Gleim an Göckingk Halberstadt, den 2. November 1781. Abends. Du Lieber! der die Menschen lehret, Vergnügt zu seyn in Gott, und sich! Und den nicht Einer singen höret, So lauschend, und so froh, als ich! Was machst du? Singst du neue Lieder Den Nymphen an der Zorga vor? Hört Chloe zu? Sind Musenbrüder Bei dir? Ist es das Musenchor? Wüßt' ich's, o Freund, ich flöge, flöge Noch diesen Abend spät, zu dir! Ich faßte dich beim Arm, und zöge Mit deinen Musen dich zu mir! Versteht sich, wenn die neuen Lieder Gesungen wären, morgen früh – Und Abends, spät erst, wär' ich wieder In meiner Closterzelle, die Mit Kaiser Nero's goldnen Sälen 1 Ich nicht vertauschte. Sorgen quälen In meiner Closterzelle mich Nur manchen Tag, wenn Herzen fehlen, In die mein Herz, wenn's voll ist, sich Ergießen kann. In Nero's Sälen, Und wär' ich Uz auch, würden sie, Glaub' ich, mich alle Tage quälen. Erfahrung lehrt's; ich habe nie Ein hohes Dach, ein prächtig Haus Von Sorgenschwärmen leer gefunden, Die meisten oft bei einem Schmaus. Und, Lieber, ohne Zweifel hast Auf deinen Reisen in den Stunden Der Muße, wenn von Hirsch und Hunden Zurück du warest, halb geschunden, Auch du derselben wohl gefunden In einem fürstlichen Pallast! Und also, weil Erfahrung lehrt, Daß eben in die goldnen Säle Die Freude nicht war eingekehrt, So tausch' ich nicht! Die kleine Kehle Der Virtuosin Philomele Hör' ich so gut, bei meiner Seele, Das kleine Ding hör' ich so gut In meinem kleinen Sanssoucis, Als Friederich sie hören thut In seinem großen! Also zieh, Mein Göckingk, weiser Biedermann! Den alten Reiserock nur an! Und komm gegangen, komm geritten, Daß ich mein Herz in deines schütten, Und dich nach Königen in Hütten, Und meinem Bodmer fragen kann. Fußnoten 1 Man nannte den goldnen Saal des Kaisers Nero, domus aurea, das goldne Haus. Die zirkelförmigen Bewegungen der Seitenwände dieses Saales, und die Decken desselben, ahmten die Bewegungen des Himmels nach, und stellten die Jahreszeiten vor, die bei jeder Schüsseltracht sich veränderten, und den Frühling über die Gäste mit einem Regen von Blumen und Spezereyen ausbreiteten. – Ut subinde alia facies atque alia succedat, et toties tecta, quoties fercula mutentur. Coenationes laqueatae tabulis eburneis versatilibus, ut flores ex fistulis et unguenta desuper spargerentur. Seneca. ep. 90.