ja schon fast unmöglich werden. Alles rief ihm zu, daß schon die Decken in den Zimmern sich zu senken begännen, aber dann fragte man sich erschrocken, wo er denn eigentlich noch herauskommen sollte, da ja schon alle Löcher in den Wänden Flammen ausspien. Nochmals riefen alle Hansen und dem Krämer zu, sich doch um Gottes willen gleich herauszumachen. In den Lärm hatte sich eine Stimme gemischt, die jeder hörte und die jedem durch Mark und Bein ging. Es war die Stimme Angelikas. Schon im Herbeistürzen hatte sie aus dem Lärm alles erraten können. »Vater, Margret, Hans!« rief sie in einem fort. »Ja«, glaubten endlich mehrere von innen antworten zu hören, und im nächsten Augenblick sprang Hans mit dem zitternden Kind im Arme auf den Schnee, wie wenn jener Flammenstrom ihn herausgespien hätte. »Das werd' ich dir nie vergessen!« jubelte die Mutter. »Ich dir auch nicht«, sagte Hans. »Da die alle hätten rufen können! Als das Kind gefunden war, sah ich mich überall eingesperrt. Schon war mir der Mut ganz vergangen. Ich machte Reu' und Leid. Aber da hab' ich dich gehört, gewaltig hat es mich erfaßt, eine neue Kraft ist in mir lebendig worden und hat getrieben, daß ich dann, ich weiß selbst nicht wie, herausgekommen bin.« Jetzt stürzten mehrere Decken im Hause ein. »Nun ist's aus mit dem Krämer!« jammerten sogar die, welche wie Angelika neben dem geretteten Kinde alles andere vergessen zu können schienen. »Und wo ist Andreas?« fragte Angelika mit unsicherer Stimme. Die Bauern sahen sich verlegen an und meinten, er müsse noch neben dem Stadel im Schnee liegen. Einige jedoch wollten gesehen haben, daß der Verwundete von Jos, Dorotheen und noch einigen, die doch sonst nicht viel zu nützen glauben mochten, hinweggebracht worden sei. Das war auch wirklich so gewesen. Dorothee, die eben einen Gang ins Herrendorf zu machen hatte, war mit den ersten auf dem Platze gewesen und sprang sofort dem Unglücklichen bei, den alle anderen verließen. Später kam auch Jos so schnell, als ihm sein immer noch nicht ganz hergestellter Fuß zu gehen erlaubte. Um das Haus herumgehend, sah er Dorotheen, und die beiden wollten sich eben anreden, als der Krämer laut vor allen seine Untat bekannte. Beide schwiegen erschrocken still, und erst nach einer Weile sagte das Mädchen: »Wie ist doch das eine schreckliche Stunde; jener Fluch meines Vaters, wie furchtbar hat er gewirkt!« »Nein, Dorothee, das ist ja, wie du hörst, nur aus Mißtrauen und Schuldbewußtsein entstanden.« »Und aus dem unseligen Schleichhandel. Oh, nehmet eine Lehre für euch, wenn ihr auch diesmal noch ungeschlagen durchkommt!« »Gar nicht so ungeschlagen«, sagte Jos etwas bitter. »Auch mir und meinen Freunden ist hier der letzte Sparpfennig, alles zugrunde gegangen.« »Dann«, sagte Dorothee noch beinahe fröhlich, »hat euch doch auf euerm Weg nur ein ersetzbarer Schaden getroffen. Ihr seht nun, wie es noch gar zum Verbrechen führt, wenn man aus Gesetz und Ordnung heraustritt und nur an sich selber denkt.« Jos aber konnte seinen Verlust nicht so leicht verschmerzen. »Unseliges Mißtrauen!« rief er. »Es wär' nie so weit gekommen, wenn auch der Krämer gemeinschaftliche Sache mit uns gemacht hätte. Aber der wollte den Hansjörg wegwerfen, drum hat er dann sich so vor ihm und dem Grenzjäger gefürchtet, als die beiden kamen, um mich zu einem Schoppen einzuladen. Ja, du hast wohl recht. Diese Stunde ist ernsthaft und lehrreich für Arme und Reiche, die ein ander im Kriege gegenseitig furchtbar werden.« »Und du versprichst mir nun wohl, in Zukunft bei fleißiger, friedlicher Arbeit dein Heil zu suchen?« »Nicht nur ich«, antwortete Jos, »wir alle sollten den Vorsatz mit heimnehmen, uns gegenseitig das Leben so zu gestalten, daß jeder mit der bestehenden Ordnung zufrieden wär' und keiner auf Abwege getrieben würde, weder Arm noch Reich. Wenn man das tät, so wär's noch mehr als nur so ein Haus wert.« »Nun, so mach' den Anfang!« bat das Mädchen lächelnd. »Versprich mir, in dieser Weise das Deine zu tun!« Sie reichten sich die Hände und wechselten einen herzlichen Druck. Dann drehte sich jedes auf eine andere Seite und hatte mit dem Verwundeten zu tun oder dafür zu sorgen, daß er so schnell als möglich irgendwo untergebracht werde. Sie hätten viel nicht genommen, wenn ihr Gespräch von jemand auch nur gesehen worden wäre. Wie sind die Leute! Ihr Urteil ist sehr streng, und man verargt es einem, in solchen Augenblicken an sich selber zu denken, obwohl es fast jeder tut. Nun aber bemühten sie sich auch desto mehr um den Verwundeten, welcher mit Hilfe noch einiger Herbeigerufener in das nicht gar zu fern stehende Häuschen der Schnepfauerin gebracht wurde. Nun glaubte Jos den Andreas in guten Händen. Er eilte wieder fort, den Doktor zu holen, und kam gerade recht an dem brennenden Hause vorüber, um Angelika noch geschwind Auskunft auf ihre Fragen über das Befinden des unglücklichen Gatten zu geben. »Er lebt, ist aber bewußtlos und scheint mir am Kopfe sehr bös von etwas getroffen«, sagte Jos kurz und machte sich, ohne noch auf weitere Fragen zu hören, wieder fort. »Und mein Vater?« jammerte Angelika. »Tröst' ihn Gott im ewigen Leben!« riefen mehrere, die kein anderes Trostwort für die Unglückliche fanden. »Hat er denn so aus der Welt gehen müssen? So schnell und unvermutet, sogar ohne Beicht' ...!« »Er hat gebeichtet«, sagten einige, die dann aber erschraken, daß sie an sein schreckliches Geständnis erinnerten, und sich so schnell als möglich aus der Nähe der Unglücklichen machten, um nicht noch genauere Auskunft geben zu müssen. Man redete wieder vom Niederreißen des Hauses, aber die Nachbarn, welche nach dem Dafürhalten aller die Sache doch weitaus am allermeisten anging, wollten durchaus nichts davon wissen. Seit der Sturm aufgehört habe, sei keine Gefahr mehr vorhanden, und auf der anderen Seite wär's doch noch möglich, daß der Krämer lebte. Im Grunde glaubten das nur wenige, aber man schwieg, weil man Angelika nicht um die letzte Hoffnung bringen wollte. Sie stand auf dem alten Platze wie angebannt, während der glänzende Strahl aus der nun endlich angekommenen Spritze mitten in die zischenden Flammen fuhr. Tränenlosen Auges starrte sie in die Glut, nur wenn wieder etwas am Hause zusammenstürzte, fuhr sie auf, wie wenn sie selbst getroffen zu werden fürchtete, sonst aber schien sie nichts, nicht einmal das Weinen des ermüdet neben ihr in den Schnee gesunkenen Kindes zu bemerken. Erst als Jos mit dem Doktor zurückkam, rief sie: »Der Vater ist als Retter in guter Absicht gestorben. Gott sei ihm gnädig!« Dann hob sie das zitternde Kind auf den Arm, küßte es und folgte den beiden zum Gatten ins Häuschen der Schnepfauerin. Mit immer besserem Erfolg arbeiteten Löschmannschaften und Spritze, da bald schon die letzten Dachbalken brachen und in den Gluthaufen stürzten, dem nun auch mit Schnee, welchen man von allen Seiten auf Schlitten herbeiführte, ganz vortrefflich beizukommen war. Schon um zwölf Uhr wurden zwanzig Mann als Wache gewählt, damit die anderen heimgehen und sich zur Ruhe begeben könnten. »Aber ihr Leute!« rief Hans, und alles drehte sich, um zu hören, was denn der so vielen zu sagen wage. »Uns allen«, fuhr er fort, »ist ernsthaft zumut, und es ist natürlich, denn wir verlassen ein Grab. Beten wir noch die üblichen fünf Vaterunser!« Und alle knieten um den Gluthaufen herum und beteten laut und mit einer Andacht, wie sie sonst sogar in der Kirche selten war. Nachher wurde überall von dem traurigen Ereignisse geredet. Den Krämer aber behandelte man so schonend, als ob in jenem Gebet ihm jeder die Hand zur Versöhnung gereicht hätte. Wenn auch nicht alles über die Geschichte denken mochte wie Jos, es nahm doch jeder eine gute Lehre mit heim, die der seinen gerade nicht besonders unähnlich war. Hans fragte nach der Zusel und erfuhr, daß die sich zu sehr fürchte und zu erschrocken sei über das Geschehene, um nur das Haus noch verlassen zu dürfen. Trotzdem ging er geradewegs ins Häuschen der Schnepfauerin, wo er eben recht kam, um den Andreas ins Haus des Krämers hinausbringen zu helfen. Nach einer kurzen Untersuchung sagte der Arzt, es sei vergebens, was man tun möge, wenn der Mann hernach nicht in Ruhe gelassen werde. Jetzt sei es windstill, und es würde dem Unglücklichen am allerwenigsten schaden, wenn man ihn gleich jetzt wieder hinaus und ins Haus des Krämers brächte, wo nun doch vorläufig seine Heimat sein würde. Dabei gab er nicht undeutlich zu verstehen, daß er freilich nur noch für kurze Zeit ein Haus auf dieser Welt nötig habe. Bald war Andreas auf eine Tragbahre gebracht, und schweigend trugen ihn vier kräftige Burschen dem Hause des Krämers zu. Angelika ging langsam hinten nach und war so in trübe Gedanken verloren, daß sie nicht darauf hörte, als einige Bauern ihr erzählen wollten, wie und wo einstweilen ihre Kühe, die herrenlos im Dorf herumirrten, von Hansjörg und ihnen untergebracht worden seien. Anders aber war's, da das Margretle auf den Großvater kam und der Mutter sagte, wie er gleich auf den ersten Ruf zu ihm gekommen und so freundlich gewesen sei. Da horchte Angelika gleich auf, und das Mädchen mußte jedes Wort wiederholen. »Und dann?« fragte sie hastig. »Dann«, antwortete das Margretle, »dann ist er mit dem Licht in den Stadel, und gleich darauf hat es zu brennen angefangen. Mir ist angst worden bei dem Geprassel, und ich hab' mich in den Keller versteckt, wo ich nichts mehr davon hören mußte.« »Und hat Hans dich erst dort gefunden?« »Ja, ich bin nicht einmal gern mit ihm. Der Vater hat mir vorher auch gerufen, aber ich bin geblieben.« »Wie ist aber das Feuer ausgekommen?« »Hans, rede du!« sagte Hansjörg. »Sie soll das nur vom Retter ihres Kindes hören.« »Ach Gott, was?« fragte Angelika, von einer plötzlich erwachenden Ahnung erschreckt. Hans erzählte, was er gehört hatte, doch würde sei nen Gefährten zu einer anderen Zeit aufgefallen sein, daß ihm seine sonst ganz rücksichtslose Wahrheitsliebe solche Milderung der Tatsachen zuließ. Der Krämer erschien vielmehr von der Sorge um das Margretle als von dem unruhigen Gewissen in das durch ihn angelegte Feuer getrieben, und Hans endete mit der Behauptung, daß ihr Vater als Märtyrer gestorben sei. Angelika dachte schaudernd noch immer an das ja vom Vater selbst noch ausgesprochene Wort Mordbrenner. Hans schien das zu vermuten, denn er sagte nach einer Weile: »Als Märtyrer oder auch als Büßer ist er gestorben. Es gefällt mir nicht, was er gemacht hat, aber ihm selbst hat es auch nicht gefallen, als er es gar so schrecklich werden sah. Nur weil eine Reue, wie sie selbst unsereinen, nicht bloß den lieben Gott rühren muß, ihn trieb, hat er seinen Fehler öffentlich bekannt und sein Leben gewagt, um das des Kindes zu retten. Solches Bußwerk bewirkt, daß es ernst ist mit der Beicht'. Gott wird ihn so gnädig richten als wir und ruhen lassen im Frieden.« Jetzt war man bei dem Hause des Krämers angelangt, und Hans ging voran hinein. Der Zusel, die neben der Magd am Tische saß und den Rosenkranz durch die Finger zog, machte er kein besonders freundliches Gesicht und gab ihr zu verstehen, daß sie in den letzten Stunden wohl etwas anderes zu tun gehabt hätte, als daheim sitzend zu beten. »Warum aber«, fragte das Mädchen, »bist denn du nicht zu mir gekommen an diesem traurigen Abend?« »Weil ich Wichtigeres zu tun hatte«, war Hansens kurze Antwort; dann hieß er sie streng für den Andreas ein Bett herrichten, wenn auch das noch nicht geschehen sei. Zusel gestand, sie hab' im Schreck noch an gar nichts gedacht als an den Tod des Vaters. Hans ging kopfschüttelnd hinaus und befahl, den Unglücklichen einstweilen in die Stube zu bringen. Angelika half nun der Schwester, die kaum wußte, was sie tat und sollte. Eine Viertelstunde später lag Andreas im Schlafzimmer des Krämers und ward ruhig und still, während er vorher in unzusammenhängenden Worten vom Feuer, von Dorotheen, dem Grenzjäger und seinen Kühen zu reden angefangen hatte. Bei der Untersuchung des Doktors, die ihn fürs Leben verloren erscheinen ließ, kehrte ihm das Bewußtsein auf Augenblicke zurück. Dann schien er wieder in tiefen Schlaf zu versinken. Angelika, Zusel, Hans und der Doktor saßen schweigend vor dem Bette. Auf einmal öffnete sich die Tür. Hansens jetziger Knecht polterte so laut ins Zimmer, daß auch der Schlummernde erschrocken mit der Frage auffuhr, wo es denn wieder brenne. Der Knecht aber schien außer Hansen gar niemanden zu beachten. Er sagte mit rauher Stimme: »Die Mutter läßt dich grüßen, du sollest heimkommen, da nun doch aus der Hochzeit nicht so schnell etwas werde. Sie hoffe nämlich als christliche Mutter eines anständigen Hauses – –« »Gut«, sagte Hans, der Zusel mit seltener Leidenschaftlichkeit das Wort abschneidend, »als christliche Mutter wird sie nichts dagegen haben, wenn ich nun dem Kranken den Pfarrer hole.« Das war die rechte Antwort, um über das Peinliche dieses Augenblickes so schnell als möglich hinauszukommen. Zwar war der Doktor dagegen, aber man kam nun doch wieder auf andere Gedanken, so daß es Hansen leichter war, das Zimmer zu verlassen. Er war sehr unzufrieden mit dem Knechte und folgte der Mutter weniger aus Gehorsam, als damit er sich nicht mehr von Angelika und den anderen um ihre Rede ansehen lassen müsse. Angelika wollte nicht ins Bett, und der Doktor mußte sie ernstlich daran erinnern, daß sie nicht nur für den Gatten, sondern auch für Margretles Mutter zu sorgen habe. Es war schon spät, als sie den Kranken einigen von Zusel hergebetenen Nachbarsleuten überließ. Also wieder im Vaterhause! Zum erstenmal seit der Geburt ihrer Schwester, die der Mutter das Leben kostete und sie zuerst aus dem Hause und dann auch aus dem Herzen ihres Vaters verdrängte. Schlafen konnte sie nicht, oder war es etwa schon ein Traum, in dem sie, sobald sie das Licht löschte, wie noch in jeder großen Stunde die unvergeßliche Mutter vor sich stehen sah? Sie blickte jetzt wieder gerade so ernst wie damals, als Angelika, zum Teil fast aus wunderlichem Trotze, sich dem Andreas versprechen wollte. Die Erscheinung schien Angelika das Buch ihres Lebens aufgeschlagen zu haben. Sie sah nicht Buchstaben, wohl aber ihre Reden und Handlungen viel klarer, als das je vorher der Fall gewesen war. Ach Gott, an so vielem lag die Schuld auf ihr! Dem Hans verargte sie es, daß der Familienstolz der Mutter ihn schwach machen konnte, und sie selbst hielt dieser Stolz ihrer Basen vom Hause des Vaters fern! Freilich tat ihr das weh, aber wohl nicht weher als Hansen und auch dem guten Vater. Und dann ließ sie den Gatten empfinden, welches Opfer sie brachte, da sie sich mit ihm statt mit Hansen verband. Sie wollte ob ihm stehen und seine Führerin sein, nicht sein Weib. Das nun hatte ihn aus dem Hause getrieben ins Weite, wo er, an nichts gefesselt, von der ersten Strömung erfaßt und wehrlos fortgetrieben werden mußte. Angelika lebte sich immer tiefer in das Elend ihrer letzten Jahre hinein. Eins nach dem anderen sah sie entstehen und wachsen in dem Riß, der zwischen ihr und dem Gatten sich aufgetan hatte. Sie sann und betete, bis der rötliche Morgen über die Berge herauf zog. Nun aber eilte sie ans Bett des kranken Gatten. Sie traf ihn furchtbar leidend, aber augenblicklich bei vollem Bewußtsein. »Angelika, wir hätten uns nie heiraten sollen«, sagte er mit schwacher Stimme. »Mir kommt das Feuer und alles wie eine Strafe Gottes vor, wenn ich auch nicht weiß, wie alles aufeinander geht.« Angelika war unfähig zu antworten. Andreas fuhr nicht ohne Anstrengung fort: »Es macht mich fast verrückt, wenn ich daran denke, wie schlecht ich in letzter Zeit worden bin. Wir haben keine guten Tage gehabt in dem hübschen Haus, und das Unglück, daß es zugrunde ging, ist wohl bei weitem nicht das größte.« »Oh, es hat nicht am Hause gefehlt, sondern einzig an uns, hauptsächlich an mir!« klagte Angelika, die sich vergebens noch zu beherrschen suchte. »Dann ist nichts, was mich entschuldigt. Ich hab' mir schon gedacht, mein Reichtum sei mein Unglück gewesen, weil er mich von jung auf daran gewöhnte, nichts und niemandem etwas nachzufragen.« »Mein Vater dagegen war arm«, sagte des Krämers Tochter. »Der wurde unglücklich durch seine Geldgier. Tröst' ihn Gott!« »Ist er gestorben?« »Ja«, sagte das Weib und erzählte ganz kurz, wie er ihr Kind habe retten wollen. »Er ist also doch noch viel besser als ich«, jammerte der Kranke. »Er geht dem Kinde nach, ich aber komme im Schrecken bloß dazu, ihm zu rufen. Dann eile ich, der Verschwender, dem Stalle zu. So gehen wir jetzt beide als Retter zugrunde. Gerechter Gott!« Angelika setzte sich auf das Bett des Kranken, welcher zitternd nach ihrer Hand langte. »Gelt, es hat nur an uns gefehlt?« fragte er mit schwacher Stimme. »Ja.« »Sag' herzhaft: nur an mir! Schone mich nicht mehr! Ich muß die letzte Rechnung machen.« »Will's Gott, nicht! Ich hab' viel, viel noch gutzumachen an dir. Bisher war ich nur die Predigerin, aber ich hatte nicht Liebe, Demut und Billigkeit neben der strengen Wahrheit. Du warst nur trotzig gegen mich Stolze, nicht schlecht.« »So ist denn das doch wahr«, sagte er demütig. »Zuzeiten hab' ich das auch geglaubt. Aber ich wollte schlecht sein aus Hochmut und solchen zum Trotz, die doch nichts Gutes mehr von mir erwarteten. Ja, diese Erfahrung hat mir weh getan, und ich mußte sie mit Gewalt vergessen, ertränken. Drum ging mir Dorotheens Freundlichkeit so tief ins Herz und war wie ein Strahl aus dem Himmel! Aber im unreinen Gefäße wird alles Wasser trüb. Sogar dieses Glücks hab' ich mich unwert gezeigt. Ich war damals schon zu weit.« »Oh, vergib mir, daß ich dich so weit getrieben, statt dir dein Haus lieb, zu einem Tempel zu machen!« »Und du mir auch!« bat er. Der nun eintretende Pfarrer traf die beiden Hand in Hand. »Es freut mich, daß das Wichtigste und Schwerste schon vorüber ist«, sagte er freundlich. »Nicht das Schwerste«, widersprach der Kranke, »mir ist lang nie so wohl gewesen innerlich als jetzt. Der Friede mit sich und der Welt tut einem so wohl, daß man sogar sein spätes Kommen nicht mehr bedauern kann.« Der Pfarrer schickte Angelika, deren Schmerz in heiße Tränen zu schmelzen begann, zum Zimmer hinaus, um dem Kranken seine Beichte abzunehmen. Es war die höchste Zeit, denn immer seltener kehrte ihm das volle Bewußtsein zurück. Angelika aber galten diese Augenblicke für die wichtigsten ihres Lebens. Mit ihm glaubte sie an die geheimnisvolle Pforte getreten zu sein und läuterte sich von mancher Kleinlichkeit an dem auch sie furchtbar brennenden Schmerz der immer wachsenden Entzündung, der der Arzt vergebens wehrte. Am dritten Tag verkündete die Glocke das Ende seiner Leiden. Mit ihm wurden die aus dem Schutt gefundenen Gebeine des Krämers beerdigt. 26. Kapitel Sechsundzwanzigstes Kapitel Schluß Am folgenden Sonntage, an welchem Zusel neben Stighansen die ganze Verwandtschaft auf beiden Seiten zu einer Hochzeit einzuladen gedachte, wie man sie noch selten erlebt haben sollte, ging sie unter dem weißen Schleier der Leidtragenden mit brennender Kerze hinaus auf das Grab ihres wahrhaft geliebten Vaters. Neben ihr auf der Bank, welche das Weihwasserbecken trug, kniete die ältere Schwester und betete für ihren Gatten. Noch als nirgends mehr ein Kirchgänger zu sehen war, knieten sie stumm nebeneinander. Angelika konnte wenigstens doch weinen. Seit sie und Andreas in demütiger Selbstbeschuldigung sich die Hände reichten, war ihr Herz leichter geworden. Zusel aber fand noch keinen Gedanken, der die Tiefgebeugte nur ein wenig erhoben hätte. Bleiern und unbeweglich lastete auf ihr die Untat des Vaters und sein trauriges Ende. Sie, die früher, wo es angeblich Hansens und Dorotheens ewiges Heil galt, schon fast in den Ruf einer Betschwester kam, sie fühlte sich nun von den ihr eingegebenen Trostgründen der Religion fast noch mehr als von jeder anderen Vorstellung gequält. Die Unglückliche hatte, wenn auch sich selbst unbewußt, im vertrauten Umgange mit ihren frommen Freundinnen die Überzeugung gewonnen, welche der Krämer schon aus dem zuletzt plötzlich entstandenen Unfrieden des Elternhauses mitnahm und später fast immer als maßgebend gelten ließ – nämlich die, daß fromme Worte für die erwachsenen Kinder soviel seien als für die kleinen die Erinnerung an den heiligen Klaus oder an den heißen Rollhafen im Fegfeuer. Wer solche Worte brauche, wolle nur selbst einen Vorteil daraus ziehen. Zusel war ihrem Gotte nie ferner gewesen, als da sie so häufig von seinen Geboten redete. Da kam der letzte Montag und predigte der kalt und hart Gewordenen furchtbar eindringlich von einer gerechten Vergeltung. Auch da wieder nahm Zusel wie eine rechte Betschwester vor allem den Rosenkranz zur Hand, aber sie fühlte bald, daß ihr eigenes nun erwachtes Gewissen weniger leicht als ihre Nachbarschaft zu täuschen sei. Sie wagte nicht mehr zu beten. Jeder fromme Trostgedanke traf das tiefwunde Herz wie ein neuer Stich. Auch hier auf dem frischen Grabhügel betete sie nicht. Trockenen Auges starrte sie unverwandt auf die beiden Kreuze, bis sie hinter sich ein schwaches Hüsteln zu hören meinte. Schnell drehte sie sich um, während Angelika ganz ruhig blieb und nichts zu merken schien. Bleich und zitternd lehnte das Mathisle drüben an der Kirchenmauer. Es verließ jedoch seinen Platz und kam dem Grabe näher, sobald es sich bemerkt sah. Ein kalter Schauer durchrieselte das Mädchen beim Anblick des Mannes, dessen Kindern durch sie und den Vater so viel Unrecht angetan war. Ihre früher ganz guten Gründe dafür wollten sie nicht mehr beruhigen. Lange rang sie mit sich, bis ein Wort der Anrede gefunden war. Es paßte zwar noch nicht recht, aber es mußte nun einmal etwas gesagt werden. »Du hast wohl noch kein Seelenalmosen erhalten?« begann sie mit möglichster Ruhe. »Man denkt im Schrecken über solche Todfälle nicht mehr an alle die Armen, die man dann den Verstorbenen zu Hilf' und zum Trost als Fürsprecher bei Gott gewinnen möchte. Nun klage nur nicht, daß du nicht mit dem Haufen abgefertigt worden bist. Heute mittag kommst du hinauf, und du wirst zufrieden sein.« Noch selten hatte Zusel sich zu etwas Gewalt antun müssen wie zu diesen Worten. Jetzt aber belohnte sie das Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, und es ward ihr schon etwas leichter. Sie hatte die Mittel, dem armen Vater gegenüber manches noch gutzumachen, und der Vorsatz, es auch zu tun, gab ihr wieder Selbstgefühl und Kraft. Das Mathisle hüstelte noch einmal, dann sagte es, um ein Seelenalmosen tät es freilich bitten, aber um eines, das man ihm auch da gleich geben könnte; Verzeihung möchte es, daß es doch wieder einmal ruhig leben und schlafen könnte. Und nun wurde des langen erzählt, wie und warum es des Himmels Strafrute dem Krämer gewünscht und Gott schon durch einen der älteren Tochter abgezwungenen Eid und auf andere Weise gleichsam zum furchtbaren Strafgerichte gezwungen habe. Das Mathisle behauptete so bestimmt, an dem ganzen Unglück schuld zu sein, daß auch die aufmerksam gewordene Angelika zu erschüttert war, um gleich ein Wort zum Widerlegen und Beruhigen zu finden. Zusel war mit dem Gehörten vollkommen einverstanden. Mit bebender Stimme lud sie den Mann zum Essen ein, dem so großes Unrecht angetan war, daß der Himmel seinen bösen Wunsch erhörte. Wohl sah sie jetzt in ihm den Mörder des geliebten Vaters; aber sie fand auch den besten Trost darin, ihm Gutes zu tun und seinen Dank zu verdienen, den sie wie den Segen der Versöhnung empfand. Wäre das Mathisle nicht auch in der Folge noch zu sehr von seinem Gewissen beunruhigt worden, um sich an Zusels reichlichen Geschenken recht zu freuen, die es von diesem Tag erhielt, so würde dieses jetzt die beste Zeit seines Lebens gehabt haben. Sein Lieblingswunsch war erfüllt. Es konnte von fremdem Überflusse leben, aber keinen Augenblick war ihm dabei recht wohl. Jeden Tag kam es ins Haus des Krämers, nachdem es der Messe beigewohnt hatte, und blieb oft bis gegen Abend sitzen. Wenn auch es und Zusel nichts Gemeinsames zu haben schienen als ihr unruhiges Gewissen und das, daß sie den Tod des Krämers nicht mehr vergessen konnten, wenn sie sich auch eher fürchteten als liebten, war es ihnen doch Bedürfnis geworden, einander stets Liebes und Gutes zu erweisen, um sich gegenseitig zu überzeugen, daß das Vergangene allerdings nicht vergessen, aber doch vergeben sei. So kam man sich immer näher. Das Mathisle wurde sozusagen Zusels Vertrauter. Sie teilte ihm bald auch ihre häuslichen Sorgen mit; hauptsächlich, daß Angelika das vom Vater hinterlassene Durcheinander mit allem Fleiß nicht zu entwirren vermöge. Das Mathisle begann seinen Hansjörg und auch den Jos zu empfehlen, die als frühere Gehilfen sicher in manchem Bescheid wüßten. Klüger und fleißiger nun wäre Jos, das wisse jetzt die ganze Gemeinde und auch der Vorsteher, aber eben darum sei dem schon so viel übergeben, daß er, wie gern er auch überall aushelfe, doch nicht so leicht Zeit haben werde als Hansjörg, der wenig anzufangen wisse, seit er an jenem Abend mit Jos das Schwärzen abgeschworen habe. Es kam auch wirklich bald dazu, daß Hansjörg von den beiden Schwestern als Geschäftsführer angestellt und bevollmächtiget wurde. Zusel hatte schon Mathisles erste Andeutung für einen Wink des Himmels gehalten, wie sie dem viel leicht durch ihre Schuld herabgekommenen guten Burschen wieder helfen und Gelegenheit geben könne, seine Fähigkeiten zu zeigen und sich schnell wieder zu Ehr' und Ansehen zu bringen. Hansjörg sollte, mußte glücklich werden, darum war es ihr mehr zu tun als um das Ordnen von Geschäften, um die sie sich nie viel gekümmert hatte. Angelika hätte sich anfangs, wo das beständige Zählen und Rechnen gar nicht zu ihrer Gemütsstimmung passen wollte, weit lieber helfen lassen als jetzt, wo sie besonders im Verkehr mit allerlei Menschen das beste Mittel gegen die Schwermut fand, welche sie in müßiger Einsamkeit behalten wollte. Im Geschäfte gab sich's von selbst, daß sie den Spuren folgen mußte, welche der Vater hinterließ. Je mehr sie sich nun in sein Walten auf ihre Weise hineinlebte, desto mehr mußte sie den strebsamen Mann und seine Vielseitigkeit bewundern. Sie mochte sich wohl täuschen, wenn sie zuweilen glaubte, daß sie nirgends besser als in so einen Laden passen würde, denn sonst hatte sie eben die Freude noch nie empfunden, die wohl jede dauernde Beschäftigung auch dem Kummerbelasteten zu gewähren vermag; das aber war gewiß richtig, daß auch ohne Hansjörgs Beistand sie alles gehörig im Gang erhalten hätte. Trotzdem stimmte sie der Schwester freudig bei, sobald diese den ehemaligen Ladenschneider ins Haus nehmen wollte. Ja sie betrieb das nun selbst mit einem Eifer, der beinahe die Sorge verriet, es könnte der jetzt gänzlich unberechenbaren Zusel schon über Nacht wieder anders werden. Angelika dachte dabei an die frühere Neigung, die in beiden immer noch nicht ganz erloschen schien. Vielleicht ... Auf Hansen rechnete Zusel nicht mehr. Der hatte seit jenem Unglücksabend ihr Haus nicht mehr betreten. Aus einem beständigen Zusammenleben konnte doch noch etwas Gesundes für die Gemütskranke erwachsen. Ja, so mußte Zusel wieder geheilt werden ...! Früher würde das Mathisle seine größte Freude gehabt haben, Hansjörgen schon wie den Herrn des Hauses walten zu sehen; jetzt aber war sogar das nicht mehr imstande, die trübe Stimmung zu vertreiben, die seiner sich nun immer mehr bemächtigte. Wenn man mit ihm von Hansjörgs schönen Aussichten redete, so wehrte es sich gewaltig und sagte, daß es nicht seinen Sohn auf den Platz des Krämers habe fluchen wollen, wenn es sich schon erfrecht habe, vom Himmel das Verderben dieses Mannes zu fordern. Aus Fluch könne weder ihm noch den Seinen wahrer Segen werden. Es war vergebens, gegen diese Vorstellung anzukämpfen. Sie blieb in dem Unglücklichen, raubte ihm den Schlaf, verdarb ihm jeden Genuß und warf ihn endlich aufs Krankenbett, von dem er nicht mehr aufstehen sollte. Erst der Kaplan konnte dem Leidenden bei seiner letzten Beichte die Überzeugung beibringen, daß nicht sein Fluch, sondern die verfluchten Handlungen an allem Unglück schuld seien und daß der barmherzige Gott nicht so strenge gestraft hätte, wenn nicht auch in dieser Strafe wieder nur lauter Segen wäre. Unmöglich aber war es dem Kaplan, auch die Zusel von ihrer Schwermut zu heilen. Er bemühte sich um so mehr, weil ihre Beichte ihn überzeugte, daß der von seinen Betschwestern gewonnene Einfluß auch auf sie sehr nachteilig gewirkt und deren gemeines Auftreten sie um das volle Vertrauen zu allen gebracht habe, welche mit heiligen Worten auf andere zu wirken suchten. Aber was der verlegene Kaplan auch sagen mochte, sie behauptete, den Ruf Gottes an jenem schrecklichen Abende gehört zu haben in der Sturmglocke und sich daher um Worte der Menschen wenig kümmern zu müssen. Sie wisse wohl, daß sie niemandem recht sei, daß man sie für eine halte, die sich hintersinne; doch sie wisse gerade so gut, daß zu der Zeit, wo sie das getan, was sie jetzt so schmerzlich bereuen müsse, gar allen alles recht gewesen sei. Von den Frommen wäre sie auf den Händen getragen worden, und die, welche doch klüger gewesen als sie, hätten auf ihren Wunsch eine Predigt zustande gebracht, durch die dann die gute Dorothee noch um Ehr' und guten Namen gekommen sei. So hätten es die Menschen, und sie möge schon gar keinen Zuspruch mehr von ihnen hören, seit ihr eigenes Gewissen erwacht sei. So antwortete Zusel dem Kaplan, und dabei blieb sie. Hansjörgs Anwesenheit im Hause vermochte nur wenig zu ändern. Angelika glaubte freilich bei der Schwester noch die alte Neigung zu gewahren, aber auch daß Zusel sie wie etwas recht Sündhaftes mit aller Kraft bekämpfte. Hansjörg schien sich auch darum nicht mehr besonders viel zu kümmern. Er lebte ganz nur im Geschäft und für die Seinen, zu denen er auch den Jos mit Stolz zählte. Die beiden verkehrten täglich miteinander und führten auch manche Neuerung im Laden ein, der ihnen gänzlich überlassen war. Auch Hansjörgs jüngere Schwester Marie, die seit dem Tode des Vaters ebenfalls hier im Hause war und neu aufzuleben begann, tat dabei, was sie nur konnte. Es war den beiden Burschen gelungen, ihre ganz besonders zierlichen Stickereien viel vorteilhafter als bisher zu verwerten, und schon erlebten sie die Freude, daß auch andere Mädchen zu so kunstvoller Arbeit sich mehr Mühe und Zeit kosten ließen. Auch Weber und andere Handwerker hatten wohl nie so viel zu tun gehabt wie jetzt. Hansjörg hörte stets auf den Rat seines Freundes, und Jos wußte zu gut, wie einem armen Handwerker zumute sei, um nicht dafür zu sorgen, daß das Geld und der gute Verdienst so viel als möglich in der Gemeinde bleibe. – – Des Frühlings lieblich duftender Odem hauchte wieder allen Wesen neues Leben ein. Das war ein Rauschen und Jubeln, ein Singen und Flüstern, als ob es immer und überall Sonntag wäre. Die Welt schien ganz neu geworden. Sogar die Berge ringsum trugen Blumensträuße und schauten freundlich ins Tal herab, wo die Menschen fröhlich ihre Feldarbeit begannen. Auch Angelika war im Freien, sooft es die ihr von der Schwester ganz allein überlassene Hausarbeit erlaubte. Sie wand Kränze aus den Blumen, die ihr Margretle jubelnd zusammentrug. Wehmütig dachte sie an die eigenen Kinderjahre und wie sie da neben Hansen spielte. Dann aber mußte gleich wieder eine Arbeit ersonnen werden, daß man vom Platz und auf andere Vorstellungen kam. Zusel war die alte geblieben. Sie schien keine der sie umblühenden Blumen zu sehen als die, welche sie auf des Vaters Grab gepflanzt hatte. Auf dem Friedhof, und nur dort, mußte man sie suchen, wenn sie nicht zu Hause war. Im Sommer wurde das etwas anders. Man riet ihr, den Laden und alles aufzugeben, da doch nicht viel Gewinn dabei sei, wenn alles durch fremde Hände gehe. Dieser Rat kam von einigen geizigen Basen, denen das gemeinnützige Walten der beiden Burschen mißfiel, obwohl es dem Geschäfte nur Vorteil brachte. Es traf Zusel um so schmerzlicher, weil sie darin einen Vorwurf empfand, daß sie auf so ein Geschäft, wie das, welches der Fleiß ihres Vaters errichtete, gar nicht passe, sondern eher in irgend einem abgelegenen Neste das alte Bäschen spielen sollte. Sie sagte kurz, daß sie den Hansjörg nicht mehr aus dem Hause schicke, wenn sie ihm auch gar keine Arbeit hätt' und er nur noch essen und vergessen müßte. Diese Antwort weckte nun um so eher die Vermutung, das Mädchen denke noch an eine Heirat mit dem Burschen, weil es als ausgemachte Sache galt, daß sonst wohl nicht mehr der hundertste des Krämers Töchtermann werden möchte. Zusel ging von jetzt an etwas weniger selten in den Laden als bisher. Hansjörg und Angelika glaubten damit schon viel gewonnen und gaben sich alle Mühe, sie nun auch in Verkehr mit der immer zahlreicheren Kundschaft zu bringen. Das aber war nicht möglich. Wenn sie auch einmal etwas half, so war ihr anzusehen, daß sie die Gedanken bei etwas anderem hatte So stand sie auch an einem Sonntag neben dem Zahltisch und sah dem Hansjörg zu, wie der ein von Angelika gebrachtes Schriftbündel durchsuchte. Es fehlte ihm die Rechnung mit Stighansen, welcher heute sagte, daß er mit dem Heu, welches Jos als Knecht ihm am ersten Tage heimholen half, noch nicht alles ganz im ebenen habe. Davon war nun im Hauptbuche nichts zu finden, die Rechnung mußte daher unter den anderen Papieren gesucht werden. Hansjörg überflog ein Blatt nach dem anderen und schüttelte den Kopf. Endlich kamen nur noch Briefe. Diese sah der Bursche bloß an. Einen jedoch las er ziemlich weit hinein. Die Wangen glühten ihm, und seine Hand zitterte, da er ihn plötzlich in die Tasche schob. »Was machst du?« fragte Zusel. »Diesen Brief braucht kein Mensch mehr zu sehen. Ich will ihn verbrennen.« »Aber er ist mein ...« »Gewiß ... drum darf ich ihn vernichten, wenn du es erlaubst.« »Aber ich erlaub' es durchaus nicht.« »Wenn du mir nicht glauben willst, daß niemand ihn sehen darf, so künd' ich dir gleich den Dienst.« »Ich will ihn erst sehen, er ist mein.« »Ja, das ist er«, hauchte Hansjörg, warf den Brief auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Zusel entfaltete den Bogen und sah mit Staunen die eigene Handschrift. Ein schwerer Seufzer verriet, daß sie den Inhalt schon wußte. Regungslos stand sie da und starrte nur die zierlichen Buchstaben an. »Was habt ihr denn?« fragte Angelika näher tretend. »Was wir haben?« fuhr Zusel auf, während eine unnatürliche Röte ihr blasses Gesicht überflammte. »Unser verratenes, verkauftes Lebensglück sehen wir in seiner Schöne. Diesen Brief hab' ich an Hansjörg geschrieben. Er aber hat doch noch nicht an mich geglaubt, hat gewähnt, die Zusel verzweifle so bald als er. Der Elende redete von Liebe zu mir und empfand nicht, wie stark sie macht. Er glaubte schon alles verloren, da er mir nicht mehr vorschwätzen konnte, und doch redete mein Herz für ihn. Aber er hielt auch des Herzens Sprache nur noch für Geschwätz und verkaufte nur aus Eitelkeit und dummem Trotz diesen Brief mit ein paar anderen um einige Gulden an meinen Vater. Nun hört, ob er nicht etwas wert war! Er fängt an: ›Innigstgeliebter, Unvergeßlicher!‹« »Um Gottes willen, hör' auf«, bat Hansjörg, welcher, schon durch die unbestreitbare Einleitung tief getroffen, wie vernichtet auf seinem Stuhl saß. Zusel aber las: »Von mir bist du noch nicht fort, überall hab' ich dich bei mir. Ich fürchte nicht einmal, du werdest mich vergessen in der weiten Welt draußen. Ich merke, wie schwer man das kann, und du wirst mir drum glauben.« »Ja«, unterbrach sich das Mädchen, »für dich, wie du warst, ist nun das freilich kein Trost und vielmehr ein Absagebrief gewesen. Hier steht noch deutlich: ›Du brauchst nur an das zu denken, was du an meinem Platze tun würdest.‹« Das Mädchen schwieg. Es erschrak selbst über sein strenges Gericht. Die anfängliche Aufregung wich einer milden Stimmung, und es klang eigen weich, als es, mehr sprechend als lesend, fortfuhr: »Der Vater ist freilich gegen dich, und wie er es nimmt, hat er auch recht. Ich weiß, er meint es immer gut mit mir. Ich hab' ihn auch gern und könnte für ihn durch ein Feuer ... aber in diesem Stück ...« »Nein!« schrie das Mädchen plötzlich, daß es allen durch Mark und Bein ging, und zerriß den Brief. »Ich kann das nicht mehr lesen, denn mir fehlt die Kraft, welche mir die Liebe gab.« »Du strenge Richterin«, begann Hansjörg kaum hörbar, »ich kann mich nicht einmal entschuldigen, da du mich schon durchschaut hast. Ich armer, elender Tropf sah damals in dir nur das reiche, launenhafte Mädchen. Erst als ich wiederkam im letzten Herbst, hat eine wahre Neigung mich recht unglücklich gemacht.« »Und ich hab' nach dem Osterfest im vorletzten Frühling, wo der Vater mir von deinem Streich erzählte, wohl jeden Tag und jede Nacht daran gedacht, um recht bös auf dich zu werden. Ich hab' es auch so weit gebracht, daß ich dir Schlimmes wünschte. Ja, fast nur dir zum Possen hab' ich anfangs den Stighans zu fangen gesucht. Jetzt aber hab' ich dir – ich will dir verzeihen.« »So gefällt es mir«, sagte nun Angelika. »Jetzt ist von früher alles klar, und jetzt wird euerer Neigung niemand mehr im Wege sein.« »Gewiß ist niemand ärger dagegen als ich selbst«, antwortete Zusel. »Einmal hielt ich sie nur noch für Mitleid. Ich bat ihn zu uns, nur um ihm Gutes zu tun, aber sein Fleiß verdient ja mehr, als ich ihm gebe.« »So laßt jetzt um Gottes willen die alten Rechnungen und denkt einmal an die Zukunft!« »Ich hab' schon daran gedacht.« »Und –?« »Meinen Plan gemacht.« Das war nun einmal ein gutes Hören für Angelika, die Freude leuchtete ihr aus den Augen, während sie, der Antwort schon ziemlich sicher, lächelnd die Vermutung aussprach, sie werde wohl den guten Hansjörg noch einige Jahre mit ihrer Wunderlichkeit plagen, jeden Tag seine Geduld auf die Probe stellen und dann am Ende – »Ich geh' in ein Kloster!« sagte das Mädchen so leidenschaftlich, wie es noch selten auch den boshaftesten Bemerkungen widersprochen hatte. »Ins Kloster?« fragte Angelika noch fast erschrockener als Hansjörg. Zusel war selbst erstaunt über das, was ihr da die Begierde zu widersprechen oder ihr Unmut oder der Heilige Geist eingab. Sie sann darüber nach, und es war, als ob schon dieses Wort sie von vielem erlöst habe. Das war nicht nur ein Schreckschuß. Ja, das war für sie, die alles schief ansah, die auf der Welt keine Ruhe, keinen Genuß mehr hoffte, und auch für die arme Seele des Vaters das beste. Rasch entschlossen richtete sie sich so stolz und trotzig auf wie früher. Dann aber sah sie den Hansjörg auf seinem Stuhl und sagte nun etwas unsicher: »Ja, Hansjörg, ins Kloster, denn dort hab' ich viel zu tun, und hier wird mich wohl niemand mangeln.« Der Bursche schwieg. Angelika dagegen sagte: »Du hättest auch hier noch viel zu tun. Gott sieht es gewiß lieber, wenn wir das, was seine Güte verliehen hat, zum eigenen und zum Wohle des Nebenmenschen brauchen, als wenn wir alles in ein Kloster vergraben. Hansjörg weiß nicht mehr, was er sagen soll, ich aber sage: Durch dein sonderbares Wesen hast du euch beiden eine schöne Zukunft verdorben.« Vielleicht ärgerte dieser Vorwurf das Mädchen weniger, als daß Hansjörg schwieg, aber Angelika mußte nun doch dafür büßen. »Ich verderbe gar nichts mehr«, sagte sie. »Er denkt nicht so schnell ans Heiraten und ich auch nicht wie du. Sonst aber wären wir schon selber eins worden und hätten keine Kupplerin gebraucht. Ich seh' es euch an, daß ihr mich nicht mehr versteht, höret drum, wie wunderlich die Zusel ist. Die Geschichte mit den Briefen wär' noch unsere Sache, doch es steht auch anderes zwischen uns. Um uns zu trennen, hat der Vater wohl in ganz guter Absicht alles aufs Spiel gesetzt und ist unglücklich worden vielleicht an Leib und Seele. Gewiß, er hätte noch im Grab keine Ruh, wenn das alles nun gar nicht mehr geachtet würde.« Angelika meinte: »Im Fall, daß das aber eine Ungerechtigkeit gewesen sein sollte, wär' der Vater gewiß froh, wenn sie nun aufhören tät.« »Ungerechtigkeit! Für mich ist's geschehen, und wenn er fehlte, muß er für mich büßen. Soll ich nun jubeln und tanzen auf seinem Grab? Sollen wir beide vor Gottes Altar ihm zurufen mit unserem Ja, daß sein Tod uns recht glücklich und selbherr gemacht habe?« »Ja, du hast recht«, sagte Hansjörg feierlich. »Jetzt versteh' ich dich einmal wieder, und wieder bist du größer, besser, als ich mir vorstellen konnte. Deine Opferwilligkeit für die Deinen soll mir immer ein Beispiel sein. Auch ich will ihnen leben und früheres Versäumnis einbringen. Nicht beten, aber handeln kann ich für sie – und, nicht wahr, auch das ist schön?« »O gewiß!« rief Zusel begeistert, und indem sie dem Burschen die Hand reichte, setzte sie bei: »Du bist und bleibst mein Bruder!« »Aber«, warnte die ältere Schwester, »bedenkt noch, was ihr tut! Ins Kloster führen viele Wege, heraus nur noch der ins Grab. Jedermann, sogar der Pfarrer, wird gegen diesen Schritt sein.« »Ich kenne sie«, versetzte Zusel heftig, »sie, die einem immer aus- oder einreden wollen, und ich hab' oft gesehen, warum sie das tun. Du brauchst mich ja nicht so zu verkuppeln, den Stighans laß ich dir freiwillig, wenn du den bekommst, und will ihn dir von Herzen gönnen.« In ihrer Aufregung hatten alle drei nicht bemerkt, daß die Ladentür sich langsam öffnete. Erst jetzt sah Angelika den Letztgenannten in Lebensgröße hart neben ihr stehen, und einen lauten Schrei ausstoßend, eilte sie ins Nebenzimmer. Noch nichts tat ihr so weh wie dieser Vorwurf der Schwester. Litt sie nicht schon sonst genug an dieser unglücklichen – Liebe? Und hatte sie nicht gerade darin Trost suchen wollen, wenigstens die Schwester glücklich zu machen? Hans kam seit jenem Unglücksabend nie ins Haus, und gerade heute nun mußte er kommen. Ihr Gesicht glühte, während sie in ihr Zimmer eilte und hinter sich die Türe schloß. Auch Zusel hatte sich, ohne noch ein Wort zu sagen, sofort aus dem Laden entfernt. Hansjörg, wie sehr ihm auch die unterbrochene Unterredung noch im Kopfe war, hatte doch noch genug Fassung wiedergewonnen, um dem Angekommenen, bevor dieser zum Worte kam, die Mitteilung zu machen, daß die Rechnung nicht unter den vorhandenen Schriften und wahrscheinlich mit der Brieftasche des Krämers im Feuer zugrunde gegangen sei. »Dann«, sagte der Bauer, »ist's doch gut, daß ich die mitnahm, die mir Jos geschrieben hat.« Hansjörg begann mit gewohnter Sorgfalt nachzuzählen, während Hans über die beim Hereinkommen von Zusel gehörten Worte nachdachte. – Gleichgültig warf er die auf dem Blatt stehende Summe hin und fragte dann, welche Zimmertür Angelika vorhin so gewaltig zugeschlagen habe. Hansjörg machte sogleich den Führer, wobei er behauptete, daß auch geschlossen worden sei. »Wer ist denn im Hause?« fragte Hans. »Niemand Fremdes als du.« »Dann hat sie meinetwegen geschlossen.« Hansjörg schwieg. »Nun, sie soll auch meinetwegen wieder auftun.« Das war bereits geschehen, aber jeden Augenblick wollte sie wieder schließen. Bald wünschte, bald fürchtete sie sein Kommen; dann sagte sie traurig: »Er kommt nicht«, und als sie seinen Tritt auf der Stiege hörte, hätte sie den Gang von dort bis zur Türe wenigstens eine Stunde lang wünschen mögen, um sich noch zu besinnen, ob sie schließen sollte oder nicht. Fest und sicher trat Hans herein, setzte sich aufs Kanapee neben das bebende Weib, und kurzweg, als ob sie täglich beisammen wären, fragte er, was vorhin da drunten verhandelt worden sei. »Zusel will nun gar noch in ein Kloster. Ich aber möchte das ihr ausreden. Es kommt mir vor, ob doch noch eine Versöhnung zwischen ihr und Hansjörg möglich sei. Sie wird mit der Zeit, will's Gott, wieder anders denken lernen, und dann – –« »Das ist ein Abweg«, fiel Hans ein, »mach's nur kurz und gut! Du sprichst ihr also gehörig zu – nun – und dann?« »Dann heißt sie mich eine Kupplerin, und doch weiß Gott im Himmel –« »Aber der Tausend! Was sagte sie noch?« »Sie möge gar nicht heiraten, auch dich nicht.« Eine Minute war alles still im Zimmer, dann sagte Hans: »Du wirst doch nicht halb und falsch gegen mich sein?« Angelika richtete sich stolz auf, und ihr Blick begegnete dem des Burschen so frei und offen, wie seit langer Zeit nicht mehr. Jetzt gleich sollt' er die ganze Rede wörtlich hören, dieser Entschluß war ihr anzusehen. Aber es ging nicht und ging nicht. Aus war es plötzlich mit aller Selbstbeherrschung, und ihr Erröten an seiner Brust verbergend, flehte sie: »Du hast es schon gehört – und gelt, du plagst mich doch nicht mehr damit, es noch einmal zu sagen?« »Ich weiß davon, daß sie mich dir geschenkt hat. Ich hab' das auch nicht ungern, wenn du mich nur willst.« Angelika schob sanft den Arm weg, der sich um ihren Hals legte. »Wir hätten dieses traurige Spiel nicht noch einmal anfangen sollen«, sagte sie wehmütig. »Aber mir ist's heiliger Ernst. Ich hab' nun lange genug nur gespielt und mich Pontius und Pilatus gefügt, hab' lange Predigten gehört und mit mir selber gehadert. Willst du mein Weib werden oder nicht? Wenn nicht – ja, dann freilich hätten wir uns nicht mehr sehen sollen.« »Gelt, Hans?!« Es war das eigentlich gar keine Antwort, aber der Bursche hörte doch schon ein Ja heraus und jubelte: »Also doch noch mein, und es ist kein Traum mehr! Schon einmal hat deine Stimme mich durch die Flammen zu dir gerufen. Schon da ist es mir gewesen, ob ich und du und das Kind zusammengehörten.« »Aber deine Mutter?« fragte Angelika. »Plagen wir uns doch nicht mehr mit dem Alten«, bat Hans, der diese Frage wie einen Vorwurf empfand. »Wir haben schon genug darunter gelitten. Ich bin damals noch ein schwacher, dummer Junge gewesen, du vielleicht zu empfindlich, zu rasch. Das ist nun vorbei, wenn wir es auch vorbei sein lassen und uns darum nichts mehr vorwerfen.« »Das will ich nicht, aber denke, was alles die Mutter jetzt erst gegen mich haben würde.« Hans richtete sich stolz auf und sagte fröhlich: »Wer einmal durchs Feuer ist, fürchtet sich schwerlich vor einem kleinen Hagelwetter. Und bös wird es nicht werden. Sie hat schon alles gesagt, ich fleißig zugehört, wie es einem Sohne Pflicht ist; aber ich hab' nichts gehört, was so stark war wie meine Liebe. Ich hab' alles erwogen, drum komm' ich erst heut'. Bisher geht's gut – und ferner schon auch noch. Die Mutter hat mich überaus gern und will nur mein Glück, das zeigt sich sogar in dem, womit sie mir weh tut. Oh, laß mich jetzt nur machen!« So beinahe wie damals im Bregenzerwalde nur irgendein »anständiges Paar« wären die beiden sogar noch zum Küssen gekommen. Ganz freilich kamen sie nicht dazu, doch auch ohne das fühlten sie sich überglücklich. Ein Wonneschauer durchrieselte den Burschen, als des schönen Weibes weißer Hals willig seinen zitternden Arm trug, während ihr Köpfchen an seinem hörbar pochenden Herzen ruhte. Selbst als er immer ernstlicher vom Heiraten redete, sagte sie nicht mehr viel dagegen, und beim Abschied – es war schon spät – gaben sie sich die Hand darauf, im nächsten Frühling, womöglich neben Jos und Dorotheen, vor den Traualtar zu treten. – – Alles, was jetzt noch zu erzählen bleibt, könnte der freundliche Leser sich leichter selbst vorstellen als das Lächeln der Stigerin, mit dem sie sich, über Hansens Eigensinn staunend, nach einigem Sträuben in ihr Schicksal ergab, nun trotz allem und allem noch Angelikas Schwiegermutter zu werden. »Hans ist nicht mehr der alte, und Nachgeben wird wohl das klügste sein«, sagte sie, sich dabei feierlich verwahrend vor aller Schuld an dem, was daraus entstehen möge. Viel allerdings mochte neben Hansens wahrhaft männlichem Auftreten auch der Kaplan dazu beigetragen haben, daß es so gut ging. Der war jetzt mit den Betschwestern geradeso streng wie der Pfarrer, mit dem er überhaupt im schönsten Frieden lebte und wirkte. Es wurde den frommen Ordensmitgliedern bei jeder Gelegenheit eingeschärft, daß sie ihr Lesen und Beten bloß in der Stille für sich, anderen gegenüber jedoch nur Geduld, Sanftmut, Liebe und vor allem Demut üben sollten. Die Betschwestern murrten freilich über solchen Zuspruch, und solche, die schon beinahe für den Orden gewonnen waren, wollten jetzt nicht mehr eintreten, da man diese Regeln ja jeden Sonntag in der Predigt sattsam hören könne. Jede Betschwester hatte die andere im Verdacht, beim Kaplan das Spiel verdorben zu haben, und gab sich so liebsam, daß es für viele zum Staunen war, um ja selbst für nichts schief angesehen zu werden. Die so entstandene Verwirrung in dem Bunde, dessen Beschlüsse fast jeder Dorfbewohner bisher gefürchtet hatte, wenn er keines Fürsprechers in demselben sicher war, kam nun Hansen und seiner Angelika sehr trefflich zustatten. Die Stigerin hörte fast nur Liebes und Gutes über das Paar, so daß die Sorge um das Urteil der öffentlichen Meinung ihr bald nicht eine Stunde Schlaf mehr kostete. Der Kaplan sorgte Zuseln wider Willen um Aufnahme in ein Kloster, was in Anbetracht ihres hübschen Vermögens nicht viele Mühe machte. Dabei redete er immer noch dagegen, aber alles, was er als untergeordneter Geistlicher sagen durfte, war umsonst. Die Dorfbewohner fast durchweg fanden Zusels frommen Entschluß ganz in der Ordnung, und er trug nicht wenig dazu bei, daß man jetzt das Vergangene gänzlich ruhen ließ, weil man alles gesühnt sah. Überall kamen die Leute jetzt dem guten Mädchen, in dem sie schon ein höheres Wesen erblickten, mit scheuer Freundschaft entgegen und baten sie um ihr Gebet. So wurde ihr denn der Abschied vom Dorf und vom Bruder Hansjörg noch so schwer, daß sie die Abreise verschob, ohne jedoch den Entschluß aufzugeben, in dem ihr ganzes Wesen wirklich wieder neue Kraft und neues Leben gewonnen hatte. Angelika hoffte darauf umsonst. Eines Morgens war Zusel fort, und auf dem Tische fand sich ein kurzer Abschiedsbrief mit der Bemerkung, daß sie über ihr Vermögen brieflich bestimmen und gewiß auch den Hansjörg nicht vergessen werde. Der Winter – es war ein mehr als halbjähriger – verging den Dorfbewohnern ungewöhnlich schnell, weil Hansjörg, der in der Welt draußen für alles ein offenes Auge hatte, nun in der Lage war und die Mittel besaß, manchen bisher unbekannten Erwerbszweig in der Gemeinde einzuführen. Daß eigentlich Jos die Erinnerungen des weitgereisten Soldaten verwertete, war kein Geheimnis, aber dieser selbst gönnte seinem Freunde gerne die Freude des Erfinders. Das tat ihm wohl und brachte ihn wieder auf neue Pläne, mit deren Ausführung sich dann der Sohn der Schnepfauerin für frühere Unbilden rächte. – – Den Tag, welcher unsere beiden Paare für immer verband, schmückte der Frühling mit aller seiner Pracht und schien noch etwas mehr für dieses Fest besonders aufbehalten zu haben. Vogelsang und Blumenduft drang bis in die Kirche, wo trotz des wunderlieblichen Morgens, der die Bauern zur dringenden Feldarbeit einlud, beinahe die ganze Gemeinde versammelt war. Jos, der jetzt wieder so sicher und aufrecht daherschritt, trug lange fremde Kleider. Hans erschien in kurzen Lederhosen und Kamisol neben der noch halb in Trauer gekleideten Angelika. Dorothee, die Vielgeprüfte, trug das Kränzchen. Es war zum letztenmal, drum trug sie es auch nach Ortsbrauch auf dem weißen Trauerschleier, der wahrscheinlich seinen Tod bedeuten soll. Zu einer lärmenden Hochzeitsfeier waren die beiden Paare nicht aufgelegt. Gegen Abend saßen sie in dem damals recht geräumigen Schopfe des Kronenwirtshauses bei einem einfachen Mahl. Aber wie still es auch, schon der noch immer nicht vergessenen Toten wegen, zugehen sollte, abends war's doch allen recht, daß die Dorfmusikanten mit ihrem fleißigen Kapellmeister vor dem Hause sich aufstellten und ihre lustigen und anmutigen Weisen zu spielen begannen. Hans rief sie fröhlich herein und war glücklich, ihnen viele junge Leute, Burschen und Mädchen, folgen zu sehen. Er schaffte überall zu trinken an und lief selbst, um Gläser zu holen, während Jos für hundert herzliche Glückwünsche dankte und vor lauter Reden kaum noch an den Tisch kam, wo die angesehensten Männer der Gemeinde neben Dorotheens ärmlich gekleideten Verwandten Platz genommen hatten und ungeduldig warteten, bis der kurzweilige Hochzeiter sich mit seinen vielen Freunden abgefunden hatte. Als er kam, stieß der Vorsteher kräftig mit ihm an und sprach dann laut sein Bedauern darüber aus, daß nun wahrscheinlich des Krämers Haus mitsamt dem Laden in ganz andere Hände kommen werde. Die ganze Gemeinde habe sich wohl befunden unter der jetzigen Leitung. Das Häuschen der Schnepfauerin sei wahrhaftig zu eng für so unruhige Köpfe, so daß die leicht noch einmal über die Grenze kommen könnten. Wenn mehrere, die auch etwas vermöchten, gesinnt und gesotten wären wie er, tät man zusammenstehen, um dem Jos mit den Seinen durch Bürgschaft und wie immer auf den Platz zu helfen. Er halte das für eine Gemeindeangelegenheit und habe daher öffentlich davon sprechen wollen. Ein Beifallssturm, der nicht enden wollte, war diesen Worten gefolgt. Hunderte wohl erzählten sich jetzt, daß auch ihnen diese Sorge die Freude des Festes ein wenig verdorben habe. Hans, der aufgestanden war, mußte lange warten, bis es wieder so stille war, daß er glauben konnte, seine kräftige, volle Stimme werde nun doch einigermaßen gehört werden. Dann aber begann der reiche Bauer, während seine Wange sich röter und röter färbte, laut und feierlich: »Ich kann gar nicht gut reden, aber wenn mir einmal etwas auf dem Herzen liegt, – ihr alle wißt es ja – dann muß es mir heraus, und mag man darüber sagen, was man will. Lange schon ist in mir ein Gedanke im Wachsen, der dem des Vorstehers gleicht wie ein Gänseblümchen dem anderen. Heut' nun, wo es doch so wunderbar warm ist und wie ein ganzer Frühling auf einmal, darf man sich nicht wundern, daß er plötzlich reif worden ist. Da der Jos mit der wackeren Dorothee, Hansjörg und alles, was drum und dran hängt, soll und muß im Hause bleiben. Ich will schon bürgen für den Preis, den Zusel fordert. Sie ist gern im Kloster und will dem ein hübsches geben, aber auch uns hat sie noch nicht vergessen. Dem Jos wär' also geholfen, und er muß nicht mehr über die Grenze, damit er sich auch rühren könne; doch wie vielen mag es schon gegangen sein wie ihm und Hansjörg. Behalte drum und allenfalls dem Jos zulieb deinen guten Willen für dich! Versprich mir das! Du wirst sehen, es ist gut angewendet.« Der Vorsteher nickte Hansen beifällig zu. Jos bemühte sich vergebens, ein Wort hervorzubringen, aber auch die beste Rede wäre nicht gehört worden im Jubel der Menge, die sich mit ihrem Lieblinge geehrt fühlte. Dorothee hatte große Tropfen in den schönen Augen, und die Goldfäden in ihrem Kränzchen zitterten fort und fort. Angelika wollte Hansen sagen: »Wenn Zusel diesen Tag noch hier mitgelebt hätte, wäre sie gewiß nicht mehr ins Kloster«; Hans aber hörte nichts in dem fröhlichen Lärm und verstand nur ihren dankbaren Blick. Auf einmal, man wußte nicht, wer den Anfang machte, standen die zwei Paare auf und reichten sich die Hände. Lange hielten alle viere sich fest, die Musikanten begannen ein lustiges Stück zu spielen, und ohne daß jemand nach polizeilicher oder anderer Bewilligung fragte, tanzte ein Paar nach dem anderen um die Brautleute und den Tisch herum. Endlich hörten die Musikanten auf. Die jungen Leute ruhten, und jetzt konnte man wieder ein Wort reden. Das wollte nun aber auch alles benützen, um seinem Herzen Luft zu machen. Sogar Hansjörg, der anfänglich etwas still war, plauderte vertraulich mit der alten Stigerin, und sein Auge, ja sein ganzes Gesicht leuchtete, während er sagte: »Alles ist recht gekommen und auch gut, daß es wohl die Kämpfe wert ist und die Leiden, die es gekostet hat.« »Freude am Glück anderer ist doch auch Freude«, sagte die Stigerin in einem Ton, so herzlich, wie man's gewiß von ihr nur selten hörte. Und die arme Schnepfauerin, die man vor vielen, vielen bösen und guten Jahren gleichsam da hereingeschmuggelt hatte, wie still und selig saß die Demütige dort an der Tischecke grad' im Schatten des wohlbeleibten Gemeindevorstehers, und ihr Herz wollte doch beinahe springen vor Freude, da dieser mit ihrem Jos anstieß auf eine Zukunft, so glücklich, wie er und sein wackeres Weib es verdienten. Oh, schon das war dem guten Mütterlein zuviel, viel zuviel! Es ward ihm angst vor so hoher Ehre, so großem Glück. Und nun kam auch noch des Vorstehers Antrag, Hansens Rede, und dann standen sie Hand in Hand, die schönen kräftigen Gestalten. War's nicht ein Traum? Hatte nicht ihr Geliebter sie in den Himmel geholt? Nein, auch die Welt konnte so viel geben! Die arme aus der Heimat Verstoßene kam sich jetzt hier fast noch fremder vor als damals. Hatte sie denn das verdient? Wunderbarer, gerechter, heiliger Lenker aller Schicksale! Ja, der hatte geholfen, daß sie nun ihren armen Jos als den Liebling aller gefeiert sah. Wie gönnte sie ihm das, und doch schwindelte ihr auf dieser Höhe! Fast wollte sie zaghaft werden und kleinmütig, aber ein Blick schon in des Lieblings funkelndes Auge gab ihr die feste Zuversicht, daß er das alles noch verdiene und daß noch gar nicht zuviel geschehen sei. O wie gern hatte sie den Lärm, der ihr nun doch laut zu jubeln, zu beten und zu weinen erlaubte! Sie hielt sich für ganz unbeachtet, aber nach dem Tanz, als man wieder sprechen konnte, wendete der Gemeindevorsteher sich um und ließ etwas Licht auf sie fallen. »Stoß an, Schnepfauerin!« rief er, fröhlich das Glas erhebend. »Und nun sag' mir«, fuhr er nach einem herzhaften Schluck fort, »ob du nicht das Heimatsrecht noch in aller Form bekommen habest? Man sollte halt keinen Menschen ganz wegwerfen aus Gewinnsucht oder vorgefaßter Meinung; denn was er wird, kommt viel auf andere an. Dein Jos da, der herzhafte, fleißige, belesene Sappermenter, hat sich nun einen Heimatschein in viele Herzen geschrieben. Er lebe hoch!« »Hoch! hoch! hoch!« scholl es von allen Ecken. Jetzt aber konnte, mußte Jos reden. »Was ich getan hab' – und so ein armer Tropf kann wenig –, ist zum großen Teil auch aus Hochmut geschehen«, rief er aus. »Tag und Nacht hab' ich geschafft und mich neben der Sorge fürs Brot um alles und jeden angenommen; aber viel geschah wieder nur, damit man sehe, wer in mir geschimpft und verhöhnt worden sei. Aber jetzt – o wie geht mir das Herz auf! Was für einen Schatz von Liebe gibt mir dieser Tag! Einen Schatz, mit dem sich das Vergangene wettmachen, dann aber auch die ganze Zukunft davon zehren läßt. Ja, dieser Tag macht mich zu allem stark.« »Dieser Tag«, sprach feierlich der Kaplan, den man bisher nicht beachtet hatte, »wird hoffentlich nicht nur unseren Gefeierten ein Segen fürs ganze Leben sein. Wir alle, reich und arm, wie wir eben sind, freuen uns gemeinsam mit gleicher inniger Freude, wie das gewöhnlich nicht auf Hochzeiten vorkommt, sondern bloß da, wo alles durch irgendwelches Ereignis eine schwere, drückende Last abgeworfen, etwas Wichtiges, Folgenreiches gewonnen fühlt. So ein Gewinn, wie der dieses Tages, ist für uns die Erkenntnis des hohen Menschenwertes und ein Funken christlicher Liebe. Wo diese fehlen, ist auch der Reiche recht, recht arm, und der Arme ist es dreifach; wo sie aber sind, ja, da kann man gewiß nicht bloß bei einem äußeren Anlaß, sondern ganz von selbst und jeden Tag ein Fest feiern.«