Ivan Aleksandrovič Gončarov Oblomow (Oblomov) Erster Teil Erstes Kapitel Erstes Kapitel In der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa. Er war ein etwa zweiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und angenehmem Äußern, mit dunkelgrauen Augen, die über Wand und Zimmerdecke sorglos streiften und jenes unbestimmte Sinnen ausdrückten, welches darauf hinwies, daß ihn nichts beschäftigte und nichts beunruhigte. Die Sorglosigkeit ging vom Gesicht auf die Stellung des ganzen Körpers und selbst auf die Schlafrockfalten über. Manchmal trübte sich sein Blick durch einen Anflug von Müdigkeit oder Langeweile. Aber weder die Müdigkeit noch die Langeweile konnte von seinem Gesicht auch nur für einen Augenblick die Weichheit vertreiben, die der herrschende und grundlegende Ausdruck nicht nur seines Gesichtes, sondern seiner ganzen Seele war. Diese Seele leuchtete hell aus den Augen, dem Lächeln und einer jeden Kopf- und Handbewegung. Ein flüchtig beobachtender, teilnahmsloser Mensch würde Oblomow nur im Vorübergehen anblicken und sagen: »Das ist gewiß ein guter, einfacher Kerl!« Ein tieferer und teilnehmenderer Mensch würde sein Gesicht lange betrachten und dann lächelnd, in angenehmes Sinnen vertieft, weitergehen. Ilja Iljitschs Gesichtsfarbe war weder rot noch dunkel, noch ausgesprochen blaß, sondern unbestimmt, und sie erschien vielleicht deswegen so, weil Oblomow, gar nicht im Verhältnis zu seinem Alter, aufgedunsen war: sei es aus Mangel an Bewegung oder an Luft oder vielleicht an beidem. Überhaupt erschien sein Körper, nach der matten, zu weißen Färbung des Halses, den kleinen weichen Händen und den schlaffen Schultern zu urteilen, für einen Mann zu sehr verzärtelt. Seine Bewegungen wurden, selbst wenn er erregt war, durch eine gewisse Sanftheit und eine der Grazie nicht entbehrende Trägheit gedämpft. Wenn ihm eine Sorgenwolke aus der Seele aufs Antlitz glitt, umzog sich sein Blick, auf der Stirn erschienen Falten, und es begann ein Spiel des Zweifels, der Trauer, des Schreckens; doch diese Unruhe erstarrte selten in der Form einer bestimmten Idee und verwandelte sich noch seltener in ein Vorhaben. Die ganze Erregung löste sich in einen Seufzer auf und erstarb in Teilnahmslosigkeit und Hindämmern. Wie gut paßte Oblomows Hausanzug zu seinen ruhigen Gesichtszügen und seinem verzärtelten Körper! Er trug einen Schlafrock aus persischem Stoff, einen echten morgenländischen Schlafrock – ohne die geringste Anlehnung an Europa, ohne Quasten, ohne Samt, ohne Taille –, der so weit war, daß Oblomow sich zweimal hineinwickeln konnte. Nach der unveränderlichen asiatischen Mode erweiterten sich die Ärmel von den Fingern zur Schulter immer mehr und mehr. Obwohl dieser Schlafrock seine ursprüngliche Frische eingebüßt hatte und seinen früheren, natürlichen Glanz stellenweise durch einen erworbenen ersetzt hatte, waren ihm doch noch die Lebhaftigkeit der morgenländischen Farbe und die Dauerhaftigkeit des Gewebes geblieben. Der Schlafrock hatte in Oblomows Augen eine Menge unschätzbarer Eigenschaften: Er war weich und schmiegsam; man fühlte ihn kaum auf sich; er paßte sich, gleich einem gehorsamen Sklaven, den geringsten Bewegungen des Körpers an. Oblomow ging zu Hause immer ohne Krawatte und ohne Weste herum; denn er liebte die Bequemlichkeit und Freiheit. Er trug lange, weiche und breite Pantoffeln; wenn er seine Füße vom Bett auf den Fußboden herabgleiten ließ, schlüpfte er ohne hinzublicken mit unfehlbarer Sicherheit in beide Pantoffeln auf einmal. Das Liegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder einen Schläfrigen, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Ermüdeten, noch ein Vergnügen, wie für einen Faulen: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war – und er war fast immer zu Hause –, lag er stets in dem Raum, in welchem wir ihn angetroffen haben und der ihm als Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer diente. Er besaß noch drei Zimmer; doch er blickte selten hinein, höchstens des Morgens – aber auch nicht jeden Tag –, wenn sein Diener das Arbeitszimmer fegte, was nicht täglich geschah. In jenen Zimmern steckten die Möbel in Überzügen, und die Storen waren herabgelassen. Das Zimmer, in welchem Ilja Iljitsch lag, erschien auf den ersten Blick sehr schön eingerichtet. Es standen darin zwei mit Seide überzogene Sofas, ein Sekretär aus Mahagoniholz und ein schöner Wandschirm mit gestickten, in der Natur nirgends vorkommenden Vögeln und Früchten. Auch gab es darin seidene Vorhänge, Teppiche, ein paar Bilder, Bronzen, Porzellan und eine Menge hübscher Kleinigkeiten. Doch hätte das erfahrene Auge eines Menschen von Geschmack auf den ersten flüchtigen Blick aus alledem nur den Wunsch herausgelesen, den unvermeidlichen Anstand, so gut es eben ging, zu wahren. Oblomow war bei der Einrichtung seines Arbeitszimmers sicherlich nur von dieser Absicht geleitet worden. Ein verfeinerter Geschmack hätte sich nicht mit solchen schweren, ungraziösen Mahagonisesseln und wackligen Etageren begnügt. Die Lehne des einen Sofas hatte sich gesenkt, und das aufgeklebte Holz stand stellenweise davon ab. Die Bilder, Vasen und Kleinigkeiten trugen denselben Charakter. Doch der Eigentümer selbst betrachtete die Einrichtung seines Arbeitszimmers so kalt und zerstreut, als fragte er mit den Augen: »Wer hat das alles hergeschleppt und hineingestellt?« Auf dieses kühle Verhalten Oblomows seinem Eigentum gegenüber und vielleicht auch auf das noch kühlere Verhalten seines Dieners Sachar demselben Gegenstand gegenüber war es zurückzuführen, daß der Zustand des Arbeitszimmers bei genauerer Untersuchung durch die darin herrschende Nachlässigkeit und Verwahrlosung verblüffte. Auf den Wänden, bei den Bildern hing staubiges Spinngewebe in Form von Gewinden; statt die Gegenstände wiederzugeben, mochten die Spiegel eher als Tafeln dienen, auf deren Staub man irgendwelche Notizen aufzeichnen konnte. Die Teppiche waren fleckig. Auf dem Sofa lag ein vergessenes Handtuch; es kam selten vor, daß auf dem Tisch nicht ein Teller mit einem Salzfasse und einem abgenagten Knochen von dem letzten Abendbrot zurückgeblieben war und keine Brotkrumen herumlagen. Wäre dieser Teller und die am Bett lehnende, soeben zu Ende gerauchte Pfeife oder deren im Bett liegender Eigentümer nicht gewesen, so konnte man glauben, es wohne hier niemand – so verstaubt, verblichen und über haupt so ohne jede lebendige Spur einer menschlichen Anwesenheit war alles. Auf den Etageren lagen zwar zwei, drei aufgeschlagene Bücher, hier trieb sich eine Zeitung herum, und dort auf dem Sekretär stand auch ein Tintenfaß mit Federn; aber die geöffneten Seiten der Bücher waren staubig und vergilbt; man sah, daß sie schon lange fortgeworfen waren; die Zeitung wies ein vorjähriges Datum auf, und wenn man die Feder ins Tintenfaß gesteckt hätte, so wären höchstens erschrockene, summende Fliegen herausgeschwirrt. Ilja Iljitsch wachte gegen seine Gewohnheit sehr früh, um acht Uhr, auf. Er war durch irgend etwas sehr in Anspruch genommen. Auf seinem Gesicht drückten sich abwechselnd bald Angst, bald Traurigkeit, bald Ärger aus. Man sah, daß in seinem Innern sich ein Kampf abspielte und daß der Verstand ihm noch nicht zu Hilfe gekommen war. Oblomow hatte nämlich am vorhergehenden Tage einen unangenehmen Brief von seinem Dorfschulzen erhalten. Man kann sich denken, von was für Unannehmlichkeiten ein Dorfschulze schreiben kann: von Mißernte, Zahlungsrückständen, Verringerungen der Einnahmen usw. Obwohl der Dorfschulze im vorigen und vorvorigen Jahre seinem Herrn genau ebensolche Briefe geschrieben hatte, wirkte dieser letzte Brief ebenso stark wie jede unangenehme Überraschung. War es denn auch etwas Leichtes? Galt es doch, über die Wege zur Anwendung irgendwelcher Maßregeln nachzudenken. Übrigens muß man der Aufmerksamkeit, die Ilja Iljitsch seinen Geschäften entgegenbrachte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hatte unmittelbar nach dem ersten unangenehmen Brief seines Dorfschulzen vor ein paar Jahren damit begonnen, im Geiste den Plan verschiedener Änderungen und Verbesserungen in der Verwaltung seines Gutes auszuarbeiten. In diesem Plane wurden verschiedene neue ökonomische, polizeiliche und noch andere Maßregeln in Aussicht gestellt. Doch der Plan war noch lange nicht ganz ausgearbeitet, und die unangenehmen Briefe des Dorfschulzen wiederholten sich alljährlich, trieben ihn zur Tätigkeit an und störten folglich seine Ruhe. Oblomow erkannte die Notwendigkeit, etwas Entscheidendes zu beginnen. Er hatte sich gleich beim Erwachen vorgenommen, aufzustehen, sich zu waschen und, nachdem er Tee getrunken haben würde, gründlich nachzudenken, manches in Erwägung zu ziehen, zu notieren, sich überhaupt der Sache ganz zu widmen. Er lag eine halbe Stunde lang da und quälte sich mit diesem Vorsatze ab; doch dann überlegte er sich, daß er dies alles auch nach dem Frühstück tun konnte und daß er den Tee, wie immer, liegend trinken könnte, um so mehr, als diese Stellung zum Nachdenken nicht minder geeignet war. So tat er denn auch. Nach dem Tee aber richtete er sich auf seinem Lager auf und wäre beinahe aufgestanden; ja, er hatte sogar begonnen, auf die Pantoffeln blickend, den einen Fuß vom Bette zu ihnen hinabgleiten zu lassen; doch gleich darauf zog er ihn wieder zurück. Es schlug halb zehn, Ilja Iljitsch raffte sich auf. »Was soll denn das, wahrhaftig!« sagte er laut und ärgerlich. »Man muß doch ein Gewissen haben; es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen! Wenn man sich gehen läßt, so ...« »Sachar!« rief er. In dem Zimmer, das nur durch einen kleinen Korridor von Ilja Iljitschs Arbeitszimmer getrennt war, hörte man zuerst etwas wie das Brummen eines Kettenhundes und dann das Geräusch von irgendwo herabspringender Füße. Das war Sachar, der von der Ofenbank herabsprang, auf welcher er gewöhnlich seine Zeit, vor sich hindösend, verbrachte. Ins Zimmer trat ein älterer Mann in einem grauen Rock, mit einem Loch unter dem Arm und einem daraus hervorschauenden Hemdzipfel, in einer grauen Weste mit Messingknöpfen, mit einem Schädel, nackt wie ein Knie, und einem breiten, dichten, dunkelblond und grau melierten Backenbart, dessen jede Hälfte für drei Bärte ausgereicht haben würde. Sachar machte keine Versuche, das ihm von Gott verliehene Äußere, auch die von ihm im Dorf getragene Kleidung zu ändern. Seine Anzüge wurden ihm nach dem Modell, das er sich aus dem Dorfe mitgebracht hatte, genäht. Der graue Rock und die Weste gefielen ihm auch darum, weil er in dieser halbmilitärischen Kleidung eine schwache Erinnerung an die Livree sah, die er einst trug, als er die verstorbenen Herrschaften in die Kirche oder bei Visiten begleitete; die Livree aber war in seiner Erinnerung das einzige Symbol der Würde des Hauses Oblomow. Nichts sonst erinnerte den Alten mehr an das wohlige, ruhige, herrschaftliche Leben im entlegenen Dorfe. Die alten Herrschaften waren gestorben, die Familienporträts waren zu Hause geblieben und lagen wohl irgendwo auf dem Dachboden herum; die Überlieferung von der alten Lebensweise und der Vornehmheit der Familie verschwand mit der Zeit oder lebte nur in der Erinnerung weniger im Dorfe zurückgebliebener Greise. Darum war der graue Rock Sachar so teuer; darin, wie auch in einigen im Gesichte und in den Manieren des Herrn erhaltenen Merkmalen, die an seine Eltern erinnerten, und in seinen Launen, über die er zwar im Geiste und laut brummte, die er aber in seinem Innern als die Äußerung des herrschaftlichen Willens und Rechtes achtete, sah er schwache Überreste der dahingeschwundenen Majestät. Ohne diese Launen fühlte er keinen Herrn über sich; ohne sie machte nichts seine Jugend, das Dorf, das sie längst verlassen hatten, und die Erzählungen über diese alte Familie auferstehen. Das Haus Oblomow war einst reich und in seiner Heimat berühmt gewesen; doch dann verarmte es, Gott weiß weshalb, verkümmerte und verlor sich endlich unmerklich unter den jüngeren Adelsgeschlechtern. Nur die ergrauten Diener des Hauses verwahrten und übergaben einander das treue Angedenken an die Vergangenheit, das sie wie ein Heiligtum hochhielten. – Darum liebte Sachar so seinen grauen Rock. Vielleicht war ihm auch sein Backenbart darum so teuer, weil er in seiner Kindheit viele alte Diener mit dieser altertümlichen, aristokratischen Barttracht gesehen hatte. In seine Gedanken versunken, bemerkte Ilja Iljitsch Sachar lange Zeit nicht. Sachar stand schweigend vor ihm. Endlich räusperte er sich. »Was hast du?« fragte Ilja Iljitsch. »Sie haben mich doch gerufen!« »Ich habe dich gerufen? Warum habe ich dich denn gerufen – ich weiß es nicht mehr!« antwortete er und streckte sich. – »Geh vorläufig in dein Zimmer, ich werde mich schon erinnern.« Sachar ging, und Ilja Iljitsch blieb liegen und dachte wieder über den verfluchten Brief nach. Es verging eine Viertelstunde. »Nun ist genug gelegen«, sagte er; »es muß aufgestanden werden ... Ich werde also den Brief des Dorfschulzen noch einmal aufmerksam durchlesen und dann aufstehen. Sachar!« Wieder derselbe Sprung und ein heftigeres Brummen. Sachar kam herein, und Oblomow versenkte sich wieder in seine Gedanken. Sachar blieb etwa zwei Minuten stehen, indem er den Herrn ungnädig ein wenig von der Seite anblickte, und trat endlich zur Türe. »Wohin denn?« fragte plötzlich Oblomow. »Sie sagen mir nichts, warum soll ich denn unnütz dastehen?« krächzte Sachar in Ermangelung einer anderen Stimme, die er, wie er sagte, als er mit dem alten Herrn auf die Jagd fuhr und ihm ein heftiger Wind in den Hals blies, verloren hatte. Er stand halb abgewendet in der Mitte des Zimmers und blickte Oblomow immer noch von der Seite an. »Fallen dir denn deine Füße ab, wenn du stehenbleibst? Du siehst, ich habe Sorgen – warte also! Hast du etwa zu wenig gelegen? Suche den Brief, den ich gestern vom Dorfschulzen bekommen habe. Wo hast du ihn hingetan?« »Was für einen Brief? Ich habe keinen Brief gesehen«, sagte Sachar. »Du hast ihn ja selbst dem Briefträger abgenommen, es war ein ganz schmutziger Brief.« »Woher soll ich wissen, wo Sie ihn hingelegt haben?« sprach Sachar, über die Papiere und die verschiedenen auf dem Tische liegenden Sachen mit der Hand fahrend. »Du weißt nie etwas. Schau dort im Korb nach! Oder ist er vielleicht hinter das Sofa gefallen? Die Lehne da am Sofa ist noch immer nicht repariert; warum holst du nicht den Tischler und läßt es machen? Du hast sie zerbrochen.« »Ich hab' sie nicht zerbrochen«, antwortete Sachar; »sie ist von selbst zerbrochen; sie kann nicht ewig halten, sie muß auch einmal zerbrechen.« Ilja Iljitsch hielt es nicht für notwendig, das Gegenteil zu beweisen. »Hast du ihn schon gefunden?« fragte er nur. »Hier sind Briefe.« »Das sind andere.« »Dann gibt's keine mehr«, antwortete Sachar. »Also gut, geh!« sagte Ilja Iljitsch ungeduldig; »ich werde aufstehen und ihn selbst suchen.« Sachar ging in sein Zimmer; doch in dem Augenblick, da er sich mit den Händen gegen die Ofenbank stemmte, um hinaufzuspringen, hörte er wieder die eiligen Rufe: »Sachar! Sachar!« »Ach du mein Gott!« brummte Sachar, sich wieder ins Arbeitszimmer begebend; »was das für eine Qual ist! Wenn doch mein Tod bald käme!« »Was wollen Sie?« sagte er, sich mit der einen Hand an der Zimmertür haltend, und blickte Oblomow zum Zeichen seiner Ungnade so sehr von der Seite an, daß er ihn nur mit dem halben Auge zu sehen bekam, während sein Herr schon die eine ungeheure Backenbarthälfte sah, welche erwarten ließ, es würden zwei, drei Vögel aus ihr herausfliegen. »Das Taschentuch, geschwind! Das könntest du auch selbst wissen; hast du denn keine Augen!« bemerkte Ilja Iljitsch streng. Sachar äußerte keine besondere Unzufriedenheit oder Verwunderung bei diesem Befehl und Vorwurf des Herrn, da er wohl von seinem Standpunkte aus beides sehr natürlich fand. »Wer weiß, wo das Taschentuch ist!« brummte er, indem er eine Runde durch das Zimmer machte und jeden Stuhl betastete, obgleich man auch so sehen konnte, daß auf den Stühlen nichts lag. »Sie verlieren alles!« bemerkte er, die Tür in den Salon öffnend, um nachzusehen, ob das Gesuchte sich nicht dort befand. »Wohin? Suche hier; ich war seit vorgestern nicht drin. So beeile dich doch!« sagte Ilja Iljitsch. »Wo ist das Taschentuch?« »Das Taschentuch ist nicht da!« erwiderte Sachar achselzuckend und in alle Winkel blickend. »Da ist es ja«, krächzte er plötzlich zornig; »unter Ihnen! Da schaut ein Zipfel heraus. Sie liegen selbst auf dem Taschentuch und fragen danach!« Und Sachar wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, der Tür zu. Oblomow war ein wenig verlegen geworden. Er fand schnell einen neuen Vorwand, Sachar im Unrecht erscheinen zu lassen. »Wie rein du hier alles hältst! Mein Gott, wie schmutzig und staubig es ist! Da, da, schau mal in die Ecken hinein – du tust gar nichts!« »Ich tu' nichts ...« begann Sachar mit gekränkter Stimme, »ich gebe mir so viel Mühe, mir ist es um mein Leben nicht zu schade, ich staube ab und fege fast jeden Tag ...« Er zeigte auf die Mitte des Fußbodens und auf den Tisch hin, an dem Oblomow zu Mittag aß. »Da, da«, sagte er. »Alles ist ausgefegt und zusammengeräumt, wie zu einer Hochzeit ... Was wollen Sie noch?« »Und was ist das?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch, auf die Wände und an den Plafond zeigend, »und das? und das?« Er wies auf das seit gestern herumliegende Handtuch und auf den auf dem Tisch vergessenen Teller, worauf eine Brotschnitte lag. »Nun gut, das werde ich abräumen«, sagte Sachar herablassend und nahm den Teller. »Nur das! Und der Staub an den Wänden und das Spinngewebe?« fragte Oblomow. »Das räume ich zu Ostern zusammen; dann putze ich die Heiligenbilder und nehme das Spinngewebe herab ...« »Und wann staubst du die Bücher und die anderen Bilder ab? ...« »Das mache ich vor Weihnachten: dann schaue ich mit Anissja alle Schränke durch. Wann soll ich denn jetzt zusammenräumen? Sie sitzen doch immer zu Hause.« »Ich gehe manchmal ins Theater und auf Besuch; dann ...« »Wie kann man denn bei Nacht zusammenräumen!« Oblomow blickte ihn vorwurfsvoll an, schüttelte den Kopf und seufzte, während Sachar gleichgültig durch das Fenster blickte und gleichfalls seufzte. Der Herr schien zu denken: Bruder, in dir steckt ja noch mehr von einem Oblomow als in mir selbst, und Sachar dachte fast: du lügst! Du kannst hochtrabende und rührende Worte sagen; aber der Staub und das Spinngewebe kümmern dich im Grunde gar nicht. »Verstehst du«, sagte Ilja Iljitsch, »daß durch den Staub Motten entstehen? Ich sehe manchmal sogar eine Wanze an der Wand!« »Ich habe auch Flöhe!« erwiderte Sachar gleichgültig. »Ist denn das schön? Das ist ja Schmutz!« Sachar schmunzelte über das ganze Gesicht, so daß das Grinsen selbst die Brauen und den Backenbart erfaßte, der sich seitwärts auseinanderschob, und ein roter Fleck sich über das ganze Gesicht vom Hals bis auf die Stirn hinauf ausdehnte. »Ist es denn meine Schuld, daß es auf der Welt Wanzen gibt?« sagte er mit naivem Erstaunen; »hab' denn ich sie ausgedacht?« »Das kommt durch die Unreinlichkeit«, unterbrach ihn Oblomow. »Was denkst du dir nur immer aus?« »Ich habe auch die Unreinlichkeit nicht ausgedacht.« »Bei dir laufen in der Nacht Mäuse herum, ich höre es.« »Ich habe auch die Mäuse nicht ausgedacht. Solche Geschöpfe, wie Mäuse, Katzen und Wanzen, gibt es überall viel.« »Warum gibt es denn bei anderen Leuten weder Motten noch Wanzen?« Sachars Gesicht drückte Ungläubigkeit oder besser gesagt ruhige Zuversicht aus, daß so etwas nicht vorkommen könne. »Bei mir gibt's immer viel davon«, sagte er eigensinnig, »man kann nicht auf jede Wanze aufpassen, man kann ihr in ihre Ritze nicht nachkriechen.« Und dabei dachte er wohl im stillen: Was wäre das auch für ein Schlafen ohne Wanzen? »Fege aus, nimm den Mist aus den Winkeln her aus, dann wird nichts da sein«, belehrte ihn Oblomow. »Man räumt auf, und morgen ist alles wieder voll«, sagte Sachar. »Es wird nicht voll sein«, unterbrach ihn der Herr, »das darf nicht sein.« »Es wird voll sein, ich weiß es«, gab der Diener nicht nach. »Und wenn es so ist, dann fege wieder aus!« »Was? Ich soll jeden Tag in alle Winkel hineinschauen?« fragte Sachar, »was ist denn das für ein Leben? Dann soll Gott lieber meine Seele holen!« »Warum ist denn bei anderen Leuten rein?« entgegnete Oblomow. »Schau mal zum Klavierstimmer vis-à-vis hinüber: Es ist eine Freude, das zu sehen, und sie haben nur ein einziges Mädchen ...« »Und wo sollen diese Deutschen auch Mist hernehmen?« erwiderte plötzlich Sachar. »Schauen Sie sich einmal an, wie sie leben! Die ganze Familie nagt die ganze Woche an einem einzigen Knochen. Der Rock geht von der Schulter des Vaters auf den Sohn über und vom Sohn wieder auf den Vater. Die Frau und die Töchter tragen kurze Kleider und verstecken immer ihre Füße wie die Gänse ... Wo sollen sie den Mist hernehmen? Bei ihnen gibt's das nicht, daß ganze Haufen von abgetragenen alten Kleidern jahrelang in den Schränken liegen oder sich im Winter eine ganze Ecke von Brotrinden ansammelt wie bei uns. Sie lassen nicht einmal eine Rinde unnütz herumliegen; sie machen sich daraus Zwieback und essen das zum Bier!« Sachar spuckte sogar aus, während er von einer so knauserigen Lebensweise sprach. »Du brauchst mir gar nichts zu erzählen!« antwortete Ilja Iljitsch, »räume lieber auf.« »Ich würde ja manchmal aufräumen; aber Sie lassen es ja selbst nicht dazu kommen«, sagte Sachar. »Jetzt fängst du wieder damit an! Ich bin immer im Wege!« »Natürlich ist's so; Sie sitzen immer zu Hause; wie soll man da aufräumen? Gehen Sie den ganzen Tag fort, dann räume ich auf.« »Was du dir da ausgedacht hast, ich soll fortgehen! Geh du lieber in dein Zimmer!« »Nein, wirklich!«, Sachar gab nicht nach, »gehen Sie doch heute fort, dann würde ich mit Aniska alles aufräumen. Wir würden aber auch zu zweit nicht fertig werden; man müßte noch Frauen dazunehmen und alles aufwaschen.« »Aber, was das für Einfälle sind! Frauen dazunehmen! Geh in dein Zimmer!« sagte Ilja Iljitsch. Er bereute schon, mit Sachar dieses Gespräch angefangen zu haben. Er vergaß immer, daß man bei der geringsten Berührung dieses zarten Gegenstandes in endlose Scherereien hineingeriet. Oblomow war ja für die Reinlichkeit; doch er wünschte, daß es unmerklich, von selbst geschehen solle; Sachar fing aber immer eine lange Diskussion an, sobald man von ihm verlangte, er solle den Staub ausfegen und die Fußböden waschen und so weiter. Er bewies in solchen Fällen die Notwendigkeit eines großen Rummels im Hause, da er sehr gut wußte, daß der bloße Gedanke daran seinem Herrn Entsetzen verursachte. Sachar ging, und Oblomow versenkte sich in seine Gedanken. Nach ein paar Minuten schlug es wieder halb. »Was ist das?« sagte Ilja Iljitsch erschrocken, »es ist gleich elf Uhr, und ich bin noch nicht aufgestanden und habe mich noch immer nicht gewaschen? Sachar, Sachar!« »Ach du mein Gott l Was denn!« tönte es im Vorzimmer, und dann folgte der bekannte Sprung. »Ist alles zum Waschen bereit?« fragte Oblomow. »Schon längst!« antwortete Sachar. »Warum stehen Sie nicht auf?« »Warum sagst du denn nicht, daß alles vorbereitet ist? Ich wäre schon längst aufgestanden. Geh, ich komme gleich nach. Ich habe zu tun, ich muß schreiben.« Sachar ging hinaus, kam aber nach einer Weile mit einem ganz beschriebenen und fettigen Heft und mit ebensolchen Papierfetzen zurück. »Da, wenn Sie schreiben werden, haben Sie die Güte, bei der Gelegenheit auch die Rechnungen durchzusehen; sie müssen bezahlt werden.« »Was für Rechnungen? Was muß bezahlt werden?« fragte Ilja Iljitsch unzufrieden. »Vom Fleischer, vom Gemüsehändler, von der Wäscherin, vom Bäcker; alle bitten um Geld.« »Man hat immer Geldsorgen!« brummte Ilja Iljitsch. »Warum gibst du mir denn die Rechnungen nicht allmählich, sondern alle auf einmal?« »Sie haben mich ja immer damit fortgejagt: Ich sollte nur morgen kommen ...« »Nun, und kann man es denn nicht auch jetzt auf morgen verschieben?« »Nein! Sie bestehen darauf und geben nichts mehr auf Borg. Heute ist der Erste.« »Ach!« sagte Oblomow niedergeschlagen, »neue Sorgen! Nun, was stehst du da? Leg's auf den Tisch. Ich werde gleich aufstehen, mich waschen und sie durchsehen. Es ist also alles zum Waschen vorbereitet?« »Ja!« »Nun, und jetzt ...« Er begann sich ächzend auf dem Bette aufzurichten, um aufzustehen. »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen«, begann Sachar, »vorhin, als Sie noch geschlafen haben, hat der Verwalter den Hausbesorger geschickt. Er sagt, daß wir durchaus ausziehen müssen ... Die Wohnung ist vergeben.« »Nun also! Wenn sie vergeben ist, werden wir natürlich ausziehen. Warum läßt du mir keine Ruhe? Du sprichst nun schon das dritte Mal davon.« »Man läßt auch mir keine Ruhe.« »Sag, daß wir die Wohnung räumen werden.« »Sie sagen, Sie haben es schon vor einem Monat versprochen, räumen aber noch immer nicht die Wohnung; sie sagen: ›Wir werden es der Polizei anzeigen.‹« »Sollen sie's anzeigen!« sagte Oblomow entschlossen; »wir räumen die Wohnung von selbst, wenn es wärmer wird, so in drei Wochen.« »Wieso in drei Wochen! Der Verwalter sagt, daß in zwei Wochen die Arbeiter kommen und alles niederreißen ... Er sagt: ›Ziehen Sie morgen aus oder übermorgen ...‹« »Aber das ist zu schnell, morgen! Was ihnen alles einfällt; vielleicht werden sie es sofort befehlen! Untersteh dich nicht, mich an die Wohnung zu erinnern. Ich hab' es dir schon einmal verboten, und du fängst wieder an. Nimm dich in acht.« »Was soll ich denn tun?« erwiderte Sachar. »Was du tun sollst? Solche Ausreden gebrauchst du!« antwortete Ilja Iljitsch. »Das fragst du mich! Was geht das mich an? Komm mir nicht damit, sondern richte alles, wie du willst, so ein, daß wir nur nicht auszuziehen brauchen. Kannst du das denn nicht für deinen Herrn tun!« »Wie soll ich's denn einrichten, Väterchen, Ilja Iljitsch?« begann Sachar mit sanfterem Krächzen, »das Haus gehört ja nicht mir, wie sollte man denn nicht aus einem fremden Hause ausziehen, wenn man fortgejagt wird? Wenn es mein Haus wäre, würde ich mit dem größten Vergnügen ...« »Kann man sie denn nicht irgendwie überreden? Du weist darauf hin, daß wir schon lange hier wohnen und pünktlich zahlen.« »Das habe ich schon probiert«, sagte Sachar. »Was haben sie denn geantwortet?« »Was sie geantwortet haben? Sie wiederholen immer das eine: ›Ziehen Sie aus!‹ sagen sie, ›wir müssen die Wohnung ändern‹, sie wollen aus der Doktorwohnung und aus dieser da zur Hochzeit des Hausherrnsohnes eine einzige große Wohnung machen.« »Ach du mein Gott!« sagte Oblomow ärgerlich, »es gibt solche Esel, welche heiraten!« Er drehte sich auf den Rücken um. »Sie sollten an den Hausherrn schreiben, gnädiger Herr«, sagte Sachar, »dann würde er Sie vielleicht in Ruhe lassen und würde zuerst jene Wohnung niederreißen lassen.« Sachar zeigte dabei mit der Hand irgendwohin nach rechts. »Nun gut, wenn ich aufgestanden bin, werde ich schreiben ... Geh in dein Zimmer, ich werde darüber nachdenken. Du kannst nichts übernehmen«, fügte er hinzu. »Ich muß mich auch um dieses ekelhafte Zeug selbst kümmern!« Sachar ging, und Oblomow begann nachzudenken. Doch er war in Verlegenheit, worüber er nachdenken sollte: über den Brief des Dorfschulzen, über die Übersiedlung in eine neue Wohnung, oder sollte er mit den Rechnungen beginnen? Der Andrang der Sorgen machte ihn verwirrt, und er lag noch immer da, indem er sich von der einen Seite auf die andere wälzte. Man hörte nur ab und zu unzusammenhängende Ausrufe: »Ach du mein Gott! Das Leben macht sich fühlbar, es erreicht einen überall.« Es ist unbestimmbar, wie lange er noch in dieser Unschlüssigkeit verharrt wäre; jetzt aber ertönte im Vorzimmer ein Läuten. »Es kommt schon jemand!« sagte Oblomow, sich in den Schlafrock einwickelnd, »und ich bin noch nicht aufgestanden. Das ist eine Schande! Wer kommt denn so früh?« Und er blieb liegen und blickte neugierig auf die Tür. Zweites Kapitel Zweites Kapitel Es trat ein junger, fünfundzwanzigjähriger Mann herein, der von Gesundheit strotzte und lachende Wangen, Lippen und Augen besaß. Man wurde neidisch, wenn man ihn anblickte. Er war tadellos frisiert und gekleidet und blendete durch die Frische seines Gesichtes, seiner Wäsche, seiner Handschuhe und seines Frackes. Auf seiner Weste breitete sich eine elegante Kette mit einer Menge von winzigen Berlocken aus. Er zog ein sehr feines Batisttuch hervor, atmete die morgenländischen Wohlgerüche ein, fuhr sich dann damit nachlässig über das Gesicht, über den glänzenden Hut und staubte sich die Lackstiefel ab. »Ah, guten Tag, Wolkow!« rief Ilja Iljitsch aus. »Guten Tag, Oblomow«, sagte der strahlende Herr, sich ihm nähernd. »Nicht so nah, nicht so nah! Sie kommen aus der Kälte!« sagte dieser. »Oh, Sie verzärtelter Sybarit!« erwiderte Wolkow und sah sich um, wo er seinen Hut hinlegen konnte; da er aber überall Staub sah, legte er ihn nirgendshin; dann hob er seine Frackschöße auf, um sich hinzusetzen; nachdem er aber den Sessel aufmerksam betrachtet hatte, blieb er stehen. »Sie sind noch nicht aufgestanden! Was tragen Sie da für einen Morgenanzug? Man trägt solche schon längst nicht mehr«, beschämte er Oblomow. »Das ist kein Morgenanzug, das ist ein Schlafrock«, sagte Oblomow, sich liebevoll hineinwickelnd. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Wolkow. »Gar nicht!« antwortete Oblomow gähnend, »es geht mir schlecht: meine Kongestionen quälen mich so. Und wie geht es Ihnen?« »Mir? Ich kann nicht klagen: Ich bin gesund und lustig!« fügte der junge Mann mit Betonung hinzu. »Woher kommen Sie so früh?« fragte Oblomow. »Vom Schneider. Schauen Sie mich an, ob der Frack gut sitzt?« sagte er, sich vor Oblomow hin und her wendend. »Ausgezeichnet! Er ist sehr geschmackvoll genäht«, sagte Ilja Iljitsch, »aber warum ist er rückwärts so breit?« »Das ist ein Reitfrack: zum Ausreiten.« »Reiten Sie denn?« »Aber gewiß! Ich habe mir den Frack extra für den heutigen Tag bestellt. Heute ist ja der erste Mai: ich reite mit Gorjunow nach Jekaterinhof. Ach! Sie wissen nicht? Man hat Mischa Gorjunow im Rang befördert, darum feiern wir heute«, fügte Wolkow entzückt hinzu. »So!« sagte Oblomow. »Er hat einen Fuchs«, fuhr Wolkow fort, »sie haben in ihrem Regiment Füchse, ich aber habe einen Rappen. Wie kommen Sie: zu Fuß oder im Wagen?« »Überhaupt nicht.« »Am ersten Mai nicht in Jekaterinhof sein! Aber Ilja Iljitsch. Dort werden ja alle sein!« »Wieso alle! Doch nicht alle!« bemerkte Oblomow träge. »Kommen Sie, lieber Ilja Iljitsch! Sofja Nikolajewna wird nur mit Lydia im Wagen sein, vis-à-vis ist aber noch eine Bank, Sie könnten also mitkommen ...« »Nein, ich habe auf der Bank keinen Platz. Und was soll ich dort anfangen?« »Nun, dann gibt Ihnen Mischa ein zweites Pferd!« »Gott weiß, was er sich ausdenkt!« sagte Oblomow fast flüsternd. »Was haben Sie denn mit den Gorjunows?« »Ach!« rief Wolkow errötend aus; »soll ich's sagen?« »Sagen Sie's!« »Werden Sie das niemand erzählen, Ihr Ehrenwort?« sprach Wolkow weiter, sich zu ihm aufs Sofa setzend. »Gut.« »Ich ... bin in Lydia verliebt«, flüsterte er. »Bravo! Schon lange? Ich glaube, sie ist sehr nett.« »Schon drei Wochen!« sagte Wolkow tief seufzend. »Und Mischa ist in Daschenjka verliebt.« »In welche Daschenjka?« »Woher sind Sie, Oblomow? Sie kennen nicht Daschenjka! Die ganze Stadt ist entzückt, wenn sie tanzt! Heute sind wir zusammen im Ballett; er wird ihr ein Bukett zuwerfen. Ich muß ihn bei ihr einführen: er ist schüchtern und noch ein Neuling ... Ach! ich muß ja noch hinfahren und Kamelien kaufen ...« »Was noch? Lassen Sie das, bleiben Sie zum Mittagessen; wir würden miteinander sprechen. Ich habe ein doppeltes Unglück gehabt ...« »Ich kann nicht, ich esse beim Fürsten Tjumenjew zu Mittag; es werden dort alle Gorjunows sein, und auch sie, sie ... Lidinjka!« fügte er flüsternd hinzu. »Warum haben Sie den Verkehr mit dem Fürsten aufgegeben? Was das für ein lustiges Haus ist! Was für ein Ton dort herrscht! Und das Landhaus! es ist in Blumen gebettet! Man hat eine Galerie gothique angebaut. Es heißt, man wird dort im Sommer tanzen und lebende Bilder aufführen. Werden Sie hinkommen?« »Nein, ich glaube nicht.« »Ach, was das für ein Haus ist! Diesen Winter gab es dort jeden Mittwoch nicht unter fünfzig Personen, und manchmal waren es sogar hundert ...« »Mein Gott! da ist es gewiß höllisch langweilig!« »Wie kann man so etwas sagen? Langweilig! Je mehr Menschen da sind, desto lustiger ist es ja. Auch Lydia kam hin, ich habe ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt, und plötzlich ... Vergebens müh' ich mich, sie zu vergessen Und durch Vernunft die Leidenschaft zu bannen ... « sang er und setzte sich verträumt auf den Sessel; doch dann sprang er plötzlich auf und begann sich den Staub von den Kleidern zu klopfen. »Wie staubig es bei Ihnen überall ist!« sagte er. »Das ist alles Sachars Schuld!« klagte Oblomow. »Nun, ich muß gehen!« sagte Wolkow, »ich habe noch für Mischa ein Bukett Kamelien zu besorgen. Au revoir! « »Kommen Sie abends nach dem Ballett Tee trinken, Sie werden mir erzählen, wie es dort zugegangen ist«, lud Oblomow ein. »Ich kann nicht, ich habe den Mussinskys versprochen, hinzukommen, heute ist bei ihnen Jour. Kommen Sie auch! Wenn Sie wollen, stelle ich Sie vor!« »Nein, was soll ich dort anfangen?« »Bei den Mussinskys? Aber ich bitte Sie, dorthin kommt ja die halbe Stadt. Was man dort anfangen soll? Das ist ein Haus, in dem über alles gesprochen wird ...« »Das ist ja das Langweilige, daß über alles gesprochen wird«, sagte Oblomow. »Besuchen Sie dann Mesdrows«, unterbrach ihn Wolkow, »dort spricht man nur von einem Gegenstand, von der Kunst; man hört nichts anderes als: die venezianische Schule, Beethoven und Bach, Leonardo da Vinci ...« »Immer ein und dasselbe, wie langweilig! Das sind gewiß Pedanten!« sagte Oblomow gähnend. »Man kann es Ihnen nicht recht machen. Gibt es etwa zu wenig Familien! Und alle haben sie jetzt Jours: bei den Sawinows speist man am Donnerstag, die Maklaschins empfangen am Freitag, die Wjasnikows am Sonntag, der Fürst Tjumenjew am Mittwoch. Bei mir sind alle Tage besetzt!« schloß Wolkow mit strahlenden Augen. »Und fällt es Ihnen nicht lästig, tagaus, tagein herumzurennen?« »Lästig! Wie kann das lästig fallen? Es ist so lustig!« sagte er sorglos. »Des Morgens liest man ein wenig, man muß immer au courant sein und alle Neuigkeiten wissen. Ich habe, Gott sei Dank, eine solche Beschäftigung, daß ich nicht ins Amt zu gehen brauche. Ich sitze nur zweimal in der Woche beim General und esse bei ihm zu Mittag; dann mache ich Leuten, bei denen ich schon lange nicht war, einen Besuch; nun, und dann ... gibt es ja immer eine neue Schauspielerin, bald im russischen und bald im französischen Theater. Die Oper wird nächstens eröffnet, ich abonniere mich. Und jetzt bin ich verliebt ... Es wird bald Sommer; man hat Mischa einen Urlaub versprochen; dann fahren wir für einen Monat auf ihr Gut, der Abwechslung halber. Dort wird gejagt. Sie haben sehr nette Nachbarn, es werden bals champêtres arrangiert. Ich werde mit Lydia im Wald spazierengehen, Boot fahren, Blumen pflücken ... Ach! ...« Und er machte einen Freudensprung ... »Es ist aber Zeit ... Adieu«, sagte er und machte vergebliche Versuche, sich im verstaubten Spiegel von vorne und von rückwärts zu betrachten. »Warten Sie«, hielt ihn Oblomow zurück, »ich wollte mit Ihnen geschäftlich sprechen.« »Pardon, ich habe keine Zeit«, antwortete Wolkow eilig, »ein andermal! Wollen Sie nicht mit mir Austern essen? Sie können mir dabei Ihre Angelegenheiten erzählen. Kommen Sie, Mischa ladet Sie ein.« »Nein, was fällt Ihnen ein!« sagte Oblomow darauf. »Also, Adieu!« Er ging und kam zurück. »Haben Sie das schon gesehen?« fragte er, die Hand zeigend, der der Handschuh wie angegossen saß. »Was ist das?« fragte Oblomow verblüfft. »Die neuen Lacets! Sehen Sie, wie gut das zusammenhält: Man braucht sich nicht zwei Stunden lang mit den Knöpfen abzuquälen, man zieht an der Schnur, und die Sache ist erledigt. Das kommt soeben aus Paris. Wollen Sie, daß ich Ihnen ein Paar zur Probe mitbringe?« »Gut, bringen Sie mir eins mit.« »Und sehen Sie sich einmal das an: nicht wahr, das ist sehr hübsch?« sagte er, nachdem er in dem Haufen der Berlocken eines ausgesucht hatte; es war eine Visitenkarte mit einer umgebogenen Ecke. »Ich kann nicht entziffern, was darauf steht.« »Pr. – Prince, M. – Michel, und der Familienname Tjumenjew ist nicht mehr daraufgegangen. Das hat er mir zu Ostern statt eines Eies geschenkt. Aber leben Sie wohl, au revoir! Ich muß noch zehn Personen aufsuchen. O Gott, wie lustig ist es auf der Welt!« Und er verschwand. Zehn Personen an einem Tage aufsuchen – der Unglückliche! dachte Oblomow. Und das ist ein Leben!, und er zuckte heftig die Achseln. Wo bleibt denn dann der Mensch? In wieviel kleine Teile löst er sich auf und zerfällt er? Es ist gewiß nicht übel, ins Theater hineinzugucken und sich in irgendeine Lydia zu verlieben ... Sie ist hübsch! Es ist schön, mit ihr auf dem Lande Blumen zu pflücken und spazierenzufahren! – Aber an einem Tage zehn Personen aufzusuchen – der Unglückliche!, schloß er, sich auf den Rücken umwendend und sich freuend, daß er keine so leeren Wünsche und Gedanken hatte, sondern daliegen und seine menschliche Würde und Ruhe aufrechterhalten konnte. Ein neues Läuten unterbrach seine Betrachtungen. Es kam wieder ein Gast. Das war ein Herr in einem dunkelgrünen Frack mit Uniformknöpfen; er hatte ein glattrasiertes Kinn, einen dunklen Backenbart, der sein Gesicht gleichmäßig umrahmte, einen angestrengten, aber ruhigen und intelligenten Ausdruck in den Augen, ein welkes Gesicht und ein nachdenkliches Lächeln. »Guten Tag, Sudjbinskij!« begrüßte Oblomow ihn freudig. »Schaust du dich auch einmal nach deinem alten Kollegen um! Komm nicht so nahe heran! Du bringst Kälte herein.« »Guten Tag, Ilja Iljitsch. Ich wollte schon lange zu dir«, sprach der Gast, »aber du weißt ja, was für einen teuflischen Dienst wir haben! Da, schau einmal, ich habe hier einen ganzen Koffer voll Berichte, und ich habe dem Boten befohlen, herzurennen, wenn man dort nach irgend etwas fragt. Ich kann keinen Augenblick über mich verfügen.« »Gehst du erst jetzt ins Amt? Warum so spät?« fragte Oblomow, »du pflegtest ja um zehn Uhr anzufangen ...« »Ja, ich pflegte; jetzt ist's aber anders: ich fahre um zwölf Uhr hin.« Er betonte: fahre. »Ah! ich errate!« sagte Oblomow, »du bist Bureauchef! Schon lange?« Sudjbinskij nickte bedeutungsvoll. »Seit Ostern«, sagte er. »Aber wieviel zu tun ist – schrecklich! Von acht bis zwölf Uhr arbeite ich zu Hause, von zwölf bis fünf Uhr in der Kanzlei, und dann habe ich noch abends zu tun. Ich bin jetzt gar nicht mehr gewohnt, mit Menschen zusammen zu sein.« »Hm! Bureauchef, so!« sagte Oblomow. »Gratuliere! Du bist aber einer! Wir waren ja zusammen Kanzleibeamte. Ich denke, du wirst nächstes Jahr Regierungsrat.« »Aber! Was fällt dir ein! Ich muß noch in diesem Jahr den Orden bekommen; ich habe gehofft, man würde mich ›für geleistete Dienste‹ vorschlagen, ich habe aber jetzt ein neues Amt übernommen. Das geht nicht, zwei Jahre nacheinander ...« »Komm zu mir zum Essen, wir werden zu Ehren deines Avancements ein Glas leeren!« sagte Oblomow. »Nein, ich bin heute beim Vizedirektor geladen. Ich muß für Donnerstag einen Bericht ausarbeiten – eine Höllenarbeit! Man kann sich auf den Rapport aus den Gouvernements nicht verlassen. Man muß die Register selbst kontrollieren. Foma Fomitsch ist so mißtrauisch: er will alles selbst prüfen. Wir machen uns heute nachmittag daran.« »Wirklich, noch heute nachmittag?« fragte Oblomow ungläubig. »Ja, was glaubst du denn? Es ist noch gut, wenn ich etwas früher damit fertig werde und Zeit habe, nach Jekaterinhof zu fahren ... Ja, also, ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du nicht mit mir spazierenfahren willst? Ich würde dich abholen.« »Ich bin nicht ganz wohl, ich kann nicht!« sagte Oblomow, indem er das Gesicht verzog, »ich habe auch viel zu tun ...« »Schade!« erwiderte Sudjbinskij, »es ist ein so schöner Tag. Ich hoffe wenigstens heute aufzuatmen.« »Nun, was gibt es Neues bei euch?« fragte Oblomow. »Vieles! Man hat jetzt festgesetzt, in den Briefen statt ›ergebener Diener‹ ›seien Sie versichert‹ zu schreiben; es ist angeordnet worden, nicht mehr zwei Exemplare Formularbogen einzureichen. Man hat unser Bureau um drei Tische und zwei Beamte vergrößert. Man hat unsere Kommission aufgehoben ... Und noch viel anderes!« »Nun, und was ist mit unseren früheren Kollegen?« »Vorläufig gar nichts; Swinkin hat seine Akten verloren!« »Wirklich? Was hat denn der Direktor gesagt?« fragte Oblomow mit zitternder Stimme. Er erschrak in der Erinnerung an die alten Zeiten. »Er hat ihm die Remuneration vorenthalten lassen, bis er die Akten findet. Es war ein wichtiges Dokument: ›Über die Steuereintreibung‹. Der Direktor glaubt«, fügte Sudjbinskij fast flüsternd hinzu, »daß er es ... absichtlich verloren hat.« »Also so ist die Sache: du arbeitest immer!« sagte Oblomow, »du mühst dich ab.« »Schrecklich, schrecklich! Aber es ist natürlich angenehm, mit einem solchen Menschen wie Foma Fomitsch zusammenzuarbeiten: Bei ihm bleibt niemand ohne Remuneration; er vergißt selbst die nicht, die nichts tun. Sobald die Zeit des Avancements da ist, schlägt er gleich vor; und dem, der noch kein Amt und keinen Orden bekommen kann, verschafft er Geld ...« »Wieviel bekommst du?« »1200 Rubel Gehalt, 750 Diäten, 600 Wohnungsgeld, 900 Zulagen, 500 Meilengeld und an 1000 Rubel Remuneration.« »Aber zum Teufel!« sagte Oblomow, vom Sofa aufspringend, »hast du eine so schöne Stimme? Das klingt ja wie bei einem italienischen Sänger!« »Das ist noch gar nichts! Pereswjetow bekommt Gratifikationen und arbeitet weniger als ich, er versteht auch nichts. Nun, er hat natürlich auch nicht dieses Renommee. Ich werde sehr geschätzt«, fügte er bescheiden, mit gesenkten Augen hinzu, »der Minister hat sich neulich ausgedrückt, daß ich die Zierde des Ministeriums sei.« »Du bist ein Hauptkerl!« sagte Oblomow. »Aber diese Arbeit! Von acht bis zwölf und von zwölf bis fünf, und dann noch zu Hause – oh, oh!« Er schüttelte den Kopf. »Was sollte ich denn tun, wenn ich keinen Posten hätte?« fragte Sudjbinskij. »Man kann Verschiedenes tun! lesen, schreiben ...« sagte Oblomow. »Ich tue ja auch jetzt nichts als lesen und schreiben.« »Das ist doch ganz was anderes; du würdest deine Sachen drucken lassen ...« »Es können nicht alle Schriftsteller sein, du schreibst doch auch nicht!« »Dafür habe ich ein Gut, das auf mir lastet«, sagte Oblomow seufzend. »Ich überlege mir einen neuen Plan; ich führe allerlei Reformen ein. Ich quäle mich damit ab ... Und du beschäftigst dich ja nicht mit Eigenem, sondern mit Fremdem.« »Was soll man tun! Man muß arbeiten, wenn man bezahlt wird. Im Sommer werde ich ausruhen: Foma Fomitsch verspricht eigens für mich eine Dienstreise auszudenken ... dann bekomme ich Reisegeld, das für fünf Pferde berechnet wird, drei Rubel tägliche Diäten und Extragelder ...« »Das geht ja wie geschmiert!« sagte Oblomow voll Neid; dann seufzte er und vertiefte sich in seine Gedanken. »Ich brauche Geld, ich heirate im Herbst«, fügte Sudjbinskij hinzu. »Was?! Wirklich? Wen denn?« fragte Oblomow teilnahmsvoll. »Scherz beiseite, die Muarschin. Weißt du noch, sie haben neben mir auf dem Lande gewohnt! Du hast bei mir Tee getrunken und hast sie, scheint mir, gesehen.« »Nein, ich erinnere mich nicht! Ist sie hübsch?« »Ja, sie ist lieb. Wenn du willst, können wir zum Mittagessen zu ihnen hinfahren ...« Oblomow wurde verlegen. »Ja ... gut, aber ...« »Nächste Woche«, sagte Sudjbinskij. »Ja, ja, nächste Woche«, willigte Oblomow erfreut ein, »mein Anzug ist noch nicht fertig. Machst du eine gute Partie?« »Ja, der Vater ist Hofrat; er gibt ihr zehntausend, und dann bekommen wir eine Amtswohnung. Er hat für uns die Hälfte seiner Wohnung bestimmt, zwölf Zimmer; außerdem bekommen wir die dazugehörigen Möbel und freie Beheizung und Beleuchtung: man kann also leben ...« »Ja, man kann! Und ob! Bist du aber ein Kerl, Sudjbinskij!« fügte Oblomow nicht ohne Neid hinzu. »Ich lade dich zu meiner Hochzeit als Kranzherr ein, denke daran ...« »Aber gewiß! Nun, was ist mit Kusnezow, mit Wassiljew, mit Mochow?« »Kusnezow ist längst verheiratet, Mochow hat meinen früheren Posten eingenommen, und Wassiljew ist nach Polen versetzt worden. Iwan Petrowitsch hat den Wladimirorden bekommen, Oleschkin ist Exzellenz geworden.« »Er ist ein guter Kerl!« sagte Oblomow. »Ja, ja; er verdient es.« »Ein sehr guter Kerl, er hat einen so sanften, gleichmäßigen Charakter«, fügte Oblomow hinzu. »Er ist auch so dienstfertig«, bemerkte Sudjbinskij – »und weißt du, er hat nicht dieses Bestreben, sich vorzudrängen, einem zu schaden, ein Bein zu stellen oder zuvorzukommen ... er tut alles, was er kann.« »Ein prachtvoller Mensch! Wenn man manchmal in den Akten etwas verdreht oder nicht beachtet hat und eine andere Folgerung, ein anderes Gesetz unterschoben hat, hat er gar nichts gesagt; er hat's nur von jemand anderem verbessern lassen. Ein ausgezeichneter Mensch!« schloß Oblomow. »Unser Sjemjon Sjemjonitsch ist dagegen unverbesserlich«, sagte Sudjbinskij, »er versteht nur, Sand in die Augen zu streuen. Was er da vor kurzem angestellt hat: Aus den Gouvernements ist ein Prospekt eingelaufen, daß an den zu unserem Departement gehörigen Gebäuden Hundehütten, zum Schutze des Staatseigentums gegen Raub, errichtet werden; unser Architekt, ein tüchtiger, gebildeter und ehrlicher Mann, hat einen sehr mäßig berechneten Kostenanschlag zusammengestellt; das ist ihm plötzlich zu teuer erschienen, und er hat sich darangemacht, Erkundigungen darüber einzuziehen, was das Fertigstellen einer Hundehütte kosten kann. Er hat irgendwo herausgefunden, daß es um dreißig Kopeken weniger kostet, und reicht sofort einen Bericht ein.« Es wurde wieder geläutet. »Adieu«, sagte der Beamte, »ich hab' mich verplaudert, man wird mich dort gewiß schon brauchen ...« »Bleib noch«, hielt ihn Oblomow zurück. »Ich werde mich bei der Gelegenheit mit dir beraten; ich habe ein doppeltes Unglück gehabt ...« »Nein, nein, ich komme lieber dieser Tage wieder«, sagte er im Fortgehen. Der liebe Freund ist im Schlamm versunken, er ist über die Ohren versunken, dachte Oblomow, ihm mit den Augen folgend. Er ist für die ganze übrige Welt blind, taub und stumm. Er wird es aber zu etwas bringen, wird mit der Zeit im Amte schalten und walten und einen hohen Rang erreichen ... Auch das heißt bei uns Karriere! Und wie wenig wird dabei beansprucht; wozu braucht man seinen Verstand, seinen Willen, seine Gefühle? Das ist ein Luxus! Er wird seine Spanne Zeit leben, und vieles, vieles, vieles wird in ihm nicht wach werden ... Und dabei arbeitet er von zwölf bis fünf in der Kanzlei und von acht bis zwölf zu Hause – der Unglückliche! Er hatte das Gefühl friedlicher Freude bei dem Gedanken, daß er die Zeit von neun bis drei und von acht bis neun auf seinem Sofa verbringen konnte, und war stolz darauf, daß er keine Berichte zu erstatten und keine Akten zu schreiben brauchte und daß seine Gefühle und seine Phantasie freien Spielraum hatten. Oblomow philosophierte und bemerkte nicht, daß neben ihm ein sehr schmächtiges, schwarzes Herrchen stand, das mit einem Backenbart, einem Schnurrbart und einer Fliege ganz bewachsen war. Er war mit absichtlicher Nachlässigkeit gekleidet. »Guten Tag, Ilja Iljitsch.« »Guten Tag, Pjenkin; kommen Sie nicht so nahe heran, Sie bringen Kälte herein!« sagte Oblomow. »Ach, Sie Sonderling!« sagte jener, »Sie sind noch immer derselbe unverbesserliche, sorglose Faulenzer!« »Ja, sorglos!« sagte Oblomow, »ich werde Ihnen gleich den Brief vom Dorfschulzen zeigen; ich zerbreche mir in einem fort den Kopf, und Sie sagen, ich bin sorglos. Woher des Weges?« »Aus der Buchhandlung. Ich hatte mich erkundigt, ob die Zeitschriften noch nicht erschienen sind. Haben Sie meinen Artikel gelesen?« »Nein.« »Ich schicke ihn her, lesen Sie ihn.« »Worüber?« fragte Oblomow, heftig gähnend. »Über den Handel, die Frauenemanzipation, über die uns zuteil gewordenen schönen Apriltage und über das neu erfundene Mittel gegen Feuerschaden. Wieso lesen Sie denn nicht? Das ist ja unser tägliches Leben. Am meisten kämpfe ich aber für die realistische Richtung in der Literatur.« »Haben Sie viel zu tun?« »Ja, genügend. Ich schreibe wöchentlich zwei Artikel für die Zeitung, dann Kritiken über Belletristik, und jetzt habe ich eine Erzählung verfaßt ...« »Wovon handelt sie?« »Davon, wie in einer Stadt der Polizeimeister die Kleinbürger ins Gesicht schlägt ...« »Ja, das ist wirklich eine realistische Richtung«, sagte Oblomow. »Nicht wahr?« bestätigte der erfreute Journalist. »Ich führe folgenden Gedanken aus, von dem ich weiß, daß er neu und kühn ist. Ein Vorüberreisender war Zeuge dieser Behandlung und beklagte sich bei seinem Zusammensein mit dem Gouverneur darüber. Dieser beauftragte den Beamten, welcher daselbst inspizieren sollte, sich nebenbei von der Sache zu überzeugen und überhaupt über die Persönlichkeit und das Benehmen des Polizeimeisters Erkundigungen einzuziehen. Der Beamte ließ die Kleinbürger kommen, angeblich um über den Handel zu sprechen, machte sich aber statt dessen daran, sie über jene Angelegenheit auszufragen. Wie haben sich aber die Kleinbürger dabei verhalten? Sie haben sich verbeugt und gelacht und haben das Lob des Polizeimeisters gesungen. Der Beamte begann, sich anderwärts zu erkundigen, und man sagte ihm, die Kleinbürger wären schreckliche Betrüger, sie handelten mit fauler Ware und übervorteilten selbst den Staat beim Wiegen und Messen, sie wären alle sehr unmoralisch, so daß die Schläge sich als eine gerechte Strafe erwiesen ...« »Die Schläge des Polizeimeisters spielen also in der Erzählung die Rolle des Fatums der alten Tragiker?« sagte Oblomow. »Sehr richtig«, fiel Pjenkin ein. »Sie haben viel Takt, Ilja Iljitsch. Sie sollten schreiben! Und dabei ist es mir gelungen, das eigenmächtige Verfahren des Polizeimeisters, die Sittenverderbtheit des Volkes, die schlechte Organisation der Beamten und die Notwendigkeit von strengen, aber gerechten Gesetzen zu zeigen ... Nicht wahr, dieser Gedanke ist ... ziemlich neu?« »Ja, besonders für mich«, sagte Oblomow, »ich lese so wenig ...« »Man sieht in der Tat keine Bücher bei Ihnen!« bemerkte Pjenkin. »Aber ich beschwöre Sie, lesen Sie das eine; es erscheint ein, man kann sagen, wunderbares satirisches Poem: ›Die Liebe des Bestechlichen zum gefallenen Weibe.‹ Ich kann Ihnen nicht sagen, wer der Autor ist. Das ist noch ein Geheimnis.« »Wie ist denn der Inhalt?« »Es wird darin der Mechanismus unserer ganzen sozialen Bewegung bloßgelegt, und das alles in poetischen Farben. Alle Federn werden berührt; alle Stufen der sozialen Leiter werden untersucht. Der Autor richtet darin den schwachen, aber verderbten Edelmann, den ganzen Schwarm der ihn betrügenden bestechlichen Beamten und alle Rangstufen der gefallenen Frauen ... Französinnen, Deutsche und Finninnen, und das alles wird mit verblüffender, lebensvoller Wahrheit geschildert ... Ich habe Bruchstücke daraus gehört – der Autor ist groß! Man glaubt in ihm bald Dante und bald Shakespeare zu vernehmen ...« »Das will aber viel heißen!« sagte Oblomow und richtete sich erstaunt auf. Pjenkin verstummte plötzlich, da er sah, daß er tatsächlich übertrieben hatte. »Wenn Sie es lesen, werden Sie selbst sehen«, fügte er schon ruhiger hinzu. »Nein, Pjenkin, ich werde es nicht lesen.« »Warum denn nicht? Es hat Lärm gemacht, man spricht davon ...« »Und wenn! Manche haben ja nichts anderes zu tun, als zu sprechen. Es gibt einen solchen Beruf.« »Lesen Sie es doch aus Neugierde.« »Was ist denn Neues darin?« sagte Oblomow. »Warum schreiben Sie bloß so zum Zeitvertreib ...« »Wieso denn? Wie wahr, wie wahr alles ist! Es ist zum Lachen ähnlich. Wie lebendige Porträts. Wenn Sie irgend jemand vornehmen, einen Kaufmann, einen Beamten, einen Offizier oder einen Wächter – ist es, als druckten sie ihn lebend ab.« »Weswegen mühen Sie sich denn ab? Des Spaßes halber, daß jeder, den Sie vornehmen, ähnlich herauskommt? Es ist aber kein Leben darin; es fehlt das Verständnis dafür, das Mitfühlen, das, was bei euch Humanität heißt. Es ist nichts wie Eitelkeit dabei. Sie beschreiben die Diebe und die gefallenen Frauen, als fingen Sie sie auf der Straße ein und führten sie ins Gefängnis. Man hört in Ihren Erzählungen nicht die unsichtbaren Tränen, sondern nur sichtbares, rohes Lachen und Zorn ...« »Was braucht man denn noch? Das ist ja ausgezeichnet, Sie haben es ja selbst ausgesprochen: Dieser flammende Zorn, das gallige Verfolgen des Lasters, das verächtliche Lachen dem gefallenen Menschen gegenüber ... darin ist ja alles!« »Nein, nicht alles!« ereiferte sich plötzlich Oblomow. »Schildere einen Dieb, ein gefallenes Weib, einen aufgeblasenen Narren, vergiß aber dabei nicht den Menschen. Wo ist denn die Menschlichkeit? Ihr wollt nur mit dem Kopf schreiben?« sagte Oblomow fast zischend. »Ihr glaubt, man braucht beim Denken kein Herz zu haben? Nein, der Gedanke wird durch die Liebe befruchtet. Reicht dem gefallenen Menschen die Hand, um ihn aufzurichten, oder weint bitterlich über ihn, aber verhöhnt ihn nicht. Liebt ihn, denkt bei ihm an euch selbst und behandelt ihn wie euch selbst, dann werde ich beginnen, euch zu lesen, und werde vor euch mein Haupt neigen ...« sagte er und legte sich wieder bequem auf das Sofa hin. »Sie schildern einen Dieb, ein gefallenes Weib«, sagte er, »und vergessen, den Menschen zu schildern, oder Sie können es nicht. Was ist denn das für eine Kunst, was für poetische Farben haben Sie dabei herausgefunden? Verfolgt das Laster, den Schmutz, aber bitte, ohne Anspruch auf Poesie.« »Wollen Sie also die Natur dargestellt haben? Rosen, die Nachtigall oder einen frostigen Morgen, während alles um Sie herum braust und wirbelt? Wir brauchen die nackte Physiologie der menschlichen Gesellschaft; wir sind jetzt nicht zu Liedern aufgelegt ...« »Gebt mir den Menschen, den Menschen!« sagte Oblomow, »liebt ihn ...« »Den Wucherer, den Heuchler, den diebischen oder stumpfsinnigen Beamten lieben – hören Sie! Was sagen Sie da? Man sieht, daß Sie sich nicht mit Literatur befassen!« sagte Pjenkin erregt. »Nein, man muß sie strafen, aus der Mitte der Bürger, aus der Gesellschaft ausstoßen ...« »Sie aus der Mitte der Bürger ausstoßen!« begann plötzlich Oblomow voll Begeisterung, sich vor Pjenkin erhebend, »das heißt vergessen, daß in diesem schlechten Gefäß ein höherer Ursprung eingeschlossen war; daß er ein verderbter Mensch, aber doch immerhin ein Mensch, das heißt einer wie ihr ist. Ausstoßen! Und wie wollt ihr ihn aus dem Kreise der Menschheit, aus dem Schoße der Natur, aus Gottes Barmherzigkeit ausstoßen?« schrie er fast mit flammenden Augen. »Sie übertreiben aber!« sagte Pjenkin, an den jetzt die Reihe zu erstaunen gekommen war. Oblomow sah, daß auch er zu weit gegangen war. Er verstummte plötzlich, blieb eine Weile stehen, gähnte und legte sich langsam auf das Sofa nieder. Sie schwiegen beide. »Was lesen Sie denn?« fragte Pjenkin. »Ich? ... meistens Reisebeschreibungen.« Ein erneutes Schweigen. »Werden Sie also das Poem lesen, wenn es erscheint? Ich würde es Ihnen bringen ...« sagte Pjenkin. Oblomow schüttelte verneinend den Kopf. »Dann werde ich Ihnen meine Erzählung schicken!« Oblomow nickte zum Zeichen der Zustimmung. »Jetzt muß ich aber in die Druckerei!« sagte Pjenkin. »Wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin? Ich wollte Ihnen den Vorschlag machen, mit mir nach Jekaterinhof zu fahren; ich habe einen Wagen. Ich muß morgen einen Artikel über den Korso schreiben; wir würden zusammen beobachten, wenn mir etwas entginge, würden Sie es mir mitteilen; das wäre lustiger. Kommen Sie mit ...« »Nein, ich bin unwohl«, sagte Oblomow, das Gesicht verziehend und sich in die Decke einhüllend; »ich fürchte die Feuchtigkeit, es ist jetzt noch nicht trocken. Kommen Sie aber heute zum Mittagessen; wir würden miteinander einiges besprechen ... Mir ist ein doppeltes Unglück passiert ...« »Nein, unsere ganze Redaktion versammelt sich heute im Restaurant Saint-Georges, von dort aus fahren wir zum Korso. Und in der Nacht muß ich schreiben und beim Morgengrauen in die Druckerei schicken. Auf Wiedersehen!« »Auf Wiedersehen, Pjenkin!« In der Nacht schreiben, dachte Oblomow, wann soll man denn schlafen? Er verdient aber sicher fünftausend jährlich! – Das ist ein Brot! Aber immer schreiben, seine Gedanken, seine Seele auf Kleinigkeiten ausgeben, die Überzeugungen ändern, mit dem Verstande und der Phantasie Handel treiben, seine Natur vergewaltigen, sich aufregen, immer glühen und entflammt sein, keine Ruhe kennen und sich immer weiter bewegen ... Und immer schreiben, immer schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: morgen, übermorgen; es kommen Feiertage, es kommt der Sommer, und er muß immer schreiben! Wann soll man da stehenbleiben und ausruhen? Der Unglückliche! Er wandte den Kopf zum Tische hin, wo alles leer war, wo das ausgetrocknete Tintenfaß stand und keine Feder zu sehen war, und freute sich, daß er sorglos wie ein neugeborenes Kind dalag, sich nicht mit so viel Dingen zu befassen und sich nicht zu verkaufen brauchte. »Und der Brief des Dorfschulzen und die Wohnung?« erinnerte er sich plötzlich und wurde nachdenklich. Jetzt aber ertönte wieder ein Läuten. »Bei mir ist ja heute der reinste Jour!« sagte Oblomow und wartete, wer eintreten würde. Es kam ein Mann von unbestimmtem Alter mit einem indifferenten Gesicht herein; er befand sich in einer Periode, in der es schwer ist, die Zahl der Jahre zu bestimmen; er war nicht schön und nicht häßlich, nicht groß und nicht klein gewachsen, weder blond noch brünett. Die Natur hatte ihm keinen einzigen ausgeprägten, bemerkbaren Zug verliehen, weder einen bösen noch einen guten. Viele nannten ihn Iwan Iwanitsch, andere – Iwan Wassiljitsch und noch andere Iwan Michailitsch. Sein Familienname wechselte auch beständig; manche sagten, er hieße Iwanow, andere nannten ihn Wassiljew oder Andrejew, noch andere Alexejew. Ein Fremder, der ihn zum ersten Male sah und dem man seinen Namen nannte, merkte sich weder diesen noch das Gesicht; er merkte sich auch nicht, was er sagte. Seine Anwesenheit bietet der Gesellschaft gar nichts, ebenso wie seine Abwesenheit ihr nichts raubt. Sein Geist besitzt weder Scharfsinn noch Originalität, noch sonst welche hervorragenden Eigenschaften, ebenso wie seinem Körper besondere Merkmale fehlen. Er hätte vielleicht das, was er gesehen und gehört hat, erzählen können und die Anwesenden wenigstens auf diese Weise amüsieren, er kam aber nirgends hin; seit er in Petersburg geboren wurde, fuhr er nirgends hin, er sah und hörte folglich nur das, was auch den anderen bekannt war. Ist ein solcher Mensch sympathisch? Liebt er? Haßt er? Leidet er? Er müßte doch lieben und nicht lieben und leiden, da ja niemand davon befreit wird. Er bringt es aber zuwege, alle zu lieben. Es gibt Menschen, in denen man, so sehr man sich auch abmüht, unmöglich Widerspruchsgeist oder Rachedurst usw. hervorrufen kann. Man mag mit ihnen tun, was man will, sie bleiben immer zärtlich. Obwohl man von solchen Menschen sagt, daß sie alle lieben und infolgedessen gut sind, lieben sie doch im Grunde niemand und sind nur darum gut, weil sie nicht böse sind. Wenn andere in seiner Anwesenheit einem Bettler ein Almosen geben, wirft auch er ihm einen Nickel hin, wenn sie den Bettler aber beschimpfen, ihn fortjagen oder verhöhnen, wird auch er mit den anderen schimpfen und höhnen. Man kann ihn nicht reich nennen, weil er nicht reich, sondern eher arm ist; man kann ihn aber auch nicht ausgesprochen arm nennen; übrigens nur darum nicht, weil es noch viel ärmere Menschen gibt als ihn. Er bezieht von irgendwo ein Einkommen von dreihundert Rubel jährlich, außerdem hat er eine mittelmäßige Anstellung und bekommt ein mittelmäßiges Gehalt; er leidet nicht Not und borgt bei niemand Geld, und es fällt niemand ein, bei ihm zu borgen. In seinem Amte wird ihm keine bestimmte, ständige Beschäftigung zugewiesen, weil weder seine Kollegen noch seine Chefs es auf irgendeine Weise herauszubringen vermögen, was er schlechter und was er besser ausführt, um beurteilen zu können, wozu er eigentlich befähigt ist. Sein Erscheinen auf der Welt wurde wohl kaum von irgend jemand außer von seiner Mutter bemerkt; sehr wenige bemerken ihn während seines Lebens; es wird wohl aber niemand bemerken, wie er aus der Welt verschwinden wird, niemand wird fragen, sein Bedauern ausdrücken, aber auch niemand wird sich über seinen Tod freuen. Er hat weder Feinde noch Freunde, aber eine Menge Bekannte. Vielleicht wird sein Leichenzug die Aufmerksamkeit des Passanten auf sich lenken, der dieser unbestimmten Persönlichkeit durch eine tiefe Verbeugung die ihr zum ersten Male zuteil werdende Ehrenbezeugung erweisen wird; vielleicht wird sogar ein Neugieriger der Prozession nachlaufen, um den Namen des Toten zu erfahren, den er sogleich wieder vergißt. Dieser ganze Alexejew, Wassiljew, Andrejew, oder wie Sie sonst wollen, daß er heißt, ist ein unvollständiger, unpersönlicher Abklatsch der Masse, ihr dumpfer Widerhall und unklarer Widerschein. Sogar Sachar, der in offenherzigen Gesprächen in den Versammlungen beim Haustor oder im Krämerladen eine scharfe Charakteristik aller Gäste, die seinen Herrn besuchten, entwarf, wurde immer verlegen, wenn dieser ... sagen wir Alexejew an die Reihe kam. Er dachte lange nach, suchte lange irgendeinen scharfen Zug, an dem man sich festhalten könnte, im Äußern, in den Manieren oder im Charakter dieses Menschen zu entdecken, zuckte endlich die Achseln und drückte sich so aus: »Und dieser ist weder Fisch noch Fleisch noch Gemüse!« »Ah!« empfing ihn Oblomow, »das sind Sie, Alexejew? Guten Tag. Woher? Kommen Sie nicht in meine Nähe; ich gebe Ihnen nicht die Hand. Sie bringen Kälte herein!« »Aber es ist ja gar nicht kalt! Ich hatte nicht die Absicht, heute zu Ihnen zu kommen«, sagte Alexejew, »ich bin aber Owtschinin begegnet, und er hat mich mitgenommen. Ich komme, um Sie abzuholen, Ilja Iljitsch.« »Wohin denn?« »Kommen Sie zu Owtschinin mit. Dort sind Matwjej Andreitsch Oljanow, Kasimir Albertitsch Pchailo und Wassili Sewastjanitsch Kolimjagin.« »Wozu haben sie sich dort versammelt, und wozu brauchen sie mich?« »Owtschinin ladet Sie zum Mittagessen ein.« »Hm! zum Mittagessen ...« wiederholte Oblomow eintönig. »Und dann fahren alle nach Jekaterinhof; er wird Ihnen sagen lassen, Sie möchten einen Wagen neh men.« »Und was wird man dort tun?« »Was! Heut ist doch Korso dort. Wissen Sie nicht? Heute ist der erste Mai!« »Setzen Sie sich; wir werden uns die Sache überlegen ...« sagte Oblomow. »Stehen Sie doch auf! Es ist Zeit, sich anzukleiden.« »Warten Sie ein wenig, es ist ja noch früh.« »Es ist gar nicht mehr früh! Er hat gebeten, Sie möchten um zwölf Uhr kommen; wir werden etwas früher essen, damit wir um zwei Uhr schon fertig sind, und fahren dann zum Korso. Gehen wir also gleich! Soll ich Ihnen die Kleider geben lassen?« »Wieso die Kleider? Ich habe mich noch nicht gewaschen.« »Waschen Sie sich also.« Alexejew begann im Zimmer auf und ab zu gehen, blieb dann vor einem Bilde stehen, das er tausendmal früher gesehen hatte, blickte flüchtig zum Fenster hinaus, nahm irgendeinen Gegenstand von der Etagere herunter, drehte ihn in den Händen herum, betrachtete ihn von allen Seiten, legte ihn dann hin und begann wieder pfeifend auf und ab zu gehen, um Oblomow beim Aufstehen und Waschen nicht zu stören. So vergingen zehn Minuten. »Was ist denn mit Ihnen«, fragte plötzlich Alexejew Ilja Iljitsch. »Was denn?« »Sie liegen ja noch immer!« »Muß ich denn aufstehen?« »Aber gewiß! Man erwartet uns. Sie wollten ja mitkommen.« »Wohin denn? Ich wollte nirgends mitkommen ...« »Wir haben doch eben davon gesprochen, daß wir zu Owtschinin zum Essen, und dann nach Jekaterinhof fahren ...« »Ich soll in dieser Nässe fahren! Und was gibt es dort Besonderes? Es sieht nach Regen aus, es wird trüb«, sagte Oblomow träge. »Es ist kein Wölkchen am Himmel, und Sie denken sich einen Regen aus! Es ist deshalb trübe, weil die Fenster bei Ihnen schon sehr lange nicht mehr geputzt worden sind. Wieviel Schmutz darauf ist! Man sieht nichts, und außerdem ist die eine Jalousie fast ganz geschlossen.« »Ja, erwähnen Sie das nur einmal in Sachars Anwesenheit, da wird er Ihnen gleich Abwaschfrauen vorschlagen und mich für den ganzen Tag aus dem Hause jagen!« Oblomow sann nach, während Alexejew mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, an dem er saß, und die Augen zerstreut über die Wände und die Zimmerdecke irren ließ. »Also wie wird es sein? Was tun wir? Ziehen Sie sich an oder bleiben Sie so?« fragte er nach ein paar Minuten. »Wohin?« »Nach Jekaterinhof!« »Was finden Sie denn an diesem Jekaterinhof!« antwortete Oblomow ärgerlich. »Können Sie denn hier nicht sitzenbleiben? Ist es denn kalt im Zimmer oder ist hier schlechte Luft, daß Sie hinaus wollen?« »Nein, ich fühle mich bei Ihnen immer wohl; ich bin hier zufrieden«, sagte Alexejew. »Also, wenn es hier schön ist, wozu dann anderswohin wollen? Bleiben Sie lieber den ganzen Tag bei mir, essen Sie hier zu Mittag, und gehen Sie dann abends, wenn es sein muß ... Übrigens, ich habe ganz vergessen: ich kann ja gar nicht mitfahren! Tarantjew kommt zum Essen; es ist ja heute Samstag.« »Wenn es so ist ... gut ... wie Sie wollen ...« sagte Alexejew. »Habe ich Ihnen noch nichts von meinen Angelegenheiten erzählt?« fragte Oblomow lebhaft. »Von welchen Angelegenheiten? Ich weiß nichts«, antwortete Alexejew, ihn neugierig anblickend. »Wissen Sie, warum ich so lange nicht aufstehe? Ich habe immer dagelegen und habe nachgedacht, wie ich mich von der Verlegenheit befreien soll.« »Was ist es denn?« fragte Alexejew und bestrebte sich, ein erschrockenes Gesicht zu machen. »Ich habe ein doppeltes Unglück! Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Was denn für eins?« »Man jagt mich aus der Wohnung heraus, denken Sie sich – ich soll umziehen: das Einpacken, die Schererei ... es ist schrecklich, daran zu denken! Ich wohne doch nun acht Jahre in dem Hause. Der Hausherr hat mir einen Streich gespielt und sagt: ›Räumen Sie schnell die Wohnung.‹« »Und noch dazu schnell! Es muß also sein. Das Umziehen ist etwas sehr Unangenehmes; damit sind immer viele Scherereien verbunden«, sagte Alexejew. »Vieles wird zerschlagen und geht verloren – das ist sehr langweilig! Und Sie haben eine so schöne Wohnung ... Was zahlen Sie?« »Wo findet man eine zweite solche Wohnung«, sagte Oblomow, »und noch dazu in der Eile? Die Wohnung ist trocken und warm; es ist ein ruhiges Haus; man hat mich nur einmal bestohlen. Die Zimmerdecke schaut ganz unzuverlässig aus, der Mörtel ist ganz lose daran, fällt aber doch nicht herab.« »Wirklich?« sagte Alexejew, den Kopf hin und her wiegend. »Wie soll man es einrichten, daß ich nicht umziehen muß?« sagte Oblomow grübelnd vor sich hin. »Haben Sie Ihre Wohnung kontraktlich gemietet?« fragte Alexejew, das Zimmer von der Decke bis zum Fußboden musternd. »Ja, aber der Kontrakt ist abgelaufen; ich habe die ganze Zeit monatlich gezahlt ... ich weiß aber nicht wie lange.« Beide sannen nach. »Was haben Sie also vor?« fragte Alexejew nach einem Schweigen, »ziehen Sie um oder bleiben Sie?« »Ich habe gar nichts vor«, sagte Oblomow, »ich will gar nicht daran denken. Sachar soll etwas erfinden.« »Und manche Menschen lieben das Umziehen«, sagte Alexejew, »das Wohnungswechseln ist ihr einziges Vergnügen ...« »Nun, dann sollen die ›Manchen‹ auch umziehen! Aber ich kann alle diese Veränderungen nicht ausstehen! Die Wohnung ist noch das wenigste! Schauen Sie einmal, was mir der Dorfschulze schreibt. Ich werde Ihnen gleich den Brief zeigen ... Wo ist er? Sachar, Sachar!« »Ach du himmlische Jungfrau!« krächzte Sachar in seinem Zimmer, indem er von der Ofenbank heruntersprang: »Wann wird mich Gott zu sich rufen?« Er kam herein und blickte den Herrn mit trüben Augen an. »Warum hast du den Brief nicht gefunden?« »Wo soll ich ihn finden? Weiß ich denn, was für einen Brief Sie brauchen? Ich kann nicht lesen.« »Das ist ganz gleich, suche nur«, sagte Oblomow. »Sie haben gestern abend irgendeinen Brief gelesen«, sprach Sachar, »und dann hab' ich ihn nicht mehr gesehen.« »Wo ist er denn«, entgegnete Oblomow ärgerlich. »Ich hab' ihn nicht verschluckt. Ich erinnere mich sehr gut, daß du ihn mir fortgenommen und irgendwohin gelegt hast. Schau einmal nach, wo er ist!« Er schüttelte die Decke; der Brief fiel aus den Falten auf den Fußboden. »Sie schieben immer alles auf mich ...« »Nun, geh nur, geh nur!« Oblomow und Sachar schrien zu gleicher Zeit einander an. Sachar ging, und Oblomow begann den Brief zu lesen, dessen graues Papier mit Kwaß beschrieben zu sein schien und der mit braunem Siegellack versiegelt war. »Geehrter Herr«, begann Oblomow, »Euer Wohlgeboren, unser Vater und Ernährer, Ilja Iljitsch ...!« Er übersprang ein paar Begrüßungsworte und Wünsche für sein Wohlergehen und las aus der Mitte weiter: »Ich berichte Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren, daß auf Deinem Gut, Du unser Ernährer, alles in Ordnung ist. Wir haben schon seit fünf Wochen keinen Regen. Der Herrgott zürnt uns wohl, da er uns keinen Regen sendet. Selbst die Alten können sich einer solchen Dürre nicht erinnern. Die Sommersaaten sind wie vom Feuer verbrannt. Die Wintersaaten sind an manchen Stellen von Würmern zernagt, und an manchen Stellen haben frühzeitige Fröste sie zugrunde gerichtet; wir haben sie zu Sommersaaten umgepflügt, wissen aber nicht, ob es geraten wird! Vielleicht wird der barmherzige Gott Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren helfen, um uns sorgen wir uns nicht, wir sollen nur krepieren. Und zu Johanni sind noch drei Bauern fort: Laptjew, Balotschow und Wassjka, der Sohn vom Schmied ist allein fort. Ich hab' die Weiber nach den Männern geschickt. Die Weiber sind nicht zurückgekehrt und leben, wie man sagt, in Tscholki, und mein Gevatter aus Werchljewo ist auch nach Tscholki gefahren, der Verwalter hat ihn hingeschickt; man soll einen ausländischen Pflug hingebracht haben, und der Verwalter hat den Gevatter nach Tscholki geschickt, damit er diesen Pflug anschaue. Ich habe dem Gevatter von den flüchtigen Bauern erzählt; ich habe mich dem Kreisrichter zu Füßen geworfen, er hat gesagt: ›Reiche ein Papier ein, dann werden wir die Bauern nach ihrem früheren Wohnort zurückschicken‹, sonst hat er nichts gesagt, und ich bin ihm zu Füßen gefallen und hab' ihn flehentlich gebeten; und er hat mich laut angeschrien: ›Geh, geh! Man hat dir gesagt, daß es gemacht wird – reiche ein Papier ein!‹ Ich habe aber kein Papier eingereicht. Man kann hier niemand zur Arbeit aufnehmen; alle sind an die Wolga gegangen, sie arbeiten dort auf den Barken. Das Volk ist jetzt hier so dumm geworden, unser Ernährer Väterchen Ilja Iljitsch! Unser Leinen kommt dies Jahr nicht auf den Markt: ich hab' die Bleichkammer und die Trockenkammer zugeschlossen und habe den Sitschug angestellt, bei Tag und bei Nacht aufzupassen; er ist ein nüchterner Bauer, ich bin aber bei Tag und Nacht hinter ihm her, damit er nichts von der Herrschaft einsteckt. Die anderen trinken viel und zahlen gar nichts. Die Abgaben sind im großen Rückstand: wir werden Dir, Du unser Väterchen und Wohltäter, in diesem Jahr um zwei Tausend weniger schicken als im vergangenen Jahr, wenn uns die Dürre nicht ganz zugrunde richtet, sonst schicken wir es Dir, was wir Deinem Wohlgeboren hiermit mitteilen.« Dann folgten Versicherungen der Ergebenheit und die Unterschrift: »Dein Dorfschulze, Dein ergebener Sklave Prokofij Witjaguschkin hat eigenhändig unterschrieben.« Da der Betreffende des Schreibens nicht kundig war, hatte er ein Kreuz hingemalt. »Nach dem Diktat des obigen Dorfschulzen von seinem Schwager Djomka, dem Krummen, geschrieben.« Oblomow sah sich den Schluß des Briefes an. »Es ist weder der Monat noch das Jahr angegeben«, sagte er, »der Brief liegt gewiß seit vorigem Jahr beim Dorfschulzen; es steht von Johanni und der Dürre drin! Es ist ihm erst jetzt eingefallen, ihn fortzuschicken«; er vertiefte sich in seine Gedanken. »Nun?« fragte er dann, »was sagen Sie dazu? Er bietet mir ›um zwei Tausend weniger‹ an! Wieviel bleibt denn da? Wieviel habe ich voriges Jahr bekommen?« fragte er, Alexejew anblickend. »Habe ich's Ihnen damals nicht gesagt? ...« Alexejew wandte seine Augen der Zimmerdecke zu und dachte nach. »Ich muß Stolz fragen, wenn er kommt«, fuhr Oblomow fort, »ich glaube, sieben oder acht Tausend ... es ist schlimm, wenn das nicht geschrieben wird! Er teilt mir jetzt also nur sechs zu! Ich werde ja verhungern! Wie soll ich damit auskommen?« »Warum regen Sie sich so auf, Ilja Iljitsch?« sagte Alexejew, »man darf niemals verzweifeln; wenn etwas gemahlen ist, wird Mehl daraus.« »Hören Sie denn nicht, was er schreibt? Anstatt mir Geld zu schicken, mich irgendwie schadlos zu halten, bereitet er mir, wie um sich über mich lustig zu machen, lauter Unannehmlichkeiten! Und so ist es jedes Jahr! Ich bin jetzt ganz außer mir! ›Um zwei Tausend weniger‹!« »Ja, das ist ein großer Schaden«, sagte Alexejew, »zwei Tausend, das ist kein Spaß mehr! Alexei Loginitsch soll in diesem Jahr auch nur zwölftausend statt siebzehn bekommen haben.« »Also doch zwölf und nicht sechs«, unterbrach ihn Oblomow. »Der Dorfschulze hat mich ganz verstimmt! Und wenn es auch tatsächlich so ist, daß Mißernte und Dürre herrschen, warum muß er mich da im vorhinein kränken?« »Ja ... wirklich«, begann Alexejew, »das sollte er nicht tun; aber wie kann man denn von einem Bauern Feinfühligkeit erwarten? Dieses Volk versteht gar nichts.« »Was würden Sie an meiner Stelle tun?« fragte Oblomow und blickte Alexejew mit der schwachen Hoffnung an, dieser würde sich zu seiner Beruhigung etwas ausdenken. »Man muß die Sache überlegen, Ilja Iljitsch, das kann man nicht auf einmal abtun«, sagte Alexejew. »Soll ich vielleicht dem Gouverneur schreiben?« sagte Ilja Iljitsch nachdenklich. »Wer ist denn dort Gouverneur?« Ilja Iljitsch antwortete nicht und sann nach. Alexejew schwieg und vertiefte sich auch in seine Gedanken. Oblomow zerknitterte den Brief, stützte seinen Kopf auf die Hände, stemmte seine Ellbogen gegen die Knie und saß einige Zeit so da, vom Ansturm beunruhigender Gedanken gepeinigt. »Wenn wenigstens Stolz bald käme«, sagte er, »er schreibt, daß er bald hier sein wird, und treibt sich dabei Gott weiß wo herum! Er hätte mir alles geordnet.« Er wurde wieder traurig. Lange Zeit schwiegen beide. Endlich kam Oblomow als erster zur Besinnung. »Man muß folgendes tun!« sagte er entschlossen und wäre fast aufgestanden, »und das muß möglichst bald geschehen, man darf nicht zögern ... Erstens ...« Da ertönte ein verzweifeltes Läuten im Vorzimmer, so daß Oblomow und Alexejew zusammenfuhren und Sachar augenblicklich von der Ofenbank herabsprang. Drittes Kapitel Drittes Kapitel »Zu Hause?« fragte jemand im Vorzimmer laut und grob. »Wohin soll man um diese Zeit gehen?« antwortete Sachar noch gröber. Es kam ein etwa vierzigjähriger Mann herein, der einer stämmigen Rasse anzugehören schien, groß, in den Schultern und im ganzen Körper breit war, ausgeprägte Gesichtszüge, einen großen Kopf, einen stämmigen kurzen Nacken, große Glotzaugen und dicke Lippen besaß. Ein flüchtiger Blick auf diesen Menschen erzeugte die Vorstellung von etwas Grobem und Unsauberem. Man sah, daß er sich nicht um die Eleganz seines Anzuges kümmerte. Man kam selten dazu, ihn ordentlich rasiert zu sehen. Doch das war ihm offenbar gleichgültig; seine Kleidung brachte ihn nicht in Verlegenheit und wurde von ihm mit einer zynischen Würde getragen. Das war Michej Andrejitsch Tarantjew, Oblomows Landsmann. Tarantjew blickte alles düster an, mit halber Verachtung und offenkundiger Feindseligkeit seiner Umgebung gegenüber, er war bereit, über alle und alles auf der Welt zu schimpfen, als wäre er ungerecht gekränkt oder in irgendeiner seiner Eigenschaften verkannt worden, wie ein selbständiger, vom Schicksal verfolgter Charakter, der sich nur unfreiwillig und protestierend fügt. Seine Bewegungen waren selbstbewußt und schwungvoll; er sprach laut, dreist und fast immer zornig; wenn man ihm aus der Ferne zuhörte, schien es, drei leere Fuhren rasselten über eine Brücke. Er ließ sich durch niemands Anwesenheit einschüchtern, suchte nicht lange nach Ausdrücken und war überhaupt immer mit allen grob, ohne seine Freunde auszuschließen, als wollte er einen jeden fühlen lassen, daß er ihm durch sein Sprechen, selbst durch sein Teilnehmen am Mittagessen oder Abendbrot eine große Ehre erwies. Tarantjew war schlagfertig und schlau; niemand konnte besser als er eine Frage des alltäglichen Lebens oder eine verwickelte juridische Angelegenheit klarlegen: er stellte sogleich eine Theorie auf, wie in dem einen oder dem andern Fall zu handeln war, führte sehr treffende Beweise an und wurde zum Schluß fast immer gegen denjenigen, der seinen Rat begehrt hatte, grob. Dabei bekleidete er selbst, trotz seiner grauen Haare, noch dasselbe Schreiberamt in irgendeiner Kanzlei, das er vor fünfundzwanzig Jahren angenommen hatte. Es fiel weder ihm noch irgend jemand anderem ein, daß er avancieren könnte. Die Sache war die, daß Tarantjew nur gut zu sprechen verstand; in der Theorie entschied er alles, besonders das, was andere anging, klar und leicht. Sowie er aber nur einen Finger bewegen, sich erheben oder überhaupt den von ihm selbst erdachten Plan anwenden, der Sache eine praktische Richtung geben und sie schnell in Gang bringen sollte, wurde er ein ganz anderer Mensch: dazu reichte es bei ihm nicht aus, es wurde ihm plötzlich zu viel, bald war er unwohl, bald schickte es sich nicht oder es fiel ihm etwas Neues ein, das er auch nicht in Angriff nahm, oder aus dem, wenn er es tat, Gott weiß was herauskam. Dann war er wie ein Kind: bei dem einen paßte er nicht genug auf, bei dem andern wußte er irgendeine Kleinigkeit nicht, oder er kam zu spät und ließ die Sache zum Schluß halbvollendet, oder er packte sie beim verkehrten Ende an und verhunzte alles in einer solchen Weise, daß man es gar nicht wieder gutmachen konnte, und dabei war er noch imstande zu schimpfen. Sein Vater, der ein altmodischer Gerichtsschreiber in der Provinz war, wollte seinem Sohn seine Kunst und Erfahrung, sich mit fremden Angelegenheiten abzugeben, und seine mit Erfolg zurückgelegte Laufbahn in Amtsdiensten als Erbe überlassen, doch das Schicksal fügte es anders. Der Vater, der, wie es einst in Rußland üblich war, sich seine Bildung für ein paar Kupfermünzen angeeignet hatte, wollte seinen Sohn mit der Zeit mitgehen lassen und wünschte, ihm auch außer der schwierigen Kunst, fremde Angelegenheiten zu vertreten, etwas beizubringen. Er schickte ihn drei Jahre lang zum Popen, wo er Latein lernte. Der von Natur aus begabte Knabe hatte im Laufe der drei Jahre die lateinische Grammatik samt Syntax bewältigt und begann gerade Cornelius Nepos zu lesen, als sein Vater entschied, daß er schon genügend wußte, daß er auch durch diese seine Kenntnisse der alten Generation gegenüber einen ungeheuren Vorsprung gewonnen hatte und endlich, daß ihm seine weiteren Studien möglicherweise im Amtsdienst schaden konnten. Der sechzehnjährige Michej wußte nun nicht, was er mit seinem Latein beginnen sollte, und vergaß es nach und nach in seinem Elternhause, nahm aber dafür, in Erwartung der großen Ehre, im Landes-und Kreisgericht anwesend sein zu dürfen, an allen Festgelagen seines Vaters teil, und in dieser Schule, inmitten der aufrichtigen Gespräche, verfeinerte und entwickelte sich der Geist des jungen Mannes. Er lauschte mit jugendlicher Empfänglichkeit den Erzählungen des Vaters und dessen Kameraden von verschiedenen strafrechtlichen und zivilen Angelegenheiten, von all den interessanten Fällen, welche durch die Hände aller dieser altmodischen Gerichtsschreiber gegangen waren. Doch das alles führte zu nichts. Michej wurde zu keinem Sachkundigen und Fintenmacher, obwohl alle Bemühungen des Vaters darauf gerichtet waren und auch gewiß von Erfolg gekrönt worden wären, wenn das Schicksal seine Absichten nicht hintertrieben hätte. Michej hatte sich tatsächlich die ganze Theorie der väterlichen Belehrungen angeeignet, er brauchte sie nur anzuwenden; doch er kam infolge des Todes seines Vaters nicht dazu, eine Anstellung bei Gericht zu erlangen, und er wurde von einem Wohltäter, der ihm eine Schreiberstelle in irgendeinem Departement verschafft hatte und ihn später vergaß, nach Petersburg mitgenommen. Auf diese Weise blieb Tarantjew sein Leben lang nur Theoretiker. Er konnte in dem Petersburger Amt mit seinem Latein und mit seiner raffinierten Theorie, gerechte und rechtlose Sachen willkürlich zum Ziele zu führen, nichts anfangen. Und dabei trug er die schlummernde Kraft bewußt mit sich herum, die durch feindliche Umstände ohne Hoffnung auf Befreiung in ihm eingeschlossen war. Vielleicht war Tarantjew infolge dieses Bewußtseins so grob, feindselig, immer zornig und streitsüchtig im Verkehr. Er verhielt sich seinen amtlichen Beschäftigungen, dem Abschreiben von Papieren, dem Zusammennähen von Akten usw. gegenüber voll Bitterkeit und Verachtung. Ihm lächelte in der Zukunft nur die eine letzte Hoffnung entgegen: bei der Akzise angestellt zu werden; das war für ihn der einzige Weg, der für die ihm vom Vater vermachte, aber nicht erreichte Laufbahn einen lohnenden Tausch bot. Und in Erwartung all dessen äußerte sich die fertige, von seinem Vater erschaffene Theorie der Tätigkeit und Lebensführung, diese Theorie der Bestechlichkeit und der Kniffe, nachdem sie um ihre würdigste Anwendung in der Provinz gekommen war, in allen Details seiner nichtigen Existenz zu Petersburg und schlich sich in Ermangelung von offizieller Betätigung in alle seine freundschaftlichen Beziehungen ein. Er war seiner Seele und seinen Prinzipien nach bestechlich und brachte es fertig, in Ermangelung von Geschäften und Bittstellern von seinen Kameraden und Kollegen Bestechungsgelder einzufordern, Gott weiß warum und wofür, ließ sich, von wem und wo es nur ging, bald durch List, bald durch Aufdringlichkeit freihalten, verlangte allen unverdiente Achtung ab und suchte Händel. Seine abgetragenen Kleider brachten ihn niemals in Verlegenheit; doch er wurde unruhig, wenn er in der Perspektive des Tages kein opulentes Mittagmahl mit einer angemessenen Quantität von Wein und Schnaps vor sich sah. Infolgedessen spielte er im Kreise seiner Bekannten die Rolle eines großen Kettenhundes, der alle anbellte und von keinem sich berühren ließ, dabei aber unfehlbar jedes Stück Fleisch im Fluge auffing, woher und wohin es auch fliegen mochte. So waren die beiden eifrigsten Besucher Oblomows. Warum kamen diese beiden russischen Proletarier zu ihm? Das wußten sie sehr gut: um zu essen, zu trinken und gute Zigarren zu rauchen. Sie fanden warme, ruhige Räume und einen gleichmäßigen, wenn nicht freudigen, so doch gleichgültigen Empfang. Aber warum Oblomow sie zu sich ließ, darüber gab er sich wohl kaum Rechenschaft. Wahrscheinlich aus demselben Grunde, aus welchem noch bis heute in unseren entlegenen Oblomowkas 1 in jedem wohlhabenden Hause sich ein Schwarm ähnlicher Persönlichkeiten beiderlei Geschlechtes drängt, ohne Brot, ohne Beschäftigung, ohne Hände, um etwas zu produzieren, nur mit einem Magen, um zu konsumieren, aber fast immer mit einem Rang und einem Titel. Es gibt noch Sybariten, für welche solche Anhängsel in ihrem Leben ein Bedürfnis sind: sie langweilen sich, wenn sie auf der Welt nicht etwas Überflüssiges haben. Wer wird eine irgendwohin verschwundene Tabatiere reichen, oder wer wird das auf den Fußboden herabgefallene Taschentuch aufheben? Wem kann man mit einem Anrecht auf Teilnahme über Kopfweh klagen, einen bösen Traum erzählen und dessen Deutung verlangen? Wer wird vor dem Schlaf vorlesen und einzuschlafen helfen? Und manchmal wird ein solcher Proletarier in die nächste Stadt zum Einkauf geschickt und hilft in der Wirtschaft mit – man wird sich doch mit diesen Dingen nicht selbst befassen! Tarantjew machte viel Lärm und rüttelte Oblomow aus seiner Unbeweglichkeit und Langeweile auf. Er schrie, stritt und führte selbst etwas von der Art einer Vorstellung auf, indem er den faulen Edelmann von der Notwendigkeit zu sprechen und zu handeln befreite. Tarantjew brachte in das Zimmer, in welchem Schlaf und Ruhe herrschten, Leben, Bewegung und manchmal Kunde von außen, Oblomow konnte ohne einen Finger zu rühren etwas Lebendiges sehen und hören, das sich vor ihm bewegte und sprach. Außerdem war er noch einfältig genug zu glauben, Tarantjew wäre imstande, ihm tatsächlich etwas Brauchbares anzuraten. Alexejews Besuche wurden von Oblomow aus einem anderen, nicht minder wichtigen Grunde geduldet. Wenn er die Zeit nach seinem Geschmack verbringen, d.h. schweigend daliegen, schlummern oder im Zimmer auf und ab gehen wollte, schien Alexejew gar nicht anwesend zu sein; er schwieg gleichfalls, schlummerte oder blickte in ein Buch hinein und betrachtete mit einem faulen Gähnen, bis zu Tränen, die Bilder und Kleinigkeiten. Er konnte drei Tage ununterbrochen auf diese Weise verbringen. Wenn das Alleinsein Oblomow aber lästig wurde, wenn er das Bedürfnis zu sprechen, zu lesen, zu räsonieren, irgendeine Erregung zu äußern, fühlte, hatte er stets einen gehorsamen und bereitwilligen Gesellschafter vor sich, der sein Schweigen und Sprechen, seine Aufregung und seine Denkweise, wie diese auch sein mochten, mit dem gleichen Diensteifer teilte. Die übrigen Gäste kamen selten, nur auf einen Augenblick, wie die früheren drei; das lebenskräftige Band, das ihn mit ihnen allen verbunden hatte, lockerte sich immer mehr und mehr. Oblomow interessierte sich manchmal für irgendeine Neuigkeit, für ein Gespräch von fünf Minuten, und schwieg dann befriedigt. Man mußte sich ihnen durch Aufmerksamkeit erkenntlich erweisen und an allem, was sie interessierte, teilnehmen. Sie ließen sich vom Menschenstrom forttragen; ein jeder von ihnen faßte das Leben auf seine Weise auf, so, wie Oblomow es nicht auffassen wollte; sie drängten ihn aber auch hinein. Das alles mißfiel ihm, stieß ihn ab, war ihm unangenehm. Nur ein Mensch war nach seinem Geschmack; auch dieser störte ihn in seiner Ruhe; auch dieser liebte das Neue, die Welt, die Wissenschaft und das ganze Leben, doch er liebte das alles tiefer, wärmer, aufrichtiger – und Oblomow, der mit allen freundlich war, liebte nur ihn allein von Herzen und glaubte nur ihm allein, vielleicht deswegen, weil er mit ihm zusammen aufgewachsen war, mit ihm zusammen gelernt und gelebt hatte. Das war Andrej Iwanitsch Stolz. Er war abwesend, doch Oblomow erwartete ihn stündlich. Fußnoten 1 Die vom Familiennamen des Besitzers abgeleitete Benennung des Gutes. Viertes Kapitel Viertes Kapitel »Guten Tag, Landsmann«, sagte Tarantjew kurz angebunden, seine zottige Hand Oblomow hinstreckend. »Warum liegst du noch bis jetzt wie ein Holzklotz da?« »Komm nicht heran, komm nicht heran: du bringst Kälte mit«, sagte Oblomow, sich zudeckend. »Was du dir einbildest! Ich sollte Kälte mitbringen?!« schrie Tarantjew auf. »Nimm nur die Hand, wenn man sie dir reicht! Es ist bald zwölf Uhr, und er liegt noch herum!« Er wollte Oblomow vom Bett aufheben, doch dieser kam ihm zuvor, indem er die Füße rasch herabgleiten ließ und sofort in beide Pantoffeln zugleich schlüpfte. »Ich wollte selbst bald aufstehen«, sagte er gähnend. »Ich weiß schon, wie du aufstehen wolltest; du wärest bis zum Mittagessen liegen geblieben. He, Sachar! wo steckst du, alter Dummkopf? Hilf dem Herrn beim Anziehen.« »Schaffen Sie sich zuerst Ihren eigenen Sachar an, dann können Sie schimpfen!« sagte Sachar, ins Zimmer tretend und Tarantjew feindselig anblickend. »Wieviel Straßenkot Sie hereingebracht haben, wie ein Hausierer!« fügte er hinzu. »Du redest noch, du Teufelsfratze!« antwortete Tarantjew und hob den Fuß auf, um den vorübergehenden Sachar zu stoßen; doch dieser blieb stehen, wandte sich zu ihm hin und machte sich kampfbereit. »Rühren Sie mich nur an! Was ist denn das? Ich gehe ...« sagte er und näherte sich der Tür. »Aber hör doch auf, Michej Andreitsch, wie aufgeregt du bist! Warum läßt du ihn nicht in Ruh'?« sagte Oblomow. »Sachar, gib alles her, was ich brauche!« Sachar kehrte um und lief, Tarantjew anschielend, geschwind an ihm vorüber. Oblomow stütze sich auf ihn, erhob sich ungern, wie ein sehr ermüdeter Mensch, vom Bett, ließ sich ebenso ungern in einen großen Lehnstuhl sinken und blieb reglos sitzen. Sachar nahm vom Tischchen Pomade, die Kämme und Bürsten, schmierte ihm den Kopf mit Pomade ein, machte ihm einen Scheitel und bürstete ihm dann die Haare. »Werden Sie sich jetzt waschen?« fragte er. »Ich werde noch ein wenig warten«, antwortete Oblomow, »geh!« »Ah, Sie sind auch da?« sagte Tarantjew, sich plötzlich an Alexejew wendend, während Sachar Oblomow frisierte, »ich habe Sie gar nicht gesehen. Weshalb sind Sie hier? Ihr Verwandter ist ein solches Schwein! Ich wollte es Ihnen immer sagen ...« »Was für ein Verwandter? Ich habe gar keinen Verwandten«, antwortete schüchtern der verblüffte Alexejew und glotzte Tarantjew an. »Nun dieser da, welcher hier angestellt ist, wer ist es doch gleich? ... Er heißt Afanassjew. Wieso soll er denn nicht Ihr Verwandter sein? Er ist doch Ihr Verwandter.« »Ich bin doch nicht Afanassjew, ich bin Alexejew«, sagte dieser, »ich habe keinen Verwandten.« »Das ist nicht Ihr Verwandter? Er ist ebenso unansehnlich wie Sie und heißt auch Wassilij Nikolaitsch.« »Bei Gott, er ist nicht mit mir verwandt; ich heiße Iwan Alexeitsch.« »Nun, das ist ganz gleich, er sieht Ihnen ähnlich. Er ist aber ein Schwein; sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn sehen.« »Ich kenne ihn nicht und habe ihn niemals gesehen«, sagte Alexejew, seine Tabatiere öffnend. »Geben Sie mir einmal Ihren Tabak«, sagte Tarantjew, »Sie haben einfachen und keinen französischen Tabak? Ja gewiß«, sagte er, nachdem er geschnupft hatte, »warum haben Sie keinen französischen?« fügte er dann strenge hinzu. »Wirklich, ich habe noch niemals ein solches Schwein gesehen, wie Ihr Verwandter es ist«, fuhr Tarantjew fort. »Ich habe von ihm einmal, es wird schon zwei Jahre her sein, fünfzig Rubel geborgt. Nun, sind denn fünfzig Rubel viel Geld? Wie sollte man so etwas nicht vergessen? Er denkt aber noch daran; er sagt mir nach einem Monat, wo er mich auch trifft: ›Und wie steht's mit Ihrer Schuld?‹ Es ist mir zu dumm geworden! Außerdem ist er gestern in unser Departement gekommen. ›Sie haben gewiß Ihr Gehalt bekommen‹, sagte er, ›jetzt können Sie mir das Geld zurückgeben.‹ Ich habe ihm mein Gehalt gegeben und habe ihn vor allen so beschämt, daß er mit Mühe zur Tür hinaus gefunden hat. Er sagt: ›Ich bin ein armer Mann, ich brauche es selbst!‹ Als ob ich es nicht brauchte! Bin ich denn so reich, um ihm immer fünfzig Rubel abzuzählen! Gib mir eine Zigarre, Landsmann.« »Die Zigarren liegen dort in der Schachtel«, antwortete Oblomow, auf die Etagere zeigend. Er saß sinnend in seiner schönen, trägen Stellung im Lehnstuhl, ohne zu sehen, was um ihn her vorging, und ohne zu hören, was gesprochen wurde. Er blickte seine kleinen, weißen Hände liebevoll an und streichelte sie. »Ah, das sind ja noch immer dieselben?« fragte Tarantjew streng, sich eine Zigarre herausnehmend und Oblomow anblickend. »Ja, es sind dieselben«, antwortete Oblomow mechanisch. »Und ich habe dir doch gesagt, du sollst dir andere, ausländische kaufen! So denkst du daran, was man dir sagt! Also schau zu, daß nächsten Samstag welche da sind, sonst komme ich lange nicht mehr her. Was das für ein Zeug ist!« sprach er weiter, sich die Zigarre anzündend, paffte eine Rauchwolke in die Luft und zog eine zweite ein, »man kann das gar nicht rauchen.« »Du bist heute früh gekommen, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow gähnend. »Bist du vielleicht meiner überdrüssig?« »Nein, ich habe das nur so bemerkt; du kommst gewöhnlich direkt zum Essen, und jetzt geht es erst auf ein Uhr.« »Ich bin absichtlich früher gekommen, um zu erfahren, was heute für ein Mittagessen ist. Du fütterst mich immer mit elendem Zeug, ich möchte also erfahren, was du für heute bestellt hast.« »Frage in der Küche nach«, sagte Oblomow. Tarantjew ging hinaus. »Aber was ist denn das!« sagte er, als er zurückkam, »Rindfleisch und Kalbsbraten. Ach, Bruder Oblomow, du verstehst nicht zu leben und bist noch dabei Gutsbesitzer! Was bist du für ein Edelmann? Du lebst wie ein Kleinbürger; du verstehst es nicht, einen Freund zu bewirten! Nun, hast du Madeira gekauft?« »Ich weiß nicht, frage Sachar«, sagte Oblomow, fast ohne ihm zuzuhören, »es ist gewiß Wein da.« »Der frühere deutsche? Nein, laß einen in der englischen Handlung kaufen.« »Dieser ist auch gut genug«, sagte Oblomow, »sonst muß ich noch hinschicken!« »Gib mir Geld, ich gehe vorüber und bringe eine Flasche mit; ich muß noch einen Gang machen.« Oblomow wühlte in der Schublade herum und nahm einen roten Zehnrubelschein heraus, wie man sie damals hatte. »Madeira kostet sieben Rubel«, sagte Oblomow, »und hier sind zehn.« »Gib nur alles her: man wechselt es dort, habe keine Angst!« Er riß den Schein Oblomow aus der Hand und versteckte ihn schnell in seiner Tasche. »Nun, ich gehe«, sagte Tarantjew, den Hut aufsetzend, »ich komme um fünf Uhr wieder; man hat mir eine Anstellung bei der Akzise versprochen und hat gesagt, ich soll mich erkundigen ... Übrigens, hör einmal, Ilja Iljitsch: willst du heute nicht einen Wagen mieten, um nach Jekaterinhof zu fahren? Du könntest auch mich mitnehmen.« Oblomow schüttelte verneinend den Kopf. »Bist du zu faul, oder ist es dir um das Geld zu schade? Ach, du Mehlsack!« sagte er. »Nun, vorläufig adieu ...« »Warte, Michej Andreitsch«, unterbrach ihn Oblomow, »ich muß mich über einiges mit dir beraten.« »Was hast du denn? Sprich schnell; ich hab' keine Zeit.« »Mich hat ein doppeltes Malheur betroffen. Man jagt mich aus der Wohnung hinaus ...« »Du zahlst wohl nicht; sie haben schon recht!« sagte Tarantjew und wollte gehen. »Was fällt dir ein! Ich zahle immer im voraus. Nein, man will die Wohnung umbauen ... Aber warte doch! Wohin gehst du? Rate mir, was ich tun soll: man drängt mich, ich soll in einer Woche ausziehen ...« »Warum soll ich eigentlich dein Ratgeber sein? ... Was bildest du dir eigentlich ein ...« »Ich bilde mir gar nichts ein«, sagte Oblomow, »lärme nicht und schreie nicht, denke lieber darüber nach, was zu tun ist. Du bist ein praktischer Mensch ...« Tarantjew hörte ihm nicht mehr zu und überlegte sich etwas. »Nun, also meinetwegen; bedanke dich bei mir«, sagte er, sich setzend und den Hut abnehmend, »und laß beim Mittagessen Champagner servieren: deine Angelegenheit ist erledigt.« »Wie denn?« fragte Oblomow. »Gibst du mir Champagner?« »Also gut, wenn dein Rat so viel wert ist ...« »Du bist ja gar nicht wert, daß ich dir einen Rat gebe. Warum soll ich dir denn umsonst raten? Frage doch diesen da«, fügte er auf Alexejew hinweisend hinzu, »oder seinen Verwandten.« »Aber so laß doch gut sein und sprich!« bat Oblomow. »Also hör zu: du ziehst noch morgen aus ...« »Das hast du dir ausgedacht? Soviel habe ich auch selbst gewußt ...« »Warte, unterbrich mich nicht!« schrie Tarantjew ihn an. »Übersiedle morgen in das Haus meiner Gevatterin, auf der Wiborgskajastraße ...« »Das ist aber etwas ganz Neues, auf die Wiborgskajastraße! Man sagt, daß dort im Winter die Wölfe herumlaufen.« »Es kommt vor, daß sie von den Inseln herüberlaufen, was geht das dich an?« »Es ist dort langweilig und öde, und niemand kommt hin.« »Das ist nicht wahr! Dort wohnt meine Gevatterin; sie hat ihr eigenes Haus mit großem Gemüsegarten. Sie ist eine vornehme Frau, eine Witwe mit zwei Kindern; mit ihr zusammen lebt ihr lediger Bruder; der hat einen ganz anderen Verstand als dieser da in der Ecke«, sagte er, auf Alexejew hinweisend, »da sind wir beide nichts dagegen!« »Was geht das alles mich an?« sagte Oblomow ungeduldig. »Ich werde nicht dorthin ziehen.« »Wir werden einmal sehen, ob du nicht dorthin ziehen wirst. Nein, wenn du um Rat bittest, mußt du auch darauf hören, was man dir sagt.« »Ich werde nicht ausziehen«, sagte Oblomow entschlossen. »Nun, dann geh zum Teufel!« antwortete Tarantjew, sich seinen Hut aufstülpend, und schritt zur Tür hin. »Was du für ein seltsamer Kauz bist!« sagte er wieder umkehrend. »Was gefällt dir denn hier so gut?« »Was ist das für eine Frage? Hier habe ich alles in der Nähe, die Läden, das Theater, die Bekannten ... das Zentrum der Stadt, alles ...« »Wa-as?« unterbrach ihn Tarantjew. »Wie lang ist's her, daß du ausgegangen bist? Sag einmal. Wie lang ist's her, daß du im Theater warst? Zu welchen Bekannten gehst du? Wozu brauchst du also das Zentrum? Gestatte mir einmal die Frage.« »Wozu? Es kommt doch Verschiedenes vor!« »Siehst du, du weißt es selbst nicht. Und dort, stelle dir nur vor, wirst du bei meiner Gevatterin, bei einer vornehmen Frau, still und ruhig leben; niemand wird dich belästigen; dort ist kein Lärm und kein Trubel, und alles ist rein und in Ordnung. Schau mal her, du lebst ja hier wie in einem Gasthof und willst ein Gutsbesitzer und Edelmann sein! Und dort ist es rein und ruhig; du hast auch jemand, mit dem du ein Wort wechseln kannst, wenn du dich langweilst. Außer mir wird niemand zu dir kommen. Es sind zwei Kinderchen da – du kannst mit ihnen spielen, so viel du willst. Was willst du noch? Und was du dir dabei ersparst! Was zahlst du hier?« »Anderthalbtausend.« »Und dort brauchst du für das ganze Haus nur tausend Rubel zu zahlen! Und was das für helle, hübsche Zimmer sind! Sie wollte schon lange einen stillen, pünktlichen Mieter haben – ich schlage dich vor ...« Oblomow schüttelte zerstreut den Kopf. »Du lügst, du wirst hineinziehen!« sagte Tarantjew. »Du mußt in Betracht ziehen, daß dich das um die Hälfte billiger kommen wird. Du ersparst dir an der Miete allein fünfhundert Rubel. Du wirst eine viel bessere und reinere Kost haben, weder die Köchin noch Sachar wird dich bestehlen ...« Aus dem Vorzimmer drang ein Brummen herein. »Und alles wird in Ordnung sein«, sprach Tarantjew weiter, »man kann sich zu dir jetzt gar nicht an den Tisch setzen: man möchte Pfeffer haben, es ist keiner da, man hat keinen Essig gekauft, die Messer sind nicht geputzt; du sagst, die Wäsche geht verloren, überall ist Staub, es ist überhaupt ein Greuel! Und dort wird eine Frau die Wirtschaft führen; weder du noch der Schafskopf Sachar ...« Das Brummen im Vorzimmer wurde lauter. »Dieser alte Hund«, fuhr Tarantjew fort, »wird an nichts zu denken brauchen: du wirst mit allem versorgt sein. Was gibt's denn dabei zu überlegen? Ziehe aus, und die Sache ist in Ordnung ...« »Warum soll ich denn plötzlich, ohne jeden Grund, nach der Wiborgskajastraße übersiedeln ...« »Was soll man mit dir anfangen!« sagte Tarantjew, sich den Schweiß vom Gesicht wischend; »es ist jetzt Sommer, und dort ist es wie auf dem Lande. Du verfaulst ja ganz auf dieser Gorochowajastraße! ... Dort ist der Besborodkinpark. Ochta ist ganz in der Nähe, die Newa ist zwei Schritte von dir entfernt, du hast deinen eigenen Gemüsegarten – dort ist weder Staub noch Hitze! Da gibt's gar keine Bedenken; ich laufe gleich nach dem Mittagessen zu ihr hinüber – du gibst mir Geld für eine Droschke – und du ziehst gleich morgen ein ...« »Was das für ein Mensch ist!« sagte Oblomow, »er denkt sich plötzlich Gott weiß was aus: nach der Wiborgskajastraße! Es ist eine Kunst, sich so etwas auszudenken. Bringe es lieber fertig, dir etwas auszudenken, daß ich hierbleiben kann. Ich wohne hier seit acht Jahren und will nicht ausziehen ...« »Es ist alles erledigt: du ziehst aus. Ich fahre jetzt gleich zur Gevatterin hin, ich werde mich über die Anstellung ein anderes Mal erkundigen ...« Er wollte gehen. »Wart, wart, wohin?« hielt Oblomow ihn auf, »ich habe eine noch wichtigere Angelegenheit. Sieh mal, was für einen Brief ich vom Dorfschulzen bekommen habe, und sage, was ich tun soll.« »Was du für ein Mensch bist!« antwortete Tarantjew, »du kannst nichts selbst machen. Immer muß ich es sein! Wozu taugst du denn eigentlich? Du bist ja kein Mensch, sondern ein Strohsack.« »Wo ist der Brief? Sachar, Sachar! Er hat ihn schon wieder irgendwohin gesteckt!« sagte Oblomow. »Hier ist der Brief vom Dorfschulzen«, sagte Alexejew, den zerdrückten Brief reichend. »Ja, da ist er«, wiederholte Oblomow und begann laut vorzulesen. »Was sagst du dazu? Was soll ich tun?« fragte Ilja Iljitsch, als er fertig war. »Dürre, Zahlungsrückstände ...« »Du bist ein ganz verlorener Mann«, sagte Tarentjew. »Warum denn?« »Bist du es etwa nicht?« »Wenn ich ein Verlorener bin, dann sage, was ich tun soll!« »Und was bekomme ich dafür?« »Ich habe ja gesagt, daß es Champagner geben wird; was willst du denn noch?« »Der Champagner ist für das Wohnungssuchen; ich habe dich mit Wohltaten überhäuft, und du fühlst das nicht und streitest noch; du bist undankbar! Suche dir einmal selbst eine Wohnung! Und was für eine Wohnung das ist! Vor allem, wie ruhig du da leben wirst, wie bei einer leiblichen Schwester. Dann sind zwei Kinder und der ledige Bruder da, ich werde jeden Tag kommen ...« »Gut, gut«, unterbrach Oblomow, »sag mir jetzt, was ich mit dem Dorfschulzen tun soll!« »Nein, laß außerdem noch Porter holen, dann sag' ich dir's.« »Jetzt willst du auch noch Porter haben; ist dir denn das alles noch zu wenig ...« »Nun, dann adieu«, sagte Tarantjew, wieder seinen Hut aufsetzend. »Ach, du mein Gott! Der Dorfschulze schreibt hier, daß die Einnahmen um zweitausend geringer sind, und er will noch Porter haben! Nun gut, kaufe Porter.« »Gib Geld!« sagte Tarantjew. »Dir bleibt ja noch der Rest vom Zehnrubelschein!« »Und die Droschke in die Wiborgskajastraße?« Oblomow nahm noch einen Rubel heraus und steckte ihm denselben ärgerlich zu. »Dein Dorfschulze ist ein Schwindler, das muß ich dir vor allem sagen«, begann Tarantjew, den Rubel in die Tasche steckend, »und du glaubst ihm, du Schlafmütze. Siehst du, was er für ein Lied singt! Von Dürre, Mißernte, Rückständen und von den fortgelaufenen Bauern. Er lügt, das ist alles gelogen! Ich habe gehört, daß man in unserer Gegend, in Schumilowskoje, mit der vorjährigen Ernte alle Schulden bezahlt hat, und bei dir ist plötzlich Dürre und Mißernte. Und Schumilowskoje ist nur fünfzig Werst von deinem Gut entfernt; warum ist denn das Getreide dort nicht ausgebrannt? Was er sich noch ausdenkt: Rückstände! Warum hat er denn nicht aufgepaßt und hat alles vernachlässigt? Woher sind die Rückstände? Gibt es denn in unserer Gegend keine Arbeit oder keinen Absatz? So ein Dieb! Ich würde es ihm schon zeigen! Und die Bauern sind deswegen fortgelaufen, weil er sich von ihnen wohl ordentlich hat bezahlen lassen und ihnen dann zu flüchten erlaubt hat; es ist ihm nicht im Traum eingefallen, dem Kreisrichter zu klagen.« »Das ist unmöglich«, sagte Oblomow, »er gibt sogar die Antwort des Kreisrichters so natürlich wieder ...« »Ach, du verstehst gar nichts. Alle Schwindler schreiben natürlich – das kannst du mir glauben! Da sitzt zum Beispiel«, fuhr er auf Alexejew hinweisend fort, »eine ehrliche Seele, das reinste Schaf, wird er so natürlich schreiben? – Niemals. Aber sein Verwandter, der ein Schwein und eine Bestie ist, der bringt es fertig. Und auch du kannst es nicht. Ja, dein Dorfschulze ist also schon darum eine Bestie, weil er so natürlich und geschickt schreibt. Schau mal, wie er sich die Worte ausgesucht hat: ›in ihren früheren Wohnort wieder einsetzen‹.« »Was soll ich denn mit ihm machen?« fragte Oblomow. »Setze ihn sofort ab.« »Wen soll ich denn an seine Stelle setzen? Ich kenne ja die Bauern nicht. Ein anderer wird vielleicht noch schlimmer sein. Ich war schon zwölf Jahre nicht mehr dort.« »Du mußt selbst ins Dorf fahren; das geht nicht anders; verbringe dort den Sommer und komm im Herbst direkt in die neue Wohnung. Ich werde schon anordnen, daß sie bis dahin fertig ist.« »Eine neue Wohnung! Allein aufs Gut fahren! Was für übertriebene Maßregeln du vorschlägst!« sagte Oblomow unzufrieden. »Nein, um nicht zum Äußersten zu greifen und einen Mittelweg einzuschlagen ...« »Nein, Bruder Ilja Iljitsch, du wirst ganz zugrunde gehen. Ich würde an deiner Stelle das Gut längst verpfändet haben und mir dafür ein anderes oder hier ein Haus an einem guten Platze kaufen; das ist dein Gut wert. Und dann würde ich auch das Haus verpfänden und mir ein anderes kaufen ... Wenn ich dein Gut hätte, würde man schon von mir hören.« »Höre auf zu prahlen und denke dir etwas aus, wie ich alles erledigen kann, ohne auszuziehen und ohne aufs Gut zu fahren ...« bemerkte Oblomow. »Wirst du dich denn einmal vom Fleck rühren?« fragte Tarantjew, »schau dich nur einmal an: wozu taugst du? Was hat das Vaterland von dir für einen Nutzen? Du kannst nicht einmal aufs Gut fahren!« »Es ist jetzt noch zu früh, hinzufahren, laß mich erst meinen Plan zu Ende bringen ... Weißt du, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow, »fahre du hinüber. Du bist mit der Sache vertraut, kennst auch die Gegend; und ich würde mit dem Reisegeld nicht geizen.« »Bin ich denn dein Verwalter?« entgegnete Tarantjew stolz, »ich bin es auch gar nicht mehr gewohnt, mit Bauern umzugehen.« »Was soll ich dann tun!« sagte Oblomow nachdenklich. »Ich weiß wirklich nicht ...« »Schreibe doch dem Kreisrichter; frag ihn, ob ihm der Dorfschulze von den flüchtigen Bauern erzählt hat!« riet Tarantjew, »und bitte ihn, bei Gelegenheit auf dein Gut zu kommen; schreibe auch dem Gouverneur, er soll dem Kreisrichter auftragen, ihm mitzuteilen, wie sich der Dorfschulze benimmt. ›Ich bitte Euer Wohlgeboren um väterliche Teilnahme, schauen Sie mit barmherzigem Auge auf das mir drohende, unabwendbare Unglück herab, das durch die eigenmächtige Handlungsweise des Dorfschulzen verursacht wurde, auf den endgültigen Ruin, dem ich mit meiner Frau und meinen unmündigen, ohne jede Aufsicht und ohne ein Stück Brot zurückbleibenden zwölf Kindern rettungslos verfalle ...‹« Oblomow lachte. »Woher werde ich so viel Kinder nehmen, wenn man verlangt, daß ich sie zeigen soll?« fragte er. »Schreibe nur: mit meinen zwölf Kindern; man wird das hingehen lassen und keine Erkundigungen einziehen, das wird ›natürlich‹ klingen. Der Gouverneur wird den Brief seinem Sekretär übergeben, und du schreibst zu gleicher Zeit auch ihm, natürlich mit einer entsprechenden Einlage – er wird dann die nötigen Anordnungen treffen. Und bitte auch deine Nachbarn darum, wen hast du dort?« »Dobrinin ist in der Nähe«, sagte Oblomow, »ich habe ihn hier oft gesehen; er ist jetzt dort.« »Schreibe auch ihm, bitte ihn recht schön darum: ›Sie werden mir dadurch einen unschätzbaren Dienst erweisen und werden mich, wenn Sie als Christ, als Freund und als Nachbar handeln, sehr verpflichten‹; und lege diesem Brief irgendein Petersburger Ge schenk ... vielleicht Zigarren bei. So mußt du handeln, wenn du etwas verstehen willst. Du bist ein verlorener Mensch! Ich würde meinen Dorfschulzen schon tanzen lassen, ich würde es ihm zeigen! Wann geht die Post dorthin ab?« »Übermorgen.« »Setz dich also hin und schreibe sofort.« »Die Post geht doch erst übermorgen, warum soll ich also gleich schreiben?« bemerkte Oblomow, »das kann ich ja auch morgen tun. Und höre einmal, Michej Andreitsch«, fügte er hinzu, »führe deine ›Wohltaten‹ zu Ende; ich werde noch irgendeinen Fisch oder Geflügel zum Mittagessen bestellen.« »Was denn noch?« »Setz dich hin und schreibe. Wieviel Zeit brauchst du denn, um drei Briefe zu verfassen? Du erzählst das so ›natürlich‹ ...« fügte er, ein Lächeln verbergend, hinzu, »und Iwan Alexeitsch würde es abschreiben ...« »He! Was sind das für Einfalle?« antwortete Tarantjew, »ich soll schreiben! Ich schreibe sogar im Amt schon seit drei Tagen nicht; sowie ich mich hinsetze, fängt mein linkes Auge zu tränen an; ich bin wohl in den Zug gekommen, und auch der Nacken wird mir steif, wenn ich mich bücke ... Oh, du Faulpelz! Du gehst zugrunde, Bruder Ilja Iljitsch, und das für nichts und wieder nichts!« »Ach, wenn doch Andrej bald kommen würde!« sagte Oblomow, »er würde alles in Ordnung bringen.« »Was du dir da für einen Wohltäter ausgesucht hast!« unterbrach ihn Tarantjew, »einen verfluchten Deutschen, einen durchtriebenen Schwindler ...« Tarantjew hatte den Ausländern gegenüber einen instinktiven Widerwillen; in seinen Augen war ein Franzose, ein Deutscher, ein Engländer gleichbedeutend mit Schuft, Betrüger, Übervorteiler oder Räuber. Er machte nicht einmal einen Unterschied zwischen den Nationen, sie waren in seinen Augen alle gleich. »Hör einmal, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow strenge, »ich möchte dich bitten, in deinen Ausdrücken vorsichtiger zu sein, besonders wenn du von einem mir nahestehenden Menschen sprichst ...« »Von einem nahestehenden Menschen!« entgegnete Tarantjew haßerfüllt, »ist er denn mit dir verwandt? Er ist doch ein Deutscher.« »Er steht mir näher als alle Verwandten; ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen, habe mit ihm gelernt und werde solche Schimpfworte nicht erlauben ...« Tarantjew wurde purpurrot vor Zorn. »Ah! Wenn du mich durch einen Deutschen ersetzest«, sagte er, »kommt mein Fuß nie mehr über deine Schwelle.« Er setzte den Hut auf und wandte sich der Türe zu. Oblomow besänftigte sich sofort. »Du solltest in ihm meinen Freund ehren und dich über ihn vorsichtiger ausdrücken – das ist alles, was ich verlange; ich glaube, das ist kein so großer Dienst!« sagte er. »Einen Deutschen ehren?« sagte Tarantjew mit der größten Verachtung, »wofür denn?« »Ich habe dir schon gesagt, wenigstens dafür, daß er mit mir zusammen aufgewachsen ist und mit mir zusammen gelernt hat.« »Das will viel heißen! Man hat mit vielen zusammen gelernt!« »Wenn er hier wäre, hätte er mich schon längst von allen Scherereien befreit, ohne dafür Porter oder Champagner zu verlangen ...« sagte Oblomow. »So! Du machst mir Vorwürfe! So mag der Teufel dich zugleich mit deinem Porter und Champagner holen! Da hast du das Geld ... Wo hab' ich es hingelegt? Ich habe ganz vergessen, wohin ich diese verfluchten Scheine gesteckt habe.« Er zog irgendein fettiges, beschriebenes Papier hervor. »Nein, das sind sie nicht! ...« sagte er. »Wo hab' ich sie hingelegt? ...« Er durchstöberte seine Taschen. »Müh dich nicht so ab, laß das!« sagte Oblomow. »Ich werfe dir nichts vor, ich bitte dich nur, von einem Menschen, der für mich so viel getan hat, auf eine anständigere Art zu sprechen ...« »Der für dich so viel getan hat«, entgegnete Tarantjew zornig. »Wart nur, er wird noch mehr für dich tun, höre nur auf ihn!« »Warum sagst du mir das?« »Wenn dich dein Deutscher ausgeraubt haben wird, dann wirst du wissen, ob man einen Russen, einen Landsmann, durch irgendeinen Landstreicher ersetzt ...« »Hör einmal, Michej Andreitsch ...« begann Oblomow. »Ich habe schon genug gehört, ich habe schon genug Kränkungen von dir erduldet! Gott sieht, wie oft du mich beleidigt hast ... Sein Vater hat in Sachsen wohl nicht einmal Brot genug gehabt, und ist dann hergekommen, um hier seine Nase zu rümpfen.« »Warum läßt du die Toten nicht in Ruh'? Was hat der Vater verschuldet?« »Sie haben beide Schuld, der Vater und der Sohn«, sagte Tarantjew düster. »Mein Vater hat mir nicht ohne Grund geraten, diesen Deutschen aus dem Wege zu gehen, und er hat doch genug Menschen in seinem Leben gesehen!« »Warum gefällt dir zum Beispiel der Vater nicht?« fragte Ilja Iljitsch. »Weil er ohne Mantel und Galoschen in unser Gouvernement gekommen ist und dann dem Sohne auf einmal so viel vermacht hat; was heißt das?« »Er hat dem Sohne nur vierzigtausend zurückgelassen. Das hat er zum Teil als Mitgift von seiner Frau erhalten, und das andere hat er sich dadurch erworben, daß er die Kinder unterrichtet und das Gut verwaltet hat; er hat ein hohes Gehalt bezogen ... Du siehst, daß der Vater ganz unschuldig ist. Und was hat der Sohn verbrochen?« »Das ist ein lieber Bursch! Er hat aus den vierzigtausend des Vaters plötzlich ein Kapital von dreihunderttausend gewonnen, hat im Amt den Hofratstitel erreicht und ist außerdem gelehrt ... Jetzt reist er noch dazu herum! Er muß überall mit dabei sein! Wird denn ein echter, guter Russe das alles tun? Ein Russe wird sich irgend etwas auswählen und wird dabei langsam, bedächtig und allmählich vorgehen, nicht so wie dieser da! Wenn er noch bei der Akzise wäre, dann wäre es ja begreiflich, wovon er reich geworden ist; er hat aber auch das nicht gemacht, es ist alles so gekommen, als hätte es der Wind hereingeblasen! Das ist nicht ganz richtig zugegangen! Ich würde solche Leute dem Gerichte übergeben! Und jetzt treibt er sich Gott weiß wo herum!« fuhr Tarantjew fort. »Warum reist er in fremden Ländern herum?« »Er will lernen, alles sehen und wissen.« »Lernen? Hat er denn noch zu wenig gelernt? Was will er denn lernen? Er lügt, glaube ihm nicht; er betrügt dich vor deinen Augen wie dein Dorfschulze. Was er da glauben machen will! Wird denn ein Hofrat lernen? Du hast in der Schule gelernt, lernst du aber jetzt? Lernt er denn?« Er zeigte auf Alexejew. »Oder sein Verwandter? Welche anständigen Leute lernen denn? Sitzt er denn dort in einer deutschen Schule und lernt seine Aufgaben? Er lügt! Ich habe gehört, er ist hingefahren, sich eine Maschine anzusehen und zu bestellen. Das wird wohl ein Schraubenstock für russisches Geld sein! Ich würde ihn ins Gefängnis stecken ... Er hat auch mit Aktien zu tun ... Oh, diese Aktien sind nichts als Schwindel!« Oblomow lachte auf. »Was grinst du? Habe ich etwa nicht recht?« sagte Tarantjew. »Lassen wir das!« unterbrach ihn Ilja Iljitsch. »Geh in Gottes Namen, wohin du wolltest, und ich werde mit Iwan Alexeitsch alle diese Briefe schreiben und werde versuchen, meinen Plan rasch aufzuzeichnen. Das geht dann auf einen Schlag ...« Tarantjew ging ins Vorzimmer, kam aber plötzlich zurück. »Ich habe ganz vergessen! Ich bin heute früh mit der Absicht fortgegangen, dich um etwas zu bitten«, begann er, schon gar nicht mehr grob. »Man hat mich für morgen zu einer Hochzeit eingeladen. Rokotow heiratet. Laß mich deinen Frack anziehen, Landsmann; der meinige ist ein wenig schäbig ...« »Aber das geht ja nicht!« sagte Oblomow, bei dieser neuen Forderung die Brauen furchend, »mein Frack paßt dir nicht ...« »Er paßt mir; wieso sollte er mir nicht passen!« unterbrach ihn Tarantjew. »Erinnerst du dich, ich habe deinen Rock anprobiert; er war wie für mich genäht! Sachar! Sachar! Komm mal her, altes Rindvieh!« Sachar brummte wie ein Bär, kam aber nicht. »Rufe ihn, Ilja Iljitsch! Schau, wie er ist!« klagte Tarantjew. »Sachar!« rief Oblomow. »Oh, daß euch alle ...« ertönte es im Vorzimmer zugleich mit dem Sprung von der Ofenbank. »Nun, was wollen Sie?« fragte er, sich an Tarantjew wendend. »Gib meinen schwarzen Frack her!« befahl Ilja Iljitsch, »Michej Andreitsch wird zusehen, ob er ihm paßt; er muß morgen zu einer Hochzeit ...« »Ich gebe den Frack nicht her«, sagte Sachar mit Bestimmtheit. »Wie wagst du es, wenn dein Herr dir befiehlt?« schrie Tarantjew. »Warum steckst du ihn nicht in den Narrenturm, Ilja Iljitsch?« »Das fehlte noch, den alten Mann in den Narrenturm zu stecken! Sachar, gib den Frack her, sei nicht eigensinnig!« »Ich gebe ihn nicht her!« sagte Sachar kühl, »er soll uns zuerst unsere Weste und unser Hemd zurückgeben, die sind jetzt schon fünf Monate bei ihm auf Besuch. Er hat es ebenso wie jetzt zu einem Namenstag genommen, und wir haben die Sachen nicht wiedergesehen. Ich gebe den Frack nicht her!« »Nun, adieu! Zum Teufel mit euch!« schloß Tarantjew zornig und wandte sich zur Tür, indem er Sachar mit der Faust drohte. »Vergiß also nicht, Ilja Iljitsch, ich miete für dich die Wohnung, hörst du?« fügte er hinzu. »Nun gut, gut!« sagte Oblomow ungeduldig, um ihn loszuwerden. »Schreibe unterdessen alles so, wie es sich gehört«, sprach Tarantjew weiter, »und unterlasse es nicht, dem Gouverneur mitzuteilen, daß du zwölf Kinder hast, ›eines kleiner als das andere‹. Und um fünf Uhr soll die Suppe auf dem Tisch sein! Warum hast du keine Piroge bestellt?« Doch Oblomow schwieg; er hörte ihm schon längst nicht mehr zu und dachte mit geschlossenen Augen an etwas anderes. Als Tarantjew fort war, herrschte im Zimmer zehn Minuten lang eine absolute Stille. Oblomow war durch den Brief des Dorfschulzen und den bevorstehenden Umzug verstimmt und außerdem durch Tarantjews Schwadronieren ermüdet. Endlich seufzte er auf. »Warum schreiben Sie denn nicht?« fragte Alexejew leise. »Ich würde Ihnen die Feder beschneiden.« »Beschneiden Sie sie und gehen Sie dann in Gottes Namen irgendwohin!« sagte Oblomow. »Ich werde damit selbst fertigwerden, und Sie werden es am Nachmittag abschreiben.« »Aber gewiß«, antwortete Alexejew. »Ich könnte Sie sonst noch wirklich irgendwie stören ... Ich werde unterdessen die Botschaft bringen, man möchte auf uns nicht warten, um nach Jekaterinhof zu fahren. Adieu, Ilja Iljitsch.« Doch Ilja Iljitsch hörte nichts; er hatte die Beine hinaufgezogen, lag jetzt beinahe im Sessel und versank mit trauriger Miene halb in Schlummer und halb in seine Gedanken. Fünftes Kapitel Fünftes Kapitel Oblomow, Edelmann von Geburt, Kollegiensekretär von Rang, lebte seit zwölf Jahren beständig in Petersburg. Einst, als seine Eltern noch am Leben waren, hatte er weniger Räume, nahm nur zwei Zimmer ein und begnügte sich mit dem einen Diener Sachar, den er sich von dem Gut mitgebracht hatte. Doch nach dem Tode des Vaters und der Mutter war er der einzige Besitzer von dreihundertfünfzig Seelen, die er in einem der entlegensten Gouvernements, beinahe in Asien, geerbt hatte. Er bekam jetzt statt fünf- sieben-bis zehntausend Rubel Jahresrente, und sein Leben spielte sich von nun an in einem anderen, größeren Rahmen ab. Er mietete sich eine größere Wohnung, fügte zu seinem Dienstbotenetat einen Koch hinzu und hielt sogar eine Zeitlang ein paar Pferde. Damals war er noch jung, und wenn man auch nicht behaupten kann, daß er lebhaft war, war er doch wenigstens lebhafter als jetzt; er war noch von verschiedenen Bestrebungen erfüllt, hoffte immer auf etwas, erwartete viel vom Schicksal und von sich selbst, bereitete sich immer zu einer Laufbahn, zu irgendeiner Tätigkeit vor – vor allem natürlich innerhalb seiner Amtsstellung, die ja auch das Ziel seiner Reise nach Petersburg war. Dann hatte er vor, auch in der Gesellschaft eine gewisse Rolle zu spielen. Endlich, in der entfernten Perspektive des Überganges der Jugend in ein gesetztes Alter, schwebte seiner Phantasie ein verlockendes, glückliches Familienleben vor. Aber ein Tag folgte dem anderen, die Jahre flogen hin, der Flaum um sein Kinn wurde zu einem struppigen Bart, die strahlenden Augen verwandelten sich in zwei trübe Punkte, die Gestalt rundete sich, das Haar begann unbarmherzig auszugehen, er vollendete sein dreißigstes Jahr, und er war auf keinem einzigen Gebiete auch nur um einen Schritt nach vorwärts gerückt und stand dort noch immer an der Schwelle seiner Laufbahn, dort, wo er sich vor zehn Jahren befunden hatte. Das Leben zerfiel in seinen Augen in zwei Hälften: Die eine setzte sich aus Arbeit und Langeweile zusammen, die zweite aus Ruhe und friedlicher Fröhlichkeit. Infolgedessen machte ihn seine wichtigste Laufbahn – das Amt – in der ersten Zeit auf eine sehr unangenehme Weise stutzig. Er war in dem Innern der Provinz inmitten der sanften und gefühlvollen Sitten und Gebräuche der Heimat aufgewachsen, kam im Laufe von zwanzig Jahren nicht aus den Umarmungen der Verwandten, Freunde und Bekannten heraus und war so von Familiensinn durchdrungen, daß er sich auch sein künftiges Amt in der Art irgendeiner Familienbeschäftigung vorstellte, etwa in der Form des trägen Notierens der Einkünfte und Ausgaben, wie sein Vater es tat. Er glaubte, daß die Beamten irgendeines Ortes einen intimen, innigen Familienkreis bildeten, der sich unermüdlich um die Ruhe und das Vergnügen seiner Mitglieder sorgte, daß der Dienst im Amt durchaus obligatorische Gewohnheit wäre, an die man sich täglich zu halten hätte, und daß nasses Wetter, Hitze oder einfach eine Verstimmtheit immer eine genügende und gesetzliche Ursache wären, um nicht ins Amt zu gehen. Aber wie sehr kränkte es ihn zu sehen, daß mindestens ein Erdbeben sich einstellen müßte, damit ein gesunder Beamter nicht ins Amt zu gehen brauchte; in Petersburg kommen aber leider keine Erdbeben vor, eine Überschwemmung könnte zwar auch als Hindernis dienen, doch auch die tritt selten ein. Oblomow wurde noch nachdenklicher, als vor seinen Augen Pakete mit der Aufschrift »eilig« und »sehr eilig« vorbeiflimmerten, als man ihm allerlei Erkundigungen und Exzerpte auftrug und zweifingerdicke Hefte vollzuschreiben befahl, die man wie zum Hohn Notizen nannte. Außerdem mußte alles sehr schnell gehen, alle hatten es so eilig und gönnten sich gar keine Ruhe; sowie sie mit einer Sache fertig waren, stürzten sie mit einem wahren Ingrimm über eine andere her, als ob gerade diese die Hauptsache wäre; wenn sie aber damit fertig waren, verfiel auch sie der Vergessenheit, und es wurde eine dritte Angelegenheit vorgenommen, und so ging es bis in die Unendlichkeit fort! Ein paarmal weckte man ihn in der Nacht und ließ ihn »Notizen« schreiben, oder man holte ihn, wenn er auf Besuch war, durch einen Boten ab – und das wieder der Notizen wegen. Das alles erweckte in ihm große Angst und Langeweile. »Wann soll man denn leben? Wann leben?« flüsterte er bange. Als er noch zu Hause war, hatte er gehört, der Chef sei der Vater seiner Beamten, und machte sich eine sehr rosige Vorstellung von demselben, indem er ihn fast als einen Verwandten ansah. Er dachte sich, er sei ein zweiter Vater, der nur für das eine lebt, wie er seine Beamten mit und ohne Ursache ununterbrochen belohnen könnte, und der sich nicht nur um ihre Bedürfnisse, sondern auch um ihre Vergnügungen sorgt. Ilja Iljitsch dachte, der Chef müßte sich in die Lage seines Beamten so hineinversetzen, daß er ihn besorgt fragen würde, wie er in der Nacht geschlafen habe, warum seine Augen trüb seien und ob er Kopfschmerzen habe. Doch er war gleich am ersten Tag seines Dienstes bitter enttäuscht. Mit der Ankunft des Chefs begann ein Hin- und Herrennen, ein Trubel, alle wurden verwirrt, stießen einander um, manche zupften sich ihre Kleider zurecht, in der Befürchtung, nicht anständig genug auszusehen, um sich dem Chef zu zeigen. Oblomow bemerkte späterhin, daß das alles darauf zurückzuführen war, daß es Chefs gab, welche in dem bis zur Blödsinnigkeit erschrockenen Gesicht des Beamten, der ihnen entgegenrannte, nicht nur Achtung sich gegenüber, sondern auch Diensteifer und manchmal sogar Begabung sahen. Ilja Iljitsch brauchte sich vor seinem Chef nicht zu fürchten, da dieser ein gutmütiger Mensch mit angenehmen Manieren war; er hatte noch nie jemand Böses getan, die Beamten waren vollkommen zufrieden und wünschten sich nichts Besseres. Niemand hatte ihn jemals etwas Unangenehmes sagen, schreien oder lärmen gehört; er verlangte nie etwas, er bat immer. Er bat, eine Angelegenheit zu erledigen, er bat, man möchte ihn besuchen, er bat auch, man möchte sich verhaften lassen. Er duzte nie jemand, er sagte zu allen Sie, jedem einzelnen Beamten und allen zusammen. Doch alle seine Untergebenen wurden in seiner Anwesenheit befangen; sie beantworteten seinen freundlichen Blick nicht mit ihrer eigenen, sondern mit einer fremden Stimme, mit welcher sie sonst niemals sprachen. Auch Ilja Iljitsch wurde plötzlich befangen, ohne zu wissen, weshalb, wenn der Chef ins Zimmer trat, und auch er verlor seine eigene Stimme und bekam eine andere, dünne und häßliche, sobald der Chef ihn anredete. Ilja Iljitsch stand auch trotz des gutmütigen, nachsichtigen Chefs sehr viel Angst und Langeweile im Dienste aus. Gott weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er einen strengen und anspruchsvollen Vorgesetzten über sich gehabt hätte! Oblomow blieb mit Mühe und Not zwei Jahre lang im Amt; vielleicht würde er auch noch ein drittes ertragen haben, um zu einem höheren Rang zu kommen; aber ein besonderer Fall nötigte ihn, den Dienst früher zu verlassen. Er schickte eines Tages ein wichtiges Papier statt nach Astrachanj nach Archangelsk. Die Sache kam ans Licht; man begann nach dem Schuldigen zu suchen. Alle erwarteten neugierig, der Chef würde Oblomow kommen lassen und ihn ruhig und kühl fragen, ob er das Dokument nach Archangelsk fortgeschickt habe, und alle waren darauf gespannt, mit welcher Stimme Ilja Iljitsch ihm antworten würde. Einige meinten, er würde gar nicht antworten, die Stimme würde ihm versagen. Beim Anblick der anderen wurde Ilja Iljitsch selbst von Angst erfaßt, obwohl er zugleich mit allen anderen wußte, der Chef würde sich auf einen Verweis beschränken: doch sein eigenes Gewissen war viel strenger als die zu erwartende Rüge. Oblomow wartete die verdiente Strafe nicht ab, sondern ging nach Hause und schickte ein ärztliches Attest. Dieses Attest lautete: »Ich, der Gefertigte, bezeuge mit der Beidrückung meines Siegels, daß der Kollegiensekretär Ilja Oblomow mit Herzverfettung und der Erweiterung der linken Herzkammer behaftet ist (Hypertrophia cordis cum dilatatione ejus ventriculi sinistri) und außerdem ein chronisches Leberleiden hat (Chepatitis), das sich gefährlich zu entwickeln droht und sowohl die Gesundheit als auch das Leben des Kranken schädigen könnte; die darauf hinweisenden Anfälle werden wohl durch den täglichen Amtsdienst verursacht. Darum halte ich es, um diesen krankhaften Anfällen vorzubeugen und dieselben zu beschwichtigen, für notwendig, Herrn Oblomow den Dienst vorläufig zu verbieten und ihm überhaupt das Vermeiden jeder geistigen Arbeit und jeder Tätigkeit vorzuschreiben.« Doch das half nur für einige Zeit; er mußte ja einmal wieder gesund werden – und dann folgte wieder das tägliche Versehen seines Amtes. Oblomow konnte das nicht länger ertragen und suchte um seine Entlassung nach. So schloß seine amtliche Tätigkeit, um niemals wieder aufgenommen zu werden. Seine gesellschaftliche Laufbahn wollte ihm besser gelingen. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Petersburg, in seiner ersten Jugend, belebten sich seine ruhigen Gesichtszüge häufiger, die Augen leuchteten lange vor Lebensfeuer, ihnen entströmten Strahlen von Licht, von Hoffnung und von Kraft. Er regte sich wie die anderen auf, hoffte, freute sich über jede Kleinigkeit und litt auch um einer jeden Kleinigkeit willen. Doch das war schon lange her, noch in jener zarten Periode, in welcher man in jedem Nebenmenschen einen aufrichtigen Freund sieht, sich fast in jede Frau verliebt und bereit ist, einer jeden Hand und Herz anzubieten, was manche auch ausführen, um dann das ganze übrige Leben darüber zu trauern. In diesen seligen Tagen fielen auch Ilja Iljitsch nicht wenig weiche, samtene, ja selbst leidenschaftliche Blicke aus den Augen der Schönen zu, außerdem sehr häufig ein vielversprechendes Lächeln, zwei, drei unprivilegierte Küsse und noch mehr freundschaftliche Händedrücke, die bis zu Tränen schmerzten. Er ließ sich übrigens niemals von den Schönen gefangennehmen, war niemals ihr Sklave und nicht einmal ihr sehr fleißiger Arbeiter, schon deshalb nicht, weil mit der Annäherung an Frauen viel Scherereien verbunden sind. Oblomow beschränkte sich häufiger auf ein Anbeten aus der Ferne, in ehrerbietiger Entfernung. Das Schicksal führte ihn selten in der Gesellschaft mit einer Frau zusammen, daß er für ein paar Tage aufflammen und sich für verliebt halten konnte. Infolgedessen entwickelten sich seine Liebesverhältnisse nicht zu Romanen. Sie blieben gleich im Anfang stehen und ließen sich an Unschuld, Einfachheit und Reinheit von der Liebe irgendeiner erwachsenen Pensionärin nicht überbieten. Am meisten mied er jene bleichen, traurigen Jungfrauen, die größtenteils schwarze Augen haben, in denen sich die »qualvollen Tage und nicht ganz schuldlosen Nächte« widerspiegelten, Jungfrauen mit von niemand gekannten Leiden und Freuden, mit blauen Ringen unter den Augen, Jungfrauen, die immer etwas anzuvertrauen und zu sagen haben und die, wenn es dazu kommt, erbeben, in plötzliche Tränen ausbrechen, dann den Hals des Freundes plötzlich mit den Armen umschlingen, ihm lange in die Augen, dann gen Himmel schauen und sagen, daß ihr Leben von einem Fluch bedroht sei, und manchmal in Ohnmacht fallen. Er wich ihnen ängstlich aus. Seine Seele war noch rein und jungfräulich; sie erwartete vielleicht ihre Liebe, ihre Zeit, ihre pathetische Leidenschaft, und später hörte sie mit den Jahren scheinbar zu warten auf und verzweifelte. Noch kühler verabschiedete sich Ilja Iljitsch von dem Haufen seiner Freunde. Gleich nach dem ersten Brief seines Dorfschulzen von den Rückständen und der Mißernte vertauschte er seinen nächsten Freund, den Koch, mit einer Köchin, verkaufte dann die Pferde und schickte dann seine übrigen »Freunde« fort. Fast nichts übte auf ihn eine genügende Anziehungskraft aus, um ihn aus dem Hause herauszulocken, und er setzte sich mit jedem Tage immer mehr und ständiger in seiner Wohnung fest. Zuerst fiel es ihm schwer, den ganzen Tag angekleidet zu verbringen; dann wurde er zu faul, auswärts zu speisen, außer bei sehr nahen Verwandten, meistens bei ledigen Kameraden, bei denen man die Krawatte ausziehen und die Weste aufknöpfen durfte, es sich sogar »bequem« machen und eine Stunde lang schlafen konnte. Bald wurden ihm auch die Abende lästig. Er mußte einen Frack anziehen und sich täglich rasieren. Er hatte irgendwo gelesen, nur die Morgendünste wären gesund, während die Abenddünste schadeten, und begann sich vor Nässe zu fürchten. Trotz allen diesen Grillen gelang es seinem Freunde Stolz, ihn unter Menschen zu bringen; aber Stolz verreiste oft aus Petersburg nach Moskau, nach Nischnij-Nowgorod, in die Krim und auch ins Ausland, und ohne ihn gab sich Oblomow gänzlich seiner Abgeschlossenheit und Einsamkeit hin, aus welcher ihn nur etwas Außerordentliches, das sich vom gewöhnlichen Gang seines Lebens scharf abhob, aufscheuchen konnte; doch etwas Ähnliches kam nicht vor und war auch nicht vorauszusehen. Außerdem war zu ihm mit den Jahren eine kindliche Schüchternheit zurückgekehrt, und weil er die verschiedenartigen äußeren Erlebnisse nicht mehr gewohnt war, erwartete er von allem, was außerhalb der Sphäre seines äußeren Lebens lag, Gefahr und alles Böse. Ihn erschreckte zum Beispiel nicht der Riß im Plafond seines Schlafzimmers. Er hatte sich daran gewöhnt; es fiel ihm auch nicht ein, daß die stets geschlossene Luft seines Zimmers und das beständige Zuhausesitzen für seine Gesundheit beinahe verderblicher waren als die nächtliche Feuchtigkeit und daß die tägliche Überfüllung des Magens eine Art von progressivem Selbstmord bedeutete. Doch er hatte sich daran gewöhnt und fürchtete das alles nicht. Doch Bewegung, Leben, viele Menschen und Trubel waren ihm etwas Ungewohntes. Er fühlte sich in der Menschenmenge beengt; er stieg mit der schwankenden Hoffnung, glücklich ans Ufer zu gelangen, ins Boot und erwartete, wenn er im Wagen fuhr, die Pferde würden scheu werden und umschmeißen. Manchmal überlief ihn eine nervöse Angst. Er fürchtete sich vor der ihn umgebenden Stille und wußte oft selber nicht, warum es ihn kalt überlief. Es kam vor, daß er ängstlich in eine dunkle Ecke schielte, in der Erwartung, seine Phantasie würde ihm einen Streich spielen und ihm eine übernatürliche Erscheinung zeigen. Das war das Ende seiner gesellschaftlichen Laufbahn. Er wies mit einer trägen Handbewegung alle seine Jugendhoffnungen von sich, die ihn betrogen hatten oder die er betrogen hatte, all die zarten, traurigen und lichten Erinnerungen, die manchem das Herz noch im Alter klopfen machen. Sechstes Kapitel Sechstes Kapitel Was macht er denn zu Hause? Liest er? Schreibt er? Lernt er? Ja, wenn ihm ein Buch oder eine Zeitung in die Hand kommt, liest er. Wenn er von irgendeinem merkwürdigen Werk hört, erwacht in ihm der Wunsch, es kennenzulernen; er sucht danach, bittet, ihm das Buch zu bringen; und wenn man es bald bringt, nimmt er es vor und beginnt sich eine Vorstellung über den Gegenstand zu bilden; nur noch ein einziger Schritt, und er würde denselben beherrschen; wenn man aber nach einer Weile hinsieht, ruht er schon wieder, apathisch auf die Zimmerdecke blickend, und das Buch liegt, nicht zu Ende gelesen und unverstanden, neben ihm. Die Abkühlung erfaßt ihn noch schneller als die Begeisterung. Er kehrt nie mehr zu dem verlassenen Buch zurück. Und dabei hatte er wie die andern, wie alle, bis zum fünfzehnten Jahr im Pensionat gelernt; dann entschlossen sich die alten Oblomows nach langem Kampf, Iljuscha nach Moskau zu schicken, wo er, ob er wollte oder nicht, den Lehrkursus bis zu Ende verfolgen mußte. Sein schüchterner, apathischer Charakter hinderte ihn daran, seine Faulheit und seine Launen vor fremden Leuten, in der Schule, wo man zugunsten von verwöhnten Muttersöhnchen keine Ausnahme machte, ganz zu äußern. Er saß notgedrungen in gerader Haltung in der Klasse da, hörte zu, was die Lehrer sagten, weil er nicht anders durfte, und lernte mit Mühe, schwitzend und seufzend seine Aufgaben. Er überschritt niemals die Zeile, unter welcher der Lehrer mit dem Nagel einen Strich gezogen hatte, stellte ihm keinerlei Fragen und forderte keinerlei Erklärungen. Er begnügte sich damit, was im Hefte stand, und äußerte auch dann keine lästige Neugierde, wenn er nicht alles verstand, was er hörte und lernte. Wenn es ihm irgendwie gelang, ein Buch, das Statistik, Geschichte, politische Ökonomie hieß, zu bewältigen, war er ganz zufrieden. Wenn ihm aber Stolz Bücher brachte, welche er noch außer dem Gelernten lesen sollte, blickte Oblomow ihn lange schweigend an. »Auch du, Brutus, bist gegen mich«, sagte er seufzend und nahm die Bücher vor. Ein so übermäßiges Lesen erschien ihm unnatürlich und lästig. Wozu sind denn alle diese Hefte, auf welche man eine Menge Papier, Zeit und Tinte verwendet? Wozu sind die Schulbücher? Wozu sind endlich die sechs, sieben Jahre des Einsiedlertums, all die Strenge, die Strafen, das Einsperren und Quälen mit Aufgaben, das Verbot zu laufen, herumzutollen und lustig zu sein, wenn noch nicht alles zu Ende ist? Wann soll man denn leben? fragte er sich wieder. Wann soll man denn endlich dieses Wissenskapital, dessen größten Teil man im Leben gar nicht verwenden kann, in Umsatz bringen? Was werde ich zum Beispiel mit politischer Ökonomie, mit Algebra und Geometrie in Oblomowka anfangen? Und die Geschichte macht einen nur niedergeschlagen. Man lernt und liest, daß die Stunde der Trübsal gekommen ist, daß der Mensch unglücklich ist; er sammelt seine Kräfte, arbeitet, läuft hin und her, leidet furchtbar und müht sich ab, und das alles, um sich lichte Tage vorzubereiten. Jetzt kommen sie, und die Geschichte könnte ausrasten. Aber nein, es kommen wieder Wolken, das Gebäude stürzt zusammen, man muß wieder arbeiten und sich abmühen ... Die lichten Tage bleiben nicht, sie flüchten, und das Leben fließt und fließt immerzu weiter und wird immer wieder umgebaut. Die ernste Lektüre ermüdet ihn. Den Denkern gelang es nicht, in ihm den Durst nach beschaulichen Wahrheiten wachzurufen. Aber die Dichter packten ihn mächtig, und er wurde dabei ein Jüngling wie alle. Auch für ihn kam der glückliche, niemand versagte Augenblick des Lebens, wo die Kräfte aufblühen, die Hoffnung auf das Sein, der Wunsch des Guten, der Taten und Wagnisse erwacht, die Epoche des Herzklopfens, des gesteigerten Pulses, des Bebens, der begeisterten Reden und süßen Tränen. Verstand und Herz läuterten sich. Er schüttelte die Schläfrigkeit von sich ab, die Seele verlangte nach Tätigkeit. Stolz verhalf ihm dazu, diesen Moment um so viel zu verlängern, als es für eine Natur, wie sein Freund sie besaß, nur irgend möglich war. Er ertappte Oblomow bei den Dichtern und hielt ihn im Laufe von anderthalb Jahren im Bann des Gedankens und der Wissenschaft. Er nützte den jugendlichen Aufschwung aus, schloß in das Lesen der Dichter außer dem Genuß neue Ziele ein, wies ihn mit einer gewissen Strenge auf die in der Ferne liegenden Wege ihres Lebens hin und riß ihn mit sich in die Zukunft. Beide regten sich auf, weinten und versprachen einander feierlich, einen vernünftigen und lichten Weg zu wählen. Stolz' jugendliches Feuer steckte Oblomow an, und er verging vor Sehnsucht nach Arbeit, nach einem fernen, aber verlockenden Ziel. Doch die Blüte des Lebens entfaltete sich, ohne Früchte zu tragen. Oblomow wurde nüchtern und las nur manchmal, auf den Rat von Stolz hin, das eine oder das andere Buch; doch er tat es nicht auf einen Zug, nicht plötzlich und ohne Gier, er ließ seine Augen nur träge den Zeilen folgen. Wie interessant die Stelle, die er las, auch sein mochte, wenn ihn aber die Stunde des Speisens oder Schlafens dabei antraf, legte er das Buch mit dem Einband nach oben hin und ging Mittag essen oder löschte die Kerze aus und ging schlafen. Wenn man ihm den ersten Band gab, verlangte er, als er damit fertig war, nicht nach dem zweiten; wenn man ihm aber denselben brachte, las er ihn langsam zu Ende. Später konnte er nicht einmal den ersten Band bewältigen, sondern verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit damit, daß er seine Ellbogen auf den Tisch legte und darauf den Kopf stützte; manchmal gebrauchte er statt der Ellbogen das Buch, welches Stolz ihm aufgedrängt hatte. So beschloß Oblomow seine wissenschaftliche Laufbahn. Der Tag, an welchem er seine letzte Vorlesung hörte, bildete die Herkulessäulen seiner Gelehrsamkeit. Der Direktor der Anstalt zog durch seine Unterschrift auf dem Diplom denselben Strich, den der Lehrer früher mit seinem Nagel im Buch gezeichnet hatte, und unser Held hielt es für unnötig, seine wissenschaftlichen Bestrebungen diese Grenze überschreiten zu lassen. Sein Hirn bildete ein kompliziertes Archiv von toten Begebenheiten, Personen, Epochen, Ziffern, Religionen, zusammenhanglosen sozialwissenschaftlichen, mathematischen und anderen Wahrheiten, Aufgaben, Theorien usw. Das war eine Bibliothek, die aus einzelnen, verschiedenen Bänden über alle Gebiete des Wissens bestand. Das Lernen hatte auf Ilja Iljitsch eine seltsame Wirkung ausgeübt: Für ihn lag zwischen der Wissenschaft und dem Leben ein ganzer Abgrund, den er nicht zu überbrücken versuchte. Das Leben und das Wissen existierten für ihn jedes für sich allein. Er lernte alle bestehenden und längst nicht mehr bestehenden Rechte, absolvierte auch den Kursus des praktischen Gerichtsverfahrens; als er aber aus Anlaß irgendeines Diebstahls im Hause einen Bericht an die Polizei schreiben mußte, nahm er einen Bogen Papier und eine Feder, dachte und dachte und ließ einen Schreiber holen. Die Bücher auf dem Gut führte der Dorfschulze. Was hatte denn die Wissenschaft damit zu tun? fragte er sich verblüfft. Er kehrte ohne die Last des Wissens, das seinem frei herumirrenden oder träge schlummernden Denken eine Richtung hätte geben können, in seine Einsamkeit zurück. Was tat er denn? Er fuhr noch immer fort, sich das Muster seines eigenen Lebens vorzuzeichnen. Er fand darin, nicht ohne Grund, so viel Weisheit und Poesie, die man auch ohne Bücher und Gelehrtheit niemals ausschöpfen konnte. Nachdem er seine amtliche und gesellschaftliche Karriere aufgegeben hatte, begann er die Aufgabe seiner Existenz anders zu lösen, sann über seine Bestimmung nach und entdeckte endlich, daß der Horizont seiner Tätigkeit und seines Lebens in ihm selbst verborgen war. Er begriff, daß das Glück in der Familie und das Besorgen des Gutes sein Anteil waren. Bis dahin war er mit seinen Angelegenheiten nicht ganz vertraut; dieselben wurden statt seiner manchmal von Stolz besorgt. Er war weder in seine Einkünfte noch in seine Ausgaben genau eingeweiht, stellte niemals ein Budget zusammen und befaßte sich überhaupt mit gar nichts. Der alte Oblomow hatte seinem Sohne das Gut in demselben Zustande übergeben, in dem er es von seinem Vater übernommen hatte. Obwohl er sein ganzes Leben im Dorf verbrachte, zerbrach er sich doch nicht den Kopf und klügelte sich nicht allerlei neue Einrichtungen aus, wie man es jetzt tut, um irgendwelche neue Quellen der Produktivität der Erde zu entdecken oder die alten auszudehnen, zu verstärken und so weiter. Er nahm für seine Felder dieselbe Aussaat, die sein Großvater genommen hatte, und behielt für die Feldfrüchte auch dieselben Absatzgebiete bei. Der Alte war übrigens sehr zufrieden, wenn eine gute Ernte oder ein erhöhter Preis sein Einkommen gegen das vorjährige vergrößerte; er nannte das Gottes Segen. Er liebte keine Anstrengung und keine Extravaganz im Gelderwerb. »Gott wird uns schon satt machen«, sagte er. Ilja Iljitsch war anders als sein Vater und sein Großvater. Er lernte, lebte in der Welt; das alles brachte ihn auf verschiedene Gedanken, die dem Vater und Großvater fremd gewesen waren. Er begriff nicht nur, daß jeder Gewinn eine Sünde sei, sondern auch, daß es die Pflicht jedes Bürgers bilde, den allgemeinen Wohlstand durch ehrliche Arbeit zu unterstützen. Darum nahm der neue, den Anforderungen der Zeit entsprechende Plan der Einrichtung des Gutes und der Verwaltung der Bauern den größten Teil des Lebensmusters ein, das er sich in seiner Einsamkeit vorzeichnete. Die dem Plan zugrunde liegende Idee, seine Einteilung und Hauptbestandteile – das alles war in seinem Kopf längst fertig; es blieben nur die Details, die Überschläge und Ziffern übrig. Er arbeitet schon einige Jahre unermüdlich an diesem Plan, überlegt ihn sich und grübelt im Gehen und Liegen, zu Hause und wenn er auf Besuch ist darüber nach; er ergänzt und ändert die verschiedenen Teile oder stellt das gestern Erfundene und in der Nacht Vergessene in seinem Gedächtnis wieder her; und manchmal flammt in ihm plötzlich ein neuer, unerwarteter Gedanke wie ein Blitz auf, und sein Hirn beginnt fieberhaft zu arbeiten. Er ist nicht irgendein unbedeutender Vollstrecker fremder, fertiger Gedanken; er selbst ist der Schöpfer und zugleich Vollstrecker seiner Gedanken. Sowie er des Morgens aufgestanden ist, legt er sich gleich nach dem Frühstück auf das Sofa, stützt seinen Kopf auf die Hand und denkt, ohne seine Kräfte zu schonen, so lange nach, bis sein Kopf endlich von der schweren Arbeit müde wird und das Gewissen ihm sagt: Du hast heute für das allgemeine Wohl genug geleistet. Nachdem Oblomow sich von seinen geschäftlichen Sorgen befreit hatte, liebte er es, sich in sich selbst zu vertiefen und in der von ihm erschaffenen Welt zu leben. Ihm war der Genuß hoher Gedanken zugänglich; ihm war auch menschliches Leid nicht fremd. Er weinte manchmal bitterlich in der Tiefe seiner Seele über den Jammer der Menschheit, litt, ohne daß jemand es erfuhr, namenlos, sehnte sich irgendwohin in die Ferne hinaus, wahrscheinlich in jene Welt, in die Stolz ihn mitzureißen pflegte ... Süße Tränen strömten über seine Wangen ... Es kam auch vor, daß er von Verachtung dem menschlichen Laster, der Lüge, der Verleumdung, dem über die ganze Welt verbreiteten Bösen gegenüber erfüllt wurde und daß in ihm der Wunsch aufflammte, den Menschen ihre Wunden zu zeigen; dann erwachten in ihm Gedanken, wogten wie Wellen im Meer in seinem Hirn auf und ab, wuchsen zu Vorsätzen heran und steckten sein ganzes Blut in Brand; die Vorsätze bilden sich zu Bestrebungen aus; von sittlicher Kraft durchdrungen, wechselt er in einem Augenblick zwei, drei Stellungen, erhebt sich mit leuchtenden Augen vom Lager, streckt die Hand vor und blickt begeistert um sich ... Jetzt gleich wird sich sein Streben verwirklichen und sich in eine Heldentat umsetzen ... und dann, o Gott! Welches Wunder, welche furchtbaren Folgen konnte man von so einer großen Anstrengung erwarten! ... Wenn man aber nach einer Weile hinschaut, ist der Morgen dahingeschwunden, der Tag neigt sich dem Abend zu, und mit ihm zugleich verlangen Oblomows ermüdete Kräfte nach Ruhe; der Sturm und die Erregung besänftigen sich in seiner Seele, der Kopf ernüchtert sich nach dem Denken, und das Blut kreist langsamer durch die Adern. Oblomow legt sich still und sinnend auf den Rücken, richtet seinen traurigen Blick auf das Fenster und folgt mit den Augen wehmütig der Sonne, die sich majestätisch hinter irgendein vierstöckiges Haus versteckt. Wie oft hatte er der Sonne auf diese Weise das Geleite gegeben! Des Morgens begannen das Leben, die Aufregung, die Träume von neuem! Er liebte es manchmal, sich als irgendeinen unbesiegbaren Feldherrn zu denken, im Vergleich mit welchem nicht nur Napoleon, sondern sogar Jeruslan Lasarewitsch 1 nichts bedeuteten; er dachte sich einen Krieg und dessen Ursachen aus; er ließ zum Beispiel die Völker aus Afrika nach Europa wandern oder führte neue Kreuzzüge an, er kämpfte, besiegelte das Schicksal ganzer Nationen, zerstörte Städte, begnadigte, richtete hin und beging hehre, großmütige Taten. Oder er wählte sich die Laufbahn eines Denkers oder eines großen Künstlers: alle beten ihn an; er erntet Lorbeeren; die Menge läuft ihm nach und ruft aus: »Schaut, schaut, da geht Oblomow, unser berühmter Ilja Iljitsch!« In schlimmen Momenten litt er unter Sorgen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, legte sich mit dem Gesicht nach unten und wurde manchmal ganz verzweifelt; dann kniete er nieder und begann leidenschaftlich und inbrünstig zu beten, indem er den Himmel anflehte, irgendein drohendes Gewitter abzuwenden. Dann, nachdem er die Sorge um sein Schicksal dem Himmel überlassen hatte, wurde er allem auf der Welt gegenüber ruhig und gleichgültig, wie heftig das Gewitter auch sein mochte. So verbrauchte er seine sittliche Kraft, so regte er sich oft ganze Tage lang auf und erwachte nur dann tief seufzend aus dem verlockenden Traum oder den quälenden Sorgen, wenn der Tag sich dem Abend zuneigte und die Sonne als ein ungeheurer Ball majestätisch hinter das vierstöckige Haus zu sinken begann. Dann folgte er ihr wieder mit einem sinnenden Blick und einem traurigen Lächeln und schlummerte nach den Aufregungen friedlich ein. Niemand sah und kannte dieses innere Leben Ilja Iljitschs; alle glaubten, Oblomow läge einfach da, äße, so viel er könne, und es wäre von ihm nichts zu erwarten; es rege sich kaum ein Gedanke in seinem Kopf. So sprach man auch überall, wo man ihn kannte, von ihm. Von seiner Begabung, von dieser inneren, vulkanischen Arbeit seines hitzigen Kopfes und seines humanen Herzens wußte und konnte nur Stolz erzählen; doch er war fast niemals in Petersburg anwesend. Sachar allein, der sein ganzes Leben an der Seite seines Herrn verbrachte, kannte dessen Lebensweise noch genauer; doch er war überzeugt, daß Oblomow und er etwas leisteten, normal und wie es sich gehörte lebten und daß man gar nicht anders leben sollte. Fußnoten 1 Mythischer Held. Siebentes Kapitel Siebentes Kapitel Sachar hatte bereits sein fünfzigstes Jahr überschritten. Er war nicht mehr der unmittelbare Nachkomme jener russischen Kalebe, der ritterlichen Diener ohne Furcht und Tadel, welche ihren Herren bis zur Selbstvergessenheit ergeben waren, sich durch alle Tugenden auszeichneten und keinerlei Fehler aufzuweisen hatten. Dieser Ritter war einer mit Furcht und mit Tadel. Er gehörte zwei Epochen an, und beide hatten ihm ihren Stempel aufgedrückt. Von der einen hatte er die grenzenlose Ergebenheit dem Hause der Oblomow gegenüber geerbt und von der späteren, zweiten, die Raffiniertheit und Verderbtheit der Sitten. Obwohl er mit Leidenschaft an dem Herrn hing, kam doch selten ein Tag vor, an welchem er ihm nicht irgend etwas vorlog. Der Diener der alten Zeiten pflegte seinen Herrn vor Verschwendung und Unmäßigkeit zurückzuhalten, Sachar jedoch liebte es, mit seinen Kameraden auf die Rechnung seines Herrn zu trinken; der frühere Diener war keusch wie ein Eunuch, und dieser da lief immer zu einer Gevatterin von sehr verdächtiger Art hin. Der altmodische Diener hütete das herrschaftliche Geld sicherer als jeder Schrank, und Sachar, immer bestrebt, seinen Herrn bei irgendeiner Ausgabe um zehn Kopeken zu betrügen, eignete sich be stimmt jede auf dem Tisch liegende Kupfermünze an. Wenn Ilja Iljitsch vergaß, Sachar den Rest abzufordern, kehrte dieser nie mehr zu ihm zurück. Größere Summen stahl er nicht, vielleicht deshalb, weil er seine Bedürfnisse mit Zehnkopekenstücken maß oder weil er ertappt zu werden fürchtete, aber keinesfalls aus übertriebener Ehrlichkeit. Der alte Kaleb würde eher wie ein gut dressierter Jagdhund neben den seiner Obhut anvertrauten Eßwaren gestorben sein, als sie anzurühren sich getraut zu haben. Sachar aber dachte nur, wie er möglichst viel auch von dem ihm nicht Anvertrauten essen und trinken konnte; jener sorgte sich nur darum, daß sein Herr möglichst viel aß, und war traurig, wenn er nicht aß; und Sachar war traurig, wenn der Herr alles, was auf dem Teller lag, bis auf den Rest aufaß. Außerdem war Sachar auch eine Klatschbase. Er klagte in der Küche, im Krämerladen, bei den Zusammenkünften am Haustor, daß er ein elendes Leben führe, daß ein so böser Herr noch gar nicht dagewesen sei, er sei launisch, geizig und zornig, man könne es ihm nie recht machen, mit einem Wort, es sei besser zu sterben, als ihn zu bedienen. Sachar tat es nicht aus Bosheit und nicht, weil er dem Herrn schaden wollte, sondern nur so aus der von seinem Vater und Großvater geerbten Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit über den Herrn zu schimpfen. Er verbreitete manchmal aus Langeweile oder in Ermangelung eines anderen Gesprächsthemas oder um dem versammelten Publikum mehr Interesse einzuflößen plötzlich irgendein Märchen über seinen Herrn. »Der meinige hat jetzt die Gewohnheit, immer zu einer Witwe zu gehen«, krächzte er leise im Vertrauen; »er hat ihr gestern einen Brief geschrieben.« Oder er erklärte, sein Herr sei ein solcher Kartenspieler und Trunkenbold, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte, und daß er alle Nächte bis zum Morgen Karten spiele und Schnaps trinke. Das entsprach aber gar nicht der Wahrheit: Ilja Iljitsch besuchte gar keine Witwe, schlief ruhig in der Nacht und nahm nie eine Karte in die Hand. Sachar war unsauber. Er rasierte sich selten, und wenn er sich auch Gesicht und Hände wusch, schien er eher nur so zu tun, als wasche er sich; man konnte ihn übrigens mit gar keiner Seife reinwaschen. Wenn er ins Badehaus ging, verwandelten sich seine Hände nur für zwei Stunden aus schwarzen in rote und wurden dann wieder schwarz. Er war sehr ungeschickt: Wenn er das Haustor oder die Tür öffnen wollte, machte er eine Hälfte auf, dabei schloß sich die zweite, er lief zu ihr hin, und infolgedessen schloß sich die erste Hälfte. Er konnte nie ein Taschentuch oder einen andern Gegenstand auf einmal vom Fußboden aufheben, sondern beugte sich immer dreimal nieder, als haschte er danach, und fing es vielleicht erst beim viertenmal auf, es kam aber vor, daß er es dabei wieder fallen ließ. Wenn er einen Haufen Geschirr oder andere Sachen durch das Zimmer trug, begannen die obersten Gegenstände gleich beim ersten Schritt zu Boden zu fallen; zuerst fiel ein Gegenstand zu Boden, er machte jählings eine verspätete und unnütze Bewegung, um ihn aufzuhalten, und ließ dabei zwei andere zu Boden gleiten; er sperrt vor Erstaunen den Mund auf und schaut dem fallenden Gegenstand nach, statt auf diejenigen, die er in der Hand hält, zu achten, dadurch beugt er das Präsentierbrett herab, so daß wieder Gegenstände herunterfallen und er am entgegengesetzten Ende des Zimmers mit einem einzigen Glas oder Teller anlangt; manchmal wirft er selbst das letzte, was er noch in der Hand hält, schimpfend und fluchend herab. Wenn er durch das Zimmer schreitet, streift er bald den Tisch und bald den Sessel mit dem Fuß oder mit der Seite, findet nicht sogleich in die offene Türhälfte hinein, sondern stößt mit den Schultern gegen die zweite und schimpft dann über beide Hälften oder über den Hausherrn und den Zimmermann, der die Tür gemacht hat. In Oblomows Arbeitszimmer sind fast alle Gegenstände zerbrochen, besonders die kleinen, die eine behutsame Behandlung beanspruchen, und das alles durch Sachars Schuld. Er wendet seine Geschicklichkeit, eine Sache in die Hand zu nehmen, bei allen Gegenständen an, ohne in der Behandlungsweise des einen oder anderen Gegenstandes irgendeinen Unterschied zu machen. Man sagt ihm zum Beispiel, er soll eine Kerze putzen oder ein Glas mit Wasser füllen, er verbraucht dabei ebensoviel Kraft wie beim Öffnen des Haustors. Wehe der Wohnung, wenn Sachar, von einem jähen Eifer, den Herrn zufriedenzustellen, erfaßt, es sich einfallen ließ, plötzlich überall aufzuräumen, alles zu putzen, aufzustellen und schnell und auf einmal in Ordnung zu bringen; dann nahmen der Schaden und die Verwüstung kein Ende. Ein ins Haus eingedrungener feindlicher Soldat hätte nicht mehr Unheil stiften können – es begann das Schleudern und Zugrunderichten verschiedener Gegenstände, das Zerschlagen des Geschirrs, das Umwerfen von Sesseln; es endete damit, daß man ihn aus dem Zimmer jagen mußte, oder daß er selbst schimpfend und fluchend fortging. Sachar hatte sich ein für allemal einen bestimmten Wirkungskreis vorgeschrieben, den er nie überschritt. Er stellte des Morgens den Samowar auf, putzte die Stiefel und die vom Herrn verlangten Kleider, aber niemals diejenigen, die er nicht verlangte, sie mochten zehn Jahre dahängen. Dann fegte er – aber nicht jeden Tag – die Mitte des Zimmers aus, ohne je bis in die Ecken einzudringen, und staubte nur jenen Tisch ab, auf dem nichts lag, um die Gegenstände nicht herunternehmen zu müssen. Dann hielt er sich schon für berechtigt, auf der Ofenbank hinzudämmern oder mit Anissja in der Küche und den anderen Dienstboten am Haustor zu plaudern, ohne sich um irgend etwas zu kümmern. Wenn man ihm etwas außerhalb dieses Gebietes zu tun auftrug, erfüllte er den Befehl ungern, nach langem Hin- und Herstreiten und nach Beweisen, der Auftrag sei unnütz oder unmöglich zu befolgen. Man konnte ihn durch keinerlei Mittel dahin bringen, in diesen seinen Wirkungskreis eine neue beständige Beschäftigung einzuschließen. Trotz alledem, wenn man den Umstand, daß Sachar zu trinken und zu klatschen liebte, Oblomows Kupfermünzen einsteckte, verschiedene Gegenstände zerbrach und faul war, abrechnete, ergab es sich, daß er seinem Herrn ein tiefergebener Diener war. Er wäre für ihn, ohne es sich zu überlegen, ins Feuer oder ins Wasser gegangen und würde diese Leistung für keine besondere Heldentat angesehen haben, die Bewunderung oder irgendwelche besondere Belohnung beanspruchen durfte. Er hielt das für etwas Natürliches und Selbstverständliches, oder vielmehr er hatte sich darüber gar keine Meinung gebildet und hätte so gehandelt, ohne sich darüber irgendwelche Gedanken zu machen. Er hatte über diesen Gegenstand keinerlei Theorien aufgestellt. Er würde sich ebenso auf den Tod stürzen, wie ein Hund, der im Wald ein wildes Tier sieht, sich auf dasselbe stürzt, ohne darüber nachzudenken, warum er und nicht sein Herr das tut. Wenn es aber zum Beispiel notwendig wäre, eine ganze Nacht lang, ohne ein Auge zu schließen, am Bett des Herrn zu verbringen, und dessen Gesundheit, ja selbst dessen Leben davon abhinge, würde Sachar bestimmt einschlafen. In seinem Benehmen dem Herrn gegenüber äußerte er nicht nur keine Unterwürfigkeit, sondern behandelte ihn sogar eher grob und familiär, zürnte ihm ernstlich einer jeden Kleinigkeit wegen und verleumdete ihn, wie schon mitgeteilt worden ist, am Haustor; aber dadurch wurde das tief in ihm wurzelnde, verwandtschaftliche Gefühl der Ergebenheit nicht bloß Ilja Iljitsch persönlich, sondern allem gegenüber, was den Namen Oblomow trug und ihm vertraut, lieb und teuer war, nur zeitweise in den Schatten gestellt, aber durchaus nicht aufgehoben. Vielleicht stand sogar dieses Gefühl zu Sachars eigener Ansicht über Oblomows Persönlichkeit in Widerspruch; vielleicht hatte die genaue Kenntnis des Charakters seines Herrn Sachar andere Überzeugungen eingeflößt. Wenn man ihm den Grad seiner Anhänglichkeit an Ilja Iljitsch erklärt hätte, würde er diese Tatsache wahrscheinlich bestritten haben. Sachar liebte Oblomowka, wie die Katze ihren Dachboden liebt, wie das Pferd seine Krippe und der Hund die Hütte, in der er geboren wurde und aufwuchs. In der Sphäre dieser Anhänglichkeit bildete er sich seine besonderen, persönlichen Eindrücke aus. Er liebte zum Beispiel den Oblomowschen Kutscher mehr als den Koch, die Viehmagd Warwara flößte ihm noch größere Sympathien ein, und er zog sie alle Ilja Iljitsch vor; aber trotzdem war für ihn der Oblomowsche Koch besser als alle Köche der Welt und war über sie alle erhaben, und Ilja Iljitsch stand hoch über allen Gutsbesitzern. Er konnte den Weinschenk Tarasska nicht ausstehen; doch er würde diesen Tarasska nicht gegen den besten Menschen der ganzen Welt austauschen, weil er aus Oblomowka war. Er behandelte Oblomow ebenso grob und familiär, wie ein Schamane einen Götzen behandelt; er putzt ihn, wirft ihn manchmal um und schlägt ihn vielleicht sogar vor Ärger, aber in seiner Seele wohnt doch immer das Gefühl, wie erhaben doch dieser Götze im Vergleich zu ihm ist. Der geringste Anlaß genügte, um in der Tiefe von Sachars Seele dieses Gefühl wachzurufen, ihn seinen Herrn voll Andacht betrachten zu lassen und ihm manchmal sogar Tränen der Rührung zu entlocken. Sachar sah alle Herrschaften und Gäste, die zu Oblomow kamen, etwas von oben herab an und bediente sie, reichte ihnen Tee usw. mit einer gewissen Herablassung, als wollte er sie fühlen lassen, welche Ehre für sie der Aufenthalt bei seinem Herrn sei. Er wies sie recht grob ab. »Der Herr ruht«, sagte er, den Ankömmling hochmütig vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Manchmal begann er plötzlich statt der Klatschgeschichten und Verleumdungen Ilja Iljitsch in den Laden- und Haustorversammlungen übermäßig zu loben, und dann hatte sein Entzücken keine Grenzen. Er begann alle Eigenschaften des Herrn aufzuzählen, seinen Verstand, seine Freundlichkeit, Freigebigkeit und Güte; und wenn es seinem Herrn an Eigenschaften für das Loblied mangelte, lieh er sie sich bei anderen aus und schmückte ihn mit Vornehmheit, Reichtum oder außerordentlicher Macht. Wenn er dem Hausbesorger, dem Verwalter oder sogar dem Hausbesitzer Angst machen wollte, nahm er immer seinen Herrn zu Hilfe. »Wart nur, ich sag's dem Herrn«, drohte er, »dann kriegst du's schon!« Für ihn gab es auf der ganzen Welt keine größere Autorität. Aber die äußerlichen Beziehungen Sachars zu Oblomow waren immer feindseliger Art. Sie waren während ihres Zusammenlebens einander überdrüssig geworden. Ein intimes tägliches Zusammensein zweier Menschen geht weder an dem einen noch an dem anderen spurlos vorüber; es gehört von beiden Seiten sehr viel Lebenserfahrung, Logik und Herzenswärme dazu, um nur die gegenseitigen Eigenschaften zu würdigen, ohne durch die Fehler zu verletzen und sich verletzt zu fühlen. Ilja Iljitsch kannte schon die eine unschätzbare Eigenschaft Sachars, dessen Anhänglichkeit, und hatte sich daran gewöhnt, indem er seinerseits auch glaubte, es könnte und dürfte nicht anders sein; da er diesen Vorzug ein für allemal für etwas Selbstverständliches hielt, konnte er ihn nicht mehr würdigen, ertrug aber trotz seiner Gleichgültigkeit allem gegenüber Sachars unzählige kleine Fehler nicht mit Geduld. Wenn Sachar trotz der Ergebenheit seinem Herrn gegenüber, wie sie den Dienern in alten Zeiten eigen war, sich von diesen durch moderne Fehler unterschied, hegte auch Ilja Iljitsch seinerseits, obwohl er Sachars Anhänglichkeit innerlich schätzte, nicht mehr jene freundschaftliche, fast verwandtschaftliche Zuneigung zu ihm, wie sie in früheren Zeiten die Herrschaften für ihre Diener empfanden. Er erlaubte sich, manchmal einen ernsthaften Streit mit Sachar zu beginnen. Auch er machte sich seinem Diener lästig. Nachdem Sachar in seiner Jugend im herrschaftlichen Haus als Lakai gedient hatte, wurde er zum Beaufsichtiger Ilja Iljitschs ernannt und hielt sich seitdem nur für einen Luxusartikel, für ein aristokratisches Zubehör des Hauses, das zur Aufrechterhaltung des Glanzes und der Würde der alten Familie bestimmt, aber durchaus kein Gegenstand des täglichen Bedarfes war. Darum tat er gar nichts mehr, wenn er seine Pflichten erfüllt hatte und den jungen Herrn des Morgens angekleidet und des Abends ausgekleidet hatte. Seine angeborene Trägheit wurde durch die Erziehung, die er als Lakai genossen hatte, noch verstärkt. Er machte sich unter der Dienerschaft wichtig und gab sich nicht die Mühe, den Samowar aufzustellen oder die Fußböden zu fegen. Entweder döste er im Vorzimmer vor sich hin oder ging in die Gesindestube und in die Küche plaudern, oder er stand auch mit auf der Brust verschränkten Armen ganze Stunden lang am Haustor und blickte mit schläfriger Nachdenklichkeit um sich. Und nach einem solchen Leben wälzte man ihm plötzlich die schwere Last auf die Schultern, das ganze Haus in Ordnung zu halten! Er mußte den Herrn bedienen, mußte fegen und putzen und Gänge machen! Alles das verlieh seinem Charakter einen düstern Anstrich und rief in ihm Grobheit und Härte hervor; darum brummte er auch jedesmal, wenn die Stimme des Herrn ihn seine Ofenbank zu verlassen nötigte. Aber trotz dieser äußeren Barschheit und Unfreundlichkeit besaß Sachar doch ein weiches, gutes Herz. Er liebte es sogar, seine Zeit mit Kindern zu verbringen. Man sah ihn oft auf dem Hof und am Haustor mit einem ganzen Kinderhaufen. Er versöhnte sie, neckte sie, arrangierte ihnen Spiele oder saß einfach da, hielt auf jedem Knie ein Kind, während irgendein Knirps noch von rückwärts seinen Hals umfaßte oder ihn an seinem Backenbart zupfte. Auf diese Weise störte Oblomow Sachar durch das immerwährende Beanspruchen seiner Dienste und seiner Anwesenheit, während sein Herz, sein geselliger Charakter, seine Liebe zur Untätigkeit und sein ewiges, unstillbares Bedürfnis zu kauen ihn bald zur Gevatterin, bald in die Küche, bald in den Laden und zum Haustor hin zogen. Sie kannten einander lange und lebten lange beisammen. Sachar hatte den kleinen Oblomow auf dem Arm getragen, und Ilja Iljitsch hatte ihn noch als einen jungen, beweglichen, gefräßigen und schelmischen Burschen gekannt. Das alte Band zwischen ihnen war unzerreißbar. Ebenso wie Ilja Iljitsch ohne Sachars Hilfe weder aufstehen, noch schlafen gehen, noch sich kämmen, anziehen und Mittag essen konnte, konnte sich auch Sachar keinen andern Herrn als Ilja Iljitsch denken und sich keine andere Existenz vorstellen als diese, die darin bestand, daß er ihn ankleidete, fütterte, ihm Grobheiten sagte, ihn betrog und belog und dabei innerlich doch anbetete. Achtes Kapitel Achtes Kapitel Nachdem Sachar hinter Tarantjew und Alexejew die Tür geschlossen hatte, setzte er sich nicht auf die Ofenbank, in der Erwartung, der Herr würde ihn gleich rufen, da er gehört hatte, daß Ilja Iljitsch zu schreiben vorhatte. Doch in Oblomows Arbeitszimmer war alles still wie in einem Grab. Sachar sah durch eine Spalte hinein, und was bot sich seinen Blicken dar? Ilja Iljitsch lag auf dem Sofa und stützte den Kopf auf die Handfläche; vor ihm lag ein Buch. Sachar öffnete die Tür. »Warum liegen Sie wieder?« fragte er. »Störe mich nicht; du siehst, ich lese!« sagte Oblomow lakonisch. »Es ist Zeit, daß Sie sich waschen und schreiben«, sagte Sachar, ohne sich abweisen zu lassen. »Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Ilja Iljitsch, zur Besinnung kommend. »Gleich, geh nur. Ich werde noch nachdenken.« »Wann hat er es nur fertiggebracht, sich wieder hinzulegen!« brummte Sachar, auf die Ofenbank springend. »Da hat er sich aber beeilt!« Oblomow hatte unterdessen die von der Zeit vergilbte Seite zu Ende gelesen, auf der er seine Lektüre vor einem Monat unterbrochen hatte. Er legte das Buch wieder auf seinen Platz, gähnte und vertiefte sich in den nicht zu bannenden Gedanken »über das doppelte Malheur«. »Was für eine Langeweile!« flüsterte er, seine Beine streckend und wieder einziehend. Er hatte Lust, sich den Träumen und dem Nichtstun hinzugeben; er richtete die Augen auf den Himmel und suchte die geliebte Sonne, doch sie stand gerade im Zenit und überflutete die Kalkwand des Hauses, hinter dem sie abends vor Oblomows Fenster unterging, mit ihrem blendenden Licht. Nein, zuerst die Arbeit, dachte er voller Strenge, und dann ... Der ländliche Morgen war längst vorüber, und der Petersburger neigte sich seinem Ende zu. Zu Ilja Iljitsch drang das Gewirr von menschlichen und nicht menschlichen Stimmen von draußen herein. Der Gesang wandernder Künstler, der meistens von Hundegebell begleitet wurde. Man zeigte auch Meertiere und bot alle möglichen Verkaufsartikel an. Er legte sich auf den Rücken und verschränkte beide Hände unter dem Kopf. Ilja Iljitsch nahm das Ausarbeiten des Gutsplanes in Angriff. Er ließ im Geiste rasch ein paar ernste, grundlegende Fragen bezüglich der Abgaben und des Pflügens vorübergleiten, erfand eine neue strenge Maßregel gegen die Faulheit und das Vagabundieren der Bauern und ging zur Einrichtung seines eigenen Lebens auf dem Gut über. Ihn beschäftigte das Bauen eines Landhauses; er verweilte mit Vergnügen ein paar Minuten lang bei der Einteilung der Räume, bestimmte die Länge und Breite des Speise- und des Billardzimmers, überlegte es sich, wohin er die Fenster seines Arbeitszimmers verlegen sollte, dachte sogar an die Möbel und die Teppiche. Dann verteilte er die Seitenflügel des Hauses nach der Zahl der Gäste, die er zu empfangen beabsichtigte, räumte den Ställen, Scheunen, Gesindestuben und verschiedenen anderen Nebenbauten Platz ein. Endlich ging er zum Garten über; er beschloß, alle alten Linden und Eichen, so, wie sie waren, zu lassen, die Äpfel- und Birnbäume zu vernichten und statt dessen Akazien zu pflanzen; er dachte auch über einen Park nach, nachdem er aber im Geiste einen annähernden Kostenüberschlag gemacht hatte, fand er, daß die Sache zu teuer sei, verschob diesen Plan auf später und ging zu dem Blumengarten und den Glashäusern über. Jetzt erwachte in ihm der verlockende Gedanke an das zukünftige Obst so lebhaft, daß er sich plötzlich auf seinem Gut vorstellte, nachdem alles schon nach seinem Plan eingerichtet wäre und er dort beständig leben würde. Er träumte davon, daß er an einem Sommerabend auf der Terrasse am Teetische, unter dem für die Sonne undurchdringlichen Schatten der Bäume, mit einer Pfeife sitze, träge den Rauch einziehe und die sich hinter den Bäumen eröffnende Landschaft, die Kühle und Stille genieße; und in der Ferne breiten sich die gelben Felder aus, die Sonne sinkt hinter den wohlbekannten Birkenhain und rötet den spiegelglatten Teich; über den Feldern steigt Dampf auf; es wird kühl; die Bauern gehen haufenweise nach Hause; die müßige Dienerschaft sitzt am Haustor; von dort tönen lustige Stimmen, Lachen und Balalaikaspiel herüber; die Mädchen spielen Haschen; um ihn herum tollen seine Kleinen, kriechen ihm auf die Knie, hängen sich an seinen Hals; am Samowar sitzt ... die Königin alles dessen, was ihn umgibt, seine Gottheit ... eine Frau! seine Frau! Und unterdessen leuchten aus dem mit eleganter Einfachheit eingerichteten Speisezimmer einladende Lichter heraus, und drin wird der große, runde Tisch gedeckt. Der zu seinem Majordomus ernannte Sachar, der schon einen ganz grauen Backenbart hat, deckt den Tisch, stellt das angenehm tönende Kristall auf und legt das Silber herum, wobei er jeden Augenblick bald ein Glas, bald eine Gabel zu Boden wirft; dann setzt man sich zum reichlichen Abendbrot; da sieht er auch seine Jugendkameraden, seinen unveränderlichen Freund Stolz und andere bekannte Gesichter. Dann begibt man sich zur Ruhe ... Oblomows Gesicht rötete sich vor Glück; der Traum war so licht, lebendig und poetisch. Er fühlte auf einmal eine wahre Sehnsucht nach Liebe und stillem Glück, und es dürstete ihn plötzlich, die Felder und Hügel seiner Heimat zu sehen und sein Haus, seine Frau und seine Kinder zu haben ... Nachdem er etwa fünf Minuten auf dem Gesicht gelegen hatte, wandte er sich langsam wieder auf den Rücken um. Sein Gesicht leuchtete von einem sanften, rührenden Gefühl auf; er war glücklich. Er streckte seine Beine langsam und behaglich aus, so daß seine Beinkleider sich ein wenig hinaufschoben, doch er bemerkte diese kleine Nachlässigkeit gar nicht. Die gefälligen Träume trugen ihn leicht und frei, weit in die Ferne. Jetzt gab er sich seinem Lieblingsgedanken ganz hin; er dachte an die kleine Kolonie von Freunden, die sich in kleinen Dörfchen und Farmen, fünfzehn bis zwanzig Werst von seinem Gut entfernt, niederlassen würden, daran, wie sie sich der Reihe nach täglich versammeln würden, um zusammen zu Mittag zu essen, zu soupieren und zu tanzen; er sah nur heitere Tage und heitere, lachende, runde, rotbackige Gesichter mit einem Doppelkinn, deren Besitzer sich eines unverwüstlichen Appetits erfreuten; es würde ewiger Sommer, ewiger Frohsinn herrschen, man würde gut essen und süß faulenzen ... »Gott, ach Gott!« sagte er aus der Fülle seines Glückes heraus und erwachte. Vom Hof ertönte es fünfstimmig herein: »Kartoffeln! Sand, brauchen Sie keinen Sand? Kohlen! Kohlen! Steuern Sie, gütige Herrschaften, zur Erbauung eines Gotteshauses bei!« Aus dem benachbarten Neubau drang das Klopfen der Hacken und das Schreien der Arbeiter herüber, und auf der Straße hörte man die Wagen rasseln. Überall Stimmen und Bewegung! »Ach!« seufzte Ilja Iljitsch schmerzlich auf. Was das für ein Leben ist! Wie abscheulich dieser Großstadtlärm ist! Wann wird denn das ersehnte paradiesische Leben beginnen? Wann komme ich in die Felder und die vertrauten Wälder? dachte er. Jetzt würde er gern unter einem Baum auf dem Gras liegen, durch die Äste hindurch auf die Sonne blicken und zählen, wieviel Vögel sich auf die Zweige setzen. Und dann bringt irgendein rotbackiges Dienstmädchen mit nackten, runden und weichen Ellbogen und einem sonnengebräunten Hals bald das Mittagessen und bald das Frühstück herein; die Schelmin senkt die Augen und lächelt ... Wann denn diese Zeit? ... Und der Plan, der Dorfschulze und die Wohnung? tauchte es in seinem Gedächtnis auf. »Ja, ja!« sagte Ilja Iljitsch, »gleich, sofort!« Oblomow erhob sich rasch und richtete sich auf dem Sofa auf, ließ dann die Füße vom Sofa herabgleiten, schlüpfte auf einmal in beide Pantoffeln hinein und blieb eine Weile so sitzen; dann erhob er sich endgültig und blieb ein paar Minuten lang sinnend stehen. »Sachar, Sachar!« schrie er laut, auf den Tisch und das Tintenfaß blickend. »Was ist denn?« hörte man mit dem Sprunge zugleich. »Wie mich nur meine Beine tragen!« »Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch sinnend, ohne den Blick vom Tisch zu wenden. »Höre einmal, Bruder ...« begann er, auf das Tintenfaß hinweisend, versank aber, ohne den Satz zu vollenden, in seine Gedanken. Jetzt streckten sich seine Arme nach oben aus, die Knie sanken ein, er begann sich zu strecken, zu gähnen ... »Wir hatten dort noch«, begann er langsam, sich noch immer streckend, »ein Stück Käse, und ... gib mir Madeira; es ist noch weit bis zum Mittagessen, und ich werde jetzt ein wenig frühstücken ...« »Wo hatten wir einen?« sagte Sachar. »Es ist nichts geblieben ...« »Wieso ist nichts geblieben?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch. »Ich erinnere mich ganz genau; es war noch ein so großes Stück da ...« »Nein, nein! Es ist gar nichts zurückgeblieben!« wiederholte Sachar beharrlich. »Es war noch etwas da!« sagte Ilja Iljitsch. »Nein!« antwortete Sachar. »Nun, dann kaufe Käse.« »Geben Sie mir Geld.« »Dort liegt kleines Geld, nimm es!« »Hier ist nur ein Rubel vierzig, und ich brauche einen Rubel sechzig Kopeken.« »Dort waren noch Kupfermünzen!« »Ich habe keine gesehen!« sagte Sachar, von einem Fuß auf den anderen tretend. »Es war Silber da, das liegt hier noch, es waren aber keine Kupfermünzen dabei!« »Es waren welche dabei; gestern hat sie der Hausierer mir selbst in die Hand gegeben.« »Ich war dabei«, sagte Sachar, »ich habe gesehen, daß er Kleingeld gegeben hat, ich habe aber keine Kupfermünzen gesehen ...« Vielleicht hat Tarantjew sie genommen? dachte Ilja Iljitsch unschlüssig, aber nein, der hätte auch das Kleingeld genommen. »Was gibt es also sonst noch?« fragte er. »Gar nichts! Ich muß Anissja fragen, ob der gestrige Schinken noch da ist«, sagte Sachar. »Soll ich ihn bringen?« »Bringe, was da ist. Wieso ist denn sonst nichts geblieben?« »Nun, es ist eben nichts geblieben!« sagte Sachar und ging. Und Ilja Iljitsch spazierte langsam und sinnend im Zimmer herum. »Ja, ich habe viel Sorgen«, sagte er leise. »Zum Beispiel der Plan – wieviel Arbeit er noch erfordert! ... Und es ist doch ein Stück Käse übriggeblieben«, fügte er sinnend hinzu, »Sachar hat ihn aufgegessen und sagt, daß keiner da war! Und wo sind die Kupfermünzen hingekommen?« sagte er, mit der Hand auf dem Tisch herumtastend. Nach einer Viertelstunde stieß Sachar die Tür mit dem Präsentierbrett auf, das er in beiden Händen hielt, und wollte, als er im Zimmer war, die Tür mit dem Fuß zuschlagen, doch er hatte falsch gezielt und traf den leeren Raum; das Weinglas fiel herab, ihm folgte der Pfropfen der Karaffe und eine Semmel. »Du kannst keinen Schritt machen, ohne daß so etwas vorkommt!« sagte Ilja Iljitsch. »Nun, so hebe doch das, was du fallen gelassen hast, auf; er steht noch da und bewundert es!« Sachar beugte sich mit dem Präsentierteller herab, um die Semmel aufzuheben, bemerkte aber, als er sich niedergekauert hatte, daß seine beiden Hände beschäftigt waren und er nichts hatte, womit er die Semmel aufheben konnte. »Nun, hebe es einmal auf!« sagte Ilja Iljitsch spöttisch. »Nun also? Warum tust du es denn nicht?« »Oh, daß euch der Teufel hole, ihr verfluchten«, wandte sich Sachar wütend an die herabgeworfenen Gegenstände, »wo kommt es denn vor, daß knapp vor dem Mittagessen gefrühstückt wird?« Er stellte das Präsentierbrett hin und hob alles, was ihm heruntergefallen war, vom Fußboden auf; er nahm die Semmel, blies sie ab und legte sie auf den Tisch. Ilja Iljitsch begann zu frühstücken, und Sachar blieb in einiger Entfernung stehen und blickte ihn von der Seite an, als hätte er vor, etwas zu sagen. Aber Oblomow frühstückte, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken. Sachar räusperte sich zweimal. Oblomow sah sich noch immer nicht um. »Der Verwalter hat soeben wieder herübergeschickt«, begann Sachar endlich schüchtern, »er sagt, der Baumeister war bei ihm, er fragt, ob er unsere Wohnung anschauen darf? Es ist alles des Umbaues wegen ...« Ilja Iljitsch aß, ohne ein Wort zu erwidern. »Ilja Iljitsch!« sagte Sachar nach einer Weile noch leiser. Ilja Iljitsch gab sich den Anschein, als hörte er nichts. »Man fordert, daß wir nächste Woche ausziehen«, krächzte Sachar. Oblomow trank ein Glas Wein und schwieg. »Was sollen wir denn anfangen, Ilja Iljitsch?« fragte Sachar fast flüsternd. »Habe ich dir denn nicht verboten, mir davon zu sprechen!« sagte Ilja Iljitsch streng, erhob sich und kam auf Sachar zu. Dieser wich vor ihm zurück. »Was du für ein giftiger Mensch bist, Sachar!« fügte Oblomow überzeugt hinzu. Sachar fühlte sich verletzt. »Aber«, sagte er, »ich bin giftig! Warum bin ich denn giftig? Ich habe niemand umgebracht.« »Natürlich bist du giftig!« wiederholte Ilja Iljitsch, »du vergiftest mir das Leben.« »Ich bin nicht giftig!« sagte Sachar. »Warum läßt du mir mit der Wohnung keine Ruhe?« »Was soll ich denn tun?« »Und was soll ich denn tun?« »Sie wollten doch dem Hausherrn schreiben!« »Ich werde ihm auch schreiben; warte nur; aber das geht doch nicht so schnell!« »Sie sollten ihm jetzt gleich schreiben!« »Jetzt, jetzt! Ich habe noch Wichtigeres zu tun. Du glaubst, das ist wie Holzhacken? Eins, zwei, drei? Da«, sagte Oblomow, die trockene Feder in das Tintenfaß tauchend, »es ist ja gar keine Tinte drin! Wie soll ich schreiben?« »Ich werde gleich Kwaß hineintun«, sagte Sachar, nahm das Tintenfaß in die Hand und ging damit rasch ins Vorzimmer, während Oblomow nach Papier zu suchen begann. »Ich glaube, es ist auch kein Papier da!« sprach er zu sich selbst, in der Schublade herumstöbernd und auf dem Tisch herumtastend. »Nirgends! Ach, dieser Sachar, er ist unerträglich!« »Und du willst kein giftiger Mensch sein?« sagte Ilja Iljitsch zu Sachar, der wieder hereinkam, »du kümmerst dich um gar nichts! Weshalb ist kein Papier im Hause?« »Was ist denn das für eine Plage, Ilja Iljitsch! Ich bin ein Christ, warum sagen Sie, daß ich giftig bin? Was Ihnen einfällt; ich soll giftig sein! Wir sind beim alten Herrn geboren und aufgewachsen, er hat uns Hund zu schimpfen und bei den Ohren zu reißen geruht, wir haben aber nie ein solches Wort gehört, er hat sich so etwas nicht ausgedacht! Das ist ja eine Sünde! Da ist Papier, bitte!« Er nahm von der Etagere einen halben Bogen grauen Papiers herab und reichte es ihm. »Kann man denn darauf schreiben?« fragte Oblomow, das Papier fortwerfend, »ich habe damit für die Nacht mein Glas zugedeckt, um zu verhindern, daß etwas ... Giftiges hineinkommt.« Sachar wandte sich ab und blickte auf die Mauer. »Nun, da kann man nichts machen. Gib her, ich schreibe das Konzept, und Alexejew schreibt es dann ab.« Ilja Iljitsch setzte sich an den Tisch und schrieb schnell: »Euer Wohlgeboren! ...« »Wie schlecht die Tinte ist!« sagte er, »passe nächstes Mal besser auf und erfülle deine Pflichten, wie es sich gehört!« Er dachte ein wenig nach und begann dann wieder zu schreiben: »Die Wohnung, welche ich im zweiten Stock des Hauses gemietet habe, in welchem Sie einiges umzubauen beabsichtigen, entspricht vollkommen meiner Lebensweise und den von mir infolge des langen Wohnens in diesem Hause angenommenen Gewohnheiten. Durch meinen Leibeigenen, Sachar Trofimow, benachrichtigt, daß Sie mir mitzuteilen befohlen haben, daß die von mir gemietete Wohnung ...« »Das ist ungeschickt«, sagte er, »hier steht zweimal daß und dort zweimal welche. « Er murmelte vor sich hin und stellte die Worte um; dann sah er, daß welcher sich auf Stock bezog – das ging wieder nicht. Er änderte das, so gut es ging, um und begann darüber zu grübeln, wie er die Wiederholung von daß vermeiden könnte. Bald strich er ein Wort durch, bald schrieb er es wieder hin. Er stellte daß dreimal um, doch dabei kam entweder ein Unsinn oder die Nachbarschaft eines zweiten daß heraus. »Man kann dieses zweite Daß gar nicht loswerden!« sagte er ungeduldig. »Ach! Zum Teufel mit diesem Brief! Ich soll mir wegen solcher Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen! Ich bin es nicht mehr gewohnt, Geschäftsbriefe zu schreiben. Und jetzt ist es schon bald drei Uhr.« »Sachar, da hast du es!« Er zerriß den Brief in vier Stücke und warf sie zu Boden. »Hast du's gesehen?« fragte er. »Ich hab's gesehen«, antwortete Sachar, die Papierschnitzel aufhebend. »Also, laß mich jetzt mit der Wohnung in Ruhe. Und was hast du da?« »Die Rechnungen.« »Ach, du mein Gott! Du quälst mich zu Tode! Nun, wieviel steht da, sag's schnell!« »Der Schlächter bekommt 86 Rubel 54 Kopeken.« Ilja Iljitsch schlug die Hände zusammen. »Bist du verrückt? Der Schlächter allein bekommt einen solchen Haufen Geld?« »Wir haben seit drei Monaten nicht gezahlt, da kann sich schon ein Haufen ansammeln! Hier steht es drin, man hat es nicht gestohlen!« »Und du willst nicht giftig sein?« sagte Oblomow. »Du hast für eine Million Fleisch gekauft! Wie kannst du so viel in dich hineinbringen? Wenn man wenigstens etwas davon hätte.« »Ich hab's nicht aufgegessen!« gab Sachar barsch zur Antwort. »Nein! Du hast's nicht gegessen!« »Warum werfen Sie mir mein Essen vor? Da, sehen Sie!« Und er streckte ihm die Rechnungen hin. »Nun, wem noch?« fragte Ilja Iljitsch, die fettigen Hefte ärgerlich von sich stoßend. »Noch 121 Rubel 18 Kopeken dem Bäcker und Gemüsehändler.« »Das ist ja der Ruin! Das ist unerhört!« sagte Oblomow ganz außer sich. »Bist du denn eine Kuh, daß du so viel Grünzeug zusammenkaufst ...« »Nein! Ich bin ein giftiger Mensch!« bemerkte Sachar bitter, sich gänzlich vom Herrn abwendend. »Wenn Sie Michej Andreitsch nicht zu sich lassen würden, hätten wir weniger verbraucht!« fügte er hinzu. »Nun, wieviel macht also das Ganze aus, rechne!« sagte Ilja Iljitsch und begann selbst zu rechnen. Sachar zählte an seinen Fingern herum. »Zum Teufel, was für ein Unsinn herauskommt; jedesmal etwas anderes!« sagte Oblomow. »Nun, wieviel hast du herausgebracht, zweihundert?« »Warten Sie, lassen Sie mir Zeit!« sagte Sachar, die Augen schließend und brummend, »acht Zehner und zehn Zehner sind achtzehn und zwei Zehner ...« »Nun, du wirst so niemals fertig«, sagte Ilja Iljitsch, »geh in dein Zimmer und gib mir morgen die Rechnung, sorge auch für Papier und Tinte ... So ein Haufen Geld! Ich habe gesagt, man soll nach und nach zahlen, er geht aber immer darauf aus, alles auf einmal zu begleichen ... Ist das ein Volk!« »Zweihundertfünfzig Rubel zweiundsiebzig Kopeken«, sagte Sachar, als er mit dem Zusammenrechnen fertig war. »Geben Sie mir das Geld.« »Aber natürlich, sofort! Wart nur noch: Ich werde morgen nachrechnen ...« »Wie Sie wollen, Ilja Iljitsch, aber man verlangt das Geld ...« »Nun, laß mich nur in Ruh'! Wenn ich sage morgen, dann kriegst du's auch morgen. Geh in dein Zimmer, ich habe zu tun. Ich habe größere Sorgen ...« Ilja Iljitsch setzte sich in den Sessel hinein, zog die Füße hinauf und wollte sich gerade in seine Gedanken versenken, als ein Läuten ertönte. Es erschien ein kleiner Mann mit einem mäßigen Bäuchlein, mit einem weißen Gesicht, roten Backen und einer Glatze, die im Nacken mit schwarzen, dichten Haaren wie mit Fransen verbrämt war. Die Glatze war rund, rein und glänzte so, als wäre sie aus Elfenbein geschnitzt. Das Gesicht des Gastes zeichnete sich durch einen besorgten, aufmerksamen Ausdruck allem gegenüber, was er anblickte, durch einen reservierten Blick, durch ein gemäßigtes Lächeln und einen bescheidenen, offiziellen Ausdruck aus. Er trug einen bequemen Frack, der sich beinahe bei einer bloßen Bewegung schon weit und behaglich öffnete wie ein Tor. Seine Wäsche war, wie um mit der Glatze zu harmonieren, von blendendem Weiß. Er trug auf dem Zeigefinger der rechten Hand einen großen, massiven Ring mit irgendeinem dunklen Stein. »Doktor! Durch welche Schicksalsfügung kommen Sie?« rief Oblomow aus, dem Gast die eine Hand hinstreckend und ihm mit der zweiten einen Sessel hinschiebend. »Es dauert mir zu lange, daß Sie immer gesund sind und mich nicht holen lassen, darum komme ich selbst«, antwortete der Doktor scherzhaft. »Nein«, fügte er dann ernst hinzu, »ich war oben bei Ihrem Nachbarn und bin bei der Gelegenheit nachschauen gekommen, wie es Ihnen geht.« »Danke. Und was ist mit dem Nachbar?« »Was mit ihm ist? Die Sache wird sich drei, vier Wochen, vielleicht auch bis zum Herbst hinziehen, und dann ... dann steigt das Wasser in die Brust. Das bekannte Ende. Nun, und wie geht es Ihnen?« Oblomow schüttelte traurig den Kopf. »Schlecht, Doktor. Ich habe selbst daran gedacht, Sie um Rat zu fragen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Magen arbeitet fast gar nicht, ich fühle einen Druck unter der Herzgrube, mich quält Sodbrennen, ich atme schwer ...« zählte Oblomow mit kläglicher Stimme auf. »Geben Sie mir die Hand«, sagte der Doktor, griff nach dem Puls und schloß für einen Augenblick die Augen. »Husten Sie?« fragte er. »In der Nacht besonders, wenn ich soupiert habe.« »Hm! Leiden Sie an Herzklopfen? An Kopfschmerzen?« Der Doktor stellte noch ein paar ähnliche Fragen, neigte dann seine Glatze und versank in ein tiefes Nachdenken. Nach zwei Minuten hob er plötzlich den Kopf und sagte mit entschlossener Stimme: »Wenn Sie noch zwei, drei Jahre in diesem Klima leben, immer liegen, Fettes und Schwerverdauliches essen – werden Sie an Schlagfluß sterben.« Oblomow fuhr zusammen. »Was soll ich denn tun? Helfen Sie mir, um Gottes willen!« sagte er. »Dasselbe, was die andern tun: ins Ausland reisen.« »Ins Ausland!« wiederholte Oblomow erstaunt. »Ja. Warum denn nicht?« »Aber, ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie kann man denn das?« »Warum soll man denn nicht hinreisen?« Oblomow richtete die Augen schweigend auf sich selbst, dann auf sein Arbeitszimmer und wiederholte mechanisch: »Ins Ausland!« »Was hindert Sie denn daran?« »Was mich hindert? Alles ...« »Wieso alles? Haben Sie denn kein Geld?« »Ja, ja. Ich habe wirklich kein Geld«, sagte Oblomow lebhaft, durch dieses so natürliche Hindernis erfreut, hinter das er sich ganz, mit Haut und Haar, verstecken konnte. »Schauen Sie einmal, was der Dorfschulze mir schreibt ... Wo ist der Brief? Wo habe ich ihn hingelegt? Sachar!« »Gut, gut«, sagte der Doktor, »das geht mich nichts an; meine Pflicht ist, Ihnen zu sagen, daß Sie die Lebensweise, den Ort, die Luft, die Beschäftigung, alles, alles verändern müssen.« »Gut, ich werde es mir überlegen«, sagte Oblomow. »Wohin soll ich denn fahren, und was soll ich tun?« »Fahren Sie nach Kissingen«, begann der Doktor, »verleben Sie dort den Juni und Juli. Trinken Sie den dortigen Brunnen. Dann begeben Sie sich in die Schweiz oder nach Tirol und machen eine Traubenkur durch. Dort verbringen Sie den September und Oktober ...« »Zum Teufel auch, nach Tirol!« flüsterte Ilja Iljitsch kaum hörbar. »Dann irgendwohin, in eine trockene Gegend, vielleicht nach Ägypten ...« »Das auch noch!« flüsterte Oblomow. »Beseitigen Sie die Sorgen und Unannehmlichkeiten ...« »Sie haben gut reden«, bemerkte Oblomow, »Sie bekommen keine solchen Briefe vom Dorfschulzen ...« »Sie müssen auch die Gedanken verscheuchen«, fuhr der Doktor fort. »Die Gedanken?« »Ja, geistige Anstrengung.« »Und der Plan der Gutseinrichtung? Ich bitte Sie, bin ich denn ein Holzklotz ...« »Wie Sie wollen. Es ist meine Pflicht, Sie zu warnen. Sie müssen auch den Leidenschaften aus dem Wege gehen, sie sind der Kur hinderlich. Sie müssen sich bestreben, sich durch Reiten, Tanzen, durch mäßige Bewegung in der frischen Luft und durch angenehme Gespräche, besonders mit Damen, zu zerstreuen, damit das Herz nur von angenehmen Empfindungen und nicht zu stark zum Klopfen gebracht wird.« Oblomow lauschte ihm mit gesenktem Kopfe. »Dann?« fragte er. »Dann vermeiden Sie es vor allem, zu lesen und zu schreiben! Mieten Sie eine Villa, deren Fenster nach dem Süden gerichtet sind, schaffen Sie sich viel Blumen an und bestreben Sie sich, Musik und Frauen in der Nähe zu haben ...« »Und wie soll die Nahrung sein?« »Meiden Sie das Fleisch und überhaupt jede tierische Nahrung, auch die mehligen und salzigen Speisen. Sie können eine leichte Bouillon und Gemüse essen; nehmen Sie sich aber in acht, jetzt droht fast überall die Cholera, so daß man vorsichtig sein muß ... Sie können acht Stunden täglich gehen. Kaufen Sie sich ein Gewehr ...« »O Gott!« stöhnte Oblomow. »Endlich«, schloß der Doktor, »reisen Sie für den Winter nach Paris und zerstreuen Sie sich dort ohne Bedenken im Wirbel des Lebens. Fahren Sie vom Theater zum Ball, in die Maskerade, aufs Land, auf Besuch, damit um Sie herum Freude, Lärm, Lachen sind ...« »Brauche ich vielleicht noch etwas?« fragte Oblomow mit schlecht zurückgehaltenem Ärger. Der Doktor sann nach. »Vielleicht sollten Sie noch Meerluft einatmen. Schiffen Sie sich in England ein und fahren Sie bis nach Amerika ...« Er erhob sich und verabschiedete sich. »Gut, gut, ich befolge es sicher«, antwortete Oblomow sarkastisch, ihn hinausbegleitend. Der Doktor ließ Oblomow in einem jammervollen Zustande zurück. Er schloß die Augen, legte beide Hände auf den Kopf, kauerte sich auf dem Sessel zu einem Knäuel zusammen und blieb so sitzen, ohne irgendwo hinzublicken und ohne etwas zu fühlen. Hinter ihm ertönte der schüchterne Ruf: »Ilja Iljitsch! Was soll ich denn dem Verwalter sagen?« »Was denn?« »Wegen des Ausziehens!« »Du fängst wieder davon an?« fragte Oblomow erstaunt. »Was soll ich denn tun, Väterchen Ilja Iljitsch? Sagen Sie selbst, mein Leben ist auch so nicht süß, ich schaue schon ins Grab ...« »Nein, es scheint, daß du mit deinem Umzug mich ins Grab jagen willst«, sagte Oblomow. »Hör einmal, was der Doktor sagt!« Sachar fand nichts zu erwidern, er seufzte nur so auf, daß die Zipfel seines Halstuches auf seiner Brust erbebten. »Du hast beschlossen, mich umzubringen?« fragte Oblomow wieder, »du bist meiner überdrüssig, ja? Nun, so sprich doch!« »Aber Gott sei mit Ihnen! Leben Sie, solange Sie wollen! Wer wünscht Ihnen Böses?« brummte Sachar, durch die tragische Wendung, die das Gespräch annahm, ganz verlegen gemacht. »Du!« sagte Ilja Iljitsch, »ich habe dir verboten, auch nur ein Wort vom Umzug zu sagen, und du läßt keinen Tag vorübergehen, ohne mich fünfmal daran zu erinnern. Das verstimmt mich doch, begreife das doch. Meine Gesundheit taugt auch so nicht viel.« »Ich hab' mir gedacht, Herr ... ich hab' gedacht, warum wir denn eigentlich nicht ausziehen sollen?« sagte Sachar mit vor innerer Erregung bebender Stimme. »Warum wir nicht ausziehen sollen! Du beurteilst das so leichtfertig!« antwortete Oblomow, sich zusammen mit dem Sessel zu Sachar umwendend. »Hast du's dir ordentlich überlegt, was es heißt, auszuziehen, he? Du hast dir das gewiß nicht überlegt!« »Nein, ich hab' mir's nicht überlegt!« antwortete Sachar demütig, bereit, dem Herrn in allem beizustimmen, um die Sache nur nicht zu pathetischen Szenen kommen zu lassen, die er wie die Pest fürchtete. »Wenn du's dir nicht überlegt hast, dann höre zu und sage, ob wir umziehen können oder nicht. Was heißt das, umziehen? Das heißt, der Herr soll für den ganzen Tag fortgehen und vom Morgen ab angekleidet herumgehen ...« »Nun, und wenn es so ist?« bemerkte Sachar, »warum sollten Sie nicht für den ganzen Tag fortgehen? Es ist ja doch nur ungesund, zu Hause zu sitzen. Wie schlecht Sie jetzt aussehen! Früher waren Sie so frisch wie eine Gurke, und jetzt, seit Sie zu Hause sitzen, sehen Sie Gott weiß wie aus. Sie sollten durch die Straßen gehen, sich die Leute oder sonst was anschauen ...« »Sprich keinen Unsinn und höre zu«, sagte Oblomow. »Durch die Straßen gehen!« »Ja, wirklich«, fuhr Sachar mit großem Eifer fort. »Man erzählt, daß jetzt ein unerhörtes Ungeheuer gezeigt wird. Sie sollten es sich ansehen. Sie können ja ins Theater oder zum Maskenball gehen, und wir würden hier unterdessen umziehen.« »Was du für Dummheiten sagst! Du sorgst dich sehr um die Ruhe deines Herrn! Ich soll mich, deiner Meinung nach, den ganzen Tag irgendwo herumtreiben, es macht dir nichts, daß ich Gott weiß wo und wie essen werde und nach dem Mittagessen mich nicht ausruhen kann! ... Sie sollen da ohne mich alles einpacken! Wenn man nicht aufpaßt, kommen nur Scherben an. Ich weiß«, sagte Oblomow mit wachsender Überzeugung, »was ein Umzug bedeutet! Das bedeutet Wirrwarr und Lärm; man wirft alle Sachen auf einen Haufen auf den Fußboden. Da ist der Koffer, die Sofalehne, da sind Bilder, Pfeifen, allerlei Flaschen dabei, die man fast niemals sieht, die aber dann, der Teufel weiß woher, auftauchen! Man muß auf alles aufpassen, damit es nicht verloren und zerschlagen wird ... Die eine Hälfte ist hier, die zweite auf der Fuhre oder in der neuen Wohnung; man will rauchen, greift nach der Pfeife, der Tabak ist aber schon fort ... Man will sich niedersetzen, weiß aber nicht wohin; wenn man etwas anrührt, macht man sich schmutzig; alles ist staubig; man kann sich nicht waschen und muß mit solchen Händen herumgehen, wie du sie hast ...« »Ich habe reine Hände«, bemerkte Sachar, und zeigte statt der Hände etwas, das wie zwei Schuhsohlen aussah. »Zeig sie mir lieber nicht!« sagte Ilja Iljitsch, sich abwendend. »Und wenn man trinken will«, sprach er weiter, »und nach der Karaffe greift, ist kein Glas da ...« »Man kann auch aus der Karaffe trinken!« bemerkte Sachar gutmütig. »Ihr haltet's mit allem so: man kann auch nicht fegen und nicht abstauben und keine Teppiche klopfen. Und in der neuen Wohnung«, fuhr Ilja Iljitsch fort, von dem seiner Vorstellung lebhaft erscheinenden Bild des Umzuges selbst hingerissen, »wird man in drei Tagen nicht fertig, alles liegt nicht auf seinem Platze, die Bilder stehen an der Wand und liegen auf dem Fußboden, die Galoschen befinden sich auf dem Bett, die Stiefel sind mit dem Tee und der Pomade in einem Bündel. Bald bemerkt man, daß der Fuß des Sessels abgebrochen ist, bald, daß das Glas auf dem Bilde zerbrochen ist oder daß das Sofa voller Flecken ist. Es ist nichts da; wenn man nach etwas frägt, weiß niemand, wo es ist, man hat es entweder verloren oder in der alten Wohnung zurückgelassen; dann muß man hinlaufen ...« »Manchmal läuft man zehnmal hin und her«, unterbrach Sachar. »Ja, siehst du!« sprach Oblomow weiter. »Und wenn man in der neuen Wohnung des Morgens aufsteht, was ist das dann für eine Qual! Es gibt weder Wasser noch Kohlen, und im Winter muß man in der Kälte sitzen, die Zimmer sind ausgefroren, man hat aber kein Holz; dann muß man herumlaufen und sich welches borgen ...« »Und was für Nachbarn Gott einem noch schickt«, bemerkte Sachar wieder, »bei manchen kann man sich nicht nur kein Bündel Holz, sondern auch nicht einmal einen Krug Wasser ausbitten.« »Na also!« sagte Ilja Iljitsch, »man könnte glauben, daß die Schererei ein Ende hat, wenn man bis zum Abend umgezogen ist, man hat aber noch zwei Wochen lang zu tun. Man meint, alles ist geordnet ... Wenn man aber hinsieht, ist richtig etwas noch zurückgeblieben. Die Stores müssen aufgehängt, die Bilder angenagelt werden, man ist ganz erschöpft und möchte gar nicht weiterleben ... Und die Ausgaben, die Ausgaben ...« »Voriges Mal, vor acht Jahren, hat's zweihundert Rubel ausgemacht, ich erinnere mich noch ganz genau«, bestätigte Sachar. »Nun, ist das vielleicht ein Spaß!« sagte Ilja Iljitsch. »Und wie unbehaglich man sich anfangs in der neuen Wohnung fühlt! Man gewöhnt sich ja nicht so bald daran. Ich werde an dem neuen Ort fünf Nächte nicht schlafen können; ich werde traurig sein, wenn ich des Morgens aufstehe und statt des Aushängeschildes des Drechslers mir gegenüber etwas anderes sehe oder wenn jene geschorene Alte nicht vormittags aus dem Fenster herausschaut ... Siehst du jetzt selbst ein, wozu du deinen Herrn bringen wolltest?« fragte Ilja Iljitsch vorwurfsvoll. »Ich sehe es ein«, flüsterte Sachar demütig. »Warum hast du mir also vorgeschlagen, umzuziehen? Können denn menschliche Kräfte das alles ertragen?« »Ich habe geglaubt, daß es andere gibt, die nicht schlechter sind als wir und die umziehen, daß also auch wir es tun könnten ...« sagte Sachar. »Was? Was?« fragte Ilja Iljitsch, sich erstaunt auf seinem Sessel aufrichtend. »Was hast du gesagt?« Sachar wurde plötzlich verlegen, da er nicht wußte, wodurch er seinem Herrn Anlaß zu dem pathetischen Ausrufe und zu der Bewegung gegeben hatte. Er schwieg. »Andere sind nicht schlechter!« wiederholte Ilja Iljitsch entsetzt, »so weit bist du also gekommen! Nun weiß ich also, daß ich für dich ebensogut wie ein ›anderer‹ bin.« Oblomow verneigte sich ironisch vor Sachar und machte ein höchst beleidigtes Gesicht. »Aber ich bitte, Ilja Iljitsch, stelle ich Sie denn mit irgendwem gleich? ...« »Geh mir aus den Augen!« sagte Oblomow befehlend und wies mit der Hand auf die Tür hin, »ich kann dich nicht sehen. Ah! Die ›anderen‹! Gut!« Sachar zog sich mit einem tiefen Seufzer zurück. »Ist das ein Leben!« brummte er, sich auf die Ofenbank setzend. »Mein Gott!« stöhnte auch Oblomow, »ich hatte vor, den Morgen nützlicher Arbeit zu widmen, man hat mich aber für den ganzen Tag verstimmt. Und wer denn? Der eigene, ergebene, erprobte Diener! Was er da gesagt hat! Wie konnte er das nur?« Es gelang Oblomow lange nicht, sich zu beruhigen; er legte sich hin, stand auf, ging im Zimmer herum und legte sich dann wieder hin. In dem Umstande, daß Sachar ihn bis auf die Stufe der »andern« herabsteigen ließ, sah er einen Eingriff in seine Rechte auf Sachars ausschließliche Bevorzugung der Person des Herrn allen Menschen gegenüber. Er drang in die Tiefe dieses Vergleiches ein und untersuchte, was die »andern« seien und was er sei, in welchem Grade eine solche Parallele möglich und gerecht erscheine und wie groß die ihm durch Sachar zugefügte Beleidigung sei; endlich ob Sachar ihn bewußt gekränkt habe, ob es seine Überzeugung sei, daß man Ilja Iljitsch einem »andern« gleichstellen könne, oder ob das seiner Zunge nur so, ohne Anteilnahme seines Kopfes entschlüpft sei. Das alles hatte Oblomows Eitelkeit verletzt, und er beschloß, Sachar den Unterschied zwischen sich selbst und jenen, die er unter der Benennung »andere« meinte, zu zeigen und ihn auf die ganze Niedertracht seiner Handlung hinzuweisen. »Sachar!« rief er gedehnt und feierlich. Als Sachar diesen Ruf hörte, sprang er nicht wie sonst mit den Füßen klopfend von der Ofenbank herab und brummte nicht; er kroch langsam vom Ofen herunter und ging, alles mit den Händen und den Seiten streifend, langsam und ungern hin, wie ein Hund, welcher der Stimme des Herrn anhört, daß sein Streich entdeckt worden ist und daß man ihn ruft, um ihn zu bestrafen. Sachar öffnete halb die Tür, wagte es aber nicht, einzutreten. »Komm herein!« sagte Ilja Iljitsch. Obschon die Tür sich leicht öffnen ließ, machte Sachar sie so auf, als könne er nicht durchkriechen, blieb deshalb in der Tür stecken und kam nicht herein. Oblomow saß auf dem Sofarand. »Komm her!« Er gab nicht nach. Sachar befreite sich mit Mühe aus der Tür, schloß sie aber gleich hinter sich und lehnte seinen Rücken fest an sie an. »Hierher!« sagte Ilja Iljitsch, mit dem Finger auf den Platz neben sich hinweisend. Sachar machte einen halben Schritt nach vorwärts und blieb zwei Klafter von der bezeichneten Stelle entfernt stehen. »Noch näher!« sagte Oblomow. Sachar gab sich den Anschein, als schreite er weiter, er bewegte sich aber nur, stampfte mit dem Fuße und blieb auf derselben Stelle. Da Ilja Iljitsch sah, es würde ihm diesmal nicht gelingen, Sachar näher zu locken, ließ er ihn dort stehen und blickte ihn eine Zeitlang schweigend und vorwurfsvoll an. Sachar, der sich bei dieser lautlosen Betrachtung seiner Person unbehaglich fühlte, gab sich den Anschein, daß er den Herrn nicht beachte, wandte ihm mehr als jemals seine Seite zu und warf Ilja Iljitsch in diesem Augenblicke nicht einmal seinen einseitigen Blick zu. Er schaute beharrlich nach links, nach der entgegengesetzten Seite hin. Dort erblickte er einen ihm längst bekannten Gegenstand – die Spinnwebenfransen um die Bilder herum, und sah in der Spinne einen lebendigen Vorwurf seiner Nachlässigkeit. »Sachar!« sagte Ilja Iljitsch leise und würdevoll. Sachar antwortete nicht; er schien zu denken: Nun, was willst du? Einen andern Sachar? Ich stehe ja hier! und richtete seinen Blick an seinem Herrn vorbei von links nach rechts; er wurde auch dort durch den Spiegel, der mit dichtem Staub wie mit einem Schleier bedeckt war, an sich selbst erinnert; durch diesen Staub hindurch blickte ihn wild und düster, wie durch einen Nebel hindurch, sein eigenes unfreundliches, häßliches Gesicht an. Er wandte seinen Blick unzufrieden von diesem traurigen, ihm nur zu gut bekannten Gegenstand ab und entschloß sich, ihn für einen Augenblick auf Ilja Iljitsch haften zu lassen. Ihre Blicke begegneten sich. Sachar ertrug den Vorwurf nicht, der sich in den Augen des Herrn ausdrückte, und senkte die seinigen zu seinen Füßen herab. Hier sah er wieder im Teppich, der von Staub und Flecken durchsetzt war, ein trauriges Zeugnis für den Eifer, den er im herrschaftlichen Dienst äußerte. »Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch ausdrucksvoll. »Was wünschen Sie?« flüsterte Sachar kaum hörbar und fuhr in der Vorahnung einer pathetischen Rede ein wenig zusammen. »Gib mir Kwaß!« Sachar fiel ein Stein vom Herzen; in seiner Freude stürzte er rasch wie ein Knabe zur Kredenz hin und brachte Kwaß. »Nun, wie fühlst du dich?« fragte Ilja Iljitsch sanft, nachdem er aus dem Glas getrunken hatte und es in der Hand hielt, »gewiß nicht gut?« Der wilde Ausdruck in Sachars Gesicht milderte sich augenblicklich durch den in seinen Zügen aufflammenden Strahl von Reue. Sachar fühlte die ersten Anzeichen des in seiner Brust erwachten und sein Herz erfüllenden Gefühls der Ehrfurcht dem Herrn gegenüber und begann ihm plötzlich gerade in die Augen zu blicken. »Fühlst du dein Vergehen?« fragte Ilja Iljitsch wieder. Was ist das für ein »Vergehen«? dachte Sachar betrübt. Irgend etwas Trauriges; man muß ja gegen seinen Willen weinen, wenn er so zu reden anfängt. »Ilja Iljitsch«, begann Sachar mit dem tiefsten Ton, über den seine Stimme zu gebieten hatte, »ich habe nur gesagt, daß ...« »Nein, warte!« unterbrach ihn Oblomow, »verstehst du, was du getan hast? Da, stelle das Glas auf den Tisch und antworte!« Sachar antwortete nicht und begriff gar nicht, was er verbrochen hatte, doch das hinderte ihn nicht daran, den Herrn ehrfurchtsvoll anzublicken; er senkte sogar ein wenig den Kopf, im Bewußtsein seiner Schuld. »Wie, willst du denn kein giftiger Mensch sein?« sagte Oblomow. Sachar schwieg immer und blinzelte nur ein paarmal heftig. »Du hast deinen Herrn gekränkt!« sprach Ilja Iljitsch langsam und sah Sachar starr an, dessen Verlegenheit genießend. Sachar wußte nicht, wo er vor Bangigkeit hin sollte. »Du hast mich doch gekränkt?« fragte Ilja Iljitsch. »Ich habe Sie gekränkt!« flüsterte Sachar, durch dieses neue traurige Wort ganz verwirrt. Er richtete seine Blicke nach rechts, nach links und geradeaus, indem er irgendwo nach Rettung suchte, und an ihm huschte wieder das Spinngewebe, der Staub, sein eigenes Spiegelbild und das Gesicht des Herrn vorüber. Wenn ich in die Erde sinken könnte! Ach, warum nur der Tod nicht kommt! dachte er, als er sah, daß er, was er auch beginnen mochte, der pathetischen Szene nicht ausweichen könne. Und er fühlte, daß er immer häufiger und häufiger blinzelte und daß ihm gleich Tränen entströmen würden. Endlich antwortete er dem Herrn mit den Worten eines bekannten Liedes, das er in Prosa gesetzt hatte: »Wodurch hab' ich Sie denn gekränkt, Ilja Iljitsch?« fragte er fast weinend. »Wodurch?« wiederholte Oblomow. »Hast du denn darüber nachgedacht, was das heißt: die ›andern‹?« Er schwieg und blickte Sachar noch immer an. »Soll ich dir sagen, was das ist?« Sachar bewegte sich wie ein Bär in seiner Höhle und seufzte so auf, daß man es im ganzen Zimmer hörte. »Der ›andere‹, den du meinst, ist ein elender, armer, grober, ungebildeter Mensch, er lebt schmutzig und armselig auf dem Dachboden; oder er schläft auf irgendeinem Lumpen auf dem Hof. Was kann einem solchen Menschen geschehen? Gar nichts. Er frißt Kartoffeln und Hering. Die Not schleudert ihn aus einer Ecke in die andere, und er läuft den ganzen Tag herum. Er wird also auch in eine neue Wohnung ziehen. Zum Beispiel Ljagajew, er nimmt sein Lineal unter den Arm, bindet seine zwei Hemden in ein Taschentuch ein und geht ... ›Wohin gehst du?‹ ›Ich ziehe um‹, antwortet er. So macht es der ›andere‹! Und ich bin deiner Meinung nach auch ein ›anderer‹, he?« Sachar blickte den Herrn an, trat von einem Fuß auf den andern und schwieg. »Was ist der ›andere‹?« sprach Oblomow weiter. »Der ›andere‹ ist ein Mensch, der sich selbst die Stiefel putzt, sich selbst ankleidet, wenn er auch wie ein gnädiger Herr aussieht; das ist aber nicht wahr, er weiß nicht einmal, was Dienstboten sind; er hat niemand, den er hinschicken kann, er holt sich selbst, was er braucht; er schürt selbst das Holz im Ofen, staubt manchmal selbst ab ...« »Es gibt viele solche Deutsche«, sagte Sachar düster. »Na also! Und ich? Wie, glaubst du, bin ich der ›andere‹?« »Sie sind ein ganz anderer!« sagte Sachar weinerlich, da er immer noch nicht begriff, was der Herr sagen wollte. »Gott weiß, was Sie haben ...« »Ich bin ein ganz anderer, ja? Warte, sieh einmal zu, was du sagst! Denke einmal darüber nach, wie der ›andere‹ lebt! Der ›andere‹ arbeitet ohne auszuruhen, läuft herum, müht sich ab«, sprach Oblomow weiter, »wenn er nicht arbeitet, ißt er auch nicht. Der ›andere‹ macht Bücklinge, der ›andere‹ bittet und erniedrigt sich ... Und ich? Nun, sage einmal: Was glaubst du, bin ich der ›andere‹, was?« »Aber Väterchen, quälen Sie mich nicht so mit traurigen Worten!« flehte Sachar. »Ach du mein Gott!« »Ich bin der ›andere‹! Renne ich denn herum, arbeite ich denn? Esse ich denn wenig? Sehe ich denn mager und ärmlich aus? Fehlt es mir denn an etwas? Ich glaube, ich habe jemand, der mich bedient und für mich arbeitet! Ich habe mir, Gott sei Dank, seitdem ich lebe, noch kein einziges Mal selbst einen Strumpf angezogen! Warum soll ich mir denn die Mühe machen? Aus welchem Grunde? Und wem muß ich das sagen? Hast du mich denn nicht seit meiner Kindheit bedient? Du weißt das alles, du hast gesehen, daß ich verwöhnt worden bin, daß ich niemals Hunger und Kälte gelitten habe, daß ich keine Not gekannt, mir mein Brot nicht selbst verdient und mich überhaupt nicht mit schwerer Arbeit befaßt habe. Wie konntest du es also wagen, mich mit anderen zu vergleichen? Besitze ich denn eine solche Gesundheit, wie diese ›andern‹? Kann ich denn das alles tun und ertragen?« Sachar hatte endgültig jede Fähigkeit verloren, Oblomows Rede zu verstehen; aber seine Lippen bliesen sich vor innerer Erregung auf; die pathetische Szene donnerte wie ein Gewitter über seinem Haupt. Er schwieg. »Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch. »Was wünschen Sie?« zischte Sachar kaum hörbar. »Gib noch Kwaß her.« Sachar brachte Kwaß, und als Ilja Iljitsch, nachdem er getrunken hatte, ihm das Glas zurückgab, wollte er schnell in sein Zimmer gehen. »Nein, nein, warte!« sagte Oblomow, »ich frage dich: Wie konntest du deinen Herrn so bitter kränken, den du als Kind auf dem Arme getragen hast, dem du dein ganzes Leben dienst und der dein Wohltäter ist?« Sachar hielt es nicht länger aus. Das Wort Wohltäter gab ihm den Rest! Er begann immer häufiger zu blinzeln. Je weniger er begriff, was Ilja Iljitsch ihm in seiner pathetischen Rede mitteilte, desto trauriger wurde er. »Verzeihen Sie, Ilja Iljitsch«, begann er reuevoll zu krächzen, »das habe ich aus Dummheit, wirklich nur aus Dummheit ...« Und da Sachar nicht begriff, was er getan hatte, wußte er nicht, welches Zeitwort er hinzufügen sollte. »Und ich«, fuhr Oblomow im Ton eines gekränkten und nicht nach seinem Verdienst gewürdigten Men schen fort, »sorge mich noch Tag und Nacht und mühe mich ab, manchmal flammt mir der Kopf und das Herz stockt; ich schlafe in der Nacht nicht, wälze mich herum und denke immer darüber nach, wie ich es am besten einrichten soll ... und über wen grüble ich? Für wen? Nur für euch, für die Bauern; folglich auch für dich. Du glaubst vielleicht, wenn du siehst, daß ich manchmal ganz unter die Decke krieche, daß ich wie ein Klotz daliege und schlafe; nein, ich schlafe nicht, ich denke immer an das eine, wie es einzurichten ist, daß die Bauern an nichts Not leiden, daß sie ihre Nachbarn nicht beneiden, daß sie beim Strafgericht mich vor Gott nicht anklagen, sondern daß sie für mich beten und mir nur Gutes nachsagen. Die Undankbaren!« schloß Oblomow mit bitterem Vorwurf. Die letzten traurigen Worte rührten Sachar endgültig. Er begann allmählich zu schluchzen. »Väterchen, Ilja Iljitsch!« flehte er. »Hören Sie auf! Was sagen Sie da, Gott sei mit Ihnen! Ach du heilige Gottesmutter! Was für ein Unglück hat uns denn so unerwartet betroffen ...« »Und du«, fuhr Oblomow, ohne auf ihn zu hören, fort, »du solltest dich schämen, so etwas auszusprechen! Was für eine Schlange ich an meiner Brust gewärmt habe!« »Eine Schlange!« rief Sachar aus, schlug die Hände zusammen und zuckte so geräuschvoll mit der Schulter, als wären zwanzig Käfer ins Zimmer hereingeflogen und summten drin. »Wann habe ich denn von einer Schlange gesprochen?« fragte er schluchzend, »ich sehe nicht einmal im Traum so etwas Häßliches!« Sie hatten beide aufgehört, einander und zum Schluß auch sich selbst zu verstehen. »Wie hat deine Zunge nur so etwas aussprechen können?« sprach Ilja Iljitsch weiter, »und ich habe noch für ihn auf meinem Plan ein besonderes Haus, einen Gemüsegarten und Pachtkorn bestimmt und ein Gehalt festgesetzt! Du solltest mein Verwalter, mein Majordomus und meine Vertrauensperson sein! Die Bauern sollten sich bis zur Erde vor dir verneigen; alle sollten dich immer nur Sachar Trofimitsch nennen! Und er ist immer noch unzufrieden und hat mich unter die ›andern‹ eingereiht! Das ist der Lohn! Wie du deinen Herrn ehrst!« Sachar schluchzte noch immer, und auch Ilja Iljitsch selbst war aufgeregt. Indem er Sachar ins Gewissen redete, erfüllte er sich tief mit dem Bewußtsein der Wohltaten, die er den Bauern erwiesen hatte, und sprach die letzten Vorwürfe mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen zu Ende. »Nun, und jetzt geh mit Gott!« sagte er mit versöhnender Stimme zu Sachar. »Wart, gib mir noch Kwaß! Meine Kehle ist mir ganz ausgetrocknet, du könntest selbst darauf kommen, du hörst doch, daß dein Herr heiser ist? So weit hast du mich gebracht! Ich hoffe, du hast dein Vergehen begriffen«, sagte Ilja Iljitsch, als Sachar den Kwaß gebracht hatte, »und wirst in Zukunft deinen Herrn nicht mit andern vergleichen. Um deine Schuld gutzumachen, richte es irgendwie mit dem Hausherrn ein, damit ich nicht umzuziehen brauche. So sorgst du für die Ruhe deines Herrn. Du hast mich ganz verstimmt und mich eines jeden neuen, nützlichen Gedankens beraubt. Und wem hast du das geraubt? Dir selbst; ich habe mich ganz euch gewidmet, ich habe mich euretwegen pensionieren lassen und sitze hier eingeschlossen. Nun, Gott verzeih es dir! Jetzt schlägt es drei! Es bleiben nur zwei Stunden bis zum Essen; was kann man in zwei Stunden fertigbringen – gar nichts. Und ich habe eine Menge zu tun. Ich werde also den Brief bis zur nächsten Post verschieben und den Plan morgen entwerfen. Nun, und jetzt lege ich mich ein wenig nieder. Ich bin ganz ermattet; laß die Stores herab und schließe fest die Türen, damit man mich nicht stört; ich werde vielleicht eine Stunde lang schlafen; und wecke mich um halb fünf ...« Sachar begann seinen Herrn im Arbeitszimmer von der ganzen Welt abzuschließen; zuerst deckte er ihn selbst zu und steckte die Decke unter ihn, dann ließ er die Stores herab, schloß alle Türen fest ab und ging in sein Zimmer. »Daß dich der Teufel hol'!« brummte er, sich die Tränenspuren abwischend und auf die Ofenbank steigend. »Ein besonderes Haus, ein Gemüsegarten, ein Gehalt!« sagte Sachar, der nur die letzten Worte verstanden hatte. »Er versteht es, traurige Worte zu sagen. Er schneidet damit wie mit einem Messer ins Herz! Hier ist mein Haus und mein Gemüsegarten, hier werde ich auch sterben!« sagte er, wütend auf die Ofenbank schlagend. »Ein Gehalt! Wenn ich die Zehner und Kupfermünzen nicht sammeln würde, könnte ich mir keinen Tabak kaufen und meine Gevatterin nicht bewirten! Zum Kuckuck auch! ... Warum nur der Tod nicht kommt!« Ilja Iljitsch legte sich auf den Rücken, schlief aber nicht gleich ein. Er dachte und dachte und wurde ganz aufgeregt. »Ein zweifaches Unglück auf einmal!« sagte er und wickelte sich ganz mit dem Kopf in die Decke ein, »wie soll man dem widerstehen!« Aber in Wirklichkeit hatte das zweifache Unglück, das heißt der unheilverkündende Brief des Dorfschulzen und die Übersiedlung in die neue Wohnung, Oblomow zu erregen aufgehört und war nur mehr unter die unangenehmen Erinnerungen gereiht worden. Die Unannehmlichkeiten, mit denen der Dorfschulze droht, sind noch in weiter Ferne, dachte er, bis dahin kann sich vieles ändern. Ein Regen könnte das Getreide in besseren Stand setzen; vielleicht ergänzt der Dorfschulze die Zahlungsrückstände, die flüchtigen Bauern werden »wieder in ihren früheren Wohnort eingesetzt werden«, wie er schreibt. Wohin sind diese Bauern geflüchtet? dachte er und vertiefte sich schon vom künstlerischen Standpunkt aus in die Betrachtung dieses Umstandes. Sie sind wohl in der Nacht, ohne Brot, in der Nässe fortgelaufen. Wo haben sie denn geschlafen? Doch nicht im Wald? Da kann man doch gar nicht sitzen! Im Bauernhaus stinkt es zwar, aber es ist wenigstens warm ... Warum rege ich mich denn auf? dachte er. Der Plan ist ja bald fertig – warum mache ich mir denn jetzt schon Angst? Ach, wie ich doch bin ... Der Gedanke an den Umzug beunruhigte ihn etwas mehr. Das war das neuere, spätere Unglück; doch in Oblomows ruhigem Geiste war auch dieses Faktum in das Stadium der Geschichte übergegangen. Obwohl er die Unvermeidlichkeit dieses Umzuges dunkel ahnte, um so mehr, als jetzt Tarantjew sich mit dieser Angelegenheit befaßte, schob er im Geiste dieses aufregende Ereignis seines Lebens doch wenigstens um eine Woche hinaus und hatte auf diese Weise volle acht Tage der Ruhe gewonnen! Und vielleicht würde Sachar alles noch so einzurichten versuchen, daß der Umzug überhaupt unnötig wurde; möglicherweise würde es auch so gehen. Der Umbau könnte auf den nächsten Sommer verschoben oder auch ganz aufgegeben werden. Die Sache würde sich schon irgendwie einrichten lassen! ... Man konnte doch nicht tatsächlich umziehen! ... So regte er sich abwechselnd auf und beschwichtigte sich selbst und fand endlich in diesen versöhnenden und beruhigenden Worten: vielleicht, möglicherweise, irgendwie auch diesmal, was er stets gefunden hatte, ein ganzes Arsenal von Hoffnungen und Tröstungen, wie sie in der Bundeslade unserer Väter eingeschlossen waren; es gelang ihm auch im gegenwärtigen Augenblick, sich damit vor dem zweifachen Unglück zu schützen. Schon umfing eine angenehme, leichte Starrheit seine Glieder und begann seine Gefühle ganz leicht mit Schlaf zu umnebeln, wie die ersten, schüchternen Fröste die Oberfläche der Gewässer trüben; noch ein Augenblick, und sein Bewußtsein wäre Gott weiß wohin fortgeflogen, aber plötzlich erwachte Ilja Iljitsch und öffnete die Augen. »Ich habe mich ja noch nicht gewaschen! Das geht doch nicht! Ich habe ja auch noch nichts getan«, flüsterte er. »Ich wollte den Plan zu Papier bringen, habe es aber nicht getan, habe weder dem Kreisrichter noch dem Gouverneur geschrieben, habe einen Brief an den Hausherrn angefangen und ihn nicht beendigt, habe die Rechnungen nicht durchgesehen und kein Geld herausgegeben – der ganze Morgen ist verlorengegangen!« Er sann nach ... »Was ist denn das? Und der ›andere‹ würde das alles getan haben!« tauchte es in seinem Kopfe auf. »Der andere ... Was ist denn das, der ›andere‹?« Er vertiefte sich in das Vergleichen seiner selbst mit dem »anderen«. Er dachte und dachte, und jetzt begann er sich über den »anderen« eine Vorstellung zu bilden, die derjenigen, die er Sachar beigebracht hatte, ganz entgegengesetzt war. Er mußte zugeben, daß der andere alle Briefe fertiggebracht hätte, ohne daß welcher und daß aufeinandergestoßen wären; der andere würde auch in die neue Wohnung übergesiedelt sein, hätte den Plan verwirklicht und wäre aufs Gut gefahren. Auch ich könnte ja alles das tun ... dachte er. Mir scheint, ich sollte auch schreiben; ich habe doch früher kompliziertere Sachen als Briefe geschrieben! Wohin ist denn mein ganzes Wissen verschwunden? Und was ist es denn für eine Kunst umzuziehen? Man braucht nur zu wollen! Der »andere« trägt auch nie einen Schlafrock, ergänzte er noch die Charakteristik des anderen; »der ›andere‹« ... hier gähnte er ... »schläft fast gar nicht ... Der ›andere‹ genießt das Leben, kommt überallhin, sieht alles, ihn interessiert alles ... Und ich! ich ... bin nicht der ›andere‹!« – sagte er traurig und versank in tiefe Nachdenklichkeit. Er zog sogar den Kopf aus der Decke heraus. Es kam einer der klaren, bewußten Momente in Oblomows Leben. Entsetzen erfaßte ihn, als in seiner Seele plötzlich eine lebendige, klare Vorstellung von dem Schicksal und der Bestimmung der Menschen erstand, als er zwischen dieser Bestimmung und seinem eigenen Leben eine flüchtige Parallele zog und als in seinem Kopfe verschiedene Lebensfragen eine nach der andern erwachten und furchtsam im Durcheinander aufwirbelten wie Vögel, die ein plötzlicher Sonnenstrahl in der schlummernden Ruine erweckt hat. Sein Mangel an geistiger Regsamkeit, das geringe Wachstum seiner sittlichen Kräfte und die Schwere, die ihm in allem hinderlich war, kränkten ihn und stimmten ihn traurig; an ihm fraß der Neid, daß andere so voll und ganz leben, während auf den schmalen, armseligen Pfad seiner Existenz ein schwerer Stein geworfen zu sein schien. In seiner schüchternen Seele erstand das qualvolle Bewußtsein, daß viele Saiten seiner Natur gar nicht geweckt worden waren, daß einige nur sehr leise berührt worden und keine einzige ganz ausgeklungen war. Und dabei fühlte er schmerzlich, daß in ihm wie in einem Grab etwas Schönes, Lichtes eingeschlossen war, das jetzt vielleicht schon tot war oder wie Gold in dem Schoß des Berges eingeschlossen lag und daß es schon längst Zeit war, dieses Gold in Scheidemünzen zu verwandeln. Aber die ser Schatz war schwer und tief mit Unrat und angeschwemmtem Schutt belastet. Jemand schien die ihm vom Leben und von der Welt zugedachten Schätze gestohlen und in seiner eigenen Seele vergraben zu haben. Etwas hinderte ihn daran, sich ins Leben zu stürzen und mit vollen Segeln des Verstandes und des Willens hinzufliegen. Ein heimlicher Feind hatte ihn beim Beginn seines Weges mit seiner schweren Hand belastet und ihn vom geraden Pfad der menschlichen Bestimmung weit fortgeschleudert ... Und ihm schien, er könnte aus dem Dickicht und der Wildnis niemals herausfinden. Der Wald um ihn herum und in seiner Seele wird immer dichter und dunkler; der Pfad verwildert immer mehr und mehr; das klare Bewußtsein erwacht immer seltener und weckt die schlummernden Kräfte nur für Augenblicke auf. Der Verstand und der Wille sind längst paralysiert und, wie es scheint, für immer. Die Ereignisse seines Lebens haben einen mikroskopischen Umfang angenommen, er wird aber auch damit nicht fertig; er geht nicht von einem Ereignis zum andern über, sondern wird von ihnen wie von einer Welle auf die andere geschleudert; er hat nicht die Macht, dem einen seine Willenskraft entgegenzustemmen oder sich von einem zweiten vernünftig hinreißen zu lassen. Diese heimliche Selbstbeichte erweckte in ihm ein bitteres Gefühl. Fruchtloses Bedauern der Vergangenheit, brennende Gewissensbisse verwundeten ihn wie Nadeln, und er bot alle seine Kräfte auf, um die Last dieser Vorwürfe von sich abzuschütteln, außerhalb seiner Person einen Schuldigen zu finden und auf ihn seinen Stachel zu richten. Aber auf wen? ... »Das alles ist ... Sachars Schuld!« flüsterte er. Er erinnerte sich an die Details der Szene mit Sachar, und sein Gesicht erglühte vor Scham. Wenn das jemand gehört hätte! ... dachte er, bei diesem Gedanken erstarrend. Gott sei Dank, daß Sachar es niemand wiedergeben kann; man würde es ihm auch nicht glauben; Gott sei Dank! Er seufzte, verfluchte sich, wälzte sich von einer Seite auf die andere, suchte nach dem Schuldigen und fand ihn nicht. Sein Ächzen und Seufzen drang sogar Sachar zu Ohren. »Wie der Kwaß ihn aufbläst!« brummte Sachar zornig. »Warum bin ich denn so?« fragte Oblomow fast weinend und steckte den Kopf wieder unter die Decke. »Warum?« Nachdem er erfolglos nach einem Feind gesucht hatte, der ihn daran hinderte, wie es sich gehörte, wie die »andern« zu leben, seufzte er, schloß die Augen, und nach ein paar Minuten begann wieder der Schlummer seine Empfindungen allmählich zu fesseln. »Ich möchte ... auch ...« sagte er, mit Anstrengung blinzelnd, »irgend etwas tun ... Hat die Natur mich denn so stiefmütterlich behandelt ... Aber nein, ich kann mich, Gott sei Dank, nicht beklagen ...« Dann folgte ein versöhnender Seufzer. Er kehrte von der Erregung zu seinem normalen Zustand, zu dem der Ruhe und Apathie zurück. »Das ist mein Schicksal ... Was soll ich denn tun? ...« flüsterte er mit Mühe, vom Schlaf überwältigt. »Um zweitausend weniger ...« sagte er plötzlich laut im Schlaf. »Gleich, gleich, warte ...« und wachte halb auf. »Es wäre aber ... interessant zu erfahren ... warum ich ... so bin ...?« flüsterte er wieder. Seine Lider schlossen sich ganz. »Ja, warum? ... Wahrscheinlich ... darum ...« bestrebte er sich zu sagen, doch es gelang ihm nicht. Er kam also nicht auf die Ursache. Die Zunge und die Lippen erstarrten augenblicklich auf dem halben Satz und blieben halb geöffnet. Anstatt eines Wortes ertönte wieder ein Seufzer, und dann hörte man das gleichmäßige Schnarchen eines ruhig schlafenden Menschen. Der Schlaf hielt den langsamen, trägen Gang seiner Gedanken auf und versetzte ihn in einem einzigen Augenblick in eine andere Epoche, zu andern Menschen, an einen andern Ort, wohin der Leser und wir ihm im nächsten Kapitel folgen werden. Neuntes Kapitel Neuntes Kapitel Oblomows Traum Wo sind wir? In welchen gesegneten Erdenwinkel hat uns Oblomows Traum entführt? Was das für eine herrliche Gegend ist! Es gibt dort zwar kein Meer, keine hohen Berge, keine Felsen und Abgründe, keine Urwälder – nichts Grandioses, Wildes und Düsteres! Wozu braucht man denn auch dieses Wilde und Grandiose? Zum Beispiel das Meer! Wir brauchen es nicht! Es stimmt den Menschen nur traurig. Wenn man es anblickt, möchte man weinen. Das Herz erfüllt sich angesichts dieser unübersehbaren Gewässer mit Angst; der durch die Eintönigkeit dieses endlosen Bildes ermüdete Blick kann nirgends ausruhen. Das Brüllen und wilde Rollen liebkosen nicht das verzärtelte Ohr. Sie murmeln seit dem Urbeginn der Welt immer ein und dasselbe düstere, rätselhafte Lied; und immer sind darin dieselben Seufzer, dieselben Klagen eines zur Qual verurteilten Ungeheuers und dieselben durchdringenden, drohenden Stimmen zu hören. Die Vögel zwitschern nicht ringsumher; nur die schweigenden Möwen flattern gleich Verurteilten traurig am Ufer umher und kreisen über dem Wasser. Das Brüllen der Tiere ist machtlos bei diesem Stöhnen der Natur, auch die Stimme des Menschen ist nichtig, und der Mensch selbst ist so klein und schwach und verschwindet spurlos unter den Einzelheiten des unendlichen Bildes! Vielleicht ist das der Grund, warum der Anblick des Meeres ihn so bedrückt. Nein, wir brauchen kein Meer! Selbst dessen Stille und Reglosigkeit lassen in der Seele kein freudiges Gefühl aufkommen; in dem kaum sichtbaren Beben der Wassermasse sieht der Mensch immer dieselbe unfaßbare, wenn auch schlummernde Macht, welche seinen stolzen Willen manchmal so tückisch verhöhnt und seine kühnen Pläne und all seine Arbeit und Mühe so tief begräbt. Berge und Abgründe stimmen den Menschen auch nicht heiter. Sie sind drohend und furchtbar wie die entblößten, auf ihn gerichteten Krallen und Zähne eines wilden Tieres; sie erinnern uns zu lebhaft an unsere sterbliche Beschaffenheit und flößen uns Angst und Bangigkeit um unser Leben ein. Und der Himmel sieht dort über den Felsen und Abgründen so fern und unerreichbar aus, als hätte er sich von den Menschen losgesagt. Der friedliche Winkel, in dem unser Held sich plötzlich befand, war anderer Art. Der Himmel scheint sich dort noch näher an die Erde zu schmiegen, aber nicht um noch mächtiger seine Pfeile herabzuschleudern, sondern nur um sie fester und liebevoller zu umfassen. Er dehnt sich so niedrig über dem Kopfe aus wie das verläßliche Dach eines Elternhauses, um den auserkorenen Winkel vor allerlei Mißgeschick zu schützen. Die Sonne scheint dort hell und heiß fast ein halbes Jahr lang und verschwindet dann langsam und gleichsam ungern von dort, als wende sie sich noch zwei-, dreimal nach dem geliebten Ort hin, um ihn im Herbst, zur Zeit des Unwetters, mit einem klaren, warmen Tage zu beschenken. Die Berge scheinen dort nur die Modelle jener furchtbaren, irgendwo errichteten Ungetüme zu sein, die die Phantasie erschrecken. Es ist eine Reihe abschüssiger Hügel, von denen es angenehm ist, im Herumtollen auf dem Rücken herabzurutschen, oder auf denen es sich gut sitzen läßt, wenn man der scheidenden Sonne sinnend das Geleite gibt. Der Fluß fließt lustig, spielend und scherzend dahin; bald dehnt er sich zu einem breiten Teich aus, bald eilt er als ein schneller Streifen vorwärts, oder er verlangsamt seinen Lauf, wie in tiefes Sinnen versunken, und kriecht kaum sichtbar über die Steine hin, indem er seitwärts fröhliche Bäche entspringen läßt, bei deren Rauschen es süß zu schlummern ist. Der ganze Winkel bildet fünfzehn, zwanzig Werst in der Runde eine Reihe malerischer, fröhlicher und lachender Landschaften. Die sandigen, steilen Ufer des klaren Flusses, das vom Hügel zum Wasser herabsteigende niedere Gebüsch, der sich krümmende Graben, mit einem Quell auf dem Grunde, und der Birkenhain, das alles schien mit Absicht zusammengestellt und von einer Meisterhand gemalt zu sein. Das von Stürmen ermüdete oder das ganz unberührte Herz verlangt danach, sich in diesen von allen vergessenen Winkel zu verstecken und dort ein von niemandem gekanntes Glück zu empfinden. Alles verspricht dort ein ruhiges, langes Leben, bis die Haare ergrauen, und einen unmerklichen, schlafähnlichen Tod. Der Jahreskreis vollzieht sich dort regelmäßig und ungestört; zu der vom Kalender verkündeten Zeit beginnt im März der Frühling, eilen die schmutzigen Bäche von den Hügeln herab, taut die Erde auf und läßt einen warmen Dampf aufsteigen. Der Bauer wirft den Schafpelz ab, geht im Hemd hinaus und bewundert lange die Sonne, die Augen mit der Hand schützend und freudig die Schultern reckend; dann faßt er den umgeworfenen Wagen bald an der einen und bald an der zweiten Deichsel oder betrachtet und stößt mit dem Fuß den träge im Schuppen liegenden Pflug, indem er sich zu der gewohnten Arbeit vorbereitet. Im Frühling kommen keine plötzlichen Schneegestöber vor, die die Felder verschütten und die Bäume unter der Last des Schnees zusammenbrechen lassen. Der Winter behält wie eine unnahbare, kalte Schöne seinen Charakter bis zur gesetzlichen Zeit der Wärme bei; er neckt nicht durch Tauwetter und läßt nicht unter unerhörten Frösten ächzen; alles geschieht nach der gewohnten, von der Natur vorgeschriebenen Ordnung. Im November beginnt der Schnee und Frost, der sich zu den Drei Königen so verstärkt, daß der Bauer, der für einen Augenblick sein Haus verläßt, bestimmt mit Reif auf dem Bart zurückkehrt, und im Februar fühlt eine feine Nase in der Luft schon das linde Wehen des nahen Frühlings. Aber der Sommer ist in dieser Gegend besonders berückend. Dort muß man die frische, trockene Luft, die nicht mit Zitronen und Lorbeer getränkt, sondern einfach vom Geruch von Wermut, Fichten und Faulbaum erfüllt ist, suchen; dort findet man die klaren Tage, die manchmal heißen, doch nie sengenden Sonnenstrahlen und einen fast drei Monate lang wolkenlosen Himmel. Wenn die klaren Tage sich einstellen, dauern sie drei, vier Wochen lang; die Abende sind dort warm und die Nächte schwül. Die Sterne flimmern so freundlich, so herzlich auf dem Himmel. Wenn es regnet, ist es ein wohltuender Sommerregen. Er strömt schnell und reichlich herab und hüpft fröhlich wie die großen, heißen Tränentropfen eines plötzlich erfreuten Men schen; und sowie er aufgehört hat, betrachtet die Sonne wieder mit einem hellen, liebevollen Lächeln die Felder und Hügel und trocknet sie; und das ganze Land lächelt wieder glücklich, wie um die Sonne zu begrüßen. Der Bauer bewillkommnet freudig den Regen. »Der Regen wäscht, die Sonne trocknet!« sagt er, das Gesicht, die Schultern und den Rücken freudig den warmen Tropfen preisgebend. Die Gewitter sind dort nicht furchtbar, sondern nur wohltuend; sie treffen immer zu derselben, für sie eingesetzten Zeit ein und vergessen fast niemals den Eliastag, wie um die bekannte Volksüberlieferung aufrechtzuerhalten. Auch die Zahl und Stärke der Donnerschläge scheint jährlich dieselbe zu sein, als hätte der Staat dem ganzen Land aus seiner Schatzkammer ein bestimmtes Maß Elektrizität überwiesen. Man hört in dieser Gegend von keinerlei Stürmen und Verwüstungen. Niemand hat jemals in der Zeitung von diesem gottbegnadeten Winkel von etwas Derartigem gelesen. Und man würde nie etwas darüber drucken und von dieser Gegend etwas erfahren, wenn die Bauerswitwe Marina Kulkowa, achtundzwanzig Jahre alt, nicht auf einmal vier Kinder zur Welt gebracht hätte, wovon, o Schrecken, selbst in den Zeitungen zu lesen war. Der Herr strafte dieses Land weder mit der ägyptischen noch mit sonst irgendeiner Seuche. Niemand von den Einwohnern kann sich an irgendwelche furchtbare Himmelszeichen, an Feuerbälle oder an plötzliche Dunkelheit erinnern; es gibt dort keine giftigen Schlangen; die Heuschrecken fliegen nicht dorthin; es gibt dort weder brüllende Löwen noch Tiger und nicht einmal Bären und Wölfe, weil keine Wälder da sind. Auf den Feldern und im Dorfe irren nur zahlreiche kauende Kühe, blökende Schafe und glucksende Hühner umher. Gott weiß, ob ein Dichter oder Träumer sich mit der Art des friedlichen Winkels befreundet hätte. Diese Herren lieben es, wie bekannt, den Mond zu betrachten und den Trillern der Nachtigall zu lauschen. Sie lieben eine kokette Luna, die sich in rauchige Wolken kleidet, geheimnisvoll durch die Baumzweige schimmert oder silberne Strahlengarben in die Augen ihrer Anbeter schüttet. Und hierzulande wußte man nichts von einer Luna – alle nannten sie Mond. Er blickte die Dörfer und Felder gutmütig wie mit weit offenen Augen an und erinnerte sehr an einen gut geputzten Präsentierteller aus Messing. Vergeblich hätte der Dichter ihn mit verzückten Augen betrachtet; er würde den Dichter ebenso einfältig anblicken, wie eine rundwangige Dorfschöne die leidenschaftlichen, beredten Blicke des städtischen Hofmachers erwidert. Man hörte in dieser Gegend auch keine Nachtigallen, vielleicht weil es dort keine schattigen Lauben und keine Rosen gab; dafür gibt es dort eine Menge Wachteln! Im Sommer, bei der Ernte, fangen die Bauernjungen sie mit den Händen. Man glaube aber nicht, daß die Wachteln dort einen Gegenstand gastronomischen Genusses bildeten – nein, eine solche Verderbtheit der Sitten war zu den Einwohnern des Landes nicht gedrungen. Die Wachtel ist ein Vogel, der von Urbeginn an nicht zum Essen bestimmt war. Er erfreute dort die Menschen durch seinen Gesang; darum hing fast in jedem Hause unter dem Dache eine Wachtel in einem Holzkäfig. Der Dichter und Träumer wäre auch von der Gesamtansicht dieser bescheidenen und ungekünstelten Gegend nicht befriedigt. Es würde ihm nicht gelingen, dort einen Abend in schweizerischer oder schottischer Art zu sehen, da die ganze Natur, der Wald, das Wasser, die Wände der Hütten und die sandigen Hügel, alles in purpurnem Widerschein erglüht; wenn sich auf dem roten Hintergrunde eine der sich schlängelnden sandigen Straße folgende Kavalkade von Männern scharf abhebt, die irgendeine Lady auf ihrer Spazierfahrt nach einer düstern Ruine begleitet haben und die in das sichere Schloß eilen, wo sie eine vom Großvater erzählte Episode aus dem Krieg der zwei Rosen, eine Gemse zum Abendessen und eine von einer jungen Miß zur Laute gesungene Ballade erwartet, Bilder, mit denen Walter Scott unsere Phantasie so reich bevölkert hat. Nein, in unserer Gegend gab es nichts Ähnliches. Wie still und schläfrig ist alles in den drei, vier Dörfchen, aus denen der Winkel besteht! Sie waren nicht weit voneinander entfernt und schienen zufällig von einer Riesenhand hingeworfen zu sein, sich nach allen Richtungen hin zerstreut zu haben und seitdem so dazuliegen. Die eine Hütte, die an den Absturz des Grabens hingeraten ist, hängt seit undenkbaren Zeiten so da, indem sie mit der einen Hälfte in der Luft hängt und sich auf drei Pfähle stützt. Drei, vier Generationen hatten ruhig und glücklich darin gelebt. Es scheint, ein Huhn sollte sich hineinzugehen fürchten; darin lebt aber mit seiner Frau Onissim Suslow, ein solider Mann, der sich seiner vollen Größe nach in seiner Wohnung nicht aufstellen könnte. Nicht jeder kann in Onissims Hütte eintreten; nur wenn der Besucher sie darum bittet, den Rücken dem Wald und den Eingang ihm zuzuwenden 1 . Die Stufen hingen über dem Graben, und man mußte, um mit dem Fuße hinaufzugelangen, sich mit der einen Hand am Gras und mit der zweiten am Dach des Hauses festhalten und dann geradeaus auf die Stufen steigen. Ein zweites Haus klebte wie ein Schwalbennest am Hügel; drei Häuser stehn hier zufällig beisammen, und zwei andere befinden sich ganz auf dem Grunde des Grabens. Im Dorf ist alles still und schläfrig; die Hütten stehn weit offen; man sieht keine Seele; nur die Fliegen wirbeln in Wolken umher und summen in der Hitze. Wenn man ins Haus tritt, ruft man vergeblich laut nach jemand. Totes Schweigen ist die Antwort; selten ertönt das schmerzliche Stöhnen oder dumpfe Husten einer alten Frau, die auf dem Ofen ihren Tod erwartet, oder es erscheint hinter dem Wetterverschlag ein barfüßiges, langhaariges dreijähriges Kind, das nichts als ein Hemd anhat, den Eintretenden schweigend und starr anblickt und sich schüchtern wieder versteckt. Dieselbe tiefe Stille und derselbe Frieden liegen auch auf den Feldern; nur hie und da krabbelt auf dem schwarzen Acker, wie eine Ameise, ein von der Hitze gesengter Bauer herum, indem er dem Pfluge folgt und sich in Schweiß badet. Stille und durch nichts gestörte Ruhe herrschen auch in den Sitten der Menschen in dieser Gegend. Es hat dort niemals Diebstahl, Mord oder irgendwelche schreckliche Zufälle gegeben; weder starke Leidenschaften noch kühne Unternehmungen regten hier die Gemüter auf. Und was für Leidenschaften und Unternehmungen konnten sie aufregen? Jeder kannte dort sich selbst. Die Einwohner dieser Gegend lebten in großer Entfernung von anderen Menschen. Die nächsten Dörfer und die Kreisstadt waren fünfundzwanzig und dreißig Werst von ihnen entfernt. Die Bauern brachten zu einer bestimmten Zeit das Getreide zum nächsten Hafen an der Wolga hin, welcher ihr Kolchis und ihre Herkulessäulen war, und dann fuhren manche von ihnen einmal im Jahre auf den Jahrmarkt – außer diesen hatten sie keinerlei Beziehungen zu irgend jemand. Ihre Interessen waren auf sie selbst gerichtet und kreuzten und berührten keine fremden Angelegenheiten. Sie wußten, daß achtzig Werst von ihnen entfernt die Gouvernementsstadt lag, doch nur wenige waren dort gewesen; dann wußten sie, daß sich irgendwo weiter Saratow und Nischnij-Nowgorod befanden; sie hatten auch gehört, daß es Moskau und Petersburg gab und daß hinter Petersburg Franzosen und Deutsche lebten; aber weiter begann für sie wie die Alten eine dunkle Welt, unbekannte Länder, die mit Ungeheuern, zweiköpfigen Menschen und Riesen bevölkert waren; dann folgte völlige Finsternis, und endlich schloß alles mit dem Tisch, der die Erde trägt. Und da ihr Winkel nicht an der Fahrstraße lag, konnte man auch gar nicht zu den neuesten Nachrichten darüber, was auf der weiten Welt vorging, kommen; die Holzgeschirrhändler wohnten nur zwanzig Werst von ihnen entfernt und wußten nicht mehr als sie. Sie hatten nicht einmal etwas, womit sie ihr Leben vergleichen konnten, ob sie gut oder schlecht lebten, ob sie reich oder arm waren und ob man sich noch etwas wünschen konnte, das andere besaßen. Die glücklichen Menschen lebten in der Meinung, daß es nicht anders sein könnte und dürfte, und waren davon überzeugt, daß auch alle anderen ebenso wie sie lebten und daß es eine Sünde sei, anders zu leben. Sie würden es auch gar nicht glauben, wenn man ihnen sagen würde, daß andere Menschen irgendwie anders pflügten, säten, mähten und verkauften. Was für Leidenschaften und Aufregungen konnten sie denn haben? Sie hatten wie alle Menschen ihre Sorgen und Schwächen, so die Einzahlung der Steuer oder des Pachtzinses, außerdem kannten sie die Trägheit und den Schlaf; doch das alles kam sie billig zu stehen, ohne daß ihr Blut in Wallung kam. In den letzten fünf Jahren starb von den einigen hundert Seelen niemand, weder eines gewaltsamen noch eines natürlichen Todes. Und wenn dort jemand vor Alter oder von einer chronischen Krankheit in den ewigen Schlaf überging, konnte man sich über einen so ungewöhnlichen Fall gar nicht genug wundern. Es fiel ihnen dabei gar nicht als etwas Besonderes auf, daß zum Beispiel der Schmied Taraß sich selbst in seiner Erdhütte fast zu Tode verbrannte, so daß man ihn mit Wasser begießen mußte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Von den Verbrechen war eines, nämlich das Stehlen von Erbsen und Rüben aus den Gemüsegärten, sehr verbreitet, und eines Tages verschwanden zwei junge Schweine und ein Huhn – ein Ereignis, das die ganze Umgegend empörte und das einstimmig mit der am vorhergehenden Tage vorübergefahrenen Fuhrkolonne, die mit Holzgeschirr zum Markt fuhr, in Zusammenhang gebracht wurde. Sonst waren Zufälle jeder Art sehr selten. Eines Tages wurde übrigens hinter dem Gehege im Graben bei der Brücke ein liegender Mensch gefunden, der wohl zu der in die Stadt wandernden Arbeiterkolonne gehörte. Die Dorfjungen hatten ihn zuerst bemerkt und brachten ganz entsetzt ins Dorf die Nachricht, daß im Graben ein furchtbarer Drachen oder Werwolf daliege, wobei sie hinzudichteten, er hätte sie fangen wollen und hätte Kusjka fast aufgegessen. Die mutigeren Bauern bewaffneten sich mit Heugabeln und Hacken und begaben sich in einem Haufen zum Graben. »Wohin wollt ihr?« hielten die Alten sie zurück, »sitzt euch der Kopf zu fest im Nacken? Was habt ihr dort zu suchen? Laßt's gehen; man treibt euch ja nicht hin.« Aber die Bauern machten sich trotzdem auf den Weg und begannen fünfzig Klafter von der Stelle entfernt das Ungeheuer mit verschiedenen Stimmen zu rufen; sie erhielten keine Antwort; sie blieben stehen; dann rückten sie wieder vorwärts. Im Graben lag ein Bauer und stützte seinen Kopf auf den Hügel; neben ihm lagen ein Sack und ein Stock, auf dem zwei Paar Bastschuhe hingen. Die Bauern wagten weder nahe heranzukommen noch ihn zu berühren. »He, Bruder!« schrien sie der Reihe nach und kratzten sich dabei bald den Nacken, bald den Rücken, »wie heißt du? Wer bist du? He, du! Was hast du hier zu suchen?« Der Fremde machte eine Bewegung, um den Kopf zu heben, es gelang ihm jedoch nicht; er war wohl krank oder sehr müde. Einer der Bauern wollte ihn mit der Heugabel berühren. »Laß ihn, laß ihn!« schrien viele auf einmal, »wer weiß, wie er ist. Du siehst, er redet nicht; vielleicht ist er irgend so einer ... Rührt ihn nicht an, Kinder! Kommt«, sagten einige; »wirklich kommt; was ist er uns denn, etwa ein Vetter? Es kann einem dabei noch etwas geschehen!« Und alle kehrten ins Dorf zurück und berichteten den Alten, daß dort ein Fremder liege, nichts spreche, und Gott weiß was er für einer sei ... »Wenn's ein Fremder ist, dann rührt ihn nicht an!« sagten die Alten, auf der Hausschwelle sitzend und die Ellbogen auf die Knie stützend, »laßt ihn in Ruh'! Ihr hättet gar nicht hingehen sollen!« So war der Winkel, in den Oblomow durch den Traum plötzlich zurückversetzt wurde. Von den drei oder vier dort zerstreuten Dörfchen hieß eines Sosnowka und ein zweites Wawilowka, beide in der Entfernung einer Werst voneinander gelegen. Sosnowka und Wawilowka waren das erbliche Besitztum des Geschlechts der Oblomow und waren darum unter dem gemeinsamen Namen Oblomowka bekannt. In Sosnowka befand sich das Herrschaftshaus, und es bildete die Residenz. Fünf Werst von Sosnowka entfernt lag der kleine Flecken Werchljowo, der auch einst den Oblomows gehört hatte und längst in andere Hände übergegangen war, und noch einige zu diesem Flecken gehörige, hie und da zerstreute Hütten. Der Flecken gehörte einem reichen Gutsbesitzer, der sich auf seinem Gut niemals sehen ließ; er wurde von einem Verwalter deutscher Abstammung bewirtschaftet. Das ist die ganze Geographie dieses Winkels. Ilja Iljitsch ist des Morgens in seinem kleinen Bettchen erwacht. Er ist erst sieben Jahre alt. Ihm ist leicht und froh zumute. Wie hübsch, rotwangig und dick er ist! Solche runde Wangen bringt mancher Schelm selbst dann nicht zuwege, wenn er die seinigen mit Absicht aufbläst. Die Kinderfrau wartet auf sein Erwachen. Sie beginnt ihm die Strümpfchen anzuziehen; er widersetzt sich, tollt herum, strampelt mit den Beinen, die Kinderfrau fängt ihn, und beide lachen. Endlich ist es ihr gelungen, ihn auf die Füße zu stellen; sie wäscht ihn, kämmt sein Köpfchen und führt ihn zu der Mutter hin. Als Oblomow die längst verstorbene Mutter erblickte, erbebte er selbst im Traum vor Freude und heißer Liebe zu ihr; aus seinen Wimpern rannen im Schlaf langsam zwei warme Tränen hervor und blieben reglos stehen. Die Mutter bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen, betrachtete ihn mit gierigen, besorgten Augen, um zu sehen, ob seine Äuglein nicht trüb seien, fragte, ob ihm nichts weh tue, erkundigte sich bei der Kinderfrau, ob er ruhig geschlafen habe, ob er in der Nacht nicht erwacht sei oder sich im Schlaf nicht herumgewälzt und ob er kein Fieber gehabt habe; dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zum Heiligenbild. Dort kniete sie nieder und sagte ihm, ihn mit der einen Hand umfassend, die Worte des Gebetes vor. Der Knabe wiederholte sie zerstreut und blickte durchs Fenster, aus dem Kühle und Fliederduft sich ins Zimmer ergoß. »Mamachen, gehen wir heute spazieren?« fragte er plötzlich mitten im Gebet. »Ja, Herzchen«, sagte sie eilig, ohne die Augen vom Heiligenbild abzuwenden, und sprach die heiligen Worte rasch zu Ende. Der Knabe wiederholte sie träge, aber die Mutter legte ihre ganze Seele hinein. Dann gingen sie zum Vater und dann zum Tee. Am Teetisch sah Oblomow die bei ihnen wohnende uralte, achtzigjährige Tante, die unablässig über ihre Dienerin brummte, die vor Alter mit dem Kopf wackelnd hinter ihrem Sessel stand und sie bediente. Dort waren auch die drei alten Mädchen, entfernte Verwandte seines Vaters, der ein wenig geisteskranke Schwager seiner Mutter, der bei ihnen auf Besuch wohnende Besitzer von sieben Seelen Tschekmenjew, und noch verschiedene Greise und Greisinnen anwesend. Dieser ganze Hofstaat des Hauses Oblomow fing Ilja Iljitsch auf und begann ihn mit Liebkosungen und Lobsprüchen zu überhäufen; er hatte kaum Zeit, die Spuren der ungebetenen Küsse abzuwischen. Dann begann seine Fütterung mit Semmeln, Zwieback und Sahne. Und dann, nachdem seine Mutter ihn nochmals geliebkost hatte, erlaubte sie ihm, im Garten, auf dem Hof und auf der Wiese spazierenzugehen, indem sie die Kinderfrau streng ermahnte, das Kind nicht allein zu lassen, ihn nicht in die Nähe der Pferde, der Hunde, des Ziegenbocks zu führen, nicht weit vom Haus fortzugehen und vor allem ihn nicht an den Graben heranzulassen, als an die gefürchtetste Stelle der Gegend, die einen bösen Ruf genieße. Man hatte dort einmal einen Hund gefunden, den man nur darum für toll erklärte, weil er vor den Menschen, die mit Heugabeln und Hacken auf ihn loszogen, fortrannte, und irgendwo hinter dem Berg verschwand; in dem Graben lud man die krepierten Tiere ab; im Graben setzte man Räuber, Wölfe und verschiedene andere Wesen voraus, die es weder in der Gegend noch überhaupt auf der Welt gab. Das Kind hatte die Ermahnungen der Mutter nicht abgewartet; es war schon auf dem Hof. Es betrachtete mit freudigem Erstaunen, als wär's zum erstenmal, das Elternhaus mit dem schiefen Tor, mit dem in der Mitte gesenkten Dach, auf dem zartes grünes Moos wuchs, mit den wackelnden Stufen, mit verschiedenen Neben- und Überbauten und einem vernachlässigten Garten. Es wäre zu gerne auf die das Haus umsäumende, hängende Galerie gestiegen, um von dort aus auf den Fluß zu schauen; doch die Galerie ist alt, hält sich kaum, und auf ihr dürfen nur die Dienstboten, nicht aber die Herrschaften gehen. Es achtete nicht auf das Verbot der Mutter und wollte sich schon den verlockenden Stufen nähern, als die Kinderfrau in der Tür erschien und es mit Mühe und Not fing. Es flüchtete vor ihr zum Heuboden hin, in der Absicht, auf der steilen Treppe hinaufzusteigen, und kaum hatte sie Zeit gehabt, den Heuboden zu erreichen, als sie schon sein Vorhaben, auf den Taubenschlag zu steigen, auf den Viehhof und, was Gott verhüte, in den Graben zu gelangen, vereiteln mußte. »Ach du mein Gott, was das für ein Kind ist, das reinste Quecksilber! Wirst du ruhig sitzen? Schäme dich!« sagte die Kinderfrau. Und der ganze Tag und alle Tage und Nächte der Kinderfrau waren von Herumlaufen und von Unruhe erfüllt: bald von Qual, bald von lebhafter Freude um das Kind, bald von Angst, daß es hinfalle und sich die Nase zerschlage, bald von Rührung, die durch seine aufrichtige kindliche Liebkosung hervorgerufen wurde, oder von dunklem Bangen für seine ferne Zukunft. Nur das machte ihr Herz schlagen, diese Aufregung erwärmte das Blut der Alten und erhielt irgendwie ihr schläfriges Leben aufrecht, das sonst vielleicht längst erloschen wäre. Das Kind ist aber nicht immer ausgelassen; manchmal wird es plötzlich ruhig, sitzt neben der Kinderfrau und blickt alles so durchdringend an. Sein kindlicher Verstand beobachtet alle vor ihm auftauchenden Erscheinungen; diese graben sich tief in seine Seele ein und wachsen und reifen zugleich mit ihm. Es ist ein herrlicher Morgen; die Luft ist kühl; die Sonne steht noch nicht hoch. Das Haus, die Bäume, der Taubenschlag und die Galerie, alles wirft weithin lange Schatten. Im Garten und auf dem Hof haben sich kühle Plätzchen gebildet, die zum Sinnen und Schlafen einladen. Nur in der Ferne glüht das Korn wie im Feuer, und der Fluß glänzt und funkelt so in der Sonne, daß die Augen schmerzen. »Warum ist es hier dunkel und dort hell, und warum wird es auch da hell sein, Kinderfrau?« fragte das Kind. »Darum, Väterchen, weil die Sonne dem Mond entgegengeht, ihn aber nicht sieht und traurig wird; wenn sie ihn aber von ferne sieht, hellt sie sich wieder auf.« Das Kind denkt nach und schaut immer um sich; es sieht, wie Antip Wasser holen fährt, wie neben ihm ein zweiter, zehnmal so großer Antip schreitet, das Faß erscheint so groß wie ein Haus, und der Schatten des Pferdes hat die ganze Wiese bedeckt; der Schatten hat nur zwei Schritte über die Wiese gemacht und ist plötzlich hinter den Berg gerückt, während Antip noch nicht einmal Zeit gehabt hat, vom Hofe hinauszufahren. Der Knabe macht auch zwei Schritte, noch ein Schritt, und er wird hinter dem Berge sein. Er will zum Berge hingehen, um nachzusehen, wo das Pferd hingekommen ist. Er geht zum Tore hin; aber jetzt ertönt aus dem Fenster die Stimme der Mutter: »Kinderfrau, siehst du nicht, daß das Kind in die Sonne gelaufen ist? Führe es in den Schatten; wenn ihm das Köpfchen heiß wird, tut es ihm weh, es wird ihm übel werden, und es wird nicht essen. Es wird noch zu dem Graben hinlaufen.« »So ein Wildfang!« brummt leise die Kinderfrau, ihn zum Hause zurückführend. Das Kind schaut und beobachtet mit scharfem, allumfassendem Blick, was die Erwachsenen tun und womit sie den Morgen verbringen. Kein einziges Detail, kein einziger Zug entgleitet der gespannten Aufmerksamkeit des Kindes; das Bild des häuslichen Lebens prägt sich unauslöschlich in die Seele ein; der noch ungeformte Verstand wird vom lebendigen Beispiel durchsetzt und zeichnet unbewußt das Programm seines Lebens nach dem es umgebenden Leben. Man kann nicht sagen, daß der Morgen im Hause der Oblomows verlorenging. Das Klopfen der Messer, die in der Küche das Fleisch und das Gemüse zerhackten, drang selbst bis ins Dorf. Aus dem Dienstbotenzimmer drang das Zischen des Spinnrades und die leise, feine Stimme einer Frau herüber; es war schwer zu unterscheiden, ob sie weinte oder ein trauriges Lied ohne Worte improvisierte. Sowie Antip mit dem Faß auf den Hof zurückgekehrt war, kamen ihm aus allen Ecken Frauen und Kutscher mit Kübeln, Trögen und Krügen entgegen. Dort trug eine Alte eine Schüssel Mehl und einen Haufen Eier aus der Vorratskammer in die Küche; und jetzt schüttete der Koch plötzlich Wasser durchs Fenster aus und bespritzte damit die Arapka, die den ganzen Morgen kein Auge vom Fenster wendete, freundlich mit dem Schweif wedelte und sich beleckte. Der alte Oblomow ist auch nicht ohne Beschäftigung. Er sitzt den ganzen Morgen am Fenster und beaufsichtigt unermüdlich alles, was auf dem Hofe vorgeht. »He, Ignaschka! Was trägst du, Dummkopf?« fragte er den über den Hof schreitenden Mann. »Ich trage die Messer in die Gesindestube zum Schleifen hin«, antwortete dieser, ohne den Herrn anzuschauen. »Gut, trage sie nur hin und schleife sie ordentlich!« Dann rief er irgendeiner Frau zu: »He, Frau! Frau! Wohin bist du gegangen?« »In den Keller, Väterchen«, sagte sie, indem sie stehenblieb, sich die Hand vor die Augen hielt und ins Fenster schaute, »ich habe Milch zum Mittagessen geholt.« »Gut! geh, geh!« antwortete der Herr, »gib aber acht, daß du die Milch nicht ausschüttest. Und du, Sachar, du Lausbub, wohin rennst du wieder?« schrie er darauf, »ich werde dich das Herumrennen schon lehren! Ich sehe dich schon zum drittenmal über den Hof laufen. Marsch zurück, ins Vorzimmer!« Und Sachar ging wieder ins Vorzimmer schlafen. Wenn die Kühe von der Weide zurückkehrten, sorgte der Alte als erster dafür, daß sie getränkt wurden; wenn er aus dem Fenster wahrnahm, daß der Hofhund ein Huhn verfolgte, traf er sofort strenge Maßregeln gegen diese Ruhestörung. Auch seine Frau ist sehr beschäftigt; sie bespricht drei Stunden lang mit dem Schneider Awjerka, wie man aus dem Wams ihres Mannes ein Röckchen für Iljuscha herauskriegen soll, sie zeichnet selbst mit Kreide und paßt auf, daß Awjerka kein Tuch stiehlt; dann geht sie in die Mägdekammer und sagt jedem Mädchen, wieviel Spitzen sie den Tag zu flechten hat; dann ruft sie Nastassja Iwanowna oder Stjepanida Apapowna oder sonst irgendwen aus ihrem Hofstaat herbei, mit ihr im Garten spazierenzugehen, wobei sie praktische Ziele verfolgt; sie sieht nach, wie die Äpfel reifen, ob der gestrige, der schon reif war, herabgefallen ist, hier muß gepfropft, dort gestützt werden usw. Doch die größte Sorge war der Küche und dem Mittagessen gewidmet. Bezüglich des Mittagessens hielt das ganze Haus eine Versammlung ab, zu der auch die uralte Tante eingeladen wurde. Jeder schlug ein Gericht vor: der eine Suppe mit Gekröse, der andere Nudeln oder Magen oder Kaidaunen oder eine braune oder weiße Brühe als Sauce. Jeder Ratschlag wurde in Betracht gezogen, genau überlegt und dann nach dem endgültigen Beschluß der Hausfrau angenommen oder abgelehnt. Unaufhörlich wurde bald Nastassja Pjetrowna, bald Stjepanida Iwanowna in die Küche geschickt, um an etwas zu erinnern oder einen Befehl zu widerrufen, um Zucker, Honig, Wein zum Kochen hinzutragen und nachzusehen, ob der Koch alles Verabfolgte verbrauchte. Die Sorge um das Essen bildete das hauptsächlichste Lebensinteresse in Oblomowka. Was für Kälber wurden dort zu den Feiertagen gemästet! Was für Geflügel gezogen! Was für Erwägungen und Kenntnisse, welche Sorgfalt wurden bei dessen Behandlung angewendet! Die Truthühner und Küchlein, die für Namensfeste oder andere feierliche Tage bestimmt waren, wurden mit Nüssen gemästet; die Gänse wurden jeder Möglichkeit sich zu bewegen beraubt; man ließ sie ein paar Tage vor dem Feiertag unbeweglich im Sack hängen, damit sie vor Fett trieften. Was für gesottene, gesalzene und gebackene Konserven gab es dort! Was für Honig, was für Kwaß wurde dort gekocht, was für Pirogen wurden in Oblomowka gebacken! So arbeitete und mühte sich alles im Laufe des Vormittags ab und führte so ein wahres Ameisenleben. Diese arbeitsamen Ameisen kannten auch an Sonn- und Feiertagen keine Ruhe; dann ertönte das Klopfen der Messer in der Küche noch lauter und öfter; die Frau wiederholte ein paarmal die Reise aus der Vorratskammer in die Küche mit einer doppelten Quantität von Mehl und Eiern; auf dem Geflügelhof gab es häufigeres Stöhnen und Blutvergießen. Man backte eine Riesenpiroge, die von den Herrschaften selbst noch am folgenden Tage gegessen wurde; am dritten und vierten Tag gingen die Reste in die Mägdekammer über; die Piroge lebte noch am Freitag, und ein ganz altbackenes Ende davon, ohne jede Füllung wurde als Zeichen besonderer Gnade Antip überlassen, der, nachdem er sich bekreuzigt hatte, diese interessante Versteinerung furchtlos, mit lautem Krachen zerstörte, indem er weniger aus der Piroge selbst, als aus dem Bewußtsein, daß es eine herrschaftliche Piroge sei, Genuß zog, wie ein Archäologe, der mit Vergnügen einen schlechten Wein aus den Scherben irgendeines tausendjährigen Geschirrs trinkt. Und das Kind sah alles und beobachtete alles mit seinem kindlichen, nichts auslassenden Verstand. Es sah, wie nach dem in nützlicher Arbeit verbrachten Morgen die Mittagsstunde kam. Der Mittag ist heiß; kein Wölkchen ist am Himmel. Die Sonne steht reglos über dem Kopfe und sengt das Gras. Durch die Luft geht ein Windhauch, und sie ist schon ohne Bewegung erstarrt. Weder ein Baum noch das Wasser regt sich; über dem Dorf und dem Feld lagert vollkommene Stille – alles scheint ausgestorben zu sein. Die menschliche Stimme tönt laut und weit in die Leere. Man hört in einer Entfernung von zwanzig Klaftern einen Käfer fliegen und summen, und im dichten Gras schnarcht immer etwas, als hätte sich jemand hingelagert und schlafe süß. Auch im Hause herrscht Totenstille. Es ist die Stunde des allgemeinen Nachmittagsschlafes angebrochen. Das Kind sieht, daß Vater und Mutter, die uralte Tante und der ganze Hofstaat sich jeder in seine Ecke begeben haben; und wer keine besitzt, geht auf den Heuboden, ein anderer in den Garten, ein dritter sucht im Vorhaus Kühlung, und mancher deckt sich vor den Fliegen das Gesicht mit einem Tuche zu und schläft dort ein, wo ihn die Hitze und das umfangreiche Mittagessen zu Boden gestreckt haben. Der Gärtner hat sich im Garten unter einem Busch, neben seinem Brecheisen hingelegt, und der Kutscher schläft im Stall. Ilja Iljitsch schaute in die Gesindestube hinein; dort lagen alle auf den Bänken, auf dem Fußboden umher, die Kinder sich selbst überlassend; diese krochen auf dem Hofe herum und wühlten im Sand. Auch die Hunde hatten sich tief in ihre Hütten verkrochen, da sie ja niemand anzubellen hatten. Man konnte durch das ganze Haus gehen, ohne jemand zu begegnen; man konnte getrost alles herausstehlen und auf Fuhren von dem Hofe fortführen; niemand würde daran gehindert haben, wenn es in jener Gegend Diebe gegeben hätte. Das war ein alles verschlingender, unbezwingbarer Schlaf, das wahre Ebenbild des Todes. Alles ist tot; aus den Ecken dringt das verschiedenartige Schnarchen in allen Tönen und Arten herüber. Ab und zu hebt jemand im Schlaf den Kopf, blickt sinnlos und erstaunt nach allen Richtungen hin und dreht sich auf die andere Seite um oder spuckt, ohne die Augen zu öffnen, im Schlafe aus, schmatzt mit den Lippen oder brummt etwas durch die Nase und schläft wieder ein. Ein zweiter springt rasch, ohne irgendwelche vorhergehende Vorbereitungen mit beiden Füßen vom Lager auf, als fürchte er, die kostbaren Augenblicke zu verlieren, greift nach dem Krug mit Kwaß, und nachdem er die darin schwimmenden Fliegen so zurückgeblasen hat, daß sie zum andern Rand weggeschwemmt werden – wovon die bis dahin reglosen Insekten sich in der Hoffnung auf eine Besserung ihres Schicksals heftig zu bewegen beginnen –, netzt er sich die Kehle und fällt dann wieder wie angeschossen aufs Bett hin. Und das Kind beobachtete immerzu. Es ging nachmittags wieder mit der Kinderfrau in die freie Luft. Doch auch die Kinderfrau konnte trotz der strengen Ermahnungen der Gnädigen und trotz des eigenen Willens dem Bann des Schlafes nicht widerstehen. Auch sie wurde von dieser in Oblomowka herrschenden allgemeinen Krankheit angesteckt. Zuerst beaufsichtigte sie eifrig das Kind, ließ es nicht weit von sich fort, brummte streng, wenn es herumtollte; dann, als sie die Symptome der nahenden Ansteckung fühlte, begann sie es zu bitten, nicht aus dem Tor hinauszugehen, nicht den Ziegenbock zu reizen, nicht auf den Taubenschlag oder die Galerie zu steigen. Sie selbst setzte sich irgendwo hin in den Schatten, auf die Stiege, die Schwelle des Kellers oder einfach auf das Gras, mit der Absicht, den Strumpf zu stricken und das Kind zu beaufsichtigen. Doch dann hielt sie es nur träge zurück und wackelte mit dem Kopf. Ach, der Wildfang wird, bevor man sich versieht, auf die Galerie klettern, dachte sie fast im Schlaf, oder auch, er geht ... zum Graben ... Hier senkte sich der Kopf der Alten auf die Knie, der Strumpf entglitt ihren Händen, sie verlor das Kind aus den Augen und schnarchte leise mit halbgeöffnetem Munde. Und es erwartete ungeduldig diesen Moment, mit dem sein selbständiges Leben begann. Es glaubte dann, in der ganzen Welt allein zu sein; es lief auf den Fußspitzen von der Kinderfrau fort, sah nach, wo ein jeder schlief; es blieb stehen und beobachtete aufmerksam, wie jemand erwachte, ausspuckte und im Schlafe etwas brummte. Dann stieg es mit bebendem Herzen auf die Galerie und lief auf den knarrenden Brettern rundherum, kletterte auf den Taubenschlag, versteckte sich in die Tiefe des Gartens, lauschte dem Summen eines Käfers und folgte mit den Augen weit seinem Fluge durch die Luft; hörte es im Grase zirpen, suchte und fand die Ruhestörer; es fing eine Libelle, riß ihr die Flügel ab und sah, was aus ihr wurde, oder steckte einen Strohhalm in sie hinein und beobachtete, wie sie mit diesem Anhängsel flog; es betrachtete voll Vergnügen, mit verhaltenem Atem, wie die Spinne das Blut der gefangenen Fliege aussaugte und wie das arme Opfer zwischen ihren Füßen zappelte und summte. Das Kind schloß damit, daß es sowohl das Opfer als auch die Peinigerin tötete. Dann kroch es in eine Rinne, grub darin herum und suchte sich Wurzeln, die es von der Rinde reinigte und voll Vergnügen aß, sie den Äpfeln und dem Eingesottenen der Mutter vorziehend. Es läuft auch aus dem Tor hinaus; es möchte gerne in den Birkenhain; dieser scheint ihm so nahe zu sein, daß es ihn in fünf Minuten erreichen könnte, wenn es nicht ringsherum über den Weg, sondern geradeaus über die Rinnen, die Hecken und die Gruben ginge; doch es fürchtet sich; man sagt, daß es dort Unholde, Räuber und wilde Tiere gibt. Es möchte auch gern zu dem Graben laufen; dieser ist nur fünfzig Klafter vom Garten entfernt; das Kind ist schon zum Rand hingelaufen, kneift die Augen zu und will wie in den Krater eines Vulkans hineinblicken ... Aber plötzlich erstehen vor ihm all die Erzählungen und Überlieferungen, die über diesen Graben umgehen. Entsetzen erfaßt es, es rennt halbtot und vor Angst zitternd zur Kinderfrau zurück und weckt sie auf. Sie schüttelte den Schlaf von sich, ordnete das Kopftuch, steckte ihre grauen Haarsträhnen mit dem Finger darunter, gab sich den Anschein, gar nicht geschlafen zu haben, blickte bald Iljuscha, bald die herrschaftlichen Fenster mißtrauisch an und begann die Stricknadeln des auf ihren Knien liegenden Strumpfes ineinanderzustecken. Unterdessen begann die Hitze nach und nach abzunehmen, in der Natur belebte sich alles; die Sonne näherte sich schon dem Walde. Und allmählich wurde die Stille im Hause gestört. Irgendwo in einer Ecke knarrte eine Tür. Man hörte auf dem Hofe Schritte, auf dem Heuboden nieste jemand. Bald trug ein Mann, sich unter der Schwere beugend, einen ungeheuren Samowar eilig aus der Küche vorüber. Man begann sich zum Tee zu versammeln. Der eine hatte ein streifiges Gesicht und tränende Augen, der andere hatte vom Liegen auf den Wangen und Schläfen rote Flecken; ein dritter sprach nach dem Schlaf wie mit einer fremden Stimme. Das alles schnauft, ächzt, gähnt, kratzt sich den Kopf und streckt sich, nur mit Mühe zur Besinnung kommend. Das Mittagessen und der Schlaf haben einen unstillbaren Durst erzeugt. Der Durst sengt die Kehle; jeder trinkt bis zu zwölf Schalen Tee, doch auch das hilft nicht. Man seufzt und stöhnt; man nimmt zum Preiselbeer- und Birnenwasser und zum Kwaß Zuflucht. Manche helfen sich auch mit Medikamenten, um nur die Trockenheit in der Kehle zu beheben. Alle suchen Befreiung vom Durste wie von einer Strafe Gottes; alle rennen herum, alle sind ermattet wie eine Karawane von Reisenden in der arabischen Wüste, die nirgends eine Wasserquelle findet. Das Kind ist auch hier, bei seiner Mama. Es betrachtet die es umgebenden, seltsamen Gesichter und lauscht ihrem schläfrigen, trägen Gespräche. Es findet es lustig, sie anzuschauen, ein jeder von ihnen gesprochene Unsinn interessiert es. Nach dem Tee beschäftigen sich alle mit irgend etwas. Der eine geht zum Fluß und schreitet langsam am Ufer entlang, indem er mit dem Fuße Steine ins Wasser wirft; ein zweiter setzt sich ans Fenster und fängt jede flüchtige Erscheinung mit den Augen auf. Wenn eine Katze über den Hof läuft oder eine Dohle vorbeifliegt, verfolgt der Beobachter die eine und die andere mit dem Blicke und mit seiner Nasenspitze, indem er den Kopf bald nach rechts, bald nach links wendet. So lieben manchmal Hunde ganze Tage lang am Fenster zu sitzen, indem sie den Kopf in die Sonne legen und jeden Vorübergehenden genau mustern. Die Mutter erfaßt Iljuschas Kopf, legt ihn auf ihre Knie und kämmt ihm langsam das Haar, indem sie dessen Weichheit bewundert und auch Nastassja Iwanowna und Stjepanida Tichonowna bewundern läßt, und spricht mit ihnen von Iljuschas Zukunft, wobei sie ihn zum Helden irgendeiner von ihr erdichteten, glänzenden Episode macht. Die Anwesenden versprechen ihm goldene Berge. Doch es fing zu dunkeln an. In der Küche prasselte wieder das Feuer und ertönte wieder das häufige Klopfen der Messer. Das Nachtessen wurde zubereitet. Die Dienerschaft hatte sich am Haustor versammelt, man hörte dort lachen und Balalaika spielen. Man spielte Haschen. Und die Sonne verbarg sich schon hinter dem Wald; sie warf noch ein paar warme Strahlen zurück, welche den ganzen Wald in einem feurigen Streifen durchschnitten und die Wipfel der Fichten in helles Gold tauchten. Dann erloschen die Strahlen allmählich. Der letzte Strahl hing so lange, er bohrte sich wie eine feine Nadel in das Dickicht der Zweige; doch auch er erlosch. Die Gegenstände verloren ihre Formen. Alles verschwamm zuerst in eine graue und dann in eine dunkle Masse. Das Singen der Vögel wurde immer schwächer, bald verstummten sie ganz, außer einem einzigen eigensinnigen, der gleichsam allen zum Trotze inmitten der ringsherum herrschenden Stille in Zwischenräumen eintönig allein zirpte; doch dann ertönte sein Zirpen immer seltener, und endlich pfiff auch er zum letzten Male, schwach und tonlos, regte seine Flügel, indem er die Blätter um sich herum in Bewegung brachte ... und schlief ein. Alles verstummte. Nur die Grillen zirpten noch lauter um die Wette. Von der Erde stiegen weiße Dämpfe auf und breiteten sich über die Wiese und den Fluß aus. Auch der Fluß wurde ruhiger, nach einer Weile plätscherte darin etwas zum letzten Male auf, und er regte sich nicht mehr. Es roch nach Feuchtigkeit. Es wurde immer dunkler und dunkler. Die Bäume gruppierten sich zu Ungeheuern zusammen; im Walde wurde es unheimlich. Dort knarrte plötzlich etwas, als wechselte eines von den Ungeheuern den Platz, und ein trockener Zweig schien unter seinem Fuße zu knistern. Am Himmel leuchtete gleich einem lebendigen Auge der erste Stern hell auf, und in den Fenstern des Hauses schimmerten Lichter. Jetzt traten die Minuten der allgemeinen, feierlichen Stille in der Natur ein, jene Minuten, in denen der schöpferische Geist intensiver arbeitet und die poetischen Träume heißer lodern, in denen die Leidenschaften im Herzen heftiger flammen oder der Gram schmerzlicher wird und der Keim des verbrecherischen Gedankens schneller reift und in denen ... in Oblomowka alle so fest und ruhig schlafen. »Mama, komm spazieren«, sagt Iljuscha. »Was dir einfällt, Gott sei mit dir! Wie kann man denn jetzt spazierengehen«, antwortete sie, »es ist feucht, du wirst nasse Füßchen bekommen; es ist auch gruselig, jetzt geht der Unhold durch den Wald, er trägt die kleinen Kinder fort.« »Wohin trägt er sie fort? Wie ist er? Wo wohnt er?« fragte das Kind. Und die Mutter ließ ihrer Phantasie freien Lauf. Das Kind lauscht ihr, die Augen öffnend und wieder schließend, bis der Schlaf es endlich ganz überwältigt. Dann kam die Kinderfrau, nahm es von dem Schoße der Mutter und trug es, während es den Kopf schläfrig über ihre Schultern hängen ließ, ins Bett. »Gott sei Dank, jetzt ist der Tag vorüber!« sagten die Oblomower, sich ins Bett legend, ächzend und ein Kreuz schlagend, »wir hätten ihn glücklich verlebt; gebe Gott, daß es morgen auch so ist! Gelobt sei der Herr! Gelobt sei der Herr!« Dann träumte Oblomow von einer anderen Zeit; er schmiegt sich an einem endlosen Winterabend ängstlich an die Kinderfrau, und sie flüstert ihm von einem unbekannten Lande zu, wo es weder Nacht noch Kälte gibt, wo immer Wunder geschehen, wo Milch und Honig fließen, wo niemand das runde Jahr etwas tut und wo den ganzen lieben Tag lauter solche Helden wie Ilja Iljitsch und so schöne Mädchen, wie sie weder im Märchen wiederzugeben noch mit der Feder zu beschreiben sind, herumspazieren. Dort gibt es auch eine gute Zauberin, die manchmal in der Gestalt eines Hechtes erscheint und sich irgendeinen stillen, arglosen Liebling auserwählt, mit anderen Worten irgendeinen Faulpelz, dem alle Unrecht tun, und ihn ganz ohne Grund mit allerlei Schätzen überschüttet, und er ißt nur und zieht die fertigen Kleider an und heiratet dann die unerhört schöne Militrissa Kirbitjewna. Das Kind verschlang gierig mit offenen Ohren und Augen das Märchen. Die Kinderfrau oder vielmehr die Überlieferung vermied in dem Märchen so geschickt alles, was in Wirklichkeit vorkommt, daß Phantasie und Verstand, die sich vom Erdachten durchdringen ließen, bis zum Alter dessen Sklaven blieben. Die Kinderfrau erzählte gutmütig das Märchen vom dummen Jemelja, diese boshafte und tückische Satire auf unsere Vorfahren und vielleicht auch auf uns selbst. Und wenn der erwachsene Ilja Iljitsch auch später erfährt, daß es weder Milch- und Honigflüsse noch gute Zauberinnen gibt, wenn er auch lächelnd über die Märchen der Kinderfrau scherzt, ist sein Lächeln doch nicht aufrichtig, es wird von einem heimlichen Seufzer begleitet. Das Märchen hat sich bei ihm mit dem Leben verwebt, und er trauert manchmal unbewußt darüber, warum das Märchen nicht das Leben und das Leben kein Märchen ist. Er träumt unwillkürlich von Militrissa Kirbitjewna; es zieht ihn immer dorthin, wo man den ganzen lieben Tag nur spazierengeht, wo es keine Sorgen und keine Traurigkeit gibt; er behält für immer die Neigung bei, auf dem warmen Ofen zu liegen, in einem fertigen, nicht durch Arbeit gewonnenen Kleide herumzugehen und auf die Rechnung der guten Zauberin zu essen. Auch Oblomows Vater und Großvater hatten in der Kindheit dieselben Märchen gehört, die in der stereotypen Ausgabe des Altertums von den Lippen der Kinderfrauen und Hofmeister Jahrhunderte und Generationen hindurch überliefert wurden. Unterdessen läßt die Kinderfrau vor der Phantasie des Kindes ein neues Bild erstehen. Sie erzählt ihm von den Heldentaten unserer Achilles und Ulysses, von dem Mut eines Ilja Muromez, eines Dobrinja Nikititsch, eines Aljoscha Popowitsch, eines Polkan und eines Wanderkrüppels, davon, wie sie die unzähligen Heere der Ungläubigen geschlagen haben, wie sie darin wetteiferten, einen Kelch grünen Weines auf einen Atemzug, ohne sich zu räuspern, zu leeren; dann sprach sie von den bösen Räubern, von schlafenden Prinzessinnen, von versteinerten Städten und Menschen; zum Schlusse ging sie zu unserer Dämonologie, zu Toten, Ungeheuern und Werwölfen über. Mit der Einfachheit und Gutmütigkeit eines Homer, mit derselben lebendigen Wahrheit des Details und Plastizität der Bilder überlieferte sie dem Gedächtnis und der Phantasie des Kindes die Iliade des russischen Lebens, die von unseren Homeriden in jenen nebelhaften Zeiten erschaffen wurde, als der Mensch mit den Gefahren und den Geheimnissen der Natur und des Lebens noch nicht vertraut war, als er noch vor dem Werwolf und dem Waldunhold zitterte, als er vor der ihn umgebenden Drangsal bei Aljoscha Popowitsch Schutz suchte und als die Luft, das Wasser, der Wald und das Feld vom Wunder beherrscht wurden. Das Leben eines damaligen Menschen war gefahrvoll und unsicher; er brauchte nur die Schwelle des Hauses zu verlassen, um einem Unheil zu begegnen; da konnte er jeden Augenblick von einem wilden Tiere zerrissen oder von einem Räuber erstochen werden, ein böser Tatare konnte ihm sein Gut rauben, oder er konnte auch spurlos, ohne irgendwelche Kunde von sich zu senden, verschwinden. Oder es erschienen plötzlich Himmelszeichen, feurige Säulen und Kugeln; dort, über dem frischen Grabe, flammt ein Feuer auf, oder im Walde scheint jemand mit einer Laterne herumzuspazieren, furchtbar zu lachen und mit den Augen in der Dunkelheit zu funkeln. Auch mit dem Menschen selbst geschah so viel Unbegreifliches; mancher lebte lange und glücklich, ohne daß ihm etwas geschah, und plötzlich begann er ganz unverständlich zu reden oder mit einer ganz anderen Stimme zu schreien, oder er irrte auch schlafend in der Nacht herum; ein anderer bekam plötzlich Krämpfe und wälzte sich auf dem Boden. Und bevor so etwas geschah, krähte ein Huhn mit der Stimme eines Hahnes, und eine Krähe krächzte über dem Dache. Der schwache Mensch war ganz hilflos, während er sich entsetzt im Leben umschaute, und suchte in seiner Phantasie nach dem Schlüssel zu den Geheimnissen der ihn umgebenden und der eigenen Natur. Und vielleicht führte die Schläfrigkeit und beständige Ruhe des trägen Lebens, der Mangel an Bewegung und an wirklichen Ängsten, Abenteuern und Gefahren den Menschen dazu, anstatt der Wirklichkeit eine andere, erdachte Welt zu erschaffen und darin sich seine Phantasie tummeln und ergötzen zu lassen oder nach der Erklärung der einfachen Verkettung der Umstände und der Ursachen der Erscheinung außerhalb der Erscheinung selbst zu suchen. Unsere armen Vorfahren haben wie herumtastend gelebt; sie beflügelten nicht ihren Willen und hemmten ihn auch nicht, und dann wunderten sie sich und entsetzten sich über das Böse und über die Unbequemlichkeit ihres Lebens und wollten alles Unverständliche bei den stummen und unklaren Hieroglyphen der Natur erfragen. Der Tod wurde für sie durch den vor kurzem zuerst mit dem Kopfe und nicht mit den Füßen aus dem Tore hinausgetragenen Toten verursacht; eine Feuersbrunst – weil der Hund drei Nächte unter dem Fenster geheult hatte; und sie richteten ihre ganze Sorge darauf, daß man den Toten mit den Füßen zuerst aus dem Tore hinaustrug, und dabei aßen sie dasselbe und ebensoviel und schliefen wie bisher auf Gras; der heulende Hund wurde geschlagen oder fortgejagt, und die Funken des Kienspans wurden wie bisher in die Ritze des faulenden Fußbodens geworfen. Und der Russe liebt es bis heute, inmitten des ihn umgebenden, strengen, phantasielosen Lebens an die verlockenden Sagen des Altertums zu glauben, und er wird sich von diesem Glauben vielleicht noch lange nicht lossagen. Indem der Knabe den Märchen der Kinderfrau von unserem Goldenen Vlies, von dem »Wundervogel« lauschte und sie ihm von den undurchdringlichen Mauern und den Geheimverliesen des Zauberschlosses erzählte, suchte er seinen Mut anzufachen, indem er sich an die Stelle der Helden setzte, und es überlief kalt seinen Rücken, oder er litt an dem Mißgeschicke des Kühnen. Ein Märchen folgte dem andern. Die Kinderfrau erzählte voll Feuer, bilderreich gestaltend und ganz hingerissen; an manchen Stellen wurde sie von Begeisterung erfüllt, weil sie zur Hälfte selbst an die Märchen glaubte. Die Augen der Alten leuchteten; ihr Kopf zitterte vor Erregung; die Stimme erstreckte sich auf sonst ungewohnte Töne. Das Kind schmiegte sich an sie mit Tränen in den Augen, von unerklärlicher Angst erfaßt. Wenn von den um Mitternacht aus den Gräbern steigenden Toten oder von den in der Gefangenschaft des Ungeheuers schmachtenden Opfern oder vom Bären mit dem Holzfuße, der durch die Dörfer und Flecken wandert und seinen abgehauenen Fuß sucht, die Rede war, knisterten die Haare des Kindes vor Entsetzen; die kindliche Phantasie erstarrte bald und flammte bald wieder auf; in ihm spielte sich ein quälender, schmerzlich-süßer Vorgang ab; die Nerven spannten sich wie Saiten. Wenn die Kinderfrau düster die Worte des Bären wiederholte: »Knarre, knarre, Lindenfuß: ich gehe durch die Flecken, ich gehe durch die Dörfer, alle Frauen schlafen, nur eine Frau schläft nicht, sie sitzt auf meinem Felle, kocht mein Fleisch, spinnt mein Haar« usw., und wenn der Bär endlich in die Hütte trat und im Begriffe war, den Dieb, der ihm sein Bein geraubt hatte, zu packen, hielt das Kind es nicht länger aus, es stürzte sich zitternd und quietschend in die Arme der Kinderfrau und lachte dabei laut vor Freude, daß es sich nicht in den Krallen des Tieres, sondern auf der Ofenbank, neben der Kinderfrau, befand. Die Phantasie des Knaben wurde von seltsamen Gespenstern bevölkert; Angst und Bangigkeit hatten sich für lange Zeit, vielleicht für immer, in seiner Seele eingenistet. Er blickt traurig um sich, sieht im Leben nichts als Unheil und Gefahren und träumt immer von jenem Zauberland, wo es weder Unglück noch Sorgen noch Traurigkeit gibt, wo Militrissa Kirbitjewna lebt, wo man so gut bewirtet und umsonst bekleidet wird. Das Märchen hielt in Oblomowka nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen bis ans Ende des Lebens in seinem Bann. Alle im Hause und im Dorf, vom gnädigen Herrn und seiner Frau angefangen bis zum stämmigen Schmied Taraß – alle zittern sie vor etwas an einem dunklen Abend. Jeder Baum verwandelt sich dann in einen Riesen, jeder Busch in eine Räuberhöhle. Das Klappern des Fensterladens und das Heulen des Windes im Rauchfang machte die Männer, die Frauen und die Kinder erblassen. Niemand ging am Dreikönigstag nach zehn Uhr abends allein aus dem Tor hinaus; ein jeder fürchtete sich, in der Nacht vor Ostern in den Stall zu gehen, da er dort einen Kobold anzutreffen fürchtete. In Oblomowka glaubte man an alles: an Werwölfe und Gespenster. Wenn man ihnen erzählte, daß eine Heugarbe auf dem Felde herumspaziert sei, würden sie, ohne weiter nachzudenken, daran glauben; wenn jemand das Gerücht verbreiten wollte, das sei kein Hammel, sondern etwas anderes, oder daß Marfa oder Stjepanida eine Hexe sei, würden sie sich sowohl vor dem Hammel als auch vor Marfa fürchten; es würde ihnen nie einfallen, zu fragen, warum der Hammel kein Hammel mehr sei und warum Marfa sich in eine Hexe verwandelt habe, und sie würden noch über denjenigen herstürzen, der daran zu zweifeln gewagt hätte – so stark war der Glauben an das Wunderbare in Oblomowka! Ilja Iljitsch wird ja später sehen, daß die Welt einfach eingerichtet ist, daß die Toten nicht aus den Gräbern steigen, daß Riesen, sowie sie sich zeigen, auf den Jahrmarkt kommen und daß Räuber ins Gefängnis gesperrt werden; wenn aber der Glaube an die Gespenster auch verschwindet, bleibt doch ein Überrest von Angst und unfaßbarer Bangigkeit zurück. Ilja Iljitsch hat erfahren, daß es keine Ungeheuer gibt, die Unheil anrichten, er weiß aber kaum, wodurch es verursacht wird, erwartet bei jedem Schritt etwas Schreckliches und fürchtet sich; auch jetzt noch zittert er, von einer unbezwinglichen, in der Kindheit in seine Seele gesäten Bangigkeit erfaßt, wenn er im dunklen Zimmer bleibt oder einen Toten sieht; er lacht des Morgens über seine Angst und erbleicht wieder am Abend. Dann sah sich Ilja Iljitsch als dreizehn-, vierzehnjährigen Knaben. Er lernte schon im Flecken Werchljowo, fünf Werst von Oblomowka entfernt, beim dortigen Verwalter, dem Deutschen Stolz, der für die Kinder der Edelleute der Umgegend ein kleines Pensionat eingerichtet hatte. Er hatte einen eigenen Sohn, Andrej, der fast im selben Alter wie Oblomow war, und noch einen Knaben, den er aufgenommen hatte, der fast niemals lernte, sondern meistens an Skrofeln litt und die ganze Kindheit mit verbundenen Augen oder Ohren verbrachte; er weinte heimlich, weil er nicht bei der Großmutter, sondern in einem fremden Hause inmitten von Bösewichtern lebte, weil niemand ihn liebkoste und niemand ihm seinen Lieblingskuchen backte. Außer diesen Kindern gab es keine anderen in der Pension. Vater und Mutter mußten sich darein fügen und den Wildfang Iljuscha lernen lassen. Das kostete Tränen, Heulen und Launen. Endlich führte man ihn fort. Der Deutsche war ein tüchtiger, strenger Mensch, wie fast alle Deutschen. Vielleicht hätte Iljuscha bei ihm auch etwas Ordentliches gelernt, wenn Oblomowka von Werchljowo fünfhundert Werst entfernt gewesen wäre. Wie sollte er aber so lernen? Der Reiz der Oblomower Umgebung, Lebensweise und Gewohnheiten erstreckte sich bis nach Werchljowo; auch dort war ja einst Oblomowka gewesen; dort atmete alles, außer dem Stolzschen Hause, dieselbe Trägheit, Ungekünsteltheit der Sitten, Ruhe und Reglosigkeit aus. Der Verstand, das Herz des Kindes waren von allen Bildern, Szenen und Sitten dieses Lebens erfüllt, bevor es das erste Buch in die Hand bekam. Und wer weiß, wie früh die Entwicklung des geistigen Kernes im kindlichen Hirn beginnt? Wie kann man das Keimen der ersten Begriffe und Eindrücke in der kindlichen Seele verfolgen? Vielleicht während das Kind die Worte noch kaum aussprach oder auch noch gar nicht aussprach und selbst noch nicht gehen konnte und nur alles mit jenem starren, stummen kindlichen Blick betrachtete, den die Erwachsenen stumpf nennen, sah es und erriet es schon die Bedeutung und den Zusammenhang der Erscheinungen der es umgebenden Sphäre, gestand das nur weder sich selbst noch andern ein. Vielleicht bemerkte und verstand Iljuscha schon längst, was in seiner Gegenwart gesprochen und getan wurde: wie sein Papa in Plüschhosen und einer wattierten braunen Tuchjoppe den langen, lieben Tag mit den Händen auf dem Rücken aus einer Ecke in die andere geht, Tabak schnupft und sich schneuzt und die Mutter vom Kaffee zum Tee und vom Tee zum Mittagessen übergeht; wie es dem Vater niemals zu kontrollieren einfällt, wieviel Garben gemäht worden sind, und eine etwaige Fahrlässigkeit zu bestrafen, wie er aber, wenn ihm sein Taschentuch nicht schnell genug gereicht wird, über Unordnung schimpft und das ganze Haus auf den Kopf stellt. Vielleicht hatte sein kindlicher Verstand längst beschlossen, daß man so und nicht anders leben sollte, als die Erwachsenen um ihn herum lebten. Ja, wie sollte er auch einen anderen Beschluß fassen! Und wie lebten die Erwachsenen in Oblomowka? Stellten sie sich die Frage, wozu das Leben ihnen gegeben war? Gott weiß! Und wie beantworteten sie diese? Wahrscheinlich gar nicht. Das erschien ihnen sehr einfach und klar. Sie hatten nichts von einem sogenannten mühevollen Leben gehört, von Menschen, die quälende Sorgen in der Brust trugen, die aus irgendeinem Grunde von einem Ort zum andern über das Antlitz der Erde irrten oder ihr Leben der ewigen, endlosen Arbeit weihten. Die Einwohner von Oblomowka glaubten auch nicht recht an seelische Stürme; sie hielten den Kreislauf des ewigen Strebens irgend wohin und nach irgendwas nicht für das wahre Leben; sie fürchteten sich vor dem Drang der Leidenschaften wie vor dem Feuer, und während bei anderen Menschen der Körper durch die vulkanische Arbeit der inneren seelischen Flamme schnell aufgebraucht wurde, ruhte die Seele der Oblomower friedlich, ohne Störungen im weichen Körper. Das Leben zeichnete sie weder durch frühzeitige Furchen noch durch zerrüttende moralische Schläge und Leiden. Diese guten Menschen faßten das Leben nicht anders als ein Ideal der Ruhe und Untätigkeit auf, das ab und zu durch allerlei unangenehme Zufälle, wie Krankheiten, Verluste, Streitigkeiten und unter anderem durch Arbeit gestört wurde. Sie ertrugen die Arbeit als eine Strafe, die noch unseren Vorvätern auferlegt wurde, die sie aber nicht lieben konnten und von der sie sich bei jeder Gelegenheit befreiten, da sie das für möglich und sogar für nötig hielten. Sie brachten sich niemals durch irgendwelche nebelhaften geistigen oder moralischen Fragen in Verwirrung; darum erfreuten sie sich auch immer des Frohsinns und einer blühenden Gesundheit, darum lebten sie dort so lange; die Männer erinnerten mit vierzig Jahren an Jünglinge; die Greise kämpften nicht mit einem schweren, qualvollen Tod, sondern starben gleichsam verstohlen, erstarrten still und hauchten unmerklich ihren letzten Seufzer aus, nach dem sie unerhört lange gelebt hatten. Darum heißt es auch, daß die Menschen früher kräftiger waren. Ja, sie waren in der Tat kräftiger. Früher beeilte man sich nicht, dem Kinde den Sinn des Lebens zu erklären und es dazu wie zu etwas sehr Kompliziertem und Ernstem vorzubereiten; man quälte es nicht mit Büchern, welche im Kopfe eine Menge von Fragen erzeugen, die am Hirn und Herzen nagen. Die Norm des Lebens war fertig und war ihnen von den Eltern beigebracht worden, die sie ebenfalls fertig vom Großvater und dieser vom Urgroßvater mit dem Vermächtnis übernommen hatten, über deren Unberührtheit und Heiligkeit wie über das Feuer der Vesta zu wachen. Wie alles bei Lebzeiten der Großväter und Väter getan wurde, so wurde es auch unter Ilja Iljitschs Vater und so wird es vielleicht bis heute in Oblomowka getan. Worüber hatten sie denn zu sinnen und sich zu erregen, was zu ergründen und welche Ziele zu erreichen? Das war alles unnötig. Das Leben rann wie ein ruhiger Fluß an ihnen vorbei, sie brauchten nur am Ufer dieses Flusses zu bleiben und die unvermeidlichen Erscheinungen zu beobachten, welche ungerufen der Reihe nach vor einem jeden von ihnen erstanden. Und auch der Phantasie des schlafenden Ilja Iljitsch zeigten sich ebenfalls der Reihe nach, gleich lebenden Bildern, die drei Hauptmomente des Lebens, die sich ebensowohl in seiner Familie wie auch bei den Verwandten und Bekannten abspielten: Geburt, Hochzeit und Begräbnis. Dann folgte eine bunte Prozession ihrer freudigen und traurigen Unterabteilungen: Taufen, Namenstage, Familienfeste, Fastenanfang und -ende, geräuschvolle Diners, Familienbesuche, Begrüßungen, Gratulationen, offizielle Tränen und Lächeln. Alles wurde so genau, so ernsthaft und feierlich erfüllt. Er sah sogar bekannte Personen vor sich und ihren Ausdruck bei verschiedenen Gelegenheiten, ihre Besorgtheit und Geschäftigkeit. Wenn man ihnen eine noch so kitzlige Heiratsvermittlung, eine noch so feierliche Hochzeit oder einen Geburtstag einzurichten übergeben hätte, würden sie alles nach allen Regeln, ohne die geringste Fahrlässigkeit besorgt haben. Warum es sich darum handelte, welcher Platz einem jeden der Anwesenden anzuweisen war, wie und was aufgetragen werden sollte, wer mit wem während der Zeremonie zu fahren hatte, wie man sich bei irgendeinem Vorzeichen verhalten mußte, dagegen ward in Oblomowka nie auch nur der geringste Verstoß begangen. Verstand man dort etwa nicht ein Kind aufzuziehen? Man braucht sich nur anzuschauen, was für rosige und gewichtige Kupidos die dortigen Mütter tragen und führen. Sie bestehen darauf, daß die Kinder dick, weiß und gesund sein müssen. Sie werden dem Frühling abschwören und nichts davon wissen wollen, wenn sie bei seinem Antritt nicht eine Lerche gebacken haben. Wie sollten sie das nicht alles wissen und nicht erfüllen? Das ist ihr ganzes Leben und Wissen, darin sind alle ihre Leiden und Freuden. Sie gehen darum jeder anderen Sorge und Trauer aus dem Wege, weil ihr Leben immer von diesen unvermeidlichen Urereignissen erfüllt war, die ihrem Verstand und ihrem Herzen unendliche Nahrung boten. Sie erwarteten mit Herzklopfen irgendeinen Vorgang, ein Festessen, eine Zeremonie, um später, nachdem der Mensch getauft, verheiratet oder begraben, ihn selbst und sein Schicksal zu vergessen und sich in ihre gewohnte Apathie zu versenken, aus der sie durch einen neuen, ähnlichen Fall, einen Geburtstag, eine Hochzeit usw. aufgerüttelt wurden. Sowie ein Kind geboren wurde, war die erste Sorge der Eltern, wie man am genauesten, ohne das geringste zu vergessen, alle vom Anstand geforderten Zeremonien, in diesem Falle das Taufessen, bewerkstelligen sollte; dann begann die sorgfältige Pflege des Kleinen. Die Mutter stellt sich und der Kinderfrau die Aufgabe: ein gesundes Kind aufzuziehen, es vor Erkältung, vor einem bösen Blick und anderen feindlichen Umständen zu hüten. Man war voll Eifer darum besorgt, daß das Kind stets lustig sei und viel esse. Sowie der Bursche auf den Füßen stehen, das heißt, sobald er der Kinderfrau entraten kann, schleicht sich schon in das Herz der Mutter der heimliche Wunsch, für ihn eine möglichst gesunde, rotbackige Gefährtin zu finden. Es beginnt wieder eine Epoche der Zeremonien, der Festessen, und endlich kommt die Hochzeit. Darauf konzentriert sich das ganze Pathos des Lebens. Dann beginnen wieder die Wiederholungen. Das Gebären von Kindern, die Zeremonien und Festessen, bis das Begräbnis die Szenerie ändert; das geschieht aber nicht für lange Zeit. Die einen Personen machen den anderen Platz, die Kinder werden zu Jünglingen und zugleich zu Bräutigamen, sie heiraten, setzen ähnliche Geschöpfe in die Welt – und nach diesem Programm zieht sich das Leben als ein ununterbrochenes, eintöniges Gewebe hin und zerreißt unmerklich, am Grabe angelangt. Zwar drängten sich ihnen manchmal auch andere Sorgen auf; doch die Einwohner von Oblomowka nahmen sie meistens mit stoischer Reglosigkeit auf, und nachdem die Sorgen eine Weile über ihren Häuptern gekreist waren, flogen sie weiter wie Vögel, die an eine glatte Wand heranfliegen und, da sie keinen Unterschlupf finden, an den harten Stein vergeblich mit den Flügeln schlagen und dann weiterfliegen. So fiel zum Beispiel eines Tages ein Teil der Galerie an der einen Seite des Hauses herab und begrub unter seinem Schutt eine Gluckhenne mit ihren Küchlein; auch Antips Frau, Arinja, die sich gerade mit der Spinnbank unter die Galerie gesetzt hatte, hätte ihr Teil abbekommen, aber sie ging gerade in dem Augenblick ein Flachsbündel holen. Im Hause wurde Alarm geschlagen. Alle, klein und groß, kamen herbeigelaufen und entsetzten sich bei der Vorstellung, daß statt der Henne mit ihren Küchlein hier die Gnädige selbst mit Ilja Iljitsch hätte spazierengehen können. Alle schrien auf und begannen einander vorzuwerfen, wieso es ihnen nicht längst eingefallen war: dem einen, daran zu erinnern, dem zweiten, die Reparatur anzuordnen, dem dritten, die Reparatur vorzunehmen. Alle wunderten sich darüber, daß die Galerie abgestürzt war, und dabei hatten sie sich am Tage zuvor gewundert, daß sie sich noch so lange hielt! Jetzt begannen Sorgen und Beratungen, wie die Sache wieder in Ordnung zu bringen sei; man bedauerte die Gluckhenne mit den Küchlein und ging langsam auseinander, nachdem man streng verboten hatte, Ilja Iljitsch an die Galerie heranzulassen. Dann befahl man nach etwa drei Wochen Andjuschka, Pjetruschka und Wassjka, die herabgestürzten Bretter und Geländer zu den Scheunen hinzuschleppen, damit sie nicht im Wege lagen. Dort verblieben sie bis zum Frühling. Jedesmal, wenn der alte Oblomow sie aus dem Fenster erblickte, erfüllte ihn der Gedanke an die Reparatur mit Sorge; er ließ den Zimmermann kommen, begann sich mit ihm zu beraten, was vorzuziehen sei, der Bau einer neuen Galerie oder die Demolierung der Überreste; dann schickte er ihn mit den Worten nach Hause: »Geh nur, ich werd's mir überlegen!« Das dauerte so lange, bis Wassjka oder Motjka dem Herrn berichtete, daß, als er diesen Morgen auf die Überreste der Galerie stieg, die Ecken von den Mauern weit wegstanden und jeden Augenblick wieder abstürzen konnten. Dann wurde der Zimmermann zu einer endgültigen Beratung gerufen, deren Ergebnis der Beschluß war, den übergebliebenen Teil der Galerie vorläufig mit den alten Bruchstücken zu stützen, was auch bis zum Ende desselben Monats erfüllt wurde. »Die Galerie ist ja wieder wie neu!« sagte der Alte zu seiner Frau. »Schau einmal, wie schön Fjedot die Balken verteilt hat, wie die Säulen am Hause des Adelsmarschalls! Jetzt ist's in Ordnung, und für lange Zeit.« Jemand erinnerte ihn daran, daß man bei dieser Gelegenheit auch das Haustor und die Stiege reparieren könnte, weil nicht nur die Katzen, sondern auch die Schweine durch die Stufen in den Keller krochen. »Ja, ja, das sollte man«, antwortete Ilja Iwanowitsch besorgt und ging sofort die Stiege besichtigen. »Sie wackelt wirklich!« sagte er und brachte die Stiege mit dem Fuß wie eine Wiege ins Wackeln. »Sie hat ja auch damals gewackelt, als man sie gemacht hat«, bemerkte jemand. »Und hat es etwas geschadet?« erwiderte Oblomow; »sie ist nicht auseinandergefallen, obschon sie seit sechzehn Jahren nicht repariert wurde. Luka hat sie damals gut gebaut! ... Das war ein Zimmermann, wie er sein soll ... er ist schon tot – Gott hab' ihn selig! Heutzutage sind die Leute nichts mehr wert; sie können so etwas nicht nachmachen.« Und er wandte seine Augen zur Seite ab, und die Stiege soll, wie man sagt, bis heute wackeln und noch immer nicht zerfallen sein. Luka scheint wirklich ein tüchtiger Zimmermann gewesen zu sein. Man muß den Herrschaften übrigens Gerechtigkeit widerfahren lassen. Manchmal konnten sie bei einem Unglück oder einer Unannehmlichkeit in große Unruhe und sogar in Erregung und Zorn geraten. Wie hatte man nur das oder jenes vernachlässigen und beim alten lassen können? Man muß gleich irgendwelche Maßregeln aufbieten. Und man spricht von nichts anderem als nur davon, wie man zum Beispiel die Brücke, die über den Graben führt, reparieren soll oder wie der Garten an einer Stelle zu umzäunen ist, damit das Vieh die Bäume nicht schädigt, denn ein Teil des Geheges ist ganz auf der Erde. Ilja Iwanowitsch ließ sich durch seine Sorgsamkeit sogar so weit hinreißen, daß er einmal im Garten herumspazierend das Gehege eigenhändig ächzend und stöhnend in die Höhe hob und dem Gärtner befahl, schnell zwei Pfähle hinzustellen. Dank dieser Anordnung Oblomows blieb das Gehege den ganzen Sommer so stehen und wurde erst im Winter durch den Schnee wieder umgeworfen. Endlich ging man sogar so weit, auf die Brücke drei neue Bretter zu legen, gleich nachdem Antip mit dem Pferd und dem Faß in den Graben gefallen war. Er war nach dem Fall noch nicht einmal ganz hergestellt, als die Brücke schon wieder neu hergerichtet war. Die Kühe und Ziegen hatten durch den neuen Fall des Geheges im Garten auch nicht viel gewonnen. Sie hatten nur die Johannisbeerstauden abgenagt und erst den zehnten Lindenbaum in Angriff genommen, ohne noch die Apfelbäume erreicht zu haben, als der Befehl erlassen wurde, das Gehege ordentlich wieder herzustellen und es sogar mit einer Rinne zu umgeben. Die beiden Kühe und die Ziege, die auf frischer Tat ertappt wurden, kriegten ihr Teil ab. Man bleute ihnen gehörig die Seiten durch! Ilja Iljitsch träumte noch von dem großen dunklen Salon im Elternhause mit alten Lehnstühlen aus Erlenholz, die immer mit Überzügen bedeckt waren, mit einem ungeheuren, plumpen und harten Sofa, das mit verblaßtem, fleckigem, blauem Berkan gepolstert war, und mit einem großen Lederfauteuil. Der lange Winterabend beginnt. Die Mutter sitzt mit eingezogenen Füßen auf dem Sofa und strickt träge einen Kinderstrumpf, indem sie gähnt und sich ab und zu mit der Stricknadel den Kopf kratzt. Neben ihr sitzen Nastassja Iwanowna und Pjelageja Ignatjewna, stecken ihre Nasen in die Arbeit und nähen fleißig etwas zu den Feiertagen für Iljuscha oder für seinen Vater oder für sich selbst. Der Vater geht mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab und ist dadurch sehr befriedigt, oder er setzt sich in einen Lehnstuhl und beginnt, nachdem er eine Weile gesessen hat, wieder herumzugehen, aufmerksam dem Widerhall seiner Schritte lauschend. Dann schnupft er Tabak, schneuzt sich und schnupft wieder. Im Zimmer brennt dunkel eine einzige Unschlittkerze, und auch das wird nur an Winter- und Herbstabenden zugelassen. An den Sommerabenden bestrebten sich alle, ohne Kerzen, bei Tageslicht, schlafen zu gehen und aufzustehen. Das wurde teils aus Gewohnheit, teils aus Sparsamkeitsrücksichten getan. Die Oblomower geizten sehr mit jedem Gegenstand, der nicht im Hause erzeugt, sondern durch Kauf erworben wurde. Sie würden sehr gastfreundlich einen prachtvollen Truthahn oder ein Dutzend junger Hühner zur Ankunft eines Gastes abstechen, würden aber keine überflüssige Rosine in die Speisen legen und erblassen, wenn derselbe Gast sich eigenmächtig das Glas mit Wein vollschenkte. Übrigens kam dort ein solches Vergehen fast gar nicht vor; das tat höchstens irgend ein Waghals, ein in der öffentlichen Meinung verlorener Mensch; ein solcher Gast wurde gar nicht in den Hof hereingelassen. Nein, dort herrschten andere Sitten. Der Gast rührte dort nichts an, bevor er dreimal genötigt worden war. Er wußte sehr wohl, daß das einmalige Nötigen eher die Bitte einschloß, vom angebotenen Gericht oder Wein abzustehen, als sie zu kosten. Man zündete auch nicht für einen jeden zwei Kerzen an. Die Kerzen wurden in der Stadt für bares Geld gekauft und wurden wie alle gekauften Sachen von der Hausfrau selbst hinter Schloß und Riegel aufbewahrt. Die Stummeln wurden sorgfältig gezählt und aufgehoben. Überhaupt liebte man es dort nicht, Geld auszugeben, und so notwendig man einen Gegenstand auch brauchte, gab man dafür nur mit großem Herzweh und nur dann Geld aus, wenn die Ausgabe unbedeutend war. Das Bezahlen eines großen Geldbetrages wurde von Stöhnen, Weinen und Schimpfen begleitet. Die Oblomower willigten eher ein, Unbequemlichkeiten aller Art zu ertragen, und gewöhnten sich sogar, diese nicht mehr als solche anzusehen, als Geld auszugeben. Darum ist das Sofa im Salon längst fleckig, darum heißt auch Ilja Iwanowitschs Fauteuil nur Ledersessel, in Wirklichkeit besteht es halb aus Bast und halb aus Stricken; vom Leder ist nur auf der Lehne ein Fleck geblieben, und das übrige ist schon vor fünf Jahren in Stücke zerfallen und hat sich abgeschält; darum ist vielleicht das Haustor noch immer schief und wackelt die Stiege. Wenn man aber für etwas, es mochte noch so notwendig sein, auf einmal zwei-, drei-, fünfhundert Rubel zahlen sollte, erschien ihnen das wie ein Selbstmord. Als der alte Oblomow hörte, daß einer der jungen Gutsbesitzer der Umgegend nach Moskau gereist war und dort für ein Dutzend Hemden dreihundert Rubel, für Stiefel fünfundzwanzig Rubel und für eine Weste zur Hochzeit vierzig Rubel gezahlt hatte, schlug er ein Kreuz und sagte schnell, man müsse einen solchen Kerl ins Gefängnis stecken. Sie waren überhaupt für die Theorien der Sozialwissenschaft von der Notwendigkeit einer raschen und lebhaften Zirkulation des Kapitals, von der verstärkten Produktivität und dem Austausch der Produkte taub. Sie glaubten in ihrer Einfalt, die einzige Verwendung des Kapitals wäre, es im Koffer liegen zu lassen, was sie denn auch taten. Auf den Lehnstühlen des Salons sitzen und schnaufen in verschiedenen Stellungen die Bewohner oder die gewohnten Gäste des Hauses. Unter den Anwesenden herrscht zum größten Teil tiefes Schweigen. Man sieht einander täglich, die gegenseitigen geistigen Schätze sind erschöpft und erforscht, und von außen erhält man nur wenig Neues. Es ist still; man hört nur die Schritte der schweren, zu Hause angefertigten Stiefel Ilja Iwanowitschs, außerdem tickt das Pendel der Wanduhr dumpf im Gehäuse, und der von Zeit zu Zeit von Pjelageja Ignatjewna oder von Nastassja Iwanowna mit der Hand oder mit den Zähnen abgerissene Faden stört die tiefe Stille. So vergeht manchmal eine halbe Stunde, die durch nichts anderes als durch das laute Gähnen von irgend jemand unterbrochen wird, der dann den Mund bekreuzigt und sagt: »Der Herr erbarme sich!« Nach ihm gähnt sein Nachbar, dann öffnet der nächste langsam, wie auf ein Kommando, den Mund und so weiter; das ansteckende Spiel der Luft in der Lunge macht die ganze Runde, wobei manchem die Tränen kommen. Oder Ilja Iwanowitsch tritt ans Fenster, blickt hinaus und sagt mit einiger Verwunderung: »Es ist erst fünf Uhr, und draußen ist es schon so dunkel!« »Ja«, antwortet irgend jemand, »um diese Zeit ist es immer dunkel; jetzt beginnen die langen Abende.« Und im Frühling wundert und freut man sich, daß lange Tage beginnen. Wenn man sie gefragt hätte, wozu sie diese langen Tage brauchen, würden sie es selber nicht gewußt haben. Und dann schweigen sie wieder. Dann beginnt irgendwer die Kerze zu putzen und löscht sie plötzlich aus – alles kommt in Bewegung: »Das bedeutet einen unverhofften Gast!« sagt sicher jemand. Manchmal wird dieser Vorfall zum Ausgangspunkt eines Gespräches. »Was könnte das für ein Gast sein?« sagte die Hausfrau, »vielleicht gar Nastassja Fadjewna? Ach, das wäre schön! Aber nein: sie wird vor dem Feiertag nicht kommen. Das wäre eine Freude! Wie wir uns da umarmen und zusammen weinen würden. Wir würden die Früh- und die Mittagsmesse zusammen halten ... Ich kann ihr aber nicht nachkommen! Obwohl ich jünger bin, kann ich nicht so lange stehen!« »Wann ist sie denn von uns abgereist?« fragte Ilja Iwanowitsch, »mir scheint, nach dem Eliastag.« »Was du sagst, Ilja Iwanowitsch! Du verwechselst immer alles. Sie hat nicht einmal den Sjemik 2 abgewartet!« verbesserte die Frau. »Mir scheint, sie war hier zu den Petrifasten«, entgegnete Ilja Iwanowitsch. »Du machst es immer so!« sagte die Frau vorwurfsvoll, »du streitest und stellst dich dabei ganz bloß ...« »Warum soll sie denn nicht zu den Petrifasten hiergewesen sein? Mat hat damals noch immer Pirogen mit Pilzen gebacken, sie liebt das ...« »Das war ja Marja Onissimowna. Die liebt Pirogen mit Pilzen – wieso weißt du das nicht mehr? Und auch Marja Onissimowna war nicht bis zum Eliastag, sondern bis zum heiligen Prochor und Nikonor bei uns auf Besuch.« Sie berechneten die Zeit nach den Feiertagen, den Jahreszeiten, nach den verschiedenen Ereignissen im Hause und in der Familie, ohne jemals auf den Monat oder das Datum hinzuweisen. Das geschah teilweise auch deshalb, weil außer Oblomow selbst alle anderen sowohl die Benennung der Monate als auch die Reihenfolge des Datums verwechselten. Der besiegte Ilja Iwanowitsch schweigt, und die ganze Gesellschaft beginnt wieder vor sich hinzudämmern. Iljuscha, der sich hinter den Rücken der Mutter verkrochen hat, döselt auch vor sich hin oder schläft manchmal ganz ein. »Ja«, sagt dann jemand von den Gästen tief seufzend, »Marja Onissimownas Mann, der verstorbene Wassilij Fomitsch, war, Gott habe ihn selig, so gesund und ist doch gestorben! Er hat nicht einmal sechzig Jahre gelebt; so einer hätte hundert Jahre leben sollen!« »Wir werden alle sterben; wann ein jeder von uns sterben wird, das ist Gottes Wille!« entgegnet Pjelageja Ignatjewna seufzend. »Die einen sterben, und bei Chlopows soll man kaum Zeit zum Taufen haben; man sagt, Anna Andrjewna ist schon wieder niedergekommen – zum sechstenmal.« »Jetzt geht es noch«, sagte die Hausfrau, »wieviel Scherereien wird's aber erst geben, wenn ihr Bruder heiratet und Kinder bekommt! Auch die jüngeren wachsen heran und müssen auch heiraten; man muß dort die Töchter verheiraten, und wo gibt es hier Bräutigame? Jetzt wollen ja alle eine Mitgift und noch dazu in barem Geld ...« »Worüber sprecht ihr?« fragte Ilja Iwanowitsch herantretend. »Wir sprechen darüber, daß ...« und man wiederholt ihm das Gespräch. »So ist das menschliche Leben!« bemerkt Ilja Iwanowitsch belehrend, »der eine stirbt, der zweite wird geboren, der dritte heiratet, und wir werden immer älter. Ein Tag gleicht ebensowenig dem andern wie ein Jahr dem andern! Warum ist das so? Wie schön wäre es, wenn jeder Tag so wie der gestrige und gestern wie morgen wäre! ... Es ist traurig, wenn man darüber nachdenkt.« »Der Alte altert und der Junge wächst«, sagte jemand in der Ecke mit schläfriger Stimme. »Man muß mehr zu Gott beten und über nichts nachdenken!« bemerkte die Hausfrau streng. »Das ist wahr, das ist wahr«, antwortete Ilja Iwanowitsch schnell und ängstlich, nachdem er zu philosophieren versucht hatte, und begann wieder auf und ab zu gehen. Man schweigt wieder lange Zeit; es ist nur das Zischen des durch die Nadel hin und her gezogenen Zwirns zu hören. Manchmal hob die Hausfrau das Schweigen auf. »Ja, es ist draußen dunkel«, sagt sie. »Wenn wir, so Gott will, die Feiertage erleben, werden die Verwandten auf Besuch kommen, dann wird es lustig sein und die Abende werden unmerklich vergehen. Wie lustig es wäre, wenn Malanja Pjetrowna käme! Was sie für Einfälle hat! Zinn gießen, Wachs schmelzen und vor das Haustor laufen; sie bringt mir alle Mädchen auf Abwege. Sie denkt sich allerlei Spiele aus ... so ist sie!« »Ja, sie ist eine Weltdame!« bemerkte jemand der Anwesenden. »Vor drei Jahren ist es ihr auch eingefallen, Bergrutschen zu veranstalten; damals als Luka Sawitsch sich die Braue zerschlagen hat ...« Plötzlich kam Leben in alle, man blickte Luka Sawitsch an und brach in Gelächter aus. »Wie ist denn das mit dir geschehen, Luka Sawitsch? Nun, erzähle einmal!« sagte Ilja Iwanowitsch und schüttelte sich vor Lachen. Und alle fahren fort zu lachen; Iljuscha ist erwacht und lacht auch mit. »Was ist denn da zu erzählen?« sagte der verlegene Luka Sawitsch. »Das alles hat Alexej Naumitsch sich ausgedacht: es ist ja gar nichts geschehen!« »Wieso denn?« entgegneten alle im Chor. »Wieso soll denn nichts geschehen sein? Sind wir denn gestorben? ... Und was ist denn mit der Stirn? Es ist darauf noch bis jetzt eine Schramme zu sehen ...« Und man lachte wieder. »Warum lacht ihr denn?« versuchte Luka Sawitsch während der Lachpause zu sagen. – »Es wäre ja sonst ... nichts geschehen ... aber Wassjka, dieser Schuft ... hat mir einen alten Handschlitten gegeben ... er ist unter mir auseinandergegangen, und da ist's geschehen ...« Allgemeines Gelächter übertönte seine Stimme. Er bestrebte sich vergeblich, die Geschichte seines Falles zu Ende zu erzählen. Das Lachen hatte die ganze Gesellschaft erfaßt, drang ins Vorzimmer und in die Mägdekammer, bemächtigte sich des ganzen Hauses, alle erinnerten sich an den komischen Vorfall, alle lachen lange, auf einmal und unbeschreiblich wie die olympischen Götter. Sowie sie aufzuhören beginnen, fängt irgend jemand wieder von neuem an – und dann geht's wieder los. Endlich gelingt es ihnen nach großer Mühe, sich zu beruhigen. »Nun, wirst du zu den Feiertagen wieder Schlitten rutschen?« fragt Ilja Iwanowitsch nach einer Weile. Jetzt kam ein neuer Lachausbruch, der zehn Minuten anhielt. »Soll man vielleicht Antipka sagen, er möchte zu den Fasten einen Berg machen?« sagt Oblomow von neuem. »Luka Sawitsch soll ein großer Liebhaber davon sein; er kann's gar nicht erwarten ...« Das Lachen der ganzen Gesellschaft ließ ihn nicht ausreden. »Ist denn jener ... Handschlitten noch ganz?« sagte einer der Anwesenden durch das Lachen hindurch. Ein erneutes Gelächter. Alle lachten lange und begannen endlich nach und nach zu verstummen; der eine trocknete sich die Tränen, der zweite schneuzte sich, der dritte hustete und spuckte wütend und sagte dabei mit Mühe: »Ach du mein Gott! Der Schleim erstickt mich ganz ... Wie er uns damals lachen gemacht hat! Bei Gott, das war eine Sünde! Wie er mit dem Rücken nach oben gelegen hat, und die Rockschöße waren auseinander ...« Hierauf erfolgte der endgültig letzte, andauerndste Lachanfall, und dann schwiegen alle. Der eine seufzte, der andere gähnte laut mit einem Spruche, und alles versenkte sich in Schweigen. Man hörte wie früher nur das Ticken des Pendels, das Klopfen von Oblomows Stiefeln und das leise Knistern des abgebissenen Fadens. Plötzlich blieb Ilja Iwanowitsch mit beunruhigter Miene mitten im Zimmer stehen und griff sich an die Nasenspitze. »Was ist denn das für ein Unglück? Schau einmal!« sagte er. »Es wird eine Leiche sein; mir juckt immer die Nasenspitze ...« »Ach du mein Gott!« sagte die Frau, die Hände zusammenschlagend. »Was für eine Leiche soll denn das sein, wenn die Nasenspitze juckt? Wenn die Nasenwurzel juckt, dann kommt eine Leiche. Wie vergeßlich du bist, Ilja Iwanowitsch, Gott sei mit dir! Wenn du das vor irgend jemand, zum Beispiel vor Gästen, sagtest, wäre das eine Schande.« »Was bedeutet es denn, wenn die Nasenspitze juckt?« fragte Ilja Iwanowitsch verlegen. »Daß du ins Glas schauen wirst. Wie kann man denn sagen, daß es eine Leiche bedeutet?« »Ich verwechsle das immer!« sagte Ilja Iwanowitsch. »Wie soll man sich denn das alles merken? Bald juckt die Nase an der Seite, bald an der Spitze, bald an den Brauen ...« »An der Seite«, fing Pjelageja Iwanowna an, »bedeutet Neuigkeiten, wenn die Brauen jucken, kommen Tränen, an der Stirne bedeutet es, daß man sich verneigen wird, wenn sie an der rechten Seite juckt, vor einem Manne, wenn es die linke Seite ist, vor einer Frau; wenn die Ohren jucken, kommt Regen, die Lippen bedeuten Küsse, der Schnurrbart, daß man geschenkte Leckereien essen wird, der Ellbogen, daß man an einem neuen Ort schlafen wird, die Sohlen – eine Reise ...« »Nun, Pjelageja Iwanowna, du bist ein Hauptkerl!« sagte Ilja Iwanowitsch. »Oder, wenn die Butter billig wird, dann juckt vielleicht der Nacken ...« Die Damen begannen zu lachen und zu flüstern; mancher von den Herren lächelte; es wurde wieder ein Lachausbruch vorbereitet, doch in diesem Augenblick ertönte es zugleich wie das Knurren eines Hundes und das Fauchen einer Katze, wenn sie bereit sind, aufeinander loszustürzen. Das war das Schlagen einer Uhr. »Aber es ist ja schon neun Uhr!« sagte Ilja Iwanowitsch mit freudigem Erstaunen. »So was, man merkt ja gar nicht, wie die Zeit vergeht. Heh, Wassjka! Wanjka! Motjka!« Es erschienen drei verschlafene Gesichter. »Warum deckt ihr nicht die Tische?« fragte Oblomow erstaunt und ärgerlich. »Ihr denkt gar nicht an die Herrschaft! Nun, was steht ihr da? Schnell den Schnaps her!« »Darum hat die Nasenspitze gejuckt!« sagte Pjelageja Iwanowna lebhaft. »Sie werden Schnaps trinken und dabei ins Glas schauen.« Nach dem Abendbrot gehen alle in ihre Betten, nachdem sie einander geküßt und bekreuzigt haben, und der Schlaf herrscht über den sorglosen Häuptern. Ilja Iljitsch träumt nicht von einem und nicht von zwei solchen Abenden, sondern von einer Reihe von Wochen, Monaten und Jahren, während welcher die Tage und Abende auf diese Weise verlebt wurden. Nichts störte die Eintönigkeit dieses Lebens, die den Oblomowern nicht zur Last fiel, da sie sich gar keine andere Lebensweise vorstellten; und selbst wenn sie es könnten, würden sie sich entsetzt davon abwenden. Sie würden kein anderes Leben wünschen und lieben. Es täte ihnen leid, wenn die Verhältnisse ihnen Veränderungen aufzwängen, was für welche es auch sein mochten. An ihnen würde Bangigkeit nagen, wenn das Morgen nicht dem Heute und das Übermorgen nicht dem Morgen ähnlich wäre. Wozu brauchen sie Ereignisse, Veränderungen, Zufälle, welche die anderen fordern? Mögen die anderen den Brei essen, den sie sich eingebrockt haben, aber sie, die Oblomower, geht das alles nichts an. Die anderen mochten leben, wie sie wollten. Sind doch die Zufälle selbst dann beunruhigend, wenn sie Gewinn bringen; sie erfordern Scherereien, Sorgen, man muß herumrennen, darf nicht auf einer Stelle sitzenbleiben, muß handeln oder schreiben, sich, mit einem Wort, bewegen; ist denn das ein Spaß! Sie haben ganze Jahrzehnte lang geschnauft, geschlummert, gegähnt oder sind bei den Äußerungen ihres ländlichen Humors in gutmütiges Gelächter ausgebrochen oder haben sich zu einer Runde versammelt und erzählt, was einem jeden von ihnen geträumt hat. Wenn der Traum schaurig war, sannen alle nach und fürchteten sich ernstlich; wenn er prophetisch war, freuten sich alle aufrichtig oder waren betrübt, je nachdem, ob sie etwas Trauriges oder Trostreiches im Traume gesehen hatten. Wenn der Traum die Erfüllung irgendeines Vorzeichens erforderte, wurden diesbezüglich energische Maßregeln getroffen. Oder man spielte Schwarzen Peter, Meine Tante – deine Tante und an den Feiertagen mit den Gästen Boston; man legte auch Karten, indem man den Cœur-König und die Treff-Dame zum Mittelpunkt nahm und eine Heirat wahrsagte. Manchmal kam irgendeine Natalja Fadjewna für eine oder zwei Wochen auf Besuch. Zuerst nahmen die Alten die ganze Umgegend durch, wie ein jeder lebte und was er tat; sie drangen nicht nur in die Familienverhältnisse, in das Leben hinter den Kulissen, sondern auch in die geheimen Gedanken und Vorsätze, in das Innere der Seele eines jeden ein; sie beschimpften und verurteilten die Unwürdigen, besonders die untreuen Männer, zählten dann die verschiedenen Ereignisse auf: Namenstage, Taufen, Geburtstage, wer womit bewirtet hat, wer eingeladen war und wer nicht. Dadurch ermüdet, beginnen sie sich alle ihre neuen Kleidungsstücke zu zeigen, die Kleider, Mäntel, sogar die Unterröcke und die Strümpfe. Die Hausfrau prahlt mit irgendwelchen Leinenstücken, mit Zwirn und Spitzen häuslicher Arbeit. Doch auch diese Unterhaltung erschöpft sich. Dann nimmt man Kaffee, Tee und Eingesottenes zu Hilfe. Und zuletzt geht man zum Schweigen über. Man sitzt lange da, blickt einander an und seufzt ab und zu tief auf. Manchmal beginnt eine von ihnen zu weinen. »Was hast du, Mütterchen?« fragte eine andere beunruhigt. »Ach, Täubchen, es ist traurig!« antwortet der Gast tief seufzend. »Wir Unglücklichen haben Gott erzürnt. Es wird nichts Gutes dabei herauskommen.« – »Ach, Liebe, jage uns keine Furcht ein!« unterbricht die Hausfrau sie. – »Ja, ja«, fährt jene fort, »es kommen die letzten Tage; ein Volk wird sich gegen ein anderes erheben, ein Reich gegen ein anderes ... es kommt der Weltuntergang!« spricht endlich Natalja Fadjewna zu Ende, und beide weinen bitterlich. Natalja Fadjewna hat keinerlei Grund, eine solche Annahme zu machen, niemand hat sich gegen einen anderen erhoben, es hat in jenem Jahre nicht einmal einen Kometen gegeben; aber die alten Frauen haben zuweilen dunkle Ahnungen. Manchmal wurde dieser Zeitvertreib durch irgendeinen unerwarteten Zufall gestört; wenn zum Beispiel im ganzen Hause klein und groß an Kohlendunst erkrankte. Von anderen Krankheiten hörte man im Hause oder im Dorfe kaum jemals; höchstens daß jemand sich im Dunkeln an einem Pfahl stieß oder vom Heuboden herabrutschte oder daß vom Dach ein Brett herabfiel und jemand auf den Kopf traf. Doch das alles kam selten vor, und gegen solche Zufälle wurden bewährte Hausmittel angewandt; die verletzte Stelle wurde mit Flußschwamm und Bertram eingerieben. Man gab Weihwasser zu trinken oder sagte ein Sprüchlein – und alles wurde wieder gut. Doch der Kohlendunst verursachte ihnen oft Beschwerden. Dann wälzten sich alle auf den Betten herum; man hörte ein Ächzen und Stöhnen; der eine belegte sich den Kopf mit Gurken und verband ihn sich mit dem Handtuch, der andere legte sich Moosbeeren in die Ohren und roch Meerrettich, der dritte ging im Hemd in den Frost hinaus, der vierte lag einfach bewußtlos am Fußboden herum. Das kam periodisch ein- oder zweimal im Monat vor, denn man liebte es nicht, die Wärme unnütz zum Schornstein hinauszulassen, und machte die Öfen schon zu, wenn darin noch solche Feuerzungen sprühten wie in »Robert der Teufel«. Man konnte keinen einzigen Ofen und keine einzige Ofenbank berühren, ohne daß man Blasen bekam. Aber einmal wurde die Eintönigkeit ihres Lebens durch einen wahrhaft unverhofften Vorfall gestört. Als alle vom schweren Mittagessen ausgeruht hatten und sich zum Tee versammelten, kam plötzlich ein aus der Stadt zurückgekehrter Bauer herein, machte sich lange mit seinem Brustlatz zu schaffen und zog endlich einen zerdrückten, an Ilja Iwanowitsch Oblomow gerichteten Brief hervor. Alle wurden starr; die Hausfrau wechselte sogar ihre Gesichtsfarbe; aller Augen richteten sich und aller Nasen reckten sich nach dem Brief hin. »Wie sonderbar! Von wem ist das?« sagte endlich die Gnädige, als sie wieder zur Besinnung gekommen war. Oblomow ergriff den Brief und drehte ihn verblüfft in den Händen herum, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte. »Wo hast du das her?« fragte er den Bauer. »Wer hat dir's gegeben?« »Im Gasthof, wo ich in der Stadt abgestiegen bin«, antwortete der Bauer. »Man ist zweimal von der Post fragen gekommen, ob keine Bauern aus Oblomowka da sind; es wäre ein Brief für den gnädigen Herrn da.« »Nun? ...« »Nun, ich hab' mich zuerst versteckt, und der Soldat ist mit dem Brief fortgegangen. Aber der Küster aus Werchljowo hat mich gesehen und hat's gesagt. Man ist zum zweitenmal hingekommen. Als sie zum zweitenmal gekommen sind, haben sie geschimpft und mir den Brief gegeben und haben noch fünf Kopeken von mir genommen. Ich hab' gefragt, was ich damit tun soll, wo ich ihn hingeben soll. Da haben sie es Eurem Wohlgeboren abzugeben befohlen.« »Du hättest ihn nicht nehmen sollen«, bemerkte die Gnädige unzufrieden. »Ich wollte ihn ja gar nicht nehmen. Wozu brauchen wir denn einen Brief? – Wir brauchen keinen. Man hat uns nicht befohlen, Briefe anzunehmen, ich trau' mich nicht; geht selbst mit dem Brief hin! Da hat der Soldat aber sehr geschimpft; er wollte sich bei der Obrigkeit beklagen; da hab' ich ihn genommen.« »Dummkopf!« sagte die Gnädige. »Von wem kann er denn sein?« sagte Oblomow nachdenklich, die Adresse betrachtend. »Die Handschrift kommt mir bekannt vor, wirklich!« Und der Brief wanderte aus einer Hand in die andere. Jetzt begann man Voraussetzungen und Annahmen zu machen, von wem und worüber er sein konnte. Endlich waren alle ganz ratlos. Ilja Iwanowitsch befahl, seine Brille zu holen; man suchte sie anderthalb Stunden. Er setzte sie auf und dachte schon daran, den Brief zu öffnen. »Laß das, Ilja Iwanowitsch, öffne ihn nicht«, hielt ihn seine Frau ängstlich auf. »Wer weiß, was das für ein Brief ist! Vielleicht ist etwas Schreckliches, irgendein Unglück darin. Man kann ja vom heutigen Volk alles erwarten! Du wirst noch morgen oder übermorgen früh genug alles erfahren – er läuft dir ja nicht davon.« Und der Brief wurde mit der Brille hinter Schloß und Riegel aufbewahrt. Alle gaben sich nun mit dem Tee ab. Der Brief hätte dort jahrelang liegenbleiben können, wenn er nicht ein zu außergewöhnliches Ereignis gewesen wäre und die Oblomower nicht in solchen Aufruhr versetzt hätte. Beim Tee und auch am nächsten Tage wurde von nichts anderem als von dem Brief gesprochen. Endlich ertrugen sie es nicht länger, versammelten sich am vierten Tage und öffneten ihn ängstlich. Oblomow blickte auf die Unterschrift. »Radischtschew«, las er. »Ah, das ist ja von Philipp Matweitsch!« »Ah so! Von dem!« ertönte es von allen Seiten. »Er lebt also noch immer? Ist er noch nicht gestorben! Nun, Gott sei Dank! Was schreibt er?« Oblomow begann laut vorzulesen. Es ergab sich, daß Philipp Matweitsch ihn das Rezept des Bieres zu schicken bat, das in Oblomowka besonders gut gebraut wurde. »Man muß es ihm schicken!« sagten alle, »und ihm einen Brief schreiben.« So vergingen etwa zwei Wochen. »Man muß ihm schreiben!« sagte Ilja Iwanowitsch wiederholt zu seiner Frau. »Wo ist denn das Rezept?« »Ja, wo ist es?« antwortete die Frau. »Man muß es erst finden. Aber warum hast du es so eilig? Wenn Gott uns den Feiertag erleben läßt und wir zu fasten aufhören, dann wirst du ihm schreiben; es ist auch dann noch Zeit ...« »Das ist wahr, ich schreibe ihm zu den Feiertagen«, sagte Ilja Iwanowitsch. Zu den Feiertagen kam man wieder auf den Brief zu sprechen. Ilja Iwanowitsch machte endgültig Anstalten, zu schreiben. Er zog sich in das Arbeitszimmer zurück, nahm die Brille und setzte sich an den Tisch. Im Hause herrschte tiefe Stille; es wurde den Dienstboten zu stampfen und zu lärmen verboten. »Der gnädige Herr schreibt!« sagten alle mit so ängstlicher und ehrfurchtsvoller Stimme, mit der man spricht, wenn im Hause ein Toter ist. Kaum hatte er langsam, schief, mit zitternder Hand und mit einer Vorsicht, als hätte er etwas Gefährliches auszuführen, »Geehrter Herr« niedergeschrieben, als seine Frau erschien. »Ich habe überall gesucht, das Rezept ist nicht da«, sagte sie. »Ich muß noch im Schlafzimmer im Schrank nachsehen. Und wie soll man denn den Brief schicken?« »Mit der Post«, antwortete Ilja Iwanowitsch. »Und was kostet es dahin?« Oblomow suchte einen alten Kalender hervor. »Vierzig Kopeken«, sagte er. »Da soll man nun vierzig Kopeken für Dummheiten ausgeben«, bemerkte sie, »wir wollen lieber warten, bis es aus der Stadt eine Gelegenheit dorthin gibt. Sage den Bauern, sie sollen sich danach erkundigen.« »Es ist wirklich wahr, wir schicken ihn lieber, wenn eine Gelegenheit da ist«, sagte Ilja Iwanowitsch, kratzte mit der Feder auf dem Tisch herum, steckte sie in das Tintenfaß und nahm die Brille ab. »Das ist in der Tat besser«, schloß er, »der Brief läuft ja nicht davon; wir werden noch Zeit haben, ihn fortzuschicken.« Es ist unbekannt, ob Philipp Matweitsch zu dem Rezept gelangt ist. Ilja Iwanowitsch nahm manchmal auch ein Buch in die Hand – es war ihm ganz gleichgültig, was für eins. Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß das Lesen ein tatsächliches Bedürfnis sein könne, sondern hielt es für einen Luxus, für ein Ding, das man leicht entbehren konnte, ebenso wie man ein Bild an der Wand haben kann oder auch nicht zu haben braucht oder spazierengehen oder auch nicht gehen kann; infolgedessen war es ihm ganz gleichgültig, was das für ein Buch war, er betrachtete es als einen Gegenstand, der zur Zerstreuung bestimmt ist, wenn man sich langweilt oder nichts zu tun hat. »Ich habe schon lange nichts gelesen«, sagt er oder ändert den Satz und sagt, »ich werde einmal ein Buch lesen«, oder er sieht einfach im Vorbeigehen zufällig das ihm vom Bruder überlassene Häuflein Bücher und nimmt, ohne zu wählen, was ihm unter die Hand kommt. Ob er Golikow, »Das neueste Traumbuch«, Cheraskows »Rosiade«, eine Tragödie von Sumarokow oder eine vorjährige Zeitungsnummer hervorzieht, er liest alles mit gleichem Vergnügen, indem er von Zeit zu Zeit bemerkt: »Schau nur, was er sich ausgedacht hat! So ein Schelm! Ach, daß dich der Kuckuck!« Diese Ausrufe bezogen sich auf die Autoren, deren Beruf in sei nen Augen gar keine Achtung verdiente; er hatte sich den Schriftstellern gegenüber sogar jene teilweise Verachtung angeeignet, mit der man sie in früheren Zeiten belegt hat. Er und viele andere hielten den Dichter für einen lustigen Kumpan, einen Bummler, Trunkenbold und Spaßvogel in der Art eines Seiltänzers. Manchmal las er auch aus den vorjährigen Zeitungen laut vor oder teilte die Nachrichten auf folgende Weise mit: »Man schreibt da aus Haag«, sagt er, »daß S.M. der König nach der kurzen Reise wohlbehalten in das Schloß zurückzukehren geruht hat«, und sieht dabei alle Zuhörer über die Brille an. Oder: »In Wien hat der und der Botschafter sein Kreditivschreiben eingehändigt. Und da schreibt man«, las er noch, »daß man die Werke der Frau Genlis ins Russische übersetzt hat.« »Man übersetzt wohl immer nur deswegen«, bemerkt einer der Zuhörer, ein kleiner Gutsbesitzer, »um unsereinem, den Edelleuten, das Geld herauszulocken.« Und der arme Iljuscha mußte immer zu Stolz fahren, um zu lernen. Sowie er am Montag erwacht, erfaßt ihn schon Bangigkeit. Er hört die laute Stimme Wassjkas, der von der Stiege herunterschreit: »Antipe! spann den Schecken an! Der junge Herr fährt zum Deutschen hin.« Sein Herz erbebt. Er geht traurig zur Mutter hin. Diese kennt schon den Grund und beginnt die Pille zu vergolden, indem sie selbst heimlich über die Trennung auf eine ganze Woche seufzt. Man weiß nicht, was alles man ihm an dem Morgen vorsetzen soll, man bäckt für ihn Semmeln und Kringel, gibt ihm Gesalzenes, Gebackenes, Gesottenes, verschiedene Obstmarmeladen und allerlei andere trockene und flüssige Leckereien und selbst Lebensmittel mit. Das alles geschieht in der Voraussetzung, daß man beim Deutschen nicht zu reichlich gefüttert wird. »Dort wird man nicht fett«, sagten die Oblomower; »zu Mittag geben sie Suppe, Braten und Kartoffeln, zum Tee Butter und zum Abendbrot gibt es leere Schüsseln.« Übrigens träumte Ilja Iljitsch meistens von den Montagen, an denen er Wassjkas Stimme, die den Schecken einzuspannen befahl, nicht hörte und an denen die Mutter ihn beim Tee mit einem Lächeln und mit der angenehmen Nachricht empfing: »Heute fährst du nicht; am Donnerstag ist ein großer Feiertag; lohnt es sich denn für drei Tage hin- und herzufahren?« Oder sie erklärt ihm plötzlich, daß jetzt die Gedenkwoche ist. »Jetzt hat man zum Lernen keine Zeit. Wir werden Pfannkuchen backen.« Oder die Mutter blickt ihn auch Montagfrüh forschend an und sagt: »Du hast trübe Augen. Bist du wohlauf?« und schüttelt den Kopf. Der Schelm ist wohlauf wie ein Fisch im Wasser, aber er schweigt. »Bleibe diese Woche zu Hause«, sagt sie, »und dann werden wir sehen, was Gott uns gibt.« Und alle im Hause waren davon überzeugt, daß das Lernen und der Gedenk-Samstag nicht zusammentreffen dürfen oder daß ein Feiertag am Donnerstag ein unbezwingbares Hindernis für das Lernen während der ganzen Woche sei. Nur ab und zu brummte ein Diener oder eine Magd, die des jungen Herrn wegen geschimpft worden waren: »Wart nur, du Tunichtgut! Wirst du schon bald zu deinem Deutschen abfahren?« Ein anderes Mal erscheint plötzlich Antipka beim Deutschen auf dem bekannten Schecken am Anfang oder in der Mitte der Woche, um Ilja Iljitsch abzuholen. »Es ist Marja Sawischna oder Natalja Fadjewna oder es sind die Kusowkows mit allen Kindern zu Besuch gekommen. Sie sollen also mit mir nach Hause fahren!« Und Iljuscha bleibt drei Wochen lang zu Hause, und dann ist die Karwoche nicht mehr weit, oder es kommt ein Feiertag, oder jemand von der Familie beschließt, daß während der Thomaswoche nicht gelernt wird; dann bleiben nur noch zwei Wochen bis zum Sommer, und es lohnt sich nicht hinzufahren; im Sommer ruht der Deutsche selbst aus, so daß man das Lernen am besten bis zum Herbst verschiebt. Und, siehe da ... Ilja Iljitsch erholt sich in dem halben Jahre; und wie er während der Zeit gewachsen ist! Wie dick er geworden ist! Wie gut er schläft! Man kann ihn im Hause gar nicht genug bewundern und bemerkt dabei, daß das Kind mager und blaß ist, wenn es vom Deutschen zurückkehrt. »Wie leicht kann ein Unglück geschehen!« sagten Vater und Mutter, »das Lernen läuft nicht davon, man kann sich aber keine Gesundheit kaufen; die Gesundheit ist das Teuerste im Leben. Er kommt vom Lernen wie aus einem Spital heraus; sein ganzes Fett geht verloren, er wird so mager ... und er ist auch so ein Wildfang; er möchte immer laufen!« »Ja«, bemerkte der Vater, »das Lernen ist kein Spaß, es jagt einen jeden ins Bockshorn.« Und die zärtlichen Eltern suchten nach einem neuen Vorwand, um den Sohn zu Hause zu behalten; es gebrach auch außer den Feiertagen nicht an Ausreden. Im Winter kam es ihnen zu kalt vor, in der Sommerhitze konnte man auch nicht fahren, manchmal regnete es auch, und im Herbst störte die Nässe. Manchmal kommt ihnen Antipka nicht ganz vertrauenswürdig vor; er ist nicht betrunken, schaut aber so wild drein; es könnte etwas zustoßen, er wird irgendwo steckenbleiben oder abstürzen. Die Oblomows bestrebten sich übrigens, jeden Vorwand vor ihren eigenen Augen möglichst zu begründen, besonders aber Stolz gegenüber, der sowohl ihnen ins Gesicht wie auch hinter ihrem Rücken dieser Verzärtelung wegen mit Donnerwettern nicht geizte. Die Zeiten des Prostakows und Skotinins 3 waren längst vorüber. Das Sprichwort: Lernen ist Licht, Unwissenheit Finsternis, wanderte schon durch die Flecken und Dörfer, zugleich mit den durch die Hausierer verbreiteten Büchern. Die Eltern begriffen den Vorteil der Bildung, aber nur den äußern. Sie sahen, daß alle Karriere machten, das heißt einen hohen Rang, Orden und Geld erlangten, und das nur durch Lernen; daß die alten Schreiber, die im Amt verknöcherten Sachkundigen, die bei ihren längst angenommenen Gewohnheiten, Kniffen und Gänsefüßchen gealtert waren, jetzt schlecht dran waren. Es verbreiteten sich drohende Gerüchte von der Notwendigkeit, nicht nur des Schreibens und Lesens kundig zu sein, sondern auch mit allerlei in diesen Kreisen unbekannten Wissenschaften vertraut zu sein. Zwischen einem Titularrat und einem Kollegienassessor hatte sich ein Abgrund aufgetan, der nur durch ein Diplom zu überbrücken war. Die alten Beamten, die als Gewohnheitstiere aufwuchsen und mit Bestechungsgeldern genährt wurden, begannen zu verschwinden. Viele, die noch nicht Zeit gehabt hatten zu sterben, wurden wegen Unverläßlichkeit fortgejagt, andere wurden dem Gerichte übergeben; am glücklichsten waren noch diejenigen zu nennen, welche mit der neuen Sachlage nichts zu tun haben wollten und sich mit heilen Knochen in ihre wohlerworbenen Nester verkrochen. Die Oblomows sahen das alles und begriffen den Vorteil der Bildung, doch nur diesen augenscheinlichen Vorteil. Von dem inneren Bedürfnis, zu lernen, hatten sie noch einen sehr vagen und unbestimmten Begriff, und darum wollten sie für ihren Iljuscha einige glänzende Vorrechte erhaschen. Sie träumten von einer gestickten Uniform für ihn, stellten sich ihn als Bureauchef vor, und die Mutter verstieg sich sogar bis zum Gouverneur; doch sie wollten das alles irgendwie mit billigen Mitteln, mit allerlei Kniffen erreichen, die auf dem Wege zur Bildung und den Ehren verstreuten Steine und Hindernisse heimlich umgehen, ohne sich die Mühe zu geben, darüber zu springen, das heißt, sie wollten ihn nur soviel lernen lassen, daß weder die Seele noch der Körper erschöpft und die gesegnete, in der Kindheit erworbene Fülle verloren werde, bloß um die vorgeschriebene Form einzuhalten und irgend wie ein Zeugnis zu erlangen, in dem es heißen sollte, daß Iljuscha sich alle Wissenschaften und Fertigkeiten angeeignet habe. Dieses ganze Oblomower Erziehungssystem fand in der Stolzschen Methode eine starke Opposition. Der Kampf war beiderseits sehr hartnäckig. Stolz traf seine Gegner offen, geradeaus und beharrlich, und sie wichen den Schlägen durch die erwähnten und durch andere Schliche aus. Der Sieg wurde nie entschieden. Die deutsche Beharrlichkeit hätte vielleicht über den Eigensinn und die Verstocktheit der Oblomower gesiegt, doch der Deutsche stieß in seinem eigenen Hause auf Schwierigkeiten, und das Schicksal wollte es, daß der Sieg sich weder auf die eine noch auf die andere Seite hin neigte. Es handelte sich nämlich darum, daß der Sohn von Stolz Oblomow verwöhnte, indem er ihm die Aufgaben vorsagte oder für ihn übersetzte. Ilja Iljitsch sieht deutlich seine Lebensweise zu Hause und bei Stolz vor sich. Sowie er zu Hause erwacht, steht schon Sacharka, später sein berühmter Kammerdiener Sachar Trofimitsch, vor seinem Bett. Sachar zieht ihm, wie es zuvor die Kinderfrau getan hatte, die Strümpfe und Schuhe an, und Iljuscha, schon ein vierzehnjähriger Knabe, tut nichts, als ihm bald den einen, bald den anderen Fuß hinstrecken; und sowie ihm irgend etwas nicht paßt, versetzt er Sacharka mit dem Fuß einen Stoß auf die Nase. Wenn der unzufriedene Sacharka sich darüber zu beklagen wagte, bekam er auch noch von den Erwachsenen Prügel. Dann kämmt ihn Sacharka, zieht ihm den Rock an, indem er Ilja Iljitschs Hände vorsichtig in die Ärmel steckt, um ihn nicht zu sehr anzustrengen, und erinnert den jungen Herrn daran, daß er das eine oder andere tun muß; zum Beispiel daß man sich des Morgens beim Aufstehen wäscht usw. Wenn Ilja Iljitsch etwas wünscht, braucht er nur zu blinzeln – und drei, vier Diener stürzen hin, um seinen Wunsch zu erfüllen; wenn er etwas fallen läßt, wenn man etwas herunterreichen oder hinlaufen und etwas bringen soll, hat er als ein lebhafter Knabe Lust, sich darüber herzustürzen und alles selbst zu tun, aber der Vater, die Mutter und die drei Tanten schreien fünfstimmig auf: »Wohin? Wozu? Und wozu sind der Wassjka, der Wanjka und der Sacharka da? He! Wassjka! Wanjka! Sacharka! Wo schaut ihr hin, ihr Tagediebe? Wartet nur! ...« Und es gelingt Ilja Iljitsch nicht, irgend etwas selbst zu tun. Später fand er, daß es auch so viel bequemer sei, und lernte selbst zu befehlen: »He, Wassjka! Wanjka! Gib das, gib jenes! Ich will das nicht, ich will etwas anderes! Lauf hin und hol's!« Manchmal wurde ihm die zärtliche Besorgtheit der Eltern lästig. Wenn er über die Stiege oder über den Hof läuft, ertönen plötzlich zehn verzweifelte Stimmen hinter ihm: »Ach, ach! Reicht ihm die Hand, haltet ihn auf! Er fällt, er zerschlägt sich ... Halt, halt!« Wenn er im Winter ins Vorhaus hinausläuft oder das Fenster öffnet – wird wieder gerufen: »Ach, wohin? Das darf man nicht! Lauf nicht, geh nicht, öffne nicht; du wirst dich anstoßen und erkälten ...« Und Iljuscha blieb traurig zu Hause, wie eine exotische Blume in einem Glashause gehegt und gepflegt, und wuchs ebenso wie diese unter Glas langsam und träge. Die nach Betätigung strebenden Kräfte wandten sich nach innen hin und welkten. Und manchmal erwachte er so kräftig, frisch und lustig; er fühlte, daß in ihm etwas wogte und flammte, als hätte sich irgendein Kobold in ihm eingenistet, der ihn immer reizte, bald auf das Dach zu klettern oder auf den Braunen zu steigen und in die Wiesen zu reiten, wo das Gras gemäht wurde, bald sich rittlings auf den Zaun zu setzen oder die Dorfhunde zu necken; oder ihn ergriff plötzlich der Wunsch, durch das Dorf zu rennen, dann ins Feld und durch den Hohlweg in den Birkenhain zu gelangen und sich in drei Sätzen auf den Grund des Grabens zu stürzen oder mit den Dorfjungen Schneeball zu spielen und seine Kräfte zu prüfen. Der Kobold stachelt ihn auf; er sucht sich zu bezähmen, doch endlich erträgt er es nicht mehr und springt plötzlich im Winter ohne Hut von der Stiege in den Hof hinab, von dort aus läuft er durchs Tor, faßt in jede Hand einen Schneeklumpen und eilt dem Haufen der Kinder entgegen. Der frische Wind schneidet ihm ins Gesicht, der Frost zwickt ihn in die Ohren, die Kälte dringt ihm in den Mund und in den Hals ein, und die Brust ist von Freude erfüllt, er rennt mit plötzlicher Beweglichkeit, quietscht und lacht. Er hat die Dorfjungen schon erreicht; er schleudert den Schnee auf sie – vorbei; er hat keine Übung; er wollte gerade einen anderen Schneeball werfen, als ihm ein ganzer Schneeblock das Gesicht bedeckt hat, er fällt; es schmerzt ihn, weil es ihm ungewohnt ist, aber es ist ihm fröhlich zumut, er lacht und hat Tränen in den Augen ... Und im Hause wird gejammert. Iljuscha ist fort. Es wird geschrien und gelärmt. Sacharka stürzt auf den Hof hinaus, ihm folgen Wassjka, Mitjka, Wanjka – sie laufen alle bestürzt auf dem Hof herum. Ihnen rennen, sie bei den Fersen packend, zwei Hunde nach, welche bekanntlich einen Menschen nicht gleichgültig laufen sehen können. Die Burschen stürzen schreiend und stöhnend und die Hunde bellend durch das Dorf hin. Endlich stoßen sie aufeinander und beginnen Gericht zu halten. Der eine wird bei den Haaren gepackt, der andere bei den Ohren, es werden Hiebe ausgeteilt; man droht auch ihren Vätern! Dann bemächtigt man sich des jungen Herrn, wickelt ihn in den mitgebrachten Schafpelz, dann in den Rock des Vaters und in zwei Decken ein und bringt ihn feierlich nach Hause. Zu Hause hatte man schon die Hoffnung verloren, ihn zu sehen, da man ihn für verloren hielt; doch als die Eltern ihn lebend und unversehrt erblicken, ist ihre Freude unbeschreiblich. Man dankte Gott, gab ihm Pfefferminz-, dann Holunder- und abends Himbeertee zu trinken und hielt ihn drei Tage lang im Bett, während ihm nur eines hätte nützen können: wieder Schneeball zu spielen ... Fußnoten 1 Häufig wiederkehrende Beschwörungsformeln in russischen Märchen. 2 Sjemik = Donnerstag nach Ostern, Feiertag. 3 Komödientypen aus »Muttersöhnchen« von Fonwisin. Zehntes Kapitel Zehntes Kapitel Sowie Ilja Iljitschs Schnarchen Sachars Ohr erreicht hatte, sprang er vorsichtig ohne Lärm von der Ofenbank herab, ging auf den Fußspitzen ins Vorhaus, schloß den Herrn ein und begab sich zum Haustor hin. »Ah, Sachar Trofimitsch, willkommen! Man sieht Sie so lange nicht mehr!« sagten die Kutscher, Lakaien, Frauen und Kinder am Haustor. »Was ist denn mit dem Ihrigen? Ist er fortgegangen?« fragte der Hausbesorger. »Er schnarcht«, sagte Sachar düster. »Wieso denn?« fragte der Kutscher, »ich glaube, um diese Zeit ist es ja noch zu früh ... ist er krank?« »Aber gar keine Spur! Er ist besoffen!« sagte Sachar mit einer solchen Stimme, als wäre er auch selbst davon überzeugt. »Werden Sie es glauben? Er hat allein anderthalb Flaschen Madeira und zwei Seidel Kwaß getrunken, und jetzt liegt er da.« »Ach ja!« sagte der Kutscher voller Neid. »Was ist denn heute mit ihm geschehen?« fragte eine von den Frauen. »Nein, Tatjana Iwanowna«, antwortete Sachar, nachdem er ihr einen seiner einseitigen Blicke zugeworfen hatte, »das ist nicht nur heute; er taugt über haupt gar nichts mehr – es ekelt einen, mit ihm zu sprechen!« »Er ist wohl so wie meine Gnädige!« bemerkte sie seufzend. »Wie ist's, Tatjana Iwanowna, fährt sie heute irgendwohin«, fragte der Kutscher, »ich hätte hier in der Nähe einen Gang zu machen!« »Wo denken Sie hin!« antwortete Tatjana, »sie sitzt mit ihrem Herzallerliebsten, und die beiden können sich aneinander nicht satt sehen.« »Er kommt oft zu euch«, sagte der Hausbesorger, »ich habe ihn in den Nächten satt gekriegt, zum Kuckuck. Alle sind schon fortgegangen oder zurückgekehrt, und er kommt zuletzt und schimpft noch, weil das Hauptportal gesperrt ist ... Soll ich denn hier für ihn Wache stehen!« »So einen Dummkopf müßte man suchen, Bruder!« sagte Tatjana. »Was er ihr alles schenkt! Sie putzt sich wie ein Pfau auf und geht mit so wichtiger Miene herum, wenn aber jemand sehen könnte, was für Unterröcke und für Strümpfe sie trägt, wär's eine Schande! Sie wäscht sich zwei Wochen lang nicht den Hals und malt sich das Gesicht an ... manchmal sündigt man und denkt: Ach, du Arme! Du solltest ein Tuch um den Kopf binden und ins Kloster zum Beten pilgern ...« Alle außer Sachar lachten. »Ja, Tatjana Iwanowna zielt nicht vorbei!« sagten beifällige Stimmen. »Aber wirklich!« fuhr Tatjana fort. »Wieso lassen die Herrschaften so eine nur zu sich? ...« »Wohin gehen Sie?« fragte sie jemand, »was haben Sie da für ein Bündel?« »Ich trage ein Kleid zur Schneiderin; meine Modedame schickt mich hin. Es soll ihr zu weit sein! Und wenn ich mit Dunjascha sie einschnüre, können wir dann drei Tage lang nichts mit den Händen tun. Man bricht sie sich fast ab! Nun, es ist Zeit für mich. Lebt unterdessen wohl!« »Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!« sagten einige. »Leben Sie wohl, Tatjana Iwanowna«, sagte der Kutscher. »Kommen Sie heute abend? ...« »Ich weiß nicht; vielleicht komme ich, aber auch nicht ... Leben Sie wohl!« »Leben Sie wohl!« sagten alle. »Lebt wohl ... laßt's euch gut gehen!« antwortete sie im Gehen. »Leben Sie wohl, Tatjana Iwanowna!« rief der Kutscher ihr nochmals nach. »Leben Sie wohl!« antwortete sie laut aus der Ferne. Als sie fort war, schien Sachar darauf zu warten, daß die Reihe zu erzählen an ihn kam. Er setzte sich auf den gußeisernen Pfeiler am Haustor und begann mit den Beinen zu baumeln, indem er die Vorübergehenden und Vorüberfahrenden düster und zerstreut betrachtete. »Nun, was ist heute mit dem Ihrigen, Sachar Trofimitsch?« fragte der Hausbesorger. »Wie immer; er wird vor lauter Fett verrückt«, sagte Sachar, »und alles deinetwegen, ich hab' durch deine Schuld nicht wenig zu ertragen gehabt; alles der Wohnung wegen! Er ist böse, er will nicht ausziehen ...« »Ist denn das meine Schuld?« sagte der Hausbesorger, »meinetwegen könnt ihr bis an euer Ende hier leben; bin ich denn der Hausherr? Man hat mir's befohlen ... Ja, wenn ich der Hausherr wäre, aber das bin ich doch nicht ...« »Was macht er denn, schimpft er?« fragte irgendein Kutscher. »Er schimpfte so, daß ich mich wundere, wie ich die Kraft habe, es zu ertragen!« »Das macht nichts! Das ist ein guter Herr, der immer schimpft«, sagte ein Lakai, indem er langsam eine runde, knarrende Tabatiere öffnete; alle Hände, außer denen von Sachar, streckten sich zum Tabak hin. Es begann ein allgemeines Schnupfen, Niesen und Spucken. »Es ist besser, daß er schimpft«, fuhr der Lakai fort, »je mehr er schimpft, desto besser ist es. Wenn er schimpft, schlägt er wenigstens nicht. Ich habe bei einem Herrn gedient, der hat einen gleich bei den Haaren gepackt, bevor man noch wußte, wofür.« Sachar wartete verächtlich ab, bis er fertig war, und sprach, sich an den Kutscher wendend, weiter: »Einen Menschen um nichts und wieder nichts zu beschämen«, sagte er, »das ist für ihn das wenigste!« »Er ist wohl launisch?« fragte der Hausbesorger. »Und ob!« krächzte Sachar mit Nachdruck und kniff die Augen zu. »Er ist so launisch, daß es das reinste Unglück ist! Das ist ihm nicht recht und jenes auch nicht, man versteht weder zu gehen noch zu reichen, man zerbricht alles, man räumt nicht auf, stiehlt und nascht ... Pfui, daß dich! ... Was er alles gesprochen hat, es war eine Schande zuzuhören! Und weswegen? Es ist noch von der vorigen Woche ein Stückchen Käse zurückgeblieben – es wäre eine Schande, es einem Hund zuzuwerfen –, aber nein, es soll dem Diener um Gottes willen nicht einfallen, es aufzuessen! Er hat danach gefragt – ›es ist nicht da‹, sag' ich, und da geht es los: ›Man muß dich aufhängen‹, sagt er, ›man muß dich in heißem Pech sieden lassen und mit glühenden Zangen zwicken; man muß in dich einen Espenpfahl hineinjagen!‹ sagt er. Und kommt immer näher auf mich zu ... Was glaubt ihr, Brüder, daß neulich geschehen ist? Ich hab' ihm, ich weiß nicht wie – den Fuß verbrüht, da hat er aber gebrüllt! Wenn ich nicht zurückgesprungen wäre, hätte er mich mit der Faust in die Brust gestoßen ... er hat's immer probiert, er hätte mich sicher gestoßen ...« Der Kutscher schüttelte den Kopf, und der Hausbesorger sagte: »Ist das aber ein strenger Herr, er läßt niemandem etwas hingehen!« »Nun, wenn er noch schimpft, ist er ein guter Herr!« sagte immer derselbe Lakai phlegmatisch, »einer, der nicht schimpft, ist schlimmer; er schaut nur und faßt einen plötzlich bei den Haaren, bevor man noch darauf gekommen ist, wofür.« »Dafür ist sein Fuß bis jetzt noch nicht verheilt«, sagte Sachar, ohne die Worte des ihn unterbrechenden Lakaien wieder irgendwie zu beachten, »er schmiert ihn immer noch mit einer Salbe ein; es geschieht ihm schon recht!« »Ja, das ist ein Herr mit Charakter!« sagte der Hausbesorger. »Gott schütze uns vor solchen!« fuhr Sachar fort, »er wird noch einmal einen Menschen umbringen; bei Gott, er bringt einen um! Und eines jeden Unsinns wegen schimpft er gleich ›Kahlköpfiger‹ – ich will nicht zu Ende reden. Und heute hat er sich was Neues ausgedacht; er nennt mich ›giftig‹! Wie die Zunge so was nur aussprechen kann! ...« »Was macht denn das?« sprach immer derselbe Lakai, »Gott sei Dank, daß er schimpft, Gott soll so einem Gesundheit schenken ... Wenn der Herr aber schweigt, dann schaut er einen immer an, wenn man vorübergeht, und stürzt sich plötzlich auf den Diener, so wie es der gemacht hat, bei dem ich gedient habe. Wenn er aber schimpft, dann schadet es nichts ...« »Es ist dir schon recht geschehen«, bemerkte Sachar, sich über die ungebetenen Entgegnungen ärgernd, »ich hätte es dir noch ganz anders gezeigt!« »Was meint er denn, wenn er ›Kahlköpfiger‹ schimpft, Sachar Trofimitsch?« fragte ein fünfzehnjähriger Laufbursche, »vielleicht ›Teufel‹?« Sachar wandte ihm langsam den Kopf zu und ließ seinen trüben Blick auf ihm haften. »Wart nur!« sagte er dann boshaft, »du bist noch jung, Bruder, und dabei sehr naseweis! Ich mach' mir nichts daraus, daß du beim General dienst. Ich packe dich gleich bei den Haaren! Marsch auf deinen Platz!« Der Laufbursche trat zwei Schritte zurück, blieb stehen und blickte die Schar lächelnd an. »Was zeigst du die Zähne?« krächzte Sachar wütend, »wart, wenn ich dich erwische, werde ich dir deine Ohren schon zurechtsetzen; da wirst du nicht mehr grinsen!« Jetzt lief aus dem Portal ein ungewöhnlich großer Lakai in einem Livreefrack mit Tressen und in Gamaschen heraus. Er kam auf den Laufburschen zu, verabfolgte ihm zuerst eine Ohrfeige und nannte ihn dann einen Dummkopf. »Was haben Sie, Matwej Mosseitsch, wofür denn?« sagte der verblüffte und verlegene Laufbursche, indem er sich die Wange hielt und krampfhaft blinzelte. »Was! Du frägst noch?« antwortete der Lakai, »ich suche dich im ganzen Hause, und du bist hier!« Er packte ihn mit der Hand bei den Haaren, beugte ihm den Kopf herab und schlug ihn methodisch, gleichmäßig und langsam dreimal mit der Faust auf den Nacken. »Der Herr hat fünfmal geläutet«, fügte er in Form einer Moralpredigt hinzu, »und man schimpft mich deinetwegen, eines solchen jungen Hundes wegen! Marsch!« Und er wies ihn mit der Hand befehlend auf die Stiege hin. Der Knabe blieb eine Weile verwirrt stehen, blinzelte ein paarmal, blickte den Lakai an, und als er sah, daß von diesem außer einer Wiederholung des Vorangegangenen nichts zu erwarten sei, schüttelte er die Haare und ging wie ein begossener Pudel auf die Stiege. Was das für ein Triumph für Sachar war! »Ordentlich, ordentlich, Matwej Mosseitsch! Noch, noch!« sagte er schadenfroh. »Ach, das ist zu wenig! Danke, Matwej Mosseitsch! Er ist zu naseweis ... Das hast du für den ›kahlköpfigen Teufel‹! Wirst du noch grinsen?« Die Dienerschaft lachte voll Mitgefühl für den strafenden Lakai und für den schadenfrohen Sachar. Nur der Laufbursche fand keine Teilnahme. »Ganz genau so pflegte es mein früherer Herr zu machen«, begann wieder derselbe Lakai, der Sachar immer unterbrochen hatte, »sowie man sich einen guten Tag machen wollte, schien er zu erraten, was du gedacht hast, ging vorüber und packte einen so, wie Matwej Mosseitsch den Andrjuschka gepackt hat. Was macht es denn, wenn einer schimpft! Was schadet es, wenn er einen ›kahlköpfigen Teufel‹ nennt!« »Dich hätte vielleicht auch dein Herr gepackt«, antwortete ihm der Kutscher, auf Sachar hinweisend, »du hast ja den reinsten Filz auf dem Kopf! Wo soll er denn aber Sachar Trofimitsch packen! Er hat ja einen Kopf wie ein Kürbis ... Vielleicht nur bei den zwei Bärten, die er auf den Backenknochen hat; da hätte er schon was zum Packen! ...« Alle lachten, und Sachar war durch diesen Ausfall des Kutschers wie von einem Schlag gerührt, denn das war der einzige unter der Dienerschaft, mit dem Sachar bis dahin freundschaftliche Gespräche geführt hatte. »Wart, bis ich's meinem Herrn sage«, begann er den Kutscher wütend anzukrächzen, »dann findet er auch bei dir etwas, wo er dich anpacken kann. Er wird dir deinen Bart schon glätten; er ist bei dir ganz zerrauft!« »Das ist ein netter Herr, der fremden Kutschern den Bart glättet! Nein, da müßt ihr euch erst eure eigenen anschaffen, dann könnt ihr sie glätten; du bist zu freigebig!« »Soll man vielleicht dich aufnehmen, du Schuft?« krächzte Sachar, »du bist ja nicht einmal wert, daß man dich selbst für meinen Herrn einspannt!« »Das ist mir auch ein Herr!« bemerkte der Kutscher höhnisch, »wo hast du so einen nur aufgegabelt?« Er selbst, der Hausbesorger, der Friseur und der Lakai, der das Schimpfsystem verteidigt hatte, sie alle lachten. »Lacht nur, lacht nur, ich sag's aber dem Herrn!« krächzte Sachar. »Und du«, sagte er, sich an den Hausbesorger wendend, »solltest diese Räuber im Zaume halten und nicht lachen. Wozu bist du hier angestellt? Um Ordnung zu halten. Und was machst du? Ich werd's dem Herrn sagen; wart nur, du kriegst es schon!« »Nun, laß gut sein, Sachar Trofimitsch!« sagte der Hausbesorger, um ihn zu beruhigen, »was hat er dir getan?« »Wie wagt er es, über meinen Herrn so zu sprechen?« entgegnete Sachar leidenschaftlich, auf den Kutscher hinweisend. »Weiß er denn, wer mein Herr ist?« fragte er ehrfurchtsvoll. »Du hast so einen Herrn nicht einmal im Traum gesehen«, sagte er, sich an den Kutscher wendend, »so klug, gut und schön ist er! Und der deinige ist wie ein verhungertes Droschkenpferd! Es ist eine Schande zuzuschauen, wie er auf der braunen Stute vom Hof herausfährt; der reinste Bettler! Ihr eßt ja nur Rettich mit Kwaß. Schau einmal deinen Rock an; man kann die Löcher gar nicht zählen.« Es muß bemerkt werden, daß der Rock des Kutschers ganz ohne Löcher war. »Ja, man findet nicht so leicht einen solchen«, unterbrach ihn der Kutscher und zog geschickt den unter Sachars Arm hervorschauenden Hemdzipfel ganz heraus. »Laßt gut sein!« sagte der Hausbesorger, die Hände zwischen sie streckend. »Was? Du zerreißt mir meine Kleider!« schrie Sachar, noch mehr vom Hemd hervorziehend, »wart, ich zeig's dem Herrn! Schaut, Brüder, was er gemacht hat; er hat mir mein Kleid zerrissen.« »Ich hab's getan?« sagte der Kutscher, ein wenig eingeschüchtert; »das hat wohl dein Herr zerrissen.« »So ein Herr wird mir die Kleider zerreißen!« sagte Sachar, »das ist ja eine gute Seele; das ist ja Gold und kein Herr, Gott schenke ihm Gesundheit! Ich lebe bei ihm wie im Himmelreich; ich kenne keine Not, und er hat mich noch sein Lebtag nicht einen Dummkopf genannt; ich lebe in Ruhe und bin zufrieden, ich esse von seinem Tisch und gehe, wohin ich will – so ist's ... und auf dem Gut habe ich mein eigenes Haus, einen Gemüsegarten, und bekomme mein Pachtkorn. Die Bauern verneigen sich bis zur Erde vor mir! Ich bin der Verwalter Majordom! Und ihr da ...« Ihm versagte vor Zorn die Stimme, um seinen Gegner endgültig zu vernichten. Er hielt eine Weile an, um Kräfte zu sammeln und sich ein giftiges Wort auszudenken, konnte aber vor dem Übermaß der in ihm angehäuften Galle auf nichts kommen. »Wart nur, was du noch fürs Kleid kriegst; man wird dich das Reißen lehren! ...« sagte er endlich. Dadurch, daß man seinen Herrn angegriffen hatte, war auch Sachar empfindlich verletzt worden. Man hatte seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit geweckt. Seine Anhänglichkeit war erwacht und äußerte sich in ihrer ganzen Macht. Er war bereit, nicht nur seinen Gegner, sondern auch dessen Herrn, die Verwandtschaft dieses Herrn, von der er nicht einmal wußte, ob sie existierte, und die Bekannten mit dem Gift seiner Galle zu netzen. Jetzt wiederholte er mit einer bewunderungswürdigen Genauigkeit alle Verleumdungen und Klatschgeschichten, die er aus seinen früheren Gesprächen mit dem Kutscher aufgefangen hatte. »Und ihr seid mit eurem Herrn ein verfluchtes Lumpenpack, ihr seid Juden, und das ist noch ärger als Deutsche!« sagte er, »ich weiß schon, wer euer Großvater war; ein Kommis vom Trödelmarkt. Gestern sind von euch Gäste herausgekommen, und ich habe geglaubt, daß Diebe sich ins Haus eingeschlichen haben; es war ein Erbarmen, das anzusehen! Auch die Mutter hat auf dem Trödelmarkt mit gestohlenen und abgetragenen Kleidern gehandelt.« »Genug, genug! ...« redete ihnen der Hausbesorger zu. »Ja!« sagte Sachar, »ich hab' Gott sei Dank einen Herrn, der ein Edelmann ist; seine Freunde sind lauter Generale, Grafen und Fürsten. Er setzt nicht einmal einen jeden Grafen neben sich; mancher kommt und muß lange im Vorhaus stehen ... Es kommen lauter Schriftsteller ...« »Wie sind denn diese Schriftsteller?« fragte der Hausbesorger, der den Streit beilegen wollte. »Sind das solche Beamte?« »Nein, das sind Herrschaften, die immer auf dem Sofa liegen, Sherry trinken und eine Pfeife rauchen. Manchmal tragen sie mit den Füßen so viel Schmutz hinein, daß es gar nicht zu sagen ist ...« erklärte Sachar und stockte, da er bemerkte, daß fast alle spöttisch lächelten. »Und ihr seid hier alle Schufte, alle miteinander!« sagte er rasch und warf allen einen bösen Blick zu. »Ich werde dir zeigen, wie man fremde Kleider zerreißt. Ich gehe zum Herrn und erzähle ihm das!« sagte er und ging eilig dem Hause zu. »Aber laß doch gut sein! Wart, wart!« schrie der Hausbesorger. »Sachar Trofimitsch! Komm in die Bierschenke, bitte, komm mit ...« Sachar blieb stehen, wandte sich schnell um und stürzte noch schneller, ohne die Dienerschaft anzublicken, auf die Straße. Er erreichte, ohne sich nach irgend jemand umzuschauen, die Tür der Bierschenke, welche sich gegenüber befand; hier wandte er sich um, umfing die ganze Gesellschaft mit einem düstern Blick, winkte noch düsterer allen mit der Hand zu, daß sie ihm folgen möchten, und verschwand hinter der Tür. Alle übrigen gingen auch fort; die einen in die Bierschenke, die andern nach Hause; es blieb nur der Lakai zurück. »Nun, und was ist dabei, wenn er es dem Herrn sagt«, sagte er nachdenklich und phlegmatisch zu sich selbst, langsam die Tabatiere öffnend; »das ist ja ein guter Herr, man sieht es aus allem; er wird nur schimpfen! Und was macht es, wenn er schimpft? Und mancher andere schaut, schaut und packt einen bei den Haaren ...« Elftes Kapitel Elftes Kapitel Als es nach vier Uhr war, öffnete Sachar vorsichtig und geräuschlos die Vorzimmertür und ging auf den Fußspitzen in sein Zimmer; dort trat er an die Tür, die ins Arbeitszimmer des Herrn führte, legte zuerst sein Ohr an und hielt dann das Auge an das Schlüsselloch. Im Arbeitszimmer ertönte ein gleichmäßiges Schnarchen. »Er schläft«, flüsterte er; »ich muß ihn aufwecken; es ist bald halb fünf Uhr.« Er hüstelte und trat ins Zimmer. »Ilja Iljitsch! Ilja Iljitsch!« begann er leise an Oblomows Kopfende. Das Schnarchen dauerte fort. »Wie er schläft!« sagte Sachar. »Wie eine Mauer!« »Ilja Iljitsch!« Sachar faßte Oblomow leise am Ärmel. »Stehen Sie auf. Es ist halb fünf.« Ilja Iljitsch brummte nur etwas als Antwort, erwachte aber nicht. »Stehen Sie doch auf, Ilja Iljitsch! Was ist das für eine Schande!« sagte Sachar, seine Stimme erhebend. Er erhielt keine Antwort. »Ilja Iljitsch!« sagte Sachar, den Herrn beim Ärmel fassend. Oblomow wandte ein wenig den Kopf um und richtete auf Sachar mit Mühe das eine Auge, das ganz paralytisch aussah. »Wer ist hier?« fragte er mit heiserer Summe. »Ich bin es ja. Stehen Sie auf!« »Geh weg!« brummte Ilja Iljitsch, sich wieder in tiefen Schlaf versenkend. Anstatt des Schnarchens ertönte jetzt ein Pfeifen durch die Nase. Sachar zog ihn am Rockschoße. »Was willst du?« fragte Oblomow drohend und öffnete auf einmal beide Augen. »Sie haben mir befohlen, Sie aufzuwecken.« »Ja, ich weiß. Du hast deine Pflicht erfüllt, und geh jetzt fort. Das übrige geht mich an.« »Ich gehe nicht fort«, sagte Sachar, ihn wieder beim Ärmel packend. »Aber so rühr mich doch nicht an!« begann Ilja Iljitsch sanft, steckte den Kopf in die Kissen und begann wieder zu schnarchen. »Das geht nicht, Ilja Iljitsch«, sagte Sachar. »Ich wäre selbst froh; es geht aber unmöglich!« Er faßte den Herrn wieder an. »So tu mir doch den Gefallen und störe mich nicht«, sagte Oblomow überzeugend und öffnete die Augen. »Ja, ich soll Ihnen den Gefallen tun, und dann werden Sie selbst darüber schimpfen, daß ich Sie nicht aufgeweckt habe ...« »Ach du mein Gott, was das für ein Mensch ist!« sagte Oblomow. »So laß mich doch nur einen Augenblick schlafen; was ist denn das, ein Augenblick? Ich weiß selbst ...« Ilja Iljitsch verstummte, plötzlich vom Schlaf überwältigt. »Du kannst nichts als schlafen«, sagte Sachar, der überzeugt war, daß der Herr ihn nicht hörte. »Wie er schläft, wie ein Holzklotz! Wozu bist du nur auf die Welt gekommen?« »Man sagt dir, du sollst aufstehen! ...« begann Sachar zu brüllen. »Was? Was?« rief Oblomow drohend aus und hob den Kopf in die Höhe. »Warum stehen Sie nicht auf, gnädiger Herr!« antwortete Sachar sanft. »Nein, was hast du gesagt – he? Wie wagst du es nur, he?« »Was denn?« »So grob zu sprechen?« » Das hat Ihnen geträumt ... bei Gott, es hat Ihnen geträumt.« »Glaubst du, ich schlafe? Ich schlafe nicht, ich höre alles ...« Und dabei schlief er schon. »Ach du!« sagte Sachar verzweifelt. »Was liegst du wie ein Klotz da? Es ekelt einen ja, dich anzuschauen. Schaut nur her, ihr lieben Leute! ... Pfui!« »Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, sagte er plötzlich mit erschrockener Stimme, »Ilja Iljitsch! Schauen Sie einmal, was um Sie her vorgeht ...« Oblomow hob rasch den Kopf, blickte um sich und legte sich tief seufzend wieder hin. »Laß mich in Ruh'!« sagte er würdevoll. »Ich habe dir befohlen, mich aufzuwecken, jetzt hebe ich diesen Befehl wieder auf – hörst du? Ich werde selbst aufwachen, wenn es mir einfällt.« Manchmal ließ ihn Sachar in Ruh', indem er sagte: »Nun schlafe, zum Teufel auch!« Manchmal aber gab er nicht nach, was er auch jetzt tat. »Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, brüllte er aus Leibeskräften und packte Oblomow mit beiden Händen beim Rockschoße und beim Ärmel. Oblomow stand plötzlich unerwartet auf und stürzte auf Sachar los. »Wart nur, ich werde dich lehren, wie man den Herrn stört, wenn er schlafen will!« sagte er. Sachar rannte, so schnell er konnte, von ihm fort, doch beim dritten Schritt hatte Oblomow den Schlaf ganz von sich abgeschüttelt und begann zu gähnen und sich zu strecken. »Gib mir ... Kwaß ...« sagte er durch das Gähnen hindurch. Jetzt brach jemand hinter Sachars Rücken in helles Gelächter aus. Beide wandten sich um. »Stolz! Stolz!« schrie Oblomow entzückt, auf den Gast zustürzend. »Andrej Iwanitsch!« sagte Sachar grinsend. Und Stolz fuhr fort, sich vor Lachen zu schütteln; er hatte die ganze vorhergehende Szene mit angesehen. Zweiter Teil Erstes Kapitel Erstes Kapitel Stolz war nur zur Hälfte, dem Vater nach, ein Deutscher; seine Mutter war eine Russin; auch war er griechisch-katholischer Konfession; seine Muttersprache war Russisch; er hatte sie von der Mutter und aus Büchern, im Hörsaal der Universität und während der Spiele mit Dorfjungen, im Gespräche mit deren Vätern und auf den Moskauer Märkten gelernt. Die deutsche Sprache hatte er teilweise vom Vater geerbt und teilweise sich auch aus Büchern angeeignet. Stolz wuchs im Flecken Werchljowo auf, in dem sein Vater Verwalter war, und wurde dort erzogen. Mit acht Jahren saß er mit dem Vater über eine geographische Karte gebeugt, buchstabierte an Wieland, an Herder, an biblischen Versen herum und addierte die unorthographischen Rechnungen der Bauern, Kleinbürger und Fabrikarbeiter. Mit der Mutter las er die Heilige Schrift, lernte die Fabeln von Krilow und buchstabierte den »Telemak«. Wenn er vom Buche loskam, lief er mit Dorfjungen Vogelnester zerstören, und manchmal ertönte während des Unterrichtes oder des Betens aus seiner Tasche das Piepsen von jungen Dohlen. Es kam auch vor, daß, wenn der Vater nachmittags im Garten unter einem Baume saß und seine Pfeife rauchte und die Mutter an irgendeiner Jacke nähte oder auch Kanevas stickte, von der Straße plötzlich Lärm und Geschrei hereindrang und ein ganzer Volkshaufen ins Haus stürzte. »Was ist los?« fragte die erschrockene Mutter. »Wahrscheinlich bringt man wieder Andrej«, antwortete kaltblütig der Vater. Die Tür wird aufgerissen, und eine ganze Menge, aus Bauern, Bäuerinnen und Dorfjungen bestehend, dringt in den Garten ein. Sie haben wirklich Andrej gebracht – aber in welchem Zustande! Ohne Stiefel, in zerrissenen Kleidern, und entweder hat er oder irgendein anderer Knabe eine zerschlagene Nase. Die Mutter war immer voller Unruhe, wenn sie Andrjuscha für einen halben Tag verschwinden sah, und hätte der Vater ihr nicht ausdrücklich verboten, ihn irgendwie daran zu hindern, würde sie ihn immer um sich gehabt haben. Sie wusch ihn, wechselte ihm Wäsche und Kleider, und Andrjuscha ging einen halben Tag lang als ein reiner, wohlerzogener Knabe herum, aber gegen Abend oder auch gegen Morgen brachte ihn wieder irgend jemand verschmiert, zerzaust und unkenntlich zurück, oder die Bauern führten ihn auf einem Heuwagen nach Hause, oder er kam endlich mit den Fischern in einem Boote, auf einem Netze schlafend. Die Mutter brach in Tränen aus, aber der Vater lachte nur. »Das wird ein tüchtiger Bursch, ein tüchtiger Bursch!« sagte er manchmal. »Hab doch ein Einsehen, Iwan Bogdanitsch«, klagte sie, »es vergeht kein Tag, ohne daß er mit einem blauen Fleck zurückkehrt, und neulich hat er sich die Nase blutig geschlagen.« »Was wäre er denn für ein Kind, wenn er weder sich noch andern jemals die Nase zerschlagen hätte?« sagte der Vater lachend. Die Mutter weint und weint, setzt sich dann ans Klavier und sucht in Herzschen Kompositionen Vergessenheit. Ihre Tränen tropfen eine nach der anderen auf die Tasten. Doch jetzt kommt Andrjuscha oder wird von anderen geführt; er beginnt so lebhaft, so lustig zu erzählen, daß er auch sie zum Lachen bringt, und außerdem ist er so verständig! Er wird den »Telemak« bald ebenso wie sie lesen und wird mit ihr vierhändig spielen. Einmal verschwand er für eine ganze Woche; die Mutter weinte sich die Augen aus, der Vater aber blieb ruhig, ging im Garten herum und rauchte. »Wenn Oblomows Sohn verschwunden wäre«, beantwortete er den Vorschlag der Frau, Andrej zu suchen, »würde ich das ganze Dorf und die Polizei auf die Beine gebracht haben, Andrej aber kommt wieder. O, er ist ein tüchtiger Bursch!« Am nächsten Tage fand man Andrej ruhig schlafend in seinem Bette, und auf dem Fußboden lagen ein fremdes Gewehr und ein Pfund Pulver und Schrot. »Wohin bist du verschwunden? Woher hast du das Gewehr genommen?« bestürmte ihn die Mutter mit Fragen. »Warum schweigst du denn?« »So!« war die einzige Antwort. Der Vater fragte, ob er die Übersetzung von Cornelius Nepos ins Deutsche fertig habe. »Nein«, antwortete er. Der Vater packte ihn mit der einen Hand beim Kragen, führte ihn zum Tore hinaus, setzte ihm seinen Hut auf und stieß ihn von rückwärts so mit dem Fuße, daß er ihn zum Fallen brachte. »Geh zurück, woher du kamst«, fügte er hinzu, »und kehre mit der Übersetzung, jetzt nicht mehr von einem, sondern von zwei Kapiteln zurück, und lerne außerdem für die Mutter die Rolle aus der französischen Komödie, die sie dir aufgegeben hat; ohne alles das darfst du dich nicht wieder zeigen!« Andrej kam in einer Woche zurück, brachte die Übersetzung mit und konnte die Rolle. Als er größer wurde, setzte ihn der Vater zu sich auf seinen kleinen Wagen, gab ihm die Leine und befahl ihm, in die Fabrik, dann in die Felder, in die Stadt zu den Kaufleuten und zu den Amtsgebäuden zu fahren, oder er gab ihm irgendeinen Lehm zu riechen, den er auf den Finger streute, roch, manchmal leckte und auch den Sohn riechen ließ, und dabei erklärte er ihm, was für eine Sorte es sei und wozu man sie verwenden könne. Oder sie gingen sich ansehen, wie Pottasche oder Teer gewonnen und wie Schmalz zerlassen wird. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren begab sich der Knabe oft allein zu Wagen oder zu Pferd, mit einer Tasche am Sattel, im Auftrage des Vaters in die Stadt, und es kam nie vor, daß er irgend etwas vergaß, anders ausrichtete, übersah oder einen Fehler beging. »Recht gut, mein lieber Junge!« sagte der Vater, nachdem er seinen Bericht angehört hatte, und gab ihm, ihn mit der breiten Handfläche auf die Schulter klopfend, zwei, drei Rubel, je nach der Wichtigkeit des Auftrages. Die Mutter wusch dann lange den Ruß, den Schmutz, den Lehm und das Schmalz von Andrjuscha herunter. Sie war mit dieser praktischen Erziehung zur Arbeit nicht ganz einverstanden. Sie fürchtete, ihr Sohn würde ein ebensolcher deutscher Bürger werden wie die, von denen sein Vater abstammte. Sie sah die ganze deutsche Nation für einen Haufen von Kleinbürgern an und liebte nicht die Grobheit, Selbständigkeit und den Hochmut, mit denen die deutsche Menge überall ihre durch ein Jahrtausend ausgearbeiteten Bürgerrechte vorzeigte, ebenso wie eine Kuh Hörner trägt, die sie nicht rechtzeitig zu verstecken weiß. Ihrer Ansicht nach gab es in der ganzen deutschen Nation keinen einzigen Gentleman und konnte es auch keinen geben. Sie kannte im deutschen Charakter keine Weichheit, kein Zartgefühl und keine Nachsicht, nichts, was das Leben in besseren Kreisen so angenehm macht, womit man irgendeine Regel umgehen, eine herrschende Sitte aufheben und sich dem allgemeinen Gesetze widersetzen kann. Nein, diese Flegel stürmen auf einen los und berufen sich darauf, was sie einmal abgemacht und was sie sich in den Kopf gesetzt haben, und sind bereit, die Mauer mit dem Kopfe einzurennen, um nur nach ihren Regeln zu handeln. Sie hatte in einem reichen Hause als Erzieherin gelebt und Gelegenheit gehabt, im Auslande zu sein und ganz Deutschland zu durchreisen; sie reihte alle Deutschen in ein Heer von Kommis, Handwerkern, Kaufleuten, kerzengeraden Offizieren mit Soldatengesichtern und Beamten mit Alltagsgesichtern ein, die alle kurze Pfeifen rauchten und durch die Zähne ausspuckten, die nur für schwere Arbeit, für mühsamen Gelderwerb, für die schablonenhafte Ordnung, für die langweilige Regelmäßigkeit des Lebens und die pedantische Erfüllung der Pflichten taugten; all diese Bürger mit den eckigen Manieren, mit den großen, groben Händen, mit der vulgären Frische des Gesichtes und mit der groben Rede. Wie man den Deutschen auch aufputzen mag, dachte sie, – was für ein feines und weißes Hemd er auch anzieht: wenn er Lackschuhe und sogar gelbe Handschuhe trägt, scheint er doch aus Schusterleder geschnitten zu sein; aus den weißen Manschetten schauen immer die rauhen und rötlichen Hände hervor, und in dem eleganten Anzuge steckt, wenn nicht ein Bäcker, so doch zumindest ein Büfettier. Diese rauhen Hände scheinen nach einem Pfriemen oder höchstens nach einem Bogen im Orchester zu verlangen. Und ihr schwebt für ihren Sohn das Ideal eines Aristokraten vor; obwohl er ein Parvenü, der Abkömmling eines Bürgers ist, ist er doch auch der Sohn einer russischen Edelfrau und ist ein weißer, wunderschön gebauter Knabe, mit so kleinen Händen und Füßen, mit reinem Teint, mit einem klaren, klugen Blicke, wie sie es in reichen, russischen Häusern und auch im Auslande, aber natürlich nicht bei Deutschen, gesehen hat. Und plötzlich sollte er fast selbst Mühlsteine drehen, von den Fabriken und Feldern, ebenso wie sein Vater, voller Fett und Dünger, mit roten, schmutzigen, schwieligen Händen und einem Wolfshunger zurückkehren! Sie schnitt Andrjuscha schnell die Nägel, brannte ihm die Locken, nähte ihm elegante Kragen und Vorhemden, bestellte für ihn in der Stadt Röcke, lehrte ihn, den sinnenden Tönen von Herz zu lauschen, sang ihm von Blumen, von der Poesie des Lebens, flüsterte ihm von einer glänzenden Laufbahn bald eines Kriegers, bald eines Schriftstellers zu, träumte mit ihm von dem hohen Beruf, der manchem zuteil wird ... Und diese ganze Perspektive sollte durch das Klappern des Rechenbrettes, durch das Entziffern der schmierigen Bauernrechnungen, durch den Umgang mit Fabrikarbeitern zerstört werden! Sie begann sogar den Wagen, in dem Andrjuscha in die Stadt fuhr, den Gummimantel, den der Vater ihm geschenkt hatte, und die grünen Handschuhe aus rauhem Leder zu hassen – alle diese groben Attribute eines der Arbeit gewidmeten Lebens. Unglücklicherweise lernte Andrjuscha vorzüglich, und der Vater machte ihn zum Hilfslehrer in seinem kleinen Pensionat. Das wäre noch das wenigste gewesen; aber er setzte ihm, wie einem Handwerksburschen, nach echt deutscher Art ein Gehalt fest: er bekam zehn Rubel monatlich und mußte das durch seine Unterschrift bestätigen. Tröste dich, gute Mutter, dein Sohn ist auf russischem Boden aufgewachsen – nicht in der Alltagsmenge mit bürgerlichen Kuhhörnern, mit Mühlsteine bewegenden Händen. In der Nähe war Oblomowka. Dort war ein ewiger Feiertag! Dort wurde die Arbeit wie ein Joch von den Schultern abgeschüttelt; dort stand der gnädige Herr nicht beim Morgengrauen auf und ging nicht in die Fabriken an den mit Fett beschmierten Rädern und Federn vorbei. Und in Werchljowo selbst stand ein den größten Teil des Jahres geschlossenes, leeres Haus, doch der lebhafte Knabe ging oft hinein und sah dort lange Säle, Galerien und an den Wänden dunkle Porträte, auf denen keine vulgäre Frische und keine großen, rauhen Hände abgebildet waren, er sah dunkelblaue Augen, gepudertes Haar, verzärtelte weiße Gesichter, volle Busen, zarte, blaugeäderte Hände in flatternden Manschetten, die stolz auf dem Griff des Degens ruhten; er sah eine Reihe von Geschlechtern, die in Brokat, Sammet und Spitzen, in edlem Nichtstun und in Wohlleben einander abgelöst hatten. Er studierte in diesen Gesichtern die Geschichte der ruhmvollen Zeiten, die Schlachten und Namen; er las darin von den alten Zeiten, aber ganz anders, als der Vater ihm, die Pfeife rauchend und spuckend, hundertmal vom Leben in Sachsen zwischen Rüben und Kartoffeln, zwischen Markt und Gemüsegarten erzählt hatte. Einmal in drei Jahren füllte sich dieses Schloß plötzlich mit Menschen; dann herrschte darin sprühendes Leben, es gab Feste und Bälle, und in den langen Galerien funkelten des Abends Lichter. Es kamen der Fürst, die Fürstin und ihre Familie. Der Fürst war ein grauhaariger Greis mit einem verblichenen, pergamentfarbigen Gesicht, mit trüben Glotzaugen und einer großen Glatze, er hatte drei Orden, eine goldene Tabatiere, eine Gerte mit einem Saphirgriff und Sammetstiefel. Die Fürstin flößte durch ihre Schönheit, ihren Wuchs und Umfang Ehrfurcht ein, es schien, niemand wäre jemals nahe an sie herangetreten und hätte sie umarmt und geküßt, nicht einmal der Fürst, trotzdem sie fünf Kinder hatte. Sie schien über jener Welt zu stehen, in welche sie einmal in drei Jahren herabstieg; sie sprach mit niemand und fuhr nirgends hin, sondern saß mit drei alten Frauen im grünen Eckzimmer und ging zu Fuß durch den Garten über die gedeckte Galerie in die Kirche hinein und setzte sich dort hinter einem Wandschirm auf einen Sessel. Dafür gab es im Hause außer dem Fürsten und der Fürstin eine ganze, so lustige und lebendige Welt, daß Andrjuscha mit seinen grünen Kinderaugen in drei, vier verschiedene Sphären auf einmal blickte und mit seinem wachen Verstande gierig und unbewußt die Typen dieser verschiedenartigen Menge, die an die bunten Erscheinungen eines Maskenballes erinnerten, beobachtete. Da gab es die Fürsten Pierre und Michel, von denen der erstere Andrjuscha sofort darüber belehrte, wie der Zapfenstreich bei der Infanterie und bei der Kavallerie geblasen würde, welche Säbel und Sporen die Husaren und die Dragoner hatten, welche Farbe die Pferde jedes Regimentes haben mußten und wohin man nach dem Lernen eintreten konnte, ohne sich Schande zu machen. Der zweite, Michel, stellte Andrjuscha, sowie er mit ihm bekannt geworden war, in Positur und begann sonderbare Sachen mit den Fäusten zu machen, mit denen er ihn bald in die Nase und bald in den Bauch traf, was, wie er dann sagte, englisches Boxen hieß. Nach drei Tagen hatte Andrej ihm nur auf Grund seiner ländlichen Frische und mit Hilfe seiner muskulösen Hände, ohne jede Wissenschaft, nach der englischen und russischen Methode die Nase zerschlagen, was ihm in den Augen beider Fürsten zu großer Autorität verhalf. Es gab noch zwei Komtessen, große, schlanke, elegant gekleidete Mädchen von elf und zwölf Jahren, die mit niemand sprachen, niemand grüßten und die sich vor den Bauern fürchteten. Sie hatten eine Gouvernante, Mademoiselle Ernestine, welche zu Andrjuschas Mutter Kaffee trinken kam und sie lehrte, ihm Locken zu machen. Sie ergriff manchmal seinen Kopf, legte ihn auf ihren Schoß und wickelte das Haar auf Papier, so daß es heftig schmerzte; oft faßte sie ihn mit ihren weißen Händen an beiden Wangen und küßte ihn so freundlich! Dann gab es dort einen Deutschen, der Tabatieren und Knöpfe auf einer Drehbank drechselte, außerdem einen Musiklehrer, der von einem Sonntag bis zum andern trank, dann ein ganzes Regiment von Stubenmädchen und endlich ein Rudel von großen und kleinen Hunden. Das alles erfüllte das Haus und das Dorf mit Lärm, Trubel, Schreien, Klopfen und Musik. Einerseits Oblomowka, andererseits das Fürstenschloß mit dem breiten Fluß des herrschaftlichen Lebens stießen mit dem deutschen Element zusammen, und Andrjuscha wurde nicht zu einem deutschen Burschen und nicht einmal zu einem Philister. Andrjuschas Vater war Agronom, Technologe und Lehrer. Bei seinem Vater nahm er praktischen Unterricht in der Landwirtschaft, studierte in sächsischen Fabriken Technik und erwarb sich auf der nächsten Universität, wo es an vierzig Professoren gab, das Recht, das zu unterrichten, was die vierzig Weisen ihm, so gut es ging, auseinandergesetzt hatten. Er ging aber nicht weiter, sondern kehrte eigensinnig um, nachdem er beschlossen hatte, daß er etwas leisten müsse, und kam zum Vater zurück. Dieser gab ihm hundert Taler und eine neue Reisetasche und schickte ihn in die weite Welt. Seitdem hatte Iwan Bogdanitsch weder die Heimat noch den Vater wiedergesehen. Er wanderte sechs Jahre lang in der Schweiz und Österreich herum, und jetzt lebte er seit zwanzig Jahren in Rußland und segnete sein Schicksal. Er hatte die Universität besucht und infolgedessen beschlossen, auch sein Sohn müsse sie besuchen, wenn es auch keine deutsche Universität war, und obwohl eine russische Universität im Leben seines Sohnes eine Umwälzung hervorbringen und ihn von jenem Pfad, den der Vater im Geiste dem Sohne bahnen wollte, weit entfernen mußte. Er war dabei sehr einfach vorgegangen; er hatte den Lebensweg des Großvaters genommen und ihn wie mit einem Lineal bis zum Enkel verlängert, ohne zu ahnen, daß die Variationen von Herz, die Träume und Erzählungen der Mutter, die Galerie und das Boudoir im fürstlichen Schlosse den schmalen deutschen Pfad in eine so große Straße verwandeln würden, wie sie weder sein Großvater, sein Vater, noch er selbst je auch nur im Traume geschaut hatten. Übrigens war er in dieser Beziehung kein Pedant und würde auf seinem Plan nicht bestanden haben; er vermochte nur eben seinem Sohne keinen anderen Weg vorzuzeichnen. Er kümmerte sich wenig darum. Als sein Sohn von der Universität zurückgekehrt war und drei Monate zu Hause gelebt hatte, sagte er ihm, es wäre für ihn in Werchljowo nichts mehr zu tun, man hätte sogar Oblomow nach Petersburg geschickt, es wäre folglich auch für ihn Zeit, hinzufahren. Der Alte gab sich keine Rechenschaft darüber, warum er nach Petersburg mußte und nicht in Werchljowo bleiben konnte, um ihm bei der Gutsverwaltung zu helfen; er erinnerte sich nur daran, daß, als er selbst mit dem Lernen fertig war, der Vater ihn von sich fortgeschickt hatte. Auch er schickte den Sohn fort, so war es in Deutschland Sitte. Die Mutter war nicht mehr auf der Welt, und niemand widersprach ihm. Am Tage der Abreise gab Iwan Bogdanitsch dem Sohn hundert Rubel. »Reite in die Gouvernementsstadt«, sagte er, »dort bekommst du von Kalinnikow dreihundertfünfzig Rubel und läßt ihm das Pferd. Sollte er aber kein Geld haben, dann verkaufe das Pferd; es ist dort bald Jahrmarkt, da gibt man dir sofort vierhundert Rubel dafür. Um nach Moskau zu kommen, brauchst du vierzig Rubel, von dort aus nach Petersburg fünfundsiebzig; es bleibt dir noch genug. Dann tu, was du willst. Du hast mit mir gearbeitet, du weißt folglich, daß ich ein kleines Kapital besitze; rechne aber vor meinem Tode nicht darauf, und ich werde wohl noch zwanzig Jahre leben, wenn mir nicht zufällig ein Stein auf den Kopf fällt. Das Lämpchen brennt noch hell, und es ist viel Öl darin. Du hast eine gute Bildung genossen, dir steht alles offen, du kannst dem Staate dienen, Kaufmann werden oder sogar dichten; ich weiß nicht, was du dir wählst und wozu du die meiste Lust fühlst ...« »Ich werde sehen, ob ich das alles nicht auf einmal tun kann«, sagte Andrej. Der Vater lachte, so laut er konnte, und begann den Sohn so auf die Schulter zu schlagen, daß selbst ein Pferd es nicht ausgehalten hätte. Andrej machte sich aber nichts daraus. »Nun, und wenn du selbst nicht fertig wirst, wenn du dir deinen Weg nicht gleich finden kannst, einen guten Rat brauchst und jemand fragen willst, dann geh zu Reinhold hin; er wird dir helfen. Oh!« fügte er hinzu, indem er die Finger in die Höhe hob und mit dem Kopf wackelte, »das ... das ist ...« (er wollte loben und fand keinen Ausdruck). »Wir sind zusammen aus Sachsen gekommen. Er hat ein vierstöckiges Haus. Ich werde dir die Adresse nennen ...« »Das ist nicht nötig, nenne sie mir nicht«, unterbrach ihn Andrej, »ich gehe dann zu ihm hin, wenn ich selbst ein vierstöckiges Haus besitze, und jetzt werde ich auch ohne ihn auskommen.« Ein erneutes Klopfen auf die Schulter. Andrej sprang aufs Pferd. Am Sattel hingen zwei Taschen, in der einen lag der Gummimantel und waren schwere mit Nägeln beschlagene Stiefel und ein paar Hemden aus Werchljower Leinwand zu sehen – lauter Sachen, die er auf Wunsch des Vaters hin gekauft und mitgenommen hatte; in der zweiten Tasche lagen ein eleganter Frack aus feinem Tuch, ein haariger Überzieher, ein Dutzend feiner Hemden und Schuhe, die er zur Erinnerung an die Ratschläge der Mutter in Moskau bestellt hatte. »Nun!« sagte der Vater. »Nun!« sagte der Sohn. »Hast du alles?« fragte der Vater. »Alles!« antwortete der Sohn. Sie blickten einander schweigend an, als wollten sie sich gegenseitig mit den Augen durchdringen. Unterdessen hatte sich ein Häufchen neugieriger Nachbarn angesammelt, die mit offenem Munde zusahen, wie der Verwalter seinen Sohn in die Fremde fortschickte. Vater und Sohn drückten einander die Hand. Andrej ritt in schnellem Schritte fort. »Wie der junge Hund ist; er hat keine einzige Träne vergossen!« sagten die Nachbarn. »Da sitzen zwei Krähen auf dem Zaun und krächzen, soviel sie können; sie bringen ihm Unglück, wart nur!« – »Was können ihm die Krähen anhaben? Er treibt sich in der Johannisnacht allein im Walde herum; ihnen macht das alles nichts, Brüder. Bei einem Russen würde das nicht so gut ablaufen!« – »Und der alte Heide macht's auch gut!« bemerkte eine Mutter, »er hat ihn wie eine junge Katz auf die Straße hinausgeworfen, hat ihn nicht umarmt und hat nicht geweint!« »Halt, halt! Andrej!« schrie der Alte. Andrej hielt das Pferd auf. »Ah! Das Herz hat wohl gesprochen!« sagte man beifällig in der Menge. »Nun?« fragte Andrej. »Der Sattelgurt ist zu lose, du mußt ihn fester zusammenziehen.« »Ich werde ihn in Ordnung bringen, wenn ich nach Schamschewka komme. Ich darf jetzt keine Zeit verlieren, ich muß, bevor es dunkel wird, ankommen.« »Nun!« sagte der Vater, die Hand schwenkend. »Nun!« wiederholte der Sohn, mit dem Kopfe nickend, neigte sich nach vorne und gab dem Pferde die Sporen. »Ach, die Hunde, das sind wahre Hunde! Wie Fremde!« sagten die Nachbarn. Plötzlich ertönte in der Menge ein lautes Weinen; irgendeine Frau hatte nicht länger an sich halten können. »Ach, du mein Väterchen!« jammerte sie, sich mit einem Zipfel ihres Kopftuches die Augen wischend, »du arme Waise! Du hast keine Mutter, es ist niemand da, der dich segnet ... Laß mich, ich werde dich bekreuzigen, du mein Lieber! ...« Andrej ritt an sie heran, sprang vom Pferde herab, umarmte die Alte, wollte dann weiterreiten – und weinte plötzlich auf, während sie ihn bekreuzigte und küßte. Er glaubte in diesen Worten die Stimme der Mutter zu hören, und ihr zartes Bild erstand auf einen Augenblick vor ihm. Er umarmte noch einmal fest die Frau, wischte sich schnell die Tränen ab und sprang aufs Pferd. Er schlug es auf die Seiten und verschwand in einer Staubwolke; ihm stürzten verzweifelt drei Hofhunde von zwei verschiedenen Richtungen nach und bellten lange. Zweites Kapitel Zweites Kapitel Stolz war Oblomows Altersgenosse; auch er war schon über dreißig Jahre alt. Er war im Staatsdienste gewesen, trat dann aus, gab sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten ab und erwarb sich tatsächlich ein Haus und Geld. Er ist an irgendeiner Gesellschaft beteiligt, die Waren nach dem Auslande schickt. Er ist immer in Bewegung. Wenn die Gesellschaft nach Belgien oder England einen Agenten schicken muß, reist er hin; wenn ein neues Projekt ausgearbeitet werden muß oder wenn irgendeine neue Idee dem Geschäfte anzupassen ist, wird das immer ihm übergeben. Und dabei kommt er in Gesellschaft und liest; Gott weiß, wann er das alles fertig bringt. Er besteht nur aus Knochen, Muskeln und Nerven, wie ein reinrassiges englisches Pferd. Er ist schmächtig, hat fast gar keine Wangen, das heißt er hat Knochen und darauf Muskeln, aber keine Spur einer fetten Rundung; seine Gesichtsfarbe ist gleichmäßig, dunkel und ohne jede Röte; die Augen sind zwar ein wenig grünlich, aber ausdrucksvoll. Er hatte keine überflüssigen Bewegungen. Wenn er saß, verhielt er sich ganz ruhig, wenn er aber irgend etwas tat, wandte er dabei nur so viel von seiner Mimik an, als notwendig war. Ebenso wie es in seinem Organismus nichts Überflüssiges gab, suchte er auch in den moralischen Funktionen seines Lebens nach einem Gleichgewichte zwischen den praktischen Seiten und den feineren Bedürfnissen seiner Seele. Diese beiden Gebiete liefen parallel, kreuzten sich und verstrickten sich unterwegs, verknüpften sich aber niemals zu unlösbaren, quälenden Knoten. Er ging festen Schrittes frisch vorwärts, lebte nach einem Budget, indem er bestrebt war, jeden Tag, ebenso wie jeden Rubel, unter eine beständige, nie versagende Kontrolle der verbrauchten Zeit, Arbeit, Kraft der Seele und des Herzens zu stellen. Er schien die Freuden und Leiden ebenso wie die Bewegungen seiner Hände und die Schritte seiner Füße zu beherrschen und sich dabei wie bei gutem oder schlechtem Wetter zu verhalten. Er öffnete den Schirm, solange es regnete, das heißt, er litt, solange der Schmerz anhielt, tat es aber ohne schüchterne Demut, sondern mit Ärger, und ertrug ihn nur deshalb geduldig, weil er den Grund jeden Schmerzes sich selbst zuschrieb und ihn nicht wie einen Rock auf einen fremden Nagel hängte. Er genoß auch die Freude, wie eine unterwegs gepflückte Blume, bis sie in seiner Hand verwelkte, ohne den Kelch jemals bis auf jenen Wermutstropfen zu leeren, der auf dem Boden eines jeden Genusses ruht. Es war eine beständige Aufgabe, sich eine einfache, das heißt eine gerade und wahre Ansicht über das Leben zu bilden, und während er allmählich ihrer Lösung zustrebte, begriff er ihre ganze Schwierigkeit und war jedesmal, wenn er auf seinem Wege eine Krümmung bemerkte und ihm ein gerader Schritt gelang, innerlich stolz und glücklich. »Es ist kompliziert und schwer, einfach zu leben!« sagte er sich oft und sah eilig hin, wo es schief wurde und wo der Faden der Lebensschnur sich zu einem unregelmäßigen, komplizierten Knoten zu verwickeln begann. Am meisten fürchtete er die Phantasie, diesen heuchlerischen Begleiter, der auf der einen Seite ein freundschaftliches und auf der anderen ein feindliches Gesicht hat, der ein desto größerer Freund ist, je weniger man ihm glaubt, und zum Feind wird, wenn man, seinem süßen Geflüster vertrauend, einschlummert. Er fürchtete jeden Traum; wenn er aber in dieses Gebiet eintrat, tat er es, wie man in eine Grotte tritt, die die Inschrift: ma solitude, mon hermitage, mon repos trägt, wobei man die Stunde und die Minute weiß, zu der man wieder herauskommt. Der Traum, als etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, fand in seiner Seele keinen Platz. Das, was sich der Analyse der Erfahrung der realen Wahrheit nicht unterwarf, war für ihn eine optische Täuschung, die eine oder andere Brechung der Strahlen und Farben auf dem Netze des Sehorganes, oder endlich eine Tatsache, an die die Erfahrung noch nicht herangetreten ist. Er frönte auch nicht jenem Dilettantismus, der sich auf dem Gebiete des Wunderbaren zu ergehen liebt oder mit Zuhilfenahme von Ahnungen und Entdeckungen für tausend Jahre im vorhinein sich auf den Don Quijote hinausspielt. Er blieb an der Schwelle des Geheimnisses hartnäckig stehen, ohne den Glauben eines Kindes oder das Zweifeln eines Laffen zu äußern, und wartete das Erscheinen des Gesetzes ab, das auch den Schlüssel zu dem Unbegreiflichen brachte. Er kontrollierte seine Gefühle ebenso fein und vorsichtig wie seine Phantasie. Hier strauchelte er oft und mußte sich eingestehen, daß das Gebiet der Herzensfunktionen noch eine terra incognita war. Er dankte inbrünstig dem Schicksal, wenn es ihm gelang, auf diesem unbekannten Gebiete die geschminkte Lüge vor der bleichen Wahrheit rechtzeitig zu unterscheiden; er klagte nicht einmal dann, wenn er vor dem mit Blumen geschmückten Betruge zurücktrat und nicht fiel und wenn sein Herz nur fieberhaft und beschleunigt schlug, er war froh und glücklich, wenn es nicht von Blut überströmte, wenn ihm kein kalter Schweiß auf die Stirne trat und sich dann für lange Zeit ein tiefer Schatten auf sein Leben senkte. Er hielt sich schon dann für glücklich, wenn er sich stets auf der gleichen Höhe zu halten vermochte und wenn er, auf dem Steckenpferde des Gefühls reitend, den feinen Strich, der die Welt des Gefühls von der Welt der Lüge und Sentimentalität und die Welt der Wahrheit von der Welt des Komischen trennte, nicht unbemerkt ließ oder wenn er beim Zurückreiten nicht auf den sandigen, trockenen Boden der Härte, des Räsonierens, des Mißtrauens, der Kleinlichkeit und der Kastration des Herzens geriet. Er fühlte, auch während er sich hinreißen ließ, den Boden unter den Füßen und hatte so viel Kraft in sich, um sich im Falle der Übertreibung loszureißen und freizumachen. Er ließ sich durch die Schönheit nicht blenden, vergaß darum nicht seine männliche Würde und erniedrigte sich nicht, er wurde nicht zum Sklaven, lag nicht zu den Füßen der Schönen, wenn er auch keine feurigen Freuden kennenlernte. Er machte sich keine Götzen, erhielt sich aber dafür die Kraft der Seele und des Körpers und war keusch und stolz; ihm entströmte so viel Frische und Gesundheit, daß auch die dreisten Frauen verwirrt wurden. Er kannte den Wert dieser seltenen und kostbaren Eigenschaften und verbrauchte sie so geizig, daß man ihn egoistisch und gefühllos nannte. Man rügte seine Zurückhaltung, seine Kunst, die Grenzen des natürlichen, freien Geisteszustandes einzuhalten, und rechtfertigte dabei manchmal voll Neid und Bewunderung einen andern, der sich in vollem Laufe in den Kot stürzte und sowohl seine eigene als auch eine fremde Existenz zerstörte. »Die Leidenschaften rechtfertigen alles«, sagte man um ihn herum, »und Sie schonen in Ihrem Egoismus nur sich selbst; wir wollen sehen, für wen.« – »Für irgendwen am Ufer«, sagte er nachdenklich, als blickte er in die Ferne und glaubte wie bisher nicht an die Poesie der Leidenschaften, bewunderte nicht ihre stürmischen Äußerungen und zerstörenden Spuren, sondern wollte immer das Ideal des Seins und der menschlichen Bestrebungen im strengen Verständnis und Gestalten des Lebens sehen. Und je mehr man seine Ansichten bestritt, desto tiefer gab er sich seiner Hartnäckigkeit hin und geriet sogar, wenigstens während der Debatten, in einen puritanischen Fanatismus hinein. Er sagte, es sei die normale Bestimmung des Menschen, die vier Jahreszeiten, das heißt die vier Stufen des Alterns, ohne Sprünge zu verleben, das Gefäß des Lebens zum letzten Tag hinzutragen, ohne auch nur einen einzigen Tropfen nutzlos verschüttet zu haben, und daß das gleichmäßige, langsame Brennen des Feuers der stürmischen Feuersbrunst, wie poetisch sie auch sein mochte, vorzuziehen sei. Zum Schlusse fügte er hinzu, daß er glücklich wäre, wenn er seine Überzeugung an sich bewahrheiten könnte, daß er es aber nicht zu erreichen fürchte, weil es sehr schwer wäre; daß die Menschen überhaupt zu sehr verdorben wären und daß es noch keine wahre Erziehung gäbe. Und dabei verfolgte er immer beharrlich den von ihm erwählten Weg. Man sah niemals, daß er über etwas krankhaft und qualvoll grübelte; an ihm schienen keine Gewissensbisse des ermüdeten Herzens zu nagen; er krankte nicht an der Seele, verlor niemals in verwickelten, schwierigen oder neuen Verhältnissen den Kopf, sondern trat an dieselben wie an gute Bekannte heran, als lebe er zum zweiten Male und gehe durch eine bekannte Gegend. Worauf er auch stoßen mochte, er fand gleich die entsprechende Verhaltungsmaßregel heraus, wie eine Wirtschafterin aus der Menge der an ihrem Gurt hängenden Schlüssel auf den ersten Griff gerade denjenigen herausfindet, der zu der einen oder anderen Tür paßt. Er achtete die Beharrlichkeit im Erreichen eines Zieles als das Höchste; das war in seinen Augen ein Zeichen von Charakter, und er versagte Menschen mit dieser Eigenschaft niemals seine Achtung, wie gering ihre Ziele auch sein mochten. »Das sind Menschen«, sagte er. Man braucht nicht hinzuzufügen, daß er kühn alle Hindernisse nahm, wenn er seinem Ziele entgegenschritt, und dasselbe erst dann aufgab, wenn auf seinem Wege eine Mauer emporragte oder sich ein unüberbrückbarer Abgrund auftat. Er war aber unfähig, sich mit jener Kühnheit zu bewaffnen, die mit geschlossenen Augen über einen Abgrund setzt oder auf gut Glück auf eine Mauer losstürzt. Er mißt den Abgrund oder die Mauer aus, und wenn er kein sicheres Mittel, sie zu bewältigen, weiß, wendet er sich ab, was man dazu auch sagen mag. Um einen solchen komplizierten Charakter zu bilden, waren vielleicht gerade solche gemischte Elemente nötig, wie sie Stolz gebildet hatten. Unsere aktiven Menschen wurden von jeher gleichsam in fünf, sechs stereotype Formen gegossen, sie blickten träge, mit einem halben Auge um sich, legten an die soziale Maschine ihre Hand und schoben sie schläfrig im selben Geleise weiter, indem sie in die Fußstapfen ihrer Vorgänger traten. Doch jetzt öffneten sich die Augen, man hörte feste, große Tritte und lebendige Stimmen ... Wieviel Stolze müssen noch unter russischem Namen erscheinen? Wie konnte ein solcher Mensch Oblomow nahestehen, bei dem jeder Zug, jeder Schritt, die ganze Existenz ein Protest gegen das Leben von Stolz war? Es ist wohl schon eine zugegebene Tatsache, daß die ausgesprochene Entgegengesetztheit der Naturen, wenn nicht der Anlaß einer Sympathie, wie man früher glaubte, so doch kein Hindernis für eine solche bildet. Dabei verband sie die Kindheit und die Schule – zwei starke Federn; außerdem kamen noch die in der Familie Oblomow dem deutschen Knaben freigebig entgegengebrachten herzlichen russischen Liebkosungen hinzu und die Rolle des Starken, die Stolz Oblomow gegenüber in physischer und geistiger Beziehung vertrat; aber am wichtigsten war endlich der reine, lichte und gute Keim in Oblomows Natur, der allem gegenüber, was gut war und was sich dem Ruf seines einfachen, ungekünstelten, stets vertrauenden Herzens eröffnete, tiefe Sympathie entgegenbrachte. Wer nur zufällig oder absichtlich in diese lichte, kindliche Seele hineinblickte, konnte, so düster und boshaft er auch sein mochte, ihm nicht seine Gegenliebe oder wenigstens ein gutes, bleibendes Angedenken versagen. Andrej riß sich oft von seinen Geschäften oder von der Gesellschaft, von einem Abend oder Ball los und fuhr zu Oblomow hin, um auf dessen breitem Sofa zu sitzen und in einer trägen Unterhaltung die erregte oder ermüdete Seele zu beruhigen, und es kam über ihn immer jenes besänftigende Gefühl, welches man empfindet, wenn man aus reichgeschmückten Sälen in die eigene bescheidene Häuslichkeit kommt oder von den Schönheiten der südlichen Natur in den Birkenhain zurückkehrt, in dem man als Kind einst spazierengegangen war. Drittes Kapitel Drittes Kapitel »Guten Tag, Ilja! Wie freue ich mich, dich zu sehen! Nun, wie geht's dir? Gut?« fragte Stolz. »O nein, mir geht's schlecht, Bruder Andrej«, sagte Oblomow seufzend. »Auch in der Gesundheit.« »Bist du denn krank?« fragte Stolz besorgt. »Die Gerstenkörner quälen mich so; erst vorige Woche ist eins vom rechten Auge herunter und jetzt kommt wieder ein anderes.« Stolz lachte. »Nur das?« fragte er. »Das hast du vom vielen Schlafen.« »Es ist aber nicht ›nur‹ das; ich leide so an Sodbrennen. Du solltest hören, was der Doktor vor kurzem gesagt hat. ›Gehen Sie ins Ausland‹, sagt er, ›sonst kann es schlecht enden. Sie bekommen einen Schlagfluß.‹« »Nun, was tust du?« »Ich fahre nicht hin.« »Warum denn nicht?« »Aber ich bitte dich! Höre nur, was er mir alles gesagt hat: Ich soll auf irgendeinem Berg wohnen und nach Ägypten oder nach Amerika reisen ...« »Was ist denn dabei?« sagte Stolz kaltblütig. »Du wirst in zwei Wochen in Ägypten und in drei Wochen in Amerika sein.« »Aber Bruder Andrej, auch du? Es hat bisher einen einzigen vernünftigen Menschen gegeben, aber auch dieser ist von Sinnen. Wer reist denn nach Amerika und nach Ägypten? Die Engländer sind schon vom Herrgott dementsprechend erschaffen worden; sie haben außerdem keinen Platz bei sich zu Hause. Wer fährt denn aber von uns hin? Irgendein Verzweifelter, dem das Leben nichts wert ist!« »Man könnte wirklich glauben, daß das Heldentaten sind; man steigt in einen Wagen oder ins Schiff, atmet frische Luft ein, sieht fremde Länder, Städte, Sitten und alle Wunder ... ach du! Nun sag, was ist's mit deinen Angelegenheiten, wie steht's in Oblomowka?« »Ach! ...« sagte Oblomow, mit einer verzweifelten Handbewegung. »Was ist geschehen?« »Das Leben macht sich fühlbar!« »Gott sei Dank, daß es so ist!« »Wieso, Gott sei Dank? Wenn es einem immer den Kopf streicheln wollte; es läßt mich aber nicht in Ruhe, so wie in der Schule die Raufbolde den ruhigen Schüler necken, ihn bald heimlich kneifen oder plötzlich von vorne heranstürmen und mit Sand bestreuen ... ich hält's nicht aus!« »Du bist auch zu ruheliebend. Was ist denn geschehen?« »Ein zwiefaches Unglück.« »Was denn für eins?« »Ich bin ganz zugrunde gerichtet!« »Wieso?« »Ich werde dir vorlesen, was der Dorfschulze schreibt ... Wo ist der Brief? Sachar! Sachar!« Sachar fand den Brief. Stolz durchflog ihn und lachte, wahrscheinlich über den Stil des Dorfschulzen. »Was der Dorfschulze für ein Schuft ist!« sagte er. »Er hat die Bauern fortgelassen und beklagt sich noch! Es wäre am besten, ihnen die Pässe zu geben und sie, wohin sie wollen, ziehen zu lassen.« »Aber ich bitte dich, da werden ja alle fortwollen«, entgegnete Oblomow. »Laß sie nur fort!« sagte Stolz sorglos. »Derjenige, dem das Bleiben angenehm und einträglich ist, geht nicht fort; wenn das aber nicht der Fall ist, dann ist's auch für dich nicht einträglich; wozu ihn also halten?« »Was du dir ausdenkst!« sagte Ilja Iljitsch. »Die Bauern in Oblomowka sind ruhig und seßhaft; warum sollen sie sich herumtreiben? ...« »Weißt du denn nicht«, unterbrach ihn Stolz, »daß man in Werchljowo einen Hafen einrichten will und eine Landstraße geplant wird, so daß Oblomowka von der Chaussee nicht weit entfernt sein wird, und in der Stadt wird man einen Jahrmarkt abhalten ...« »Ach du mein Gott!« sagte Oblomow. »Das hat noch gefehlt! Oblomowka war so ruhig abseits gelegen, und jetzt kommt ein Jahrmarkt, eine Chaussee! Die Bauern werden in die Stadt gehen, und die Kaufleute werden zu uns kommen – alles ist verloren! Es ist ein Unglück!« Stolz lachte. »Wieso, ist denn das kein Unglück?« sprach Oblomow weiter. »Von den Bauern hat man früher weder Gutes noch Schlechtes gehört, sie haben ihre Arbeit getan und haben nirgends hin wollen; und jetzt werden sie verdorben werden! Sie werden sich Tee, Kaffee, Sammethosen, Harmonikas und Schmierstiefel anschaffen ... es wird dabei nichts Gutes herauskommen!« »Ja, wenn es so ist, wird natürlich nichts Gutes dabei herauskommen«, bemerkte Stolz. »Richte aber im Dorfe eine Schule ein ...« »Ist es nicht zu früh?« sagte Oblomow. »Die Bildung schadet dem Bauer; wenn man ihn lernen läßt, wird er vielleicht gar nicht pflügen wollen ...« »Die Bauern werden doch dann lesen, wie sie pflügen müssen, du komischer Kauz! Aber höre einmal ernstlich: Du mußt in diesem Jahre selbst auf dem Gute sein.« »Ja, das ist wahr; aber mein Plan ist noch nicht ganz fertig ...« bemerkte Oblomow schüchtern. »Du brauchst ihn ja gar nicht!« sagte Stolz. »Fahre nur hin; du wirst an Ort und Stelle sehen, was zu tun ist. Du arbeitest schon so lange an dem Plan; ist's möglich, daß noch nicht alles fertig ist? Was machst du denn?« »Ach Bruder! Habe ich denn nur mit dem Gut zu tun? Und mein zweites Unglück?« »Was für eins denn?« »Man jagt mich aus der Wohnung hinaus.« »Wieso jagt man dich hinaus?« »Man sagt mir, ich soll ausziehen und sonst nichts.« »Nun also!« »Was also? Ich habe mir den Rücken und die Seiten abgewetzt, soviel wälze ich mich vor Sorgen hin und her. Ich bin ja allein; es ist bald das eine, bald das andere notwendig; ich muß die Rechnungen durchsehen, hier und dort zahlen, und jetzt kommt noch der Umzug! Ich verbrauche furchtbar viel Geld, ohne daß ich selbst weiß wieso! Ich kann immer erwarten, daß ich ohne eine Kopeke dableibe ...« »Bist du ein verwöhnter Mensch! Es ist dir schwer, aus der Wohnung auszuziehen!« sagte Stolz erstaunt. »Sag mir, da wir schon von Geld sprechen: Hast du viel davon? Gib mir fünfhundert Rubel, ich muß sie gleich fortschicken; ich nehme das Geld morgen aus unserem Kontor ...« »Wart! Laß mich nachdenken ... Vor kurzem hat man mir aus dem Gute tausend Rubel geschickt, und jetzt hab' ich ... warte ...« Oblomow begann in den Schubladen herumzustöbern. »Hier sind ... zehn, zwanzig, hier sind zweihundert Rubel ... und noch zwanzig. Es war hier noch Kupfergeld ... Sachar! Sachar!« Sachar sprang auf gewohnte Weise von der Ofenbank herab und trat ins Zimmer. »Wo sind die zwanzig Kopeken, die hier auf dem Tische lagen? Ich habe sie gestern hingelegt ...« »Was Sie mit diesen zwanzig Kopeken haben, Ilja Iljitsch! Ich habe doch schon gesagt, daß hier keine zwanzig Kopeken gewesen sind ...« »Wieso nicht! Es war der Rest für die Orangen ...« »Sie haben's jemand gegeben und es vergessen«, sagte Sachar, sich zur Tür wendend. Stolz lachte. »Ach, ihr Oblomower!« warf er ihnen vor. »Sie wissen nicht einmal, wieviel Geld sie in der Tasche haben!« »Und was für Geld haben Sie vorhin Michej Andreitsch gegeben?« erinnerte Sachar. »Ach ja, Tarantjew hat zehn Rubel genommen«, wandte sich Oblomow rasch an Stolz. »Ich habe ganz vergessen!« »Warum läßt du diese Bestie zu dir!« bemerkte Stolz. »Wozu man ihn nur hereinläßt!« mengte sich Sachar hinein. »Er kommt wie in sein Haus oder in eine Schenke. Er hat das Hemd und die Weste vom Herrn genommen, und wir haben die Sachen seitdem nicht wieder gesehen! Vor kurzem hat er den Frack verlangt: Laß ihn mich anziehen! Wenn doch wenigstens Sie, Väterchen Andrej Iwanowitsch, nach dem Rechten sehen wollten ...« »Das ist nicht deine Sache, Sachar; geh in dein Zimmer!« sagte Oblomow streng. »Gib mir einen Bogen Briefpapier«, bat Stolz, »ich möchte etwas schreiben.« »Sachar, gib Papier her, Andrej Iwanowitsch braucht welches«, sagte Oblomow. »Wir haben keins! Ich hab' ja schon gesucht«, antwortete Sachar aus dem Vorzimmer, ohne ins Zimmer zu kommen. »Gib mir irgendein Stückchen!« verlangte Stolz. Oblomow suchte auf dem Tisch; es war nicht einmal ein Stückchen da. »Nun, gib mir wenigstens eine Visitenkarte.« »Ich habe längst keine Visitenkarte mehr«, sagte Oblomow. »Was ist denn mit dir?« entgegnete Stolz ironisch. »Und dabei hast du vor, zu arbeiten und einen Plan zu entwerfen. Sag einmal, gehst du irgendwohin? Wo verkehrst du? Wen siehst du?« »Wohin ich komme? Ich verkehre wenig, ich sitze meistens zu Hause; der Plan macht mir Sorgen, und jetzt noch die Geschichte mit der Wohnung ... Zum Glück wollte Tarantjew sich verwenden und suchen ...« »Kommt jemand zu dir?« »Ja ... Tarantjew und Alexejew. Vor kurzem war der Doktor hier ... Dann auch Pjenkin, Sudjbinski, Wolkow.« »Ich sehe bei dir keine Bücher«, sagte Stolz. »Hier ist eins!« bemerkte Oblomow, auf das auf dem Tisch liegende Buch hinweisend. »Was ist das?« fragte Stolz hineinblickend, »›Reise nach Afrika‹! Und die Seite, auf der du stehengeblieben bist, ist verschimmelt. Man sieht auch keine Zeitung ... Liest du Zeitungen?« »Nein, das ist mir eine zu kleine Schrift, sie verdirbt die Augen ... und es ist auch gar nicht notwendig; wenn es etwas Neues gibt, so hört man den ganzen Tag von allen Seiten von nichts anderem.« »Aber ich bitte dich, Ilja!« sagte Stolz, Oblomow erstaunt anblickend. »Was machst denn du selbst? Du hast dich wie ein Teigklumpen zusammengerollt und liegst da.« »Das ist wahr, Andrej, wie ein Teigklumpen«, gab Oblomow traurig zur Antwort. »Ist denn dies Bewußtsein eine Rechtfertigung?« »Nein, das ist nur eine Antwort auf deine Worte; ich rechtfertige mich nicht«, bemerkte Oblomow seufzend. »Man muß doch diesen Schlaf von sich abschütteln.« »Ich hab' das früher versucht, es ist mir nicht gelungen und jetzt ... wozu? Nichts bringt mich aus dem Zustand heraus, die Seele strebt nirgends hin, der Geist schläft ruhig!« schloß er mit kaum merklicher Bitterkeit. »Genug davon ... Sag lieber, woher du jetzt kommst!« »Aus Kiew. Nach etwa vierzehn Tagen reise ich ins Ausland. Komm auch mit ...« »Gut; vielleicht ...« beschloß Oblomow. »Also setz dich hin und schreibe eine Bittschrift, du reichst sie dann gleich morgen ein ...« »Schon morgen!« begann Oblomow erschrocken. »Wie eilig es alle haben, als ob ihnen jemand im Nacken säße! Wir wollen es uns überlegen, alles besprechen, und dann wollen wir weitersehen! Vielleicht fahren wir erst ins Dorf und dann ins Ausland ... später ...« »Warum denn später? Der Doktor hat dir's doch verordnet? Wirf erst das Fett, die Schwere des Körpers, von dir, dann wird auch deine Seele den Schlaf abschütteln. Man braucht eine körperliche und eine seelische Gymnastik.« »Nein, Andrej, das alles wird mich ermüden; mit meiner Gesundheit ist es schlecht bestellt. Nein, laß mich lieber hier und fahre allein ...« Stolz blickte den liegenden Oblomow an, und Oblomow erwiderte den Blick. Stolz schüttelte den Kopf, und Oblomow seufzte. »Ich glaube, du bist auch zum Leben zu faul?« fragte Stolz. »Du hast wohl recht, Andrej; ich bin zu faul dazu.« Andrej erwog in seinem Kopf die Frage, wodurch er ihn packen konnte, und wo er noch eine lebendige Stelle besaß; dabei betrachtete er ihn schweigend und lachte plötzlich auf. »Warum trägst du einen Zwirnstrumpf und einen Baumwollstrumpf?« bemerkte er plötzlich, auf Oblomows Füße hinweisend. »Du hast auch das Hemd verkehrt an!« Oblomow blickte seine Füße und dann sein Hemd an. »Wirklich!« gab er verlegen zu. »Dieser Sachar ist mir zur Strafe geschickt worden! Du wirst nicht glauben, wie ich mich mit ihm abquäle! Er streitet mit mir, ist grob, läßt sich aber nichts sagen!« »Ach, Ilja, Ilja!« sagte Stolz, »nein, ich lasse dich nicht in diesem Zustand. In einer Woche wirst du dich nicht wiedererkennen. Abends werde ich dir meinen genauen Plan mitteilen, was ich mit mir und mit dir anzufangen beabsichtige, und jetzt zieh dich an.« »Wart nur, ich werde dich schon aufrütteln. Sachar!« schrie er, »Ilja Iljitsch wird sich ankleiden!« »Wohin soll ich, ich bitte dich, was hast du? Gleich kommen Tarantjew und Alexejew zum Mittagessen. Dann wollten wir ...« »Sachar!« sagte Stolz, ohne ihm zuzuhören, »hilf ihm beim Ankleiden.« »Zu Befehl, Väterchen Andrej Iwanowitsch, ich putze nur erst noch die Schuhe«, sagte Sachar gutgelaunt. »Wie? Die Schuhe sind um fünf Uhr noch ungeputzt?« »Sie sind schon seit voriger Woche geputzt, aber der Herr ist nicht ausgegangen, und da ist der Glanz wieder verlorengegangen ...« »Dann gib sie so, wie sie sind, her. Trag meinen Koffer in den Salon, ich steige bei euch ab. Ich ziehe mich gleich an, mache auch du dich fertig, Ilja. Wir werden irgendwo unterwegs Mittag essen, dann fahren wir zu zwei, drei Familien hin, und ...« »Aber du kommst so plötzlich damit ... warte ... laß mich erst überlegen ... ich bin ja nicht rasiert ...« »Du brauchst dir gar nichts zu überlegen und dich hinter dem Ohr zu kratzen ... Du wirst dich unterwegs rasieren lassen; ich führe dich schon irgendwohin.« »Zu welchen Familien werden wir denn hinfahren?« rief Oblomow betrübt aus, »zu unbekannten? Was du dir ausdenkst! Ich gehe lieber zu Iwan Gerassimowitsch hin; ich war schon drei Tage nicht bei ihm.« »Wer ist das, Iwan Gerassimowitsch?« »Er war früher mein Kollege im Amt ...« »Ah! Dieser grauhaarige Exekutor; was hast du an ihm gefunden? Was ist das für ein Vergnügen, die Zeit mit diesem Dummkopf totzuschlagen!« »Wie schroff du manchmal über die Menschen urteilst, Andrej, Gott weiß, wie du dazukommst. Er ist doch ein guter Mensch, nur daß er keine holländischen Hemden trägt.« »Was machst du bei ihm? Worüber sprecht ihr?« fragte Stolz. »Weißt du, bei ihm im Hause ist es so bequem und gemütlich. Die Zimmer sind klein, die Sofas sind so tief, daß man mit dem Kopf einsinkt und gar nicht zu sehen ist. Die Fenster sind mit Efeu und mit Kakteen ganz bedeckt. Er hat mehr als ein Dutzend Kanarienvögel und drei so gute Hunde! Auf dem Tisch steht immer ein Imbiß vorbereitet. Die Stiche stellen lauter Familienszenen vor. Wenn man hinkommt, möchte man gar nicht wieder fortgehen. Man sitzt sorglos da, ohne an irgend etwas zu denken, und weiß, daß daneben ein ... zwar nicht gescheiter Mensch sitzt; man kann natürlich nicht daran denken, mit ihm Gedanken auszutauschen, dafür ist er einfach, gutmütig, gastfreundlich, ohne Ansprüche und verspottet einen nicht hinter dem Rücken!« »Was macht ihr denn?« »Was? Ich komme hin, wir setzen uns einander gegenüber auf die Sofas, ziehen die Füße hinauf, er raucht ...« »Nun, und du?« »Ich ... rauche auch und höre zu, wie die Kanarienvögel rollen. Dann bringt Marfa den Samowar.« »Tarantjew, Iwan Gerassimowitsch!« sagte Stolz achselzuckend. »Nun zieh dich schnell an«, mahnte er zur Eile. »Und wenn Tarantjew kommt, sag ihm«, fügte er, sich an Sachar wendend, hinzu, »daß wir auswärts zu Mittag essen und daß Ilja Iljitsch den ganzen Sommer auswärts speisen wird, daß er dann im Herbst viel zu tun haben wird und daß er ihn wohl kaum empfangen können wird ...« »Ich werde es sagen, ich vergesse es nicht, ich werde es schon sagen«, antwortete Sachar, »und was befehlen Sie mit dem Mittagessen anzufangen?« »Iß es mit irgend jemand auf und laß dir's gut schmecken.« »Zu Befehl, gnädiger Herr.« Nach etwa zehn Minuten kam Stolz angekleidet, rasiert und gekämmt herein und fand Oblomow melancholisch auf dem Bett sitzend und sich langsam die Hemdbrust zuknöpfend vor, wobei er mit dem Knopf nicht ins Knopfloch hineinfinden konnte. Vor ihm kniete auf einem Knie Sachar mit dem ungeputzten Schuh wie mit einer Platte und wartete darauf, daß der Herr fertig würde, um ihn anzuziehen. »Du hast noch keine Schuhe an!« sagte Stolz erstaunt. »Nun, Ilja, geschwind, geschwind!« »Wohin denn? Wozu?« sagte Oblomow voll Bangigkeit, »was habe ich dort zu suchen? Ich bin zurückgeblieben, ich habe keine Lust ...« »Geschwind, geschwind!« trieb Stolz zur Eile an. Viertes Kapitel Viertes Kapitel Obwohl es nicht mehr früh war, hatten sie noch Zeit, in Geschäften irgendwohin zu fahren, dann nahm Stolz einen Goldgrubenbesitzer zum Essen mit, dann fuhren sie zu ihm aufs Land Tee trinken und trafen dort eine große Gesellschaft an, so daß Oblomow aus seiner vollkommenen Einsamkeit plötzlich in eine Menschenmenge versetzt wurde ... Sie kehrten spät in der Nacht nach Hause zurück. Das wiederholte sich auch am zweiten und dritten Tage, und eine ganze Woche flog unmerklich vorüber. Oblomow protestierte, klagte, stritt, wurde aber mit hingerissen und begleitete seinen Freund überallhin. Eines Tages, als er von irgendwoher spät zurückkehrte, lehnte er sich mit besonderer Energie gegen diesen Trubel auf. »Ganze Tage lang«, brummte Oblomow, sich in seinen Schlafrock einwickelnd, »zieht man die Schuhe nicht aus; die Füße brennen mir nur so! Euer Petersburger Leben gefällt mir nicht!« fuhr er fort, sich aufs Sofa hinlegend. »Was für eines gefällt dir denn?« fragte Stolz. »Ein anderes als das hier.« »Was mißfällt dir denn hier so sehr?« »Alles, das ewige Wettlaufen, das Spiel der häßlichen Leidenschaften, besonders dieser hier, das Einanderimwegestehen, der Klatsch und das Verleumden, die Nasenstüber, die man sich gegenseitig austeilt, dieses Mustern vom Kopf bis zu den Füßen; wenn man zuhört, worüber gesprochen wird, schwindelt es einem und man wird ganz wirr. Man glaubt so gescheite Menschen mit einer solchen Würde im Gesicht zu sehen, man hört aber nur das eine: ›Diesem hat man das gegeben, jener hat die Pacht bekommen.‹ – ›Aber ich bitte, wofür denn?‹ schreit jemand. ›Dieser hat gestern im Klub alles verspielt; jener bekommt dreihunderttausend!‹ Nichts als Langeweile, Langeweile und Langeweile! ... Wo bleibt denn da der Mensch! Wo ist seine Ganzheit? Wohin ist er verschwunden, auf welche Nichtigkeit hat er seine Seele verbraucht?« »Irgend etwas muß doch die Welt und die Gesellschaft beschäftigen«, sagte Stolz, »ein jeder hat seine eigenen Interessen. Das ist das Leben ...« »Die Welt, die Gesellschaft! Du schickst mich wohl absichtlich in diese Welt und diese Gesellschaft, Andrej, um mir alle Lust hinzukommen zu nehmen. Das Leben, dieses Leben ist schön! Was hat man dort zu suchen? Nahrung für Geist und Herz? Schau einmal hin, wo der Mittelpunkt ist, um den das alles sich dreht; es gibt keinen, es gibt nichts Tiefes, das einen packen könnte. Das alles sind tote, schlafende Men schen; diese Mitglieder der Welt und Gesellschaft sind noch schlimmer als ich! Was leitet sie durchs Leben? Sie bleiben nicht liegen und rennen den ganzen Tag wie Fliegen hin und her, und was kommt dabei heraus? Man tritt in den Salon und bewundert, wie symmetrisch die Gäste verteilt sind, wie ruhig und tiefsinnig sie – bei den Karten sitzen. Man muß sagen, das ist eine würdige Lebensaufgabe! Ein ausgezeichnetes Vorbild für einen Geist, der nach Arbeit sucht! Sind denn das nicht Tote? Verschlafen sie denn nicht im Sitzen das ganze Leben? Warum bin ich, der ich den ganzen Tag zu Hause liege und den Kopf nicht mit Buben und Dreien vollpfropfe, mehr zu verurteilen?« »Das ist alles alt und ist tausendmal gesagt worden«, bemerkte Stolz. »Weißt du nichts Neueres?« »Und was tut die Blüte unserer Jugend? Schläft sie denn nicht im Gehen, im Fahren über den Newsky, im Tanzen? Das ist ein einfacher, leerer Wechsel der Tage! Und schau einmal hin, mit welchem Stolz und mit welcher Würde, mit welchem abstoßenden Blick sie alle diejenigen betrachten, die anders gekleidet sind und nicht ihren Namen und Rang besitzen. Und diese Unglücklichen bilden sich noch ein, über der Menge zu stehen: ›Wir bekleiden einen Posten, den sonst niemand bekleidet; wir sitzen in der ersten Reihe, wir kommen auf den Ball zum Fürsten N., wo nur wir zugelassen werden ...‹ Und wenn sie zusammenkommen, betrinken sie sich und raufen wie Wilde miteinander! Sind denn das lebendige, empfängliche Menschen! Und nicht nur die Jugend allein; schau dir die Erwachsenen an. Sie versammeln sich und bewirten sich gegenseitig; es ist aber weder Gastfreundschaft noch Güte noch gegenseitige Sympathie darin! Sie kommen zum Mittagessen oder zum Abend wie in ein Amt, ohne Fröhlichkeit, kalt, um mit dem Koch und dem Salon zu prahlen und dann bei Gelegenheit einander zu verspotten und ein Bein zu stellen. Vorgestern beim Mittagessen wußte ich nicht, wo ich hinschauen sollte, und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, als der gute Ruf der Abwesenden in den Kot gezerrt wurde: ›Dieser ist dumm, jener gemein, der eine ist ein Dieb, der zweite lächerlich.‹ – Die reinste Parforcejagd! Während dieser Gespräche blicken sie einander mit Augen an, die zu sagen scheinen: ›Geh nur zur Tür hinaus, dann kriegst auch du dasselbe ab ...‹ Wozu kommen sie denn zusammen, wenn sie so sind? Man hört weder ein aufrichtiges Lachen, noch sieht man einen Schein von Sympathie! Sie bestreben sich, einen hohen Rang, einen lauten Namen zu erhaschen. ›Dieser da war bei mir und ich war bei jenem‹ – prahlen sie dann ... Was ist denn das für ein Leben? Ich will kein solches. Was kann ich dort lernen, womit mich bereichern?« »Weißt du was, Ilja!« sagte Stolz, »du urteilst wie ein alter Mann; in den alten Büchern steht genau dasselbe. Übrigens ist auch das gut; wenigstens denkst du und schläfst nicht. Nun, was hast du noch zu sagen? Fahre fort!« »Was soll ich denn noch sagen? Sieh einmal zu: niemand hat hier eine frische, gesunde Gesichtsfarbe.« »Das ist die Schuld des Klimas«, unterbrach ihn Stolz. »Du hast ja auch ein welkes Gesicht, und du rennst nicht herum, sondern liegst immer.« »Niemand hat einen ruhigen, klaren Blick«, fuhr Oblomow fort; »alle stecken sich gegenseitig mit irgendeiner quälenden Sorge, mit Traurigkeit an und suchen krankhaft nach etwas. Und wenn es noch das Wahre und Gute für sich und andere wäre – aber nein, sie erbleichen ja beim Erfolg ihres Kameraden. Der eine denkt daran, daß er morgen zur Behörde gehen muß; sein Prozeß zieht sich schon in das fünfte Jahr hin, sein Gegner gewinnt die Oberhand, und er trägt fünf Jahre lang den einen Gedanken, den einen Wunsch mit sich herum, den andern zu stürzen und auf den Trümmern seines Glückes den eigenen Wohlstand aufzubauen. Fünf Jahre lang im Wartezimmer herumgehen, zu sitzen und zu seufzen – das ist ein ideales Lebensziel. Ein zweiter quält sich, weil er verdammt ist, jeden Tag ins Amt zu gehen und bis fünf Uhr dazubleiben, und jener seufzt tief, weil ihm ein solcher Segen nicht beschert worden ist ...« »Du bist ein Philosoph, Ilja!« sagte Stolz. »Alle sorgen sich, nur du brauchst nichts!« »Jener gelbe Herr mit der Brille«, sprach Oblomow weiter, »hat mir keine Ruhe gelassen, ob ich die Rede irgendeines Abgeordneten gelesen habe, und hat mich angeglotzt, als ich ihm gesagt habe, daß ich keine Zeitungen lese. Und dann hat er von Louis Philipp angefangen, als wär's sein leiblicher Vater. Dann hat er gefragt, warum der französische Botschafter meiner Meinung nach aus Rom verreist ist! Wie, man soll das ganze Leben lang dazu verurteilt sein, sich täglich mit Neuigkeiten über die ganze Welt vollzuladen und die ganze Woche lang darüber zu schreien, bis man nicht mehr kann! Heute schickt Mehmed Ali ein Schiff nach Konstantinopel – und er zerbricht sich darüber den Kopf, warum? Morgen hat Don Carlos keinen Erfolg – und er ist furchtbar aufgeregt. Hier baut man einen Kanal, dort hat man ein Regiment nach dem Osten geschickt; o Gott, es wird Sturm geläutet! Er ist außer sich, rennt und schreit, als hätte das Regiment es auf ihn abgesehen. Sie räsonieren und überlegen sich die Sache nach allen Richtungen hin und langweilen sich dabei – denn es interessiert sie gar nicht; durch all das Geschrei hindurch sieht man ihren Geist schlafen! Es ist ihnen fremd; sie gehen nicht in ihrem eigenen Hut. Sie haben keine Beschäftigung, darum stürzen sie sich nach allen Richtungen hin, ohne irgendein Ziel zu haben. Obwohl sie alles umfassen wollen, bergen sie nichts als Leere und Mangel an Sympathie allem gegenüber in sich! Sich einen bescheidenen Pfad der Arbeit zu wählen und ihn zu verfolgen, eine tiefe Spur zu hinterlassen, das ist langweilig und nicht genug sichtbar; dort hilft das Allwissen nicht und man kann niemand etwas vormachen ...« »Nun, du und ich haben uns nicht nach allen Seiten weggeworfen. Wo ist denn unser bescheidener Weg der Arbeit?« fragte Stolz. Oblomow schwieg plötzlich. »Ich muß doch zuerst ... den Plan fertig machen ...« sagte er. »Lassen wir sie!« fügte er dann ärgerlich hinzu, »ich rühre sie nicht an, ich suche nichts; ich sehe das alles nur nicht als ein normales Leben an. Nein, das ist kein Leben, das ist eine Verzerrung der Norm, des Lebensideals, auf das die Natur den Menschen hingewiesen hat ...« »Was ist denn das für ein Ideal, für eine Norm des Lebens?« Oblomow antwortete nicht. »Nun, sage mir, wie würdest du dir dein Leben einrichten?« fragte Stolz weiter. »Ich habe es mir schon klargemacht.« »Wie denn? Erzähle mir, bitte ...« »Wie?« sagte Oblomow, sich auf den Rücken umwendend und auf die Decke schauend, »ja wie! Vor allem würde ich aufs Gut fahren.« »Was hindert dich denn daran?« »Der Plan ist nicht fertig. Dann würde ich nicht allein, sondern mit meiner Frau hinfahren ...« »Ah, so ist die Sache! Nun, nur zu. Worauf wartest du denn? Noch drei, vier Jahre, und dich nimmt keine mehr ...« »Was soll man tun, es ist mir wohl nicht beschieden!« sagte Oblomow seufzend, »mein Vermögen erlaubt es mir nicht.« »Aber ich bitte dich, und Oblomowka? Dreihundert Seelen!« »Ist denn das genug, um mit einer Frau zu leben?« »Was braucht man, um zu zweit zu leben?« »Und wenn Kinder kommen?« »Du wirst die Kinder so erziehen, daß sie sich selbst alles verschaffen werden; du mußt nur verstehen, sie zu leiten ...« »Nein, warum soll man aus Edelleuten Handwerker machen?« unterbrach Oblomow trocken. »Und wie soll man auch zu zweit, ohne Kinder, damit auskommen? Es heißt nur so, zu zweit mit der Frau, in Wirklichkeit aber kommen, sobald man heiratet, von allen Seiten allerlei Frauenzimmer ins Haus. Blicke in jede beliebige Familie hinein; das sind weder Verwandte noch Wirtschafterinnen; wenn sie nicht im Hause leben, kommen sie täglich Kaffee trinken und Mittag essen ... Wie soll man wohl mit dreihundert Seelen ein solches Pensionat erhalten?« »Nun gut, nehmen wir an, man hätte dir noch dreihunderttausend geschenkt, was würdest du dann tun?« fragte Stolz, der sehr neugierig geworden war. »Ich würde das Geld gleich in die Bank tragen«, sagte Oblomow, »und von den Prozenten leben.« »Dort bekommt man wenig ausgezahlt; warum würdest du das Geld nicht in irgendeinem Unternehmen, zum Beispiel in dem unsrigen, anlegen?« »Nein, Andrej, ich lasse mich nicht anschmieren.« »Wie, du würdest es auch mir nicht anvertrauen?« »Um keinen Preis; es handelt sich ja nicht um dich, aber was kann nicht alles vorkommen; und wenn die Sache kracht, dann sitze ich ohne eine Kopeke da. In einer Bank ist das ganz anders.« »Nun gut, was würdest du also tun?« »Ich würde in mein neues, bequem eingerichtetes Haus fahren ... In der Umgegend würden liebe Nachbarn leben, zum Beispiel du ... Aber du kannst ja nicht an einem Orte bleiben ...« »Und würdest du immer dort bleiben? Du würdest nirgends hinfahren?« »Nirgends.« »Warum bemüht man sich denn überall Eisenbahnen und Dampfschiffe zu bauen, wenn das Ideal des Lebens darin besteht, an einem Ort zu sitzen? Wollen wir ein Gesuch einreichen, daß nicht weiter gearbeitet wird; wir fahren ja doch nicht, Ilja!« »Es gibt aber auch außer uns genug Leute; gibt es denn wenige Verwalter, Kaufleute, Beamte, unbeschäftigte Reisende, die kein Heim haben? Die sollen nur fahren!« »Und wer bist du denn?« Oblomow schwieg. »Zu welcher Gesellschaftsklasse zählst du dich denn?« »Frage Sachar!« sagte Oblomow. Stolz erfüllte buchstäblich Oblomows Wunsch. »Sachar!« rief er. Sachar kam mit schläfrigen Augen herein. »Wer liegt da?« fragte Stolz. Sachar wurde plötzlich wach und blickte von der Seite mißtrauisch zuerst Stolz und dann Oblomow an. »Wer das ist? Sehen Sie denn nicht?« »Ich sehe nicht«, sagte Stolz. »Was soll denn das heißen? Das ist der gnädige Herr, Ilja Iljitsch.« Er lächelte. »Gut, geh!« »Der gnädige Herr!« wiederholte Stolz und brach in Lachen aus. »Nun, ein Gentleman«, verbesserte Oblomow ärgerlich. »Nein, nein, du bist der gnädige Herr!« fuhr Stolz lachend fort. »Was ist denn da für ein Unterschied?« fragte Oblomow, »ein Gentleman ist auch ein gnädiger Herr.« »Ein Gentleman ist ein solcher gnädiger Herr, der sich selbst die Strümpfe anzieht und auch selbst seine Schuhe auszieht.« »Ja, ein Engländer macht das selbst, weil sie nicht so viel Dienstboten haben, aber ein Russe ...« »Also zeichne mir die Umrisse deines Lebensideals zu Ende. Nun, um dich herum leben liebe Nachbarn; was ist dann weiter? Wie würdest du deine Tage verbringen?« »Ja, also ich würde des Morgens aufstehen«, begann Oblomow, die Hände unter den Hinterkopf schiebend, und über sein Gesicht verbreitete sich ein Ausdruck von Ruhe; er war im Geiste schon auf dem Gut. »Das Wetter ist herrlich, der Himmel ist tiefblau, ohne ein einziges Wölkchen«, sprach er, »die eine Seite des Hauses ist auf meinem Plan mit dem Balkon nach Osten, dem Garten und den Feldern zugewendet, die andere dem Dorfe zu. In Erwartung des Erwachens meiner Frau würde ich den Schlafrock anziehen und in den Garten gehen, um die Morgendünste einzuatmen; dort finde ich schon den Gärtner vor, wir begießen zusammen die Blumen und stutzen das Gebüsch und die Bäume. Ich pflücke einen Strauß Blumen für meine Frau. Dann gehe ich in die Wanne oder in den Fluß baden, komme zurück, und der Balkon ist schon offen; meine Frau steht in einer Bluse und einem leichten Häubchen, das sich kaum hält und, wie es scheint, gleich fortfliegen wird ... Sie erwartet mich. ›Der Tee ist fertig‹, sagt sie. Was für ein Kuß! Was für ein Tee! Was für ein bequemer Sessel! Ich setze mich an den Tisch; darauf steht Zwieback oder frische Butter ...« »Dann!« »Dann ziehe ich einen weiten Rock oder irgendeine Joppe an, umfasse die Taille meiner Frau und vertiefe mich mit ihr in eine endlose, dunkle Allee; wir gehen langsam und sinnend, schweigen oder denken laut, träumen, zählen die Augenblicke des Glücks wie das Schlagen des Pulses; hören zu, wie das Herz klopft oder erstarrt; suchen in der Natur nach Widerhall ... und kommen unmerklich zum Fluß, zum Feld hin ... Der Fluß plätschert leise; die Ähren wogen im Winde, es ist heiß ... Wir steigen ins Boot, die Frau rudert, die Ruder kaum sichtbar hebend ...« »Du bist ja ein Dichter, Ilja!« unterbrach Stolz. »Ja, ein Dichter des Lebens, denn das Leben ist Poesie. Es gefällt nur den Menschen, es zu verzerren! Dann kann man in das Glashaus gehen«, fährt Oblomow fort, sich selbst an dem beschriebenen Ideal des Glückes berauschend. Er entnahm seiner Phantasie die fertigen, längst entworfenen Bilder und sprach darum voll Begeisterung und ohne sich zu unterbrechen. »Wir schauen uns die Pfirsiche und Weintrauben an«, sprach er, »geben an, was bei Tische aufzutragen ist, kehren dann zurück, nehmen ein leichtes Frühstück ein und erwarten die Gäste ... Und unterdessen bekommt die Frau ein Briefchen von irgendeiner Marja Pjetrowna mit beigelegten Noten oder einem Buch, es wird eine Ananas zum Geschenk geschickt oder es ist in meinem Glashaus eine riesengroße Melone gereift, die wir einem guten Freund für morgen zum Mittagessen schicken, und wir fahren auch selbst hin ... Und in der Küche sind unterdessen alle Hände beschäftigt. Der Koch rennt in der schneeweißen Schürze und Mütze hin und her; er stellt eine Pfanne hin und nimmt eine andere vom Feuer, hier rührt er etwas, dort knetet er den Teig und schüttet das Wasser aus ... Die Messer sind in immerwährender Bewegung ... Das Gemüse wird zerhackt ... Dort wird die Eismaschine gedreht ... Es ist angenehm, vor dem Essen in die Küche hineinzublicken, eine Pfanne zu öffnen und zu riechen, zuzuschauen, wie die Pirogen zusammengerollt werden und wie der Rahmschaum geschlagen wird. Dann lege ich mich aufs Sofa; die Frau liest mir etwas Neues vor; wir unterbrechen die Lektüre und debattieren ... Jetzt kommen die Gäste, zum Beispiel du mit deiner Frau.« »Was, du läßt auch mich heiraten?« »Natürlich! Dann noch zwei, drei Freunde, immer dieselben Gesichter. Wir setzen das gestrige, unvollendete Gespräch fort; es wird gescherzt oder es tritt auch ein beredtes Schweigen, eine Nachdenklichkeit ein – nicht infolge des Verlustes eines Amtes oder einer Angelegenheit im Senat, sondern infolge der Fülle verwirklichter Wünsche –, das Sinnen des Glückes ... Man hört keine Philippika, die mit Schaum auf den Lippen den Abwesenden zugeschleudert wird, du fängst keinen Blick auf, der auch dir dasselbe verspricht, sobald die Tür hinter dir zugefallen ist. Mit demjenigen, der uns nicht lieb ist, der schlecht ist, teilen wir unser Brot und Salz nicht. In den Augen der Anwesenden sieht man Sympathie, beim Scherz hört man ein aufrichtiges, gutmütiges Lachen ... Alles kommt von Herzen! Was in den Augen und in den Worten ist, ist auch im Herzen! Auf das Mittagessen folgt Mokka und eine Havanna auf der Terrasse ...« »Du malst mir dasselbe, was auch bei den Vätern und Großvätern war.« »Nein, das ist nicht dasselbe«, entgegnete Oblomow, fast beleidigt, »wieso denn? Würde sich denn meine Frau mit Pilzen und Eingesottenem befassen? Würde sie denn die Garnsträhne zählen und die Leinwand messen? Würde sie denn die Mägde auf die Backen schlagen? Hörst du! Wir haben Noten, Bücher, ein Klavier, elegante Möbel!« »Nun, und du selbst?« »Ich würde selbst keine vorjährigen Zeitungen lesen, würde nicht in einer Kalesche fahren und nicht Mandeln und Gänse essen, sondern ich würde meinen Koch im englischen Klub oder beim Gesandten lernen lassen.« »Nun, und dann?« »Dann, wenn die Hitze nachläßt, würden wir einen Wagen mit dem Samowar und dem Dessert in den Birkenhain oder aufs Feld, aufs gemähte Gras schicken, würden zwischen den Garben Teppiche ausbreiten und so bis zur Okroschka 1 und dem Beefsteak schwelgen. Die Bauern kehren mit den Sensen auf den Schultern vom Felde zurück, dort führt man Heu vorüber, das den ganzen Wagen und das Pferd bedeckt; oben steckt aus dem Haufen eine blumenumwundene Bauernmütze und ein Kinderköpfchen hervor; dort singt eine Gruppe barfüßiger Frauen mit Sicheln in den Händen ... Plötzlich erblicken sie die Herrschaft, verstummen und verneigen sich tief. Eine davon hat einen sonnengebräunten Hals, nackte Ellenbogen und schüchtern gesenkte, aber schelmische Augen, sie gibt sich nur den Anschein, den Herrn zurückzuweisen, ist aber glücklich ... Pst! ... daß die Frau es nicht merkt, um Gottes willen!« Oblomow und Stolz lachten herzlich. »Es ist feucht im Felde«, schloß Oblomow, »es ist dunkel; der Nebel hängt wie ein umgestürztes Meer über dem Korn; die Pferde zittern an den Schultern und schlagen mit den Hufen; es ist Zeit heimzukehren. Im Hause flimmern schon Lichter; in der Küche hämmern die Messer; eine Pfanne voll Pilze, Kotelettes, Beeren ... Dann Musik ... Casta diva ... Casta diva! « sang Oblomow. »Ich kann an Casta diva nicht gleichgültig denken«, sagte er, nachdem er den Anfang der Kavatine gesungen hatte; »wie diese Frau ihr Herzleid klagt! Welche Trauer liegt in diesen Tönen! ... Und niemand um sie herum weiß etwas ... Sie ist allein ... Das Geheimnis lastet auf ihr; sie vertraut es dem Mond an ...« »Du liebst diese Arie? Das freut mich sehr; Olja Iljiuskaja singt sie sehr schön. Ich werde dich dort bekannt machen – ist das eine Stimme und ein Gesang! Und was ist sie selbst für ein entzückendes Kind! Übrigens urteile ich vielleicht nicht objektiv; ich habe eine Schwäche für sie ... Laß dich aber nicht ablenken«, fügte Stolz hinzu, »erzähle.« »Nun«, fuhr Oblomow fort, »was noch? ... Das ist alles! ... Die Gäste ziehen sich in die Seitengebäude und die Pavillons zurück; und am nächsten Morgen geht jeder seines Weges; der eine fischt, der andere nimmt das Gewehr, der sitzt einfach so da ...« »Einfach so, ohne etwas in der Hand zu haben?« fragte Stolz. »Was brauchst du denn? Vielleicht ein Taschentuch. Würdest du nicht so leben wollen?« fragte Oblomow, »was? Ist das nicht das Leben?« »Und immer dasselbe?« fragte Stolz. »Bis zu den grauen Haaren, bis zum Grabe. Das ist das Leben!« »Nein, das ist nicht das Leben!« »Wieso nicht? Was fehlt hier? Denke nur daran, daß du keinem einzigen bleichen, leidenden Gesicht, keiner Sorge, keiner einzigen Frage bezüglich des Senats, der Börse, der Aktien, der Relationen, des Empfanges beim Minister, der Titel, der Erhöhung der Diäten begegnen würdest. Es werden nur intime Gespräche geführt! Du würdest niemals deine Wohnung zu wechseln brauchen – was das allein wert ist! Und das wäre nicht das Leben?« »Das ist nicht das Leben!« wiederholte Stolz beharrlich. »Was ist es denn dann deiner Meinung nach?« »Das ...« (Stolz sann nach, wie er dieses Leben nennen sollte) »das ist ... eine Oblomowerei!« sagte er endlich. »Ob-lo-mowerei!« wiederholte Ilja Iljitsch langsam, sich über dieses seltsame Wort wundernd und es nach den Silben zerlegend, »Ob-lo-mo-we-rei!« Er blickte Stolz seltsam und forschend an. »Worin besteht denn deiner Ansicht nach das Lebensideal? Nicht in der Oblomowerei?« fragte er schüchtern und ohne Begeisterung, »streben denn nicht alle nach dem, wovon ich träume? Ich bitte dich«, fügte er dreister hinzu, »ist denn das Erreichen der Ruhe, das Streben nach diesem verlorenen Paradiese nicht das Ziel eurer ganzen Geschäftigkeit, eurer Leidenschaften, eurer Kriege, eures Handelns und eurer Politik?« »Deine Utopie ist echt oblomowisch«, entgegnete Stolz. »Alle streben nach Ruhe und Stille«, verteidigte sich Oblomow. »Nicht alle, auch du hast vor zehn Jahren im Leben nach etwas andrem gesucht.« »Wonach habe ich denn gesucht?« fragte Oblomow erstaunt, sich im Geiste in die Vergangenheit versenkend. »Denke nach und erinnere dich. Wo sind deine Bücher und Übersetzungen?« »Sachar hat sie irgendwohin gesteckt«, antwortete Oblomow, »sie liegen wohl irgendwo hier in der Ecke.« »In der Ecke«, sagte Stolz vorwurfsvoll, »in derselben Ecke liegen auch deine Vorsätze ›zu arbeiten, solange die Kräfte ausreichen; denn Rußland braucht Hände und Köpfe zum Verarbeiten seiner unerschöpflichen Quellen‹ (deine eigenen Worte), ›sich abzumühen, damit das Ausruhen süßer ist, und sich ausruhen bedeutet, das Leben von einer anderen, artistischen, anmutigen Seite zu genießen, die den Künstlern und Dichtern offensteht‹. Hat Sachar auch alle diese Vorsätze in die Ecke geworfen? Erinnerst du dich, du wolltest, nachdem du mit den Büchern fertig sein würdest, in fremde Länder reisen, um dann das eigene besser zu kennen und mehr zu lieben? ›Das ganze Leben ist Denken und Arbeiten‹, sagtest du damals, ›und wenn es auch ein geheimes, bescheidenes, aber doch ein unaufhörliches Arbeiten ist und man mit dem Bewußtsein sterben kann, seine Pflicht erfüllt zu haben‹ – was? In welcher Ecke liegt das bei dir?« »Ja ... ja ...«, sagte Oblomow, jedes Wort unruhig aufnehmend, »ich erinnere mich, daß ich wirklich ... ich glaube ... Wie ist es denn?« sagte er, sich plötzlich an die Vergangenheit erinnernd, »wir hatten wohl vor, ganz Europa kreuz und quer zu durchstreifen, die Schweiz zu Fuß zu durchwandern, die Füße am Vesuv zu sengen, nach Herkulanum herabzusteigen. Wir sind beinahe verrückt geworden! Wieviel Dummheiten ...« »Dummheiten!« wiederholte Stolz vorwurfsvoll. »Hast du nicht beim Anblick der Stiche, welche die Madonnen von Raffael, die Nacht von Correggio, Apollo von Belvedere wiedergaben, unter Tränen gesagt: ›Mein Gott! Wird es mir nie beschieden sein, die Originale zu sehen und vor Entsetzen zu erstarren, weil ich vor einem Werke von Michel Angelo oder von Tizian stehe und über den Boden von Rom schreite! Kann man denn ein ganzes Leben verbringen und die Myrten, Zypressen und Pomeranzen in Glashäusern und nicht in ihrer Heimat sehen? Nicht die Luft Italiens einatmen und sich nicht an der Bläue des Himmels berauschen?‹ Und was für glänzendes Feuerwerk du deinem Kopfe sonst noch entsteigen ließest! Dummheiten.« »Ja, ja, ich erinnere mich!« sagte Oblomow, sich in die Vergangenheit zurückdenkend. »Du hast mich noch bei der Hand genommen und gesagt: ›Wollen wir uns das Versprechen geben, nicht zu sterben, bevor wir das alles gesehen haben ...‹« »Ich erinnere mich«, fuhr Stolz fort, »daß du mir einmal eine Übersetzung von Say mit einer Widmung zu meinem Geburtstage gebracht hast; die Übersetzung liegt noch unversehrt bei mir. Und wie du dich mit dem Lehrer der Mathematik eingeschlossen hast und durchaus darauf kommen wolltest, wozu du die Kreise und Quadrate kennen mußt, und bist doch nicht darauf gekommen! Du hast angefangen, Englisch zu lernen ... und hast nicht zu Ende gelernt! Und als ich den Plan einer Reise ins Ausland entwarf und dir vorschlug, dir die deutschen Universitäten anzusehen, bist du aufgesprungen, hast mich umarmt und mir feierlich die Hand gereicht: ›Ich bin dein, Andrej, ich folge dir überallhin‹ – das sind deine Worte. Du hattest immer etwas von einem Schauspieler an dir. Was ist daraus geworden, Ilja? Ich war zweimal im Auslande und habe, nachdem ich mit unserer Weisheit vertraut geworden war, bescheiden auf den Universitätsbänken in Bonn, in Jena und in Erlangen gesessen und habe Europa wie mein Gut kennengelernt. Übrigens ist eine Reise ins Ausland ein Luxus, den nicht ein jeder in der Lage und verpflichtet ist, sich zu leisten; aber Rußland? Ich habe Rußland kreuz und quer durchreist. Ich arbeite ...« »Du wirst doch einmal zu arbeiten aufhören«, bemerkte Oblomow. »Ich werde niemals aufhören. Warum denn?« »Wenn du dein Kapital verdoppelt hast«, sagte Oblomow. »Ich höre auch dann nicht auf, wenn ich es vervierfacht habe.« »Weswegen mühst du dich dann ab?« fragte Oblomow nach einer Weile, »wenn dein Ziel nicht darin besteht, dich für immer zu versorgen und dich dann zurückzuziehen und auszuruhen? ...« »Die ländliche Oblomowerei!« sagte Stolz. »Oder durch dein Amt eine Stellung und einen Namen in der Gesellschaft zu erlangen und dann in achtbarem Nichtstun die verdiente Ruhe zu genießen ...« »Petersburger Oblomowerei!« entgegnete Stolz. »Wann soll man denn leben?« fragte Oblomow, durch die Bemerkung von Stolz gereizt. »Wozu soll man sich dann das ganze Leben abquälen?« »Um der Arbeit selber willen, das ist alles. Die Arbeit ist die Gestalt, der Inhalt, das Element und Ziel des Lebens, wenigstens des meinigen. Sieh, du hast die Arbeit aus dem Leben verbannt; was ist daraus geworden? Ich versuche, dich, vielleicht zum letzten Male, aufzurütteln. Wenn du auch dann noch mit den Tarantjews und Alexews hier sitzenbleiben wirst, dann bist du ganz verloren und wirst dir selbst zur Last fallen. Jetzt oder nie!« schloß er. Oblomow hörte ihm zu und blickte ihn mit unruhigen Augen an. Es war, als hätte der Freund ihm einen Spiegel vorgehalten und als hätte er sich entsetzt erkannt. »Schilt mich nicht, Andrej, sondern hilf mir wirklich!« begann er seufzend. »Ich quäle mich damit ab, und wenn du zum Beispiel heute gesehen und gehört hättest, wie ich mir selbst ein Grab vorbereite und mich beweine, hättest du es nicht fertig gebracht, mir Vorwürfe zu machen. Ich weiß und begreife alles, ich habe aber keine Kraft und keinen Willen. Gib mir deinen Willen und deinen Verstand und führe mich, wohin du willst. Ich werde dir vielleicht folgen, aber allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Du sagst die Wahrheit: ›Jetzt oder nie mehr!‹ Noch ein Jahr, und es ist zu spät!« »Bist denn du das, Ilja?« sprach Andrej, »ich sehe dich als einen schlanken, lebhaften Knaben, wie du jeden Tag von der Pretschistenka 2 nach Kudrino gegangen bist; dort im Garten ... Hast du die zwei Schwestern vergessen? Und Rousseau, Schiller, Goethe, Byron, die du ihnen hingetragen hast, und die Romane von Cottin und Genlis, die du ihnen fortgenommen hast ... Weißt du noch, wie wichtig du vor ihnen getan hast und wie du ihren Geschmack reinigen wolltest?« Oblomow sprang vom Sofa auf. »Wie, du erinnerst dich noch daran, Andrej? Ja, gewiß! Ich habe mit ihnen geträumt, habe ihnen Zukunftshoffnungen zugeflüstert, habe ihre Pläne, Gedanken und auch Gefühle im geheimen vor dir entwickelt, damit du mich nicht auslachst. Dort ist das alles gestorben und hat sich nie mehr wiederholt! Und wo ist alles geblieben? – Warum ist alles erloschen? Das ist unbegreiflich! Es hat bei mir ja weder Stürme noch Erschütterungen gegeben; ich habe nichts verloren; mein Gewissen wird von keinem Joch bedrückt; es ist rein wie Glas; mein Selbstgefühl wurde von keinem Schlage betroffen. Gott weiß, warum alles in mir zugrunde geht!« Er seufzte. »Weißt du, Andrej, in meinem Leben hat nie weder ein rettendes noch ein verwüstendes Feuer gebrannt! Mein Leben erinnerte nicht an einen Morgen, der allmählich in allen Farben spielt und von einer Flamme beleuchtet wird, die, wie es bei anderen ist, sich dann in einen heißlodernden Tag verwandelt, da alles im hellen Mittag wogt und sich bewegt, immer bleicher und stiller wird und gegen Abend ganz natürlich und allmählich erlischt. Nein, mein Leben hat mit dem Erlöschen begonnen. Das ist seltsam, aber es ist so! Ich habe gleich im ersten Augenblicke, als mein Bewußtsein erwachte, gefühlt, daß ich schon erlösche. Ich habe beim Schreiben der Akten in der Kanzlei zu erlöschen begonnen; ich erlosch dann weiter, als ich in den Büchern Wahrheiten las, mit denen ich im Leben nichts anzufangen wußte; ich erlosch mit den Kameraden, indem ich ihren Gesprächen, ihrem Klatsch, dem Nachäffen, dem boshaften und kalten Plaudern und ihrer Leere lauschte, indem ich der Freundschaft zuschaute, die durch Zusammenkünfte ohne Spiel und Sympathie aufrechterhalten wurde, ich erlosch und vergeudete meine Kraft mit Mühe; ich habe ihr mehr als die Hälfte meines Einkommens gezahlt und habe mir eingebildet, daß ich sie liebe; ich erlosch während des trägen, geisttötenden Herumspazierens auf dem Newskij-Prospekt, inmitten von Bärenpelzen und Biberkragen, auf Abenden, an Empfangstagen, wo man mich als eine ganz annehmbare Partie gastfreundlich bewillkommnete; ich erlosch und gab das Leben und den Geist auf Kleinigkeiten aus, indem ich aus der Stadt aufs Land, vom Land in die Gorochowajastraße fuhr, den Frühling durch die Ankunft von Austern und Hummern, den Herbst und Winter durch die Empfangstage, den Sommer durch Spaziergänge und das ganze Leben ebenso wie die andern durch ein träges, bequemes Hindämmern bestimmte ... Worauf wurde selbst der Ehrgeiz verschwendet? Darauf, sich bei einem bekannten Schneider die Kleider zu bestellen? In einem vornehmen Hause zu verkehren? Darauf, daß Fürst P. mir die Hand drückte? Und der Ehrgeiz ist ja das Salz des Lebens! Worauf wurde er verwendet? Entweder, ich habe dieses Leben nicht begriffen, oder es taugt nicht, ich habe nichts Besseres gekannt oder gesehen, niemand hat es mir gezeigt. Du bist erschienen und hell und rasch verschwunden wie ein Komet, und ich vergaß alles und erlosch ...« Stolz beantwortete Oblomows Worte nicht mehr mit einem verächtlichen Lächeln. Er hörte zu und schwieg düster. »Du hast vorhin gesagt, daß mein Gesicht nicht ganz frisch ist«, sprach Oblomow weiter, »ja, ich bin welk, alt, abgenützt, aber nicht vom Klima, nicht von der Arbeit, sondern weil in mir zwölf Jahre lang das Licht eingeschlossen war, das nach Ausbruch rang, aber sein Gefängnis nur verbrannte, ohne in die Freiheit zu gelangen, und erlosch. Es sind also zwölf Jahre vergangen, mein lieber Andrej; ich wollte schon nicht mehr erwachen.« »Warum hast du dich denn nicht losgerissen und bist nicht irgendwohin geflohen, sondern bist schweigend zugrunde gegangen?« fragte Stolz ungeduldig. »Wohin?« »Wohin? Wenigstens mit deinen Bauern an die Wolga. Auch dort ist ja mehr Bewegung, dort gibt es irgendwelche Interessen, ein Ziel, eine Arbeit. Ich würde nach Sibirien gereist sein ...« »Du schreibst immer solche starke Mittel vor!« bemerkte Oblomow traurig. »Bin ich denn der einzige? Schau nur: Michailow, Pjetrow, Ssemjonow, Stjepanow ... Es ist nicht zu zählen – es ist eine Legion!« Stolz stand noch unter dem Eindrucke dieser Beichte und schwieg. Dann seufzte er. »Ja, es ist viel Wasser ins Meer geflossen!« sagte er. »Ich werde dich so nicht zurücklassen, ich werde dich von hier fortführen, zuerst ins Ausland, und dann ins Dorf. Du wirst ein wenig abnehmen, wirst deinen Spleen verlieren, und dann finden wir für dich eine Beschäftigung ...« »Ja, wir wollen irgendwohin fahren!« rief Oblomow aus. »Morgen werden wir ein Gesuch um einen ausländischen Paß für dich einreichen und werden dann unsere Reisevorbereitungen treffen ... Ich werde nicht davon ablassen, Ilja, hörst du?« »Bei dir ist alles morgen!« entgegnete Oblomow, der aus den Wolken zu fallen schien. »Du möchtest das, was heute getan werden kann, nicht auf morgen verschieben? Hast du solche Eile! Heute ist es zu spät«, fügte Stolz hinzu, »aber in vierzehn Tagen werden wir schon weit sein ...« »Aber Bruder, schon in vierzehn Tagen, habe doch ein Einsehen, so plötzlich! ...« sagte Oblomow. »Laß mir Zeit, mir das zu überlegen und mich vorzubereiten ... Man muß sich doch irgendeinen Tarantaß aussuchen ... Vielleicht in drei Monaten.« »Von was für einem Tarantaß fabelst du da? Wir fahren im Postwagen zur Grenze hin, oder auf dem Dampfschiffe bis Lübeck, wie es bequemer sein wird, und dann fährt an vielen Orten die Eisenbahn.« »Und die Wohnung, Sachar und Oblomowka? Ich muß doch erst alles ordnen«, verteidigte sich Oblomow. »Oblomowerei, Oblomowerei!« sagte Stolz lachend, nahm die Kerze, wünschte gute Nacht und ging schlafen. »Jetzt oder nie! – Denke dran!« fügte er hinzu, indem er sich zu Oblomow umwandte und die Tür hinter sich schloß. Fußnoten 1 Suppe aus Kwaß, mit Fleisch, Fisch, Gurke usw. 2 Straße in Moskau. Fünftes Kapitel Fünftes Kapitel »Jetzt oder nie!« Diese drohenden Worte erstanden vor Oblomow, sowie er des Morgens erwachte. Er stand auf, schritt dreimal durch das Zimmer und blickte in den Salon hinein. Stolz saß da und schrieb. »Sachar!« rief er, es folgte aber kein Sprung vom Ofen. Sachar kam nicht. Stolz hatte ihn auf die Post geschickt. Oblomow trat an seinen verstaubten Tisch heran, setzte sich, ergriff eine Feder und steckte sie ins Tintenfaß, es war aber keine Tinte darin, dann suchte er nach Papier, es gab aber keines. Er sann nach und begann mechanisch mit dem Finger auf dem Staube zu malen; als er dann nachsah, was er geschrieben hatte, sah er: »Oblomowerei«. Er wischte das Aufgeschriebene schnell mit dem Ärmel ab. Er hatte dieses Wort in der Nacht im Traume gesehen, es stand mit Feuer an den Wänden geschrieben, wie auf Belsazars Fest. Dann kam Sachar, und als er Oblomow nicht auf dem Sofa liegen sah, blickte er ihn mit trüben Augen an, darüber verwundert, daß er schon auf war. In diesem stumpfen, erstaunten Blicke stand: »Oblomowerei!« Ein einziges Wort, dachte Ilja Iljitsch, und wieviel Gift ist darin enthalten! ... Sachar nahm wie gewöhnlich den Kamm, die Bürste und das Handtuch und wollte den Herrn frisieren. »Geh zum Teufel!« sagte Oblomow zornig und schlug die Bürste Sachar aus der Hand, dann ließ Sachar auch den Kamm zu Boden fallen. »Legen Sie sich wieder hin?« fragte Sachar, »ich werde Ihnen das Bett richten.« »Bringe mir Tinte und Papier«, antwortete Oblomow. Er sann über die Worte »jetzt oder nie« nach. Indem er diesem verzweifelten Ausruf der Vernunft und der Kräfte lauschte, überlegte er und erwog, was für ein Rest des Willens ihm noch übrig geblieben war, wohin er diese ärmlichen Überbleibsel tragen und worauf er sie verwenden sollte. Nach qualvollem Überlegen erfaßte er die Feder, schleppte aus der Ecke ein Buch heraus und wollte im Laufe einer Stunde alles das lesen, schreiben und denken, was er in zehn Jahren nicht gelesen, geschrieben und gedacht hatte. Was sollte er jetzt tun? Vorwärtsschreiten oder stehenbleiben? Diese Oblomower Frage war für ihn tiefer als die von Hamlet. Vorwärtsschreiten heißt den weiten Schlafrock nicht nur von den Schultern, sondern auch von Seele und Verstand abwerfen; das heißt zugleich mit den Wänden auch die Augen von Staub und Spinngewebe reinigen und sehend werden! Wie sollte der erste Schritt gemacht werden? Womit sollte er beginnen? »Das weiß ich nicht, das kann ich nicht ... nein ... das ist nicht wahr, ich weiß und ... Auch Stolz ist hier bei mir; er wird's mir gleich sagen. Und was wird er sagen? Er wird mir sagen, ich soll binnen einer Woche eine genaue Instruktion entwerfen, einer Vertrauensperson übergeben und sie nach dem Gut schicken, ich soll Oblomowka verpfänden, noch Erde hinzukaufen, einen Plan der Bauten hinschicken, die Wohnung vermieten, einen Paß besorgen, auf ein halbes Jahr ins Ausland reisen, dort das überflüssige Fett und die Schwere abwerfen, die Seele durch jene Luft erfrischen, von der ich einst mit dem Freund geträumt hatte, ohne Schlafrock, ohne Sachar und Tarantjew leben, selbst die Strümpfe anziehen und die Schuhe ausziehen, nur in der Nacht schlafen, auf der Eisenbahn und auf Dampfschiffen überallhin reisen, dann ...« Dann soll er sich in Oblomowka niederlassen, wissen, was Saat und Ausdrusch ist, wovon der Bauer arm und reich wird; er soll aufs Feld gehen, zu den Wahlen, in die Fabrik, in die Mühle und zum Hafen fahren. Dabei soll er Zeitungen und Bücher lesen und sich darüber aufregen, warum die Engländer wohl ein Schiff nach dem Osten gesandt haben ... Das würde er sagen! Das heißt vorwärtsschreiten ... Und so sollte es das ganze Leben sein! Lebe wohl, du poetisches Lebensideal! Das ist eine Schmiede, aber kein Leben; hier ist ewiges Feuer, Hitze, Hämmern und Lärmen ... wann soll man leben? Ist es nicht besser stehenzubleiben? Stehenbleiben heißt das Hemd verkehrt anziehen, das Springen von Sachars Füßen von der Ofenbank hören, mit Tarantjew Mittag essen, über alles wenig nachdenken, die Reise nach Afrika nicht zu Ende lesen, in der Wohnung von Tarantjews Gevatterin friedlich altern ... »Jetzt oder nie!« »Sein oder nicht sein!« Oblomow wollte vom Sessel aufstehen, fand aber mit dem Fuß nicht gleich in den Pantoffel hinein und setzte sich wieder hin. Nach vierzehn Tagen reiste Stolz bereits nach England ab, nachdem er Oblomow das Wort abgenommen hatte, direkt nach Paris zu kommen. Ilja Iljitsch besaß schon einen fertigen Paß, er hatte sich sogar einen Reisemantel bestellt und eine Mütze gekauft. So weit war die Angelegenheit fortgeschritten! Sachar bewies schon tiefsinnig, daß es genüge, ein Paar Stiefel zu bestellen und das alte besohlen zu lassen. Oblomow kaufte sich eine Decke, ein wollenes Leibchen, ein Reisenecessaire, wollte auch einen Sack für Eßwaren kaufen, aber zehn Menschen bestätigten ihm zugleich, daß man ins Ausland keine Eßwaren mitnimmt. Sachar rannte ganz in Schweiß gebadet zu den Handwerkern und in die Läden hin, und obgleich von dem Rest in den Läden viele Zehner und Fünfer in seine Tasche wanderten, verfluchte er doch Andrej Iwanowitsch und alle, die das Reisen erfunden haben. »Was wird er dort allein tun?« sagte er im Laden, »man sagt, daß man dort nur von Frauenzimmern bedient wird. Wie kann ein Frauenzimmer einen Schuh herunterziehen? Und wie wird sie dem Herrn auf die nackten Füße Strümpfe anziehen ...?« Er lächelte sogar, so daß der Backenbart sich auseinanderschob, und schüttelte den Kopf. Oblomow war nicht zu faul aufzuschreiben, was er mitnehmen wollte und was dazulassen war. Tarantjew wurde beauftragt, die Möbel und die anderen Sachen in die Wohnung der Gevatterin in der Wiborgskajastraße hinzuschaffen, alles in den drei Zimmern einzuschließen und bis zur Rückkehr aus dem Ausland zu hüten. Oblomows Bekannte sagten schon teils mißtrauisch, teils lachend, teils erschrocken: »Er fährt; denken Sie sich, Oblomow rührt sich tatsächlich vom Fleck.« Aber Oblomow verreiste weder in einem noch in drei Monaten. Am Vorabend der Abreise schwoll ihm die Lippe an. »Mich hat eine Fliege gebissen, ich kann doch mit einer solchen Lippe nicht auf die See gehen!« – sagte er und begann auf das nächste Schiff zu warten. Es ist schon August, Stolz ist längst in Paris, schreibt ihm wütende Briefe, erhält aber keine Antwort. Warum denn? Vielleicht ist die Tinte im Tintenfaß eingetrocknet und es gibt kein Papier? Oder vielleicht, weil im Stil von Oblomow welcher und daß oft aufeinanderstoßen, oder, endlich, hat sich Ilja Iljitsch bei dem drohenden Ruf »jetzt oder nie« zu dem letzteren entschlossen, hat die Hände unter dem Kopf verschränkt, und Sachar versucht es vergeblich, ihn aufzuwecken? Nein, sein Tintenfaß ist voll Tinte, auf dem Tisch liegen Briefe, Papier, sogar mit einem Wappen und mit seiner Handschrift bedeckt. Wenn er einige Seiten schrieb, setzte er niemals zweimal welcher, seine Gedanken drückten sich frei und stellenweise ausdrucksvoll und beredt aus, wie in alten Tagen, da er mit Stolz von einem Leben der Arbeit und von Reisen träumte, seine Hefte mit Prosa und Gedichten füllte und über den Dichtern weinte. Er steht um sieben Uhr auf, liest, trägt seine Bücher irgendwohin. Auf seinem Gesicht ist weder Schläfrigkeit noch Langeweile zu sehen. Es hat sogar Farbe bekommen, die Augen leuchten und drücken etwas wie Kühnheit, jedenfalls aber Selbstbewußtsein aus. Man sieht ihn nicht im Schlafrock; Tarantjew hat ihn mit den anderen Sachen zur Gevatterin hintransportiert. Oblomow sitzt bei einem Buch oder schreibt in einem Mantel, den er zu Hause trägt; um den Hals ist eine leichte Krawatte gewunden; der Hemdkragen schaut hervor und glänzt wie Schnee. Er geht in einem ausgezeichnet sitzenden Rock und einem eleganten Hut aus ... Er ist fröhlich und singt ... Was bedeutet das ...? Er sitzt am Fenster seiner Landwohnung (er lebt auf dem Lande, ein paar Werst von der Stadt entfernt), neben ihm liegt ein Blumenstrauß. Er schreibt eilig etwas fertig, blickt dabei fortwährend durch das Gebüsch auf den Gartenweg hin und schreibt wieder eilig weiter. Plötzlich knistert auf dem Gartenweg der Kies unter leichten Schritten; Oblomow wirft die Feder fort, erfaßt die Blumen und läuft ans Fenster. »Sind Sie es, Oljga Sjergejewna? Gleich, gleich!« sagte er, ergreift den Hut und die Gerte, eilt zur Gartentür hin, reicht einer schönen Frau den Arm und verschwindet mit ihr im Wald, im Schatten der riesenhaften Tannen ... Sachar kommt aus einer Ecke heraus, schaut ihm nach, schließt das Zimmer zu und geht in die Küche. »Er ist fort!« sagte er zu Anissja. »Wird er zu Mittag essen?« »Wer weiß?« antwortete Sachar schläfrig. Sachar ist noch immer derselbe; er hat denselben großen Backenbart, ein unrasiertes Kinn, dieselbe graue Weste und das Loch im Rock, aber er ist mit Anissja verheiratet, entweder infolge des Bruches mit seiner Gevatterin oder nach dem Prinzip, daß jeder Mensch heiraten muß; er hat geheiratet, hat sich aber trotz des Sprichwortes nicht verändert. Stolz hatte Oblomow mit Oljga und mit ihrer Tante bekanntgemacht. Als Stolz Oblomow zum erstenmal bei Oljgas Tante einführte, waren dort Gäste. Oblomow war es wie gewöhnlich bange und unbehaglich zumute. Es wäre angenehm, die Handschuhe auszuziehen, dachte er, im Zimmer ist es ja warm. Wie ungewohnt mir jetzt alles ist ...! Stolz setzte sich zu Oljga, die allein unter der Lampe in der Nähe des Teetisches saß, sich mit dem Rücken in den Sessel zurücklehnte und wenig darauf achtete, was um sie vorging. Stolzens Kommen hatte sie sehr erfreut; wenn ihre Augen auch nicht aufleuchteten und ihre Wangen nicht aufflammten, verbreitete sich doch ein gleichmäßiger, ruhiger Schein über ihr ganzes Gesicht und darauf erschien ein Lächeln. Sie nannte ihn ihren Freund, liebte ihn, weil er sie immer lachen machte und ihr die Langeweile vertrieb, fürchtete sich aber auch ein wenig, weil sie sich ihm gegenüber zu sehr als Kind fühlte. Wenn in ihr eine Frage, ein Zweifel aufstieg, entschloß sie sich nicht gleich, es ihm anzuvertrauen; er hatte ihr gegenüber einen zu großen Vorsprung erreicht, stand zu hoch über ihr, so daß ihre Eitelkeit manchmal unter dem Bewußtsein ihrer Unreife und des Unterschiedes zwischen ihrem Verstande und ihrem Alter litt. Stolz bewunderte sie auch ganz uneigennützig, als ein wunderbares Geschöpf mit einer duftenden Frische des Geistes und der Gefühle. Sie war in seinen Augen nur ein entzückendes Kind, das zu großen Hoffnungen berechtigte. Stolz unterhielt sich mit ihr aber lieber und öfter als mit an deren Frauen, weil sie, wenn auch unbewußt, einen einfachen, natürlichen Lebensweg verfolgte und dank ihrer glücklichen Natur und ihrer gesunden, ungekünstelten Erziehung selbst in jeder kaum sichtbaren Bewegung der Augen, der Lippen und der Hände nicht von der natürlichen Äußerung der Gedanken, der Gefühle und des Willens abwich. Vielleicht schritt sie mit einer solchen Sicherheit über diesen Weg, weil sie ab und zu andere, noch sicherere Schritte neben sich hörte, diejenigen ihres Freundes, dem sie glaubte, und dem sie ihren Schritt anpaßte. Wie dem auch sein mochte, konnte man doch selten bei einem Mädchen so viel Einfachheit und natürliche Freiheit des Blickes, der Worte und der Handlungen finden. In ihren Augen war nie zu lesen: »Jetzt werde ich ein wenig die Lippe einziehen und nachdenklich werden – das steht mir nicht übel. Ich werde hinblicken, erschrecken und leicht aufschreien, dann laufen alle gleich zu mir hin. Ich setze mich ans Klavier und strecke die Fußspitze ein wenig vor ...« Es war weder Geziertheit noch Koketterie noch Lüge noch Flitterwerk noch etwas Beabsichtigtes an ihr! Darum wurde sie aber auch fast nur von Stolz geschätzt; darum blieb sie mehr als eine Mazurka allein sitzen, ohne ihre Langeweile zu verbergen; darum wurden die liebenswürdigsten jungen Leute bei ihrem Anblick einsilbig, da sie nicht wußten, was und wie sie zu ihr sprechen sollten ... Die einen hielten sie für einfältig, für kurzsichtig und oberflächlich, weil ihren Lippen weder weise Sentenzen über das Leben und über die Liebe noch rasche, unerwartete und kühne Repliken noch aus den Büchern geschöpfte oder bei andern aufgeschnappte Urteile über Musik und Literatur entströmten; sie sprach wenig und nur, was ihrer Persönlichkeit entsprang, nichts Glänzendes – und sie wurde von den klugen, schlagfertigen »Kavalieren« gemieden; die nicht Schlagfertigen hielten sie im Gegenteil für zu gescheit und fürchteten sich ein wenig vor ihr. Nur Stolz sprach unaufhörlich mit ihr und machte sie lachen. Sie liebte die Musik, sang aber meistens, wenn sie allein war oder wenn Stolz oder eine Pensionsfreundin zugegen waren; sie sang aber, wie Stolz sagte, besser als jede Sängerin. Sowie Stolz sich neben sie gesetzt hatte, tönte durchs Zimmer ihr Lachen, das so klangvoll, so aufrichtig und ansteckend war, daß jeder, der es hörte, ohne den Grund zu kennen, unfehlbar mitlachen mußte. Aber Stolz machte sie nicht nur lachen, nach einer halben Stunde hörte sie ihm neugierig zu und richtete dann ihre Augen mit verdoppelter Neugier auf Oblomow, der sich vor diesen Blicken am liebsten unter die Erde versteckt hätte. Was sprechen sie über mich? dachte er, sie unruhig anschielend. Er wollte schon fortgehen, als Oljgas Tante ihn an den Tisch heranrief und ihm den Platz neben sich anwies, wo er dem Kreuzfeuer der Blicke aller Anwesenden ausgesetzt war. Er wandte sich ängstlich nach Stolz um – doch der war nicht mehr da, blickte Oljga an und begegnete ihren auf ihn gerichteten, neugierigen Augen. Sie schaut mich noch immer an! dachte er, verlegen seine Kleider betrachtend. Er wischte sich sogar das Gesicht mit dem Taschentuche ab, da er glaubte, er hätte sich die Nase verschmiert, betastete seine Krawatte, ob sie nicht aufgegangen sei, das geschah ihm manchmal; nein, alles schien ganz in Ordnung zu sein, und sie schaut noch immer! Doch jetzt reichte ihm der Diener eine Tasse Tee und eine Platte mit Bäckerei. Er wollte seine Verlegenheit unterdrücken und ungeniert erscheinen und nahm dabei einen solchen Haufen Zwieback, Biskuits und Kringel, daß das neben ihm sitzende kleine Mädchen auflachte. Die übrigen Anwesenden blickten den Haufen neugierig an. Mein Gott, auch sie sieht her! dachte Oblomow, was fange ich mit diesem Haufen an? Er sah, ohne hinzublicken, daß Oljga sich von ihrem Platz erhoben hatte und in eine andere Ecke trat. Ihm wurde leichter ums Herz. Das kleine Mädchen blickte ihn gespannt an und wartete, was er mit den Bäckereien tun würde. Ich werde sie geschwind aufessen, dachte er und machte sich über die Biskuits her; zum Glück zerschmolzen sie ihm förmlich im Mund. Es blieben nur zwei Stücke Zwieback übrig; er atmete frei auf und entschloß sich hinzuschauen, wo Oljga war. Sie stand neben einer Büste, sich auf das Piedestal stützend, und beobachtete ihn. Sie war wohl deswegen aus ihrer Ecke fortgegangen, um ihn ungestörter anblicken zu können; sie hatte den Vorfall mit den Bäckereien bemerkt. Beim Souper saß sie am andern Tischende, unterhielt sich und schien sich gar nicht mit ihm zu beschäftigen. Sowie sich Oblomow aber ängstlich nach ihr umwandte, in der Hoffnung, sie sehe ihn nicht an, begegnete er ihrem neugierigen, aber zugleich gütigen Blick ... Nach dem Souper verabschiedete sich Oblomow eilig von der Tante; sie lud ihn für den nächsten Tag zum Mittagessen ein und bat, die Einladung auch Stolz zu übergeben. Ilja Iljitsch verneigte sich und schritt, ohne die Augen zu heben, durch den Saal. Am Klavier stand ein Wandschirm, und daneben befand sich die Tür. Er blickte auf, am Klavier saß Oljga und blickte ihn mit großer Neugierde an. Ihm schien, daß sie lächelte. Andrej hat gewiß erzählt, daß ich gestern verschiedene Strümpfe anhatte und das Hemd verkehrt angezogen habe! kam er bei sich überein und fuhr, durch die Voraussetzung und noch mehr durch die Einladung zum Mittagessen, die er mit einer Verbeugung beantwortet, also angenommen hatte, verstimmt nach Hause. Von diesem Augenblicke an dachte Oblomow unausgesetzt an Oljgas beharrlichen Blick. Vergeblich streckte er sich seiner Größe nach auf dem Rücken aus, vergeblich nahm er die trägsten und bequemsten Stellungen ein – er schlief nicht ein. Sein Schlafrock widerte ihn an, Sachar erschien dumm und unerträglich, und der Staub und das Spinngewebe bedrückten ihn. Er ließ ein paar schlechte Bilder hinaustragen, die ihm irgendein Gönner armer Künstler aufgedrängt hatte, brachte selbst die Jalousie in Ordnung, die lange nicht mehr aufgezogen worden war, rief Anissja und befahl ihr, die Fenster abzuwischen, nahm das Spinngewebe ab, legte sich dann auf die Seite und dachte eine Stunde lang an Oljga. Er befaßte sich zuerst eingehend mit ihrem Äußern und rief immer wieder in seiner Erinnerung ihr Bild hervor. Oljga war, streng genommen, keine Schönheit, das heißt, sie war nicht blendend weiß, hatte nicht das lebhafte Kolorit der Wangen und Lippen, und ihre Augen strahlten kein inneres Feuer aus; sie hatte weder einen Korallenmund noch Perlenzähne noch winzige Hände wie ein fünfjähriges Kind, mit Fingern wie Weintrauben. Hätte man sie aber in eine Statue verwandeln können, so wäre diese voll Grazie und Harmonie gewesen. Ihrer ziemlich großen Gestalt entsprach streng die Größe des Kopfes und diesem das Oval und die Linien des Gesichtes; das alles harmonierte seinerseits mit den Schultern und diese mit der Taille ... Wer ihr auch begegnen mochte, selbst ein Zerstreuter, blieb für einen Augenblick vor diesem streng, überlegt und künstlerisch erdachten Geschöpf stehen. Die Nase bildete eine kaum sichtbar geschweifte, anmutige Linie; die Lippen waren fein umrissen und größtenteils aufeinandergepreßt: das Anzeichen des immer auf irgend etwas gerichteten Denkens. Dasselbe Vorhandensein eines lebhaften Verstandes leuchtete aus dem scharfen, immer wachen, alles bemerkenden Blick der dunklen, blaugrauen Augen. Die Brauen verliehen ihren Augen besondere Schönheit; sie waren nicht bogenförmig, rundeten sich nicht als zwei dünne, mit den Fingern geplättete Striche über den Augen, nein, das waren zwei dunkelblonde, flaumige, fast gerade Streifen, die nicht ganz symmetrisch lagen; die eine war um eine kleine Linie höher als die andere, und infolgedessen bildete sich eine kleine Falte, die zu sagen schien, daß darin ein Gedanke ruhte. Oljga hielt beim Gehen den Kopf ein wenig nach vorn geneigt, und er ruhte so schlank und edel auf dem feinen stolzen Hals; sie bewegte ihren ganzen Körper gleichmäßig und schritt leicht, fast unsichtbar einher ... Warum hat sie mich gestern so forschend angeschaut? dachte Oblomow. Andrej schwört, daß er von den Strümpfen und dem Hemde nichts erzählt hat, sondern nur von seiner Freundschaft für mich und davon, wie wir zusammen aufwuchsen und lernten, von allem, was es Schönes gegeben hat, und auch davon, wie unglücklich Oblomow sei, wie alles Gute in ihm aus Mangel an Teilnahme und an Tätigkeit zugrunde ginge, wie schwach sein Lebenslicht brannte und wie ... Worüber ist denn da zu lächeln? setzte Oblomow seine Gedanken fort. Wenn sie nur ein wenig Herz besitzt, müßte es vor Mitleid erstarren und von Blut überströmen, und sie ... nun, Gott sei mit ihr; ich werde nicht mehr an sie denken! Ich fahre nur heute hin, esse dort und setze dann meinen Fuß nicht mehr über ihre Schwelle. Ein Tag folgte auf den andern, und er war dort mit beiden Füßen und Händen und mit dem Kopfe. Eines schönen Tages hatte Tarantjew alles, was Oblomow besaß, zu der Gevatterin auf die Wiborgskajastraße hingeschafft, und Ilja Iljitsch verlebte drei Tage, wie er es lange schon nicht getan hatte: ohne Bett, ohne Sofa, und aß bei Oljgas Tante zu Mittag. Plötzlich erfuhr er, daß sich ihrem Landhause gegenüber eine freie Wohnung befand. Oblomow mietete sie, ohne sie gesehen zu haben, und lebt jetzt dort. Er ist von früh bis spät mit Oljga zusammen; er liest ihr vor, schickt ihr Blumen, geht mit ihr am See und auf den Bergen spazieren ... er, Oblomow! Was alles auf der Welt vorkommt! Wie konnte das nur geschehen? Das kam so: Als er mit Stolz bei ihrer Tante zu Mittag aß, litt er die selben Folterqualen wie am Tage vorher, kaute unter ihrem Blick, sprach fühlend und wissend, daß über ihm dieser Blick wie die Sonne schien, ihn sengte, beunruhigte, die Nerven und das Blut in Aufregung brachte. Mit Mühe und Not gelang es ihm, sich mit der Zigarre auf den Balkon zu retten und sich im Rauch für einen Augenblick vor diesem schweigenden, beharrlichen Blick zu verstecken. Was ist das? dachte er, sich nach allen Seiten windend, das ist ja eine Qual! Will sie mich denn verhöhnen? Sie schaut sonst niemand so an, sie wagt es nicht. Ich bin sanfter, darum tut sie's ... Ich werde mit ihr ein Gespräch beginnen! beschloß er, und werde ihr lieber mit Worten das sagen, was sie mir mit den Augen aus der Seele ziehen möchte. Plötzlich erschien sie vor ihm auf der Schwelle des Balkons; er schob ihr einen Sessel hin, und sie setzte sich neben ihn. »Ist es wahr, daß Sie sich sehr langweilen?« fragte sie ihn. »Ja«, antwortete er, »aber nicht sehr; ich habe eine Beschäftigung.« »Andrej Iwanowitsch sagt, daß Sie irgendeinen Plan entwerfen?« »Ja, ich will auf dem Gute leben und bereite mich allmählich dazu vor.« »Werden Sie ins Ausland reisen?« »Ja, bestimmt, sowie Andrej Iwanowitsch fertig ist.« »Reisen Sie gern?« fragte sie. »Sehr gern ...« Er blickte sie an; über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, das bald die Augen beleuchtete, bald sich über die Wangen ausbreitete; nur die Lippen waren wie sonst aufeinandergepreßt. Er hatte nicht den Mut, ruhig zu lügen. »Ich bin ein wenig ... faul ...« sagte er ... Er ärgerte sich darüber, daß sie ihm so leicht, fast schweigend, das Bekenntnis seiner Trägheit entlockt hatte. Was ist sie mir? Fürchte ich mich denn vor ihr? dachte er. »Sie sind faul!« antwortete sie mit kaum merklichem schelmischem Ausdruck, »ist das möglich? Ein träger Mann? Das verstehe ich nicht.« Was ist denn dabei unverständlich? dachte er, mir scheint, das ist einfach. – Ich sitze immer zu Hause, darum glaubt Andrej, daß ich ... »Aber Sie schreiben gewiß viel«, sagte sie, »und lesen. Haben Sie ...« Sie blickte ihn so forschend an. »Nein, ich hab's nicht gelesen!« entschlüpfte es ihm vor Angst, sie könnte ihn examinieren. »Was?« fragte sie lachend. Und er lachte auch ... »Ich dachte, Sie wollten mich über irgendeinen Roman fragen; ich lese derlei nicht.« »Sie haben es nicht erraten; ich wollte über Reisebeschreibungen fragen.« Er blickte sie durchdringend an; ihr ganzes Gesicht außer den Lippen lachte. Oh, wie sie ist ...! Man muß mit ihr vorsichtig sein ..., dachte Oblomow. »Was lesen Sie denn?« fragte sie neugierig. »Ich liebe wirklich die Reisebeschreibungen ...« »Über Afrika?« fragte sie leise und schelmisch. Er errötete, da er nicht ohne Grund vermutete, daß sie nicht nur darüber, was er las, sondern auch darüber, wie er es tat, unterrichtet war. »Sind Sie musikalisch?« fragte sie, um ihn von seiner Verlegenheit zu befreien. Jetzt kam Stolz heran. »Ilja! Ich habe Oljga Sjergejewna gesagt, daß du leidenschaftlich Musik liebst und habe sie gebeten, etwas zu singen ... Casta diva ... « »Warum erzählst du solche Sachen von mir!« antwortete Oblomow, »ich liebe Musik gar nicht leidenschaftlich ...« »Was sagen Sie dazu?« unterbrach ihn Stolz, »er scheint beleidigt zu sein! Ich stelle ihn als einen anständigen Menschen hin, und er beeilt sich, die Leute diesbezüglich gleich zu enttäuschen!« »Ich lehne nur die Rolle eines Amateurs ab, das ist eine zweifelhafte und auch schwierige Rolle.« »Welche Musik gefällt Ihnen denn am meisten?« fragte Oljga. »Diese Frage ist schwer zu beantworten: jede beliebige! Manchmal höre ich voll Vergnügen von einem verstimmten Leierkasten irgendeine Melodie, die sich in meinem Gedächtnisse festgesetzt hat, ein anderes Mal gehe ich in der Mitte irgendeiner Oper fort; oder Meyerbeer erschüttert mich, manchmal auch ein einfaches Schifferlied: je nachdem ich aufgelegt bin! Manchmal halte ich mir auch, wenn ich Mozart höre, die Ohren zu ...« »Sie lieben also wahrhaft Musik!« »Singen Sie doch etwas, Oljga Sjergejewna«, bat Stolz. »Und wenn Herr Oblomow jetzt so aufgelegt ist, daß er sich die Ohren zuhalten wird?« fragte sie, sich an ihn wendend. »Jetzt müßte ich irgendein Kompliment sagen«, antwortete Oblomow. »Ich kann das aber nicht, und wenn ich's auch könnte, würde ich es nicht wagen ...« »Warum denn nicht?« »Und wenn Sie schlecht singen?« fragte er naiv, »es wäre mir dann peinlich ...« »Wie gestern mit der Bäckerei ...« entschlüpfte es ihr plötzlich, und sie errötete selbst und hätte viel darum gegeben, es nicht gesagt zu haben. »Verzeihen Sie ...!« sagte sie. Oblomow hatte das nicht erwartet und wurde verwirrt. »Das ist boshafter Verrat!« sagte er halblaut. »Nein, vielleicht nur eine kleine Rache, und, bei Gott, keine beabsichtigte, weil Sie für mich nicht einmal ein Kompliment finden konnten.« »Vielleicht finde ich eins, nachdem ich Ihnen zugehört habe.« »Wollen Sie, daß ich singe?« fragte sie. »Nein, er will das«, antwortete Oblomow, auf Stolz hinweisend. »Und Sie?« Oblomow schüttelte verneinend den Kopf. »Ich kann nicht etwas wollen, was ich nicht kenne.« »Du bist grob, Ilja!« bemerkte Stolz. »Das kommt davon, wenn man zu Hause liegt und die Strümpfe ...« »Ich bitte dich, Andrej«, unterbrach Oblomow rasch, um ihn nicht ausreden zu lassen, »es würde mich nichts kosten zu sagen: ›Ach, es wird mich sehr freuen, ich werde glücklich sein, Sie singen gewiß ausgezeichnet ...‹« setzte er fort, sich an Oljga wendend, »›das wird mir einen Genuß bereiten‹ und so weiter. Ist das aber notwendig?« »Sie könnten aber trotzdem wünschen, ich möchte singen ... Wenigstens aus Neugierde!« »Ich wage es nicht, Sie sind keine Schauspielerin ...« »Gut, ich werde Ihnen vorsingen«, sagte sie zu Stolz. »Ilja, bereite ein Kompliment vor.« Unterdessen war der Abend angebrochen. Man zündete die Lampe an, die wie ein Mond durch das mit Efeu umwundene Gitterwerk schimmerte. Das Dunkel verbarg die Umrisse von Oljgas Gesicht und von ihrer Gestalt und warf gleichsam einen Florschleier über sie; ihr Gesicht war im Schatten, man hörte nur ihre weiche, aber starke Stimme, mit dem nervösen Zittern des Gefühls. Sie sang viele Arien und Lieder, nach den Angaben von Stolz; in den einen drückte sich Leiden, mit der unklaren Vorahnung von Glück, in den andern Freude, mit einem Keim von Traurigkeit, aus. Die Worte, die Töne, diese reine, starke Mädchenstimme machte das Herz schlagen, die Nerven beben, die Augen funkeln und von Tränen überströmen. Man wollte in einem und demselben Augenblick sterben, nach diesen Tönen nicht mehr erwachen, und zugleich dürstete das Herz nach Leben ... Oblomow flammte auf, ermattete, hielt mit Mühe die Tränen zurück und erstickte mit noch größerer Mühe den freudigen Schrei, der sich von seiner Seele loslösen wollte. Er hatte schon lange nicht mehr eine solche Frische und Kraft in sich gefühlt, die aus der Tiefe seiner Seele aufzusteigen schienen und zu einer Heldentat bereit waren. Er würde in diesem Augenblick sogar ins Ausland reisen, wenn er sich nur hinsetzen und abzufahren brauchte. Zum Schlusse sang sie Casta diva. Das Entzücken, die wie Blitze im Kopfe aufleuchtenden Gedanken, das Beben, das wie Nadeln durch seinen Körper rieselte – das alles hatte Oblomow geradezu vernichtet; er war am Ende seiner Kräfte. »Sind Sie heute mit mir zufrieden?« wandte sich Oljga plötzlich an Stolz, nachdem sie zu singen aufgehört hatte. »Fragen Sie Oblomow, was er wohl sagen wird?« antwortete Stolz. »Ach!« rang es sich aus seiner Brust los. Er faßte Oljga bei der Hand, ließ sie aber gleich wieder los und wurde sehr verlegen. »Verzeihen Sie ...« murmelte er. »Hören Sie?« sagte Stolz zu ihr. »Sag einmal aufrichtig, Ilja, wie lange ist dir das nicht mehr passiert?« »Das hätte heute früh passieren können, wenn ein verstimmter Leierkasten vor dem Fenster gespielt hätte ...« bemerkte Oljga gütig und so sanft, daß sie den Sarkasmus des Stachels beraubte. Er blickte sie vorwurfsvoll an. »Er hat noch immer Doppelfenster; er hört nicht, was draußen vorgeht«, fügte Stolz hinzu. Oblomow wandte jetzt seinen vorwurfsvollen Blick Stolz zu. Stolz ergriff Oljgas Hand. »Ich weiß nicht, aus welchem Grunde Sie heute so gesungen haben, wie noch nie, Oljga Sjergejewna, wenigstens habe ich Sie schon lange nicht so singen gehört. Das ist mein Kompliment!« sagte er, ihr jeden einzelnen Finger küssend. Stolz verabschiedete sich. Oblomow wollte auch aufbrechen, aber Stolz und Oljga hielten ihn zurück. »Ich habe noch zu tun«, bemerkte Stolz, »und du willst ja nur deswegen nach Hause fahren, um liegen zu können ... es ist noch früh ...« »Andrej, Andrej!« sagte Oblomow mit flehender Stimme. »Nein, ich kann heute nicht dableiben, ich gehe!« fügte er hinzu und ging. Er schlief die ganze Nacht nicht. Traurig und sinnend ging er im Zimmer auf und ab; beim Morgengrauen verließ er das Haus, ging an die Newa und durch die Straßen, und Gott weiß, was er dabei fühlte und woran er dachte ... Nach drei Tagen war er wieder dort, und des Abends, als die übrigen Gäste sich an die Kartentische setzten, befand er sich mit Oljga zu zweit am Klavier. Die Tante hatte Kopfschmerzen, sie saß mit dem Riechfläschchen in ihrem Zimmer. »Ich werde Ihnen die Sammlung von Zeichnungen zeigen, die Andrej Iwanowitsch mir aus Odessa mitgebracht hat«, sagte Oljga. »Hat er sie Ihnen nicht gezeigt?« »Mir scheint, Sie bemühen sich, die Pflichten der Hausfrau zu erfüllen und mich zu unterhalten?« fragte Oblomow. »Das ist ganz überflüssig.« »Warum ist es denn überflüssig? Ich will, daß Sie sich nicht langweilen, daß Sie sich hier wie zu Hause fühlen, daß es Ihnen leicht, frei und behaglich zumute ist, damit Sie nicht fortgehen ... um zu liegen.« Sie ist ein boshaftes, spöttisches Geschöpf! dachte er, unwillkürlich jede ihrer Bewegungen bewundernd. »Sie wollen, daß es mir leicht und frei zumute sei und daß ich mich nicht langweile?« wiederholte er. »Ja«, antwortete sie, ihn wie gestern, aber mit einem noch erhöhteren Ausdruck der Neugierde und Güte anblickend. »Dann dürfen Sie mich erstens nicht so anblicken wie jetzt und neulich ...« Die Neugierde in ihren Augen verdoppelte sich. »Ja, gerade bei diesem Blick wird es mir sehr unbehaglich ... Wo ist mein Hut?« »Warum wird es Ihnen denn unbehaglich?« fragte sie sanft, und ihr Blick verlor den Ausdruck von Neugierde. Er wurde nur gütig und freundlich. »Ich weiß nicht; aber mir scheint, daß Sie mir mit diesem Blick alles das entlocken, was ich die anderen und besonders Sie nicht wissen lassen will ...« »Warum denn? Sie sind Andrej Iwanowitschs Freund, und er ist mein Freund, folglich ...« »Folglich ist kein Grund vorhanden, daß Sie alles erfahren, was Andrej Iwanowitsch von mir weiß«, beendete er ihren Satz. »Es ist kein Grund vorhanden, wohl aber eine Möglichkeit ...« »Dank der Aufrichtigkeit meines Freundes; er hat mir damit einen schlechten Dienst erwiesen!« »Haben Sie denn Geheimnisse?« fragte sie. »Vielleicht haben Sie etwas verbrochen«, fügte sie hinzu, indem sie lachend von ihm fortrückte. »Vielleicht!« antwortete er seufzend. »Ja, das ist ein großes Verbrechen«, sagte sie schüchtern und leise, »verschiedene Strümpfe anzuziehen ...« Oblomow griff nach seinem Hut. »Ich halte es nicht länger aus!« sagte er. »Und Sie wollen, ich soll mich behaglich fühlen? Ich werde Andrej nicht mehr lieben ... Er hat Ihnen auch das erzählt?« »Er hat mich heute dadurch so zum Lachen gebracht!« fügte Oljga hinzu. »Er macht mich immer lachen. Verzeihen Sie, ich werde nicht mehr so sprechen, und ich werde mich bestreben, Sie anders anzublicken ...« Sie machte eine ernsthaft-schelmische Miene. »Das alles ist aber noch erstens«, fuhr sie fort, »nun, jetzt schaue ich Sie ja nicht mehr wie gestern an, Sie müssen sich also frei und behaglich fühlen. Jetzt kommt das ›Zweitens‹, was muß ich also noch tun, damit Sie sich nicht langweilen?« Er blickte ihr in die graublauen, freundlichen Augen. »Jetzt sehen Sie selbst mich so merkwürdig an«, sagte sie. Er blickte sie tatsächlich gleichsam nicht mit den Augen, sondern wie ein Magnetiseur mit seinem ganzen Willen an; er tat es aber unwillkürlich, ohne die Kraft zu haben, nicht hinzublicken. Mein Gott, wie hübsch sie ist! Daß es so etwas auf der Welt gibt! dachte er, sie beinahe mit erschrockenen Augen betrachtend. Dieses Weiß, diese Augen, wo es dunkel wie in einem Abgrund ist und wo zugleich etwas leuchtet, gewiß die Seele! Das Lächeln kann wie ein Buch gelesen werden, dabei sieht man auch diese Zähne, und dann dieser ganze Kopf ... wie zart ruht er auf den Schultern, er scheint sich wie eine Blume zu wiegen und zu duften ... Ja, ich entlocke ihr etwas, dachte er, etwas von ihr geht in mich über. Hier am Herzen beginnt es zu wogen und zu stürmen ... Ich fühle hier etwas Neues, das, wie mir scheint, nicht da war ... Mein Gott, was für ein Glück ist es, sie anzuschauen! Man vermag kaum zu atmen! ... Diese Gedanken flogen wie ein Wirbel dahin, und er blickte sie immer an, wie man in eine endlose Ferne, in einen bodenlosen Abgrund blickt, voll Selbstvergessen und Wonne. »Aber so hören Sie doch auf, Herr Oblomow, wie sehen Sie selbst mich jetzt an!« sagte sie, den Kopf verlegen abwendend; doch die Neugier gewann die Oberhand, und sie riß ihren Blick von seinem Gesicht nicht los. Er hörte nichts. Er blickte sie wirklich ununterbrochen an und verstand ihre Worte nicht; er untersuchte schweigend, was in ihm vorging; er berührte seinen Kopf – auch dort war etwas in Aufruhr und stürmte im Wirbel dahin. Er hatte keine Zeit, die Gedanken aufzufangen; sie flatterten wie ein Vogelzug vorüber, und im Herzen, an der linken Seite, schien ihm etwas wehzutun. »Schauen Sie mich doch nicht so seltsam an«, sagte sie, »auch ich fühle mich unbehaglich ... Mir scheint, auch Sie wollen meiner Seele etwas entlocken ...« »Was kann ich Ihnen entlocken?« fragte er mechanisch. »Auch ich habe angefangene und nicht beendete Pläne«, antwortete sie. Er kam bei dieser Andeutung auf seinen unvollendeten Plan zur Besinnung. »Seltsam!« bemerkte er. »Sie sind boshaft, Sie haben aber einen gütigen Blick. Man sagt mit Recht, daß man den Frauen nicht glauben darf; sie lügen absichtlich mit der Zunge und unabsichtlich mit dem Blick, dem Lächeln, dem Erröten, sogar mit den Ohnmachten ...« Sie ließ diesen Eindruck sich nicht verstärken, nahm ihm leise den Hut fort und setzte sich auf den Sessel hin. »Nein, nein, ich tu's nicht mehr!« sagte sie lebhaft. »Ach! verzeihen Sie, ich habe eine solche unausstehliche Zunge! Aber das ist bei Gott keine Spöttelei!« sagte sie fast singend, und in dem Satze zitterte ein wahrhaftes Gefühl. Oblomow beruhigte sich. »Dieser Andrej!« sagte er vorwurfsvoll. »Nun, sagen Sie, was ich zweitens tun soll, damit Sie sich nicht langweilen?« fragte sie. »Singen Sie!« sagte er. »Das ist das von mir erwartete Kompliment!« rief sie freudig errötend aus. »Wissen Sie«, fuhr sie dann lebhaft fort, »wenn Ihnen vorgestern nach meinem Gesang nicht dieses ›Ach!‹ entschlüpft wäre, könnte ich, wie mir scheint, die ganze Nacht nicht schlafen und würde vielleicht weinen.« »Warum?« fragte Oblomow erstaunt. Sie sann nach. »Ich weiß selbst nicht«, sagte sie dann. »Sie sind ehrgeizig; wohl deshalb.« »Ja, natürlich deshalb«, sagte sie, nachdenklich die Tasten mit einer Hand berührend. »Der Ehrgeiz ist ja überall und in großem Maße zu finden. Andrej Iwanowitsch sagt, daß er fast die einzige treibende Kraft ist, die den Willen beherrscht. Sie haben wohl keinen Ehrgeiz, darum ...« Sie sprach nicht zu Ende. »Was denn?« fragte er. »Nein, nichts!« suchte sie zu vertuschen. »Ich liebe Andrej Iwanowitsch«, sprach sie weiter, »nicht weil er mich lachen macht – manchmal weine ich, wenn er mit mir spricht – und nicht weil er mich liebt, sondern ich glaube, weil ... er mich mehr als die anderen liebt. Sehen Sie, wieweit der Ehrgeiz reicht!« »Sie lieben Andrej?« fragte Oblomow sie und versenkte seinen gespannten, prüfenden Blick in ihre Augen. »Ja, gewiß, wenn er mich mehr als die anderen liebt, tu ich's um so mehr!« antwortete sie ernst. Oblomow blickte sie schweigend an und begegnete ihrem einfachen, schweigenden Blick. »Er liebt auch Anna Wassiljewna und Sinaida Michailowna, aber nicht so«, fuhr sie fort, »er wird mit ihnen nicht zwei Stunden lang sitzen, wird sich nicht die Mühe geben, sie zum Lachen zu bringen und ihnen etwas Intimes zu erzählen; er spricht mit ihnen von Geschäften, vom Theater, von den Neuigkeiten, und mit mir spricht er wie mit einer Schwester ... nein, wie mit einer Tochter«, fügte sie eilig hinzu; »manchmal schilt er sogar, wenn ich etwas nicht sofort verstehe oder nicht gehorche oder mit ihm nicht einverstanden bin. Die anderen schilt er aber nicht, und mir scheint, ich liebe ihn dafür noch mehr. Der Ehrgeiz!« sagte sie dann sinnend, »ich weiß gar nicht, wie er jetzt in meinen Gesang hineingeraten ist? Man sagt mir darüber schon lange viel Schönes, und Sie wollten mir gar nicht zuhören, man hat Sie fast dazu gezwungen. Und wenn Sie dann fortgegangen wären, ohne mir ein Wort zu sagen, wenn ich in Ihrem Gesichte nichts gelesen hätte ... würde ich, scheint mir, krank geworden sein ... ja, gewiß, das ist Ehrgeiz!« schloß sie mit Bestimmtheit. »Und haben Sie denn auf meinem Gesichte etwas bemerkt?« fragte er. »Tränen, wenn Sie sie auch verbergen wollten; es ist eine schlechte Eigenschaft der Männer, ihre Gefühle verbergen zu wollen. Das ist auch Ehrgeiz, nur ein falscher. Sie sollten sich manchmal lieber ihrer Vernunft schämen; diese irrt häufiger. Sogar Andrej Iwanowitsch hat ein schamhaftes Herz. Ich habe es ihm gesagt, und er hat es zugegeben. Und Sie?« »Was würde man denn nicht zugeben, wenn man Sie anblickt!« sagte er. »Wieder ein Kompliment! Und was für ein ...« Sie fand das Wort nicht. »... banales!« sagte Oblomow, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Sie bestätigte durch ein Lächeln die Bedeutung des Wortes. »Das habe ich ja befürchtet, als ich Sie nicht bitten wollte zu singen ... Was kann man sagen, wenn man zum ersten Male zuhört? Und man muß doch etwas sagen. Es ist schwer, zugleich gescheit und aufrichtig zu sein, besonders in Gefühlssachen und unter dem Bann eines solchen Eindruckes, wie damals ...« »Und ich habe damals wirklich so gesungen, wie schon lange nicht, vielleicht sogar wie noch nie ... Bitten Sie mich nicht, ich werde nicht mehr so singen ... Warten Sie, ich singe Ihnen nur eines ...« sagte sie, und ihr Gesicht schien in dem Augenblicke aufzuflammen, die Augen begannen zu leuchten, sie setzte sich auf den Sessel, schlug zwei, drei laute Akkorde und sang. O Gott, was war in diesem Gesange alles zu hören! Hoffnungen, dunkle Furcht vor Sturm, der Sturm selbst, das Streben nach Glück – das alles erklang nicht im Liede, sondern in ihrer Stimme. Sie sang lange, sich ab und zu nach ihm umwendend und kindlich fragend: »Genug? Nein, noch das?« und sie sang weiter. Ihre Wangen und Ohren glühten vor Erregung; manchmal leuchtete auf ihrem Gesicht das Spiel von Gefühlsblitzen und flammte der Strahl einer so reifen Leidenschaft auf, als ob sie in ihrer Seele eine ferne, künftige Zeit des Lebens durchlebte, und dann erlosch dieser flüchtige Strahl, und die Stimme klang wieder frisch und silberhell. Auch Oblomow durchlebte dasselbe; ihm schien, er hörte und fühlte das alles nicht eine oder zwei Stunden lang, sondern ganze Jahre ... Sie wurden beide, äußerlich reglos, von einem inneren Feuer verzehrt und erzitterten von den gleichen Schauern; in ihren Augen waren Tränen, die die gleiche Stimmung hervorgerufen hatte. Das alles waren die Anzeichen jener Leidenschaften, die einst in Oljgas junger Seele erwachen sollten, die jetzt nur zeitweise von flüchtigen Regungen und von kurzem Aufblitzen der schlafenden Lebenskräfte aufgerüttelt wurde. Sie schloß mit einem langen, klangvollen Akkord, und ihre Stimme ging darin unter. Sie hörte plötzlich ermüdet auf, legte die Hände in den Schoß und blickte selbst ganz aufgeregt Oblomow an, wie er sich wohl demgegenüber verhalte? Auf seinem Gesicht leuchtete das Morgenrot des erwachenden, vom Grunde seiner Seele aufsteigenden Glückes; sein tränenvoller Blick war auf sie gerichtet. Jetzt ergriff sie unwillkürlich seine Hand. »Was haben Sie?« fragte sie. »Was machen Sie für ein Gesicht! Warum?« Doch sie wußte, warum er ein solches Gesicht machte, und triumphierte innerlich in aller Bescheidenheit über diesen Ausdruck ihrer Macht. »Schauen Sie in den Spiegel«, fuhr sie fort, ihm lächelnd sein Gesicht im Spiegel zeigend. »Ihre Augen glänzen, mein Gott, es sind Tränen darin! Wie tief Sie Musik empfinden!« »Nein, ich empfinde ... keine Musik ... sondern ... Liebe!« sagte Oblomow leise. Sie ließ seine Hand augenblicklich los und wechselte die Gesichtsfarbe. Ihr Blick begegnete dem seinigen, der auf sie gerichtet war. Dieser Blick war reglos und fast wahnsinnig; er ging nicht von Oblomow, sondern von der Leidenschaft aus. Oljga begriff, daß dieses Wort ihm entschlüpft war, daß er darüber keine Macht hatte, und daß darin die Wahrheit war. Er kam zur Besinnung, ergriff den Hut und lief, ohne sich umzuwenden, aus dem Zimmer. Sie begleitete ihn nicht mehr mit einem neugierigen Blick, sondern blieb lange, ohne sich zu bewegen, wie eine Statue am Klavier stehen und schaute starr zu Boden; nur ihre Brust hob und senkte sich heftig ... Sechstes Kapitel Sechstes Kapitel Oblomow hatte inmitten seines trägen Liegens in bequemen Stellungen, inmitten des dumpfen Hindämmerns und des begeisterten Aufschwunges seiner Seele immer von der Frau als der Gattin, niemals aber als der Geliebten geträumt. In seiner Phantasie schwebte die Gestalt einer großen, schlanken Frau, mit ruhig auf der Brust gekreuzten Armen, mit einem stillen, aber stolzen Blick, sie saß nachlässig inmitten von Schlingpflanzen in der Allee oder schritt leicht über den Teppich oder den Sand der Allee hin mit sich wiegender Taille, mit einem graziös auf den Schultern sitzenden Kopf, mit sinnendem Ausdruck – als ein Ideal, als eine Verkörperung des ganzen Lebens, das von Zärtlichkeit und feierlicher Ruhe erfüllt ist, als die Ruhe selbst. Er sah sie im Traume zuerst ganz in Blumen, mit einem langen Schleier am Altar, dann mit schamhaft gesenkten Augen am Kopfende des Ehebettes, endlich als Mutter, inmitten einer Kindergruppe. Er sah auf ihren Lippen ein leidenschaftsloses Lächeln, das für ihn, ihren Gatten, Sympathie bedeutete und allen anderen gegenüber Nachsicht ausdrückte; ihr Blick war nicht feucht von Wünschen, er war nur dann wohlwollend, wenn er sich ihm zuwandte, allen anderen gegenüber aber war er schamhaft und selbst streng. Er wollte in ihr niemals ein Beben sehen, sie niemals bei einem heißen Traum, bei plötzlichem Weinen, Sehnen, bei Ermattung und dann bei einem wilden Übergang zur Freude überraschen. Sie durfte nicht plötzlich erbleichen, in Ohnmacht fallen, erschütternde Gefühlsausbrüche erleiden ... »Solche Frauen haben Liebhaber«, sagte er, »und sie verursachen große Unannehmlichkeiten; man muß den Arzt holen, sie ins Bad schicken und eine Menge verschiedener Launen erfüllen. Man kann nicht ruhig schlafen! Aber man schläft ruhig neben einer stolzen, schamhaften, ruhigen Gefährtin. Man schläft ruhig mit der Gewißheit ein, beim Erwachen demselben sanften, sympathischen Blick zu begegnen.« Und sein warmer Blick würde auch nach zwanzig, dreißig Jahren demselben sanften, still leuchtenden Strahl der Sympathie in ihren Augen begegnen. Und so bis zum Grab! Ist es denn nicht das heimliche Ziel eines jeden, im geliebten Menschen den unwandelbaren Ausdruck von Ruhe, das ewige, gleichmäßige Strömen des Gefühls zu sehen? Das ist ja die Norm der Liebe, und sowie wir von ihr abweichen, sie verändern und sie abkühlen, leiden wir, folglich ist mein Ideal das allgemein menschliche! dachte er. Ist das nicht die Vollendung, die Klarlegung der Beziehungen der Geschlechter? Der Leidenschaft einen gesetzmäßigen Ausgang zu eröffnen; ihr wie einem Fluß zum besten eines ganzen Landes den Lauf vorzuzeichnen, das ist eine Aufgabe, welche die allgemeine Wohlfahrt zum Ziele hat, das ist der Gipfel des Fortschrittes, dem alle Vordermänner zustreben, aber den sie nicht zu erreichen vermögen. Wenn diese Aufgabe gelöst ist, gibt es keinen Verrat, keine Abkühlung mehr, dann beginnt das ewig gleichmäßige Schlagen des ruhigen, glücklichen Herzens, folglich auch ein wenig inhaltreiches Leben, das einen ewigen Zufluß an Säften erhält, und eine ewige moralische Gesundheit. Es gibt Beispiele eines solchen Glückes, sie sind aber selten, und man weist auf dieselben als auf ein Phänomen hin. Man sagt, man muß dazu geboren sein. Und wer weiß, ob man dazu nicht erzogen werden und es nicht bewußt anstreben kann? ... Die Leidenschaft! Das alles ist nur in Gedichten und auf der Bühne schön, wo die Schauspieler in Gewändern mit Dolchen herumspazieren, und wo dann die Gemordeten und die Mörder zusammen Abendbrot essen ... Es wäre gut, wenn auch die Leidenschaften so endeten, es bleibt aber gewöhnlich Rauch und Gestank zurück, und das Glück kommt nicht! Und bei den Erinnerungen daran schämt man sich nur und möchte sich das Haar ausreißen. Wenn man aber doch von einem solchen Unglück, von der Leidenschaft, betroffen wird, ist es, wie wenn man auf eine schlechte, bergige, unfahrbare Straße gerät, auf der die Pferde fallen und der Insasse ermattet, während der Heimatort schon in Sicht ist; man darf ihn nicht aus dem Auge lassen und muß so schnell als möglich aus der gefährlichen Stelle herauszukommen suchen ... »Ja, die Leidenschaft muß in der Heimat eingedämmt, erstickt und ertränkt werden.« Er wäre entsetzt vor der Frau geflohen, die ihn mit dem Blick versengt hätte oder die aufgestöhnt hätte und mit geschlossenen Augen auf seine Schulter gesunken wäre, um dann nach Wiedererlangung der Besinnung seinen Hals zum Ersticken mit den Armen zu umschlingen ... Das ist ein Feuerwerk, die Explosion eines Pulverfasses; und was folgt dann? Betäubung, Verblendung und versengtes Haar! Wollen wir uns aber betrachten, was für ein Wesen Oljga war. Lange Zeit, nachdem ihm das Bekenntnis entschlüpft war, blieben sie nicht mehr unter vier Augen. Er versteckte sich wie ein Schulknabe, sowie er Oljga erblickte. Sie hatte ihr Benehmen ihm gegenüber verändert, mied ihn aber nicht und war auch nicht kalt, sie erschien nur nachdenklicher. Es hatte den Anschein, als bedauerte sie, daß etwas vorgefallen war, das sie daran hinderte, Oblomow durch den auf ihn gerichteten neugierigen Blick zu quälen und gutmütig über sein Liegen, seine Trägheit und Ungeschicklichkeit zu spotten ... In ihr erwachte die Lust zu necken; das war aber die Neckerei einer Mutter, die beim Anblicke einer komischen Kleidung ihres Sohnes ein Lächeln nicht unterdrücken kann. Stolz war verreist, und sie langweilte sich, weil sie niemand vorsingen konnte; ihr Klavier blieb geschlossen, mit einem Worte, sie waren beide befangen, von Fesseln belastet und fühlten sich unbehaglich. Und wie schön es anfangs gewesen war. Wie einfach sie Bekanntschaft geschlossen, wie frei sie sich einander genähert hatten! Oblomow war einfacher und gutmütiger als Stolz, wenn er sie auch nicht so zum Lachen brachte, oder er tat es durch seine eigene Person und verzieh so leicht ihren Spott. Außerdem übergab Stolz beim Abreisen Oblomow ihrer Obhut und bat sie, ihn zu beaufsichtigen und am Zuhausesitzen verhindern. In ihrem klugen, hübschen Köpfchen hatte sich schon ein eingehender Plan entwickelt, wie sie Oblomow den Nachmittagsschlaf abgewöhnen würde; sie würde ihm nicht nur das Schlafen, sondern sogar das Liegen auf dem Sofa bei Tag verbieten; sie wollte ihm das Versprechen abnehmen. Sie malte sich aus, wie sie ihm die Bücher, die Stolz zurückgelassen hatte, zu lesen befehlen würde, dann müßte er täglich die Zeitungen lesen und ihr die Neuigkeiten erzählen, in das Dorf Briefe schicken, den Plan der Einrichtung des Gutes zu Ende schreiben, sich zur Reise ins Ausland vorbereiten – mit einem Worte, sie würde ihn nicht einschlafen lassen; sie wollte ihn auf ein Ziel hinweisen, alles das, was er zu lieben aufgehört hatte, wieder lieben machen, und Stolz würde ihn bei der Rückkehr nicht wiedererkennen. Und das ganze Wunder würde sie vollziehen, die so schüchtern und schweigsam war, der bis jetzt niemand gehorcht hatte und die erst zu leben begann! Sie würde die Urheberin einer solchen Verwandlung sein! Diese hatte schon begonnen; sie hatte nur zu singen gebraucht, und Oblomow war schon ganz anders ... Er würde leben, arbeiten und das Leben und sie segnen. Einen Menschen dem Leben zurückgeben! Welcher Ruhm erwartet den Arzt, wenn er einen hoffnungslosen Kranken rettet! Und sie würde einen Geist und eine Seele, die zugrunde gingen, retten! ... Sie erbebte vor Stolz und Freude und hielt es für eine Aufgabe, die ihr vom Himmel bestimmt war. Sie hatte ihn in Gedanken schon zu ihrem Sekretär und Bibliothekar gemacht. Und das alles sollte plötzlich aufhören! Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und schwieg darum, wenn sie mit Oblomow zusammenkam. Oblomow quälte sich mit dem Gedanken ab, daß er sie erschreckt und beleidigt hatte, erwartete drohende Blicke und kühle Strenge, zitterte, wenn er sie sah, und ging ihr aus dem Wege. Unterdessen war er schon aufs Land übergesiedelt und irrte drei Tage lang allein über die Hügel, durch den Sumpf und im Walde herum, oder er ging ins Dorf, saß träge an einem Bauernhaus und sah zu, wie die Kinder und die Kälber herumliefen und wie die Enten im Teich herumplätscherten. Neben dem Landhaus befanden sich ein See und ein großer Park, doch er fürchtete sich hinzugehen, um Oljga nicht allein anzutreffen. Wie ich nur so herausplatzen konnte! dachte er und fragte sich gar nicht, ob er die Wahrheit gesagt hatte oder ob das nur die momentane Wirkung der Musik auf seine Nerven war. Das Gefühl der Unbehaglichkeit und Beschämung, die von ihm begangene »Schandtat«, wie er sich ausdrückte, hinderte ihn daran, zu analysieren, was für ein Gefühlsausbruch das war und was Oljga überhaupt für ihn bedeutete. Er versuchte es nicht mehr, sich klarzumachen, daß in sein Herz etwas Neues hineingekommen war, ein Klümpchen, das sich früher nicht darin befunden hatte. Alle seine Gefühle hatten sich in ein einziges Gefühl, das der Scham, verwandelt. Wenn sie aber für Augenblicke seiner Phantasie erschien, erstand darin auch die andere Gestalt, jenes Ideal der verkörperten Ruhe und des Lebensglückes: Dieses Ideal war genau wie Oljga! Beide Gestalten näherten sich einander immer mehr und verschmolzen in eine einzige. »Ach, was ich angestellt habe!« sagte er, »ich habe alles zerstört! Gott sei Dank, daß Stolz verreist ist; sie hat nicht Zeit gehabt, es ihm zu erzählen, sonst müßte ich in die Erde sinken! Liebe, Tränen – wie paßt denn das zu mir! Auch Oljgas Tante schickt niemand zu mir herüber und ladet mich nicht ein; sie hat es ihr gewiß gesagt ... O Gott! ...« So dachte er, sich in die Tiefe des Parkes, in irgendeine Seitenallee versteckend. Oljga kam nur bei dem Gedanken an die Begegnung in Verlegenheit, wie dieses Ereignis ablaufen würde. Würden sie schweigen, als ob nichts geschehen wäre, oder mußte sie ihm etwas sagen? Und was sollte sie sagen? Sollte sie eine strenge Miene annehmen, ihn stolz anblicken oder auch gar nicht anblicken und hochmütig und trocken bemerken, daß sie »ihm eine solche Handlungsweise niemals zugemutet hätte! Für wen er sie wohl halte, da er sich eine solche Frechheit erlaubt habe? ...« So hatte Sonitschka während der Mazurka irgendeinem Fähnrich geantwortet, trotzdem sie sich selbst mit allen Kräften bestrebt hatte, ihm den Kopf zu verdrehen. Warum ist denn das frech? fragte sie sich. Und wenn er wirklich so fühlt, warum soll er es dann nicht sagen? ... Aber wie war es möglich, so plötzlich, kaum daß er sie kennengelernt hatte ... Das würde sonst niemand gesagt haben, nachdem er ein Mädchen zum zweiten- oder drittenmal gesehen hat; auch niemand würde so schnell Liebe empfinden. Das war nur Oblomow imstande ... Doch sie dachte daran, daß sie gehört und gelesen hatte, die Liebe käme manchmal plötzlich. Das war bei ihm eine Aufwallung, ein Ausbruch; er läßt sich jetzt nicht blicken; er schämt sich; folglich ist es keine Frechheit. Und wessen Schuld war es? dachte sie weiter. Natürlich Andrej Iwanowitschs, denn er hatte sie zum Singen gebracht. Aber Oblomow hatte anfangs nicht zuhören wollen – sie ärgerte sich und sie ... gab sich Mühe ... (sie errötete heftig) – ja sie wendete ihre ganze Kraft an, um ihn aufzurütteln. Stolz hatte ihr gesagt, er wäre apathisch, nichts interessiere ihn und alles in ihm wäre erloschen. Da wollte sie sehen, ob alles erloschen wäre, und sie sang, sie sang ... wie noch nie ... »Mein Gott! es ist ja meine Schuld; ich werde ihn um Verzeihung bitten ... Was soll er mir aber verzeihen?« fragte sie sich dann, »was werde ich ihm sagen: Herr Oblomow, ich bin schuldig, ich habe Sie verführt ... Welche Schande! Das ist nicht wahr!« sagte sie errötend und mit dem Fuße stampfend. »Wer wagt das zu denken? ... Habe ich denn gewußt, was dabei herauskommen wird? Und wenn das nicht geschehen, wenn es ihm nicht entschlüpft wäre ... was dann? ...« fragte sie. Ich weiß nicht ... dachte sie. Seit dem Tage ist es ihr so seltsam ums Herz ... sie ist wohl sehr gekränkt ... es wird ihr sogar ganz heiß, und auf ihren Wangen glühen zwei rosige Flecken ... »Gereiztheit ... leichtes Fieber«, sagt der Arzt. Was dieser Oblomow angestellt hat! Oh, er muß eine ordentliche Lehre bekommen, damit das in Zukunft nicht mehr vorkommt! Ich werde ma tante ersuchen, ihm das Haus zu verbieten; er darf sich nicht vergessen ... wie er es nur gewagt hat! dachte sie, im Park herumgehend; ihre Augen leuchteten. Plötzlich hörte sie jemand kommen. Jemand kommt ... dachte Oblomow. Und sie stießen aufeinander. »Oljga Sjergejewna!« sagte er, wie ein Espenblatt zitternd. »Ilja Iljitsch!« antwortete sie schüchtern, und beide blieben stehen. »Guten Tag!« sagte er. »Guten Tag!« erwiderte sie. »Wohin gehen Sie?« fragte er. »Nur so ...« antwortete sie, ohne die Augen zu heben. »Störe ich Sie?« »O nicht im geringsten ...« gab sie zur Antwort, ihn rasch und neugierig anblickend. »Darf ich mitgehen?« fragte er plötzlich, ihr einen forschenden Blick zuwerfend. Sie schritten schweigend die Allee entlang. Weder das Lineal des Lehrers, noch die gefurchten Brauen des Direktors hatten Oblomows Herz so wie jetzt klopfen gemacht. Er wollte sich dazu zwingen, etwas zu sagen, aber die Worte wollten ihm nicht von der Zunge; nur sein Herz schlug auf eine unglaubliche Weise, wie vor einem Unglück. »Haben Sie einen Brief von Andrej Iwanowitsch erhalten?« fragte sie. »Ja, ich habe einen erhalten.« »Was schreibt er?« »Er ruft mich nach Paris.« »Und was tun Sie?« »Ich fahre hin.« »Wann?« »Jetzt gleich ... nein, morgen ... sowie ich fertig bin.« »Warum so bald?« fragte sie. Er schwieg. »Gefällt Ihnen die Landwohnung nicht, oder ... sagen Sie, warum wollen Sie verreisen?« Diese Frechheit! Er will noch verreisen! dachte sie. »Mir ist es so weh, so unbehaglich zumute, etwas brennt mich ...« flüsterte Oblomow, ohne sie anzublicken. Sie schwieg. Dann pflückte sie einen Fliederzweig und roch daran, sich die Nase und das Gesicht bedeckend. »Riechen Sie, wie das duftet!« sagte sie und bedeckte auch seine Nase. »Und da sind Maiglöckchen! Warten Sie, ich werde welche pflücken«, sagte er, sich über das Gras beugend, »sie riechen besser nach Feld und Wald; es ist mehr Natur in ihnen. Und der Flieder wächst immer bei den Häusern, die Zweige kriechen förmlich zum Fenster hinein, und ihr Duft ist zu süßlich. Auf den Maiglöckchen ist der Tau noch nicht getrocknet.« Er reichte ihr ein paar Blüten. »Und lieben Sie Reseda?« fragte sie. »Nein, das riecht zu stark; ich liebe weder Reseda noch Rosen. Ich liebe überhaupt keine Blumen; im Feld geht es noch an, aber im Zimmer machen sie so viel Schererei ... und man hat gleich Kehricht ...« »Und Sie lieben, daß es in den Zimmern rein ist?« fragte sie, ihn schelmisch anblickend. »Sie vertragen keinen Kehricht?« »Ja; aber ich habe einen solchen Diener ...« murmelte er. O die Böse! fügte er im stillen hinzu. »Reisen Sie direkt nach Paris?« fragte sie. »Ja; Stolz erwartet mich längst.« »Bringen Sie ihm einen Brief von mir mit; ich werde ihm schreiben.« »Geben Sie ihn mir heute; ich übersiedle morgen in die Stadt.« »Morgen?« fragte sie, »warum so schnell? Es ist, als ob jemand Sie fortjagte.« »Es ist auch so ...« »Wer denn?« »Die Scham ...« flüsterte er. »Die Scham!« wiederholte sie mechanisch. Jetzt werde ich ihm sagen: Herr Oblomow, ich hätte es nie erwartet. »Ja, Oljga Sjergejewna«, brachte er endlich heraus. »Sie wundern sich gewiß ... und zürnen ...« Jetzt ist es Zeit ... das ist der richtige Moment. Ihr Herz klopfte. Ich kann nicht, o Gott! Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu blicken und zu erfahren, wie sie sich ihm gegenüber verhielt; aber sie roch an den Maiglöckchen und am Flieder und wußte selbst nicht, was mit ihr war ... was sie sagen, was sie tun sollte. Ach, Sonitschka würde sich gleich etwas ausgedacht haben, und ich bin so dumm! Ich kann gar nichts ... dachte sie gequält. »Ich habe ganz vergessen«, sagte sie. »Glauben Sie mir, es war gegen meinen Willen ... ich konnte nicht an mich halten ...« begann er, sich allmählich mit Mut wappnend. »Wenn es damals gedonnert hätte, wenn ein Stein auf mich herabgefallen wäre, ich hätte es doch gesagt. Ich konnte es mit allen meinen Kräften nicht zurückhalten ... Um Gottes willen, glauben Sie nicht, daß ich ... Ich selbst hätte nach einem Augenblick Gott weiß was darum gegeben, um das unvorsichtige Wort ungesagt zu machen ...« Sie ging mit gesenktem Kopfe weiter und roch an den Blumen. »Vergessen Sie es«, fuhr er fort, »vergessen Sie es, um so mehr, als es nicht wahr ist ...« »Es ist nicht wahr?« wiederholte sie, plötzlich sich aufrichtend, und ließ die Blumen fallen. Ihre Augen öffneten sich weit, und darin leuchtete Erstaunen auf ... »Wieso ist es nicht wahr?« wiederholte sie nochmals. »Ja, um Gottes willen, zürnen Sie nicht und vergessen Sie es. Ich versichere Sie, es war nur ein Ausbruch eines Augenblicks ... Das hat die Musik verursacht ...« »Nur die Musik! ...« Sie wechselte die Farbe; die beiden rosigen Flecken verschwanden und die Augen erloschen. Es ist also nichts! Jetzt hat er das unvorsichtige Wort zurückgenommen und ich brauche ihm nicht zu zürnen! ... Es ist gut ... jetzt kann ich ruhig sein ... Ich kann wie bisher sprechen und scherzen ... dachte sie und riß im Vorübergehen heftig einen Zweig vom Baume herab, pflückte mit den Lippen ein Blatt herunter und warf dann sogleich den Zweig und das Blatt auf den Sand hin. »Sie zürnen nicht? Sie haben vergessen?« sagte Oblomow, sich zu ihr herabbeugend. »Ja, was ist denn? Was bitten Sie?« antwortete sie, erregt und fast ärgerlich sich von ihm abwendend. »Ich habe alles vergessen ... ich bin so gedächtnisschwach!« Er schwieg und wußte nicht, was er tun sollte. Er sah nur den plötzlichen Ärger, ohne die Ursache entdecken zu können. Mein Gott! dachte sie, jetzt ist alles wieder in Ordnung; jene Szene ist wie ausgelöscht, Gott sei Dank! Nun also ... Ach du mein Gott! Was ist denn das? Ach, Sonitschka, Sonitschka! wie glücklich bist du! »Ich gehe nach Hause«, sagte sie plötzlich, ihren Schritt beschleunigend und in eine andere Allee einbiegend. Ihr stiegen Tränen zum Hals hinauf. Sie fürchtete, sie würde aufweinen. »Nicht so, hier ist es näher«, bemerkte Oblomow. Dummkopf, sprach er traurig zu sich selbst, wozu habe ich mich erklären müssen! Jetzt habe ich sie noch mehr gekränkt. Ich hätte sie nicht daran erinnern sollen; es wäre auch so wieder gut geworden, und sie hätte es von selbst vergessen. Jetzt ist nichts zu machen, ich muß mir ihre Verzeihung erbitten. Ich ärgere mich wohl deshalb, dachte sie, weil ich nicht den richtigen Moment benützt habe, ihm zu sagen: Herr Oblomow, ich hätte niemals erwartet, daß Sie sich so etwas erlauben ... Er ist mir zuvorgekommen ... »Es ist nicht wahr«! So etwas, er hat also noch gelogen! Nein, wie hat er das wagen können? »Haben Sie es wirklich vergessen?« fragte er leise. »Ich habe vergessen, ich habe alles vergessen!« sagte sie schnell und beeilte sich nach Hause zu kommen. »Reichen Sie mir zum Zeichen dessen, daß Sie nicht zürnen, die Hand.« Sie streckte ihm, ohne ihn anzublicken, die Fingerspitzen hin und zog, sowie er diese berührte, die Hand zurück. »Nein, Sie zürnen!« sagte er seufzend. »Wie soll ich Sie davon überzeugen, daß es nur eine augenblickliche Stimmung war, daß ich mir nicht erlaubt hätte, mich so zu vergessen ...? Nein, jetzt ist es aus, ich werde Ihrem Gesang nicht mehr zuhören ...« »Bemühen Sie sich nicht; ich brauche Ihre Versicherungen nicht ...« sagte sie lebhaft. »Ich werde selbst nicht mehr singen!« »Gut, ich schweige, aber gehen Sie um Gottes willen nicht so fort, sonst bleibt auf meiner Seele ein Stein zurück ...« Sie verlangsamte ihren Schritt und begann seinen Worten gespannt zu lauschen. »Wenn es wahr ist, daß Sie geweint hätten, wenn mir nach Ihrem Gesang jener Ausruf nicht entschlüpft wäre, dann erbarmen Sie sich, Oljga Sjergejewna! Wenn Sie jetzt so fortgehen, ohne mir zuzulächeln und mir freundschaftlich die Hand zu reichen ... werde ich krank sein, meine Knie zittern, ich halte mich mit Mühe aufrecht ...« »Warum?« fragte sie plötzlich, ihn anblickend. »Das weiß ich selbst nicht«, sagte er, »die Scham ist jetzt bei mir vergangen; ich schäme mich meines Wortes nicht ... mir scheint, darin ...« Es wurde ihm wieder seltsam ums Herz; er fühlte darin wieder etwas Neues; ihr freundlicher, neugieriger Blick sengte ihn wieder. Sie wandte sich so graziös zu ihm um und erwartete so unruhig die Antwort. »Was ist ›darin‹?« fragte sie ungeduldig. »Nein, ich fürchte mich, es zu sagen, Sie werden wieder böse sein.« »Sprechen Sie!« sagte sie befehlend. Er schwieg. »Nun?« »Ich will wieder weinen, wenn ich Sie anblicke ... Sehen Sie, ich bin nicht eitel, ich schäme mich nicht meines Herzens ...« »Warum wollen Sie denn weinen?« fragte sie sanft, und auf ihren Wangen erschienen wieder zwei rosige Flecken. »Ich höre immer Ihre Stimme ... ich fühle wieder ...« »Was?« sagte sie, und die Tränen strömten von ihrer Brust wieder zurück; sie wartete gespannt. Sie näherten sich der Freitreppe. »Ich fühle ...« beeilte sich Oblomow hinzuzufügen und blieb stehen. Und sie stieg langsam, wie mit Mühe, die Stufen hinauf. »Dieselbe Musik ... dieselbe Erregung ... dasselbe Gef ... – verzeihen Sie, verzeihen Sie – bei Gott, ich kann mit mir nicht fertig werden ...« »Herr Oblomow ...« begann sie streng, dann erhellte der Strahl eines Lächelns ihr Gesicht, »ich bin nicht böse, ich verzeihe«, fügte sie weich hinzu, »aber in Zukunft ...« Sie streckte ihm, ohne sich umzuwenden, nach rückwärts die Hand hin; er erfaßte sie und küßte die Handfläche, sie preßte leise seine Lippen zusammen und sprang wie der Blitz in die Glastüre hinein, während er wie eine Bildsäule stehenblieb. Siebentes Kapitel Siebentes Kapitel Er blickte ihr lange mit großen Augen und offenem Munde nach und ließ seine Augen lange über das Gebüsch schweifen ... Es gingen fremde Leute vorüber, ein Vogel flatterte über ihm hin. Eine vorübergehende Bäuerin fragte, ob er keine Beeren kaufen wolle – seine Betäubung hielt an. Er ging wieder langsam dieselbe Allee entlang und schritt leise bis zu ihrer Hälfte hin, er stieß auf die Maiglöckchen, die Oljga verloren hatte, und auf den Fliederzweig, den sie gepflückt und ärgerlich fortgeworfen hatte. Warum war sie so ...? begann er zu überlegen und sich zu erinnern ... »Dummkopf! Dummkopf!« sagte er plötzlich laut, die Maiglöckchen und den Zweig ergreifend, und lief fast durch die Allee. »Ich habe sie um Verzeihung gebeten, und sie ... ach, ist's möglich? ... Welcher Gedanke!« Glücklich, strahlend, »mit einem Mond auf der Stirne«, wie seine Kinderfrau zu sagen pflegte, kam er nach Hause, setzte sich in die Sofaecke und schrieb schnell auf den Staub des Tisches mit großen Buchstaben: Oljga? »Ach, welch ein Staub!« bemerkte er, aus seinem Entzücken erwachend. »Sachar! Sachar!« schrie er lange, denn Sachar saß mit den Bedienten am Haustor, das sich im Gäßchen befand. »Komm doch«, sagte Anissja mit drohendem Flüstern ihn am Ärmel zupfend. »Der Herr ruft dich schon lange«. »Schau einmal, Sachar, was ist das?« sagte Ilja Iljitsch sanft und gütig; er war jetzt nicht imstande böse zu sein. »Du willst hier eine ebensolche Unordnung, Staub und Spinngewebe einführen? Nein, verzeihe, ich erlaube es nicht! Oljga Sjergejewna gibt mir schon längst keine Ruhe; sie sagt, ›Sie lieben den Kehricht‹.« »Ja, sie hat gut reden; dort sind fünf Dienstboten«, sagte Sachar, sich zur Tür wendend. »Wohin gehst du? Fege den Schmutz weg; man kann hier weder sitzen noch sich mit dem Ellbogen stützen ... Das ist ja ekelhaft, das ist ... Oblomowerei!« Sachar machte ein finsteres Gesicht und blickte den Herrn von der Seite an. Da haben wir's! dachte er, er hat noch ein trauriges Wort mehr ausgedacht! Es klingt aber so bekannt! »Nun, fege doch aus, was stehst du da?« sagte Oblomow. »Warum soll ich denn ausfegen? Ich habe heute schon ausgefegt!« antwortete Sachar eigensinnig. »Woher ist denn dann der Staub, wenn du gefegt hast? Schau einmal, hier, hier! Das darf nicht so bleiben, fege es sofort aus!« »Ich habe gefegt«, wiederholte Sachar, »ich werde doch nicht zehnmal fegen! Und der Staub kommt von draußen herein ... hier sind Felder, wir sind ja auf dem Lande ... es gibt auf der Straße viel Staub.« »Sachar Trofimitsch«, begann Anissja plötzlich aus dem Nebenzimmer hereinblickend, »du fegst zuerst den Fußboden und dann die Tische; der Staub setzt sich dann wieder ... du solltest zuerst ...« »Willst du mich belehren?« krächzte Sachar wütend, »geh an deinen Dienst!« »Wo hat man denn je gesehen, daß zuerst die Fußböden und dann die Tische gefegt werden? ... Darum ist der Herr auch böse ...« »Du!« schrie Sachar, mit dem Ellbogen auf ihre Brust zielend. Sie lachte und verschwand. Oblomow schickte auch ihn hinaus. Er legte seinen Kopf auf das gestickte Kissen, hielt die Hand aufs Herz und lauschte seinem Klopfen. »Das ist ja schädlich«, sagte er im stillen. »Was soll ich tun? Wenn ich den Doktor um Rat frage, schickt er mich nach Abessinien!« Solange Sachar und Anissja nicht verheiratet waren, gab sich jeder von ihnen mit seinem Ressort ab, ohne sich mit den Angelegenheiten des anderen zu befassen, das heißt, Anissja ging auf den Markt und beschäftigte sich mit der Küche und nahm nur einmal im Jahr am Zusammenräumen der Zimmer teil, wenn sie die Fußböden wusch. Doch nach der Hochzeit wurde ihr der Zutritt in die Zimmer der Herrschaft eröffnet. Sie half Sachar und nahm überhaupt einige Pflichten des Mannes auf sich, teils freiwillig, teils weil Sachar sie ihr despotisch auferlegt hatte, und in den Zimmern wurde es reiner. »Da, klopfe den Teppich«, krächzte er gebieterisch, oder: »Schau einmal nach, was dort in der Ecke liegt, und trage das Überflüssige in die Küche hinaus.« Er schwelgte so einen Monat lang; in den Zimmern war es rein, der Herr brummte nicht, sagte keine »traurigen Worte«, und Sachar brauchte nichts zu tun. Doch diese Seligkeit nahm ein baldiges Ende, und zwar aus folgendem Grunde: Sowie er mit Anissja zusammen in den herrschaftlichen Zimmern zu arbeiten begann, ergab es sich, daß alles, was Sachar tat, eine Dummheit war. Ein jeder Schritt war falsch und sollte anders gemacht werden. Er war fünfundfünfzig Jahre lang auf der Welt mit der Gewißheit herumgegangen, daß alles, was er tat, gar nicht anders und besser getan werden konnte. Und jetzt plötzlich hatte Anissja ihm in zwei Wochen bewiesen, daß er nichts wert war; und sie tat es mit einer so kränkenden Herablassung, so still, wie man es nur mit Kindern oder vollständigen Dummköpfen tut, und lachte noch, wenn sie ihn ansah. »Du, Sachar Trofimitsch«, sagte sie freundlich, »du solltest nicht zuerst den Schornstein in den Öfen zumachen und dann das Fenster aufmachen; da wird's in den Zimmern wieder kalt.« – »Wie soll ich's denn machen?« fragte er mit der Grobheit des Mannes. »Wann soll ich das Fenster aufmachen?« –»Beim Einheizen; es zieht die Luft hinaus, und dann wird's wieder warm«, antwortete sie leise. »So eine Närrin!« sagte er, »ich hab's zwanzig Jahre lang so gemacht, und soll ich's jetzt deinetwegen anders machen ...« Im Schrank auf dem Brett lag bei ihm alles durcheinander: Tee, Zucker, Zitrone, das Silberzeug und daneben Schuhwichse, Bürsten und Seife. Eines Tages kam er und sah plötzlich, daß die Seife auf dem Waschtisch, die Bürsten und die Schuhwichse auf dem Küchenfenster und der Tee und Zucker in einer besonderen Schublade der Kommode lagen. »Warum bringst du mir das alles durcheinander, he?« fragte er drohend, »ich habe absichtlich alles in einen Haufen gelegt, damit ich es bei der Hand habe, und du hast alles in alle Ecken und Enden zerstreut.« – »Damit der Tee nicht nach Seife riecht«, bemerkte sie sanft. Ein anderes Mal zeigte sie ihm in den Kleidern des Herrn zwei, drei Löcher, die von Motten herrührten, und sagte, daß die Kleider durchaus einmal wöchentlich geklopft und gebürstet werden müßten. »Laß mich nur, ich klopfe sie schon mit dem Besen aus«, schloß sie freundlich. Er riß ihr den Besen und den Frack, den sie schon genommen hatte, aus der Hand und legte die Sachen auf ihren Platz. Als er ein anderes Mal seiner Gewohnheit nach über den Herrn schimpfte, weil dieser ihm die Küchenschwaben vorwarf und meinte, er hätte sie doch nicht ausgedacht, räumte Anissja schweigend die seit undenklichen Zeiten auf dem Brett herumliegenden Brotstücke und Krumen fort, fegte und wusch die Schränke und das Geschirr – und die Küchenschwaben verschwanden fast endgültig. Sachar begriff noch immer nicht ganz, worum es sich handelte, und schrieb alles ihrem Eifer zu. Als er aber eines Tages ein Präsentierbrett mit Tassen und Gläsern durch das Zimmer trug, zwei Gläser zerbrach, seiner Gewohnheit nach schimpfte und das ganze Brett zu Boden werfen wollte, nahm sie es ihm aus den Händen, tat andere Gläser und außerdem noch die Zuckerdose und Brot darauf und stellte alles so zusammen, daß keine einzige Tasse sich rührte, zeigte ihm dann, wie man das Präsentierbrett mit der einen Hand nahm und mit der anderen fest stützte, und als sie dann zweimal durch das Zimmer schritt, indem sie das Brett nach rechts und links drehte, ohne daß ein einziges Löffelchen sich bewegte, wurde es Sachar plötzlich klar, daß Anissja klüger war als er! Er riß ihr das Präsentierbrett fort, warf die Gläser zu Boden und konnte es ihr seitdem nicht verzeihen. »Siehst du, so macht man es!« hatte sie noch leise hinzugefügt. Er blickte sie mit stumpfem Hochmut an, und sie lachte nur. »Ach, du Bäuerin, du Soldatenweib, willst du die Kluge spielen? Haben wir denn in Oblomowka ein solches Haus gehabt? Und ich habe alles selbst geleitet; wir haben ja allein an Lakaien und Laufburschen fünfzehn Personen gehabt! Und euereins, Frauenzimmer, hat's soviel gegeben, daß man nicht einmal die Namen von allen wußte ... Und jetzt kommst du ... Ach, du! ...« – »Ich meine es ja gut«, begann sie. »Nun, nun, nun!« krächzte er und machte die drohende Bewegung, mit dem Ellbogen auf die Brust zielend: »Marsch, hinaus aus den herrschaftlichen Zimmern, geh in die Küche ... Bleib bei deiner Frauenzimmerarbeit!« Sie lachte und ging, und er blickte ihr düster von der Seite nach. Sein Stolz litt, und er behandelte seine Frau streng. Wenn es aber vorkam, daß Ilja Iljitsch nach irgendeinem Gegenstand fragte, den man nicht finden konnte oder der zerbrochen worden war, und wenn überhaupt im Hause etwas Ungehöriges vorkam und sich über Sachars Haupt ein Gewitter sammelte, das von »traurigen Worten« begleitet war, blinzelte Sachar Anissja zu, nickte mit dem Kopfe und zeigte mit dem Daumen auf das Arbeitszimmer des Herrn hin und sagte: »Geh du zum Herrn und schau nach, was er haben will.« Anissja ging hin, und das Gewitter löste sich immer in eine einfache Erklärung auf. Und sobald in Oblomows Rede sich »traurige Worte« einzuschleichen begannen, schlug Sachar selbst vor, Anissja zu rufen. In Oblomows Zimmern wäre alles wieder vernachlässigt worden, wenn Anissja nicht dagewesen wäre; sie zählte schon zu Oblomows Haus, löste unbewußt das unzerreißbare Band, das ihren Mann an das Leben, das Haus und die Person IIja Iljitschs kettete, und ihr weibliches Auge und ihre sorgsame Hand walteten in den vernachlässigten Räumen. Sowie Sachar sich abwandte, staubte Anissja die Tische und Sofas ab, öffnete das Fenster, richtete die Jalousien, räumte die inmitten des Zimmers hingeworfenen Stiefel oder die auf die eleganten Sessel hingehängten Beinkleider fort, musterte alle Kleider, sogar die Papiere, Bleistifte, Federmesser und Federn auf dem Tische durch und legte alles in Ordnung hin; sie schüttelte das zerwühlte Bettzeug auf, ordnete die Kissen und machte das alles mit drei Griffen; dann ließ sie noch einen schnellen Blick durch das Zimmer gleiten, rückte irgendeinen Sessel zurecht, machte die halboffene Schublade der Kommode zu, zog die Decke vom Tisch herunter und glitt rasch in die Küche, wenn sie Sachars knarrende Stiefel hörte. Sie war eine lebhafte, flinke Frau von siebenundvierzig Jahren, mit einem besorgten Lächeln, lebendig nach allen Seiten hinblickenden Augen, einem festen Hals und einer festen Brust und roten, geschickten, nie ermüdenden Händen. Sie besaß fast gar kein Gesicht; man bemerkte nur die Nase, trotz dem sie nicht groß war, doch schien sie sich vom Gesicht losgelöst zu haben oder ihm schlecht angefügt worden zu sein, und dabei war ihr unterer Teil nach oben gewendet, so daß das Gesicht dahinter gar nicht zu sehen war; außerdem war es so zusammengeschrumpft und verblichen, daß man sich von der Nase längst einen klaren Begriff gebildet hatte, bevor man das Gesicht auch nur bemerkte. Es gibt auf der Welt viele solcher Männer wie Sachar. Mancher Diplomat hört nachlässig den Ratschlag der Frau an, zuckt die Achseln und schreibt dann heimlich nach ihren Angaben. Manchmal hört ein Beamter pfeifend und mit einer Grimasse des Bedauerns dem Geplauder der Frau über eine wichtige Angelegenheit zu und berichtet morgen mit wichtiger Miene dieses Geplauder dem Minister. Diese Herrschaften behandeln ihre Frauen ebenso düster oder leichtfertig, lassen sich kaum herab, mit ihnen zu sprechen, und halten sie, wenn nicht für Frauenzimmer, wie Sachar, so doch für Blumen, die zur Zerstreuung nach dem Geschäftlichen, Ernsten da sind ... Die Mittagssonne sengte schon lange die Wege des Parkes. Alle saßen im Schatten unter Segeltuchmarkisen; nur die Kinderfrauen mit den Kindern gingen mutig gruppenweise herum und saßen unter den Mittagsstrahlen im Grase. Oblomow lag noch immer auf dem Sofa und trug sich mit Zweifeln über die Bedeutung seines Morgengespräches mit Oljga herum. »Sie liebt mich, in ihr ist ein Gefühl für mich erwacht. Ist das möglich? Sie träumt von mir; sie hat für mich so leidenschaftlich gesungen, und die Musik hat uns beide mit Sympathie füreinander angesteckt!« Ihn erfüllte Stolz, das Leben erstrahlte, er sah seine zauberhaften Fernen, alle Farben und Strahlen, die noch vor kurzem nicht da waren. Er sah sich schon mit ihr im Ausland, auf den Schweizer Seen, in Italien, durchschritt mit ihr die Ruinen in Rom, fuhr in einer Gondel, verlor sich dann in der Menge von Paris und London und dann ... dann befand er sich in seinem irdischen Paradies, in Oblomowka. Sie ist seine Gottheit, sie mit diesem lieben Geplauder, mit diesem feinen, weißen Gesichtchen und dem zarten, dünnen Hals ... Die Bauern haben nie etwas Ähnliches gesehen; sie werfen sich vor diesem Engel zu Boden. Sie schreitet langsam über das Gras hin, geht mit ihm im Schatten des Birkenhaines, sie singt ihm ... Und er versetzt sich in dieses Leben, in seinen stillen Lauf, in sein süßes Rieseln und Plätschern ... Er versinkt in ein Sinnen, das durch die befriedigten Wünsche, durch die Fülle des Glückes hervorgerufen wird ... Plötzlich umdüsterte sich sein Gesicht. »Nein, das ist unmöglich!« sagte er laut, sich vom Sofa erhebend und durch das Zimmer schreitend. »Mich lieben! Mich mit dem komischen Äußern, mit dem schläfrigen Blick, mit den welken Wangen ... Sie lacht nur über mich ...« Er blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich lange, zuerst ärgerlich, doch dann klärte sich sein Blick auf; er lächelte sogar. »Mir scheint, ich sehe jetzt besser und frischer aus als in der Stadt«, sagte er; »meine Augen sind nicht trüb ... Es hat sich ein Gerstenkorn gezeigt, ist aber verschwunden ... Das kommt gewiß von der hiesigen Luft; ich gehe viel, trinke gar keinen Wein, liege nicht ... Ich brauche gar nicht nach Ägypten zu reisen.« Es kam ein Diener von Marja Michailowna, Oljgas Tante, ihn zum Mittagessen zu bitten. »Ich komme, ich komme!« sagte Oblomow. Der Diener wollte gehen. »Wart! Da hast du!« Er gab ihm Geld. Ihm ist fröhlich und leicht ums Herz. In der Natur ist alles so heiter. Die Menschen sind so gut; alle freuen sich; bei allen drückt sich das Glück auf dem Gesichte aus. Nur Sachar ist finster und blickt den Herrn immer von der Seite an; aber Anissja lächelt so gutmütig. – Ich schaffe mir einen Hund an, beschloß Oblomow, oder einen Kater ... lieber einen Kater; die Kater sind zutraulich und schnurren. Er lief zu Oljga hin. Aber ... Oljga liebt mich doch! dachte er unter wegs, dieses junge, frische Geschöpf! Ihrer Phantasie steht jetzt die poetische Sphäre des Lebens offen; sie muß von großen, schlanken Jünglingen mit schwarzen Locken träumen, mit einer sinnenden, verborgenen Kraft, mit Kühnheit im Gesicht, mit einem stolzen Lächeln, mit jenem Funken in den Augen, der im Blick untergeht und bebt und so leicht ans Herz dringt, mit einer weichen und frischen Stimme, die wie eine metallene Saite klingt. Aber man liebt ja nicht nur Jünglinge, nicht nur die Kühnheit im Gesicht, die Gewandtheit in der Mazurka und das Galoppieren auf dem Pferd ... Oljga ist ja kein Dutzendmädchen, dessen Herz man mit einem Schnurrbart kitzeln kann und dessen Ohr man mit dem Säbelklirren rührt; aber dann braucht man wohl etwas anderes ... die Macht des Geistes zum Beispiel, die das Weib demütigt und vor der sie das Haupt beugt, und die ganze Welt müßte sich vor dieser Macht beugen ... Oder ein gefeierter Künstler ... Und was bin ich denn? Oblomow und nichts mehr. Stolz ist etwas anderes; Stolz besitzt Verstand, Macht und die Kunst, sich selbst, andere und das Schicksal zu lenken. Wo er sich auch befindet, mit wem er zusammenkommt, beherrscht er gleich alles und spielt darauf wie auf einem Musikinstrument ... Und ich? ... Ich werde nicht einmal mit Sachar fertig ... und auch mit mir selbst nicht ... ich bin Oblomow! Stolz! O Gott! ... sie liebt ihn ja, dachte er entsetzt, sie hat es selbst gesagt; wie einen Freund, sagt sie; das ist aber eine Lüge, vielleicht eine unbewußte. Zwischen Mann und Weib gibt es keine Freundschaft ... Er ging immer langsamer, von Zweifeln überwältigt. Und was, wenn sie mit mir kokettiert? ... Wenn es nur ... Er blieb endgültig stehen und erstarrte für einen Augenblick. Und was, wenn das Tücke und Verschwörung ist ... Und wie komme ich darauf, daß sie mich liebt? Sie hat es mir nicht gesagt; das ist das teuflische Flüstern der Eitelkeit! Andrej, ist's möglich? ... Das kann nicht sein ... sie ist so, so ... »So ist sie!« sagte er plötzlich freudig, Oljga, die ihm entgegenkam, erblickend. Oljga streckte ihm mit einem fröhlichen Lächeln die Hand hin. Nein, sie ist nicht so, sie ist keine Betrügerin, beschloß er, die Betrügerinnen haben keinen solchen freundlichen Blick; sie lachen nicht so von Herzen ... sie kichern nur ... aber ... sie hat mir doch nicht gesagt, daß sie mich liebt! dachte er plötzlich wieder erschrocken; er hatte sich das nur so gedeutet ... Woher kam aber der Ärger? ... O Gott! In welchen Sumpf bin ich hineingeraten! »Was haben Sie?« fragte sie. »Einen Zweig.« »Was für einen Zweig?« »Sie sehen: einen Fliederzweig.« »Wo haben Sie ihn her? Dort, wo Sie gegangen sind, gibt es keinen Flieder.« »Sie haben ihn vorhin gepflückt und dann hingeworfen.« »Warum haben Sie ihn aufgehoben?« »So, mir gefällt es, daß Sie ihn ... so ärgerlich hingeworfen haben.« »Ihnen gefällt der Ärger? Das ist etwas ganz Neues! Warum denn?« »Das sage ich nicht.« »Sagen Sie's doch, ich bitte ...« »Um nichts in der Welt, um keinerlei Schätze!« »Ich flehe Sie an!« Er schüttelte verneinend den Kopf. »Und wenn ich singe?« »Dann ... vielleicht ...« »Also nur Musik wirkt auf Sie!« sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Das ist also doch so?« »Ja, Musik, die durch Sie wiedergegeben wird.« »Nun gut, ich werde singen ... Casta diva, Casta di ... « begann sie Normas Arie und schwieg. »Also sprechen Sie jetzt!« sagte sie. Er kämpfte eine Zeitlang mit sich. »Nein, nein!« beschloß er noch entschiedener als vorher, »um nichts in der Welt ... niemals! Und wenn das nicht wahr ist, wenn es mir nur so geschienen hat? ... Niemals, niemals!« »Was ist das? Etwas Furchtbares«, sagte sie, ihre Gedanken auf diese Frage und einen forschenden Blick auf ihn richtend. Dann verbreitete sich allmählich die Erkenntnis über ihre Züge; in jede Linie drang der Strahl des Denkens ein, und plötzlich erhellte sich ihr ganzes Gesicht durch eine Vermutung ... So beleuchtete die Sonne, aus einer Wolke hervortretend, allmählich einen Strauch, dann einen zweiten, das Dach und überströmte plötzlich die ganze Landschaft mit ihrem Licht. Sie wußte schon, woran Oblomow dachte. »Nein, nein, meine Zunge würde sich nicht bewegen ...« beteuerte Oblomow. »Fragen Sie lieber nicht.« »Ich frage Sie nicht«, antwortete sie gleichgültig. »Wieso? Sie haben doch soeben ...« »Kommen Sie«, sagte sie ernst, ohne ihm zuzuhören, »meine Tante wartet.« Sie schritt voraus, ließ ihn bei der Tante zurück und ging geradeaus in ihr Zimmer. Achtes Kapitel Achtes Kapitel Dieser ganze Tag war ein Tag der Enttäuschungen für Oblomow. Er verbrachte ihn in der Gesellschaft von Oljgas Tante, einer sehr klugen, anständigen Frau, die stets sehr gut gekleidet war, stets ein neues Seidenkleid trug, das ausgezeichnet saß und einen sehr eleganten Spitzenkragen hatte; ihre Haube war auch geschmackvoll gemacht, und das Band war kokett ihrem fast fünfzigjährigen, aber noch frischen Gesicht angepaßt. An einer Kette hing ein goldenes Lorgnon. Ihre Bewegungen waren voller Würde; sie drapierte sich sehr geschickt in einen kostbaren Schal, stützte sich in einem passenden Moment auf das gestickte Kissen und streckte sich so majestätisch auf dem Sofa aus. Man sah sie niemals bei einer Arbeit; sich bücken, nähen, sich mit einer Nichtigkeit abgeben, paßte nicht zu ihrem Gesicht, zu ihrer würdevollen Gestalt. Sie erteilte den Dienstboten die Befehle in einem nachlässigen Tone, kurz und trocken. Sie las manchmal, schrieb niemals, sprach aber gut, übrigens meistens französisch. Doch hatte sie sofort bemerkt, daß Oblomow der französischen Sprache nicht ganz mächtig war, und ging gleich am nächsten Tage zum Russischen über. Im Gespräche gab sie sich keinen Träumereien hin und räsonnierte nicht; sie schien im Geiste einen genauen Strich gezogen zu haben, den ihr Verstand nie überschritt. Man sah aus allem, daß das Gefühl, jede Sympathie und auch die Liebe zugleich mit allen anderen Elementen in ihr Leben eingriffen oder eingegriffen hatten, während man bei anderen Frauen auf den ersten Blick sieht, daß die Liebe, wenn nicht tatsächlich, so doch in ihren Gesprächen, an allen Lebensfragen teilnimmt und daß alles andere nur nebenbei in Betracht gezogen wird, wenn die Liebe noch Raum übrigläßt. Bei dieser Frage ging die Kunst zu leben, sich zu beherrschen, den Gedanken, den Vorsatz und die Ausübung ins Gleichgewicht zu bringen, allem voran. Man konnte sie nie unvorbereitet antreffen, sie überrumpeln, sie war wie ein wachsamer Feind, dessen erwartungsvollen Blick man trotz jeden Auflauerns stets auf sich gerichtet fühlt. Ihr Element war die große Welt, und darum gingen bei ihr der Takt und die Vorsicht jedem Gedanken, jedem Worte und jeder Bewegung voran. Sie eröffnete nie jemand die verborgenen Regungen ihres Herzens, vertraute niemand irgendwelche Geheimnisse an, man traf sie niemals mit einer guten Freundin an, mit irgendeiner Alten, mit der sie bei einer Tasse Kaffee flüsterte. Sie blieb nur mit dem Baron von Langwangen oft unter vier Augen; abends saß sie manchmal bis Mitternacht mit ihm, aber fast immer in Oljgas Anwesenheit; und dabei schwiegen sie meistens, aber dieses Schweigen war so klug und bedeutsam, als wüßten sie etwas, was anderen unbekannt war, und das war alles. Sie liebten es wohl, beisammen zu sein, das war der einzige Schluß, den man ziehen konnte, wenn man ihnen zusah; sie behandelte ihn ebenso wie die anderen: wohlwollend gütig, aber ebenso gleichmäßig und ruhig. Böse Zungen nahmen die Gelegenheit wahr und deuteten auf eine sehr alte Freundschaft und eine gemeinsame Reise ins Ausland hin; doch in ihren Beziehungen zu ihm brach niemals auch nur der Schatten irgendeiner verborgenen Sympathie durch, und das hätte sich doch äußern müssen. Er war unter anderem Oljgas Vormund und verwaltete ihr kleines Gut, das bei irgendeinem Unternehmen verpfändet worden und nicht wieder frei zu bekommen war. Der Baron führte den Prozeß, das heißt, er beauftragte einen Beamten, die Papiere zu schreiben, die er durch sein Lorgnon las, unterschrieb und schickte dann denselben Beamten zu den Behörden und gab dem Prozesse durch seine Beziehungen in höheren Kreisen eine befriedigende Wendung. Er machte Hoffnungen, daß ein baldiges glückliches Ende bevorstehe. Dieser Umstand bereitete den boshaften Gerüchten ein Ende, und man gewöhnte sich daran, den Baron im Hause als einen Verwandten zu betrachten. Er war ein Fünfziger, hatte sich aber sehr gut konserviert, färbte sich nur den Schnurrbart und hinkte ein wenig auf einem Fuße. Er war äußerst höflich, rauchte nicht und verschränkte nicht die Füße in Damengesellschaft und tadelte strenge die jungen Leute, die so unerzogen waren, sich in Gesellschaft zurückzulehnen und die Knie und Stiefel ebenso hoch wie die Nase zu heben. Er saß auch im Zimmer in Handschuhen, die er nur beim Mittagessen auszog. Er war nach der letzten Mode gekleidet und trug im Knopfloch seines Fracks viele Orden. Er fuhr stets in einer Kutsche und schonte die Pferde sehr; bevor er in den Wagen stieg, sah er sich das Geschirr und sogar die Hufe der Pferde an, zog manchmal sein weißes Taschentuch hervor und rieb damit über die Schulter oder den Rücken der Pferde, um zu sehen, ob sie gut gereinigt waren. Er begrüßte die Bekannten mit einem wohlwollenden, höflichen Lächeln, die Unbekannten zuerst kühl; wenn man ihm aber jemand vorstellte, ging die Kälte in ein Lächeln über, und der Vorgestellte konnte schon immer darauf rechnen. Er sprach über alles: über die Tugend, die Teuerung, die Wissenschaften und die Gesellschaft gleich präzise; er äußerte seine Meinung in klaren, abgerundeten Sätzen, als spräche er schon in fertigen und in irgendeinen Kursus eingetragenen Sentenzen, die als ein allgemeiner Leitfaden herausgegeben werden konnten. Das Verhältnis zwischen Oljga und ihrer Tante war bis jetzt sehr einfach und ruhig gewesen; in der Zärtlichkeit überschritt es nie die Grenzen der Mäßigkeit, und zwischen ihnen machte sich niemals auch nur der Schatten eines Mißvergnügens bemerkbar. Das hatte teils in Marja Michailownas Charakter, teils im vollkommenen Mangel irgendeines Anlasses für sie beide, sich anders zu benehmen, seinen Grund. Es fiel der Tante nicht ein, von Oljga irgend etwas zu verlangen, das ihren Neigungen direkt widersprochen hätte; und Oljga würde nicht im Traume daran gedacht haben, die Wünsche der Tante nicht zu erfüllen oder ihren Rat nicht zu befolgen. Und worin äußerten sich diese Wünsche? In der Wahl eines Kleides oder einer Frisur, oder zum Beispiel darin, ob man ins französische Theater oder in die Oper fahren sollte. Oljga gehorchte insofern, als die Tante ihre Wünsche oder Ratschläge äußerte, aber nicht mehr, und diese sprach sich bis zur Trockenheit gemäßigt aus und nur insofern, als alle Rechte der Tante es zuließen, aber nie mehr. Dieses Verhältnis war so farblos, daß man unmöglich entscheiden konnte, ob die Tante irgendwelche Ansprüche auf Oljgas Gehorsam, auf ihre besondere Zärtlichkeit machte, oder ob Oljga der Tante Gehorsam und irgendeine besondere Zärtlichkeit entgegenbrachte. Man konnte aber auf den ersten Blick sagen, wenn man sie zusammen sah, daß sie Tante und Nichte, aber nicht Mutter und Tochter waren. »Ich fahre ins Geschäft; brauchst du nicht etwas?« fragte die Tante. »Ja, ma tante, ich muß mein Lilakleid umtauschen«, sagte Oljga, und sie fuhren zusammen, oder sie sagte: »Nein, ma tante, ich war erst vor kurzem dort.« Die Tante faßte sie mit zwei Fingern an den Wangen, küßte sie auf die Stirn, die Nichte küßte der Tante die Hand, und die eine fuhr fort, während die andere zu Hause blieb. »Wir mieten wieder dieselbe Landwohnung«, sagte die Tante weder fragend noch bejahend, sondern als überlege sie es mit sich selbst und könne keinen Entschluß fassen. »Ja, es ist dort sehr schön«, sagte Oljga. Und die Landwohnung wurde gemietet. Oder Oljga sagte: »Ach, ma tante, langweilt Sie denn der Wald und der Sand noch nicht? Sollte man lieber nicht in einer anderen Gegend suchen?« »Wollen wir suchen«, sagte die Tante. »Oljenka, wollen wir nicht ins Theater fahren?« fragte die Tante. »Man spricht schon so lange von dem Stück.« »Mit Vergnügen«, antwortete Oljga; es war in ihrem Tone aber kein eiliger Wunsch, es recht zu machen, und kein Ausdruck von Unterwürfigkeit enthalten. Manchmal stritten sie auch ein wenig. »Aber ich bitte dich, ma chère, das grüne Band steht dir ja nicht«, sagte die Tante, »nimm doch das paillefarbige.« »Ach, ma tante! Ich habe es jetzt schon sechsmal getragen; man kriegt es doch endlich satt!« »Dann nimm das penseefarbige.« »Und gefällt Ihnen dieses nicht?« Die Tante sah hin und schüttelte langsam den Kopf. »Wie du willst, ma chère, ich hätte aber an deiner Stelle pensee- oder paillefarbige genommen.« »Nein, ma tante, ich nehme lieber dieses«, sagte Oljga sanft und tat, was sie wollte. Oljga fragte ihre Tante nicht wie eine Autoritätsperson um Rat, deren Worte für sie Gesetz sein mußten, sondern ebenso wie sie jede andere Frau, die mehr Erfahrung als sie selbst besaß, gefragt hätte. » Ma tante, haben Sie dieses Buch gelesen – was ist das?« fragte sie. »Ach, das ist Schund!« antwortete die Tante und schob das Buch beiseite, versteckte es aber nicht und tat nichts, damit Oljga es nicht lesen sollte. Und es wäre Oljga niemals eingefallen, es zu lesen. Wenn sie beide im Zweifel waren, wurde dieselbe Frage an den Baron von Langwangen oder an Stolz gerichtet, wenn er da war, und das Buch wurde gelesen oder nicht, je nachdem das gefällte Urteil lautete. » Ma chère Oljga!« sagte manchmal die Tante, »man hat mir über den jungen Mann, der dich bei Sawadskys oft anspricht, gestern etwas erzählt, eine dumme Geschichte.« Und das war alles. Und Oljga konnte dann tun, was sie wollte; mit ihm sprechen oder nicht. Oblomows Erscheinen im Hause hatte weder irgendwelche Fragen noch besondere Beachtung von seiten der Tante, des Barons und nicht einmal bei Stolz hervorgerufen. Letzterer wollte seinen Freund in ein Haus einführen, in dem alles ein wenig steif war, wo man nicht nur keine Aufforderung erhielt, nach dem Essen zu schlafen, sondern wo man nicht einmal die Beine übereinanderschlagen durfte, wo man elegant gekleidet sein und darüber, was man sagte, nachdenken mußte – wo man, mit einem Worte, weder hindämmern noch sich gehen lassen konnte und wo immer ein lebhaftes, alles Neue berührendes Gespräch geführt wurde. Außerdem dachte Stolz, daß das Zusammensein mit einem jungen, sympathischen, gescheiten, lebhaften und teilweise spöttischen Mädchen auf Oblomows schläfriges Leben dieselbe Wirkung ausüben würde wie das Anzünden einer Lampe in einem düsteren Zimmer, wobei sich ein gleichmäßiges Licht in allen dunklen Ecken verbreitet, die Temperatur um ein paar Grade steigt und das Zimmer heiterer erscheint. Das war das Resultat, das er anstrebte, als er Oblomow mit Oljga bekannt machte. Er hatte nicht vorausgesehen, daß dabei ein Feuerwerk entstehen würde, Oljga und Oblomow erst recht nicht. Ilja Iljitsch blieb zwei Stunden lang steif mit der Tante sitzen, ohne ein einziges Mal ein Bein auf das andere zu legen, und unterhielt sich auf eine sehr anständige Weise über alles mögliche mit ihr; er rückte ihr sogar ein paarmal geschickt den Schemel unter die Füße. Dann kam der Baron, lächelte höflich und drückte ihm freundlich die Hand. Oblomow benahm sich noch steifer, und alle drei waren miteinander höchst zufrieden. Die Tante beobachtete Oblomows Gespräche mit Oljga unter vier Augen und ihre Spaziergänge ... oder besser gesagt, sie beobachtete sie gar nicht. Das Spazierengehen mit einem jungen Manne, mit einem Gecken, wäre etwas anderes gewesen; sie hätte auch dann nichts gesagt, hätte die Sache aber mit dem ihr eigenen Takt unmerklich wieder ins Gleichgewicht gebracht; sie würde ein- oder zweimal selbst mitgegangen sein oder irgend jemand anderen mitgeschickt haben, und die Spaziergänge hätten von selbst aufgehört. Aber mit »Herrn Oblomow« spazierenzugehen, mit ihm in einer Ecke des Salons und auf dem Balkon zu sitzen, was war denn dabei? Er war im dreißigsten Jahre, da würde er ihr doch keine Dummheiten sagen oder unpassende Bücher geben ... Das würde wohl niemand einfallen. Außerdem hatte die Tante gehört, wie Stolz am Tage vor seiner Abreise zu Oljga sagte, sie möchte ihn nicht hindämmern lassen, sie sollte ihm das Schlafen verbieten, ihn quälen, tyrannisieren, ihm verschiedene Aufträge übergeben, mit einem Worte, über ihn verfügen. Er hatte auch die Tante gebeten, Oblomow nicht aus den Augen zu lassen, ihn öfters einzuladen, an Spaziergängen und Ausflügen teilnehmen zu lassen und ihn auf jede erdenkliche Weise aufzurütteln, wenn er nicht ins Ausland reiste. Oljga zeigte sich nicht, solange er bei der Tante saß, und die Zeit zog sich langsam hin. Oblomow überlief es wieder bald heiß und bald kalt. Er ahnte bereits die Ursache der Veränderung in Oljga. Dieser Umschlag in ihrem Benehmen war für ihn noch bedrückender als der frühere. Sein erster Fehltritt hatte in ihm nur Scham und Furcht hervorgerufen; jetzt war es ihm aber schwer, unbehaglich, kalt und traurig ums Herz, wie bei nassem, regnerischem Wetter. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er von ihrer Liebe zu ihm wußte; aber vielleicht war diese Vermutung falsch. Dann wäre es tatsächlich eine Kränkung gewesen, und vielleicht eine, die nicht mehr gutzumachen war. Wenn er aber richtig erraten hatte, wie plump hatte er es angefangen! Er war einfach ein Narr gewesen. Er konnte das Gefühl, das schüchtern an das junge, jungfräuliche Herz pochte, das sich leicht und vorsichtig wie ein Vogel auf einen Zweig setzte, verscheucht haben; ein Laut, ein Rascheln, und es war davongeflogen. Er wartete mit bebendem Herzen auf Oljgas Kommen – was würde sie sagen und wie würde sie ihn anblicken ... Sie kam, und er konnte sich bei ihrem Anblicke nicht genug wundern; er erkannte sie kaum. Sie hatte ein anderes Gesicht, sogar eine andere Stimme. Das junge, naive, fast kindliche Lächeln erschien kein einziges Mal auf ihren Lippen, sie blickte ihn kein einziges Mal mit weit offenen Augen an, in denen sich eine Frage, ein Zweifel oder einfach Neugierde ausdrückte, als hätte sie nichts mehr zu fragen, zu erfahren, als setzte sie nichts mehr in Erstaunen! Ihr Blick folgte ihm nicht mehr wie früher. Sie sah ihn an, als kenne sie ihn lange, als bedeute er für sie nichts, dasselbe wie der Baron – mit einem Wort, es war, als hätte er sie ein Jahr lang nicht gesehen, und als wäre sie während der Zeit gereift. Es war in ihr weder Strenge noch Ärger, sie scherzte und lachte sogar und beantwortete eingehend Fragen, die sie früher gar nicht beachtet hätte. Man sah, daß sie beschlossen hatte, sich dazu zu zwingen, was andere taten, und was sie früher nicht getan hatte. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die ihr das, was sie dachte, zu äußern erlaubten, waren verschwunden. Wohin war das alles geraten? Nach dem Essen trat er auf sie zu und fragte, ob sie Spazierengehen wolle. Sie wandte sich, ohne ihm zu antworten, an die Tante mit der Frage: »Gehen wir spazieren?« »Wenn's nicht weit ist«, sagte die Tante. »Laß mir den Schirm geben.« Und alle gingen mit. Man ging träge, blickte in die Ferne, auf Petersburg hin, kam bis zum Wald und kehrte auf den Balkon zurück. »Mir scheint, Sie sind heute nicht aufgelegt zu singen? Ich fürchte mich sogar zu bitten«, sagte Oblomow, in der Erwartung, die Steifheit würde ein Ende nehmen, ihre Fröhlichkeit würde zurückkehren, und in der Hoffnung, wenigstens in einem einzigen Wort ein Lächeln und endlich im Gesang einen Strahl ihrer Aufrichtigkeit, Naivität und Zutraulichkeit aufzufangen. »Es ist heiß!« bemerkte die Tante. »Ich werde versuchen«, sagte Oljga und sang eine Romanze. Er lauschte und traute seinen Ohren nicht. Das war sie nicht; wo war der frühere, leidenschaftliche Ton? Sie sang so rein, so korrekt und dabei so ... so wie alle Mädchen, wenn man sie in Gesellschaft vorzusingen bittet. Ohne Begeisterung. Sie hatte den Gesang ihrer Seele beraubt, und im Zubehör bewegte sich kein einziger Nerv. Spielte sie mit ihm? Heuchelte sie? Zürnte sie? Man konnte nichts erraten; sie blickte ihn freundlich an, sprach gerne, tat es aber ebenso wie sie sang, wie alle ... Was war das? Oblomow ergriff noch vor dem Tee seinen Hut und verabschiedete sich. »Kommen Sie öfters«, sagte die Tante, »wenn Ihnen unsere Gesellschaft genügt, wir sind an Wochentagen immer allein, am Sonntag ist gewöhnlich irgend jemand da. Sie werden sich also nicht langweilen.« Der Baron erhob sich höflich und verbeugte sich. Oljga nickte ihm wie einem guten Bekannten zu, wandte sich, als er gegangen war, zum Fenster hin und lauschte gleichgültig Oblomows sich entfernenden Schritten. Diese zwei Stunden und die folgenden drei, vier Tage, höchstens eine Woche, hatten sie tief beeinflußt und sie um vieles weitergebracht. Nur Frauen sind einer so schnellen Entfaltung der Kräfte und Entwicklung aller Gebiete ihres Geistes fähig. Sie nahm gleichsam den Kursus des Lebens nicht tage-, sondern stundenweise durch. Und jede Stunde der geringsten, kaum merkbaren Erkenntnis, eines Zufalles, der wie ein Vogel an der Nase eines Mannes vorbeihuscht, wird vom Mädchen unaussprechlich schnell aufgefangen; sie folgt seinem Fluge in die Ferne, und die Linie, die er umschrieben hat, gräbt sich unauslöschlich, als eine Lehre und Offenbarung, in ihr Gedächtnis ein. Dort, wo der Mann einen Wegweiser mit einer Aufschrift braucht, genügt ihr der vorübersausende Wind, die bebende, mit dem Ohre kaum aufzufangende Erschütterung der Luft. Warum, infolge welcher Ursachen, wird das Gesicht des Mädchens, das noch vorige Woche so sorglos, so lächerlich naiv war, plötzlich von einem strengen Gedanken umschattet? Und was ist das für ein Gedanke? Woran? In diesem Gedanken ist wohl alles enthalten, die ganze Logik, die metaphysische und praktische Philosophie des Mannes, das ganze System des Lebens! Der Cousin, der sie noch vor kurzem als kleines Mädchen zurückgelassen hat, und der jetzt mit dem Lernen fertig geworden ist und Epauletten trägt, läuft, sie erblickend, fröhlich auf sie zu, mit der Absicht, sie wie früher auf die Schulter zu klopfen, sie bei den Händen zu fassen, sich mit ihr zu drehen, über die Stühle und Sofas zu springen; aber nachdem er ihr forschend ins Gesicht geblickt hat, wird er schüchtern, tritt verlegen zurück und begreift, daß er noch ein grüner Junge ist, während sie schon ein Weib ist! Woher kommt das? Was ist geschehen? Ein Drama? Ein bedeutsames Ereignis? Eine Neuigkeit, die der ganzen Stadt bekannt ist? Nichts, weder maman noch mon oncle noch ma tante noch die Kinderfrau noch das Stubenmädchen wissen etwas. Wann sollte auch etwas geschehen sein; sie hat zwei Mazurkas und ein paar Quadrillen getanzt, hat Kopfweh bekommen und in der Nacht nicht geschlafen ... Und dann ist's wieder vergangen, aber in ihrem Gesichte ist etwas Neues erschienen; sie blickt anders an, lacht nicht mehr laut, ißt nicht eine ganze Birne auf einmal, erzählt nicht, »wie es bei uns im Pensionat war« ... Auch sie hat den Kursus beendet. Oblomow konnte am zweiten und dritten Tag, gleich jenem Cousin, Oljga kaum wiedererkennen und blickte sie schüchtern an, während sie ihn einfach, nur ohne Neugierde, ohne Zärtlichkeit, ganz so wie die anderen ansah. »Was ist mit ihr? Woran denkt sie jetzt, was fühlt sie?« quälte er sich mit Fragen ab. »Bei Gott, ich begreife nichts!« Und wie hätte er darauf kommen sollen, daß in ihr dasjenige vorging, was in einem Manne im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit Hilfe von fünfundzwanzig Professoren, von Bibliotheken, nach dem Durchwandern der Welt, manchmal sogar erst nach einigem Verlust des moralischen Aromas der Seele, der Frische der Gedanken und der Haare vorgeht, das heißt, daß sie die Sphäre der Erkenntnis betreten hatte? Das Erklimmen dieser Stufe hatte sich für sie so einfach und leicht erwiesen. »Nein, das ist bedrückend und langweilig!« entschied er. »Ich werde auf die Wiborgskajastraße übersiedeln, werde arbeiten und lesen und werde dann ... allein nach Oblomowka fahren!« – fügte er mit tiefer Traurigkeit hinzu: »Ohne sie! Lebe wohl, mein Paradies, mein lichtes, stilles Lebensideal!« Er ging weder am vierten noch am fünften Tag zu Oljga, las nicht und schrieb nicht, versuchte einen Spaziergang zu unternehmen und begab sich auf die staubige Straße hinaus, von dort aus ging es bergauf. »Was ist das für ein Vergnügen, sich in der Hitze herumzuschleppen!« sprach er zu sich selbst, gähnte, kehrte zurück, legte sich aufs Sofa und schlief ein, wie er es in der Gorochowajastraße bei herabgelassenen Jalousien zu tun pflegte. Er hatte nebelhafte Träume. Als er erwachte, sah er vor sich einen gedeckten Tisch, mit Suppe und gehacktem Fleisch. Sachar stand da und blickte schläfrig durchs Fenster, während Anissja im Nebenzimmer mit den Tellern klapperte. Er aß und setzte sich ans Fenster. Es ist langweilig und sinnlos, immer allein zu sein! Er hatte wieder keine Wünsche! »Schauen Sie, gnädiger Herr, man hat von den Nachbarn ein Kätzchen gebracht; wollen Sie es nicht behalten? Sie haben gestern nach einem Kater gefragt«, sagte Anissja, die ihn dadurch zerstreuen wollte, und legte das Kätzchen auf seinen Schoß. Er begann es zu streicheln, aber er langweilte sich auch mit dem Kätzchen. »Sachar!« sagte er. »Was wünschen Sie?« gab Sachar träge zur Antwort. »Ich werde vielleicht in die Stadt übersiedeln.« »Wohin denn? Wir haben ja keine Wohnung!« »In die Wiborgskajastraße.« »Da würden wir ja aus einer Landwohnung in eine andere übersiedeln! Wozu denn? Vielleicht um Michej Andreitsch wiederzusehen?« »Hier ist es unbequem ...« »Wir sollen wieder umziehen? Mein Gott! Wir sind noch vom vorigen Mal müde; ich kann noch immer die zwei Schalen und den Kehrbesen nicht finden; wenn Michej Andreitsch sie nicht mitgenommen hat, dann sind sie verlorengegangen.« Oblomow schwieg. Sachar ging und kam gleich wieder, indem er den Koffer und den Reisesack hereinschleppte. »Was soll man damit anfangen? Wollen wir ihn nicht verkaufen?« sagte er, den Koffer mit dem Fuß stoßend. »Was hast du? Bist du verrückt? Ich fahre dieser Tage ins Ausland«, unterbrach Oblomow ihn zornig. »Ins Ausland!« sagte Sachar grinsend, »wenn Sie noch was anderes gesagt hätten, aber ins Ausland!« »Warum wundert dich das so? Ich fahre hin und basta ... Ich habe ja schon einen Paß.« »Und wer wird Ihnen dort die Stiefel ausziehen!« bemerkte Sachar ironisch, »vielleicht die Dienstmädchen? Sie werden doch dort ohne mich nicht auskommen!« Er grinste wieder, so daß der Backenbart und die Brauen sich nach den Seiten auseinanderschoben. »Du sprichst immer Unsinn! Trag das hinaus und geh!« antwortete Oblomow ärgerlich. Sowie Oblomow am nächsten Tag gegen zehn Uhr morgens erwachte, sagte ihm Sachar, als er den Tee brachte, daß er auf dem Weg zum Bäcker dem Fräulein begegnet wäre. »Welchem Fräulein?« »Welchem? Fräulein Iljinskaja, Oljga Sjergejewna.« »Nun?« fragte Oblomow ungeduldig. »Nun, sie hat Sie grüßen lassen und hat gefragt, ob Sie wohlauf sind, und was Sie machen.« »Was hast du denn gesagt?« »Ich habe gesagt, daß Sie wohlauf sind, was sollte ihm denn geschehen sein, hab' ich gesagt.« »Warum fügst du deine dummen Bemerkungen hinzu?« fragte Oblomow. »›Was sollte ihm denn geschehen sein!‹ Woher weißt du, was mit mir geschieht. Nun, was noch?« »Sie hat gefragt, wo Sie gestern zu Mittag gegessen haben.« »Nun? ...« »Ich hab' gesagt, daß Sie zu Mittag und abends zu Hause gegessen haben. ›Ißt er denn auch abends?‹ hat das Fräulein gesagt. ›Ja, aber er hat nur zwei junge Hühner gegessen‹, hab' ich gesagt...« »Dummkopf!« sagte Oblomow zornig. »Warum bin ich ein Dummkopf! Ist denn das nicht wahr?« sagte Sachar, »ich kann ja noch die Knochen zeigen ...« »Du bist wirklich ein Dummkopf!« wiederholte Oblomow. »Nun, und was hat sie dazu gesagt?« »Sie hat gelacht. ›Warum denn so wenig?‹ hat sie dann noch gesagt.« »So ein Dummkopf!« wiederholte Oblomow. »Du hättest ihr noch sagen sollen, daß du mir das Hemd verkehrt anziehst.« »Sie hat nicht gefragt, darum hab' ich's nicht gesagt«, antwortete Sachar. »Was hat sie noch gefragt?« »Sie hat gefragt, was Sie diese Tage gemacht haben.« »Nun, und was hast du geantwortet?« »Daß Sie nichts tun und immer nur liegen.« »Ach! ...« rief Oblomow mit heftigem Ärger aus, indem er die Fäuste an die Schläfen preßte. »Geh hinaus!« fügte er drohend hinzu. »Wenn du es noch einmal wagst, über mich solche Dummheiten zu erzählen, dann erlebst du was! Wieviel Gift in diesem Menschen steckt!« »Soll ich vielleicht auf meine alten Jahre lügen?« rechtfertigte sich Sachar. »Geh hinaus!« wiederholte Ilja Iljitsch. Sachar fürchtete das Schimpfen nicht, wenn der Herr nur keine »traurigen Worte« gebrauchte. »Ich hab' gesagt, daß Sie auf die Wiborgskajastraße übersiedeln wollen«, schloß Sachar. »Geh!« rief Oblomow befehlend aus. Sachar ging und seufzte so, daß es durchs ganze Wohnzimmer tönte, und Oblomow begann Tee zu trinken. Als er damit fertig war, aß er von dem großen Vorrat der Semmeln und Kringeln nur eine einzige Semmel, da er sich vor Sachars Unbescheidenheit fürchtete. Dann zündete er sich eine Zigarre an und setzte sich an den Tisch, er öffnete ein Buch, las darin eine Seite und wollte sie umwenden, das Buch war aber nicht aufgeschnitten. Oblomow riß die Seiten mit dem Finger auf, so daß sich an den Rändern Zacken bildeten, aber das Buch gehörte nicht ihm, sondern Stolz, der besonders bei seinen Büchern auf eine so strenge und langweilige Ordnung hielt, daß es unerträglich war. Die Papiere, die Bleistifte, alle Kleinigkeiten mußten so liegenbleiben, wie er sie hingelegt hatte. Er konnte ja ein Papiermesser nehmen, es war aber keins da; er konnte natürlich auch ein Tischmesser verlangen, doch Oblomow zog es vor, das Buch auf seinen Platz hinzulegen und sich auf das Sofa zu legen; doch kaum hatte er sich mit der Hand auf das gestickte Kissen gestützt, um es sich bequemer zu machen, als Sachar ins Zimmer trat. »Das Fräulein hat noch gebeten, Sie möchten in diesen ... ach, wie heißt er doch ... kommen! ...« meldete er. »Warum hast du mir es nicht früher, vor zwei Stunden, gesagt?« fragte Oblomow eilig. »Sie haben mir ja befohlen hinauszugehen und haben mich nicht ausreden lassen ...« entgegnete Sachar. »Du richtest mich zugrunde, Sachar!« sprach Oblomow pathetisch. Er fängt schon wieder an! dachte Sachar, dem Herrn seinen linken Backenbart zuwendend und auf die Mauer blickend, immer muß er ein solches Wort dazwischensetzen! »Wohin soll ich kommen?« fragte Oblomow. »In diesen, wie heißt er denn? In den Garten, so was wird's sein ...« »In den Park?« fragte Oblomow. »Ja, in den Park, so ist's, ›er soll hinkommen, wenn er will; ich werde dort sein‹, hat sie gesagt ...« »Ankleiden!« Oblomow lief im ganzen Park herum, blickte zwischen die Beete und in die Lauben hinein – Oljga war nicht da. Er ging durch die Allee, in der die Erklärung stattgefunden hatte, und traf sie dort auf einer Bank, nicht weit von der Stelle, wo sie den Zweig gepflückt und fortgeworfen hatte. »Ich dachte, Sie kommen nicht mehr«, sagte sie freundlich. »Ich suche Sie schon lange im ganzen Park«, antwortete er. »Ich wußte, daß Sie suchen würden, und habe mich absichtlich in diese Allee gesetzt; ich glaubte, daß Sie sicher hier vorübergehen würden.« Er wollte fragen: Warum glaubten Sie das?, blickte sie aber an und fragte nicht. Sie hatte ein anderes Gesicht, nicht dasjenige, das sie gehabt hatte, als sie hier spazierengingen, sondern das vom letztenmal, das ihm eine solche Unruhe eingeflößt hatte. Auch ihre Freundlichkeit war so zurückhaltend, der ganze Gesichtsausdruck war so in sich gekehrt, so bestimmt; er sah, daß man mit ihr nicht mehr mit Vermutungen, Anspielungen und naiven Fragen spielen konnte, daß dieser kindliche, fröhliche Augenblick schon vorüber war. Vieles, was nicht zu Ende gesprochen war, und an das man mit einer schelmischen Frage herantreten konnte, war zwischen ihnen schon ohne Worte, ohne Erklärungen entschieden; Gott weiß, wieso das geschehen war, man konnte darauf aber nicht mehr zurückkommen. »Warum lassen Sie sich so lange nicht sehen?« fragte sie. Er schwieg. Er wollte sie wieder irgendwie indirekt verstehen lassen, daß der heimliche Zauber ihrer Beziehungen verschwunden sei, daß diese Abgeschlossenheit, mit der sie sich wie mit einer Wolke umgeben hatte, auf ihm laste, es war, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen, und er wußte nicht, was er zu tun und wie er sich ihr gegenüber zu benehmen hatte. Doch er fühlte, daß die geringste Andeutung darauf in ihr einen erstaunten Blick hervorrufen würde, dann würde ihr Benehmen noch kälter werden und jener Funke von Teilnahme, den er gleich am Anfang so unvorsichtig ausgelöscht hatte, würde vielleicht endgültig verschwinden. Er mußte ihn still und unmerklich anfachen, doch er wußte nicht im entferntesten, wie er das anfangen sollte. Er begriff dunkel, daß sie gewachsen und jetzt größer war als er, daß es von jetzt ab zur kindlichen Vertraulichkeit keine Rückkehr mehr gab, daß sie vor dem Rubikon standen, daß das verlorene Glück sich schon auf dem andern Ufer befand; man mußte ihn überschreiten. Aber wie? Und was, wenn er diesen Schritt allein machte? Sie begriff klarer als er, was in ihm vorging, und war darum im Vorteil. Sie blickte offen in seine Seele, sah, wie darin ein Gefühl aufkeimte, wie es sich entwickelte und äußerte; sie sah, daß weibliche List, Schelmerei und Koketterie – Sonitschkas Waffen – hier überflüssig waren, da kein Kampf bevorstand. Sie sah sogar, daß ihr trotz ihrer Jugend in dieser Sympathie die erste und wichtigste Rolle zufiel, daß von ihm nur tiefe Eindrücke, leidenschaftlich träge Fügsamkeit und ewige Harmonie mit jedem ihrer Pulsschläge, aber keine Regung des Willens, kein aktiver Gedanke zu erwarten war. Sie hatte ihre Macht über ihn im Augenblick abgeschätzt, und ihr gefiel diese Rolle eines Leitsterns, eines Lichtstrahls, den sie über diesen stehenden See ausströmte, um sich darin widerzuspiegeln. Sie hatte in diesem Zweikampf verschiedenartige Triumphe errungen. In dieser Komödie oder Tragödie, je nach den Umständen, erscheinen die beiden Hauptpersonen fast immer mit dem gleichen Charakter des Quälers oder der Quälenden und des Opfers. Wie jede Frau in der Hauptrolle, das ist in der Rolle der Quälenden, konnte sich auch Oljga, nur im geringeren Maße und unbewußt, nicht das Vergnügen versagen, mit ihm ein wenig katzenhaft zu spielen; manchmal entströmte ihr wie ein Blitz, wie eine unerwartete Laune die Äußerung des Gefühls, und dann zog sie sich plötzlich wieder zurück und vertiefte sich in sich selbst. Aber noch häufiger stieß sie ihn vorwärts, da sie wußte, daß er selbst keinen Schritt machen und unbeweglich dort bleiben würde, wo sie ihn zurückließ. »Hatten Sie zu tun?« fragte sie, an einem Kanevasstreifen stickend. Ich würde sagen, daß ich zu tun hatte, aber dieser Sachar! stöhnte es in seiner Brust. »Ja, ich habe einiges gelesen«, gab er nachlässig zur Antwort. »Was denn, einen Roman?« fragte sie und richtete auf ihn die Augen, um zu sehen, mit welchem Gesichte er lügen würde. »Nein, ich lese fast gar keine Romane«, antwortete er sehr ruhig, »ich habe ›Die Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen‹ gelesen.« Gott sei Dank, daß ich heute eine Seite überflogen habe! dachte er. »Russisch?« fragte sie. »Nein, englisch.« »Sie lesen englisch?« »Mit Mühe, aber ich lese doch. – Waren Sie nicht irgendwo in der Stadt?« fragte er, hauptsächlich, um das Gespräch über die Bücher abzubrechen. »Nein, ich war die ganze Zeit zu Hause. Ich arbeite immer hier, in dieser Allee.« »Immer hier?« »Ja, diese Allee gefällt mir sehr; ich danke Ihnen dafür, daß Sie sie mir gezeigt haben; es geht hier fast niemand vorüber ...« »Ich habe sie Ihnen nicht gezeigt«, unterbrach er sie, »erinnern Sie sich noch? Wir sind hier einander zufällig begegnet.« »Ja, in der Tat.« Sie schwiegen. »Ist Ihr Gerstenkorn ganz vergangen?« fragte sie, ihm geradeaus ins rechte Auge blickend. Er errötete. »Jetzt ist es, Gott sei Dank, vergangen.« »Netzen Sie das Auge mit einfachem Wein, wenn es zu jucken beginnt, dann vergeht das Gerstenkorn. Meine Kinderfrau hat es mich gelehrt.« Warum spricht sie immer von den Gerstenkörnern? dachte Oblomow. »Und essen Sie abends nicht?« fügte sie ernst hinzu. Sachar! stieg in seiner Kehle ein wütender Ausruf auf. »Sowie man abends viel ißt«, fuhr sie fort, ohne die Augen von der Arbeit zu heben, »und drei Tage liegt, besonders auf dem Rücken, dann kommt sicher ein Gerstenkorn.« Dummkopf! rief Oblomow in seinem Innern Sachar zu. »Was arbeiten Sie?« fragte er, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Einen Klingelzug für den Baron«, sagte sie, den Kanevasstreifen aufrollend und ihm das Muster zeigend. »Ist es schön?« »Ja, sehr schön, das Muster ist sehr hübsch. Das ist ein Fliederzweig?« »Ich glaube ... ja«, sagte sie nachlässig. »Ich habe das Muster aufs Geratewohl gewählt, es ist mir zufällig unter die Hand gekommen ...« Sie errötete ein wenig und rollte den Streifen schnell wieder zusammen. Das wird aber sehr langweilig, wenn es so weitergeht und man aus ihr nichts herauskriegen kann, dachte er, ein anderer, zum Beispiel Stolz, würde es herauskriegen, ich aber kann's nicht. Er runzelte die Stirn und blickte schläfrig um sich. Sie blickte ihn an und legte dann ihre Arbeit ins Körbchen. »Gehen wir bis zum Hain«, sagte sie, gab ihm das Körbchen zu tragen, öffnete selbst ihren Schirm, richtete sich das Kleid und ging. »Warum sind Sie traurig?« fragte sie. »Ich weiß nicht, Oljga Sjergejewna. Warum soll ich fröhlich sein, und wie?« »Arbeiten Sie, kommen Sie öfter mit Menschen zusammen!« »Man kann nur dann arbeiten, wenn man ein Ziel hat. Was hab' ich für ein Ziel? Ich hab' keins.« »Ist leben kein Ziel?« »Wenn man nicht weiß, wozu man lebt, lebt man nur irgendwie, einen Tag wie den anderen; man freut sich, daß ein Tag vergangen ist, daß die Nacht angebrochen ist und daß man die langweilige Frage, wozu man diesen Tag gelebt hat und wozu man morgen leben wird, im Schlaf vergessen kann.« Sie hörte schweigend und streng blickend zu; in den gerunzelten Brauen verbarg sich etwas Düsteres, um die Linien des Mundes glitt halb Mißtrauen und halb Verachtung, wie eine Schlange ... »Wozu man gelebt hat!« wiederholte sie. »Kann denn irgendeine Existenz überflüssig sein?« »Ja. Zum Beispiel die meinige.« »Wissen Sie noch immer nicht, worin das Ziel Ihres Lebens liegt?« fragte sie, stehenbleibend. »Ich glaube nicht daran; Sie verleumden sich; sonst würden Sie nicht würdig sein zu leben ...« »Ich habe die Stelle schon versäumt, wo das Leben sich befinden soll, und vor mir gibt es nichts mehr.« Er seufzte und sie lächelte. »Nichts mehr?« wiederholte sie, aber jetzt lebhaft, lustig, lachend, als glaubte sie ihm nicht und als sähe sie etwas vor ihm. »Lachen Sie«, fuhr er fort, »es ist aber so!« Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf weiter. »Wofür, für wen werde ich leben?« sprach er, ihr folgend, »was soll ich suchen, worauf soll ich meine Gedanken und Wünsche richten? Die Blüte des Lebens ist verwelkt, es sind nur die Dornen geblieben.« Sie gingen langsam; sie hörte zerstreut zu, pflückte im Vorübergehen einen Fliederzweig und reichte ihn ihm, ohne ihn anzublicken. »Was ist das?« fragte er verblüfft. »Sie sehen ja, ein Zweig.« »Was für ein Zweig?« fragte er, sie mit weit offenen Augen anblickend. »Ein Fliederzweig.« »Ich weiß ... aber was bedeutet er?« »Die Blüte des Lebens ... und ...« Er blieb stehen, sie auch. »Und? ...« wiederholte er fragend. »Meinen Ärger«, sagte sie, ihm mit ernsten Augen geradeaus ins Gesicht blickend, und ihr Lächeln sagte, daß sie wußte, was sie tat. Die Wolke der Unnahbarkeit hatte sie verlassen. Ihr Blick war beredt und verständlich. Es war, als hätte sie absichtlich eine bestimmte Seite des Buches aufgeschlagen und als erlaubte sie ihm, die geheimgehaltene Stelle zu lesen. »Ich darf also hoffen ...«, sagte er plötzlich, freudig aufflammend. »Auf alles! Aber ...« Sie schwieg. Er war plötzlich wie ausgewechselt. Und jetzt erkannte sie ihrerseits Oblomow nicht wieder; sein gleichgültiges, umflortes Gesicht verwandelte sich plötzlich, die Augen öffneten sich; Röte stieg in seine Wangen; die Gedanken kamen in Bewegung; in den Augen leuchteten Wünsche und Wollen auf. Sie las deutlich in diesem stummen Mienenspiel, daß Oblomow jetzt plötzlich ein Lebensziel erlangt hatte. »Das Leben, das Leben steht mir wieder offen!« sprach er wie im Fieber, »hier ist es, in Ihren Augen, in Ihrem Lächeln, in diesem Zweig, in Casta diva ... alles ist darin ...« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht alles ... nur die Hälfte.« »Die beste.« »Vielleicht«, sagte sie. »Wo wäre denn das andere? Was bliebe denn noch übrig?« »Suchen Sie.« »Wozu?« »Um die erste nicht zu verlieren«, sprach sie zu Ende, reichte ihm die Hand, und sie gingen nach Hause. Er warf entzückte und heimliche Blicke auf ihr Köpfchen, auf ihre Gestalt und ihre Haare und preßte den Zweig krampfhaft zusammen. »Ein neues Leben, neue Hoffnungen«, sprach er sinnend und glaubte sich selbst nicht. »Übersiedeln Sie nicht auf die Wiborgskajastraße?« fragte sie, als er sich seinem Hause zuwandte. Er lachte und nannte Sachar nicht einmal einen Tölpel. Neuntes Kapitel Neuntes Kapitel Seitdem gab es in Oljga keine plötzlichen Veränderungen mehr. Sie war gleichmäßig, mit der Tante und in Gesellschaft ruhig, sie lebte aber und empfand das Leben nur, wenn sie mit Oblomow war. Sie fragte sich schon nie mehr, wie sie sich zu benehmen und was sie zu tun hatte und berief sich im stillen nicht auf Sonitschkas Autorität. Je mehr die Phasen des Lebens, das heißt des Gefühls, sich vor ihr eröffneten, desto schärfer beobachtete sie die Erscheinungen, lauschte wachsam der Stimme ihres Instinkts, verglich sie, so gut es ging, mit den wenigen von ihr gesammelten Erfahrungen und ging vorsichtig weiter, indem sie mit dem Fuß den Boden prüfte, über den sie schreiten wollte. Sie hatte niemand, den sie fragen konnte. Die Tante? Doch diese glitt so leicht und geschickt über solche Fragen hin, daß es Oljga niemals gelingen wollte, aus ihren Ansichten irgendeine Sentenz zu bilden, die sie sich ins Gedächtnis einprägen könnte. Stolz war nicht da. Oblomow? Doch er glich einer Galatea, der gegenüber sie selbst den Pygmalion zu spielen hatte. Ihr Leben war so still und für alle unsichtbar inhaltreich geworden, daß sie in der neuen Sphäre lebte, ohne irgendwelches Aufsehen zu erregen, ohne sichtbare Unruhe oder Erregung. Sie tat in den Augen von allen anderen dasselbe, aber sie tat es anders. Sie fuhr zum französischen Stück hin, doch der Inhalt gewann auf irgendeine Weise einen Zusammenhang mit ihrem Leben; wenn sie ein Buch las, stieß sie sicher auf Zeilen, die mit den Funken ihres Geistes durchsetzt waren, hie und da sah sie das Feuer ihrer Gefühle lodern und fand die gestern gesprochenen Worte, als hätte der Autor das Klopfen ihres Herzens erraten. Im Wald standen noch dieselben Bäume, doch ihr Rauschen hatte jetzt einen neuen Sinn erhalten; zwischen ihnen und ihr bestand jetzt ein besonderes lebendiges Einvernehmen. Die Vögel zwitscherten und sangen nicht, sondern sprachen immer miteinander; und alles um sie herum sprach und stand mit ihrer Stimmung im Einklang; wenn eine Blume aufblühte, schien sie ihr Atmen zu vernehmen. Auch in die Träume kam jetzt ein neues Leben; sie bevölkerten sich mit Erscheinungen und Gestalten, mit denen sie manchmal laut sprach ... Sie erzählten ihr etwas, aber so undeutlich, daß sie nichts verstehen konnte; sie gab sich Mühe, mit ihnen zu sprechen, sie zu befragen, und sprach auch etwas Unverständliches. Und Katja sagte ihr des Morgens, daß sie aus dem Schlaf gesprochen hätte. Sie dachte an Stolz' Prophezeiungen. Er hatte ihr oft gesagt, sie hätte noch nicht begonnen zu leben, und sie fühlte sich manchmal beleidigt, daß er sie für ein kleines Mädchen hielt, während sie schon zwanzig Jahre alt war. Und jetzt begriff sie, daß er recht hatte, und daß sie soeben erst zu leben begonnen hatte. »Wenn alle Kräfte Ihres Organismus zu wogen beginnen, dann wird auch das Leben um Sie herum wogen, und Sie werden das erblicken, was Ihre jetzt geschlossenen Augen nicht sehen, und werden hören, was Ihnen jetzt verborgen ist; dann beginnt die Musik Ihrer Nerven, dann hören Sie das Singen der Sphären und das Wachsen der Gräser. Warten Sie, beeilen Sie sich nicht, es kommt von selbst!« drohte er. Es war gekommen. »Das ist gewiß das Wogen der Kräfte, der Organismus ist erwacht ...« gebrauchte sie seine Worte, wachsam dem unbekannten Beben lauschend und scharf und schüchtern jede neue Äußerung der erwachenden Kraft beobachtend. Doch sie verfiel nicht ins Träumen, ergab sich nicht dem plötzlichen Zittern der Blätter, den nächtlichen Erscheinungen, dem geheimnisvollen Flüstern, wenn es ihr schien, daß jemand sich über ihr Ohr beugte und ihr etwas Unklares und Unverständliches sagen wollte. »Das sind die Nerven!« flüsterte sie, zusammenfahrend, aber mit einem Lächeln durch Tränen, mit Anstrengung die Angst bezwingend und den Kampf der noch nicht gestählten Nerven mit den erwachenden Kräften erduldend. Sie erhob sich vom Bett, trank ein Glas Wasser, öffnete das Fenster, fächelte sich mit dem Taschentuch ins Gesicht und er wachte aus den Träumen, die sie schlafend oder wachend übermannten. Und das erste, was Oblomow beim Erwachen vor sich sah, war Oljgas Bild, mit dem Fliederzweig in der Hand. Er schlief mit dem Gedanken an sie ein, und wenn er spazierenging oder las, war sie neben ihm. Er führte mit ihr im Geiste bei Tag und bei Nacht ein endloses Gespräch. Er fügte der »Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen« immer neue Entdeckungen in Oljgas Äußerem oder in ihrem Charakter hinzu und erfand Gelegenheiten, ihr unverhofft zu begegnen, ihr ein Buch zu schicken oder sie zu überraschen. Er setzte das Gespräch, das er mit ihr geführt hatte, zu Hause fort, so daß, wenn Sachar hereinkam, er ihm manchmal in sehr sanftem, weichem Ton, indem er im Geiste mit Oljga sprach, sagte: »Du kahlköpfiger Teufel hast mir neulich wieder ungeputzte Stiefel gegeben, gib acht, ich werde mit dir schon fertig werden ...« Doch seine Sorglosigkeit hatte ihn von dem Moment an verlassen, als sie ihm zum erstenmal sang. Er lebte nicht mehr wie früher, da es ihm ganz gleichgültig war, ob er auf dem Rücken lag und auf die Wand blickte, ob Alexejew bei ihm oder er selbst bei Gerassimowitsch saß, in jenen Tagen, da er niemand und nichts, weder bei Tag, noch bei Nacht erwartete. Jetzt nahm bei Tag und Nacht, morgens und abends, jede Stunde ihre eigene Gestalt an und war entweder mit Regenbogenglanz erfüllt oder farblos und düster, je nachdem, ob diese Stunde mit Oljgas Anwesenheit erfüllt wurde oder ohne sie verstrich und folglich langweilig und bleich war. Das alles spiegelte sich in seinem Wesen wieder; in seinem Kopf befand sich ein ganzes Netz von täglichen und stündlichen Vermutungen, Kombinationen, Ahnungen, Qualen der Ungewißheit, und das alles wurde durch die Fragen hervorgerufen: Ob er sie sehen werde oder nicht? Was sie sagen und tun würde? Wie würde sie ihn anblicken, welchen Auftrag würde sie ihm geben, was würde sie ihn fragen, würde sie zufrieden sein oder nicht? Alle diese Gedanken bildeten jetzt die Hauptfrage seines Lebens. Ach, wenn man nur das Berauschende der Liebe ohne diese Unruhe empfinden könnte! träumte er. Nein, das Leben macht sich fühlbar, man mag hingehen, wohin man will, es sengt mich förmlich! Wieviel neue Bewegung hat sich plötzlich jetzt hereingedrängt, wieviel Beschäftigungen! Die Liebe ist eine sehr schwere Schule des Lebens! Er hatte schon ein paar Bücher gelesen; Oljga bat ihn, ihr den Inhalt zu erzählen und lauschte mit unbeschreiblicher Geduld seinem Erzählen. Er schrieb ein paar Briefe ins Dorf, setzte den Dorfschulzen ab und trat durch Vermittlung von Stolz mit einem der Nachbarn in Verbindung. Er wäre sogar ins Dorf gefahren, wenn er es für möglich gehalten hätte, Oljga zu verlassen. Er aß abends nicht und wußte schon seit zwei Wochen nicht mehr, was es hieß, bei Tage zu schlafen. In zwei, drei Wochen waren sie in der ganzen Umgegend von Petersburg gewesen. Die Tante mit Oljga, der Baron und er erschienen auf den Kurkonzerten und den Festen. Sie sprachen davon, nach Finnland zum Imatrafall zu fahren. Was Oblomow betraf, würde er den Park niemals verlassen haben, aber Oljga fiel immer etwas anderes ein, und sowie er auf die Aufforderung, eine Fahrt zu unternehmen, mit der Antwort zögerte, wurde der Ausflug sicher ausgeführt. Und dann nahm Oljgas Necken kein Ende. Es gab fünf Werst in der Runde keinen einzigen Hügel, den er nicht schon ein paarmal bestiegen hätte. Unterdessen wuchs ihre Sympathie, entwickelte sich und äußerte sich nach ihren unabänderlichen Gesetzen. Oljga blühte zugleich mit ihrem Gefühl auf. In ihren Augen waren mehr Strahlen, in ihren Bewegungen mehr Grazie; ihre Brust hatte sich so üppig entwickelt und wogte so rhythmisch. »Du bist auf dem Lande hübscher geworden, Oljga«, sagte ihr die Tante; im Lächeln des Barons drückte sich dasselbe Kompliment aus. Oljga legte errötend ihren Kopf auf die Schultern der Tante; und diese streichelte ihr freundlich die Wange. »Oljga, Oljga!« rief Oblomow einmal vorsichtig und fast flüsternd am Fuße des Berges, wo Oljga mit ihm zusammentreffen wollte, um spazierenzugehen. Keine Antwort; er sah auf die Uhr. »Oljga Sjergejewna!« fügte er dann laut hinzu. Stille. Oljga saß auf dem Berge, hörte das Rufen und schwieg, das Lachen zurückhaltend. Sie wollte ihn dazu bringen, den Berg zu besteigen. »Oljga Sjergejewna!« rief er, als er den Berg durch das Gebüsch bis zur Hälfte erklommen hatte und in die Höhe blickte. »Sie hat mich um halb sechs Uhr bestellt«, sprach er zu sich selbst. Sie konnte ihr Lachen nicht länger zurückhalten. »Oljga, Oljga! Ach, da sind Sie ja!« sagte er und stieg auf den Berg hinauf. »Ach! wieso macht es Ihnen Vergnügen, sich auf dem Berg zu verstecken!« – Er setzte sich neben sie. »Um mich zu quälen, quälen Sie sich selbst.« »Woher kommen Sie? Von zu Hause?« fragte sie. »Nein, ich war bei Ihnen; man hat mir dort gesagt, daß Sie fortgegangen sind.« »Was haben Sie heute getan?« »Heute ...« »Sachar geschimpft?« fragte sie. »Nein, ich habe die Revue gelesen. Aber hören Sie, Oljga ...« Doch er sagte nichts, er setzte sich nur neben sie und versenkte sich in das Betrachten ihres Profils, ihres Kopfes, ihrer Handbewegungen, als sie die Nadel in den Kanevas steckte und wieder herauszog. Er richtete seinen Blick wie ein Brennglas auf sie und konnte ihn nicht mehr abwenden. Er selbst bewegte sich nicht, und nur sein Blick wandte sich bald nach rechts, bald nach links, bald nach unten hin, je nachdem die Hand sich bewegte. In ihm arbeitete alles angestrengt; er hatte einen beschleunigten Blutumlauf, sein Pulsschlag verdoppelte sich und in seinem Herzen wogte es – das alles übte auf ihn eine solche Wirkung aus, daß er langsam und schwer atmete, wie man vor der Hinrichtung und im Augenblick der größten Wonne der Seele atmet. Er war stumm und konnte sich nicht einmal rühren, nur seine vor Bewegung feuchten Augen waren unablässig auf sie gerichtet. Sie warf ihm ab und zu einen tiefen Blick zu, las den einfachen Inhalt von seinem Gesichte ab und dachte: O Gott, wie er liebt! Wie zärtlich er ist! Und sie bewunderte ihn und triumphierte über diesen durch ihre Macht zu ihren Füßen hingestreckten Menschen! Der Moment der symbolischen Andeutungen, des vielsagenden Lächelns, der Fliederzweige, war unwiederbringlich verstrichen. Die Liebe wurde strenger, stellte größere Anforderungen, begann sich in eine Pflicht zu verwandeln; es machten sich gegenseitige Rechte geltend. Beide Teile wurden immer aufrichtiger; die Mißverständnisse und Zweifel verschwanden oder machten deutlicheren und ausgesprocheneren Fragen Platz. Sie stichelte ihn mit leichten Sarkasmen wegen der im Nichtstun totgeschlagenen Jahre, sprach über ihn ein strenges Urteil, verwarf seine Apathie tiefer und wirksamer als Stolz; dann, in dem Maße, als sie ihm nähertrat, ging sie von den Spötteleien über sein träges, welkes Leben zur despotischen Äußerung ihres Willens über, erinnerte ihn kühn an das Ziel des Lebens und an seine Pflichten, forderte streng Betätigung von ihm und brachte unablässig seinen Geist in Bewegung, indem sie ihn in eine komplizierte, ihr wohlbekannte Lebensfrage verwickelte oder zu ihm selbst mit einer Frage über etwas Unklares, ihr Unzugängliches kam. Und er mühte sich ab, zerbrach sich den Kopf, wand sich hin und her, um nicht in ihren Augen tief zu fallen oder um ihr irgendeinen Knoten lösen zu helfen und, wenn es nicht ging, ihn heroisch zu durchschneiden. Ihre ganze weibliche Taktik war von zärtlicher Sympathie erfüllt; alle seine Bestrebungen, der Regsamkeit ihres Verstandes nachzukommen, atmeten Leidenschaft aus. Aber am häufigsten ermattete er, legte sich zu ihren Füßen hin, hielt sich die Hand ans Herz und lauschte seinen Schlägen, ohne seinen reglosen, erstaunten, entzückten Blick von ihr zu wenden. Wie er mich liebt! sagte sie sich in diesen Momenten, ihn bewundernd. Wenn sie aber manchmal die verborgenen, alten Züge in Oblomows Seele entdeckte – und sie verstand es, tief in sie hineinzuschauen –, die geringste Müdigkeit, eine kaum merkliche Schläfrigkeit der Lebenstätigkeit, schüttete sie über ihn ihre Vorwürfe aus, denen sich ab und zu die Bitternis der Reue, die Furcht, einen Irrtum begangen zu haben, beimischte. Wenn er manchmal zu gähnen beabsichtigte und den Mund öffnete, wurde er von einem erstaunten Blick getroffen; er schloß dann augenblicklich den Mund, so daß die Zähne zusammenklappten. Sie verfolgte den geringsten Schatten von Schläfrigkeit selbst auf seinem Gesichte. Sie fragte ihn nicht nur darüber aus, was er getan hatte, sondern auch darüber, was er tun würde. Er gab sich einen noch heftigeren Ruck, wenn er bemerkte, daß seine Müdigkeit auch sie ermüdete und sie nachlässig und kalt machte. Dann kam über ihn ein Fieber des Lebens, der Kräfte, der Tätigkeit, der Schatten verschwand wieder und die Sympathie entströmte ihm wieder wie eine starke, kalte Quelle. Doch alle diese Sorgen hatten vorläufig den magischen Kreis der Liebe noch nicht verlassen; seine Tätigkeit war eine passive; er schlief nicht, las, dachte manchmal ans Fertigstellen des Planes, ging und fuhr viel. Die fernere Richtung, der Kern des Lebens – die Arbeit existierte vorläufig nur in seinen Vorsätzen. »Was für ein Leben, was für eine Tätigkeit fordert Andrej noch?« sprach Oblomow, die Augen nach dem Essen weit aufreißend, um nicht einzuschlafen. »Ist denn das kein Leben? Ist denn die Liebe kein Dienst? Er sollte es einmal versuchen! Jeden Tag zehn Werst zu Fuß zurückzulegen! Gestern habe ich in der Stadt in einem schlechten Gasthof übernachtet, habe in den Kleidern geschlafen, habe nur die Stiefel ausgezogen und war ohne Sachar, und das alles dank ihrer Aufträge!« Am qualvollsten war es für ihn, wenn Oljga ihm irgendeine fachwissenschaftliche Frage vorlegte und ihm, wie einem Professor, eine sie befriedigende Auskunft abforderte; und sie tat es häufig, nicht aus Pedanterie, sondern einfach, weil sie wissen wollte, wie sich die Sache verhielt. Sie vergaß sogar oft die Ziele, die sie in bezug auf Oblomow im Auge hatte, und ließ sich von dem Gegenstande selbst hinreißen. »Warum lehrt man uns das nicht?« sagte sie nachdenklich und ärgerlich, während sie manchmal gierig den Bruchstücken eines Gespräches über ein Thema lauschte, das man für Frauen als unnötig zu betrachten gewohnt war. Eines Tages trat sie an ihn mit einer Frage bezüglich der Doppelsterne heran; er beging die Unvorsichtigkeit, sich auf Herschel zu berufen, wurde in die Stadt geschickt, mußte das Buch lesen und ihr so lange daraus erzählen, bis sie befriedigt war. Ein anderes Mal war er unvorsichtig genug, in einem Gespräche mit dem Baron ein paar Worte über die Schulen in der Malerei fallen zu lassen – jetzt hatte er wieder Arbeit für eine Woche; er mußte lesen und erzählen; dann fuhren sie noch in die Bildergalerie, und dort mußte er das Gesehene durch das Gelesene bestätigen. Wenn er irgend etwas aufs Geratewohl sagte, merkte sie es sofort und gab erst recht keine Ruhe. Dann mußte er eine Woche lang in die Geschäfte fahren und Stiche von den besten Bildern suchen. Der arme Oblomow wiederholte das, was er einst gelernt hatte, oder er stürzte in die Bücherläden, um neue Quellen aufzustöbern, und manchmal schlief er eine ganze Nacht nicht, wühlte in den Büchern herum und las, um am nächsten Morgen wie zufällig die gestrige Frage mit den Kenntnissen, die er aus dem Archiv seines Gedächtnisses hervorgesucht hatte, zu beantworten. Sie legte diese Fragen nicht mit weiblicher Zerstreutheit und nicht nach der Eingebung einer augenblicklichen Laune, das eine oder andere zu wissen, sondern energisch und ungeduldig vor, und wenn Oblomow schwieg, strafte sie ihn mit einem langen, prüfenden Blick. Wie erzitterte er bei diesem Blick! »Warum sagen Sie nichts, warum schweigen Sie?« fragte sie. »Man könnte meinen, daß Sie sich langweilen.« »Ach!« sagte er, wie aus einer Ohnmacht erwachend, »wie liebe ich Sie!« »Wirklich? Und wenn ich nicht gefragt hätte, würde es gar nicht danach aussehen.« »Ja, fühlen Sie denn wirklich nicht, was in mir vorgeht?« begann er. »Wissen Sie, es fällt mir sogar schwer, zu sprechen. Da hier – legen Sie Ihre Hand hierher – stört mich etwas, es ist, als ob hier etwas liegt, das schwer wie ein Stein ist, wie es bei tiefem Unglück geschieht. Ist es nicht seltsam, daß im Leiden und im Glück sich im Organismus derselbe Prozeß abspielt: Es ist so schwer, zu atmen, daß es fast schmerzt, und man möchte weinen! Wenn ich weinen könnte, würden mich die Tränen ebenso wie im Unglück erleichtern ...« Sie blickte ihn schweigend an, wie um seine Worte zu kontrollieren und damit, was auf seinem Gesichte stand, zu vergleichen, und dann lächelte sie; die Prüfung hatte sie befriedigt. Und ihr Gesicht atmete Glück aus, aber ein so friedliches, daß es unmöglich schien, es durch irgend etwas zu stören. Man sah, daß nichts ihre Brust bedrückte und daß es darin ebenso schön war wie in der Natur an diesem stillen Morgen. »Was geht mit mir vor?« wandte sich Oblomow sinnend gleichsam an sich selbst. »Soll ich's sagen?« »Sagen Sie's!« »Sie sind ... verliebt.« »Ja, natürlich!« bestätigte er, indem er ihr die Hand von der Arbeit fortriß, sie aber nicht küßte, sondern die Finger nur fest an seine Lippen preßte und lange so zu halten beabsichtigte. Sie versuchte, sie leise fortzuziehen, doch er hielt sie fest. »Lassen Sie mich los, es ist genug!« sagte sie. »Und Sie?« fragte er. »Sind Sie nicht verliebt ...« »Verliebt – nein ... ich kenne das nicht und fürchte es; ich liebe Sie!« sagte sie und blickte ihn lange und sinnend an, als ob sie auch sich prüfte, ob sie ihn tatsächlich liebe. »Lie...ben!« sprach Oblomow. »Aber lieben kann man ja die Mutter, den Vater, die Kinderfrau, sogar ein Hündchen; das alles deckt sich mit dem gemeinschaftlichen Sammelnamen lieben, wie mit einem alten ...« »Schlafrock?« sagte sie lachend. »Apropos, wo ist Ihr Schlafrock?« »Was für ein Schlafrock? Ich habe gar keinen gehabt.« Sie blickte ihn mit einem vorwurfsvollen Lächeln an. »Sie meinen den alten Schlafrock!« sagte er. »Ich warte; meine Seele ist vor Ungeduld zu hören erstarrt, wie aus Ihrem Herzen das Gefühl aufwallen wird, wie Sie dieses Aufwallen benennen werden, und Sie ... Gott sei mit Ihnen, Oljga! Ja, ich bin in Sie verliebt, und sage, daß es ohne das keine eigentliche Liebe gibt; man verliebt sich weder in den Vater, noch in die Mutter, noch in die Kinderfrau, sondern man liebt sie ...« »Ich weiß nicht«, wiederholte sie, fast flüsternd, sich wieder in sich selbst vertiefend, und suchte zu erfassen, was in ihr vorging. »Ich weiß nicht, ob ich in Sie verliebt bin; wenn es nicht der Fall ist, dann ist vielleicht der richtige Augenblick noch nicht gekommen; ich weiß nur das eine, daß ich weder den Vater, noch die Mutter, noch die Kinderfrau so geliebt habe ...« »Was ist denn dabei für ein Unterschied? Fühlen Sie etwas Besonderes?« fragte er beharrlich. »Wollen Sie das wissen?« fragte sie schelmisch. »Ja, ja, ja! Haben Sie denn gar kein Bedürfnis, sich auszusprechen?« »Und warum wollen Sie es wissen?« »Um jeden Augenblick davon zu leben: heute, die ganze Nacht und morgen, bis ich Sie wiedersehe ... Ich lebe nur davon ...« »Sehen Sie, Sie müssen den Vorrat Ihrer Zärtlichkeit jeden Tag erneuern; das ist der Unterschied zwischen einem Verliebten und einem Liebenden. Ich ...« »Sie?« fragte er ungeduldig. »Ich liebe anders«, sagte sie, sich mit dem Rücken an die Bank anlehnend und mit den Augen den treibenden Wolken folgend. »Ich langweile mich ohne Sie; es tut mir leid, Sie für kurze Zeit zu verlassen, und es schmerzt mich, wenn es für lange Zeit ist. Ich habe ein für allemal erfahren und gesehen, daß Sie mich lieben. Ich kann nicht mehr und anders lieben.« Das klingt wie Cordelias Worte! dachte Oblomow, Oljga voll Leidenschaft anblickend. »Wenn Sie sterben würden«, sprach sie nach einer Weile weiter, »würde ich ewig nach Ihnen Trauer tragen und würde nie im Leben wieder lächeln. Wenn Sie eine andere lieben, werde ich nicht murren und Ihnen nicht fluchen, sondern werde Ihnen im stillen Glück wünschen ... Für mich ist die Liebe dasselbe wie ... das Leben, und das Leben ...« Sie suchte nach einem Ausdruck. »Was ist denn das Leben Ihrer Ansicht nach?« »Das Leben ist eine Pflicht, folglich ist auch die Liebe eine Pflicht; mir ist, als hätte Gott Sie mir geschickt«, sprach sie zu Ende, indem sie die Augen zum Himmel erhob, »und mir zu lieben befohlen.« »Cordelia!« sagte Oblomow laut. »Und sie ist einundzwanzig Jahre alt! Also das ist Ihrer Ansicht nach die Liebe!« fügte er nachdenklich hinzu. »Ja, und ich glaube genügend Kraft zu haben, um das ganze Leben lang zu lieben ... Eines ist ohne das andere unmöglich!« Wer hat ihr denn das eingeflößt? dachte Oblomow, sie beinahe mit Andacht anblickend. Sie hat doch diesen einfachen und klaren Begriff vom Leben nicht auf dem Wege der Erfahrung, nicht durch Qualm, Flammen und Rauch erworben. »Und gibt es lebendige Frauen, gibt es Leidenschaften?« fragte er. »Ich weiß nicht«, antwortete sie, »ich habe sie nicht empfunden und verstehe nicht, was das ist.« »Oh, wie ich es jetzt verstehe!« »Vielleicht werde auch ich das mit der Zeit empfinden, vielleicht werde auch ich dieselben Aufwallungen haben wie Sie, und vielleicht werde auch ich Sie bei unseren Begegnungen anblicken und nicht daran glauben, daß Sie vor mir sind ... Und das muß sehr komisch sein!« fügte sie fröhlich hinzu. »Was für Augen Sie manchmal machen; ich glaube, ma tante bemerkt es.« »Worin besteht denn für Sie das Glück der Liebe«, fragte er, »wenn Sie jene Freuden nicht kennen, die ich empfinde? ...« »Worin? Darin!« sagte sie, auf ihn, auf sich, auf die sie umgebende Einsamkeit hinweisend. »Ist denn das nicht Glück, habe ich denn jemals so gelebt? Früher würde ich hier, zwischen diesen Bäumen, auch nicht eine Viertelstunde allein, ohne Buch, ohne Musik verbracht haben. Außer mit Andrej Iwanowitsch mit einem Manne zu sprechen, war für mich langweilig; ich wußte nicht, wovon; ich dachte dabei immer daran, wie ich wohl wieder allein bleiben könnte ... Und jetzt ... es ist auch lustig, zu zweit zu schweigen!« Sie ließ ihre Augen ringsherum über die Bäume und über das Gras schweifen, richtete sie dann auf ihn, lächelte und streckte ihm die Hand hin. »Wird es mich denn jetzt nicht schmerzen, wenn Sie fortgehen werden?« fügte sie hinzu, »werde ich mich denn nicht beeilen, schnell schlafen zu gehen, um einzuschlafen und die langweilige Nacht zu verkürzen? Werde ich denn morgen früh nicht zu Ihnen hinschicken? Werde ...« Mit jedem »werde« begann Oblomows Gesicht mehr zu strahlen, und sein Blick füllte sich mit Licht! »Ja, ja«, wiederholte er, »auch ich erwarte den Morgen, auch für mich zieht sich die Nacht endlos hin, auch ich werde morgen zu Ihnen hinschicken, nicht um etwas zu bestellen, sondern um einmal mehr Ihren Namen auszusprechen und zu hören, wie er klingt, um von den Dienstboten irgendeine Kleinigkeit von Ihnen zu erfahren und sie zu beneiden, weil sie Sie schon gesehen haben ... Wir denken, wir warten, leben und hoffen auf die gleiche Weise. Verzeihen Sie mir meine Zweifel, Oljga; ich gelange zu der Überzeugung, daß Sie mich anders lieben als Ihren Vater, Ihre Tante, oder ...« »... ein Hündchen«, fügte sie hinzu. »Glauben Sie mir also«, schloß sie, »wie ich Ihnen glaube, zweifeln Sie nicht, verderben Sie sich dieses Glück nicht mit leeren Zweifeln, sonst fliegt es davon. Wenn ich etwas als mein Eigentum betrachte, gebe ich es nur dann her, wenn man es mir fortnimmt. Das weiß ich, trotzdem ich jung bin, aber ... Wissen Sie«, sagte sie mit überzeugter Stimme, »ich habe während des Monats, seit ich Sie kenne, so viel gedacht und empfunden, als ob ich ein großes Buch im stillen und nach und nach durchgelesen hätte ... Zweifeln Sie also nicht ...« »Ich kann aber nicht«, unterbrach er sie, »verlangen Sie das nicht. Jetzt, in Ihrer Anwesenheit, bin ich beruhigt; Ihr Blick, Ihre Stimme, alles ist von Wahrheit und Sympathie erfüllt. Sie blicken mich an, als ob Sie sagten: Ich brauche keine Worte, ich verstehe es, in Ihren Blicken zu lesen. Wenn Sie aber nicht da sind, beginnt dasselbe qualvolle Spiel der Zweifel und Fragen, und ich muß wieder zu Ihnen hineilen, Sie wieder anblicken, um zu glauben. Was ist das?« »Und ich glaube Ihnen; warum denn?« »Wie sollten Sie denn nicht glauben! Vor Ihnen steht ein Wahnsinniger, der von Leidenschaft erfüllt ist! Sie können sich in meinen Augen wie in einem Spiegel sehen. Außerdem sind Sie zwanzig Jahre alt; schauen Sie sich an; kann denn ein Mann Ihnen begegnen, ohne seinen Tribut der Bewunderung ... wenigstens mit einem Blicke, zu zahlen? Wenn man Sie aber kennt, Ihnen zuhört, Sie lange anschaut, Sie liebt – oh, da kann man verrückt werden! Und Sie sind so gleichmäßig, so ruhig; und wenn ein oder zwei Tage vergehen, ohne daß ich von Ihnen das ›ich liebe Sie‹ höre ... dann beginnt hier ein Sturm ...« Er zeigte auf sein Herz. »Ich liebe, ich liebe, ich liebe Sie – da haben Sie Vorrat für drei Tage!« sagte sie, sich von der Bank erhebend. »Sie scherzen immer, und wie ist es mir zumute!« sagte er seufzend, indem er mit ihr vom Berg herabstieg. So spielte sich zwischen ihnen immer dasselbe Thema in verschiedenen Variationen ab. Die Begegnungen und Gespräche waren dasselbe Lied, dieselben Töne, dasselbe Licht, das hell brannte, nur brachen und zersplitterten sich seine Strahlen in rosa, grüne und gelbe und bebten in der sie umgebenden Atmosphäre. Jeder Tag und jede Stunde brachte neue Töne und Strahlen; doch es war dasselbe Licht, und es erklang immer dieselbe Melodie. Er und sie lauschten diesen Tönen, fingen sie auf und beeilten sich, das, was jeder hörte, dem andern vorzusingen, ohne zu ahnen, daß morgen andere Töne und andere Strahlen erscheinen würden, und am nächsten Tage vergessend, daß das Singen gestern anders gewesen war. Sie kleidete die Ergüsse ihres Herzens in die Farben, die in ihrer Phantasie in dem gegenwärtigen Augenblick leuchteten, glaubte daran, daß sie der Wirklichkeit entsprachen, und beeilte sich in ihrer unschuldigen und unbewußten Eitelkeit, vor den Augen ihres Freundes herrlich geschmückt zu erscheinen. Er glaubte noch mehr an diese Zaubertöne, an das wunderbare Leuchten und bestrebte sich, vor ihr mit seiner Leidenschaft gerüstet zu erscheinen und ihr den ganzen Glanz und die ganze Macht des seine Seele verzehrenden Feuers zu zeigen. Sie logen weder sich selbst noch einander an; sie gaben nur das wieder, was das Herz ihnen sagte, aber seine Stimme drang durch die Phantasie hindurch zu ihnen. Im Grunde war es Oblomow gar nicht darum zu tun, daß Oljga als Cordelia erschien und dieser Gestalt treu blieb oder daß sie einen neuen Weg wählte und sich in eine andere Gestalt verwandelte, wenn sie nur in jenen Farben und Strahlen erschien, in denen sie in seinem Herzen wohnte, wenn es ihm nur wohl dabei war. Und auch Oljga erkundigte sich nicht erst, ob ihr zärtlicher Freund den Handschuh aufheben würde, wenn sie ihn in einen Löwenrachen geworfen hätte, ob er sich ihretwegen in den Abgrund zu stürzen wagte, wenn sie nur die Symptome dieser Leidenschaft sah, wenn er nur ihrem Mannesideale treu blieb, dem Ideal eines Menschen, der durch sie zum Leben erwacht war, wenn nur von dem Strahle ihres Blickes und von ihrem Lächeln das Feuer der Lebenslust in ihm erwachte und er nicht aufhörte, das Ziel seiner Existenz in ihr zu sehen. Und darum spiegelte sich in der für einen Augenblick aufgestiegenen Gestalt Cordelias und im Feuer von Oblomows Leidenschaft nur ein einziger vergänglicher Atemzug, nur ein einziger Morgen und ein einziges launiges Muster der Liebe wieder. Und morgen, morgen leuchtete etwas anderes, das vielleicht ebenso schön, aber trotzdem anders war, auf! ... Zehntes Kapitel Zehntes Kapitel Oblomow befand sich im Zustand eines Menschen, der soeben dem Untergang der Sommersonne mit den Augen gefolgt ist und ihre glühenden Spuren bewundert, ohne den Blick vom Abendrot zu wenden, ohne nach rückwärts zu schauen, wo die Nacht herabsinkt, und nur an die morgige Rückkehr der Wärme und des Lichtes denkt. Er lag auf dem Rücken und genoß den letzten Widerhall des gestrigen Beisammenseins. »Ich liebe, ich liebe, ich liebe«, klang es noch in seinen Ohren, viel schöner als Oljgas Gesang. Auf ihm ruhten noch die letzten Strahlen ihres tiefen Blickes. Er suchte dessen Bedeutung zu erforschen und den Grad ihrer Liebe zu bestimmen, und begann schon in Schlaf zu sinken, als plötzlich ... Am nächsten Tag stand Oblomow bleich und düster auf; auf seinem Gesicht waren die Spuren einer schlaflosen Nacht zu lesen; die Stirne war voller Furchen; in den Augen war kein Feuer und kein Wunsch. Das Selbstbewußtsein, der frische, belebte Blick, die mäßige, bewußte Schnelligkeit der Bewegungen eines beschäftigten Menschen, alles war verschwunden. Er trank träge Tee, rührte kein einziges Buch an, sondern rauchte nachdenklich eine Zigarre an und setzte sich auf das Sofa. Früher würde er sich hingelegt haben, aber jetzt war er es nicht mehr gewohnt, und es zog ihn nicht einmal zum Kissen hin; aber er stützte sich darauf mit dem Ellbogen, ein Anzeichen, das auf seine frühere Lebensweise hindeutete. Er war mißgestimmt, seufzte manchmal, zuckte plötzlich die Achseln und schüttelte betrübt den Kopf. In ihm arbeitete etwas angestrengt; es war aber nicht die Liebe. Oljgas Gestalt ist vor ihm; doch sie scheint in der Ferne, im Nebel und ohne Strahlen zu schweben, als wäre sie ihm fremd; er blickt sie schmerzlich an und seufzt. »Man soll leben wie Gott befiehlt und nicht, wie man will, das ist eine weise Regel, aber ...« Er sann nach. »Ja, man kann nicht so leben, wie man will – das ist klar,« begann in ihm eine düstere, trotzige Stimme zu sprechen: »Man kommt in ein Chaos von Widersprüchen hinein, die kein Menschenverstand, wie tief und kühn er auch sein mag, lösen kann! Gestern hat man etwas gewünscht, strebt heute leidenschaftlich bis zur Ermattung zum Gewünschten hin und errötet übermorgen, weil man gewünscht hat, verwünscht das Leben, weil der Wunsch in Erfüllung gegangen ist – das kommt beim selbständigen und dreisten Schreiten durchs Leben, beim eigenmächtigen ›ich will‹ heraus. Man muß vorsichtig vorwärtsgehen, bei vielem die Augen schließen und nicht vom Glück träumen, nicht zu murren wagen, weil es entschwindet – das ist das Leben! Wer hat sich ausgedacht, daß es Glück und Genuß ist? Die Toren! Das Leben ist das Leben, ›die Pflicht‹, sagte Oljga, ›und eine Pflicht ist schwer. Wollen wir also unsere Pflicht erfüllen.‹« Er seufzte. »Ich werde Oljga nicht mehr sehen ... Mein Gott, du hast mir die Augen geöffnet und mich auf meine Pflicht hingewiesen,« sagte er, gen Himmel blickend. »Wo soll ich denn die Kraft hernehmen? Mich von ihr trennen! Jetzt geht es noch, wenn es auch weh tut, dafür werde ich mir später nicht fluchen, sie nicht verlassen zu haben! Es wird gleich jemand von ihr kommen, sie wollte herschicken ... Sie erwartet das nicht ...« Aus was für einem Grunde? Welcher Wind hatte Oblomow plötzlich angeweht? Was für Wolken hatte er gebracht? Und warum legte er sich ein so trauriges Joch auf? Er hatte ja erst gestern in Oljgas Seele geblickt und dort eine lichte Welt und ein lichtes Schicksal gesehen, er hatte ihr und sein Horoskop gelesen. Was war denn geschehen? Er hatte gewiß abends gegessen, und er war auf dem Rücken gelegen, und die poetische Stimmung hatte solch einen Schrecken zur Folge gehabt. Es kommt oft vor, daß man im Sommer an einem stillen, wolkenlosen Abend, bei glitzernden Sternen einschläft und daran denkt, wie schön morgen das Feld in den hellen Morgentönen erscheinen wird! Und wie lustig es sein wird, sich in das Waldesdickicht vor der Hitze zu verstecken ... Und plötzlich erwacht man beim Rieseln des Regens und sieht graue, traurige Wolken; es ist kalt und feucht ... Oblomow hatte des Abends wie gewöhnlich dem Klopfen seines Herzens gelauscht und sich in die Analyse seines Glückes vertieft, und plötzlich war er auf einen bitteren Tropfen gestoßen und hatte sich vergiftet. Das Gift wirkte stark und schnell. Er ließ im Geiste sein ganzes Leben an sich vorübergleiten; Reue und zu spätes Bedauern seiner Vergangenheit stiegen zum hundertsten Male in ihm auf. Er stellte sich vor, was er jetzt wäre, wenn er rüstig vorwärtsschreiten würde, um wieviel vielseitiger und inhaltsreicher sein Leben sich gestaltet hätte, wenn er tätig wäre, und ging zur Frage über, wie Oljga ihn lieben konnte, wofür? War das kein Irrtum? – tauchte es in ihm wie ein Blitz auf, und dieser Blitz hatte ihn ins Herz getroffen und es zerstört. Er stöhnte: »Ein Irrtum! Ja ... das ist es!« wälzte sich der furchtbare Gedanke durch seinen Kopf. »Ich liebe, ich liebe, ich liebe« – ertönte es plötzlich in seiner Erinnerung, und das Herz begann sich zu erwärmen; doch dann erkaltete es wieder. Und was war dieses dreifache »Ich liebe« von Oljga? Eine Täuschung ihrer Augen, das tückische Flüstern des noch feiernden Herzens; keine Liebe, sondern nur eine Vorahnung von Liebe. Diese Stimme würde einst erwachen und so mächtig ertönen, in einen solchen Akkord ausklingen, daß die ganze Welt erbeben würde! Selbst die Tante und der Baron würden es erfahren, und der Klang dieser Stimme würde einen lauten Widerhall wecken! Jenes Gefühl würde nicht so still wie ein Bach vorwärtsschreiten, der sich im Grase verbirgt und kaum hörbar plätschert. Sie liebt jetzt ebenso, wie sie auf Kanevas stickt. Das Muster kommt langsam und träge zum Vorschein, sie rollt es noch träger auf, bewundert es, legt es dann fort und vergißt es. Ja, das war nur eine Vorbereitung zur Liebe, ein Experiment, und er war ein Objekt, das ihr zuerst unterkam und zu einem gelegentlichen Versuche ganz tauglich war ... Ein Zufall hatte sie zueinander geführt und sie einander nahegebracht. Sie hätte ihn nicht bemerkt; Stolz hatte sie auf ihn hingewiesen und das junge, empfängliche Herz mit seiner Teilnahme angesteckt, in ihr war Mitleid mit seiner Lage und der eitle Wunsch erwacht, den Schlaf von seiner trägen Seele abzuschütteln, um ihn dann zu verlassen. »So ist es also!« sprach er entsetzt, sich vom Bette erhebend und mit zitternder Hand die Kerze anzündend. »Es ist und war nichts anderes! Sie war zur Empfängnis der Liebe bereit, ihr Herz wartete gespannt, sie ist ihm zufällig begegnet und hat sich ihm irrtümlicherweise zugewendet ... Es brauchte nur ein anderer zu erscheinen, und sie würde entsetzt und ernüchtert ihren Irrtum einsehen! Wie würde sie ihn dann anblicken und sich abwenden ... Das wäre furchtbar! Ich stehle fremdes Gut. Ich bin ein Dieb! Was tue ich? Was tue ich? Wie verblendet ich bin – o Gott!« Er blickte in den Spiegel; er war blaß und gelb, seine Augen waren trüb. Er dachte an jene glücklichen Jünglinge, die einen feuchten, sinnenden, aber tiefen und mächtigen Blick mit dem zitternden Funken im Auge hatten wie sie, die ein siegesbewußtes Lächeln, einen so rüstigen Gang und eine klangvolle Stimme besaß. Und er würde es erleben, daß so einer erschien, sie würde plötzlich Feuer fangen, ihn anblicken und ... auflachen! Er blickte wieder in den Spiegel. »Solche liebt man nicht!« sagte er. Dann legte er sich hin und preßte das Gesicht aufs Kissen. »Leb wohl, Oljga, sei glücklich!« schloß er. »Sachar!« rief er des Morgens. »Wenn jemand von Iljinskys mich holen kommt, sage, daß ich nicht zu Hause bin, daß ich in die Stadt gefahren bin.« »Zu Befehl!« »Nein ... Ich schreibe ihr lieber,« sagte er zu sich selbst, »sonst wird es ihr wunderlich erscheinen, daß ich plötzlich verschwunden bin. Eine Erklärung ist unvermeidlich.« Er setzte sich an den Tisch und begann rasch, leidenschaftlich und mit fieberhafter Schnelligkeit zu schreiben, ganz anders, als er Anfang Mai an seinen Hausherrn geschrieben hatte. Es kam kein einziges Mal eine unangenehme und zu nahe Begegnung zweier »welcher« und »daß« vor. »Es wundert Sie, Oljga Sjergejewna,« schrieb er, »statt meiner diesen Brief zu sehen, da wir so oft zusammenkommen. Lesen Sie bis zu Ende, und Sie werden sehen, daß ich nicht anders handeln konnte. Wir hätten mit diesem Briefe beginnen sollen, dann wären uns beiden in Zukunft viele Gewissensbisse erspart; es ist aber auch jetzt noch nicht zu spät. Wir haben einander so plötzlich und schnell liebgewonnen, als ob wir beide plötzlich erkrankt wären, und das hat mich daran verhindert, früher zur Besinnung zu kommen. Wer würde übrigens, ganze Stunden lang Ihren Anblick genießend und Ihnen lauschend, gutwillig die schwere Pflicht, sich vom Zauber zu ernüchtern, auf sich nehmen? Wo könnte man einen genügenden Vorrat an Vorsicht und Willenskraft ansammeln, um bei jedem Abhange stehenzubleiben und sich nicht herablocken zu lassen? Ich habe jeden Tag gedacht: Ich lasse mich nicht weiter hinreißen, und ich bleibe stehen; es hängt ja von mir ab, und ich habe mich hinreißen lassen, und jetzt beginnt ein Kampf, in dem ich Ihren Beistand fordere. Ich habe erst heute in dieser Nacht begriffen, wie schnell meine Füße herabgleiten; es ist mir erst gestern gelungen, tiefer in den Abgrund zu schauen, in den ich falle, und ich habe beschlossen, stehenzubleiben. Ich spreche nicht aus Egoismus immer von mir, sondern weil Sie, während ich in der Tiefe dieses Abgrundes liegen werde, immer noch wie ein reiner Engel in der Höhe schweben und wohl schwerlich einen Blick hineinwerfen wollen. Hören Sie mich an, ich sage es Ihnen einfach und geradeheraus, ohne alle Anspielungen. Sie lieben mich nicht und können mich nicht lieben. Hören Sie auf meine Erfahrenheit und glauben Sie mir unbedingt. Mein Herz hat ja schon längst zu schlagen begonnen, wenn sein Schlag auch falsch und unregelmäßig sein mochte, doch gerade das hat mich gelehrt, sein regelrechtes Schlagen von einem zufälligen zu unterscheiden. Sie können nicht, aber ich kann und muß missen, wo die Wahrheit und wo die Verirrung ist, und es ist meine Pflicht, denjenigen, der noch nicht Zeit hatte, es zu erfahren, zu warnen. Und ich warne Sie also: Sie haben sich verirrt, blicken Sie zurück! Solange die Liebe uns in Gestalt einer unbestimmten lächelnden Vision erschien, solange sie in Casta diva erklang und im Dufte eines Fliederzweiges, in der unausgesprochenen Teilnahme, im schüchternen Blicke vor uns schwebte, vertraute ich ihr, indem ich sie für ein Spiel der Phantasie und ein Flüstern der Eitelkeit hielt. Doch jetzt ist das Spiel zu Ende; ich bin an der Liebe erkrankt und fühle die Symptome der Leidenschaft in mir. Sie sind nachdenklich und ernst geworden. Sie widmen mir Ihre freie Zeit; Ihre Nerven sind gespannt; Sie sind aufgeregt und dann, das heißt jetzt erst, bin ich erschrocken und habe gefühlt, daß mir die Pflicht, stehenzubleiben und zu sagen, was das ist, zufällt. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe, und Sie erwidern dieses Gefühl – hören Sie, was für einen Mißklang das ergibt? Hören Sie es nicht? Dann werden Sie es später hören, wenn ich mich schon im Abgrunde befinden werde. Schauen Sie mich an, denken Sie sich in mein Leben hinein. Können Sie mich denn lieben, lieben Sie mich denn? ›Ich liebe, ich liebe, ich liebe!‹ haben Sie gestern gesagt. Nein, nein, nein! antworte ich überzeugt. Sie lieben mich nicht, aber Sie lügen nicht – beeile ich mich hinzuzufügen –, Sie betrügen mich nicht; Sie können nicht ja sagen, wenn in Ihnen ein ›Nein‹ erklingt. Ich will Ihnen nur beweisen, daß Ihr jetziges ›ich liebe‹ keine wahre Liebe ist, sondern eine zukünftige; das ist nur ein unbewußtes Bedürfnis zu lieben, das in Ermangelung von wirklicher Nahrung, von echtem Feuer als ein falsches Licht ohne Wärme brennt, das sich bei manchen Frauen in Zärtlichkeit Kindern gegenüber oder einfach in Tränen oder hysterischen Anfällen äußert. Ich hätte Ihnen gleich am Anfange streng sagen sollen: Sie haben sich geirrt; vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet und von dem Sie geträumt haben. Warten Sie, er wird kommen, und dann werden Sie erwachen. Sie werden sich Ihres Irrtums schämen und sich darüber ärgern, und mir wird dieser Ärger und diese Scham weh tun – das hätte ich Ihnen sagen sollen, wenn ich von Natur aus weitsichtiger und mutiger und endlich aufrichtiger wäre ... Ich habe es Ihnen gesagt, aber Sie werden sich noch erinnern wie: mit Angst, Sie könnten es glauben und es könnte eintreffen; ich habe Ihnen im voraus alles gesagt, was Ihnen später die andern sagen könnten, um Sie darauf vorzubereiten, nicht zuzuhören und nicht zu glauben, und dabei habe ich mich beeilt, Sie zu sehen und gedacht: ›Wer weiß, wann der andere kommt, vorläufig bin ich glücklich.‹ So ist die Logik der Liebe und der Leidenschaften! Jetzt denke ich schon anders. Was wird sein, wenn ich mich an Sie gewöhnen werde, wenn es für mich nicht mehr ein Luxus, sondern eine Notwendigkeit sein wird, Sie zu sehen, wenn die Liebe sich an mein Herz festkrallen wird (es ist kein Zufall, daß ich darin eine Verhärtung fühle)? Wie soll ich mich denn losreißen? Wie werde ich dann diesen Schmerz überleben? Wie wird es mir dann zumute sein? Ich kann schon jetzt nicht ohne Entsetzen daran denken. Wenn sie älter wären und mehr Erfahrung hätten, würde ich mein Glück segnen und Ihnen für immer die Hand reichen. Aber so ... Warum schreibe ich denn? Warum bin ich denn nicht einfach Ihnen sagen gekommen, daß der Wunsch, Sie zu sehen, in mir mit jedem Tage wächst, daß ich Sie aber nicht sehen darf? Urteilen Sie selbst, ob mein Mut ausreichen würde, Ihnen das ins Gesicht zu sagen! Ich will Ihnen ja manchmal etwas Ähnliches sagen, ich sage aber etwas ganz anderes. Vielleicht würde sich über Ihr Gesicht Traurigkeit ausbreiten (wenn es wahr ist, daß Sie sich mit mir nicht gelangweilt haben) oder Sie hätten meine guten Absichten nicht verstanden und wären beleidigt. Ich würde weder das eine noch das andere ertragen haben, würde wieder etwas ganz anderes gesagt haben, und meine ehrlichen Vorsätze würden zerstieben und mit der Verabredung, uns am nächsten Tage zu treffen, enden. Jetzt, ohne Sie, ist es ganz anders. Ich sehe Ihre sanften Augen und Ihr gutes, anmutiges Gesichtchen nicht vor mir; das Papier duldet alles und schweigt, und ich schreibe ruhig (ich lüge): wir werden uns nicht mehr sehen (ich lüge nicht). Ein anderer hätte hinzugefügt: ich schreibe und ströme vor Tränen über, doch ich posiere vor Ihnen nicht und schmücke mich nicht mit meiner Trauer, denn ich will den Schmerz nicht verstärken, das Mitleid und die Trauer nicht noch verschärfen. Diese Pose birgt in sich gewöhnlich die Absicht, im Boden des Gefühles tiefer Wurzel zu fassen, während ich sowohl in Ihnen als in mir dessen Keim ersticken will. Die Tränen ziemen auch nur entweder Verführern, welche die unbedachte Eitelkeit der Frauen mit Phrasen ködern wollen, oder sentimentalen Träumern. Ich sage das, indem ich mich von Ihnen wie von einem guten Freunde verabschiede, dem man bei Antritt einer weiten Reise das Geleite gibt. In drei Wochen, in einem Monate wäre es zu spät, zu schwer. Die Liebe macht unglaubliche Fortschritte, das ist ein seelischer Brand. Ich bin auch jetzt gar nicht mehr wiederzuerkennen, rechne nicht mehr nach Stunden und Tagen, nach Sonnenaufgang und -untergang, sondern danach, ob ich Sie gesehen habe oder nicht, ob ich Sie sehen werde oder nicht, ob Sie gekommen sind oder nicht, und ob Sie kommen werden ... Das alles steht der Jugend gut, die angenehme oder unangenehme Erregungen leicht erträgt; und mir ziemt Ruhe, wenn sie auch langweilig und schläfrig ist, doch sie ist mir vertraut, und mit Stürmen werde ich nicht fertig. Viele würden sich über meine Handlung wundern. Warum flieht er? sagen sie; andere werden mich auslachen, ich bin auch darauf gefaßt. Wenn ich einmal entschlossen bin, Sie nicht mehr zu sehen, bin ich zu allem bereit. Mich tröstet in meiner tiefen Trauer der Gedanke, daß diese kurze Episode unseres Lebens mir für immer eine so reine, duftige Erinnerung zurücklassen wird, daß sie allein ausreichen wird, mich nicht in den früheren Schlaf der Seele zurücksinken zu lassen, und Ihnen wird sie, ohne Ihnen zu schaden, als Leitfaden in Ihrer künftigen, normalen Liebe dienen. Leben Sie wohl, Sie Engel, fliegen Sie schnell fort, wie ein erschreckter Vogel vom Zweige fortfliegt, auf den er sich irrtümlich gesetzt hat, ebenso leicht, frisch und lustig wie er.« Oblomow schrieb voll Begeisterung; die Feder flog über die Seiten hin. Seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten. Der Brief wurde lang wie alle Liebesbriefe; die Liebenden sind furchtbar geschwätzig. Seltsam! Jetzt ist es mir nicht mehr traurig und schwer ums Herz, dachte er, ich bin beinahe glücklich ... Warum? Wahrscheinlich, weil ich die Last von meiner Seele in den Brief hineingelegt habe. Er las nochmals den Brief, legte ihn zusammen und versiegelte ihn. »Sachar!« sagte er, »wenn der Diener kommt, gib ihm diesen Brief für das Fräulein mit.« »Zu Befehl!« sagte Sachar. Oblomow war tatsächlich fast fröhlich geworden. Er zog die Füße auf das Sofa hinauf und fragte sogar, ob etwas zum Frühstück da wäre. Er aß zwei Eier und rauchte eine Zigarre an. Sein Herz und sein Kopf arbeiteten, er lebte. Er stellte sich vor, wie Oljga den Brief erhalten, wie sie erstaunen und was für ein Gesicht sie beim Lesen machen würde. Was würde dann sein? ... Er genoß die Perspektive dieses Tages, das Neue in der Situation ... Er lauschte mit Herzklopfen dem Knarren der Türe, ob der Diener nicht schon da war und ob Oljga nicht schon den Brief las ... Nein, im Vorzimmer war alles still. Was hat das zu bedeuten? dachte er unruhig – niemand war da; wieso denn? Eine heimliche Stimme flüsterte ihm gleich zu: »Warum beunruhigst du dich? Das ist ja gerade recht, wenn du jeden Verkehr abbrechen willst!« Doch er erstickte diese Stimme. Nach einer halben Stunde war es ihm gelungen, Sachar, der mit einem Kutscher auf dem Hofe saß, ins Zimmer zu rufen. »War niemand da?« fragte er. »Es war jemand da!« antwortete Sachar. »Und was hast du gesagt?« »Ich hab' gesagt, daß Sie nicht da sind, daß Sie in die Stadt gefahren sind.« Oblomow öffnete weit die Augen. »Warum hast du denn das gesagt?« fragte er. »Was habe ich dir zu sagen befohlen, wenn der Diener kommt?« »Es war ja nicht der Diener da, sondern das Stubenmädchen,« antwortete Sachar mit unerschütterlichem Gleichmut. »Und hast du den Brief abgegeben?« »Nein. Sie haben ja befohlen, erst zu sagen, daß Sie nicht zu Hause sind, und dann den Brief abzugeben. Wenn der Diener kommt, gebe ich ihm den Brief.« »Nein, nein, du ... du bist einfach ein Mörder! Wo ist der Brief? Gib ihn her!« Sachar brachte den Brief, der schon ziemlich verschmiert war. »Wasch dir deine Hände und nimm dich in acht!« sagte Oblomow zornig, auf einen Fleck hinweisend. »Ich habe reine Hände,« gab Sachar, zur Seite blickend, zur Antwort. »Anissja! Anissja!« rief Oblomow. Anissja steckte ihren halben Körper aus dem Vorzimmer herein. »Schau, was Sachar macht!« beklagte er sich bei ihr. »Da hast du den Brief und gib ihn dem Diener oder dem Stubenmädchen, die von Iljinskys kommen, sie möchten ihn dem Fräulein geben, hörst du?« »Ich höre, Väterchen. Geben Sie ihn mir, bitte, ich richte es schon aus.« Sowie sie aber ins Vorzimmer kam, riß ihr Sachar den Brief aus der Hand. »Geh, geh,« schrie er, »nimm deine Frauenzimmerarbeit vor!« Nach einiger Zeit kam das Stubenmädchen. Sachar machte ihr die Türe auf, und Anissja wollte unterdessen auf sie zugehen, doch Sachar blickte sie wütend an. »Was hast du hier zu suchen?« fragte er heiser. »Ich wollte nur zuhören, wie du ...« »Ruhig!« donnerte er, auf sie mit dem Ellbogen zielend, »du fängst auch an?« Sie lachte und ging, schaute aber aus dem Nebenzimmer zu, ob Sachar das, was der Herr angeordnet hatte, auch erfüllte. Als Ilja Iljitsch den Lärm hörte, lief er selbst hinaus. »Was willst du, Katja?« »Das Fräulein hat zu fragen befohlen, wohin Sie gefahren sind, und Sie sind ja gar nicht weggefahren, Sie sind ja zu Hause! Ich werde es dem Fräulein melden,« sagte sie und wollte fortlaufen. »Ich bin zu Hause. Der da lügt immer,« sagte Oblomow. »Da, gib dem Fräulein den Brief!« »Zu Befehl, ich trage ihn hin!« »Wo ist das Fräulein jetzt?« »Das Fräulein ist ins Dorf gegangen und hat mir zu übergeben befohlen, Sie möchten gegen zwei Uhr in den Garten kommen, wenn Sie mit dem Buche fertig sind.« Sie ging. Nein, ich gehe nicht ... wozu soll ich meine Gefühle aufreizen, wenn alles beendet sein muß? ... dachte Oblomow, die Richtung nach dem Dorfe einschlagend. Er sah aus der Ferne, wie Oljga über den Berg ging, wie Katja sie einholte und ihr den Brief gab; dann sah er, wie Oljga einen Augenblick stehenblieb, den Brief betrachtete, nachsann, dann Katja zunickte und in die Parkallee ging. Oblomow ging um den Berg herum, trat von der anderen Seite in die Allee, und als er sie bis zu ihrer Mitte durchschritten hatte, setzte er sich ins Gras zwischen das Gebüsch und wartete. Sie wird hier vorübergehen, dachte er, ich werde unbemerkt beobachten, was mit ihr ist, und entferne mich dann auf immer. Er erwartete klopfenden Herzens ihre Schritte. Nein, es war still. In der Natur herrschte reges Leben; um ihn herum wurde unsichtbar und unmerklich gearbeitet, während alles in feierlicher Ruhe dazuliegen schien. Unterdessen bewegte sich, kroch und wimmelte alles im Grase. Da laufen Ameisen geschäftig und eilig nach verschiedenen Seiten hin, sie stoßen aufeinander, weichen einander aus, eilen, genau so, wie wenn man von einer Höhe auf irgendeinen Markt der Menschen herabschaut; dieselben Haufen, dasselbe Gedränge, dasselbe Hin- und Herrennen des Volkes. Hier summt eine Hummel über eine Blume und kriecht in ihren Kelch hinein; dort umringt ein Fliegenschwarm einen Tropfen, der aus der Ritze einer Linde hervorgequollen ist; jetzt wiederholt ein Vogel irgendwo vom Dickicht immer denselben Ton, er ruft vielleicht einen andern. Hier eilen zwei Schmetterlinge, nebeneinander wie im Walzer durch die Luft schwirrend, an den Baumstämmen vorbei. Das Gras duftet stark; aus ihm ertönt ein unaufhörliches Zirpen ... Was hier für ein Trubel ist! dachte Oblomow, der ununterbrochenen Bewegung folgend und den einzelnen Geräuschen der Natur lauschend: und von außen ist alles so still und ruhig! ... Es waren noch immer keine Schritte zu hören. Endlich, jetzt ... »Ach!« seufzte Oblomow, die Zweige leise auseinanderschiebend. »Sie ist es, sie ... Was ist das? Sie weint! O Gott!« Oljga ging langsam und wischte sich mit dem Tuch die Tränen ab; aber sowie sie sie getrocknet hatte, erschienen neue. Sie schämte sich, verschluckte sie, wollte sie sogar vor den Bäumen verbergen, es gelang ihr aber nicht. Oblomow hatte Oljga noch nie weinen gesehen; er hatte ihre Tränen nicht erwartet, und sie verbrannten ihn gleichsam, aber so, daß es ihm dabei nicht heiß, sondern warm wurde. Er folgte ihr schnell. »Oljga, Oljga!« sagte er zärtlich ihr folgend. Sie fuhr zusammen, schaute sich um, blickte ihn erstaunt an, wandte sich dann um und ging weiter. Er schritt neben ihr her. »Sie weinen!« sagte er. Ihre Tränen strömten noch heftiger, sie konnte sie nicht mehr zurückhalten, preßte sich das Tuch ans Gesicht, brach in Schluchzen aus und setzte sich auf die Bank, die sie fand. »Was hab' ich getan!« flüsterte er entsetzt, indem er ihre Hand ergriff und sie vom Gesicht fortreißen wollte. »Lassen Sie mich,« sagte sie, »gehen Sie! Warum sind Sie hier? Ich weiß, daß ich nicht weinen darf, weswegen denn? Sie haben recht; ja, alles kann vorkommen.« »Was soll ich denn tun, damit diese Tränen aufhören?« fragte er, vor ihr niederkniend, »sprechen Sie, befehlen Sie, ich bin zu allem bereit ...« »Sie haben meine Tränen verursacht, und es steht nicht in Ihrer Macht, sie zu stillen ... Sie sind nicht so stark! Lassen Sie mich!« sagte sie, sich mit dem Tuch das Gesicht fächelnd. Er sah sie an und überschüttete sich im Geiste mit Verwünschungen. »Der unglückselige Brief!« sprach er voll Reue. Sie öffnete ihren Arbeitskorb, nahm den Brief heraus und reichte ihn ihm. »Nehmen Sie,« sagte sie, »und tragen Sie ihn fort, damit ich nicht noch länger weinen muß, wenn ich ihn sehe.« Er versteckte ihn schweigend in die Tasche und saß mit gesenktem Kopf da. »Sie werden wenigstens meinen Absichten Gerechtigkeit widerfahren lassen, Oljga?« sprach er leise, »das ist ein Beweis, wie teuer mir Ihr Glück ist.« »Ja, sehr teuer!« sagte sie seufzend. »Nein, Ilja Iljitsch, Sie haben es mir wahrscheinlich nicht gegönnt, daß ich ein so stilles Glück genoß, und Sie haben sich beeilt, dieses Glück zu trüben.« »Zu trüben! Sie haben also meinen Brief nicht gelesen? Ich werde ihn wiederholen ...« »Ich habe ihn nicht zu Ende gelesen, weil meine Augen sich mit Tränen gefüllt haben; ich bin noch so dumm! Ich habe aber das übrige erraten; wiederholen Sie nicht, damit ich nicht mehr zu weinen brauche.« Die Tränen tropften wieder herab. »Sage ich mich denn nicht deshalb von Ihnen los,« begann er, »weil ich Ihr Glück in der Zukunft sehe und mich ihm zum Opfer bringe? ... Tue ich es denn ruhig? Weint denn nicht alles in mir? Warum tue ich es denn?« »Warum?« wiederholte sie, hörte plötzlich zu weinen auf und wandte sich zu ihm um, »aus demselben Grunde, aus dem Sie sich jetzt ins Gebüsch versteckt haben; um zu sehen, ob ich weinen werde und wie ich es tue, darum! Wenn Sie aufrichtig das wollten, was im Briefe steht, wenn Sie überzeugt wären, daß wir uns trennen müssen, würden Sie ins Ausland reisen, ohne mich wiedergesehen zu haben.« »Welch ein Gedanke ...!« sagte er vorwurfsvoll, sprach aber nicht weiter. Diese Voraussetzung machte ihn stutzig, denn es wurde ihm plötzlich klar, daß sie recht hatte. »Ja,« wiederholte sie, »gestern haben Sie mein ›ich liebe‹ verlangt, heute wollen Sie meine Tränen sehen, und morgen werden Sie vielleicht zu sehen wünschen, wie ich sterbe.« »Oljga, wie können Sie mich so kränken! Glauben Sie mir denn nicht, daß ich jetzt das halbe Leben dafür geben würde, um Ihr Lachen zu hören und Ihre Tränen nicht zu sehen ...« »Ja, vielleicht jetzt, da Sie schon gesehen haben, wie ein Weib um Sie weint ... Nein,« fügte sie hinzu, »Sie haben kein Herz. Sie sagen, daß Sie meine Tränen nicht wollten; dann hätten Sie aber anders gehandelt ...« »Habe ich es denn gewußt?!« rief er mit fragender Stimme aus und legte sich beide Handflächen auf die Brust. »Das Herz hat, wenn es liebt, seinen eigenen Verstand,« entgegnete sie, »es weiß, was es will, und weiß im voraus, was sein wird. Ich habe gestern nicht herkommen können; zu uns sind plötzlich Gäste gekommen, aber ich wußte, daß Sie sich in Erwartung abquälen und vielleicht schlecht schlafen würden; ich bin gekommen, weil ich nicht wollte, daß Sie sich quälen ... Und Sie ... Sie belustigt es, wenn ich weine. Schauen Sie, schauen Sie, genießen Sie! ...« Sie weinte wieder. »Ich habe auch wirklich so schlecht geschlafen, Oljga; ich habe mich in der Nacht abgequält ...« »Und es hat Ihnen leid getan, daß ich gut geschlafen und mich nicht gequält habe – nicht wahr? Wenn ich jetzt nicht geweint hätte, würden Sie heute schlecht schlafen.« »Was soll ich denn jetzt tun, um Verzeihung bitten?« sagte er mit demütiger Zärtlichkeit. »Um Verzeihung bitten Kinder oder Menschen, die in der Volksmenge jemand auf den Fuß treten, hier hilft das aber nicht,« sagte sie, sich wieder mit dem Tuch das Gesicht fächelnd. »Wenn es aber wahr ist, Oljga, wenn mein Gedanke richtig ist und Ihre Liebe auf einem Irrtum beruht? Wenn Sie einen anderen lieben und dann bei meinem Anblick erröten werden ...« »Und wenn?« fragte sie, ihn so tief ironisch und durchdringend anblickend, daß er verlegen wurde. Sie will etwas aus mir herausbekommen! dachte er, gib acht, Ilja Iljitsch! »Wieso ›und wenn‹!« wiederholte er mechanisch, sie unruhig anblickend, und konnte nicht erraten, was für ein Gedanke sich in ihrem Kopf gestaltete und wie sie ihr ›und wenn‹ rechtfertigen würde, da es doch augenscheinlich war, daß diese Liebe, wenn sie auf einem Irrtum beruhte, nicht zu rechtfertigen war. Sie blickte ihn so sicher und ruhig an und schien ihren Gedanken so zu beherrschen. »Sie fürchten sich,« entgegnete sie spitz, »›in die Tiefe des Abgrundes zu stürzen‹; Sie fürchten die künftige Kränkung, die ich Ihnen, wenn ich Sie zu lieben aufhöre, zufügen werde! ... ›Wie wird es mir dann zumute sein?‹ schreiben Sie ...« Er begriff immer noch nicht. »Es wird mir ja dann gut gehen, wenn ich einen anderen liebe; ich werde also glücklich sein! Und Sie sagen, daß Sie mein Glück in der Zukunft voraussehen und bereit sind, für mich alles, selbst das Leben, zu opfern?« Er sah sie forschend an und blinzelte seltsam und langsam. »Also da wollte sie hinaus!« flüsterte er, »ich muß gestehen, das habe ich nicht erwartet ...« Und sie musterte ihn so spöttisch vom Kopf bis zu den Füßen. »Und das Glück, das Sie wahnsinnig macht?« fuhr sie fort, »die Morgen und Abende, dieser Park und mein ›ich liebe‹, ist das alles nichts wert, verdient es kein Opfer, keinen Schmerz?« Ach, wenn ich in die Erde sinken könnte! dachte er, sich innerlich immer mehr quälend, je klarer ihm Oljgas Gedanke wurde. »Und wenn,« fragte sie leidenschaftlich, »diese Liebe Sie ermüdet, wie die Bücher, das Amt und die Gesellschaft Sie ermüdet haben; wenn Sie mit der Zeit, ohne daß meine Nebenbuhlerin, ohne daß eine andere Liebe kommt, plötzlich neben mir wie auf Ihrem Sofa einschlafen und meine Stimme Sie nicht erweckt; wenn die Geschwulst an Ihrem Herzen vergeht, wenn nicht einmal eine andere Frau, sondern der Schlafrock Ihnen teurer ist? ...« »Oljga, das ist unmöglich!« unterbrach er sie mißmutig und rückte von ihr fort. »Warum ist das unmöglich? Sie sagen, daß ich mich irre, daß ich einen anderen lieben werde. Und was dann? Wie werde ich mich davon, was ich dann tue, freisprechen? Was werde ich nicht den Menschen oder der Welt, sondern mir selbst sagen? ... Auch ich schlafe manchmal deswegen nicht, ich quäle Sie aber nicht mit Vermutungen über die Zukunft, denn ich glaube daran, daß es besser wird. Bei mir überwiegt das Glück, nicht die Furcht. Ich halte es für etwas wert, wenn ich Ihre Augen leuchten mache, wenn Sie auf die Hügel steigen, um mich zu suchen, wenn Sie Ihre Trägheit vergessen und in der Hitze meinetwegen in die Stadt eilen, um ein Buch oder Blumen zu holen; wenn ich sehe, daß ich Sie lächeln und das Leben lieben gemacht habe ... Ich warte nur auf eines und suche nur eines – das Glück, und glaube, daß ich es gefunden habe. Wenn ich mich irre, wenn es wahr ist, daß ich meines Irrtums wegen weinen werde, fühle ich wenigstens hier (sie legte sich die Hand aufs Herz), daß ich keine Schuld daran habe; das Schicksal hat es wohl so gewollt, und Gott hat es mir nicht anders gegeben. Doch ich fürchte die künftigen Tränen nicht; ich werde nicht vergeblich weinen; ich habe dafür etwas gehabt ... Ich war ja so glücklich! ...« fügte sie hinzu. »Sie sollen wieder glücklich sein!« flehte Oblomow. »Und Sie sehen nur Düsteres vor sich; Ihnen ist das Glück nichts wert ... Das ist undankbar,« fuhr er fort, »das ist keine Liebe, das ist ...« »Egoismus!« sprach Oblomow zu Ende und wagte es nicht, Oljga anzublicken, zu sprechen und um Verzeihung zu bitten. »Gehen Sie,« sagte sie leise, »wohin Sie gehen wollten.« Er blickte sie an. Ihre Augen waren trocken. Sie blickte sinnend nach unten und zeichnete mit dem Schirm im Sande. »Legen Sie sich wieder auf den Rücken,« fügte sie hinzu, »dann irren Sie sich nicht und stürzen nicht in die Tiefe des Abgrundes.« »Ich habe Sie und mich vergiftet, anstatt einfach und unbefangen glücklich zu sein ...« murmelte er reuevoll. »Trinken Sie Kwaß, dann vergiften Sie sich nicht,« spottete sie. »Oljga! Das ist nicht edelmütig,« sagte er, »nachdem ich mich selbst mit dem Bewußtsein gefoltert habe ...« »Ja, in Worten foltern Sie sich, stürzen Sie sich in Abgründe, wollen Ihr halbes Leben hergeben, und dann kommt ein Zweifel, eine schlaflose Nacht. Wie zärtlich und besorgt werden Sie dann sich selbst gegenüber, wie weitsichtig sind Sie dann! ...« Wie wahr und wie einfach das ist! dachte Oblomow, schämte sich aber, es laut zu sagen. Warum hatte er sich das nicht selbst klargemacht, warum mußte das eine Frau, die erst zu leben begann, tun? Und wie schnell sie gereift ist; sie hat noch vor kurzem ganz wie ein Kind ausgesehen! »Wir haben uns nichts mehr zu sagen,« schloß sie aufstehend, »leben Sie wohl, Ilja Iljitsch, und seien Sie ... ruhig; darin besteht ja Ihr Glück.« »Oljga, nein, um Gottes willen, nein! Jagen Sie mich jetzt, da alles klar geworden ist, nicht fort ...« sagte er, ihre Hand ergreifend. »Was wollen Sie denn von mir? Sie zweifeln, ob meine Liebe zu Ihnen nicht ein Irrtum ist; ich kann Ihren Zweifel nicht verscheuchen; vielleicht ist sie ein Irrtum ... ich weiß es nicht ...« Er ließ ihre Hand los. Wieder war der Dolch auf ihn gezückt. »Wieso wissen Sie das nicht? Fühlen Sie es denn nicht?« fragte er wieder mit dem Ausdruck von Zweifel im Gesicht – »glauben Sie denn? ...« »Ich glaube nichts; ich habe Ihnen gestern gesagt, was ich fühle, ich weiß aber nicht, was in einem Jahre sein wird. Gibt es denn nach dem einen Glück ein zweites, dann ein drittes ebensolches?« fragte sie, ihn mit weit offenen Augen anblickend. »Sprechen Sie, Sie sind erfahrener als ich.« Doch er wollte sie in dieser Meinung nicht mehr bekräftigen und schwieg, mit der Hand einen Akazienbaum wiegend. »Nein, man liebt nur einmal,« wiederholte er wie ein Schulknabe den auswendig gelernten Satz. »Sehen Sie; auch ich glaube daran,« fügte sie hinzu. »Wenn es aber nicht so ist, werde ich Sie vielleicht einmal nicht mehr lieben, und mein Irrtum wird sowohl mir als Ihnen weh tun; wir werden uns dann vielleicht trennen! ... Zwei-, dreimal lieben ... nein, nein ... Ich will daran nicht glauben!« Er seufzte. Dieses »vielleicht« schnitt ihm ins Herz, und er schlich ihr sinnend nach. Doch es wurde ihm mit jedem Schritt leichter ums Herz; aller Irrtum, den er sich in der Nacht ausgedacht hatte, lag in so ferner Zukunft ... Nicht die Liebe allein, sondern das ganze Leben ist ja so ... fiel es ihm plötzlich ein; und wenn man jeden Zufall als einen Irrtum von sich stößt, wo bleibt dann das Wahre? Was ist denn mit mir? Bin ich denn blind ... »Oljga,« sagte er, ihre Taille leicht mit zwei Fingern berührend (sie blieb stehen), »Sie sind klüger als ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, einfacher und dreister. Wovor fürchten Sie sich? Glauben Sie denn ernstlich daran, daß man zu lieben aufhören kann?« fragte sie mit stolzer Gewißheit. »Jetzt fürchte ich mich auch nicht!« sagte er mutig. »Mit Ihnen ist für mich kein Schicksal schrecklich!« »Diese Worte habe ich unlängst irgendwo gelesen ... ich glaube bei Sue,« sagte sie ironisch, sich zu ihm umwendend, »aber dort sagt sie eine Frau zu ihrem Mann ...« Oblomow stieg das Blut ins Gesicht. »Oljga! Lassen Sie alles wieder wie gestern sein,« flehte er, »ich werde mich vor keinen ›Irrtümern‹ mehr fürchten.« Sie schwieg. »Ja?« fragte er schüchtern. Sie schwieg. »Nun, wenn Sie nicht sprechen wollen, dann geben Sie mir irgendein Zeichen ... einen Fliederzweig ...« »Der Flieder ist schon vorüber und verblüht,« antwortete sie. »Schauen Sie, wie er jetzt ist; ganz welk.« »Welk, verblüht!« wiederholte er, den Flieder anblickend. »Auch der Brief ist vorüber!« sagte er plötzlich. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Er folgte ihr und grübelte über den Brief, über das gestrige Glück und den verwelkten Flieder. Der Flieder welkt wirklich hin! dachte er. Wozu war dieser Brief? Warum habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und des Morgens geschrieben? Wie ruhig es mir jetzt wieder ums Herz ist ... (er gähnte) ... ich bin furchtbar schläfrig. Und wenn der Brief nicht wäre, wäre auch das alles nicht so gekommen; sie hätte nicht geweint und alles wäre wie gestern; wir würden hier still in der Allee sitzen, einander anblicken und von Glück sprechen. Und heute wäre es ebenso und auch morgen ... Er gähnte mit weit offenem Mund. Dann fiel es ihm ein, was wohl geschehen wäre, wenn der Brief sein Ziel erreicht hätte, wenn sie seinen Gedanken teilen und sich wie vor Irrtümern und entfernten künftigen Gewittern fürchten würde; wenn sie auf seine sogenannte Erfahrenheit und Vernunft gehört und eingewilligt hätte, sich von ihm zu trennen und ihn zu vergessen? O Gott! Er müßte dann Abschied nehmen und in die Stadt, in die neue Wohnung fahren! Dann würde auf diesen Tag eine lange Nacht, ein langweiliger Morgen, ein unerträgliches Übermorgen und eine Reihe immer farbloserer Tage folgen. Wie wäre das möglich? Das ist ja der Tod! Und es wäre so gekommen! Er wäre krank geworden. Er wollte ja gar keine Trennung, er hätte sie nicht ertragen, er wäre zu ihr gekommen und hätte sie angefleht zu bleiben. Warum habe ich denn den Brief geschrieben? fragte er sich. »Oljga Sjergejewna!« sagte er. »Was denn!« »Ich muß zu allen meinen Geständnissen noch eines hinzufügen ...« »Was für eins?« »Der Brief war ja ganz unnötig ...« »Das ist nicht wahr, er war unumgänglich notwendig.« Sie schaute sich um und lachte, als sie sah, was für ein Gesicht er machte, wie seine Schläfrigkeit plötzlich vorüberging und wie seine Augen sich vor Verwunderung öffneten. »Notwendig?« wiederholte er langsam, seinen erstaunten Blick auf ihren Rücken richtend. Doch er sah darauf nur die beiden Quasten ihrer Mantille. Was bedeuten dann diese Tränen und Vorwürfe? Ist denn das eine List? Aber Oljga war nicht listig; das sah er deutlich. Nur mehr oder weniger beschränkte Frauen wenden solche Mittel an. Sie arbeiten in Ermangelung eines geraden Verstandes mit den Triebfedern des alltäglichen, kleinlichen Lebens, sie häkeln mit Zuhilfenahme von List ihre häusliche Politik wie Spitzen, ohne zu bemerken, welche Richtung um sie herum die Hauptlinien des Lebens verfolgen, wohin sie sich wenden und wo sie sich kreuzen. Die List ist dasselbe wie kleine Münze, für die man sich nicht viel kaufen kann. Ebenso wie diese ausreicht, um eine oder zwei Stunden zu leben, so kann man auch mit der List hier etwas vertuschen, dort betrügen und ändern; sie reicht aber nicht aus, um einen ganzen Horizont zu überblicken und den Anfang und das Ende der großen Hauptereignisse zu verbinden. Die List ist kurzsichtig; sie sieht nur das gut, was dicht vor ihrer Nase ist, sie schaut aber nicht in die Ferne und kommt dadurch oft in dieselbe Falle, die sie anderen aufgestellt hat. Oljga ist einfach klug; zum Beispiel wie einfach und leicht sie die heutige Frage gelöst hat, und sie hätte auch jede andere gelöst! Sie sieht gleich den Sinn des verborgenen Ereignisses und schreitet auf geradem Wege darauf zu. Und die List ist wie eine Maus; sie läuft ringsherum und versteckt sich ... Auch ist Oljgas Charakter ganz anders. Was ist denn das? Was hat sie? »Warum ist denn dieser Brief notwendig?« fragte er. »Warum?« wiederholte sie und wandte ihm rasch ihr fröhliches Gesicht zu, sich darüber freuend, daß sie ihn auf jedem Schritt stutzig zu machen verstand. »Darum,« begann sie dann langsam, »weil Sie die ganze Nacht nicht geschlafen haben und nur für mich geschrieben haben – ich bin auch eine Egoistin. Das erstens ...« »Warum haben Sie mir soeben Vorwürfe gemacht, wenn Sie jetzt selbst mit mir einverstanden sind?« unterbrach Oblomow sie. »Weil Sie das Quälen ersonnen haben. Ich hab' es nicht ausgedacht, es ist über mich gekommen, und ich freue mich darüber, daß es vorüber ist. Sie haben es aber vorbereitet und im vorhinein genossen. Sie sind boshaft, deswegen habe ich Ihnen Vorwürfe gemacht. Dann ... ist Ihr Brief von Gedanken und Gefühlen durchdrungen ... Sie haben diese Nacht nicht auf Ihre gewohnte Art, sondern so, wie Ihr Freund und ich es gewünscht hätten, verlebt – das ist zweitens; und endlich drittens ...« Sie trat an ihn so nahe heran, daß ihm das Blut ins Herz und in den Kopf stieg; er begann schwer und erregt zu atmen. Und sie blickte ihm gerade in die Augen. »Drittens, weil in diesem Brief wie in einem Spiegel Ihre ganze Zärtlichkeit, Ihre Vorsicht, Ihre Sorge um mich, Ihre Furcht für mein Glück, Ihr reines Gewissen zu sehen sind ... Alles, was Andrej Iwanowitsch mir von Ihnen gezeigt hat, und was ich liebgewonnen habe, um dessentwillen ich Ihre Trägheit und Apathie vergesse ... Sie haben sich da gegen Ihr Wollen ausgesprochen, Sie sind kein Egoist, Ilja Iljitsch, Sie haben gar nicht deswegen geschrieben, um sich von mir zu trennen – das wollten Sie gar nicht, sondern weil Sie mich zu betrügen fürchteten ... Ihre Ehrlichkeit hat darin gesprochen, sonst hätte der Brief mich gekränkt, und ich würde nicht vor Stolz geweint haben. Sehen Sie, ich weiß, wofür ich Sie liebe, und fürchte mich vor keinem Irrtum; ich habe mich in Ihnen nicht geirrt ...« Sie erschien Oblomow, während sie das sagte, in einem Glanz und Leuchten. Ihre Augen flammten im Triumph der Liebe und dem Bewußtsein ihrer Macht auf; auf den Wangen blühten die beiden rosigen Flecken. Und er, er war die Ursache all dessen! Er hatte durch eine einzige Regung seines ehrlichen Herzens dieses Feuer, dieses Sprühen und Leuchten in ihrer Seele entzündet. »Oljga! Sie sind ... die beste der Frauen, Sie sind die bedeutendste Frau der Welt!« sagte er entzückt, breitete die Arme aus und beugte sich hingerissen zu ihr hin. »Um Gottes willen ... einen einzigen Kuß, als Pfand des unbeschreiblichen Glückes ...« flüsterte er wie im Fieber. Sie trat augenblicklich um einen Schritt zurück; das feierliche Leuchten und die Farben verschwanden von ihrem Gesicht; die sanften Augen schleuderten Blitze. »Nie! Nie! Kommen Sie nicht näher,« sagte sie erschrocken und fast entsetzt, beide Hände und den Schirm zwischen ihn und sich haltend, und blieb wie erstarrt und versteinert, ohne zu atmen, in einer drohenden Stellung und mit drohendem Blick halb abgewendet stehen. Er beruhigte sich plötzlich; vor ihm stand nicht die sanfte Oljga, sondern die gekränkte Göttin des Stolzes und Zornes, mit aufeinandergepreßten Lippen und flammenden Augen. »Verzeihung! ...« flüsterte er verlegen und vernichtet. Sie wandte sich langsam um und ging weiter, indem sie ängstlich über die Schulter zu ihm hinüberschielte. Er unternahm aber nichts; er ging langsam, wie ein Hund, der seinen Schweif hängen läßt, nachdem man ihn gescholten hat. Sie wollte ihren Schritt beschleunigen; als sie aber sein Gesicht sah, unterdrückte sie ein Lächeln und ging ruhiger, zitterte nur ab und zu. Der rosige Fleck erschien auf der einen Wange, verschwand und erschien dann auf der zweiten. Je weiter sie ging, desto heller wurde ihr Gesicht, desto seltener und ruhiger atmete sie, und sie machte wieder gleichmäßige Schritte. Sie sah, wie heilig ihr »Nie!« für Oblomow war; ihr Zorn legte sich allmählich und machte dem Mitleid Platz. Sie ging immer langsamer und langsamer ... Sie wollte ihre Zurückweisung mildern; sie suchte nach einem Vorwande, ihn anzureden. Ich habe alles verhunzt! Jetzt habe ich den größten Fehler begangen! Nie! O Gott! Der Flieder ist verwelkt! dachte er, auf die herabhängenden Zweige blickend. Das Gestern und auch der Brief sind verblaßt, und dieser Augenblick, der schönste meines Lebens, da eine Frau mir gleich einer Stimme vom Himmel zum ersten Male gesagt hat, was es in mir Gutes gibt, ist auch verblaßt ... Er blickte Oljga an – sie stand und wartete mit gesenkten Augen auf ihn. »Geben Sie mir den Brief! ...« sagte sie leise. »Er ist verblaßt!« antwortete er traurig, ihr den Brief reichend. Sie ging wieder nahe an ihn heran und neigte den Kopf noch mehr; ihre Lider waren ganz gesenkt ... Sie zitterte fast. Er gab den Brief zurück; sie hob den Kopf nicht und trat nicht zurück. »Sie haben mich erschreckt,« fügte sie sanft hinzu. »Verzeihen Sie, Oljga,« murmelte er. Sie schwieg. »Dieses zornige ›Nie!‹ ...« sagte er traurig und seufzte. »Wird verblassen!« flüsterte sie kaum hörbar und errötete. Sie warf ihm einen verschämten, freundlichen Blick zu, faßte seine beiden Hände, preßte sie fest zwischen den ihrigen zusammen und legte sie auf ihr Herz. »Hören Sie, wie es klopft!« sagte sie; »Sie haben mich erschreckt! Lassen Sie mich fort!« Und sie wandte sich, ohne ihn anzublicken, um und lief über den Weg hin, indem sie das Kleid vorne ein wenig aufhob. »Wohin eilen Sie?« fragte er. »Ich bin müde und kann Sie nicht einholen ...« »Lassen Sie mich. Ich laufe singen, singen, singen! ...« sagte sie mit glühendem Gesicht. »Mir ist die Brust benommen, sie tut mir fast weh!« Er blieb stehen und blickte ihr lange wie einem fortfliegenden Engel nach. »Ist's denn möglich, daß auch dieser Augenblick verblassen wird?« fragte er fast traurig und fühlte selbst nicht, ob er ging oder auf demselben Fleck stand. Der Flieder ist verwelkt! dachte er, das Gestern ist vorüber und auch die Nacht mit ihren Gespenstern und dem Alpdrücken ist vorüber ... Ja! Und dieser Augenblick wird wie der Flieder verblassen! Aber während die heutige Nacht vorüberging, blühte schon der jetzige Morgen auf ... »Was ist denn das?« sagte er laut und verloren; – und auch die Liebe ... die Liebe! Und ich dachte, sie schwebte wie ein heißer Mittag über den Liebenden, und nichts bewegte sich, nichts atmete in ihrer Atmosphäre; es ist aber auch in der Liebe keine Ruhe, auch sie verändert sich immer, bewegt sich immer und immer nach vorwärts ... »wie das ganze Leben!« pflegte Stolz zu sagen. Und der Josua, der ihr zugerufen hätte: »Bleibe stehen und bewege dich nicht!« ist noch nicht auf die Welt gekommen! Was wird morgen sein? fragte er sich angstvoll, und er ging sinnend und träge nach Hause. Als er an Oljgas Fenstern vorbeischritt, hörte er, wie ihre beengte Brust sich in Schuberts Liedern Luft machte, als schluchzte sie vor Glück. Mein Gott! Wie schön ist es auf Erden zu leben! Elftes Kapitel Elftes Kapitel Oblomow fand zu Hause einen Brief von Stolz vor, der mit den Worten »Jetzt oder nie!« begann und schloß; darin wurde ihm seine Unbeweglichkeit vorgeworfen; er wurde eingeladen, durchaus in die Schweiz zu kommen, wohin Stolz zu reisen beabsichtigte, und sich zum Schlusse in Italien aufzuhalten. Wenn Oblomow damit nicht einverstanden wäre, sollte er aufs Gut fahren, seine Angelegenheiten regeln, die Bauern aus ihrer Trägheit aufrütteln, seine Einkünfte kontrollieren und bestimmen und während seiner Anwesenheit den Bau des neuen Hauses anordnen. »Denke an unsern Vertrag. Jetzt oder nie!« schloß er. »Jetzt, jetzt, jetzt!« wiederholte Oblomow. »Andrej weiß nicht, welch ein Poem sich in meinem Leben abspielt. Was für eine Arbeit will er denn noch? Kann ich denn jemals durch irgend etwas anderes so beschäftigt sein? Er sollte es einmal probieren! Man liest von den Franzosen und Engländern, daß sie immer arbeiten, daß sie immer ans Arbeiten denken! Und dabei durchreisen sie ganz Europa und manche von ihnen sogar Asien und Afrika, ohne irgend etwas zu tun, nur um ein Album vollzumalen oder Altertümer auszugraben, um Löwen zu schießen oder Schlangen zu fangen. Oder sie sitzen, sich dem edlen Nichtstun ergebend, zu Hause, frühstücken und dinieren mit Freunden und Frauen – das ist das Ganze! Was bin denn ich für ein Zuchthäusler? Andrej hat sich nur ausgedacht: ›Arbeite und arbeite wie ein Pferd!‹ Wozu? Ich bin satt und habe was anzuziehen. Aber Oljga hat wieder gefragt, ob ich nicht vorhabe, nach Oblomowka zu fahren! ...« Er begann zu schreiben und nachzudenken und fuhr sogar zum Architekten hin. Bald lag auf seinem kleinen Tisch ein Plan des Hauses und des Gartens. Das war ein geräumiges Familienhaus mit zwei Balkons. Hier bin ich, hier ist Oljga, hier ist das Schlafzimmer, das Kinderzimmer ... dachte er lächelnd. Aber die Bauern, die Bauern ... Das Lächeln verschwand und seine Stirn furchte sich vor Sorge. Der Nachbar schreibt mir über alle Details, spricht vom Pflügen und Dreschen ... Wie langweilig das ist! Außerdem schlägt er vor, auf gemeinschaftliche Rechnung eine Straße in den großen Marktflecken zu bahnen, den Fluß zu überbrücken, bittet mich um dreitausend und will, ich soll Oblomowka verpfänden ... Und woher weiß ich denn, ob das notwendig ist? Ob dabei was herauskommt? Ob er mich nicht betrügt? ... Er ist zwar ein ehrlicher Mensch; Stolz kennt ihn, aber auch er kann sich ja irren, und mein Geld ist dann verloren! Dreitausend – ein solcher Haufen Geld; wo soll ich es hernehmen? Nein, ich fürchte mich! Dann schreibt er noch, ich soll einige Bauern auf das unbebaute Land übersiedeln lassen, und verlangt baldige Antwort – alles soll so schnell gehen! Er übernimmt es, alle Dokumente, die zur Verpfändung des Gutes erforderlich sind, dem Kuratorium einzusenden. Wenn ich ihm die Vollmacht hinschicken will, muß ich sie mir von den Behörden bestätigen lassen – was er von mir alles verlangt! Und ich weiß nicht einmal, wo sich dieses Departement befindet und wie man dort die Tür aufmacht. Es waren schon zwei Wochen vergangen und Oblomow antwortete ihm noch immer nicht; sogar Oljga fragte ihn, ob er schon bei den Behörden war. Vor kurzem hatte Stolz einen Brief an ihn und an sie zugleich geschickt und fragte darin, was er tue. Übrigens konnte Oljga die Tätigkeit ihres Freundes nur oberflächlich in der für sie zugänglichen Sphäre kontrollieren. Ob er frisch aussah, gerne überall mitfuhr, zur verabredeten Stunde im Haine erschien, ob ihn die Stadtneuigkeiten und ein allgemeines Gespräch interessierten. Am eifrigsten beobachtete sie, ob er nicht das Hauptziel seines Lebens aus dem Auge verlor. Wenn sie ihn über die Behörden ausfragte, geschah es nur, um Stolz über die Angelegenheiten seines Freundes zu schreiben. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht; es war Ende Juli; das Wetter war herrlich. Oblomow trennte sich fast gar nicht von Oljga. An klaren Tagen war er im Park, um die heiße Mittagsstunde suchte er mit ihr im Haine unter den Fichten Zuflucht, saß zu ihren Füßen und las ihr vor; sie stickte schon an einem anderen Kanevasstreifen – für ihn. Auch bei ihnen herrschte heißer Sommer; manchmal sammelten sich Wolken und verzogen sich dann. Wenn ihn schwere Träume bedrückten und Zweifel ans Herz pochten, stand Oljga wie ein Engel auf der Wache; sie brauchte ihm nur mit den hellen Augen ins Gesicht zu blicken und herauszubekommen, was er auf dem Herzen hatte – und alles beruhigte sich wieder in ihm, und ihre Liebe glitt rhythmisch wie ein Fluß dahin und spiegelte die sich stets neugestaltenden Gebilde des Himmels wider. Oljgas Ansichten über das Leben, über die Liebe, über alles, wurden noch klarer und bestimmter. Sie blickte sicherer als früher um sich und ließ sich durch die Zukunft nicht einschüchtern; in ihr entwickelten sich neue Seiten des Verstandes und neue Charakterzüge. Ihr Wesen äußerte sich bald in poetischer Vielfältigkeit und Tiefe, bald regelmäßig, klar, ruhig und natürlich ... Sie besaß eine Beharrlichkeit, welche nicht nur das Schicksal, sondern sogar Oblomows Apathie und Trägheit bekämpfte. Sowie sie nur einen Vorsatz gefaßt hatte, begann sie mit aller Kraft zu arbeiten. Dann sprach sie von nichts anderem. Und wenn sie es nicht tat, sah man doch, daß sie nur an das eine dachte, daß sie es nicht vergaß, es nicht beiseite schob und sich nicht verwirren ließ, sondern sich alles überlegte und das, was sie suchte, auch erreichen würde. Er konnte nicht begreifen, wo sie diese Kraft, diesen Takt, zu erkennen und zu erfahren, wie alles zu tun war, hernahm, welches Ereignis auch eintreffen mochte. Das kommt daher, dachte er, weil die eine Braue bei ihr niemals gerade liegt, sondern sich immer ein wenig in die Höhe hebt, so daß darüber eine feine, kaum merkbare Falte liegt ... Dort, in dieser Falte, verbirgt sich ihre Beharrlichkeit. Wie ruhig und hell ihr Gesichtsausdruck auch sein mochte, glättete sich diese Falte doch nie, und die Braue legte sich nie gerade hin. Sie besaß aber keine äußere Kraft, keine schroffen Manieren und Anlagen. Die Energie in ihren Vorsätzen entfernte sie nicht auf einen Schritt aus der Sphäre der Weiblichkeit. Sie wollte nicht gefeiert sein, einen ungeschickten Verehrer mit schroffen Worten abweisen und den ganzen Salon durch die Beweglichkeit ihres Verstandes in Erstaunen setzen, damit jemand aus der Ecke »Bravo! Bravo!« rufen sollte. Sie besaß sogar die vielen Frauen eigene Schüchternheit; sie zitterte zwar nicht, wenn sie eine Maus sah, fiel nicht in Ohnmacht, wenn ein Sessel umgeworfen wurde, fürchtete sich aber, sich weit vom Hause zu entfernen, kehrte um, wenn sie einen Bauer sah, der ihr verdächtig vorkam, und schloß ganz nach Frauenart das Fenster, damit keine Diebe sich ins Zimmer schleichen konnten. Dabei war sie dem Gefühl des Mitleids so zugänglich! Es war nicht schwer, bei ihr Tränen hervorzurufen; ihr Herz war leicht erreichbar. In der Liebe war sie so zärtlich, in ihren Beziehungen allen gegenüber war so viel Sanftheit und freundliche Aufmerksamkeit enthalten – mit einem Wort, sie war ein Weib! Manchmal leuchtete in ihren Worten ein Funken von Sarkasmus auf, doch darin spiegelte sich eine solche Grazie, ein so sanfter, liebenswürdiger Verstand wider, daß jeder mit Freuden seine Stirn hinhalten würde! Dafür fürchtete sie sich nicht vor Zugluft, ging in der Dämmerung leicht gekleidet aus – das schadete ihr nicht! Sie erfreute sich einer blühenden Gesundheit; sie aß mit Appetit; sie hatte ihre Lieblingsgerichte; sie wußte auch, wie sie zubereitet wurden. Das alles wußten auch viele andere, aber diese vielen konnten nicht entscheiden, was in dem einen oder anderen Fall zu tun war, und wenn sie es wußten, war es doch nur Angeeignetes, Nachgeäfftes, von dem sie sich keine Rechenschaft gaben, warum sie es so und nicht anders machten, und bei dem sie sich auf die Autorität einer Tante oder Cousine beriefen. Viele wußten nicht einmal, was sie wollten, und wenn sie sich auch zu etwas entschlossen, taten sie es so träge, als wären sie im Zweifel, ob es nötig sei oder nicht. Das kam wahrscheinlich daher, weil ihre Brauen in geradem Bogen lagen, mit den Fingern zurechtgezupft waren und weil sie keine Falte an der Stirn hatten. Zwischen Oblomow und Oljga hatten sich geheime, für andere unsichtbare Beziehungen entwickelt; jeder Blick, jedes unbedeutende Wort, das in Anwesenheit anderer gesprochen wurde, besaß für sie einen besonderen Sinn. Sie sahen in allem eine Andeutung auf ihre Liebe. Und Oljga flammte manchmal trotz ihrer Sicherheit auf, wenn bei Tische von irgendeiner Liebe, die an die ihrige erinnerte, erzählt wurde, und da alle Liebesgeschichten einander sehr ähnlich sind, mußte sie oft erröten. Und Oblomow nahm sich, bei irgendeiner Andeutung auf dieses Thema, vor Verlegenheit einen solchen Haufen Gebäck, daß er irgend jemand sicher zum Lachen brachte. Sie wurden wachsam und vorsichtig. Manchmal erzählte Oljga der Tante nicht, daß sie Oblomow gesehen hatte, und er sagte zu Hause, daß er in die Stadt fuhr, und ging dann in den Park. Aber wie klar Oljgas Verstand auch sein mochte, wie bewußt sie alles um sich herum auch anblickte, wie frisch und gesund sie auch war, begannen bei ihr doch neue, krankhafte Symptome zu erscheinen. Manchmal erfaßte sie eine Unruhe, die ihr Gedanken machte, und die sie sich nicht zu erklären wußte. Manchmal, wenn sie um die heiße Mittagsstunde an Oblomows Arm hinschritt, stützte sie sich träge auf seine Schulter und ging mechanisch und beharrlich schweigend in einer gewissen Ermattung weiter. Ihre Frische verschwand; ihr Blick wurde müde und verlor seine Lebhaftigkeit, er wurde reglos, richtete sich auf irgendeinen Punkt, und sie war zu träge, ihn einem anderen Gegenstand zuzuwenden. Etwas lastete auf ihr, etwas beengte ihr die Brust und beunruhigte sie. Sie nahm ihre Mantille und ihr Tuch von den Schultern ab, doch auch das half nicht – das Bedrückende und Beengende ließ nicht nach. Sie hätte sich am liebsten unter einen Baum gelegt und so ganze Stunden verbracht. Oblomow wurde ganz hilflos und fächelte ihr mit einem Zweig das Gesicht, doch sie wies seine Bemühungen mit einem ungeduldigen Zeichen von sich und quälte sich weiter. Dann seufzte sie plötzlich auf, blickte wieder bewußt um sich, sah ihn an, drückte ihm fest die Hand, lächelte, erlangte wieder ihre Frische und ihr Lachen und beherrschte sich wieder. Eines Abends verfiel sie in einen besonders unruhigen Zustand, in einen Somnambulismus der Liebe, und erschien Oblomow in einer neuen Beleuchtung. Es war heiß und schwül; aus dem Wald tönte das dumpfe Rauschen des warmen Windes herüber; der Himmel bedeckte sich mit dunklen Wolken. Es wurde immer dunkler und dunkler. »Es wird regnen,« sagte der Baron und fuhr nach Hause. Die Tante zog sich in ihr Zimmer zurück. Oljga spielte lange, in Gedanken versunken, Klavier, hörte aber dann auf. »Ich kann nicht, meine Finger zittern, mir ist es so schwül,« sagte sie zu Oblomow. »Wollen wir in den Garten gehen.« Sie schritten lange schweigend durch die Alleen, einander bei der Hand haltend. Ihre Hände waren feucht und weich. Sie traten in den Park. Die Bäume und Sträucher bildeten eine einzige düstere Masse; man konnte in einer Entfernung von zwei Schritten nichts unterscheiden; nur die Wege schlängelten sich als weiße Streifen hin. Oljga blickte starr ins Dunkel und schmiegte sich an Oblomow. Sie irrten schweigend herum. »Ich fürchte mich!« sagte sie plötzlich erzitternd, als sie sich fast tastend durch die schmale Allee, zwischen zwei schwarzen, undurchdringlichen Baumwänden fortbewegten. »Wovor denn?« fragte er. »Fürchte dich nicht, Oljga, ich bin bei dir.« – »Ich fürchte mich auch vor dir!« flüsterte sie, »aber es ist eine so angenehme Angst! Das Herz stockt mir. Gib mir die Hand und fühle, wie es klopft.« Und dabei fuhr sie zusammen und blickte sich um. »Siehst du, siehst du?« flüsterte sie zitternd und packte ihn mit beiden Händen fest bei der Schulter, »siehst du nicht dort im Dunkel jemand?« Sie schmiegte sich fester an ihn. »Es ist niemand da ...« sagte er; doch auch ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Decke mir schnell mit irgend etwas die Augen zu ... noch fester!« flüsterte sie ... »So, jetzt ist es besser ... Das sind nur die Nerven,« fügte sie aufgeregt hinzu. »Jetzt wieder! Schau, wer ist das? Setzen wir uns irgendwo auf eine Bank hin ...« Er fand tastend eine Bank und setzte sie hin. »Gehen wir nach Hause, Oljga,« redete er ihr zu, »du bist krank.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter. »Nein, hier ist die Luft frischer,« sagte sie, »da am Herzen beengt mich etwas.« Sie atmete heiß auf seine Wange. Er berührte ihren Kopf mit der Hand – auch dieser war heiß. Ihre Brust atmete schwer und suchte sich durch Seufzer zu befreien. »Wäre es nicht besser, nach Hause zu gehen?« sprach Oblomow unruhig, »du mußt dich hinlegen.« – »Nein, nein, laß mich, rühr mich nicht an ...« sprach sie mit matter, kaum hörbarer Stimme; »es brennt bei mir hier ...« sie zeigte auf die Brust. »Wir sollten wirklich nach Hause gehen ...« drängte Oblomow. »Nein, warte, es wird vorübergehen ...« Sie preßte seine Hand zusammen, blickte ihm ab und zu tief in die Augen und schwieg lange. Dann begann sie zu weinen, zuerst leise und dann laut. Er verlor die Fassung. »Um Gottes willen, Oljga, gehen wir schnell nach Hause!« sagte er unruhig. »Es ist nichts,« antwortete sie schluchzend, »störe mich nicht, ich muß mich ausweinen ... Die Hitze wird mit den Tränen vergehen, es wird mir dann leichter sein; es sind nur die Nerven ...« Er hörte im Dunkel, wie schwer sie atmete, fühlte, wie ihre heißen Tränen auf seine Hand tropften, wie krampfhaft sie seinen Arm zusammenpreßte. Er bewegte keinen Finger und atmete nicht. Und ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihr Atem wehte seine Wange heiß an ... Er begann auch zu zittern, wagte es aber nicht, ihre Wange mit den Lippen zu berühren. Dann wurde sie immer ruhiger, und ihr Atem ging gleichmäßiger ... Sie schwieg. Er dachte, sie wäre eingeschlafen, und hatte Angst, sich zu rühren. »Oljga!« rief er flüsternd. »Was?« antwortete sie auch flüsternd und seufzte laut. »Jetzt ist's ... vorüber ...« sagte sie ermattet, »mir ist leichter, ich atme frei.« – »Komm,« sagte er. »Komm,« wiederholte sie ungern. »Mein Lieber!« flüsterte sie dann zärtlich, seine Hand umfassend, und ging, sich auf seine Schulter stützend, mit unsicheren Schritten nach Hause. Im Salon blickte er sie an; sie war schwach, doch sie lächelte seltsam, wie bewußtlos, gleichsam unter dem Einfluß eines Traumes. Er setzte sie auf den Diwan, kniete vor ihr nieder und küßte ihr ein paarmal, von tiefer Rührung erfüllt, die Hand. Sie blickte ihn noch immer mit demselben Lächeln an, indem sie ihm beide Hände überließ, und folgte ihm bis zur Tür mit den Augen. Er wandte sich an der Tür um; sie blickte ihm noch immer nach, ihr Gesicht war noch von derselben Ermattung und demselben heißen Lächeln erfüllt, als könnte sie es nicht bekämpfen ... Er ging sinnend fort. Er hatte dieses Lächeln irgendwo gesehen; er erinnerte sich an ein Bild, auf dem eine Frau mit einem solchen Lächeln dargestellt war ... das war aber keine Cordelia ... Am nächsten Tag ließ er anfragen, wie es ihr ging. Man schickte ihm folgende Antwort: »Es geht dem Fräulein, Gott sei Dank, gut, man bittet Sie, heute zum Essen zu kommen, und abends fahren alle fünf Werst weit zu einem Feuerwerk.« Er glaubte nicht und ging selbst hin. Oljga war frisch wie eine Blume; ihre Augen glänzten voll Lebenslust, die Wangen waren rot, die Stimme klang hell! Doch sie wurde plötzlich verlegen und hätte fast aufgeschrien, als Oblomow auf sie zukam, sie wurde feuerrot, als er fragte, wie sie sich nach gestern fühle. »Es war eine kleine Nervenstörung,« sagte sie eilig. » Ma tante sagt, daß ich früher schlafen gehen muß. Ich habe das erst seit kurzer Zeit ...« Sie sprach nicht zu Ende und wandte sich ab, als bäte sie um Schonung. Sie wußte selbst nicht, warum sie so verlegen wurde. Warum nagte und sengte sie die Erinnerung an den gestrigen Abend, an diese Störung? Sie schämte sich und ärgerte sich, teilweise über sich selbst und teilweise über Oblomow. Und manchmal schien es ihr, daß Oblomow ihr teurer war als je, daß es sie zu ihm hinzog, daß ihr die Tränen kamen, als wäre er ihr seit dem gestrigen Abend auf eine geheimnisvolle Weise nähergerückt ... Sie schlief lange nicht; des Morgens ging sie aufgeregt allein durch die Allee vom Haus bis zum Park und wieder zurück, dachte unaufhörlich nach, verlor sich in Vermutungen, machte ein finsteres Gesicht, flammte dann auf und lächelte über etwas und konnte zu keinem Entschluß kommen. Ach, Sonitschka! dachte sie ärgerlich, wie glücklich sie ist! Sie würde sich gleich entschlossen haben! Und Oblomow? Warum war er gestern mit ihr so stumm und reglos, trotzdem ihr Atem seine Wangen wie Feuer berührte, trotzdem ihre Tränen auf seine Hand tropften und er sie in seinem Arm nach Hause fast trug, während er das indiskrete Flüstern ihres Herzens hörte ... Und ein anderer an seiner Stelle ... Obwohl Oblomow seine Jugend im Kreise von allwissenden jungen Leuten, die alle Lebensfragen längst gelöst hatten, an nichts glaubten und alles kalt und weise analysierten, verbracht hatte, glühte in seiner Seele doch noch der Glaube an die Freundschaft, an die Liebe, an die menschliche Würde, und soviel er sich in den Menschen auch geirrt hatte, soviel er sich noch irren würde, litt darunter nur sein Gefühl, doch das Gute und der Glaube daran hatte noch nie in ihm gewankt. Er betete im stillen die Reinheit des Weibes an, erkannte ihre Macht und ihre Rechte und brachte ihr Opfer. Doch es mangelte ihm an Charakterstärke, das Gute und die Achtung der Reinheit gegenüber offen zu bekennen. Im stillen berauschte er sich an ihrem Duft, aber äußerlich schloß er sich manchmal dem Chor der Zyniker an, die selbst vor dem Verdacht, keusch zu sein und die Keuschheit zu achten, zitterten, und fügte ihrem wilden Chor auch sein leichtsinniges Wort hinzu. Er stellte sich nie deutlich vor, wieviel ein gutes, wahres, reines Wort wiegt, das in den Strom der menschlichen Rede hineingeworfen wird, was für eine tiefe Biegung es bilden kann; er dachte nicht daran, daß, wenn es kühn und laut ohne falsche Schamröte, mit Überzeugung ausgesprochen wird, es im widrigen Schrei der Satiriker der Gesellschaft nicht untergeht, sondern wie eine Perle in die Tiefe des Lebens sinkt und sich immer eine Muschel findet. Viele bleiben bei einem guten Wort vor Scham glühend stecken und gebrauchen dreist und laut eine leichtfertige Wendung, ohne zu ahnen, daß auch diese unglücklicherweise nicht ohne Folgen verschwindet, sondern eine lange Spur von oft untilgbaren Übeln hinterläßt. Dagegen war Oblomow in seinem Handeln ohne Tadel; kein einziger Fleck oder Vorwurf, mit kaltem, seelenlosem Zynismus vorgegangen zu sein, lastete auf seinem Gewissen. Er konnte die täglichen Gespräche darüber, daß der eine die Pferde, das Möbel, und der zweite eine Frau gegen eine andere eingetauscht habe ... und zu welchen Ausgaben dieser Tausch geführt habe, nicht anhören. Mehr als einmal hatte er um die von den Männern verlorene Würde und Ehre gelitten und um den schmutzigen Fall einer ihm fremden Frau geweint, aber er fürchtete sich vor den Menschen und schwieg. Man mußte es erraten; Oljga erriet es. Die Männer lachen solche Sonderlinge aus, doch die Frauen erkennen sie sofort; die reinen, keuschen Frauen lieben sie aus Mitgefühl, die verderbten suchen sich ihnen zu nähern, um sich an ihrer Reinheit zu erfrischen. Der Sommer rückte vor und verging. Die Morgen und die Abende wurden dunkel und feucht. Nicht nur der Flieder, sondern auch die Linden waren verblüht, und auch die Beerenzeit war vorüber. Oblomow und Oljga sahen sich täglich. Er holte das Leben ein, das heißt, er eignete sich alles das an, was er längst nicht mehr verfolgt hatte; er wußte, warum der französische Gesandte Rom verlassen hatte, warum die Engländer ihre Flotte nach dem Osten hinschickten; interessierte sich dafür, wann in Deutschland oder Frankreich eine neue Bahnlinie gebaut werden sollte. Er dachte aber nicht daran, eine Straße aus Oblomowka in den großen Marktflecken anzulegen, ließ sich die Vollmacht von den Behörden nicht bestätigen und beantwortete Stolz' Briefe nicht. Er beschäftigte sich nur damit, was sich in der Sphäre der täglichen Gespräche in Oljgas Haus bewegte, was in den dort gelesenen Zeitungen stand, und verfolgte dank Oljgas Beharrlichkeit ziemlich eifrig die moderne ausländische Literatur. Alles andere ging im Strom seiner Liebe unter. Trotz der häufigen Veränderungen dieser rosigen Atmosphäre blieb der Horizont wolkenlos. Wenn Oljga manchmal über Oblomow und ihre Liebe zu ihm grübelte, wenn diese Liebe ihr freie Zeit und freien Platz im Herzen übrigließ, wenn ihre Fragen in seinem Hirn nicht immer eine befriedigende und rasche Antwort fanden, wenn sein Wille den Anruf ihres Willens nicht beantwortete und wenn er ihre Frische und ihre überschäumenden Lebenskräfte mit einem reglosen, leidenschaftlichen Blick betrachtete, wurde sie von einer bangen Stimmung erfaßt; etwas glitt ihr wie eine kalte Schlange ins Herz, ernüchterte dessen Träume, und die warme Märchenwelt der Liebe verwandelte sich in einen Herbsttag, an dem alle Gegenstände grau erscheinen. Sie suchte zu erforschen, wodurch diese Leere und Unvollständigkeit des Glücks verursacht wurde. Was fehlte ihr? Was brauchte sie? Es war ja ihr Schicksal und ihre Bestimmung, Oblomow zu lieben! Diese Liebe wurde durch seine Sanftheit, seinen reinen Glauben an das Gute, und am meisten durch seine Zärtlichkeit, wie sie sie niemals in den Augen eines Mannes gesehen hatte, gerechtfertigt. Was machte es, daß er nicht jeden ihrer Blicke verständnisvoll erwiderte, daß in seiner Stimme nicht dasjenige, was sie einst halb im Traum und halb im Schlaf gehört hatte, erklang ... Das war Einbildung und Nervosität; wozu sie beachten und grübeln? Und wie hätte sie es endlich beginnen sollen, sich von der Liebe nun gar frei zu machen? Es war geschehen; sie liebte schon, und man konnte ja die Liebe nicht willkürlich wie ein Kleid abwerfen. Man liebt nicht zweimal im Leben, dachte sie. Man sagt, daß es unmoralisch ist ... So lernte sie lieben, prüfte dieses Gefühl, begegnete jedem neuen Schritt mit einer Träne oder einem Lächeln und grübelte darüber nach. Jener nach innen gekehrte Ausdruck, unter dem sich Tränen und ein Lächeln verbargen und das Oblomow so erschreckte, war erst später erschienen. Doch sie deutete ihm gegenüber niemals auf diese Gedanken und diesen Kampf hin. Oblomow lernte nicht lieben, sondern versenkte sich in jenen süßen Schlummer, von dem er in der Anwesenheit von Stolz laut geträumt hatte. Manchmal begann er wieder an ein ewig wolkenloses Leben zu glauben und sah wieder Oblomowka mit gutmütigen, freundschaftlichen und sorglosen Gesichtern vor sich, ihm schwebte das Sitzen auf der Terrasse und das Sinnen aus der Fülle des Glücks heraus vor. Er gab sich auch jetzt manchmal diesem Sinnen hin und schlief sogar zweimal heimlich im Wald ein, wenn Oljga sich verspätet hatte ... als auf ihn plötzlich eine Wolke sich herabsenkte. Eines Tages kehrten sie beide träge und schweigsam von irgendwo zurück, und als sie die Landstraße durchquerten, schwebte ihnen eine Staubwolke entgegen, und in dieser Wolke erschien ein Wagen, in dem Sonitschka mit ihrem Mann, mit noch einem Herrn und einer Dame saß ... »Oljga! Oljga! Oljga Sjergejewna!« ertönte es. Der Wagen blieb stehen. Alle diese Herren und Damen stiegen aus, umringten Oljga, begannen zu begrüßen, zu küssen und alle auf einmal zu sprechen, ohne Oblomow zu beachten. Dann blickten ihn plötzlich alle auf einmal an, ein Herr nahm sogar ein Lorgnon zu Hilfe. »Wer ist das?« fragte Sonitschka leise. »Ilja Iljitsch Oblomow!« stellte Oljga ihn vor. Alle gingen zu Fuß nach dem Landhaus. Oblomow fühlte sich unbehaglich; er blieb zurück und setzte sogar seinen Fuß über den Zaun, um sich durch das Korn nach Hause zu schleichen. Oljga hielt ihn durch einen Blick zurück. Das alles hätte nicht viel geschadet, doch alle diese Herren und Damen blickten ihn so seltsam an; auch das hätte vielleicht nichts geschadet. Er war es von früher her dank seinem schläfrigen, gelangweilten Blick und seiner nachlässigen Kleidung gar nicht anders gewöhnt. Doch die Herren und Damen richteten denselben sonderbaren Blick auch auf Oljga. Dieser auf sie gerichtete Blick machte plötzlich sein Herz erstarren; etwas begann an ihm so schmerzlich und qualvoll zu nagen, daß er es nicht ertragen konnte und düster und sinnend nach Hause ging. Am nächsten Tag konnte ihn Oljgas anmutiges Geplauder und ihr zärtliches Necken nicht fröhlicher stimmen. Um ihrem beharrlichen Fragen ein Ende zu machen, mußte er Kopfweh vorschützen und sich geduldig für fünfundsiebzig Kopeken Eau de Cologne auf den Kopf schütten lassen. Außerdem hatte sie die Tante am dritten Tag, nachdem sie spät nach Hause zurückgekehrt waren, so sonderbar klug angeblickt, besonders ihn, dann hatte sie ihre großen, ein wenig geschwollenen Lider gesenkt, durch welche die Augen durchzublicken schienen, und hatte nachdenklich an ihrem Fläschchen gerochen. Oblomow quälte sich, schwieg aber. Er konnte sich nicht entschließen, Oljga seine Zweifel mitzuteilen, da er sie aufzuregen und zu erschrecken fürchtete, und um aufrichtig zu sein, fürchtete er sich auch seiner selbst wegen und wollte diese ruhige, wolkenlose Welt nicht durch eine so überaus wichtige Frage in Aufruhr bringen. Jetzt handelte es sich nicht mehr darum, ob ihre Liebe zu ihm ein Irrtum war, sondern ob ihre ganze beiderseitige Liebe, diese Rendezvous allein im Walde, manchmal spät in der Nacht, nicht ein Fehler waren? Ich habe einen Kuß verlangt, dachte er entsetzt; und das ist ja nach dem Kodex der Moral kein unbedeutendes, verzeihliches Vergehen, sondern ein Kriminalverbrechen! Es gehen ihm ja viele Stufen voran: der Händedruck, das Geständnis, der Brief ... Wir haben das alles durchgemacht. Und doch, dachte er weiter, seinen Kopf hebend, sind meine Absichten ehrlich, ich ... Und plötzlich verschwand die Wolke; vor ihm lag Oblomowka, hell wie ein Feiertag, voller Glanz und Sonnenstrahlen, mit den grünen Hügeln und dem silbernen Fluß; er schritt mit Oljga sinnend durch die lange Allee, indem er sie umfaßt hielt, er saß mit ihr in der Laube auf der Terrasse ... Um sie herum neigten alle voller Anbetung das Haupt – er sah mit einem Wort alles das, was er Stolz gesagt hatte. Ja, ja; aber damit hätte ich ja beginnen sollen! dachte er wieder erschrocken; das dreifache »ich liebe,« der Fliederzweig, das Geständnis – das alles müßte das Unterpfand des ganzen Lebens sein und dürfte sich bei einer reinen Frau nicht wiederholen. Was hab' ich denn getan? Wer bin ich? dröhnte es ihm wie ein Hammerschlag durch den Kopf. Ich bin ein Verführer, ein Courmacher! Es fehlt nur, daß ich wie jener widrige alte Seladon mit den Schweinsaugen und der roten Nase die bei einer Frau gestohlene Rose ins Knopfloch stecke und meinen Sieg einem Freund ins Ohr zuflüstere, um ... um ... Ach, mein Gott, wie weit es mit mir gekommen ist! Da ist der Abgrund! Und auch Oljga schwebt nicht hoch darüber, sie liegt in der Tiefe ... warum, warum? Er verlor seine ganze Kraft, weinte wie ein Kind, weil die Regenbogenfarben seines Lebens verblaßt waren und weil Oljga das Opfer sein würde. Seine ganze Liebe war ein Verbrechen, ein Schandmal, das auf seinem Gewissen lastete. Dann, als Oblomow erkannte, daß alles ein gesetzliches Ende nehmen würde, er brauchte Oljga nur die Hand mit dem Ring hinzustrecken, hellte sich seine erregte Seele für einen Augenblick auf ... »Ja, ja,« sprach er vor Freude zitternd – »und ein verschämt bejahender Blick wird die Antwort sein ... Sie wird kein Wort sagen, wird erröten, vom Grunde ihres Herzens wird ein Lächeln aufsteigen, dann wird ihr Blick sich mit Tränen füllen ...« Tränen, dann ein Lächeln, eine schweigend hingestreckte Hand, dann lebhafte, stürmische Freude, frohe Eile der Bewegungen, dann ein langes Gespräch, ein Flüstern unter vier Augen, dieses zutrauliche Flüstern der Seelen, der geheimnisvolle Vertrag, zwei Leben zu einem einzigen zu verschmelzen! In jeder Kleinigkeit, in Gesprächen über alltägliche Dinge wird die außer ihnen niemand sichtbare Liebe durchschimmern. Und niemand wird sie mit einem Blick zu verletzen wagen. Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich ernst und wichtig. »Ja,« sprach er zu sich selbst, »da ist die Welt des aufrichtigen, ehrlichen, andauernden Glücks! Ich muß mich schämen, daß ich bis jetzt diese Blumen gepflückt habe, wie ein Knabe im Duft der Liebe geschwebt hat, Rendezvous gesucht habe, beim Mond spazierengegangen bin, dem Schlagen eines Mädchenherzens gelauscht und nach den Schwingungen ihrer Träume gehascht habe ... O Gott!« Er errötete bis über die Ohren. »Oljga wird noch heute abend erfahren, welche strenge Pflichten die Liebe auferlegt; heute wird die letzte Begegnung unter vier Augen sein, heute.« Er legte seine Hand aufs Herz; es schlug heftig, aber gleichmäßig, so wie es bei ehrlichen Menschen schlagen soll. Jetzt tauchte in ihm wieder der Gedanke auf, daß Oljga anfangs traurig sein würde, wenn er ihr sagte, daß sie nicht mehr zusammenkommen dürften; dann würde er ihr schüchtern sein Vorhaben mitteilen, nachdem er ihre Ansicht darüber erfahren hatte, er würde sich an ihrer Verlegenheit weiden, und dann ... Ferner träumte er von ihrem verschämten Jawort, von ihrem Lächeln und ihren Tränen, von ihrer schweigend entgegengestreckten Hand, vom langen, geheimnisvollen Flüstern und dem Kuß im Angesicht der ganzen Welt. Zwölftes Kapitel Zwölftes Kapitel Er lief Oljga suchen. Man sagte ihm bei ihr zu Hause, daß sie fortgegangen war; er eilte ins Dorf – sie war nicht da. Dann erblickte er sie in der Ferne, wie sie gleich einem dem Himmel entgegenschwebenden Engel den Berg hinanstieg, so leicht stützte sich ihr Fuß, so anmutig wiegte sich ihre Gestalt. Er folgte ihr, doch sie berührte kaum das Gras und schien wirklich fortzufliegen. Er rief sie, als er den Berg bis zur Hälfte erklommen hatte. Sie wartete auf ihn; sowie er ihr aber um zwei Klafter näher kam, eilte sie weiter, so daß zwischen ihnen wieder eine große Entfernung entstand, blieb dann stehen und lachte. Endlich ward ihm zur Gewißheit, daß sie ihm nicht entkommen würde. Sie lief ihm ein paar Schritte entgegen, reichte ihm die Hand und schleppte ihn lachend zu sich. Sie traten in den Hain; er nahm den Hut ab, sie wischte ihm die Stirn mit einem Tuch ab und begann ihm mit dem Schirm das Gesicht zu fächeln. Oljga war lebhafter, gesprächiger und fröhlicher als sonst, manchmal ließ sie sich durch eine zärtliche Aufwallung hinreißen und vertiefte sich dann plötzlich in ihre Gedanken. »Rate, was ich gestern getan habe?« fragte sie, als sie sich in den Schatten gesetzt hatten. »Gelesen?« Sie schüttelte den Kopf. »Geschrieben?« »Nein.« »Gesungen?« »Nein. Karten gelegt!« sagte sie. »Die Wirtschafterin der Gräfin war gestern da; sie kann Karten legen, und ich habe sie darum gebeten.« »Nun, und was ist herausgekommen?« »Nichts. Zuerst eine Reise, dann eine Menschenmenge und überall ein blonder Mann, überall ... Ich bin rot geworden, als sie mir plötzlich in Katjas Anwesenheit sagte, daß ein Cœur-König an mich denkt. Als sie erzählen wollte, an wen ich denke, habe ich die Karten durcheinandergeworfen und bin fortgelaufen. Denkst du an mich?« fragte sie plötzlich. »Ach!« sagte er, »wenn ich an dich nur weniger denken könnte!« »Und ich!« sagte sie sinnend, »ich habe schon ganz vergessen, daß man anders leben kann. Als du vorige Woche geschmollt hast und zwei Tage lang nicht gekommen bist – weißt du, du warst böse? – bin ich plötzlich ganz anders geworden, so zornig. Ich habe mich mit Katja herumgezankt, wie du mit Sachar; ich habe sie heimlich weinen gemacht, und sie hat mir gar nicht leid getan. Ich antwortete ma tante nicht, hörte nicht, was sie sagte, tat nichts, wollte nirgends hin. Und sowie du gekommen bist, bin ich plötzlich ganz anders geworden. Ich habe Katja mein Lilakleid geschenkt ...« »Das ist die Liebe!« sprach er pathetisch. »Was? Das Lilakleid?« »Alles? Ich erkenne mich in deinen Worten; auch für mich gibt es ohne dich keinen Tag und kein Leben, ich träume des Nachts immer von blühenden Tälern. Wenn ich dich sehe, bin ich gut und tätig; wenn nicht, langweile ich mich, bin träge, will mich hinlegen und an nichts denken ... Liebe, und schäme dich deiner Liebe nicht ...« Plötzlich schwieg er. Was sage ich da? Ich bin ja nicht deswegen gekommen! dachte er, begann sich zu räuspern und furchte die Brauen. »Und wenn ich plötzlich sterbe?« fragte sie. »Welch ein Gedanke!« sagte er wegwerfend. »Ja,« fuhr sie fort, »ich erkälte mich und bekomme Fieber; du kommst her – ich bin nicht da, du gehst zu uns – man sagt dir, ich bin krank, morgen ist wieder dasselbe; meine Fensterläden sind geschlossen; der Doktor schüttelt den Kopf; Katja kommt zu dir auf den Fußspitzen verweint heraus und flüstert dir zu: Das Fräulein ist krank, es stirbt ...« »Ach!« rief Oblomow plötzlich aus. Sie lachte. »Was wird mit dir dann sein?« fragte sie, ihm ins Gesicht blickend. »Was? Ich werde wahnsinnig oder erschieße mich, und du wirst dann plötzlich wieder gesund.« »Nein, nein, hör' auf!« sagte sie ängstlich. »Was wir da zusammensprechen! Komm aber nicht zu mir, wenn du tot bist; ich fürchte mich vor den Toten ...« Er lachte, sie auch. »Mein Gott, was für Kinder wir sind!« sagte sie, sich besinnend. Er räusperte sich wieder. »Höre ... ich wollte sagen ...« »Was?« fragte sie, sich lebhaft zu ihm umwendend. Er schwieg ängstlich. »Nun, sprich doch,« sagte sie, ihn leise am Ärmel zupfend. »Nichts, so ...« sagte er erschrocken. »Nein, du hast etwas im Sinn!« Er schwieg. »Wenn es etwas Schreckliches ist, dann sprich lieber nicht,« sagte sie. »Nein, sag's doch!« fügte sie plötzlich hinzu. »Es ist nichts, ein Unsinn.« »Nein, nein, du hast etwas, sprich!« ließ sie nicht nach, ihn so nahe am Rock haltend, daß er das Gesicht nach links und nach rechts wenden mußte, um sie nicht zu küssen. Er würde es getan haben, wenn ihr drohendes »Nie« ihm nicht noch immer in den Ohren getönt hätte. »Sag' es! ...« bat sie beharrlich. »Ich kann nicht, es ist nicht nötig ...« suchte er nach einem Ausweg. »Wie konntest du predigen, daß das ›Vertrauen die Grundlage des gegenseitigen Glücks ist, daß es im Herzen keine einzige Regung geben darf, die sich den Augen des Freundes nicht offenbart‹. Wer hat diese Worte gesagt?« »Ich habe nur sagen wollen,« begann er langsam, »daß ich dich so liebe, so liebe, daß wenn ...« Er zögerte. »Nun?« fragte sie ungeduldig. »Daß, wenn du jetzt einen andern lieben würdest und er befähigter wäre, dich glücklich zu machen ... ich mein Unglück schweigend verwunden und ihm meinen Platz überlassen hätte.« Sie ließ seinen Rock plötzlich los. »Warum?« fragte sie erstaunt. »Ich verstehe das nicht. Ich würde dich niemand abtreten; ich will nicht, daß du mit einer anderen glücklich bist. Das ist zu verwickelt, ich verstehe das nicht.« Ihr Blick irrte sinnend über die Bäume hin. »Das heißt also, daß du mich nicht liebst?« fragte sie dann. »Im Gegenteil, ich liebe dich bis zur Selbstvergessenheit, wenn ich mich aufopfern will.« »Aber wozu? Wer bittet dich darum?« »Ich sage ja, im Fall du einen andern lieben würdest ...« »Einen andern! Du bist verrückt! Wieso, wenn ich dich liebe? Wirst denn du eine andere lieben?« »Warum hörst du mir zu? Ich spreche Gott weiß was, und du glaubst daran! Ich wollte ja ganz etwas anderes sagen ...« »Was wolltest du denn sagen?« »Ich wollte sagen, daß ich dir gegenüber schuldig bin, und schon seit langer Zeit ...« »Worin besteht deine Schuld? Wieso? Du liebst mich nicht? Du hast vielleicht gescherzt? Sprich schnell!« »Nein, nein, das ist es nicht!« sagte er niedergeschlagen. »Weißt du ...« begann er unschlüssig, »wir sehen uns ... heimlich ...« »Heimlich? Warum heimlich? Ich sage meiner Tante fast jedesmal, daß ich dich gesehen habe ...« »Wirklich, jedesmal?« fragte er unruhig. »Was ist denn Schlimmes dabei?« »Das ist meine Schuld, ich hätte dir längst sagen sollen, daß man so etwas nicht ... tut ...« »Du hast es gesagt.« »Ich habe es gesagt? Ja! Ich habe es tatsächlich ... angedeutet. Ich habe meine Pflicht also erfüllt.« Er faßte Mut und freute sich, daß Oljga ihm so leicht die Last der Verantwortung abnahm. »Was noch?« fragte sie. »Noch ... Das ist alles.« »Das ist nicht wahr,« bemerkte Oljga mit Bestimmtheit, »du hast noch etwas; du hast mir nicht alles gesagt.« »Ja, ich dachte ...« begann er, indem er einen nachlässigen Ton anzuschlagen bestrebt war, »daß ...« Er schwieg; sie wartete. »Daß wir seltener zusammenkommen sollten ...« Er blickte sie schüchtern an. Sie schwieg. »Warum?« fragte sie nach einer Weile. »An mir nagt eine Schlange: mein Gewissen ... Wir bleiben so lange allein; ich bin erregt, mein Herz hört zu schlagen auf; du bist auch unruhig ... ich fürchte mich ...« sprach er mit Mühe zu Ende. »Wovor?« »Du bist jung, Oljga, und kennst alle Gefahren nicht. Manchmal hat der Mensch keine Macht über sich; dann beherrscht ihn etwas Höllisches, Finsternis senkt sich auf seine Seele herab, und aus seinen Augen schießen Blitze. Die Klarheit des Geistes trübt sich; die Achtung der Reinheit und Unschuld gegenüber wird von einem Wirbelwind fortgeweht; der Mensch verliert die Besinnung, ihn sengt die Leidenschaft; er hört auf über sich zu verfügen – und dann öffnet sich vor ihm ein Abgrund ...« Er fuhr sogar zusammen. »Was folgt daraus? Er soll sich nur öffnen!« sagte sie, ihn groß anblickend. Er schwieg; entweder hatte er nichts mehr zu sagen, oder er hielt es für überflüssig. Sie blickte ihn lange an, als wollte sie in seinen Stirnfalten wie in geschriebenen Zeilen lesen, und dachte dabei an jedes Wort und jeden Blick von ihm; sie ließ die ganze Geschichte ihrer Liebe im Geiste an sich vorübergleiten, gelangte bis zum dunklen Abend im Garten und errötete plötzlich. »Du sprichst Unsinn!« bemerkte sie schnell, indem sie seitwärts blickte, »ich habe in deinen Augen nie Blitze gesehen ... Du schaust mich meistens so wie ... meine Kinderfrau Kusminischna an!« fügte sie lachend hinzu. »Du scherzest, Oljga, ich spreche aber ernsthaft ... und habe noch nicht alles gesagt.« »Was willst du noch sagen?« fragte sie. »In was für einen Abgrund schaust du hinab?« Er seufzte. »Daß wir uns nicht ... allein ... sehen dürfen ...« »Warum?« »Es ist nicht gut ...« Sie sann nach. »Ja, man sagt, daß es nicht gut ist,« sagte sie nachdenklich, »aber weshalb?« »Was wird man sagen, wenn man es erfährt, wenn sich das verbreitet ...« »Wer wird denn etwas sagen? Ich habe keine Mutter; nur sie könnte mich fragen, warum ich mit dir zusammenkomme, und nur ihr gegenüber würde ich statt einer Antwort aufweinen und sagen, daß weder ich noch du etwas Böses tun. Sie würde mir glauben. Wer denn sonst?« fragte sie. »Die Tante,« sagte Oblomow. »Die Tante?« Oljga schüttelte traurig und verneinend den Kopf. »Sie fragt mich nie. Wenn ich für immer fortginge, würde sie mich auch nicht suchen und ausfragen, und ich würde ihr nicht mehr sagen kommen, wo ich war und was ich getan habe. Wer denn noch?« »Die andern alle ... Neulich hat Sonitschka dich und mich lächelnd angeblickt und auch all die Herren und Damen, die mit ihr waren.« Er erzählte ihr, in welcher Unruhe er sich seitdem befand. »Solange sie nur mich anblickte,« fügte er hinzu, »hat's mir nichts gemacht, als aber derselbe Blick auf dich gerichtet wurde, erstarrten mir die Hände und Füße ...« »Nun? ...« fragte sie kalt. »Seitdem quäle ich mich bei Tag und bei Nacht und zerbreche mir den Kopf, wie der Klatsch zu verhindern wäre; ich habe mich bestrebt, dich nicht zu erschrecken ... Ich wollte schon lange mit dir sprechen ...« »Deine Sorge war überflüssig!« entgegnete sie, »ich habe es auch ohne dich gewußt ...« »Wieso hast du es gewußt?« fragte er erstaunt. »So. Sonitschka hat mit mir gesprochen, mich ausgeforscht, gestichelt und sogar belehrt, wie ich mich mit dir benehmen soll ...« »Und du hast mir kein Wort gesagt, Oljga!« warf er ihr vor. »Du hast mir bisher auch nichts von deinen Sorgen gesagt!« »Was hast du ihr denn geantwortet?« »Nichts! Was sollte ich ihr darauf antworten? Ich bin nur errötet.« »Mein Gott! Wie weit ist es gekommen; du errötest! Wie unvorsichtig wir sind! Was wird daraus werden?« Er sah sie fragend an. »Ich weiß nicht,« sagte sie kurz. Oblomow hatte gehofft, nachdem er Oljga seine Gedanken mitgeteilt hatte, aus ihren Augen und Worten Willenskraft zu schöpfen, und, als er keine lebendige, entschlossene Antwort fand, sank ihm der Mut. Sein Gesicht nahm einen schwankenden Ausdruck an, und der Blick irrte traurig umher. In seinem Innern stieg ein leichtes Fieber auf. Er hatte Oljga fast ganz vergessen, vor ihm drängten sich die Gäste und Sonitschka mit ihrem Mann; er hörte ihre Gespräche und ihr Lachen. Oljga schwieg, statt schlagfertig wie sonst zu sein, blickte ihn kalt an und sprach noch kälter ihr »ich weiß nicht«. Er gab sich nicht die Mühe oder verstand es nicht, in den geheimen Sinn dieser Worte einzudringen. Und er schwieg; sein Gedanke oder sein Vorsatz konnte ohne fremde Hilfe nicht reifen und wie ein Apfel von selbst herabfallen; man mußte ihn pflücken. Oljga blickte ihn ein paar Minuten lang an, zog dann die Mantille an, nahm vom Zweig ihren Schal herunter, band ihn langsam um und ergriff den Schirm. »Wohin? So früh!« fragte er, plötzlich zur Besinnung kommend. »Nein, es ist spät. Du hast recht,« sagte sie sinnend und traurig, »wir sind zu weit gegangen und finden jetzt keinen Ausweg mehr; wir müssen uns schnell trennen und die Spuren der Vergangenheit fortfegen. Leb wohl!« fügte sie trocken und bitter hinzu und wollte mit gesenktem Kopf umkehren. »Oljga, ich bitte dich, um Gottes willen! Wie sollten wir nicht mehr zusammenkommen! Aber ich ... Oljga!« Sie hörte nicht zu und ging schneller; der Sand knisterte unter ihren Schuhen. »Oljga Sjergejewna!« rief er. Sie hörte nicht und ging weiter. »Um Gottes willen, kehre um!« schrie er mit tränenvoller Stimme, »man muß ja auch einen Verbrecher ausreden lassen ... Mein Gott! Hat sie denn ein Herz? ... So sind die Frauen!« Er setzte sich und bedeckte sich die Augen mit beiden Händen. Es waren keine Schritte mehr zu hören. »Sie ist fort!« rief er fast entsetzt aus und hob den Kopf. Oljga stand vor ihm. Er ergriff freudig ihre Hand. »Du bist nicht fortgegangen, du gehst nicht? ...« sprach er. »Geh nicht; denke daran, daß ich ein toter Mensch bin, wenn du fortgehst!« »Und wenn ich nicht fortgehe, bin ich eine Verbrecherin, denke daran, Ilja!« »Ach nein ...« »Wieso nicht? Wenn Sonitschka und ihr Mann uns noch einmal zusammen sehen, bin ich verloren ...« Er fuhr zusammen. »Höre,« begann er eilig und stotternd, »ich habe noch nicht alles gesagt! ...« Er schwieg. Das, was ihm zu Hause so einfach, natürlich und notwendig erschienen war, was ihm so hold und das Glück selbst zu sein schien, wurde für ihn plötzlich zu einem Abgrund. Ihm ging der Atem aus, als er darüber hinschreiten wollte. Ihm stand ein entscheidender, kühner Schritt bevor. »Jemand kommt!« sagte Oljga. Man hörte auf dem Seitenweg Schritte. »Vielleicht ist das Sonitschka?« fragte Oblomow mit vor Entsetzen starren Augen. Es gingen zwei unbekannte Herren und eine Dame vorüber. Oblomow fiel ein Stein vom Herzen. »Oljga,« begann er eilig und ergriff ihre Hand, »gehen wir von hier weg, dort ist niemand. Setzen wir uns hin.« Er setzte sie auf die Bank hin und ließ sich auf das Gras neben ihr nieder. »Du bist aufgefahren, bist fortgegangen und ich hab' dir noch nicht alles gesagt!« sprach er. »Ich werde wieder fortgehen und nicht mehr zurückkommen, wenn du mit mir spielen wirst. Dir gefielen früher einmal meine Tränen, jetzt willst du mich vielleicht zu deinen Füßen sehen und mich nach und nach zur Sklavin machen, Grillen fangen, Moral predigen, dann weinen, dich fürchten und fragen, was wir tun sollen? Vergessen Sie nicht, Ilja Iljitsch,« fügte sie plötzlich stolz hinzu, indem sie sich von der Bank erhob, »daß ich, seitdem ich Sie kenne, um vieles gereift bin und weiß, wie das Spiel, das Sie mit mir treiben, heißt ... meine Tränen werden Sie aber nicht mehr sehen ...« »Ach, bei Gott, ich spiele nicht!« sagte er überzeugend. »Um so schlimmer für Sie,« bemerkte sie trocken. »Auf alle Ihre Befürchtungen, Warnungen und Rätsel antworte ich Ihnen nur das eine: ich habe Sie bis zur heutigen Begegnung geliebt und habe nicht gewußt, was ich zu tun habe; jetzt weiß ich es,« schloß sie energisch und machte Anstalten fortzugehen, »ich werde Sie nicht mehr zu Rate ziehen.« »Auch ich weiß es,« sagte er, sie bei der Hand zurückhaltend und zur Bank führend, dann schwieg er eine Weile, um Mut zu fassen. »Stelle dir vor,« begann er, »mein Herz ist von dem einen Wunsch und mein Kopf von dem einen Gedanken erfüllt, doch der Wille und die Zunge gehorchen mir nicht ... ich will sprechen, und die Worte wollen mir nicht von den Lippen. Und es ist doch so einfach, so ... Hilf mir, Oljga.« »Ich weiß nicht, was Sie im Sinn haben ...« »Um alles in der Welt, laß dieses ›Sie‹; dein stolzer Blick tötet mich, jedes Wort macht mich wie Frost erstarren ...« Sie lachte. »Du bist verrückt!« sagte sie, ihm die Hand auf den Kopf legend. »So ist's recht, jetzt habe ich wieder die Gabe zu sprechen und zu denken! Oljga,« sagte er, vor ihr niederkniend, »sei mein Weib!« Sie schwieg und wandte sich von ihm ab. »Oljga, gib mir die Hand!« sprach er weiter. Sie gab sie ihm nicht. Er nahm sie selbst und preßte sie an die Lippen. Sie ließ ihn gewähren. Die Hand war warm, weich und etwas feucht. Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu sehen, doch sie wandte sich immer mehr ab. »Du schweigst?« sagte er, unruhig und fragend, indem er ihr die Hand küßte. »Das ist ein Zeichen der Zustimmung!« sagte sie leise, blickte ihn aber noch immer nicht an. »Was fühlst du jetzt? Woran denkst du?« fragte er, sich an seinen Traum von der verschämten Antwort und von den Tränen erinnernd. »Dasselbe wie du,« antwortete sie und blickte noch immer irgendwohin in den Wald; nur das Heben und Senken der Brust deutete darauf hin, daß sie sich beherrschte. Hat sie wohl Tränen in den Augen? dachte Oblomow, doch sie blickte beharrlich nach unten. »Du bist gleichgültig und ruhig?« fragte er und bemühte sich, ihre Hand an sich zu ziehen. »Nicht gleichgültig, aber ruhig.« »Warum denn?« »Weil ich das lange vorausgesehen und mich an den Gedanken gewöhnt habe.« »Lange?« wiederholte er erstaunt. »Ja, von dem Augenblicke an, als ich dir den Fliederzweig gereicht habe ... nannte ich dich im Geiste ...« Sie sprach nicht zu Ende. »Von jenem Augenblick an?« Er öffnete weit seine Arme und wollte sie umfassen. »Der Abgrund öffnet sich, die Blitze flammen ... vorsichtig!« sagte sie schelmisch, seiner Umarmung geschickt ausweichend und seine Hände mit dem Schirm fortstoßend. Er dachte an das strenge »Nie!« und wurde ruhig. »Du hast aber niemals davon gesprochen und hast es durch nichts angedeutet ...« sagte er. »Wir heiraten nicht selbst, man verheiratet oder nimmt uns.« »Von jenem Augenblick an ... ist es möglich? ...« wiederholte er sinnend. »Glaubst du, daß, wenn ich dich nicht verstanden hätte, ich hier mit dir allein wäre, des Abends mit dir in der Laube sitzen, dir zuhören und dir vertrauen würde?« sagte sie stolz. »Das ist also ...« begann er, den Gesichtsausdruck wechselnd und ihre Hand loslassend. In ihm regte sich ein seltsamer Gedanke. Sie blickte ihn mit ruhigem Stolz an und wartete voll Sicherheit; aber er hatte sich für einen Augenblick nicht Stolz und Sicherheit, sondern Tränen, Leidenschaft und berauschendes Glück gewünscht, wenigstens für den einen Augenblick, auf den dann ein Leben voll ungestörter Ruhe folgen konnte! Es gab aber keine plötzlichen Tränen vor unerwartetem Glück, keine verschämte Zustimmung. Wie sollte er das auffassen? In seinem Herzen erwachte und regte sich der Wurm des Zweifels ... Liebte sie oder wollte sie nur heiraten? »Es gibt aber einen andern Weg, der zum Glück führt,« sagte er. »Was für einen?« fragte sie. »Manchmal wartet die Liebe nicht, geduldet sich nicht und berechnet nicht ... Das Weib ist dann voll Feuer und Beben und empfindet zugleich Qualen und solche Freuden, die ...« »Ich kenne diesen Weg nicht.« »Das ist ein Weg, auf dem die Frau alles opfert; die Ruhe, die Achtung, die sie genießt, sie findet in der Liebe ihren Lohn ... diese ersetzt ihr alles.« »Brauchen wir denn diesen Weg?« »Nein.« »Willst du auf diesem Weg dein Glück suchen, auf die Gefahr hin, daß ich meine Ruhe und Achtung verliere?« »O nein, nein! Ich schwöre bei Gott, um nichts auf der Welt!« rief er leidenschaftlich aus. »Warum sprichst du dann davon?« »Das weiß ich wirklich selbst nicht ...« »Ich weiß es aber: du wolltest wissen, ob ich dir meine Ruhe hinopfern, und ob ich mit dir diesen Weg gehen würde? Nicht wahr?« »Ich glaube, du hast es erraten ... nun also?« »Niemals, um nichts in der Welt,« sagte sie entschlossen. Er sann nach und seufzte dann. »Ja, das ist ein schrecklicher Weg, und eine Frau braucht viel Liebe, um darauf dem Mann zu folgen, sie muß auch, während sie zugrunde geht, noch lieben.« Er blickte ihr fragend ins Gesicht; sie erwiderte nichts; nur die Falte über der Braue bewegte sich, aber der Ausdruck blieb ruhig. »Stell dir vor,« sagte er, »daß Sonitschka, die nicht deinen kleinen Finger wert ist, dich bei der Begegnung plötzlich nicht wiedererkennen würde!« Oljga lächelte, und ihr Blick blieb ebenso hell. Oblomow ließ sich von der Stimme seiner Eitelkeit hinreißen, die Oljgas Herzen Opfer abfordern und sich daran berauschen wollte. »Stelle dir vor, daß die Männer sich dir nicht mit ehrfurchtsvoll gesenkten Augen nähern, sondern dich mit einem dreisten, spöttischen Lächeln anblicken würden ...« Er sah sie an; sie schob mit dem Schirm fleißig ein Steinchen über den Sand hin. »Bei deinem Eintreten in den Salon würden sich ein paar Hauben entrüstet bewegen, irgendeine davon würde von dir fortrücken ... Dein Stolz wäre aber nicht geringer als jetzt, und du würdest deutlich erkennen, daß du besser bist als sie und über ihnen stehst ...« »Wozu sprichst du mir von solchen Schrecken?« sagte sie ruhig. »Ich werde diesen Weg nie betreten.« »Nie?« fragte Oblomow traurig. »Nie!« wiederholte sie. »Ja,« sagte er sinnend, »deine Kraft würde nicht ausreichen, um der Schande in die Augen zu blicken. Du würdest vielleicht den Tod nicht fürchten; nicht die Hinrichtung ist schrecklich, sondern die Vorbereitungen, die beständigen Foltern sind es; du würdest es nicht ertragen und hinwelken – ja?« Er blickte ihr fortwährend in die Augen, um zu sehen, wie sie sich dazu verhielt. Sie schaute lustig drein; das Bild des Schreckens hatte sie nicht verwirrt; ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich will weder hinwelken noch sterben! Das ist nicht die Hauptsache,« sagte sie, »man kann, ohne jenen Weg zu wählen, noch inbrünstiger lieben ...« »Warum würdest du denn jenen Weg nicht wählen?« fragte er beharrlich und fast ärgerlich, »wenn du dich nicht fürchtest?« »Weil man sich darauf ... in der Folge stets ... trennt,« sagte sie, »und ich ... sollte dich verlassen? ...« Sie schwieg, legte ihm die Hand auf die Schulter, blickte ihn lange an, warf dann plötzlich den Schirm fort, umfaßte seinen Hals rasch und leidenschaftlich mit den Armen, küßte ihn, wurde dann blutrot, schmiegte das Gesicht an seine Brust und fügte leise hinzu: »Nie!« Er stieß einen Freudenschrei aus und glitt aufs Gras zu ihren Füßen hin. Dritter Teil Erstes Kapitel Erstes Kapitel Oblomow strahlte, als er nach Hause ging. Sein Blut wogte, seine Augen leuchteten. Ihm schien, daß sogar seine Haare flammten. So trat er in sein Zimmer – da plötzlich verschwand das Leuchten, und seine Augen blieben in unangenehmem Staunen an einem Punkt haften; auf seinem Sessel saß Tarantjew. »Wie lange soll man denn noch auf dich warten? Wo treibst du dich herum?« fragte Tarantjew streng, indem er ihm seine zottige Hand hinstreckte. »Auch dein alter Teufel ist ganz aus Rand und Band; ich verlange einen Imbiß – er sagt, es ist nichts da, er hat mir nicht einmal einen Schnaps gegeben.« »Ich bin hier im Hain spazierengegangen,« sagte Oblomow nachlässig und konnte sich von dem Schlag, der das Erscheinen des Landsmanns in einem solchen Augenblick für ihn war, noch nicht erholen. Er hatte die düstere Sphäre, in der er bis dahin gelebt hatte, vergessen und war deren bedrückende Luft nicht mehr gewöhnt. Tarantjew zerrte ihn im Nu vom Himmel gleichsam wieder in den Sumpf herab. Oblomow fragte sich gequält: Warum war Tarantjew gekommen? War es für lange? Ihm kam die furchtbare Vermutung, er könnte vielleicht zum Essen dableiben, und dann wäre es nicht möglich, zu Iljinskys zu gehen. Der einzige Gedanke, der Oblomow beschäftigte, war, wie er ihn, selbst wenn das einige Ausgaben erfordern sollte, loswerden konnte. Er wartete schweigend und düster ab, was Tarantjew sagen würde. »Warum schaust du dich gar nicht nach der Wohnung um, Landsmann?« fragte Tarantjew. »Das ist jetzt nicht mehr nötig,« sagte Oblomow und bestrebte sich, Tarantjew nicht anzublicken. »Ich ... ziehe nicht dorthin.« »W-as? Wieso ziehst du nicht hin?« entgegnete Tarantjew drohend, »du hast sie gemietet und ziehst nicht ein? Und der Kontrakt?« »Was für ein Kontrakt?« »Hast du schon vergessen? Du hast einen Kontrakt auf ein Jahr unterschrieben. Gib mir die achthundert Rubel, und geh dann, wohin du willst. Vier Personen haben die Wohnung angeschaut und wollten sie mieten; man hat alle abgewiesen. Jemand wollte sie auf drei Jahre mieten.« Oblomow erinnerte sich erst jetzt, daß Tarantjew ihm am Tage des Umzuges aufs Land ein Papier gebracht hatte, das er in der Eile, ohne es zu lesen, unterschrieben hatte. Ach mein Gott, was habe ich angerichtet! dachte er. »Ich brauche aber keine Wohnung,« sagte Oblomow, »ich reise ins Ausland ...« »Ins Ausland!« unterbrach Tarantjew, »mit diesem Deutschen? Aber das ist doch nichts für dich ... Du wirst doch nicht hinreisen!« »Warum nicht? Ich habe schon einen Paß, ich werde ihn gleich zeigen. Ich habe auch einen Reisekoffer gekauft.« »Du wirst nicht reisen!« wiederholte Tarantjew gleichgültig. »Gib mir das Geld für das halbe Jahr lieber im vorhinein.« »Ich habe kein Geld.« »Verschaffe dir welches, woher du willst; der Bruder meiner Gevatterin, Iwan Matwejewitsch, liebt keine Scherze. Er reicht gleich bei den Behörden ein; dann kommst du nicht mehr los. Ich habe für dich gezahlt, gib mir das Geld zurück.« »Woher hast du so viel Geld?« fragte Oblomow. »Was geht das dich an? Ich habe eine alte Schuld behoben. Gib das Geld her! Ich bin deswegen gekommen.« »Gut; ich komme dieser Tage und übergebe die Wohnung einem anderen, und jetzt habe ich Eile ...« Er knöpfte sich den Rock zu. »Was brauchst du denn für eine Wohnung? Du findest in der ganzen Stadt keine bessere. Du hast sie ja nicht gesehen.« »Ich will sie gar nicht sehen, wozu soll ich dorthin ziehen? Sie ist für mich zu weit weg ...« »Wovon?« fragte Tarantjew grob. Doch Oblomow antwortete nichts. »Vom Zentrum,« fügte er dann hinzu. »Von welchem Zentrum? Wozu brauchst du es? Um zu liegen?« »Nein, ich liege jetzt nicht mehr.« »Warum denn nicht?« »So. Ich ... bin heute ...« begann Oblomow. »Was?« unterbrach Tarantjew. »Ich esse nicht zu Hause ...« »Gib das Geld her und scher dich zum Teufel!« »Was für ein Geld?« wiederholte Oblomow ungeduldig. »Ich komme dieser Tage in die Wohnung und werde mit der Hausbesitzerin sprechen.« »Mit welcher Hausbesitzerin? Mit der Gevatterin? Was versteht sie? Ein Frauenzimmer! Nein, sprich mit ihrem Bruder, dann wirst du was erleben.« »Nun gut; ich werde hinfahren und mit ihnen sprechen.« »Da kann man lange warten! Gib das Geld her, dann kannst du gehen.« »Ich hab' keins; ich muß mir welches leihen.« »Dann bezahle mir jetzt wenigstens für die Droschke,« ließ Tarantjew nicht nach, »drei Rubel!« »Wo ist denn deine Droschke? Und wofür drei Rubel?« »Ich habe den Kutscher fortgeschickt. Wieso wofür? Er hat mich gar nicht herfahren wollen: ›Durch diesen Sand?‹ sagt er. Und für die Rückfahrt drei Rubel – macht sechs Rubel.« »Von hier fährt ein Omnibus für fünfzig Kopeken,« sagte Oblomow, »da hast du!« Er gab ihm vier Rubel. Tarantjew steckte das Geld ein. »Du bleibst mir noch zwei Rubel schuldig,« fügte er hinzu. »Und zahle mir mein Mittagessen!« »Welches Mittagessen?« »Ich komme jetzt nicht mehr zur rechten Zeit in die Stadt, ich werde genötigt sein, unterwegs in einem Gasthaus zu essen; hier kostet alles viel; ich werde fünf Rubel zahlen müssen.« Oblomow nahm schweigend einen Rubel heraus und warf ihn ihm zu. Er setzte sich nicht, vor Ungeduld, und erwartete, Tarantjew würde bald fortgehen; doch er ging nicht. »Laß mir doch einen Imbiß geben,« sagte er. »Du wolltest doch im Gasthaus essen?« bemerkte Oblomow. »Das wird mein Mittagessen sein! Jetzt geht es aber erst auf zwei Uhr.« Oblomow befahl Sachar etwas hereinzubringen. »Es ist nichts da, wir haben nichts vorbereitet,« gab Sachar trocken zur Antwort, indem er Tarantjew düster anblickte. »Wie ist's, Michej Andreitsch, wann bringen Sie das Hemd und die Weste vom gnädigen Herrn? ...« »Was für ein Hemd und eine Weste willst du haben?« wich Tarantjew aus, »ich habe das längst zurückgebracht.« »Wann denn?« fragte Sachar. »Hab' ich es dir denn nicht in die Hand gegeben, als ihr ausgezogen seid? Und du hast's irgendwohin in ein Bündel gesteckt und fragst jetzt danach ...« Sachar erstarrte. »Ach du mein Gott! Ilja Iljitsch, was das für eine Schande ist!« brüllte er, sich an Oblomow wendend. »Fahr nur in derselben Tonart fort!« entgegnete Tarantjew, »du hast die Sachen wohl vertrunken und fragst jetzt danach ...« »Nein, ich habe noch mein Lebtag nichts Herrschaftliches vertrunken!« krächzte Sachar, »aber Sie ...« »Hör auf, Sachar!« unterbrach Oblomow streng. »Haben Sie unseren Besen und die zwei Schalen fortgetragen?« fragte Sachar wieder. »Welchen Besen?« donnerte Tarantjew. »O du alter Schurke! Gib lieber den Imbiß her!« »Hören Sie, Ilja Iljitsch, wie er schimpft?« sagte Sachar. »Es ist kein Imbiß da, wir haben nicht einmal Brot im Hause und Anissja ist fortgegangen!« schloß er und ging. »Wo ißt du denn?« fragte Tarantjew, »das ist ja ein wahres Wunder; Oblomow geht im Hain spazieren, ißt nicht zu Hause ... Wann ziehst du denn in die Wohnung ein? Es ist doch schon Herbst. Komm und schau sie dir an.« »Gut, gut, dieser Tage ...« »Und vergiß nicht, das Geld mitzubringen!« »Ja, ja, ja ...« sagte Oblomow ungeduldig. »Übrigens, brauchst du nicht noch etwas in der Wohnung? Man hat für dich die Fußböden und Plafonds, die Fenster und Türen, überhaupt alles angestrichen; das kostet mehr als hundert Rubel.« »Ja, ja, gut ... Ach ja, ich wollte dir etwas sagen,« erinnerte sich plötzlich Oblomow, »laß mir, bitte, meine Vollmacht von den Behörden bestätigen ...« »Bin ich denn dein Laufbursche?« »Ich gebe dir noch etwas fürs Mittagessen.« »Man zerreißt sich dabei mehr Stiefel, als du mir geben wirst.« »Fahre nur hin, ich zahle dir dafür.« »Ich darf nicht hingehen,« sprach Tarantjew düster. »Warum?« »Ich habe Feinde; sie zürnen mir und stellen mir Fallen, um mich zu verderben.« »Nun gut, dann fahre ich selbst hin,« sagte Oblomow und griff nach seinem Hut. »Wenn du in die Wohnung einziehst, wird dir Iwan Matwejewitsch alles besorgen. Das ist ein goldener Mensch, Bruder, nicht mit einem deutschen Parvenü zu vergleichen! Er ist ein alter russischer Beamter, sitzt seit dreißig Jahren auf demselben Stuhl und leitet das ganze Büro nach seinem Willen, er hat auch Geld, erlaubt sich aber nicht einmal eine Droschke zu nehmen, sein Frack ist nicht besser als der meinige; er ist sehr bescheiden, spricht so leise, daß man es kaum hört, treibt sich nicht im Ausland herum, wie dieser ...« »Tarantjew!« schrie Oblomow auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, »schweig, wenn du etwas nicht verstehst!« Tarantjew glotzte Oblomow nach diesem unerhörten Ausfall an und vergaß sogar, darüber beleidigt zu sein, daß Stolz ihm vorgezogen wurde. »Wie du bist, Bruder ...« brummte er, indem er nach dem Hut griff, »wo nimmst du die Courage her?« Er strich mit dem Ärmel über seinen Hut, betrachtete ihn dann und wandte seinen Blick Oblomows Hut zu, der auf der Etagere lag. »Du trägst deinen Hut nicht, da hast du ja eine Mütze,« sagte er, Oblomows Hut nehmend und ihn anprobierend, »gib ihn mir für den Sommer, Bruder ...« Oblomow nahm ihm schweigend den Hut ab, legte ihn auf den früheren Platz, kreuzte dann die Hände auf der Brust übereinander und wartete, daß Tarantjew ging. »Nun, geh zum Teufel!« sagte Tarantjew, sich ungeschickt durch die Tür schiebend. »Du bist heute so ... seltsam, Bruder ... Sprich nur mit Iwan Matwejewitsch und versuch's einmal, ihm nicht zu zahlen ...« Zweites Kapitel Zweites Kapitel Er ging, und Oblomow setzte sich verstimmt auf den Sessel und bemühte sich lange Zeit, den unangenehmen Zwischenfall loszuwerden. Endlich erinnerte er sich an den Morgen. Tarantjews widerwärtige Gestalt verschwand aus seinem Hirn, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. Er stellte sich vor den Spiegel, richtete sich die Krawatte, lächelte lange und blickte seine Wange an, ob dort nicht eine Spur von Oljgas heißem Kuß zu sehen war. »Zwei ›Nie‹«, sagte er leise in freudiger Aufregung, »und was für ein Unterschied war zwischen ihnen: das eine war schon verblaßt, und das zweite blühte so reich ...« Dann versank er in tiefes Sinnen. Er fühlte, daß der lichte, wolkenlose Feiertag der Liebe schon verging, daß die Liebe wirklich zu einer Pflicht wurde, daß sie sich dem ganzen Leben anreihte, eines seiner Bestandteile wurde, zu verblassen und die leuchtenden Farben zu verlieren begann. Vielleicht hatte des Morgens ihr letzter rosiger Schimmer geleuchtet, und sie würde dann nicht mehr hell strahlen, sondern das Leben unsichtbar erwärmen; das Leben wird sie verschlingen, und sie wird eine starke, aber verborgene Triebfeder sein. Und von nun an werden ihre Äußerungen so einfach und gewöhnlich erscheinen. Das Poem geht zu Ende, und die strenge Geschichte beginnt; die Verhandlungen mit den Behörden, dann die Fahrt nach Oblomowka, das Bauen des Hauses, die Anzahlung in den Gouvernementsrat, das Bahnen der Straße, das endlose Ordnen der Angelegenheiten der Bauern, der Arbeit, des Dreschens, des Mähens, das Klopfen des Rechenbrettes, das besorgte Gesicht des Verwalters, die Wahlen, die Gerichtsverhandlungen. Ab und zu wird Oljgas Blick aufleuchten, und es wird Casta diva oder ein heiliger Kuß ertönen, und man muß wieder arbeiten, in die Stadt fahren, dann kommt wieder der Verwalter, und er hört das Klopfen des Rechenbrettes. Es kommen Gäste – aber auch das ist kein Ausruhen; man spricht davon, wieviel Schnaps gebrannt wurde, wieviel Arschin Tuch an die Behörden geliefert wurden ... Was war denn das? Hatte er denn davon geträumt? War denn das das Leben? ... Man lebt aber das ganze Leben so. Und Andrej gefällt es! Aber die Heirat, die Hochzeit, das war doch die Poesie des Lebens, das war eine üppige, aufgeblühte Blume. Er stellte sich vor, wie er Oljga zum Altar führte; sie trägt einen Orangenblumenzweig und einen langen Schleier auf dem Kopf. In der Menge ertönt ein bewunderndes Geflüster. Sie reicht ihm verschämt die Hand, senkt stolz und graziös den Kopf und weiß nicht, wie sie alle anblicken soll. Bald erstrahlt sie in einem Lächeln, bald kommen ihr die Tränen, bald bewegt sich die Falte über der Braue gedankenvoll. Zu Hause, wenn die Gäste fort sind, wirft sie sich ihm noch in dem reichen Kleid wie heute an die Brust ... »Nein, ich laufe zu Oljga hin, ich kann allein nicht denken und fühlen,« sagte er. »Ich erzähle es allen, der ganzen Welt ... nein, zuerst der Tante, dann dem Baron, ich schreibe es auch Stolz – wie er sich wohl wundern wird! Dann sag' ich es Sachar; er wird sich bis zur Erde verneigen und vor Freude heulen; ich werde ihm fünfundzwanzig Rubel geben. Anissja wird kommen, wird mir die Hand küssen wollen; dann werde ich ihr zehn Rubel geben; dann ... dann werde ich vor Freude laut schreien, damit die ganze Welt es weiß und damit alle sagen: ›Oblomow ist glücklich, Oblomow heiratet!‹ Jetzt laufe ich zu Oljga hin; dort erwartet mich ein langes Flüstern und der geheimnisvolle Vertrag, unsere beiden Leben zu vereinigen! ...« Er lief zu Oljga hin. Sie hörte lächelnd seinen Träumen zu; sowie er aber aufsprang, um es der Tante mitzuteilen, runzelte sie so die Brauen, daß er Angst bekam. »Niemand ein Wort davon!« sagte sie, den Finger an die Lippen legend und ihm ein Zeichen machend, leiser zu sprechen, damit die Tante aus dem angrenzenden Zimmer nichts hörte. »Es ist noch nicht Zeit!« »Wann ist es denn Zeit, wenn bei uns alles beschlossen ist?« fragte er ungeduldig, »was soll man denn jetzt tun? Womit anfangen? Man kann doch nicht ruhig sitzen bleiben! Jetzt beginnen die Pflichten und der Ernst des Lebens ...« »Ja, jetzt beginnt das,« wiederholte sie, ihn forschend anblickend. »Ich wollte den ersten Schritt machen und zur Tante gehen ...« »Das ist der letzte Schritt!« »Welcher ist denn der erste?« »Der erste ist, sich an die Behörde zu wenden; du mußt ja wohl irgendein Dokument haben?« »Ja ... ich fahre morgen hin ...« »Warum denn nicht heute?« »Heute ... heute ist doch ein solcher Tag, und ich sollte von dir fortgehen, Oljga ...« »Nun gut, morgen. Und dann?« »Dann mit der Tante sprechen und an Stolz schreiben.« »Nein, dann nach Oblomowka fahren ... Andrej Iwanowitsch hat ja geschrieben, was auf dem Gut zu tun ist; ich weiß nicht, was dort angeordnet werden muß, ich glaube bezüglich des Bauens?« fragte sie, ihm ins Gesicht blickend. »Mein Gott!« sagte Oblomow, »wenn man auf Stolz hört, wird die Tante noch eine Ewigkeit nicht an die Reihe kommen! Er sagt, man müßte zuerst das Haus bauen, dann die Straße anlegen und Schulen einrichten ... Dazu reicht ein ganzes Leben nicht aus. Wir fahren zusammen hin, Oljga, und dann ...« »Und wohin sollen wir fahren? Gibt es denn dort ein Haus?« »Nein; das alte ist ganz morsch, die Stiege ist wohl schon auseinandergefallen ...« »Wohin fahren wir dann?« fragte sie. »Man muß hier eine Wohnung suchen.« »Deswegen muß man auch in die Stadt fahren,« bemerkte sie, »das ist der zweite Schritt ...« »Dann ...« begann er. »Mache zuerst diese beiden Schritte und dann ...« Was ist denn das? dachte Oblomow traurig; weder ein langes Flüstern noch ein geheimer Vertrag, unsere beiden Leben zu vereinigen! Alles ist anders, nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Wie seltsam diese Oljga ist! Sie bleibt nicht auf einem Punkt stehen; sie sinnt nicht süß über einen poetischen Augenblick nach, als hätte sie gar keine Träume und kein Bedürfnis, sich von den Gedanken hintragen zu lassen! Ich soll mich gleich an die Behörden wenden und eine Wohnung suchen, wie Andrej! Es ist, als hätten sie alle einen Vertrag geschlossen, sich mit dem Leben zu beeilen! Am nächsten Tage begab er sich mit einem Bogen Stempelpapier in die Stadt, um zuerst seine Angelegenheit bei den Behörden zu erledigen; er fuhr ungern hin und blickte gähnend um sich. Er wußte nicht recht, wohin er sich zu wenden hatte, und fuhr zu Iwan Gerassimitsch hin, um ihn zu fragen, in welchem Departement er die Dokumente vorzuzeigen hatte. Dieser freute sich, Oblomow zu sehen, und wollte ihn ohne Frühstück nicht fortlassen. Dann ließ er noch einen Freund holen, um ihn darüber, was zu tun war, auszufragen, denn er selbst befaßte sich längst nicht mehr mit derlei Angelegenheiten. Das Frühstück und die Beratung dauerten bis drei Uhr, und es war zu spät, in das Departement zu gehen, am nächsten Tag war Samstag, und es gab keine Bürostunden, man mußte die Sache auf Montag verschieben. Oblomow begab sich auf die Wiborgskajastraße in seine neue Wohnung. Er fuhr lange durch kleine Gassen, zwischen endlosen Zäunen hin. Endlich fand er einen Wachmann; dieser sagte, das Haus befände sich im nächsten Viertel der Straße, und zeigte auf ein unbebautes Ende derselben hin, das keine Zäune hatte, mit Gras bedeckt war und trockene Wagenfurchen aufwies. Oblomow fuhr weiter, indem er die Brennesseln und die über die Zäune hervorlugenden Ebereschen bewunderte. Endlich zeigte ihm der Wachmann ein altes Häuschen, das auf dem Hof stand, indem er hinzufügte: »Das da.« – »Das Haus der Witwe des Kollegiensekretärs Pschenizin,« las Oblomow auf dem Tor und befahl, in den Hof hineinzufahren. Der Hof hatte die Größe eines Zimmers, so daß der Wagen mit der Deichsel gegen die Ecke des Hauses anstieß und einen Haufen Hühner auseinanderjagte, so daß sie gackernd eilig auseinanderstoben und manche sogar aufflogen; ein großer schwarzer Hund begann an seiner Kette zu reißen, indem er wütend bellte und sich bestrebte, die Köpfe der Pferde zu erreichen. Oblomow saß dicht an den Fenstern und war in Verlegenheit, wie er aussteigen sollte. In den Fenstern, auf denen Reseda, Ringelblumen und Samtblumen standen, zeigten sich Köpfe. Oblomow kroch mit Mühe aus dem Wagen heraus; der Hund bellte noch wütender. Er wandte sich dem Eingang zu und stieß auf eine runzelige alte Frau in einem Sarafan, dessen Saum sie sich in den Gürtel gesteckt hatte. »Wen wollen Sie sprechen?« fragte sie. »Die Hausfrau, Frau Pschenizin.« Die Alte senkte verblüfft den Kopf. »Meinen Sie vielleicht Iwan Matwejewitsch?« fragte sie. »Er ist nicht zu Hause; er ist aus dem Amt noch nicht zurückgekehrt.« »Ich möchte die Hausfrau sprechen,« sagte Oblomow. Unterdessen dauerte der Trubel im Hause fort. Bald aus dem einen, bald aus dem anderen Fenster schaute ein Kopf hervor; die Tür hinter der Alten wurde geöffnet und wieder geschlossen; von dort blickten verschiedene Gesichter hervor. Oblomow wandte sich um; auf dem Hof standen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die ihn neugierig anblickten. Von irgendwo erschien ein schläfriger Bauer in einem Schafpelz und betrachtete träge Oblomow und den Wagen, indem er sich die Augen mit der Hand vor der Sonne schützte. Der Hund fuhr fort, in Absätzen laut zu bellen, und sowie sich Oblomow rührte oder das Pferd mit dem Huf stampfte, begann das Reißen an der Kette und ein andauerndes Bellen. Durch den Zaun rechts sah Oblomow einen endlosen Gemüsegarten mit Kohl, links ein paar Bäume und eine grüne hölzerne Laube. »Sie wollen Agafja Matwejewna sehen?« fragte die Alte. »Sag der Hausfrau,« antwortete Oblomow, »daß ich sie sprechen möchte; ich habe hier eine Wohnung gemietet ...« »Sie sind also der neue Mieter, ein Bekannter von Michej Andrejtsch. Warten Sie, ich werde es bestellen.« Sie öffnete die Tür, wobei ein paar Kinder von der Tür zurückprallten und schnell ins Zimmer liefen. Er hatte Zeit, eine Frau mit nacktem Hals und Ellbogen, ohne Haube, zu bemerken, sie war sehr weiß und ziemlich stark, lächelte, weil ein Fremder sie so gesehen hatte, und lief auch von der Tür fort. »Treten Sie bitte ins Zimmer,« sagte die Alte, als sie zurückgekehrt war, führte Oblomow durch ein kleines Vorzimmer in einen ziemlich großen Raum und bat ihn, zu warten; »die Hausfrau kommt gleich,« fügte sie hinzu. Und der Hund bellt immer noch, dachte Oblomow, das Zimmer betrachtend. Plötzlich blieben seine Augen auf bekannten Gegenständen haften. Das ganze Zimmer war mit seinem Hab und Gut gefüllt: mit staubigen Tischen, auf das Bett gehäuften Sesseln, Matratzen, unordentlich durcheinandergeworfenem Geschirr und mit seinen Schränken. »Was ist das? Es ist nichts geordnet und eingerichtet. – Was für ein Schmutz!« Plötzlich knarrte hinter ihm die Tür, und in das Zimmer trat dieselbe Frau, die er mit nackten Ellbogen und nacktem Hals gesehen hatte. Sie war etwa dreißig Jahre alt, ihr Gesicht war voll und sehr weiß, so daß es schien, das Blut könnte nicht durch die Wangen dringen. Sie hatte fast gar keine Brauen, sondern nur zwei glänzende Streifen, die wie verschwollen aussahen und mit dünnem, hellem Haar bedeckt waren. Die grauen Augen waren gutmütig, wie auch der ganze Gesichtsausdruck; die Hände waren weiß, aber rauh, mit hervortretenden, großen blauen Aderknoten. Sie trug ein anliegendes Kleid; man sah, daß sie keinerlei Kunstgriffe anwandte und nicht einmal einen überflüssigen Rock trug, um den Umfang der Hüften zu vergrößern und den der Taille zu verringern. Infolgedessen konnte selbst ihre zugedeckte Büste, wenn sie keinen Schal trug, einem Maler oder Bildhauer als das Modell einer festen, gesunden Brust dienen, ohne daß dabei ihr Schamgefühl verletzt wurde. Ihr Kleid erschien im Vergleich mit dem eleganten Schal und der Paradehaube alt und abgetragen. Sie hatte keinen Besuch erwartet, und als Oblomow nach ihr fragte, warf sie über ihr Hauskleid ihren Sonntagsschal und deckte den Kopf mit der Haube zu. Sie trat schüchtern ein, blieb stehen und blickte Oblomow verlegen an. Er erhob sich und grüßte. »Ich habe das Vergnügen, Frau Pschenizin zu sehen?« fragte er. »Ja,« antwortete sie. »Sie wollen vielleicht den Bruder sprechen?« fragte sie unschlüssig. »Er ist im Amt, er kommt nie vor fünf Uhr zurück.« »Nein, ich wollte Sie sprechen,« begann Oblomow, nachdem sie sich möglichst weit von ihm auf das Sofa gesetzt hatte und die Enden ihres Schals betrachtete, der sie wie eine Decke bis zur Erde zudeckte. Sie hatte auch ihre Hände unter den Schal versteckt. »Ich habe hier eine Wohnung gemietet; jetzt muß ich aus verschiedenen Gründen eine Wohnung in einem anderen Stadtteil suchen, ich bin also gekommen, um mit Ihnen zu sprechen ...« Sie hörte ihm stumpf zu und sann dann ebenso stumpf nach. »Mein Bruder ist jetzt nicht da,« sagte sie dann. »Aber dieses Haus gehört doch Ihnen?« fragte Oblomow. »Ja,« antwortete sie kurz. »Da hab' ich geglaubt, daß Sie über die Angelegenheit selbst entscheiden können.« »Ja, aber mein Bruder ist nicht da, er verfügt hier über alles,« sagte sie eintönig, indem sie Oblomow zum erstenmal ins Gesicht blickte und dann die Augen wieder auf den Schal senkte. Sie hat ein einfaches, aber angenehmes Gesicht, dachte Oblomow nachsichtig, sie ist gewiß eine gute Frau! Jetzt steckte ein Mädchen den Kopf zur Tür herein. Agafja Matwejewna nickte ihm heimlich drohend zu, und es verschwand. »Und wo ist Ihr Bruder angestellt?« »In der Kanzlei.« »In welcher?« »Wo man die Bauern einträgt ... ich vergesse immer, wie sie heißt.« Sie lächelte treuherzig, und ihr Gesicht nahm noch im selben Augenblick seinen gewohnten Ausdruck an. »Wohnen Sie hier allein mit Ihrem Bruder?« fragte Oblomow. »Nein, ich habe die beiden Kinder, die mein seliger Mann mir zurückgelassen hat, bei mir, einen achtjährigen Knaben und ein sechsjähriges Mädchen,« begann die Hausfrau ziemlich gesprächig, und ihr Gesicht wurde lebhafter, »und noch unsere kranke Großmutter; die kann sich kaum bewegen und geht nur in die Kirche; früher ist sie mit Akulina auf den Markt gegangen, aber seit Nikolo hat sie aufgehört; ihr schwellen die Füße an. Sie sitzt auch in der Kirche meistens nur auf den Stufen. Sonst wohnt niemand mehr hier. Manchmal kommt die Schwägerin auf Besuch oder Michej Andreitsch.« »Und kommt Michej Andreitsch oft zu Ihnen?« »Manchmal bleibt er einen Monat da; er ist mit meinem Bruder befreundet, und sie sind immer zusammen ...« Sie schwieg, da sie den ganzen Vorrat ihrer Gedanken und Worte erschöpft hatte. »Wie ruhig es hier bei Ihnen ist!« sagte Oblomow, »wenn der Hund nicht bellen würde, könnte man glauben, daß hier niemand wohnt.« Sie lächelte zur Antwort. »Gehen Sie oft aus?« »Manchmal im Sommer. Neulich, am Eliastag, sind wir zu den Pulvermühlen gegangen.« »Kommen dorthin viele Leute?« fragte Oblomow, durch den verschobenen Schal auf die einem Sofakissen ähnliche Brust, die nie in Erregung geriet, blickend. »Nein, in diesem Jahre waren nicht so viele da; des Morgens hat's geregnet und dann hat sich's aufgeheitert. Sonst kommen viele hin.« »Wohin gehen Sie sonst noch?« »Wir gehen wenig aus. Mein Bruder geht mit Michej Andreitsch fischen, sie kochen sich dann eine Fischsuppe, wir sind aber meistens zu Hause.« »Wirklich, immer zu Hause?« »Bei Gott, das ist wahr. Voriges Jahr waren wir in Kolpind, und jetzt gehen wir manchmal in den Wald. Am 24. Juni ist der Namenstag vom Bruder, dann kommen zu uns alle Beamten aus der Kanzlei zum Essen.« »Und machen Sie Besuche?« »Der Bruder; aber ich gehe nur am Ostersonntag und zu Weihnachten zu den Verwandten meines Mannes zum Essen.« Sie wußten nicht, worüber sie noch sprechen sollten. »Sie haben hier Blumen, lieben Sie sie?« fragte er. Sie lächelte. »Nein,« sagte sie, »wir haben keine Zeit, uns mit Blumen abzugeben. Die Kinder sind mit Akulina in den gräflichen Garten gegangen, und der Gärtner hat sie ihnen gegeben, die Geranien und die Aloe sind hier schon lange, sie waren schon zu Lebzeiten meines Mannes da.« Jetzt stürzte plötzlich Akulina ins Zimmer, in ihren Händen zappelte und gluckste verzweifelt ein großer Hahn. »Soll ich diesen Hahn dem Krämer geben, Agafja Matwejewna?« fragte sie. »Aber was tust du? Geh!« sagte die Hausfrau verlegen, »du siehst ja, daß ein Gast da ist!« »Ich wollte nur fragen,« sagte Akulina, indem sie den Hahn bei den Füßen packte, so daß ihm der Kopf herabhing, »er gibt dafür siebzig Kopeken.« »Geh in die Küche!« sagte Agafja Matwejewna. »Gib ihm den grauen mit den Tupfen, und nicht diesen! ...« fügte sie eilig hinzu, wurde dann verlegen, versteckte die Hände unter den Schal und begann nach unten zu schauen. »Die Wirtschaft!« sagte Oblomow. »Ja, wir haben viel Hühner; wir verkaufen die Eier und die Küchlein. In den Landhäusern und im gräflichen Hause hier auf der Straße kauft man alles bei uns,« antwortete sie, Oblomow viel dreister anblickend. Und ihr Gesicht nahm einen besorgten, gedankenvollen Ausdruck an; selbst ihre Stumpfheit verschwand, als sie über den ihr vertrauten Gegenstand zu sprechen begann. Jede Frage, die nicht irgend etwas Positives, ihr Bekanntes berührte, beantwortete sie nur mit einem Lächeln oder einem Schweigen. »Man müßte das ordnen,« bemerkte Oblomow, auf den Haufen seiner Sachen hinweisend. »Wir wollten es schon machen, aber der Bruder hat es nicht erlaubt,« unterbrach sie Oblomow lebhaft und blickte ihn schon ganz dreist an: »Gott weiß, was hier in den Tischen und Schränken liegt ...« hat er gesagt, »wenn etwas verlorengeht, werden wir es zu verantworten haben ...« Sie machte eine Pause und lächelte. »Wie vorsichtig Ihr Bruder ist!« fügte Oblomow hinzu. Sie lächelte ein wenig und nahm wieder ihren gewöhnlichen Gesichtsausdruck an. Das Lächeln war für sie mehr ein Mittel, ihre Unkenntnis dessen, was sie in dem einen oder andern Falle zu tun oder zu sagen hatte, zu verbergen. »Ich kann nicht so lange warten, bis er kommt,« sagte Oblomow. »Vielleicht bestellen Sie ihm, daß ich verschiedener Umstände wegen die Wohnung nicht benötige und bitte darum, dieselbe einem anderen Mieter zu übergeben; ich werde auch selbst nach einem Reflektanten suchen.« Sie hörte stumpf blinzelnd zu. »Haben Sie die Güte, mit Ihrem Bruder bezüglich des Kontraktes zu sprechen ...« »Er ist ja jetzt nicht zu Hause,« wiederholte sie, »kommen Sie lieber morgen wieder; morgen ist Samstag, und er geht nicht in die Kanzlei ...« »Ich habe furchtbar viel zu tun und bin keinen Augenblick frei,« suchte Oblomow nach einer Ausrede. »Haben Sie die Güte, nur zu sagen, daß, da die Angabe in Ihren Händen bleibt und ich selbst nach einem Mieter suchen werde ...« »Der Bruder ist nicht da,« sagte sie eintönig, »er kommt noch immer nicht ...« Sie blickte auf die Straße. »Er geht hier vorüber, man sieht aus dem Fenster, wenn er kommt, er ist aber noch nicht da!« »Nun, ich gehe ...« sagte Oblomow. »Und was soll ich dem Bruder sagen, wenn er kommt? Wann ziehen Sie ein?« fragte sie, sich vom Sofa erhebend. »Richten Sie ihm aus, was ich Ihnen mitgeteilt habe,« sagte Oblomow, »daß ich eingetretener Umstände wegen ...« – »Sie sollten morgen kommen und mit ihm sprechen ...« wiederholte sie. »Ich kann morgen nicht.« »Also übermorgen, am Sonntag; nach der Messe gibt es bei uns Schnaps und einen Imbiß. Auch Michej Andreitsch kommt dann.« »Kommt Michej Andreitsch wirklich her?« »Das ist bei Gott wahr.« »Ich kann auch übermorgen nicht,« lehnte Oblomow ungeduldig ab. »Also dann nächste Woche ...« bemerkte sie. »Und wann werden Sie einziehen? Ich würde die Fußböden waschen und abstauben lassen.« »Ich ziehe nicht ein.« »Wieso denn? Und wo sollen wir Ihre Sachen hintun?« »Haben Sie die Güte, Ihrem Bruder zu sagen,« begann Oblomow wieder langsam, indem er die Augen starr auf ihre Brust richtete, »daß eingetretener Umstände wegen ...« »Er kommt noch nicht, man sieht ihn nicht,« sagte sie im selben Tonfalle, auf den Zaun blickend, der die Straße vom Hofe trennte. »Ich kenne seine Schritte; man hört auf dem Holzpflaster, wenn jemand geht. Es gehen hier wenige Menschen vorüber ...« »Werden Sie ihm dies bestellen und ihm alles sagen?« fragte Oblomow sich verneigend und der Tür zuwendend. »Er wird in einer halben Stunde selbst da sein ...« sagte die Hausfrau mit einer ihr sonst nicht eigenen Unruhe, als versuchte sie Oblomow mit der Stimme zurückzuhalten. »Ich kann nicht länger warten,« beschloß er, die Tür öffnend. Als der Hund ihn herauskommen sah, begann er wieder zu bellen und an der Kette zu zerren. Der Kutscher, der sich bis dahin auf den Ellbogen gestützt und geschlafen hatte, begann die Pferde zurückzutreiben, die Hühner stoben wieder aufgeregt auseinander, und aus den Fenstern schauten wieder ein paar Köpfe heraus. »Also ich werde dem Bruder sagen, daß Sie da waren ...« fügte die Hausfrau hinzu, als Oblomow in den Wagen stieg. »Ja, und sagen Sie ihm, daß ich eingetretener Umstände wegen die Wohnung nicht behalten kann und sie jemand anderm übergeben werde, er möchte auch selbst nach einem Mieter suchen ...« »Um diese Zeit kommt er sonst immer ...« sagte sie zerstreut zuhörend. »Ich werde ihm sagen, daß Sie noch einmal kommen werden.« »Ja, ich komme dieser Tage.« Der Wagen verließ, von verzweifeltem Hundegebell begleitet, den Hof und begann sich auf den Erdklumpen der ungepflasterten Gasse zu schaukeln. An deren entgegengesetzten Ecke erschien ein Mann mittleren Alters in einem schäbigen Überzieher, mit einem großen Pakete von Papieren unter dem Arm, mit einem dicken Stocke und in Galoschen, trotzdem ein trockener, heißer Tag war. Er ging rasch, indem er um sich blickte und so einherschritt, als ob er das Holztrottoir durchtreten wollte. Oblomow blickte ihm nach und sah, daß er ins Pschenizinsche Tor einbog. Jetzt kehrt wahrscheinlich der Bruder zurück! dachte er. Der Teufel soll ihn holen! Ich würde mit ihm eine Stunde sprechen müssen. Ich will aber jetzt essen, es ist so heiß! Auch wartet Oljga auf mich ... Ein andermal! »Fahr schneller!« rief er dem Kutscher zu. Ich müßte aber eine andere Wohnung ansehen! fiel ihm plötzlich ein, indem er sich umschaute und die Zäune betrachtete. Ich muß wieder zurück auf die Morskaja und die Konjuschennaja. Das nächste Mal! entschied er. »Fahr schneller!« Drittes Kapitel Drittes Kapitel Ende August stellten sich Regentage ein, und in den Landhäusern, in denen Öfen waren, begannen die Schornsteine zu rauchen; in denen es aber keine gab, gingen die Mieter mit verbundenen Wangen herum, und endlich wurden die Landhäuser leer. Oblomow ließ sich in der Stadt nicht blicken, und eines Morgens sah er, wie man Iljinskys Möbel an seinen Fenstern vorübertrug und vorüberfuhr. Trotzdem es ihm jetzt nicht mehr als eine Heldentat erschien, die Wohnung zu wechseln oder irgendwo unterwegs zu essen und einen ganzen Tag lang nicht auszuruhen, wußte er nun doch nicht, wo er während der Nacht ein Obdach finden könnte. Es erschien ihm als gänzlich ausgeschlossen, jetzt allein auf dem Lande zu bleiben, nachdem der Park und der Hain verödet waren und Oljgas Fensterläden sich geschlossen hatten. Er ging durch ihre leeren Zimmer, durchschritt den Park, stieg vom Berge herab, und sein Herz krampfte sich vor Trauer zusammen. Er befahl Sachar und Anissja, auf die Wiborgskajastraße zu übersiedeln, wo er so lange bleiben wollte, bis er eine Wohnung gefunden hatte, dann fuhr er in die Stadt, aß schnell im Gasthause und verbrachte den Abend bei Oljga. Doch die Herbstabende in der Stadt glichen nicht den langen, hellen Tagen und Abenden im Park und Hain. Hier konnte er Oljga nicht mehr dreimal täglich sehen; hier kam Katja nicht zu ihm, und er schickte auch Sachar nicht auf eine Entfernung von fünf Werst mit einem Briefchen hinüber. Und das ganze blühende Liebespoem des Sommers schien stehenzubleiben und sich träger fortzubewegen, als mangle es ihm an Inhalt. Sie schwiegen manchmal eine halbe Stunde lang. Oljga vertiefte sich in ihre Arbeit und zählte leise mit der Nadel die Karos des Musters, während er sich in ein Chaos von Gedanken vertiefte, schon in der Zukunft lebte und dem gegenwärtigen Augenblick weit vorauseilte. Nur manchmal erzitterte er vor Leidenschaft, wenn er sie forschend anschaute, oder sie blickte ihn flüchtig an und lächelte, wenn sie aus seinen Augen einen Strahl zärtlicher Ergebenheit und stummen Glückes auffing. Er fuhr drei Tage lang in die Stadt zu Oljga und aß dort unter dem Vorwande, daß er noch nicht eingerichtet sei, im Laufe der Woche einziehen würde und sich deshalb in der neuen Wohnung nicht wie zu Hause fühlte, zu Mittag. Doch am vierten Tage erschien ihm das unpassend, und er fuhr seufzend nach Hause, nachdem er neben Iljinskys Wohnung herumgeirrt war. Am fünften Tage aßen sie nicht zu Hause. Am sechsten Tage sagte ihm Oljga, er sollte in ein bestimmtes Geschäft kommen, sie würde dort sein, und er könnte sie dann nach Hause begleiten, während der Wagen ihnen nachfahren würde. Das alles war unbequem; er und sie trafen Bekannte, die sie grüßten und von denen einige sie mit Gesprächen aufhielten. »Ach, du mein Gott, welch eine Qual!« sagte er, vor Angst und Unbehaglichkeit schwitzend. Auch die Tante blickte ihn mit ihren großen, matten Augen an und roch nachdenklich an ihrem Fläschchen, als verursachte er ihr Kopfschmerzen. Und wie weit er zu fahren hatte! Bis er von der Wiborgskajastraße hinkam und abends zurückkehrte, vergingen drei Stunden. »Wollen wir's der Tante sagen,« drängte Oblomow, »dann kann ich von morgen an bei euch bleiben und niemand wird etwas sagen dürfen ...« »Warst du bei den Behörden?« fragte Oljga. Oblomow hatte große Lust, »ich war dort und habe alles erledigt,« zu sagen, doch er wußte, daß Oljga ihn forschend anblicken und von seinem Gesicht sofort die Lüge ablesen würde. Er seufzte, statt zu antworten. »Ach, wenn du wüßtest, wie schwierig das ist,« sagte er. »Und du hast mit dem Bruder der Hausfrau gesprochen und eine Wohnung gefunden?« fragte sie dann, ohne die Augen zu heben. »Er ist des Morgens nie zu Hause, und abends bin ich hier,« sagte Oblomow und freute sich, eine genügende Ausrede gefunden zu haben. Jetzt seufzte Oljga, sagte aber nichts. »Morgen spreche ich sicher mit dem Bruder,« beruhigte Oblomow sie. »Morgen ist Sonntag; er geht nicht in die Kanzlei!« »Bevor das alles erledigt ist, kann man nicht mit der Tante sprechen und muß seltener beisammen sein ...« sagte Oljga sinnend. »Ja, ja ... das ist wahr,« fügte Oblomow erschrocken hinzu. »Iß bei uns am Sonntag zu Mittag, das ist unser Empfangstag, und komm dann vielleicht allein am Mittwoch,« beschloß sie. »Außerdem können wir uns im Theater sehen. Du weißt, wann wir hinfahren und kannst auch kommen.« »Ja, das ist wahr,« sagte er, darüber erfreut, daß sie die Sorge um ihre Zusammenkünfte auf sich nahm. »Und wenn ein schöner Tag ist,« schloß sie, »fahre ich in den Sommergarten spazieren, und auch du kannst hinkommen; das wird uns an den Park erinnern ... an den Park!« wiederholte sie ausdrucksvoll. Er küßte ihr schweigend die Hand und nahm von ihr bis Sonntag Abschied. Sie folgte ihm traurig mit den Augen, setzte sich dann ans Klavier und gab sich ganz den Tönen hin. Ihr Herz beweinte etwas, und auch die Tasten weinten. Sie wollte singen – sie konnte aber nicht! Am nächsten Tag stand Oblomow auf und zog einen leichten Rock an, den er auf dem Lande getragen hatte. Vom Schlafrocke hatte er sich längst verabschiedet und ihn im Schrank hängen lassen. Sachar ging, seiner Gewohnheit nach, das Präsentierbrett wiegend, ungeschickt an den Tisch heran und brachte Kaffee und Kringel. Hinter Sachar erschien, wie gewöhnlich, Anissja bis zur Hälfte in der Tür und beobachtete, ob Sachar das Brett glücklich auf den Tisch stellte; wenn er aber etwas fallen ließ, sprang sie eilig heran, um die übrigen Gegenstände zu retten. Dann begann Sachar zuerst über die Sachen und dann über seine Frau zu schimpfen und zielte mit dem Ellbogen auf ihre Brust. »Der Kaffee ist so gut! Wer kocht ihn?« fragte Oblomow. »Die Hausfrau selbst,« sagte Sachar; »sie tut es schon seit sechs Tagen. Sie geben zu viel Zichorie hinein,« sagt sie, »und kochen den Kaffee zu wenig. Lassen Sie nur mich es tun!« »Er ist sehr gut!« wiederholte Oblomow, sich eine zweite Schale einschenkend. »Danke ihr.« »Hier ist sie selbst,« sagte Sachar, auf die halbgeöffnete Tür des Nebenzimmers hinweisend. »Das ist wohl ihre Speisekammer; hier arbeitet sie immer, sie hält hier den Tee, den Zucker, den Kaffee und das Geschirr.« Oblomow sah nur den Rücken der Hausfrau, ihren Nacken, einen Teil ihres weißen Halses und ihre nackten Ellbogen. »Warum bewegt sie dort so schnell ihre Ellbogen?« fragte Oblomow. »Wer weiß! Vielleicht bügelt sie Spitzen.« Oblomow beobachtete, wie die Ellbogen arbeiteten, und wie der Rücken sich beugte und aufrichtete. Wenn sie sich bückte, sah man ihren reinen Unterrock, ihre reinen Strümpfe und die runden, dicken Füße. Sie ist eine Beamtenfrau und hat Ellbogen wie eine Gräfin, mit Grübchen! dachte Oblomow. Um die Mittagsstunde kam Sachar fragen, ob er nicht von der Piroge kosten wolle. Die Hausfrau bäte ihn darum. »Heute ist Sonntag, da haben sie eine Piroge gebacken.« »Na, ich kann mir die Piroge vorstellen!« sagte Oblomow geringschätzig. »Wahrscheinlich mit Zwiebeln und Rüben ...« »Die Piroge ist nicht schlimmer als in Oblomowka,« bemerkte Sachar, »mit jungen Hühnern und frischen Pilzen.« »Ah, das muß dann gut sein. Bring mir ein Stück! Wer bäckt das? Diese schmutzige Alte?« »Aber wo denken Sie hin?« sagte Sachar verächtlich. »Wenn die Hausfrau nicht dabei wäre, könnte sie nicht einmal den Teig anmachen. Die Hausfrau macht alles selbst in der Küche. Sie hat die Piroge mit Anissja zusammen gebacken.« Nach fünf Minuten erschien aus dem Nebenzimmer ein nackter Arm, der mit dem ihm bekannten Schal kaum bedeckt war; die Hand hielt einen Teller, auf dem ein ungeheures Stück Piroge dampfte. »Danke bestens,« antwortete Oblomow freundlich, die Piroge in Empfang nehmend, blickte in die Tür hinein und heftete seine Augen auf die hohe Brust und die nackten Schultern. Die Tür wurde eilig geschlossen. »Wünschen Sie einen Schnaps?« hörte er fragen. »Ich trinke nicht; danke vielmals,« sagte Oblomow noch freundlicher. »Was für einen haben Sie?« »Unseren eigenen, selbstgemachten. Wir lassen ihn auf Johannisbeerblättern ziehen,« sprach die Stimme. »Ich habe einen auf Johannisbeerblättern gezogenen nie getrunken. Wenn Sie erlauben, werde ich ihn kosten!« Die Hand erschien wieder mit einem Teller und einem Gläschen Schnaps. Oblomow trank; er schmeckte ihm sehr gut. »Besten Dank!« sagte er und versuchte, in die Tür hineinzublicken; doch sie wurde zugeschlagen. »Warum lassen Sie sich nicht anschauen, damit ich Ihnen guten Morgen sagen kann?« fragte Oblomow vorwurfsvoll. Die Hausfrau lachte hinter der Tür auf. »Ich bin noch im Morgenkleid. Ich war die ganze Zeit in der Küche. Ich ziehe mich jetzt an; der Bruder kehrt gleich von der Messe zurück,« antwortete sie schüchtern. »Ach ja, da Sie vom Bruder sprechen,« bemerkte Oblomow, »erinnere ich mich, daß ich ihn sprechen muß.« »Gut, ich werde es ihm sagen, wenn er zurückkehrt.« »Wer hustet bei Ihnen? Ich höre einen so trockenen Husten.« »Das ist die Großmutter, sie hustet schon das achte Jahr.« Die Tür wurde zugeschlagen. Wie sie ist ... so einfach, dachte Oblomow, es ist aber etwas in ihr ... Und sie ist so reinlich. Bis jetzt hatte er noch nicht Gelegenheit gehabt, den »Bruder« kennenzulernen. Er sah nur manchmal vom Bett aus, ganz früh des Morgens am Gitter des Zauns, einen Mann mit einem großen Papierbündel vorüberhuschen und in dem Gäßchen verschwinden, und um fünf Uhr kehrte derselbe Mann mit demselben Paket zurück, huschte an den Fenstern vorüber und verschwand auf der Stiege. Man hörte ihn im Hause nicht. Man merkte aber, daß dort Menschen lebten, besonders des Morgens. In der Küche klapperten die Messer, man hörte durch das Fenster, wie die Alte in einer Ecke etwas auswusch, wie der Hausbesorger Holz hackte oder ein Faß mit Wasser auf zwei Rädern vorüberfuhr; hinter der Wand weinten Kinder, oder es ertönte der hartnäckige trockene Husten der Großmutter. Oblomow gehörten vier Zimmer, das heißt die ganze Hauptfront des Hauses. Die Hausfrau nahm mit ihrer Familie zwei bescheidene Zimmer ein, während der Bruder oben im Giebelzimmer wohnte. Oblomows Schlaf- und Arbeitszimmer ging mit den Fenstern nach dem Hof hinaus, das Wohnzimmer nach dem Garten und der Salon nach dem großen Gemüsegarten mit dem Kraut und den Kartoffeln. Im Wohnzimmer waren die Fenster mit verblaßten Kattunvorhängen drapiert. An die Wände schmiegten sich einfache Sessel aus Nußholz; unter dem Spiegel stand ein L'hombre-Tisch; auf den Fensterbrettern drängten sich Töpfe mit Geranien und Samtblumen, und darüber hingen vier Käfige mit Zeisigen und Kanarienvögeln. Der Bruder kam auf den Fußspitzen herein und beantwortete Oblomows Gruß mit einer dreifachen Verbeugung. Alle Knöpfe seiner Uniform waren geschlossen, so daß man nicht beurteilen konnte, ob er Wäsche trug oder nicht; die Krawatte war in einen einfachen Knoten geschlungen, und ihre Enden waren versteckt. Er war etwa vierzig Jahre alt, trug auf der Stirn einen geraden Schopf und auf beiden Schläfen zwei lose Schöpfe, die an Hundeohren mittlerer Größe erinnerten. Die grauen Augen blieben nicht sofort an einem Gegenstand haften, sondern blickten zuerst verstohlen hin und richteten sich erst beim zweitenmal fest auf einen Punkt. Er schien sich seiner Hände zu schämen und bestrebte sich, sie beim Sprechen beide auf dem Rücken oder die eine hinter dem Brustlatz und die andere rückwärts zu verstecken. Wenn er seinem Chef ein Papier hinreichte und erklärte, hielt er die eine Hand auf dem Rücken und zeigte mit dem Mittelfinger der zweiten Hand, den er mit dem Nagel nach unten drehte, vorsichtig auf irgendeine Zeile oder ein Wort hin und versteckte sofort wieder die Hand, vielleicht deswegen, weil seine Finger dick und rötlich waren und ein wenig zitterten und er Grund hatte, sie für nicht ganz anständig zu halten und sie selten sehen zu lassen. »Sie haben zu befehlen geruht,« begann er, seinen doppelten Blick Oblomow zuwerfend, »ich möchte kommen.« »Ja, ich wollte mit Ihnen bezüglich der Wohnung sprechen. Bitte, Platz zu nehmen!« antwortete Oblomow höflich. Iwan Matwejewitsch entschloß sich nach einer wiederholten Einladung, Platz zu nehmen, indem er sei nen Körper vorbeugte und die Hände in die Ärmel einzog. »Neueingetretener Umstände wegen muß ich mir eine andere Wohnung suchen,« sagte Oblomow, »und möchte diese jemand übergeben.« »Jetzt ist es schwer, sie jemand zu übergeben,« gab Iwan Matwejewitsch zur Antwort, indem er in seine Finger hustete und sie dann schnell in seinen Ärmel versteckte, »wenn Sie uns Ende Sommer beehrt hätten, da haben sich viele die Wohnung angeschaut.« »Ich war da, habe Sie aber nicht angetroffen.« »Die Schwester hat mir's gesagt,« fügte der Beamte hinzu. »Sie sollten aber nicht ausziehen. Sie werden es hier bequem haben. Vielleicht stört Sie das Geflügel?« »Welches Geflügel?« »Die Hühner.« Oblomow hörte zwar vom frühen Morgen an immer das laute Gackern der Bruthenne und das Piepsen der Küchlein unter seinen Fenstern, aber beachtete er denn jetzt so etwas? Vor ihm schwebte Oljgas Gestalt, und er hatte für seine Umgebung kaum einen Blick. »Nein, das macht nichts,« sagte er, »ich dachte, Sie meinen die Kanarienvögel; sie beginnen schon früh des Morgens zu singen.« »Wir werden sie hinaustragen,« antwortete Iwan Matwejewitsch. »Auch das macht nichts,« bemerkte Oblomow, »ich kann aber aus verschiedenen Gründen nicht hier bleiben.« »Wie es beliebt,« antwortete Iwan Matwejewitsch. »Wie ist es aber mit dem Kontrakt, wenn Sie keinen Mieter finden? Werden Sie uns entschädigen ...? Das wird Sie in Unkosten stürzen.« »Wieviel verlangen Sie?« fragte Oblomow. »Ich werde das gleich berechnen.« Er brachte den Kontrakt und das Rechenbrett. »Die Wohnung kostet also achthundert Rubel. Wir haben hundert Rubel Angabe bekommen, es bleiben also noch siebenhundert Rubel zurück,« sagte er. »Soll ich Ihnen denn wirklich für ein ganzes Jahr zahlen, wenn ich bei Ihnen keine vierzehn Tage wohne?« unterbrach ihn Oblomow. »Wie könnte es anders sein?« entgegnete Iwan Matwejewitsch sanft und eindringlich. »Die Schwester ist sonst ungerechterweise im Nachteil. Sie ist eine arme Witwe; sie lebt nur davon, was ihr das Haus trägt, und verdient außerdem vielleicht etwas an ihren Hühnern und Eiern, um die Kinder zu kleiden.« »Aber ich bitte Sie, das geht nicht,« begann Oblomow, »sagen Sie selbst; ich wohne keine vierzehn Tage hier. Was ist denn das, wofür?« »Da steht es im Kontrakt,« antwortete Iwan Matwejewitsch, mit dem Mittelfinger auf zwei Zeilen hinweisend und ihn dann versteckend, »haben Sie die Güte, zu lesen: ›Im Falle, wenn ich, Oblomow, vor der Zeit die Wohnung verlasse, bin ich verpflichtet, dieselbe einer anderen Person unter den gleichen Bedingungen zu übergeben oder Frau Pschenizin durch das Bezahlen der Miete für das ganze Jahr, bis zum ersten Juni künftigen Jahres, zu entschädigen.‹« »Was ist denn das?« fragte Oblomow, »das ist ungerecht.« »So fordert es das Gesetz,« bemerkte Iwan Matwejewitsch. »Sie haben selbst die Güte gehabt, es zu unterschreiben. Da ist Ihre Unterschrift!« Unter der Unterschrift erschien wieder der Finger und verschwand. »Wieviel also?« fragte Oblomow. »Siebenhundert Rubel,« begann Iwan Matwejewitsch mit demselben Finger zu rechnen, indem er ihn jedesmal schnell in die Faust versteckte, »und hundertfünfzig Rubel für den Stall und den Wagenschuppen.« Er klapperte wieder mit dem Rechenbrett. »Aber ich bitte Sie, ich habe keine Pferde, ich halte keine. Wozu brauche ich einen Stall und Wagenschuppen?« entgegnete Oblomow lebhaft. »Das steht im Kontrakt,« bemerkte Iwan Matwejewitsch, mit dem Finger auf eine Zeile hinweisend. »Michej Andreitsch hat gesagt, daß Sie sich Pferde anschaffen werden.« »Michej Andreitsch lügt!« sagte Oblomow ärgerlich. »Geben Sie mir den Kontrakt!« »Hier ist die Kopie, der Kontrakt gehört meiner Schwester,« gab Iwan Matwejewitsch sanft zur Antwort und nahm den Kontrakt in die Hand. »Außerdem ist für den Gemüsegarten und den Konsum von Kraut, Rüben und anderem Gemüse für eine Person ungefähr zweihundertfünfzig Rubel zu rechnen.« Er wollte mit dem Rechenbrett klappern. »Was für einen Gemüsegarten? Was für ein Kraut? Ich weiß von nichts, was sagen Sie da?« entgegnete Oblomow fast drohend. »Da steht es im Kontrakt. Michej Andreitsch hat gesagt, daß Sie die Wohnung unter diesen Bedingungen mieten ...« »Was soll denn das bedeuten, daß Sie ohne mein Wissen über mein Essen verfügen? Ich will weder Kraut noch Rüben ...« sagte Oblomow sich erhebend. Auch Iwan Matwejewitsch sprang vom Sessel auf. »Aber entschuldigen Sie, wieso ohne Ihr Wissen? Da ist die Unterschrift!« entgegnete er. Der dicke Finger zitterte wieder über der Unterschrift, und das ganze Papier zitterte in seiner Hand. »Wieviel rechnen Sie alles in allem?« fragte Oblomow ungeduldig. »Dann noch hundertvierundfünfzig Rubel achtundzwanzig Kopeken für das Streichen der Plafonds und Türen, für das Ändern der Fenster in der Küche und für die neuen Türhaspen.« »Wie, ist denn das auch auf meine Rechnung gemacht worden?« fragte Oblomow erstaunt. »Das wird immer vom Hausherrn bezahlt. Wer zieht denn in eine unfertige Wohnung ein?« »Hier im Kontrakt heißt es, daß es auf Ihre Rechnung geschehen ist,« sagte Iwan Matwejewitsch, aus der Ferne mit dem Finger auf die Stelle zeigend, wo das stand. »Tausenddreihundertvierundfünfzig Rubel achtundzwanzig Kopeken alles in allem!« schloß er sanft, beide Hände mit dem Kontrakt auf dem Rücken versteckend. »Wo soll ich das hernehmen? Ich habe kein Geld,« entgegnete Oblomow, durch das Zimmer schreitend. »Wozu brauche ich denn eure Rüben und euer Kraut?« »Wie es Ihnen beliebt,« fügte Iwan Matwejewitsch leise hinzu. »Sie sollten sich aber keine Scherereien machen. Sie werden es hier bequem haben. Und was das Geld anbelangt ... Die Schwester wird warten.« »Ich kann nicht, aus verschiedenen Gründen nicht! ... Hören Sie?« »Ich höre. Wie es Ihnen beliebt,« antwortete Iwan Matwejewitsch gehorsam und trat um einen Schritt zurück. »Gut, ich werde es mir überlegen und werde die Wohnung jemand zu übergeben versuchen!« sagte Oblomow, dem Beamten zunickend. »Das geht schwer; übrigens, wie es Ihnen beliebt!« schloß Iwan Matwejewitsch, verneigte sich dreimal und ging hinaus. Oblomow zog seine Brieftasche hervor und zählte das Geld. Es waren im ganzen dreihundertfünf Rubel. Er starrte. »Wo ist das Geld hingekommen?« fragte Oblomow sich selbst erstaunt und fast entsetzt. »Man hat mir zu Anfang des Sommers tausendzweihundert Rubel vom Gut geschickt, und jetzt habe ich nur noch dreihundert!« Er begann zu zählen und versuchte sich aller Ausgaben zu entsinnen. Ihm fielen aber nur zweihundertfünfzig Rubel ein. »Wofür habe ich das Geld ausgegeben?« fragte er. »Sachar, Sachar!« »Was wünschen Sie?« »Wo ist denn unser ganzes Geld? Wir haben ja keines mehr!« Sachar begann in den Taschen zu suchen, nahm einen halben Rubel und zehn Kopeken heraus und legte sie auf den Tisch. »Da, ich habe vergessen, es Ihnen zurückzugeben; das ist vom Umzug zurückgeblieben!« sagte er. »Was legst du mir das Kleingeld her? Sag mir lieber, wo die achthundert Rubel hingekommen sind!« »Wie kann ich das wissen? Weiß ich denn, wie Sie das Geld ausgeben, was Sie den Droschkenkutschern zahlen?« »Ja, die Wagen haben viel gekostet,« erinnerte sich Oblomow, indem er Sachar anblickte. »Weißt du nicht mehr, wieviel wir dem Droschkenkutscher auf dem Lande gezahlt haben?« »Wie sollte ich mich daran erinnern? Einmal haben Sie mich dreißig Rubel zahlen lassen, das weiß ich.« »Wenn du alles aufschreiben könntest!« warf Oblomow ihm vor. »Es ist schlimm, so ungebildet zu sein!« »Ich habe mein Leben, Gott sei Dank, auch ohne Bildung nicht schlimmer als die andern verbracht!« entgegnete Sachar, zur Seite blickend. Stolz hat recht: Man muß im Dorfe eine Schule einrichten! dachte Oblomow. »Bei Iljinskys soll ein Gebildeter gewesen sein, wie die Leute erzählen,« fuhr Sachar fort, »und der hat das Silber aus der Kredenz gestohlen!« Na, ich danke! dachte Oblomow ängstlich. Diese Gebildeten sind wirklich ganz demoralisiert; sie treiben sich in den Schenken herum, kaufen sich Harmonikas und Tee ... Nein, es ist zu früh, Schulen einzuführen! ... »Nun, wofür haben wir noch Geld ausgegeben?« fragte er. »Wie kann ich das wissen? Sie haben noch Michej Andreitsch auf dem Lande Geld gegeben ...« »Wirklich!« sagte Oblomow erfreut, eine neue Ausgabe zu entdecken. »Also dreißig Rubel dem Kutscher und ich glaube fünfundzwanzig Rubel Tarantjew ... Was noch?« Er blickte Sachar sinnend und fragend an, während Sachar ihn finster von der Seite ansah. »Vielleicht weiß es Anissja?« fragte Oblomow. »Wie sollte es diese Närrin wissen? Was weiß denn ein Frauenzimmer?« sagte Sachar verächtlich. »Mir fällt nichts ein!« schloß Oblomow verzweifelt. »Vielleicht waren Diebe da?« »Wenn Diebe dagewesen wären, hätten sie alles genommen!« sagte Sachar und ging. Oblomow setzte sich in den Lehnstuhl und sann nach. Wo soll ich denn das Geld hernehmen? dachte er, bis ihm der kalte Schweiß kam. Wann bekomme ich etwas vom Gut und wieviel? Er sah auf die Uhr; es war zwei Uhr, die Stunde, da er zu Oljga fahren sollte. Heute war der Tag, an dem er dort speiste. Er wurde nach und nach heiterer, ließ eine Droschke holen und fuhr auf die Morskajastraße. Viertes Kapitel Viertes Kapitel Er sagte Oljga, er hätte mit dem Bruder der Hausbesitzerin gesprochen, und fügte unter anderem hinzu, er hoffe, die Wohnung noch diese Woche an den Mann zu bringen. Vor dem Essen machte Oljga mit der Tante einen Besuch, während Oblomow in der Nähe Wohnungen suchte. Er war in zwei Häusern; in dem einen fand er eine Wohnung, die aus vier Zimmern bestand und viertausend Rubel kostete, und im zweiten Hause verlangte man für fünf Zimmer sechstausend Rubel. »Entsetzlich, entsetzlich!« sagte er, sich die Ohren zuhaltend und von den erstaunten Hausbesorgern fortlaufend. Nachdem er zu diesen Summen über tausend Rubel hinzugefügt hatte, die er der Pschenizin bezahlen mußte, hatte er vor Angst keine Zeit, zu addieren, beschleunigte seine Schritte und lief zu Oljga. Dort war Gesellschaft. Oljga war angeregt, sie sprach, sang und machte Furore. Nur Oblomow hörte zerstreut zu, und sie sprach und sang nur für ihn, damit er die Nase nicht hängen ließ und die Lider nicht senkte, damit alles in ihm unaufhörlich redete und sang. »Komm morgen ins Theater, wir haben eine Loge«, sagte sie. Abends bei diesem Schmutz und so weit! dachte er, als er ihr aber in die Augen blickte, beantwortete er ihr Lächeln mit einem Lächeln der Beistimmung. »Abonniere dich auf einen Parkettsitz«, fügte sie hinzu. »Nächste Woche kommen die Majewskys; ma tante hat sie in unsere Loge eingeladen.« Und sie sah ihm in die Augen, um zu erfahren, wie sehr er sich freute. Mein Gott! dachte er entsetzt. Und ich habe nur dreihundert Rubel. »Bitte den Baron darum, er ist dort mit allen bekannt und wird dir gleich morgen einen Sitz besorgen.« Und sie lächelte wieder; auch er blickte sie lächelnd an und bat ebenfalls lächelnd den Baron. Dieser willigte ebenfalls lächelnd ein, die Karte holen zu lassen. »Jetzt sitzest du im Parkett, und später, wenn du alles erledigt hast«, fügte Oljga hinzu, »wirst du schon das Recht haben, einen Platz in unserer Loge einzunehmen.« Jetzt lächelte sie so, wie sie es tat, wenn sie ganz glücklich war. Ach, welch ein Glück lächelte ihn plötzlich an, als Oljga den Schleier der berückenden Ferne, die mit ihrem Lächeln wie mit Blumen geschmückt war, lüftete! Oblomow vergaß sogar das Geld; erst als er am nächsten Morgen das Paket des Bruders an den Fenstern vorbeihuschen sah, erinnerte er sich an die Vollmacht und bat Iwan Matwejewitsch, dieselbe behördlich bestätigen zu lassen. Dieser las das Dokument, erklärte, dasselbe enthalte einen undeutlichen Punkt, und schlug vor, denselben zu erläutern. Das Dokument wurde umgeschrieben, endlich bestätigt und auf die Post geschickt. Oblomow teilte es triumphierend Oljga mit und beruhigte sich für lange Zeit. Er freute sich, daß er bis zum Eintreffen der Antwort keine Wohnung zu suchen brauchte, und daß er das Geld nach und nach ausgeben konnte. Man könnte ja auch hier wohnen, dachte er, aber es ist von allem so weit, sonst herrscht ja allerdings strenge Ordnung, und die Wirtschaft wird ausgezeichnet geführt ... Die Wirtschaft wurde in der Tat ausgezeichnet geführt. Trotzdem Oblomow besondere Küche führte, wachte doch das Auge der Hausfrau auch über seinem Essen. Als Ilja Iljitsch eines Tages in die Küche trat, traf er Agafja Matwejewna fast in einer Umarmung mit Anissja an. Wenn es eine Sympathie der Seelen gibt, wenn verwandte Herzen schon aus der Ferne wittern, wurde das noch nie so augenscheinlich bewiesen wie durch die Sympathie von Agafja Matwejewna und Anissja füreinander. Sie hatten sich gegenseitig gleich beim ersten Blick, beim ersten Wort und bei der ersten Begegnung begriffen und abgeschätzt, Agafja Matwejewna hatte aus Anissjas Handgriffen, als sie mit einem Schürhaken und einem Fetzen bewaffnet, mit aufgestreiften Ärmeln die seit einem halben Jahre nicht geheizte Küche in Ordnung brachte, daraus, wie sie auf einen Ruck mit dem Besen die Wände, die Küchenbretter und den Tisch abstaubte, wie weit sie mit dem Kehrbesen auf dem Fußboden und den Bänken ausholte, und daraus, wie schnell sie den Ofen von Asche reinigte, ersehen, was Anissja wert war, und was für eine große Hilfe sie ihr in ihren häuslichen Arbeiten sein konnte. Sie schloß sie in dem Augenblick in ihr Herz ein. Und als Anissja nur einmal gesehen hatte, wie Agafja Matwejewna in der Küche herrschte, wie sie mit ihren Falkenaugen ohne Brauen jede ungeschickte Bewegung der plumpen Akulina auffing, wie sie ihr die Befehle, herauszunehmen, hinzustellen, zu wärmen, zu salzen, zudonnerte, wie sie auf dem Markt auf den ersten Blick und höchstens bei der Berührung mit dem Finger, ohne sich zu irren, entschied, wieviel Monate ein Huhn alt war, ob der Fisch lange tot war, und wann die Petersilie oder der Salat vom Beet gepflückt wurde, erhob Anissja zu ihr erstaunt und voll ehrfurchtsvoller Angst die Augen und sah ein, daß sie selbst ihren Beruf verfehlt habe, daß das Feld ihrer Tätigkeit sich nicht in Oblomows Küche befand, wo ihre Schnelligkeit, die stets rastlose, fieberhafte Nervosität ihrer Bewegungen nur darauf gerichtet war, einen von Sachar herabgeworfenen Teller oder ein Glas im Fluge aufzufangen, und wo ihre Erfahrenheit und die Feinheit ihrer Kombination durch den finsteren Neid und den rohen Hochmut ihres Mannes unterdrückt wurden. Die beiden Frauen hatten einander erkannt und wurden unzertrennlich. Wenn Oblomow außer Hause speiste, blieb Anissja in der Küche der Hausfrau und stürzte sich aus Liebe zur Kunst aus einer Ecke in die andere, stellte die Töpfe hin und nahm sie heraus, öffnete fast in ein und demselben Augenblick den Schrank, nahm etwas heraus und schloß ihn wieder, ehe noch Akulina zu begreifen Zeit hatte, worum es sich handelte. Dafür wurde Anissja durch ein Mittagessen, durch sechs Tassen Kaffee des Morgens und ebenso viele Tassen des Abends, durch ein offenherziges langes Gespräch und manchmal durch ein vertrauliches Geflüster der Hausfrau belohnt. Wenn Oblomow zu Hause aß, half die Hausfrau Anissja, das heißt, sie zeigte ihr mit Worten und mit dem Finger, ob es Zeit oder noch zu früh sei, den Braten herauszunehmen, ob man der Sauce ein wenig Rotwein oder Rahm beimengen sollte, und ob der Fisch so oder anders zu kochen war ... Und o Gott, was für Kenntnisse tauschten sie nicht nur auf dem Gebiete der Kochkunst, sondern auch in wirtschaftlichen Fragen aus, was die Behandlung der Leinwand, des Zwirns, das Nähen, das Waschen der Wäsche und der Kleider, das Putzen der Blonden, der Spitzen und Handschuhe, das Entfernen von Flecken aus verschiedenen Stoffen, sogar den Gebrauch verschiedener Hausmittel und Kräuter betraf, sie teilten einander alles mit, was die Beobachtung, der Verstand und die Erfahrungen von Jahrhunderten in einer gewissen Sphäre des Lebens angehäuft haben. Ilja Iljitsch stand des Morgens um neun Uhr auf, sah manchmal am Gitter des Zaunes das Paket unter dem Arm des ins Amt gehenden Bruders vorüberhuschen und begann zu frühstücken. Der Kaffee war noch immer so schmackhaft, der Rahm noch immer so dick, die Semmeln ebensogut ausgebacken und knusprig. Dann nahm er eine Zigarre und hörte aufmerksam zu, wie laut die Bruthenne gackerte, wie die Küchlein piepsten und wie die Kanarienvögel und die Zeisige sangen. Er ließ sie nicht forttragen. »Sie erinnern an das Dorf, an Oblomowka«, sagte er. Dann setzte er sich hin und las die auf dem Lande begonnenen Bücher zu Ende, manchmal legte er sich mit dem Buche bequem auf das Sofa hin. Es herrschte eine ideale Stille, nur manchmal ging irgendein Soldat oder ein Häufchen Bauern mit Hacken im Gürtel vorüber. Sehr selten kam ein Hausierer in die abgelegene Straße und begann, vor dem Gitterzaun stehend, eine halbe Stunde lang: »Äpfel, Astrachaner Melonen« auszurufen, so daß man ihm wider Willen etwas abkaufte. Manchmal kam zu ihm die Tochter der Hausfrau, Mascha, und richtete aus, die Mutter ließ ihm sagen, man hätte Pfefferschwämme und Brätlinge gebracht, ob man ihm nicht ein Körbchen voll kaufen sollte; oder er rief ihren Sohn Wanja zu sich, fragte ihn, was er lernte, ließ ihn vorlesen oder schreiben und paßte auf, ob er gut las oder schrieb. Wenn die Kinder die Tür nicht schlossen, sah er den nackten Hals und die sich fortwährend bewegenden und an ihm vorbeihuschenden Ellbogen und den Rücken der Hausfrau. Sie war immer bei der Arbeit, sie bügelte, stieß oder rieb immer etwas auf dem großen Tische. Er trat manchmal mit dem Buche an die Tür heran, schaute zur Hausfrau hinein und knüpfte mit ihr ein Gespräch an. »Sie sind immer bei der Arbeit!« sagte er ihr einmal. Sie lächelte und begann wieder eifrig den Griff der Kaffeemühle zu drehen, wobei ihr Ellbogen so schnelle Kreise beschrieb, daß es Oblomow vor den Augen flimmerte. »Sie werden ja müde werden«, fuhr er fort. »Nein, ich bin es gewohnt«, antwortete sie, mit der Mühle rasselnd. »Und was machen Sie, wenn Sie keine Arbeit haben?« »Wieso, wenn ich keine Arbeit habe? Es gibt immer zu tun; vormittags muß ich das Mittagessen vorbereiten, nachmittags nähe ich und abends muß man an das Abendbrot denken.« »Essen Sie denn Abendbrot?« »Wie könnte man denn ohne Abendbrot auskommen? Vor einem Feiertag gehen wir zur Abendmesse.« »Das ist gut«, lobte Oblomow, »in welche Kirche gehen Sie?« »Zu Christi Geburt. Das ist unsere Pfarre.« »Und lesen Sie etwas?« Sie blickte ihn stumpf an und schwieg. »Haben Sie Bücher?« fragte er. »Der Bruder hat welche, er liest sie aber nicht. Wir nehmen im Gasthaus Zeitungen, dann liest der Bruder manchmal vor ... und Wanitschka hat viele Bücher.« »Ruhen Sie denn nie aus?« »Bei Gott, niemals!« »Gehen Sie auch nicht ins Theater?« »Der Bruder geht an den Feiertagen hin.« »Und Sie?« »Wann sollte ich denn? Was würde dann aus dem Abendbrot werden?« fragte sie, ihn von der Seite anblickend. »Die Köchin könnte ja ohne Sie ...« »Akulina!« entgegnete sie erstaunt, »wie wäre das möglich? Wie sollte sie ohne mich fertig werden! Ich habe auch alle Schlüssel.« Sie schwiegen. Oblomow bewunderte ihre vollen runden Arme. »Wie schön Ihre Arme sind«, sagte er plötzlich, »man könnte sie sofort malen!« Sie lächelte und schämte sich ein wenig. »Es ist unbequem, in Ärmeln zu arbeiten«, rechtfertigte sie sich, »man trägt ja jetzt solche Kleider, daß man sich bei der Arbeit die ganzen Ärmel beschmutzt.« Sie schwieg. Oblomow auch. »Ich mahle nur den Kaffee fertig«, murmelte die Hausfrau, »dann werde ich Zucker hacken. Daß ich nur nicht vergesse, Zimt holen zu lassen.« »Sie sollten heiraten«, sagte Oblomow, »Sie sind eine gute Hausfrau!« Sie lächelte und begann den Kaffee in einen großen gläsernen Behälter zu schütten. »Wirklich!« fügte Oblomow hinzu. »Wer heiratet mich denn mit den Kindern?« antwortete sie und begann etwas im Geiste auszurechnen. »Zwei Dutzend ...« sagte sie sinnend, »wird sie denn das alles verbrauchen?« Sie stellte den Kaffee in den Schrank und lief in die Küche. Und Oblomow ging in sein Zimmer und begann zu lesen. »Was für eine frische und gesunde Frau das ist, und wie gut sie zu wirtschaften versteht! Sie sollte wirklich heiraten ...« sprach er zu sich selbst und vertiefte sich in den Gedanken ... an Oljga. Bei schönem Wetter setzte Oblomow den Hut auf und besichtigte die Gegend; dabei geriet er oft in den Straßenkot oder machte die unangenehme Bekanntschaft von Hunden und kehrte nach Hause zurück. Dort fand er schon einen gedeckten Tisch und schmackhafte, appetitlich servierte Gerichte vor. Manchmal erschien in der Tür eine Hand mit einem Teller, und man bat ihn, die Piroge der Hausfrau zu kosten. »Es ist hier still und angenehm, aber langweilig!« sagte Oblomow, während er in die Oper fuhr. Als er eines Tages aus dem Theater spät nach Hause kam, klopfte er mit dem Kutscher fast eine Stunde lang am Tor. Der Hund verlor vom Bellen und Zerren an der Kette die Stimme. Oblomow war ganz erfroren und zornig und erklärte, er würde gleich am nächsten Tag ausziehen. Doch es vergingen zwei, drei Tage und dann eine Woche, ohne daß er seine Drohung verwirklichte. Er langweilte sich sehr, wenn er an den festgesetzten Tagen Oljga nicht sah, ihre Stimme nicht hörte, in ihren Augen nicht die gleiche, unveränderliche Liebe, Zärtlichkeit und das gleiche Glück las. Dafür lebte er an den von ihr bestimmten Tagen wie im Sommer, konnte sich an ihrem Gesang nicht satt hören oder sah ihr in die Augen; und vor Zeugen genügte ihm ein einziger Blick von ihr, der allen anderen gleichgültig war, ihm aber tief und bedeutungsvoll erschien. Je näher aber der Winter kam, desto seltener wurden ihre Zusammenkünfte unter vier Augen. Zu Iljinskys kamen Gäste, und es gelang Oblomow oft tagelang nicht, mit ihr auch nur zwei Worte zu wechseln. Sie tauschten Blicke aus. Oljgas Blicke waren manchmal von Müdigkeit und Ungeduld erfüllt. Sie blickte alle Gäste mit gerunzelten Brauen an. Oblomow langweilte sich sogar ein paarmal und ergriff einmal nach dem Essen seinen Hut. »Wohin?« fragte Oljga erstaunt, sogleich neben ihm auftauchend und versuchte seinen Hut an sich zu reißen. »Lassen Sie mich nach Hause ...« »Warum?« fragte sie. Ihre eine Braue war höher als die andere. »Was haben Sie vor?« »Ich meinte nur so ...« sagte er, und konnte die Augen vor Schläfrigkeit nur mit Mühe offen halten. »Und Sie glauben, man würde es Ihnen erlauben? Wollen Sie vielleicht schlafen gehen?« fragte sie ihn streng, ihm zuerst in das eine und dann in das andere Auge blickend. »Was fällt Ihnen ein!« entgegnete Oblomow lebhaft, »bei Tag schlafen! Ich langweile mich einfach.« Und er gab ihr den Hut. »Heute gehn wir ins Theater!« sagte sie. »Nicht in dieselbe Loge!« fügte er seufzend hinzu. »Was macht das? Ist es nichts wert, daß wir einander sehen, daß du im Zwischenakt hereinkommst, nach dem Schluß auf mich wartest, mir den Arm reichst und mich zum Wagen begleitest? ... Fahren Sie nur nach Hause!« fügte sie befehlend hinzu. »Das wäre ja etwas ganz Neues!« Er konnte nichts dagegen tun; er fuhr ins Theater, gähnte, als wollte er auf einmal die ganze Bühne verschlingen, kratzte sich im Nacken und schlug die Füße übereinander. Ach, wenn das nur bald zu Ende wäre, wenn ich nur neben dir sitzen könnte, ohne mich so weit herumzuschleppen! dachte er. Wie ist es möglich, daß ich sie nach einem solchen Sommer nur ab und zu heimlich sehen soll und die Rolle eines verliebten Knaben spielen muß ... Aufrichtig gesagt, würde ich heute nicht ins Theater gefahren sein, wenn ich verheiratet wäre. Ich höre diese Oper nun schon zum sechstenmal ... Im Zwischenakt ging er in Oljgas Loge und drängte sich mit Mühe zwischen zwei Gecken hindurch bis zu ihr hin. Nach fünf Minuten schlich er sich fort und blieb am Eingang ins Parkett im Gedränge stehen. Der Akt hatte begonnen, und alle eilten auf ihre Plätze. Die Gecken aus Oljgas Loge waren auch da, bemerkten aber Oblomow nicht. »Was für ein Herr war soeben in Iljinskys Loge?« fragte der eine den anderen. »Das ist ... ein gewisser Oblomow!« antwortete der andere nachlässig. »Wer ist er denn?« »Ein Gutsbesitzer, ein Freund von Stolz.« »Ah!« sagte der andere mit Nachdruck, »ein Freund von Stolz. Was macht er denn da?« »Dieu sait« antwortete der andere, und alle nahmen ihre Plätze ein. Doch dieses nichtige Gespräch hatte Oblomow ganz verwirrt. Was für ein Herr ... ein gewisser Oblomow ... was macht er da ... Dieu sait, das alles hämmerte in seinem Kopf. Ein gewisser! Was ich hier tue? Wieso denn? Ich liebe Oljga; ich bin ihr ... In der Gesellschaft scheint aber schon die Frage aufzusteigen, was ich hier mache? Man hat es bemerkt ... Ach mein Gott! Was ist da zu tun ...? Er sah nicht mehr, was auf der Bühne vorging, was darauf für Ritter und Frauen erschienen. Das Orchester donnerte, er hörte es aber nicht. Er blickte nach allen Seiten hin und zählte, wieviele Bekannte im Theater waren. Hier, dort – alle sitzen, alle fragen: »Was für ein Herr ist in Oljgas Loge gewesen ...« »Ein gewisser Oblomow!« sagen alle. Ja, ich bin ein »gewisser!« dachte er ängstlich und traurig, man kennt mich, weil ich der Freund von Stolz bin! Warum bin ich bei Oljga? – Dieu sait! ... Da, da, diese Gecken schauen mich an und blicken dann auf Oljgas Loge! Er drehte sich nach der Loge um. Oljgas Opernglas war auf ihn gerichtet. Ach, du mein Gott! dachte er, und sie wendet keinen Blick von mir! Was hat sie nur an mir gefunden? Als ob ich etwas Außergewöhnliches wäre! Jetzt nickt sie mir zu und weist auf die Bühne hin! ... Die Herren lachen, scheint mir und sehen mich an ... Gott, o Gott! Er kratzte sich wieder erregt den Nacken und legte ein Bein übers andere. Sie lud die Herren aus dem Theater zum Tee ein, versprach die Kavatine zu wiederholen und bat auch ihn zu kommen. Nein, ich fahre heute nicht hin; ich muß meine Angelegenheiten schnell ordnen, und dann ... warum schickt der Gutsnachbar nur keine Antwort? ... Ich wäre längst verreist und hätte mich vor der Abreise mit Oljga trauen lassen ... Ach, und sie schaut mich immer an! Das ist ein wahres Unglück! Er fuhr nach Hause, bevor die Oper zu Ende war. Dieser Eindruck verblaßte nach und nach, er blickte Oljga, wenn er mit ihr allein war, wieder vor Glück bebend an, hörte mit unterdrückten Tränen des Entzückens ihrem Gesang in Anwesenheit anderer zu, und wenn er nach Hause kam, legte er sich ohne Oljgas Wissen auf das Sofa hin, schlief aber nicht und lag nicht wie ein toter Klotz da, sondern träumte von ihr, stellte sich im Geiste sein Glück vor und blickte erregt in die Zukunft, die ihm ein friedliches, häusliches Leben versprach, in dem Oljga leuchten und alles um sich herum mit Glanz erfüllen würde. Wenn er sich mit der Zukunft beschäftigte, blickte er manchmal unwillkürlich und manchmal absichtlich in die halb geöffnete Tür hinein, wo sich die Ellbogen der Hausfrau bewegten. Eines Tages herrschte in der Natur und im Hause vollkommene Stille; man hörte weder das Rasseln der Wagen noch das Klopfen der Türen; im Vorzimmer tickte gleichmäßig das Pendel der Uhr und sangen die Kanarienvögel; doch das störte die Stille nicht, sondern verlieh ihr eine gewisse Nuance von Leben. Ilja Iljitsch lag nachlässig auf dem Sofa, indem er mit dem Pantoffel spielte, den er auf den Boden warf, dann in die Luft hob, ihn dort herumdrehte und wenn er fiel, ihn mit dem Fuß vom Boden auffing ... Sachar kam herein und blieb an der Tür stehen. »Was willst du?« fragte Oblomow träge. Sachar schwieg und schaute ihn nicht von der Seite, sondern fast gerade an. »Nun?« fragte Oblomow, ihn erstaunt anblickend. »Ist vielleicht die Piroge fertig?« »Haben Sie eine Wohnung gefunden?« fragte Sachar ebenfalls. »Nein. Warum?« »Ich hab' noch nicht alles in Ordnung gebracht. Das Geschirr, die Kleider, die Koffer, das liegt alles noch in einem Haufen in der Kammer. Soll ich es durchsehen?« »Laß das noch«, sagte Oblomow zerstreut, »ich erwarte eine Antwort vom Gut.« »Die Hochzeit wird also nach Weihnachten sein?« fügte Sachar hinzu. »Was für eine Hochzeit?« fragte Oblomow, sich erhebend. »Nun, natürlich die Ihrige!« antwortete Sachar ruhig, als spräche er von einer längst beschlossenen Sache. »Sie heiraten ja.« »Ich, hei-ra-ten! Wen?« fragte Oblomow entsetzt, Sachar mit den erstaunten Augen verschlingend. »Das Iljinskysche Frau ...« Sachar war noch nicht zu Ende, und Oblomow war schon dicht vor ihm. »Was hast du, du Unglücklicher, wer hat dir diesen Gedanken eingeflößt?« rief Oblomow pathetisch mit gesenkter Stimme aus, indem er Sachar immer näher rückte. »Warum bin ich denn unglücklich? Mir geht's Gott sei Dank gut!« sagte Sachar, zur Tür zurückweichend. »Wer? Iljinskys Leute haben es mir schon im Sommer gesagt.« »P-st! ...« zischte Oblomow ihn an, indem er den Finger hob und Sachar drohte. »Kein Wort mehr!« »Hab' ich es denn ausgedacht?« sagte Sachar. »Kein Wort mehr!« wiederholte Oblomow, ihn zornig anblickend, und wies auf die Tür. Sachar ging und seufzte, daß man es in allen Zimmern hörte. Oblomow konnte gar nicht zur Besinnung kommen; er befand sich noch in derselben Stellung und blickte entsetzt denselben Fleck an, auf dem Sachar gestanden hatte, dann legte er sich verzweifelt die Hände auf den Kopf und setzte sich auf den Sessel. Die Leute wissen es! wälzte es sich durch seinen Kopf. Man klatscht schon in den Gesindestuben und Küchen! So weit ist es gekommen! Er hat zu fragen gewagt, wann die Hochzeit ist. Und die Tante ahnt noch gar nichts, oder wenn sie es tut, ist es vielleicht etwas anderes, Böses ... Oh, oh, oh, was sie sich wohl denkt! Und ich? Und Oljga? Ich Elender, was habe ich angerichtet! sagte er, sich auf das Sofa mit dem Gesicht auf das Kissen legend. Die Hochzeit! Dieser poetische Augenblick im Leben der Liebenden, die Krone des Glückes ist jetzt zum Gesprächsthema der Lakaien und der Kutscher geworden, während alles noch unentschieden ist, ich keine Antwort vom Gut habe, meine Brieftasche leer ist und ich noch keine Wohnung gefunden habe ... Er begann den »poetischen Augenblick« zu analysieren, der, sowie Sachar davon zu sprechen begonnen hatte, plötzlich die Farben verlor. Oblomow betrachtete jetzt die Kehrseite der Sache, wälzte sich gequält von einer Seite auf die andere, legte sich auf den Rücken, sprang plötzlich auf, machte drei Schritte durch das Zimmer und legte sich wieder hin. Es wird dabei nichts Gutes herauskommen! dachte Sachar erschrocken im Vorzimmer, warum hab' ich's nur gesagt! »Woher wissen sie das?« sprach Oblomow, »Oljga hat geschwiegen, ich habe mich nicht einmal getraut, laut daran zu denken, und im Vorzimmer ist alles, alles schon entschieden worden! Das kommt von den Begegnungen unter vier Augen, von der Poesie des Morgen- und Abendrots, von den leidenschaftlichen Blicken und dem berückenden Gesang! Oh, diese Liebespoeme enden nie gut! Man muß zuerst zur Trauung gehen, und dann kann man in einer rosigen Atmosphäre schwimmen ... Mein Gott! Mein Gott! Ich müßte zur Tante hinlaufen, Oljgas Hand ergreifen und sagen: ›Das ist meine Braut!‹ Es ist aber nichts fertig; ich habe aus dem Dorfe keine Antwort, kein Geld und keine Wohnung! Nein, ich muß zuerst diesen Gedanken Sachar aus dem Sinn schlagen, den Klatsch wie ein Feuer auslöschen, damit er sich nicht verbreitet, damit es weder Flammen noch Rauch gibt ... Die Hochzeit! Was ist eine Hochzeit? ...« Er wollte lächeln, als ihm seine frühere poetische Vorstellung von der Hochzeit einfiel: der lange Schleier, der Orangenblumenzweig, das Flüstern der Menge ... Doch es waren nicht mehr dieselben Farben: In der derselben Menge befand sich der rohe, schmutzige Sachar, Iljinskys Dienstboten, eine Reihe von Kutschern, fremde, kalte, neugierige Gesichter. Jetzt schwebte ihm nur Langweiliges und Schreckliches vor ... Ich muß Sachar diesen Gedanken aus dem Sinn schlagen, damit er ihn für Unsinn hält! beschloß er, bald in krampfhafte Aufregung und bald in qualvolles Sinnen versinkend. Nach einer Stunde rief er Sachar. Sachar gab sich den Anschein, nichts zu hören, und wollte sich schon heimlich in die Küche hinausschleichen. Er hatte schon geräuschlos die Tür geöffnet, konnte aber mit der Seite nicht in die eine Türhälfte hineinfinden und schlug mit der Schulter so gegen die zweite an, daß beide Türhälften sich donnernd öffneten. »Sachar!« rief Oblomow gebieterisch. »Was wünschen Sie?« antwortete Sachar aus dem Vorzimmer. »Komm her!« »Soll ich auftragen? Sagen Sie nur, dann bringe ich's herein«, antwortete er. »Komm her!« sagte Oblomow langsam und beharrlich. »Ach, warum nur der Tod nicht kommt!« krächzte Sachar, ins Zimmer tretend. »Nun, was wollen Sie?« fragte er, an der Tür stehenbleibend. »Komm her!« sagte Oblomow mit feierlicher und geheimnisvoller Stimme, Sachar den Platz anweisend, auf dem er stehen bleiben sollte; doch dieser befand sich so nahe, daß er sich fast auf den Schoß des Herrn hätte setzen müssen. »Wo soll ich denn hingehen? Es ist dort eng, ich höre auch von hier aus«, suchte Sachar nach Ausreden und blieb eigensinnig an der Tür stehen. »Komm her, sagt man dir!« wiederholte Oblomow drohend. Sachar machte einen Schritt und blieb wie ein Monument stehen, indem er durch das Fenster auf die herumirrenden Hühner schaute und dem Herrn den bürstenähnlichen Backenbart zuwandte. Ilja Iljitsch hatte sich in der einen Stunde vor Aufregung verändert, sein Gesicht erschien abgemagert, seine Augen irrten unstet herum. Nun, jetzt wäre es genug! dachte Sachar und wurde immer düsterer. »Wie konntest du an deinen Herrn eine so sinnlose Frage richten?« fragte Oblomow. Jetzt geht's los! dachte Sachar, in der bangen Erwartung von »traurigen Worten« blinzelnd. »Ich frage dich, wie dir ein solcher Unsinn einfallen konnte?« wiederholte Oblomow. Sachar schwieg. »Hörst du, Sachar? Wieso erlaubst du dir, nicht nur zu denken, sondern sogar zu sprechen? ...« »Erlauben Sie, Ilja Iljitsch, ich werde lieber Anissja rufen ...« antwortete Sachar und wollte sich zur Tür wenden. »Ich will mit dir und nicht mit Anissja sprechen. Warum denkst du dir solche Dummheiten aus?« »Ich habe mir nichts ausgedacht, die Iljinskyschen Dienstboten haben es mir gesagt!« »Und wer hat es ihnen gesagt?« »Woher soll ich denn das wissen! Katja hat es Sjemjon erzählt, Sjemjon Nikita, Nikita Wassilissa, Wassilissa Anissja und Anissja mir ...« »O Gott, o Gott! Alle!« sagte Oblomow entsetzt. »Das ist alles Unsinn, Lüge und Verleumdung – hörst du?« sagte Oblomow, mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Das kann nicht sein!« »Warum kann denn das nicht sein?« unterbrach Sachar ihn gleichgültig, »eine Hochzeit ist doch etwas Gewöhnliches! Nicht nur Sie allein, alle heiraten ...« »Alle!« sagte Oblomow. »Du möchtest mich immer mit anderen, mit allen vergleichen. Das kann nie möglich sein. Eine Hochzeit soll etwas Gewöhnliches sein? Was ist eine Hochzeit?« Sachar versuchte es, Oblomow anzublicken, sah aber wütend auf ihn gerichtete Augen und wandte sich nach der Ecke rechtsum. »Höre zu, ich werde dir erklären, was das ist. ›Hochzeit, Hochzeit‹, sagen die müßigen Leute, die Frauen und Kinder in den Gesindestuben, in den Geschäften und auf den Märkten. Der Mensch hört auf, Ilja Iljitsch oder Pjotr Petrowitsch zu heißen, und wird ›Bräutigam‹ genannt. Gestern hat ihn niemand auch nur anblicken wollen, und morgen glotzen ihn alle wie einen Hanswurst an. Er hat weder im Theater noch auf der Straße Ruhe. ›Da, da ist der Bräutigam!‹ flüstern alle. Und alle Menschen, die an ihn im Laufe des Tages herankommen, machen ein möglichst dummes Gesicht, so wie du jetzt« (Sachar wandte seinen Blick schnell wieder dem Hofe zu), »und bestreben sich, möglichst dumm zu sprechen«, fuhr Oblomow fort. »So sieht der Anfang aus! Dann muß man jeden Tag wie ein Verdammter des Morgens zur Braut hinfahren, immer strohgelbe Handschuhe und nagelneue Kleider tragen, darf nie gelangweilt ausschauen, darf nie ordentlich essen und trinken, sondern muß nur von der Luft und von Blumen leben! Das geht drei, vier Monate so fort! Siehst du? Wie kann ich denn das?« Oblomow schwieg eine Weile und beobachtete, ob diese Darstellung der Unbequemlichkeiten einer Heirat Sachar überzeugt hatte. »Kann ich vielleicht jetzt gehen?« fragte Sachar, sich zur Tür wendend. »Nein, warte noch! Du verstehst dich darauf, falsche Gerüchte zu verbreiten, erfahre also, warum sie falsch sind.« »Was soll ich denn da erfahren!« sagte Sachar, die Wände betrachtend. »Du hast vergessen, wieviel sowohl der Bräutigam als auch die Braut herumlaufen und besorgen müssen; und wirst du vielleicht zu den Schneidern, den Schustern und zum Möbelhändler laufen? Ich kann mich doch nicht zerreißen. Und alle in der Stadt werden es erfahren. ›Oblomow heiratet – haben Sie gehört? Ist's möglich? Wen denn? Wer ist sie? Wann ist die Hochzeit?‹« sagte Oblomow, die verschiedenen Stimmen nachahmend. »Man spricht von nichts anderem! Ich werde von Kräften kommen und davon allein bettlägerig werden, und du sprichst von der Hochzeit!« Er blickte Sachar wieder an. »Soll ich nicht Anissja rufen?« fragte Sachar. »Wozu denn Anissja? Du und nicht Anissja hast diese unüberlegte Vermutung ausgesprochen.« »Wofür straft mich der Herr heute?« flüsterte Sachar und seufzte so auf, daß sich sogar seine Schultern hoben. »Und was das kostet!« fuhr Oblomow fort, »wo soll ich das Geld hernehmen? Hast du gesehen, wieviel Geld ich habe?« fragte Oblomow fast drohend. »Und wo soll ich eine Wohnung bekommen? Ich muß hier tausend Rubel und für die andere Wohnung dreitausend Rubel zahlen, und was die Einrichtung alles kostet! Dann ein Wagen, ein Koch, die Wirtschaft! Wo soll ich das hernehmen?« »Wieso heiraten denn andere, die dreihundert Seelen haben?« entgegnete Sachar und bereute es sofort, denn sein Herr wollte vom Sessel aufspringen und nahm schon einen Anlauf dazu. »Du fängst wieder von den anderen an? Nimm dich in acht!« sagte er, mit dem Finger drohend, »die anderen wohnen in zwei, höchstens in drei Zimmern. Das Speisezimmer und der Salon sind zusammen; manche schlafen sogar dort; die Kinder sind daneben, das ganze Haus wird von einem Mädchen bedient. Die Gnädige selbst geht auf den Markt! Wird denn Oljga Sjergejewna auf den Markt gehen?« »Auf den Markt könnte ich ja gehen«, bemerkte Sachar. »Weißt du, wieviel Oblomowka jetzt trägt?« fragte Oblomow. »Hörst du, was der Dorfschulze schreibt? Das Einkommen ist ›um zweitausend geringer‹! Und man muß außerdem eine Straße bauen, Schulen einrichten, nach Oblomowka fahren: Man kann dort nicht wohnen, es ist noch kein Haus da ... Was hast du dir dabei für eine Hochzeit ausgedacht?« Oblomow schwieg. Dieses furchtbare, trostlose Bild hatte ihn selbst entsetzt. Die Rosen, die Orangenblüten, das glanzvolle Fest, das bewundernde Flüstern der Menge – alles erlosch plötzlich. Er wechselte die Farbe und sann nach. Dann kam er allmählich zur Besinnung, schaute sich um und erblickte Sachar. »Was willst du?« fragte er düster. »Sie haben mir ja dazustehen befohlen!« »Geh!« sagte ihm Oblomow mit einer ungeduldigen Handbewegung. Sachar schritt rasch zur Tür hin. »Nein, warte!« befahl ihm Oblomow plötzlich. »Bald soll ich gehen und warten!« brummte Sachar, sich an der Tür festhaltend. »Wie konntest du es wagen, solche sinnlose Gerüchte über mich zu verbreiten?« fragte Oblomow, erregt flüsternd. »Wann habe ich es denn getan, Ilja Iljitsch? Nicht ich, sondern die Iljinskyschen Dienstboten haben erzählt, daß unser Herr um das Fräulein angehalten hat ...« »Pst! ...« zischte Oblomow, drohend die Hand schwenkend, »nie mehr ein Wort davon, hörst du?« »Ich höre«, antwortete Sachar schüchtern. »Wirst du diesen Unsinn nicht mehr verbreiten?« »Nein«, antwortete Sachar leise, ohne auch nur die Hälfte der Worte zu verstehen, von denen er bloß wußte, daß sie »traurig« waren. »Also, gib acht: Sowie man dich fragt oder sowie du darüber sprechen hörst, sage, daß es ein Unsinn ist, daß so etwas nie sein konnte und sein kann!« fügte Oblomow flüsternd hinzu. »Zu Befehl«, sagte Sachar kaum hörbar. Oblomow wandte sich um und drohte ihm mit dem Finger. Sachar blinzelte mit seinen erschrockenen Augen und wollte sich auf den Fußspitzen der Türe nähern. »Wer hat zuerst davon gesprochen?« fragte Oblomow, ihn einholend. »Katja hat es Sjemjon gesagt – Sjemjon – Nikita«, flüsterte Sachar, »Nikita – Wassilissa ...« »Und du hast es allen ausgeplaudert! Wart nur!« zischte Oblomow drohend. »Du verleumdest deinen Herrn! He!« »Warum quälen Sie mich mit traurigen Worten?« sagte Sachar. »Ich werde Anissja rufen, die weiß alles ...« »Was weiß sie? Sprich, sprich sofort! ...« Sachar schritt augenblicklich durch die Tür und erreichte mit ungewöhnlicher Schnelligkeit die Küche. »Stell die Pfanne hin und geh zum Herrn!« sagte er zu Anissja, ihr mit dem Daumen auf die Tür hinweisend. Anissja übergab die Pfanne Akulina, zog den Saum des Kleides aus dem Gürtel heraus, schlug sich mit den Händen auf die Schenkel, wischte sich mit dem Zeigefinger die Nase ab und ging zum Herrn. Sie beruhigte Ilja Iljitsch in fünf Minuten, indem sie ihm sagte, niemand hätte von seiner Hochzeit gesprochen. Sie könnte es beschwören und sogar das Heiligenbild von der Wand herabnehmen, sie hörte es zum ersten Male; man hätte im Gegenteil von etwas ganz anderem gesprochen, nämlich daß der Baron das Fräulein heiraten wolle ... »Wieso der Baron?« fragte Ilja Iljitsch, plötzlich aufspringend, und ihm erstarrten außer dem Herzen die Hände und die Füße. »Auch das ist ein Unsinn!« beeilte sich Anissja zu sagen, als sie sah, daß sie aus dem Regen in die Traufe geraten war. »Das hat Katja nur Sjemjon gesagt, Sjemjon – Marfa, Marfa hat alles verdreht und es Nikita erzählt, und Nikita hat gesagt, daß es gut wäre, wenn euer Herr, Ilja Iljitsch, um das Fräulein anhielte ...« »Was für ein Dummkopf dieser Nikita ist!« bemerkte Oblomow. »Es ist wahr, daß er ein Dummkopf ist«, bestätigte Anissja. »Er sieht sogar dann, wenn er hinten auf der Kutsche sitzt, schläfrig aus. Wassilissa hat ihm ja auch nicht geglaubt«, sprach sie schnell weiter; »sie hätte ihr noch am Himmelfahrtstag gesagt, und Wassilissa hätte es von der Kinderfrau selbst erfahren, daß das Fräulein gar nicht ans Heiraten denke, und daß es ganz unmöglich wäre, daß unser Herr sich nicht schon längst eine Braut gefunden hätte, wenn er heiraten wollte; sie hätte noch vor kurzem Samojlo gesehen, der hätte sogar darüber gelacht, daß da eine Heirat herauskommen könnte! Es sähe gar nicht nach einer Hochzeit, sondern eher nach einer Beerdigung aus, die Tante hätte immer Kopfschmerzen, und das Fräulein weinte und schwiege immer; man bereite im Hause auch gar keine Mitgift vor; das Fräulein hätte eine Menge ungestopfter Strümpfe, man nehme sich aber nicht einmal die Zeit, sie zu stopfen; man hätte auch vorige Woche das Silber versetzt ...« Man hat das Silber versetzt? Sie haben also auch kein Geld! dachte Oblomow, die Wände entsetzt mit den Augen streifend und sie auf Anissjas Nase richtend, da sie nichts anderes hatte, auf das er seinen Blick richten konnte. Sie schien das alles nicht mit dem Munde, sondern mit der Nase zu sagen. »Gib also acht, daß kein Unsinn gesprochen wird!« bemerkte Oblomow, ihr mit dem Finger drohend. »Wie sollte ich denn über so was sprechen? Ich denke nicht einmal daran!« schnatterte Anissja, daß es klang, als spaltete sie Holzspäne. »Es wird auch gar nicht darüber gesprochen, ich hörte es heute zum erstenmal, oder ich soll vor dem Antlitz des Herrn in die Erde sinken! Ich habe mich gewundert, als der Herr es mir gesagt hat, es hat mich erschreckt, und ich habe sogar am ganzen Leibe gezittert! Wie ist denn das möglich? Was für eine Hochzeit? Niemand ist im Traum so etwas eingefallen. Ich spreche mit niemand über etwas, ich sitze immer in der Küche. Ich habe die Iljinskyschen Dienstboten seit einem Monat nicht gesehen und habe vergessen, wie sie heißen. Und mit wem sollte ich hier plaudern? Mit der Hausfrau spreche ich nur von der Wirtschaft; mit der Großmutter kann man nicht sprechen; sie hustet und hört schlecht. Akulina ist sehr dumm, und der Hausbesorger ist ein Trunkenbold; es bleiben also nur die Kinder übrig. Worüber soll man mit ihnen sprechen? Ich habe sogar vergessen, wie das Fräulein aussieht ...« »Gut, gut!« sagte Oblomow ungeduldig und winkte ihr mit der Hand, sie sollte gehen. »Wie kann man etwas sagen, wenn es nicht wahr ist!« sprach Anissja beim Fortgehen weiter. »Nikita hat ja vielleicht etwas gesagt; aber für Narren gibt es eben kein Gesetz. Ihr selbst fiele so etwas gar nicht ein; sie rackert sich den ganzen Tag ab, denkt man denn dann an so was? Gott weiß, was man sich da ausgedacht hat! Da hing ja ein Heiligenbild an der Wand ...« Und gleich darauf verschwand die sprechende Nase hinter der Tür, man hörte aber noch einige Zeit sprechen. »So ist es also! Sogar Anissja sagt, daß es etwas ganz Unmögliches ist!« flüsterte Oblomow, die Hände faltend. »Das Glück, das Glück!« sagte er dann bitter. »Wie zerbrechlich und unverläßlich bist du! Der Schleier, der Kranz, die Liebe, die Liebe! Und wo ist das Geld? Und wie soll man leben? Auch dich muß man kaufen, o Liebe, dich, das reine, natürliche Glück!« Von diesem Augenblick verließen Oblomow die Träume und die Ruhe. Er schlief schlecht, aß wenig und blickte alles zerstreut und düster an. Er hatte Sachar erschrecken wollen und erschrak mehr als er, nachdem er in die praktische Seite der Frage betreffs der Hochzeit eingedrungen war und gesehen hatte, daß es zwar ein poetischer, aber zugleich auch ein realer, offizieller Schritt in die eigentliche, ernste Wirklichkeit und in die Reihe der strengen Pflichten war. Und er hatte sich ja das Gespräch mit Sachar ganz anders vorgestellt; er erinnerte sich, wie feierlich er das Sachar mitteilen wollte, wie Sachar vor Freude aufschreien und sich ihm zu Füßen werfen sollte; er würde ihm dann fünfundzwanzig und Anissja zehn Rubel geben ... Er erinnerte sich an alles, an das Beben vor Glück, an Oljgas Hand, an ihren heißen Kuß ... und erstarrte: »Es ist verblaßt und verwelkt!« ertönte es in seinem Innern. »Was sollte nun werden? ...« Fünftes Kapitel Fünftes Kapitel Oblomow wußte nicht, mit was für einem Gesicht er vor Oljga erscheinen sollte und was sie einander sagen würden, und er beschloß, sie am Mittwoch nicht zu besuchen, sondern am Sonntag zu kommen, wenn viele Leute da waren und es ihnen nicht gelingen konnte, unter vier Augen zu sprechen. Er wollte ihr nicht vom dummen Klatsch erzählen, um sie nicht durch ein unverbesserliches Übel aufzuregen; es war aber schwer, nicht darüber zu reden. Er verstand es nicht, ihr gegenüber zu heucheln; sie würde ihm bestimmt alles entlocken, was er in den Tiefen seiner Seele verbarg. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, beruhigte er sich ein wenig und schrieb dem Nachbar, dem er die Vollmacht geschickt hatte, einen zweiten Brief, indem er ihn bat, die Antwort zu beschleunigen und dieselbe möglichst befriedigend zu gestalten. Dann begann er darüber nachzudenken, wie er dieses lange, unerträgliche Übermorgen verbringen sollte, das sonst durch Oljgas Anwesenheit, durch die unsichtbare Zwiesprache ihrer Seelen und durch ihren Gesang ausgefüllt gewesen wäre. Daß es Sachar eingefallen war, ihn zu so ungelegener Zeit aufzuregen! Er beschloß, zu Iwan Gerassimitsch hinzufahren und bei ihm zu essen, um diesen unerträglichen Tag möglichst wenig zu bemerken. Und bis Sonntag würde er Zeit haben, sich vorzubereiten, und vielleicht würde bis dahin auch eine Antwort vom Gut eintreffen. Das Übermorgen kam. Er wurde durch das wütende Bellen und Zerren an der Kette des Hundes aufgeweckt. Jemand trat in den Hof und fragte etwas. Der Hausbesorger ließ Sachar kommen; dieser brachte Oblomow einen Brief, der mit der Stadtpost gekommen war. »Von Fräulein Iljinsky«, sagte Sachar. »Woher weißt du das?« fragte Oblomow zornig. »Das ist nicht wahr!« »Auf dem Land hat sie immer solche Briefe geschickt!« bestand Sachar auf seiner Meinung. Ob es ihr gut geht? Was bedeutet das? dachte Oblomow, den Brief öffnend. »Ich will nicht bis Mittwoch warten« (schrieb Oljga); »ich langweile mich, wenn ich Sie so selten sehe, und ich erwarte Sie morgen um drei Uhr bestimmt im Sommergarten.« Das war alles. Seine Seele wurde wieder von Unruhe aufgewühlt; er begann sich vor Aufregung, wie er mit Oljga sprechen und was für ein Gesicht er machen sollte, wieder herumzuwälzen. »Ich weiß nicht, ich kann nicht«, sagte er. »Ich müßte mich bei Stolz darüber erkundigen.« Doch dann beruhigte er sich bei dem Gedanken, sie würde wahrscheinlich mit der Tante oder mit einer anderen Dame kommen, zum Beispiel mit Marja Sjemjonowna, die sie so liebte und nicht genug bewundern konnte. Er hoffte, in ihrer Anwesenheit seiner Verlegenheit irgendwie Herr zu werden, und bereitete sich vor, gesprächig und liebenswürdig zu sein. Und was sie für eine Zeit festgesetzt hat, gerade um die Mittagsstunde! dachte er, sich ein wenig träge dem Sommergarten nähernd. Sowie er die lange Allee betreten hatte, sah er, wie sich eine verschleierte Frau von der Bank erhob und ihm entgegenkam. Er hielt sie keineswegs für Oljga. Allein! Das war unmöglich! Sie würde sich dazu nicht entschlossen haben, sie hatte auch keinen Vorwand, von Hause fortzugehen. Aber ... es schien ihr Gang zu sein; ihre Füße bewegten sich so leicht und schnell, als machten sie keine Schritte, sondern als glitten sie hin; es war auch derselbe ein wenig nach vorne geneigte Hals und Kopf, als suchte sie mit den Augen immer etwas vor ihren Füßen. Ein anderer hätte nach dem Hut und dem Kleid beurteilen können, wer das war; aber er war imstande, mit Oljga einen ganzen Morgen zu verbringen, ohne dann sagen zu können, was für ein Kleid und einen Hut sie getragen hatte. Im Garten war sonst fast niemand; ein älterer Herr spazierte eilig, wohl aus Gesundheitsrücksichten, herum, und es waren keine Damen, sondern nur zwei Frauen und eine Kinderfrau mit zwei vor Kälte blauen Kindern zu sehen. Die Blätter waren herabgefallen, man sah alles durch, die Krähen auf den Bäumen schrien so unangenehm. Es war übrigens ein schöner, klarer Tag, und wenn man sich ordentlich einwickelte, war es warm. Die verschleierte Frau kam immer näher ... »Sie ist's!« sagte Oblomow und blieb, erschrocken und seinen Augen nicht trauend, stehen. »Wieso bist du hier? Was hast du?« fragte er, ihre Hand ergreifend. »Wie freue ich mich, daß du gekommen bist«, sagte sie, ohne seine Fragen zu beantworten, »ich habe geglaubt, daß du nicht kommen wirst, und habe mich schon gefürchtet.« »Wieso, auf welche Weise bist du hier?« fragte er ganz verwirrt. »Laß das! Was geht das dich an? Was sind das für Fragen! Das ist langweilig! Ich wollte dich sehen und bin gekommen. Das ist alles!« Sie drückte ihm fest die Hand und blickte ihn froh und sorglos an, indem sie den dem Schicksal geraubten Augenblick so sichtbar und offen genoß, daß er sie sogar beneidete, da er ihre lustige Stimmung nicht teilen konnte. Trotzdem er so besorgt war, vergaß er sich doch für eine Weile, als er ihr Gesicht von jenem Grübeln befreit sah, das ihre Brauen bewegte und die Falte auf ihrer Stirn bildete; jetzt erschien sie ohne diese ihn oft verwirrende, wunderbare Reife der Züge. In diesen Momenten atmete ihr Gesicht ein so kindliches Vertrauen dem Schicksal, dem Glück und ihm selbst gegenüber aus! ... Sie war sehr anmutig. »Ach, wie froh, wie froh bin ich!« sagte sie, ihn lächelnd anblickend, »ich glaubte schon, daß ich dich heute nicht mehr sehen würde. Über mich ist gestern plötzlich eine solche Traurigkeit gekommen, ohne daß ich weiß, warum, und da hab' ich dir geschrieben. Bist du froh darüber?« Sie blickte ihm ins Gesicht. »Warum bist du heute so finster? Du schweigst? Du freust dich nicht? Ich dachte, du würdest vor Freude verrückt werden, und du scheinst statt dessen zu schlafen. Erwachen Sie, mein Herr, Oljga ist bei Ihnen.« Sie stieß ihn vorwurfsvoll leise von sich. »Ist dir nicht wohl? Was hast du?« ließ sie nicht nach. »Nein, ich bin gesund und glücklich«, beeilte er sich zu sagen, damit man seiner Seele das Geheimnis nicht entlockte. »Es beunruhigte mich nur, daß du allein ...« »Laß das meine Sorge sein«, sagte sie ungeduldig. »Wäre es denn besser, wenn ich mit ma tante gekommen wäre?« »Es wäre besser, Oljga ...« »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich sie darum gebeten haben«, unterbrach ihn Oljga mit gekränkter Stimme, indem sie seine Hand freigab. »Ich dachte, es gäbe für dich kein größeres Glück, als mit mir zusammen zu sein ...« »Das gibt es auch nicht und kann es nicht geben! Aber wie kannst du allein ...« »Es lohnt sich nicht, lange darüber zu sprechen! Unterhalten wir uns lieber von etwas anderem. Hör mal ... Ach, ich habe etwas sagen wollen und habe es nun vergessen ...« »Vielleicht, wie du allein hierher gekommen bist?« begann er, unruhig nach allen Seiten blickend. »Ach nein! Du fängst wieder davon an; daß dich das noch nicht langweilt! Was habe ich nur sagen wollen? ... Nun, das bleibt sich gleich, es wird mir später einfallen. Ach, wie schön es hier ist; alle Blätter sind abgefallen. Feuilles d'automne, erinnerst du dich noch an Hugo? Dort ist die Sonne, die Newa ... gehen wir hin und fahren wir Boot ...« »Was fällt dir ein? Es ist ja so kalt, und ich habe nur den wattierten Überzieher an ...« »Ich bin auch nur in einem wattierten Kleid. Was macht das? Komm, komm!« Sie lief und schleppte ihn mit. Er protestierte und brummte. Er mußte aber ins Boot steigen und mit ihr fahren. »Wie bist du allein hergekommen?« wiederholte Oblomow ruhig. »Soll ich's sagen?« neckte sie ihn schelmisch, als sie auf die Mitte des Flusses hinausgerudert waren, »jetzt kann ich's, du kannst mir hier nicht entfliehen, sonst würdest du es tun ...« »Warum denn?« begann er ängstlich. »Kommst du morgen zu uns?« fragte sie, statt zu antworten. Ach mein Gott! dachte Oblomow, sie scheint in meinen Gedanken gelesen zu haben, daß ich nicht kommen wollte. »Ich komme!« antwortete er laut. »Des Morgens, für den ganzen Tag?« Er wurde verlegen. »Dann sag' ich's nicht«, sprach sie. »Ich komme für den ganzen Tag.« »Also siehst du ...«, begann sie ernst, »ich habe dich heute darum herbestellt, um dir zu sagen ...« »Was?« »Daß du ... morgen zu uns kommen sollst.« »Ach du mein Gott!« unterbrach er sie ungeduldig, »aber wie bist du hergekommen?« »Wie ich hergekommen bin?« wiederholte sie zerstreut. »Ich bin einfach hergekommen ... Warte, du ... was soll man wohl darüber sagen!« Sie nahm eine Handvoll Wasser und spritzte es ihm ins Gesicht. Er kniff die Augen zu und fuhr zusammen, während sie lachte. »Wie kalt das Wasser ist, meine Hand ist ganz erstarrt! Mein Gott, wie lustig, wie schön es ist!« fuhr sie um sich schauend fort. »Wollen wir morgen wieder fahren, aber schon direkt von zu Hause ...« »Kommst du denn jetzt nicht direkt von zu Hause? Woher denn?« fragte er schnell. »Aus einem Geschäft.« »Aus was für einem?« »Warum fragst du? Ich habe ja schon im Garten gesagt, woher ...« »Aber nein, du hast es nicht gesagt ...« sagte er ungeduldig. »Hab' ich's nicht gesagt? Wie seltsam! Ich hab's vergessen! Ich bin von zu Hause mit einem Diener fortgegangen, um zum Juwelier zu gehen ...« »Nun?« »Also jetzt weißt du's ... Was ist das für eine Kirche?« fragte sie den Bootsmann, in die Ferne zeigend. »Welche? Diese da?« fragte der Bootsmann. »Das ist das Kloster Smolnij!« sagte Oblomow ungeduldig. »Nun, du bist also ins Geschäft gegangen, und dann?« »Dort ... sind schöne Sachen ... Ach, was für ein Armband ich gesehen habe!« »Es handelt sich nicht ums Armband!« unterbrach sie Oblomow, »was war denn dann?« »Das ist alles!« fügte sie zerstreut hinzu und sah sich aufmerksam die Gegend an. »Wo ist denn der Diener?« forschte Oblomow. »Er ist nach Hause gegangen«, antwortete sie nachlässig, das Gebäude am gegenüberliegenden Ufer betrachtend. »Und was war weiter?« »Wie schön es dort ist! Kann man nicht hinfahren?« fragte sie, mit dem Schirm auf das andere Ufer zeigend. »Du wohnst ja dort?« »Ja.« »Zeige, in welcher Straße?« »Was ist denn mit dem Diener?« fragte Oblomow. »Gar nichts«, antwortete sie ungern, »ich habe ihn mit dem Armband geschickt. Er ist nach Hause gegangen, und ich bin hierhergekommen.« »Wieso denn?« sagte Oblomow, sie mit weit offenen Augen betrachtend. Er machte ein erschrockenes Gesicht. Sie machte absichtlich ein ebensolches. »Sprich ernsthaft, Oljga, es ist genug gescherzt.« »Ich scherze nicht, es ist wirklich so! Ich habe das Armband absichtlich zu Hause gelassen, und ma tante hat mich gebeten, ins Geschäft zu gehen. Dir würde so etwas nie einfallen!« fügte sie stolz hinzu, als wäre das eine bemerkenswerte Tat. »Und wenn der Diener zurückkehrt?« »Ich habe ihm sagen lassen, er sollte auf mich warten, ich ginge in ein anderes Geschäft, und bin hierhergegangen ...« »Und wenn Marja Michailowna fragen wird, in welches andere Geschäft du gegangen bist? ...« »Dann sage ich, daß ich bei der Schneiderin war.« »Und wenn sie die Schneiderin danach fragt?« »Und wenn die ganze Newa plötzlich ins Meer fließt, und wenn das Boot umkippt, und wenn die Morskajastraße und unser Haus einstürzen, und wenn du mich plötzlich zu lieben aufhörst ...« sagte sie und spritzte ihm wieder das Gesicht an. »Der Diener ist wohl schon zurückgekehrt und wartet«, sagte er, sich das Gesicht abwischend. »He, Bootsmann, ans Ufer!« »Nein, nein!« befahl sie dem Bootsmann. »Ans Ufer! Der Diener ist schon zurück!«, wiederholte Oblomow. »Laß das! Es ist nicht nötig!« Doch Oblomow bestand darauf und ging mit ihr eilig in den Garten, während sie im Gegenteil langsam hinschritt und sich auf seinen Arm stützte. »Warum eilst du?« fragte sie, »warte; ich möchte noch bei dir bleiben.« Sie begann noch langsamer zu gehen, sich an seine Schulter schmiegend und ihm ins Gesicht blickend, während er weitschweifig und langweilig von Pflichten sprach. Sie hörte zerstreut mit einem matten Lächeln zu, indem sie den Kopf senkte und nach unten sah oder ihm wieder forschend ins Gesicht blickte und an etwas anderes dachte. »Höre, Oljga«, begann er endlich feierlich, »auf die Gefahr hin, deinen Ärger und deine Vorwürfe auf mich zu richten, muß ich dir endlich doch sagen, daß wir zu weit gegangen sind. Es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, dir das zu sagen.« »Was zu sagen?« fragte sie, aus ihrem Sinnen erwachend. »Daß wir sehr übel daran tun, uns heimlich zu sehen.« »Das hast du schon auf dem Lande gesagt.« »Ja, aber ich habe mich dann hinreißen lassen; ich habe mit der einen Hand fortgestoßen, was ich mit der anderen festgehalten habe. Du hast mir vertraut, und ich ... habe dich ... gleichsam ... betrogen ... Damals war das Gefühl noch neu ...« »Und jetzt ist es nichts Neues mehr, und du beginnst dich zu langweilen ...« »Aber nein, Oljga! Du bist ungerecht. Es war neu, sage ich, und darum hatten wir keine Zeit und war es unmöglich, vernünftig zu sein. Mich quält mein Gewissen; du bist jung, kennst wenig die Welt und die Menschen, und dabei bist du so rein, liebst so heilig, daß es dir gar nicht einfällt, welch strengem Tadel wir uns beide durch unser Tun aussetzen – am meisten ich.« »Was tun wir denn?« fragte sie stehenbleibend. »Wieso, was? Du hintergehst die Tante, gehst heimlich von zu Hause fort, kommst mit einem Manne unter vier Augen zusammen ... Versuche einmal, das alles am Sonntag vor den Gästen zu erzählen ...« »Warum sollte ich es nicht erzählen?« fragte sie ruhig, »ich werde es vielleicht erzählen.« »Dann wirst du sehen«, fuhr er fort, »daß deine Tante ohnmächtig wird, daß alle Damen fortstürzen und die Männer dich dreist und herausfordernd anblicken werden ...« Sie sann nach. »Aber wir sind doch Braut und Bräutigam!« entgegnete sie. »Ja, ja, liebe Oljga«, sagte er, ihr beide Hände drückend, »aber um so strenger und vorsichtiger müssen wir bei jedem Schritt sein. Ich will dich stolz in Anwesenheit aller und nicht heimlich durch diese Allee am Arme führen, ich will, daß die Blicke sich vor dir ehrfurchtsvoll senken und sich dir nicht dreist und herausfordernd zuwenden, und daß sich in niemand die freche Vermutung regt, du, die du so stolz bist, hättest Scham und Erziehung vergessen, hättest dich blindlings hinreißen lassen und gegen deine Pflichten verstoßen ...« »Ich habe weder Scham noch Erziehung noch Pflicht vergessen!« antwortete sie stolz, ihm ihre Hand entreißend. »Ich weiß, ich weiß, mein unschuldiger Engel, das sage aber nicht ich, das werden die Menschen, das wird die Welt sagen und es dir nie verzeihen. Verstehe, um Gottes willen, was ich will: Ich will, daß du auch in den Augen der Welt ebenso rein und makellos erscheinst, wie du es wirklich bist ...« Sie ging sinnend weiter. »Begreife, warum ich dir das alles sage: Du wirst unglücklich sein, und ich allein werde die Verantwortung tragen. Man wird sagen, ich hätte dich verführt, ich hätte vor dir absichtlich den Abgrund verheimlicht. Du bist rein und ruhig; wen wirst du aber davon überzeugen? Wer glaubt dir das?« »Das ist wahr«, sagte sie zusammenfahrend. »Also höre«, fügte sie entschlossen hinzu, »wollen wir ma tante alles sagen, sie soll uns morgen ihren Segen geben ...« Oblomow erbleichte. »Was hast du?« fragte sie. »Warte, Oljga! Wozu diese Eile ...« bemerkte er rasch. Dabei zitterten ihm die Lippen. »Warst du es nicht, der mich vor zwei Wochen selbst zur Eile getrieben hat?« Sie blickte ihn trocken und aufmerksam an. »Ich habe damals nicht an die Vorbereitungen gedacht, und es stehen mir so viele bevor!« sagte er seufzend. »Wollen wir wenigstens den Brief vom Gute abwarten.« »Wozu sollen wir denn den Brief abwarten? Kann denn die eine oder andere Antwort deinen Vorsatz ändern?« fragte sie, ihn noch aufmerksamer anblickend. »Welch ein Gedanke! Nein, aber wir brauchen das unserer Pläne wegen; man wird der Tante ja sagen müssen, wann die Hochzeit ist. Mit ihr werden wir nicht von der Liebe, sondern von solchen Dingen sprechen, auf die ich jetzt gar nicht vorbereitet bin.« »Wir werden mit ihr dann davon sprechen, wenn du den Brief bekommst, und unterdessen werden alle wissen, daß wir Braut und Bräutigam sind, und wir werden uns täglich sehen. – Ich langweile mich«, fügte sie hinzu, »mir fallen diese langen Tage zur Last; alle haben die Sache bemerkt, quälen mich und machen neckische Andeutungen in bezug auf dich ... Ich habe das alles satt!« »Man macht in bezug auf mich Andeutungen?« konnte Oblomow nur mit Mühe aussprechen. »Ja, dank Sonitschka ...« »Siehst du, siehst du? Du hast auf mich nicht gehört, bist damals böse geworden!« »Was soll ich denn sehen? Ich sehe nichts, ich sehe nur, daß du ein Feigling bist ... Ich fürchte diese Andeutungen nicht.« »Ich bin nicht feige, sondern vorsichtig ... Aber gehen wir um Gottes willen von hier fort, Oljga; sieh, da kommt eine Kutsche. Vielleicht sind es Bekannte? Ach, mir bricht der Schweiß aus ... Komm, komm ...« sagte er ängstlich und steckte auch sie mit seiner Furcht an. »Ja, komm schnell!« sagte sie flüsternd. Und sie liefen fast durch die Allee bis zum Ende des Gartens, ohne ein Wort zu wechseln. Oblomow blickte unruhig nach allen Seiten, und sie senkte ganz den Kopf und deckte sich mit dem Schleier zu. »Also morgen!« sagte sie, als sie bei dem Geschäft angelangt waren, in dem der Diener sie erwartete. »Nein, lieber übermorgen ... oder nein, Freitag oder Samstag«, antwortete er. »Warum denn?« »Ja ... siehst du, Oljga ... ich denke immer, daß der Brief kommen wird.« »Gut, komm aber morgen wenigstens zum Essen, hörst du?« »Ja, ja, gut, gut!« fügte er eilig hinzu, während sie ins Geschäft trat. »Ach, mein Gott, wie weit es mit uns gekommen ist! Welch ein Stein ist jetzt auf mich herabgestürzt! Was soll ich jetzt tun? Sonitschka, Sachar, die Gecken! ...« Sechstes Kapitel Sechstes Kapitel Er bemerkte nicht, daß Sachar ihm ein kaltes Mittagessen vorsetzte, wußte nicht, wie er dann ins Bett kam und in einen todähnlichen Schlaf versank. Am nächsten Tage erbebte er beim Gedanken daran, daß er zu Oljga fahren sollte, indem er sich lebhaft vorstellte, wie vielsagend alle ihn anblicken würden. Der Portier empfing ihn auch ohnehin eigentümlich freundlich; Sjemjon stürzte ganz kopflos hinaus, wenn er ein Glas Wasser verlangte; Katja und die Kinderfrau begleiteten ihn mit einem freundschaftlichen Lächeln hinaus. »Der Bräutigam, der Bräutigam!« steht bei ihnen allen auf der Stirne, und er hatte die Einwilligung der Tante noch nicht eingeholt, besaß keine Kopeke Geld und wußte nicht, wann er welches bekommen würde, er wußte nicht einmal, wieviel ihm das Gut in diesem Jahre tragen würde; er hatte kein Haus in seiner Besitzung – ein schöner Bräutigam! Er beschloß, daß er bis zum Eintreffen von genauen Berichten vom Gut Oljga nur am Sonntag in Anwesenheit anderer sehen wollte. Als dann der Tag kam, dachte er gar nicht daran, sich des Morgens zum Besuche bei Oljga vorzubereiten. Er rasierte sich nicht, kleidete sich nicht an, blätterte träge in den französischen Zeitungen herum, die er vorige Woche von Iljinskys mitgenommen hatte, sah nicht unaufhörlich auf die Uhr und furchte nicht die Stirne, wenn der Zeiger sich lange nicht vorwärts bewegte. Sachar und Anissja glaubten, er würde wie gewöhnlich außer Hause speisen, und fragten nicht, was gekocht werden sollte. Er schimpfte auf sie und erklärte, daß er durchaus nicht jeden Mittwoch bei Iljinskys esse, daß es eine »Verleumdung« sei, er hatte bei Iwan Gerassimitsch gespeist, und er würde in Zukunft nur mit Ausnahme von Sonntag, und auch das nicht immer, zu Hause zu Mittag essen. Anissja rannte auf den Markt hin, um für Oblomows Lieblingssuppe Gekröse zu holen. Dann kamen die Kinder der Hausfrau zu ihm; er sah Wanjas Rechenheft durch und fand zwei Fehler. Er liniierte Maschas Heft und schrieb ihr das große A vor, dann hörte er dem Singen der Kanarienvögel zu und sah durch die halboffene Tür zu, wie sich die Ellbogen der Hausfrau bewegten und vorüberhuschten. Gegen zwei Uhr fragte die Hausfrau durch die Tür, ob er nicht etwas essen wollte: sie hätte Käsekuchen gebacken. Man brachte ihm Käsekuchen und ein Gläschen Johannisbeerschnaps. Ilja Iljitschs Erregung beschwichtigte sich ein wenig, und er verfiel in stumpfes Sinnen, in dem er fast bis zum Essen verblieb. Nach dem Essen, als er vom Schlafe überwältigt auf dem Sofa liegend einzunicken begann, öffnete sich die Tür, die in die Zimmer der Hausfrau führte, und vor ihm erschien Agafja Matwejewna mit zwei Pyramiden von Strümpfen in beiden Händen. Sie legte sie auf zwei Stühle hin, während Oblomow aufsprang und ihr einen dritten anbot, doch sie setzte sich nicht; war es nicht gewohnt; sie war beständig auf den Füßen, von Sorge erfüllt, und befand sich in steter Bewegung. »Ich habe heute Ihre Strümpfe durchgesehen«, sagte sie. »Es sind fünfundfünfzig Paare, sie sind aber fast alle zerrissen ...« »Wie gut Sie sind!« sagte Oblomow an sie herantretend und sie scherzhaft bei den Ellbogen fassend. Sie lächelte. »Warum bemühen Sie sich? Ich muß mich wirklich schämen!« »Das macht nichts; das ist meine Beschäftigung. Sie haben niemand, der es für Sie tut, und mir macht es Vergnügen«, fuhr sie fort. »Da sind zwanzig Paar, die nichts mehr wert sind; es ist nicht der Mühe wert, sie zu stopfen.« »Das ist nicht nötig. Lassen Sie das, bitte, ganz sein! Warum geben Sie sich damit ab! Ich kann mir ja neue kaufen ...« »Es wäre schade, sie fortzuwerfen! Diese alle kann man anstricken.« Sie begann die Strümpfe rasch zu zählen. »Aber ich bitte Sie, setzen Sie sich doch! Warum stehen Sie?« sagte er zu ihr. »Nein, ich danke bestens; ich habe keine Zeit zum Sitzen!« antwortete sie, seine Einladung wieder ablehnend. »Heute wird bei uns gewaschen; ich muß die Wäsche vorbereiten.« »Sie sind eine großartige Hausfrau!« sagte er, den Blick auf ihren Hals und auf ihre Brust richtend. Sie lächelte. »Soll ich die Strümpfe anstricken?« fragte sie. »Dann werde ich Baumwolle und Zwirn kaufen. Uns bringt das eine Alte aus dem Dorf, hier lohnt es sich nicht einzukaufen. Man bekommt lauter abgelegene Ware.« »Wenn Sie so gut sind, erweisen Sie mir diesen Dienst ... aber ich schäme mich wirklich, Ihnen so viel Unruhe zu verursachen.« »Das macht nichts; was sollten wir sonst tun? Diese da werde ich selbst anstricken, jene gebe ich der Großmutter; morgen kommt meine Schwägerin auf Besuch. Wir werden abends frei sein und werden die Strümpfe anstricken. Mascha fängt auch schon zu stricken an, sie zieht aber immer die Nadeln heraus; sie sind für ihre Hände zu groß.« »Ist es möglich, daß auch Mascha das lernt?« »Bei Gott, ganz gewiß.« »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Oblomow, sie mit demselben Vergnügen betrachtend, mit dem er heute früh den heißen Käsekuchen angeschaut hatte. »Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar und werde nicht versäumen, meine Schuld zurückzuzahlen; ich werde Mascha seidene Kleider kaufen und sie wie eine Puppe anziehen.« »Aber lassen Sie das! Was für eine Dankbarkeit? Wozu braucht sie seidene Kleider? Man kann ihr nicht genug Kattunkleider kaufen. Es ist, als verbrenne alles auf ihr, besonders die Schuhe, wir können ihr nicht oft genug welche kaufen.« Sie erhob sich und nahm die Strümpfe. »Wohin eilen Sie denn?« fragte er. »Bleiben Sie da; ich bin jetzt frei.« »Vielleicht ein anderes Mal, an einem Feiertag; beehren auch Sie uns, trinken Sie mit uns Kaffee. Und jetzt wird bei uns gewaschen; ich werde nachsehen, was Akulina macht, ob sie schon angefangen hat ...« »Nun, gehen Sie mit Gott, ich wage nicht, Sie zurückzuhalten«, sagte Oblomow, mit den Augen ihrem Rücken und ihren Ellbogen folgend. »Dann habe ich noch Ihren Schlafrock aus der Kammer hervorgeholt«, sprach sie weiter. »Man kann ihn ausbessern und waschen; der Stoff ist so gut! Er wird noch lange dienen.« »Das war unnötig! Ich trage ihn nicht mehr, ich habe mir das abgewöhnt und brauche ihn nicht mehr.« »Das schadet ja nicht; man kann ihn auswaschen. Vielleicht ziehen Sie ihn noch einmal an ... zur Hochzeit!« schloß sie lächelnd und schlug die Tür zu. Ihm verging sogar der Schlaf; er spitzte die Ohren und riß die Augen auf. »Auch sie weiß es, alle!« sagte er, sich auf ihren Sessel sinken lassend. »O Sachar, Sachar!« Wieder ergoß sich ein Schwall von traurigen Worten über Sachar, wieder sprach Anissja mit der Nase, daß sie »zum ersten Male von der Hausfrau von der Hochzeit gehört hätte, sie hätte das in den Gesprächen mit jener gar nicht erwähnt, es würde ja gar keine Hochzeit stattfinden, das wäre ja ganz unmöglich! Das hätte wohl der Feind des menschlichen Geschlechtes ausgedacht, sie wollte gleich in die Erde sinken, und auch die Hausfrau sei bereit, vor dem Heiligenbilde zu schwören, daß sie vom Iljinskyschen Fräulein nichts gehört hatte, sondern irgendeine andere Braut meinte ...« Anissja sprach noch viel, so daß Ilja Iljitsch sie fortschickte. Sachar machte am folgenden Tag den Versuch, Oblomow um Erlaubnis zu bitten, in dem Hause auf der Gorochowaja, in dem sie früher gewohnt hatten, einen Besuch zu machen. Oblomow fuhr ihn aber so an, daß er dankbar war, seine Knochen heil fortzutragen. »Dort weiß man noch nichts, da willst du den Klatsch aussäen. Bleib zu Hause!« fügte er drohend hinzu. Der Mittwoch verging. Am Donnerstag bekam Oblomow mit der Stadtpost einen Brief von Oljga, in dem sie ihn fragte, was geschehen sei, da er nicht gekommen war. Sie schrieb, sie hätte den ganzen Abend geweint und eine schlaflose Nacht verbracht. »Dieser Engel weint und schläft nicht!« rief Oblomow aus. »O Gott! warum liebt sie mich? Warum liebe ich sie? Warum sind wir einander begegnet? Das hat Andrej verschuldet; er hat uns beiden die Liebe wie Pocken eingeimpft. Und was ist das für ein Leben! Nichts als Unruhe und Aufregung! Wann wird denn das friedliche Glück und die Ruhe kommen?« Er legte sich laut seufzend nieder, erhob sich, ging sogar auf die Straße hinaus und suchte immer nach einer Lebensnorm, nach einer Existenz, die Tag für Tag, Tropfen auf Tropfen in der stillen Betrachtung der Natur und in der stillen, langsam einander ablösenden Erscheinung eines friedlichen und geschäftigen Familienlebens dahinflösse und zugleich inhaltsreich wäre. Er wollte sich das Leben nicht als einen breiten, rauschenden Fluß mit wogenden Wellen vorstellen, wie Stolz es tat. »Das ist eine Krankheit«, sagte Oblomow, »ein Fieber, ein Springen über Sandbänke, wobei die Dämme eingerissen werden und Überschwemmungen drohen!« Er schrieb Oljga, er hätte sich im Sommergarten ein wenig erkältet, wäre genötigt gewesen, einen heißen Kräutertee zu trinken, und müßte ein paar Tage zu Hause bleiben, jetzt sei aber alles wieder gut, und er hoffe, sie am Sonntag zu sehen. Sie antwortete ihm, lobte ihn, weil er sich gepflegt hatte, riet ihm selbst, am Sonntag zu Hause zu bleiben, wenn es nötig wäre, sie wollte sich eine Woche langweilen, wenn er sich nur schonte. Die Antwort hatte Nikita gebracht, der nach Anissjas Worten am Klatsch die Hauptschuld trug. Er brachte vom Fräulein die Bücher mit dem Auftrage, Oblomow möchte dieselben lesen und Oljga bei der nächsten Begegnung sagen, ob sie selbst sie lesen solle. Sie bat um einen Bericht über seine Gesundheit. Oblomow schrieb die Antwort, übergab diese eigenhändig Nikita, geleitete ihn vom Vorzimmer direkt auf den Hof hinaus und folgte ihm mit den Augen bis zum Tor, damit es ihm nicht einfiel, in die Küche zu gehen und dort die »Verleumdung« zu wiederholen, oder damit Sachar ihn nicht auf die Straße hinausbegleitete. Er freute sich über Oljgas Vorschlag, er möchte sich schonen und am Sonntag nicht kommen, und schrieb ihr, er müsse bis zur endgültigen Genesung wirklich noch ein paar Tage zu Hause sitzen. Am Sonntag besuchte er die Hausfrau, trank Kaffee, aß eine heiße Piroge und schickte Sachar zu Mittag auf das andere Ufer, um Gefrorenes und Konfekt für die Kinder zu holen. Man fuhr Sachar mit Mühe über den Fluß zurück; man hatte die Brücken abgerissen, und die Newa begann sich schon mit Eis zu bedecken. Oblomow konnte gar nicht daran denken, am Mittwoch zu Oljga zu fahren. Gewiß, er konnte ja sofort, solange es noch ging, auf das gegenüberliegende Ufer hinüberfahren, sich für ein paar Tage bei Gerassimowitsch einquartieren, jeden Tag bei Oljga sein und sogar dort zu Mittag essen. Er hatte einen plausiblen Vorwand: Die Newa wäre an der einen Seite gefroren, und er hätte nicht Zeit gehabt, zurückzukehren; dieser Gedanke war Oblomows erste Regung, und er ließ seine Füße schnell auf den Fußboden herabgleiten; aber nach einigem Überlegen kehrte er mit besorgtem Gesicht seufzend und langsam wieder auf das Sofa zurück. »Nein, zuerst sollen die Gerüchte verstummen und die fremden Leute, die Oljgas Haus besuchten, ihn ein wenig vergessen und ihn erst dann wieder täglich dort sehen, wenn Oljga und er offiziell als Braut und Bräutigam galten. Es ist langweilig zu warten, aber man kann dagegen nichts tun«, fügte er seufzend hinzu, indem er die von Oljga geschickten Bücher in Angriff nahm. Er las etwa fünfzehn Seiten. Dann kam Mascha ihn fragen, ob er nicht an die Newa gehen wolle. Alle gingen sich ansehen, wie der Fluß gefroren war. Er ging und kam zum Tee zurück. So vergingen die Tage. Ilja Iljitsch langweilte sich, las, ging auf die Straße und schaute durch die Tür zur Hausfrau hinein, um mit ihr vor Langeweile ein paar Worte zu wechseln. Er mahlte ihr einmal drei Pfund Kaffee mit solchem Eifer, daß ihm die Stirn naß wurde. Er versuchte es, ihr ein Buch zu geben. Sie las, langsam die Lippen bewegend, leise den Titel und gab ihm das Buch zurück, indem sie sagte, sie würde es zu den Feiertagen bei ihm abholen und es von Wanja laut vorlesen lassen, dann würde auch die Großmutter zuhören können, jetzt hätte sie aber keine Zeit. Unterdessen hatte man über die Newa Fußstege gelegt, und eines Tages verkündete das Springen des Hundes an der Kette und sein verzweifeltes Bellen wieder Nikitas Erscheinen; er brachte ein Briefchen, in dem Oblomow über seine Gesundheit ausgefragt wurde, und ein Buch. Oblomow fürchtete sich, er würde genötigt sein, gleichfalls über den Fußsteg auf das andere Ufer zu gehen, versteckte sich vor Nikita und schrieb, er hätte eine leichte Halsentzündung, er traue sich noch nicht auszugehen, das grausame Schicksal beraube ihn noch ein paar Tage lang des Glückes, seine teure Oljga zu sehen. Er befahl Sachar eindringlich, sich nicht zu unterstehen, mit Nikita zu plaudern, folgte diesem wieder bis ans Tor mit den Augen und drohte Anissja mit dem Finger, als sie ihre Nase aus der Küche heraus steckte und Nikita etwas fragen wollte. Siebentes Kapitel Siebentes Kapitel Es verging eine Woche. Oblomow fragte des Morgens beim Aufstehen vor allem, ob die Brücken wieder in Ordnung seien. »Noch nicht«, sagte man ihm, und er verbrachte friedlich den Tag, dem Ticken des Pendels, dem Knarren der Kaffeemühle und dem Singen der Kanarienvögel lauschend. Die Küchlein piepsten nicht mehr, sie waren längst zu gesetzten Hennen geworden und versteckten sich in den Hühnerstall. Er las die Bücher, die Oljga ihm geschickt hatte, nicht zu Ende; er hatte das Buch auf der hundertfünften Seite mit dem Einbande nach oben liegen lassen, und es lag schon seit einigen Tagen so da. Dafür beschäftigte er sich öfters mit den Kindern der Hausfrau. Wanja war ein so verständiger Knabe, er hatte sich nach dreimal die Hauptstädte Europas gemerkt, und Ilja Iljitsch versprach ihm, sowie er ans andere Ufer fahren konnte, einen kleinen Globus zu schenken, und Waschenjka hatte ihm drei Taschentücher gesäumt, sie machte es zwar schlecht, aber sie arbeitete so spaßig mit den kleinen Händchen und lief immer zu ihm, um ihm jeden fertigen Zoll zu zeigen. Er plauderte unaufhörlich mit der Hausfrau, sowie er durch die halboffene Tür ihre Ellbogen erblickte. Er hatte sich schon daran gewöhnt, an der Bewegung der Ellbogen zu er kennen, was die Hausfrau tat, ob sie etwas durchsiebte, mahlte oder bügelte. Er versuchte sogar mit der Großmutter zu sprechen, doch sie konnte die Unterhaltung nie zu Ende führen; sie blieb auf einem halben Wort stehen, stemmte sich mit der Faust gegen die Wand, beugte sich herab und begann zu husten, als erledige sie eine schwere Arbeit, dann stöhnte sie auf, und das Gespräch wurde nicht mehr aufgenommen. Nur der Bruder ließ sich gar nicht blicken, man sah nur das große Paket vor den Fenstern vorüberhuschen, er selbst war aber im Hause gar nicht zu hören. Sogar als Oblomow einmal zufällig ins Zimmer trat, in dem sie dicht zusammengedrängt zu Mittag aßen, wischte der Bruder sich die Lippen schnell mit den Fingern ab und verschwand in seinem Giebelzimmer. Eines Tages, als Oblomow sorglos erwacht war und den Kaffee zu trinken begann, meldete Sachar plötzlich, die Brücken wären in Ordnung. Oblomows Herz begann zu klopfen. »Und morgen ist Sonntag«, sagte er, »ich muß zu Oljga hinfahren und den ganzen Tag die vielsagenden, neugierigen Blicke der Fremden ertragen«, dann mußte er ihr mitteilen, wann er mit der Tante sprechen wolle, und dabei befand er sich noch immer auf einem Punkt, von wo aus es ihm unmöglich war, sich fortzubewegen. Er stellte sich lebhaft vor, wie er zum Bräutigam ernannt wurde, wie am zweiten und dritten Tage verschiedene Damen und Herren kamen, wie er plötzlich zum Gegenstand der Neugierde wurde, wie ein offizielles Diner stattfand und auf seine Gesundheit getrunken wurde. Dann würde er, wie die Rechte und Pflichten eines Bräutigams es erforderten, der Braut ein Geschenk bringen. »Ein Geschenk«, sagte er entsetzt und lachte bitter auf. »Ein Geschenk!«, und er hatte zweihundert Rubel in der Tasche! Wenn man ihm auch Geld schickte, konnte das erst gegen Weihnachten oder vielleicht noch später geschehen, wenn das Getreide verkauft war, wann das aber zu erwarten war und was für eine Summe man dafür bekommen würde, das alles mußte durch den Brief erklärt werden, der nicht kam. Was sollte er tun? Jetzt würde das ruhige Leben der letzten zwei Wochen aufhören! Und zwischen diesen Sorgen hindurch erschien ihm Oljgas schönes Gesicht, ihre dichten, ausdrucksvollen Brauen, diese klugen graublauen Augen, der ganze Kopf und ihr Zopf, den sie auf eine besondere Weise auf den Nacken herabsenkte, so daß er das Edle ihrer ganzen Gestalt vom Kopf bis zu den Schultern und bis zu der Taille fortsetzte und ergänzte. Sowie Oblomow aber vor Liebe zitterte, sank auf ihn sofort wie ein schwerer Stein die Frage herab: was zu tun war; wie er an die Frage bezüglich der Hochzeit herantreten sollte, wo er sich Geld verschaffen und mit welchen Mitteln er später leben konnte ... »Ich warte noch, vielleicht kommt morgen oder übermorgen ein Brief.« Und er begann auszurechnen, wann sein Brief auf dem Gute ankommen könnte, wie lange der Nachbar mit dem Schreiben säumen würde und wieviel Zeit bis zum Eintreffen der Antwort verstreichen müßte. »Sie muß in drei, höchstens in vier Tagen hier sein; ich werde mit dem Besuch bei Oljga noch warten«, beschloß er, »um so mehr, da sie wohl schwerlich wußte, daß die Brücken in Ordnung waren ...« »Katja, sind die Brücken in Ordnung?« fragte Oljga ihr Stubenmädchen, sowie sie an demselben Morgen erwacht war. Und diese Frage hatte sich täglich wiederholt. Oblomow hatte das gar nicht vorausgesetzt. »Ich weiß nicht, Fräulein; ich habe heute weder den Kutscher noch den Hausbesorger gesehen, und Nikita weiß es nicht.« »Du weißt niemals, wenn mich etwas interessiert!« sagte Oljga unzufrieden, im Bette liegend und die Kette an ihrem Hals betrachtend. »Ich werde es gleich erfahren, Fräulein. Ich hab' mich nicht getraut, fortzugehen, ich hab' geglaubt, Sie werden gleich erwachen, sonst wäre ich schon längst hinübergelaufen.« Und Katja verschwand aus dem Zimmer. Oljga zog unterdessen die Tischlade heraus und suchte Oblomows letztes Briefchen hervor. Der Arme, der Arme, dachte sie besorgt, er ist allein und langweilt sich ... O Gott, wie lange wird das wohl noch dauern ... Sie war mit ihren Gedanken noch nicht fertig, als Katja mit gerötetem Gesicht ins Zimmer stürzte. »Die Brücken sind in Ordnung, sie sind heute nacht gemacht worden«, sagte sie freudig, fing ihr Fräulein, das geschwind vom Bett aufsprang, in ihren Armen auf, warf ihr eine Bluse um und rückte ihr die winzigen Pantöffelchen hin. Oljga öffnete rasch die Schublade, nahm etwas heraus und ließ es in Katjas Hand gleiten, während letztere ihr die Hand küßte. Das alles, das Springen aus dem Bett, die Münze, die in Katjas Hand glitt, und der Kuß, geschah in einem Augenblick. Ach, morgen ist Sonntag, wie gut sich das trifft! Er wird kommen! dachte Oljga, zog sich eilig an, trank schnell Tee und fuhr mit der Tante ins Geschäft. » Ma tante, wollen wir morgen ins Smolnijkloster zur Messe fahren?« bat sie. Die Tante kniff ein wenig die Augen zusammen, dachte nach und sagte dann: »Gut; aber das ist so weit, ma chère! Wieso fällt dir so etwas im Winter ein?« Aber das war Oljga nur darum eingefallen, weil Oblomow ihr diese Kirche vom Fluß aus gezeigt hatte, und sie bekam Lust, darin zu beten ... daß er gesunden möge, daß er sie liebe, daß er durch sie glücklich werde, daß ... diese Unschlüssigkeit und Unbestimmtheit schnell enden möge ... Arme Oljga! Der Sonntag kam. Oljga brachte es geschickt fertig, das ganze Mittagessen nach Oblomows Geschmack anzuordnen. Sie zog ein weißes Kleid an, versteckte unter den Spitzen das von ihm geschenkte Armband und frisierte sich, wie er es liebte; sie hatte tags zuvor das Klavier stimmen lassen und probierte des Morgens Casta diva zu singen. Ihre Stimme war so klangvoll, wie sie es seit dem Sommer nicht gewesen war. Dann begann sie zu warten. Der Baron traf sie in dieser Erwartung an und sagte, sie sei wieder ebenso schön wie im Sommer, sie sei nur ein wenig abgemagert. »Das Entbehren der Landluft und die kleine Störung in der Lebensweise haben Sie sichtbar beeinflußt«, sagte er. »Sie brauchen die Luft der Felder und das Land, liebe Oljga Sjergejewna.« Er küßte ihr ein paarmal die Hand, so daß sein gefärbter Schnurrbart auf ihren Fingern sogar einen kleinen Fleck zurückließ. »Ja, das Land!« erwiderte sie sinnend, aber nicht ihm, sondern jemand anderem, in die Luft hinein. »Apropos, da wir vom Lande sprechen«, fügte er hinzu, »nächsten Monat endet Ihr Prozeß, und Sie können im April auf Ihr Gut fahren. Es ist nicht groß, aber die Lage ist wunderbar! Sie werden zufrieden sein. Was für ein Haus und einen Garten Sie dort haben! Ein Pavillon ist dort auf dem Berg gelegen; Sie werden es liebgewinnen. Die Aussicht auf den Fluß ... Sie erinnern sich dessen wohl nicht, Sie waren etwa fünf Jahre alt, als Ihr Papa das Gut verließ und Sie mitnahm.« »Ach, wie froh ich sein werde!« sagte sie nachdenklich. Jetzt ist es entschieden, dachte sie, wir fahren dorthin; aber er soll es nicht früher erfahren, als bis er ... »Im nächsten Monat, Baron?« fragte sie lebhaft. »Ist das sicher?« »So sicher wie die Tatsache, daß Sie immer, heute aber ganz besonders schön sind«, sagte er und ging zur Tante. Oljga blieb sitzen und träumte von ihrem nahen Glück; doch sie beschloß, Oblomow weder diese Neuigkeit noch ihre künftigen Pläne mitzuteilen. Sie wollte die durch die Liebe in seiner schlummernden Seele vollzogene Umwälzung bis zu Ende verfolgen, sie will sehen, wie er sich endgültig von dem Joch seiner Trägheit befreien, sich vom lockenden Glück bezwingen lassen wird, wie er vom Gute eine günstige Antwort bekommt, strahlend zu ihr läuft und fliegt und sie ihr zu Füßen legt, wie sie beide einander überholend zur Tante stürzen und dann ... dann wollte sie ihm plötzlich sagen, daß auch sie ein Dorf, einen Garten, einen Pavillon, eine Aussicht auf den Fluß und ein ganz eingerichtetes Haus besitze, daß sie zuerst dorthin und dann nach Oblomowka fahren würden. Nein, ich will keine günstige Antwort, dachte sie, sonst wird er stolz sein und wird sich gar nicht darüber freuen, daß ich mein eigenes Gut, mein Haus und meinen Garten habe ... Nein, er soll lieber durch einen unangenehmen Brief verstimmt kommen und erzählen, daß das Gut vernachlässigt sei und daß er selbst hinfahren müsse. Er wird Hals über Kopf hinreisen, wird in Eile alle nötigen Anordnungen treffen, wird alles irgendwie in Gang bringen, wobei er vieles vergessen und manches nicht verstehen wird, wird zurückkommen und plötzlich erfahren, daß er gar nicht hinzureisen brauchte, daß es ein Haus, einen Garten und einen Pavillon mit einer Aussicht gibt, daß sie auch ohne sein Oblomowka einen Wohnort besaßen ... Nein, nein, sie würde es ihm keinesfalls sagen und bis zum Schlusse schweigen; er soll nur hinfahren, sich bewegen, auftauen – und das alles für sie im Namen ihres künftigen Glückes! Oder doch? Wozu ihn aufs Gut schicken und sich von ihm trennen? Nein, wenn er bleich und traurig in den Reisekleidern zu ihr kommt, um für einen Monat Abschied zu nehmen, wird sie ihm plötzlich sagen, er brauche vor dem Sommer nicht hinzufahren, sie würden dann zusammen hinfahren ... So träumte sie, lief dann zum Baron hin und bat ihn geschickt, vorläufig niemand, ohne Ausnahme, von dieser Neuigkeit etwas zu erzählen. Bei diesem Niemand dachte sie nur an Oblomow. »Ja, ja, wozu sollte ich denn davon sprechen?« stimmte er bei. »Vielleicht sage ich es nur Herrn Oblomow, wenn davon die Rede sein wird ...« Oljga beherrschte sich und sagte gleichgültig: »Nein, sagen Sie es auch ihm nicht!« »Ihr Wunsch ist für mich Befehl, wie Sie wissen ...« fügte der Baron liebenswürdig hinzu. Sie war nicht ohne Schlauheit. Wenn sie Oblomow in Anwesenheit von Fremden anblicken wollte, blickte sie sicher zuerst drei andere Personen und erst dann ihn an. Wieviel Gedanken fuhren ihr durch den Sinn – und das alles Oblomows wegen! Wie oft flammten die beiden Flecken auf ihren Wangen auf! Wie oft schlug sie bald die eine und bald die andere Taste an, um sich zu überzeugen, ob das Klavier nicht zu hoch gestimmt sei, und legte die Noten von einer Stelle auf die andere. Und er kam nicht. Was bedeutete das? Es schlug drei und vier Uhr – und er war noch immer nicht da! Um halb fünf begannen ihre Schönheit und ihr Strahlen zu schwinden; sie ermattete sichtbar und setzte sich bleich zu Tische. Und die übrigen waren wie sonst; niemand bemerkte es, alle aßen die Gerichte, die für ihn bestimmt waren, und sprachen so fröhlich und gleichgültig. Er kam auch weder am Nachmittag noch am Abend. Sie schwankte bis zehn Uhr zwischen Hoffnung und Furcht; um zehn Uhr zog sie sich zurück. Zuerst schüttete sie den ganzen Zorn, der sich in ihrem Herzen angesammelt hatte, im Geiste über ihn aus; sie besaß in ihrem Lexikon kein einziges beißendes Spottwort, keinen einzigen heftigen Ausdruck, mit dem sie ihn im Geiste nicht gefoltert hätte. Dann schien es, als hätte sich ihr ganzer Organismus zuerst mit Feuer und darauf mit Eis gefüllt. Er ist krank, er ist allein, er kann nicht einmal schreiben ... fiel es ihr ein. Diese Überzeugung bemächtigte sich ihrer ganz und ließ sie die ganze Nacht nicht schlafen. Sie schlummerte wie im Fieber auf zwei Stunden ein, phantasierte in der Nacht und erhob sich des Morgens bleich, aber ruhig und entschlossen. Montag früh schaute die Hausfrau in Oblomows Zimmer herein und sagte: »Ein Mädchen wünscht Sie zu sprechen!« »Mich? Das ist unmöglich!« antwortete Oblomow. »Wo ist sie?« »Hier. Sie hat sich geirrt und ist zu uns hereingekommen. Soll ich sie eintreten lassen?« Noch bevor Oblomow mit sich einig war, wozu er sich entschließen sollte, stand vor ihm Katja. Die Hausfrau war fortgegangen. »Katja!« sagte Oblomow erstaunt. »Was ist? Was hast du?« »Das Fräulein ist da!« antwortete sie flüsternd. »Sie läßt fragen ...« Oblomow wechselte die Farbe. »Oljga Sjergejewna!« flüsterte er entsetzt. »Das ist nicht wahr, Katja, du scherzest! Quäle mich nicht!« »Es ist bei Gott wahr. Das Fräulein ist in einem Mietwagen vor der Teehandlung halten geblieben; sie wartet und will herkommen. Ich sollte Ihnen sagen, Sie möchten Sachar irgendwohin wegschicken. Sie wird in einer halben Stunde hier sein.« »Ich werde lieber selbst hingehen. Wie kann Oljga Sjergejewna denn herkommen?« »Sie werden nicht mehr zurechtkommen. Das Fräulein kann jeden Augenblick da sein; sie glaubt, daß Sie krank sind. Adieu! Ich laufe fort. Sie ist allein und erwartet mich ...« Sie ging. Oblomow zog mit außergewöhnlicher Schnelligkeit die Krawatte, die Weste und die Stiefel an und rief Sachar. »Sachar, du hast mich neulich um Erlaubnis gebeten, auf dem anderen Ufer, auf der Gorochowaja, einen Besuch zu machen. Also geh jetzt hin!« sprach er in fieberhafter Aufregung. »Ich werde nicht hingehen!« antwortete Sachar entschlossen. »Nein, geh nur hin!« sprach Oblomow beharrlich. »Warum sollte ich am Wochentag einen Besuch machen? Ich werde nicht hingehen!« sagte Sachar trotzig. »Geh doch hin und amüsiere dich! Sei nicht eigensinnig, wenn dein Herr dir die Gnade erweist und dich fortläßt ... Geh zu deinen Bekannten!« »Zum Kuckuck mit diesen Bekannten!« »Willst du sie denn nicht sehen?« »Das sind solche Schufte, daß ich sie gar nicht sehen möchte!« »Geh doch, geh!« wiederholte Oblomow beharrlich, wobei ihm das Blut zu Kopfe stieg. »Nein, ich bleibe heute den ganzen Tag zu Hause! Ich werde vielleicht am Sonntag hingehen!« lehnte Sachar gleichgültig ab. »Nein, jetzt, sofort!« trieb Oblomow ihn aufgeregt zur Eile an. »Du mußt ...« »Ja, warum soll ich denn plötzlich hingehen?« »Also, dann geh zwei Stunden lang spazieren. Du hast ein so verschlafenes Gesicht – geh in die frische Luft.« »Mein Gesicht ist so, wie es bei unsereinem zu sein pflegt!« sagte Sachar, träge durchs Fenster blickend. Ach du mein Gott, sie wird gleich hier sein! dachte Oblomow, sich den Schweiß von der Stirn wischend. »Also, geh doch spazieren, man bittet dich! Da hast du zwanzig Kopeken! Trinke mit deinen Freunden ein Glas Bier.« »Ich werde lieber im Flur bleiben! Wohin soll ich denn bei diesem Frost gehen? Oder ich werde am Tor sitzen, das ginge schon ...« »Nein, du sollst nicht am Tor bleiben!« sagte Oblomow rasch. »Geh in eine andere Straße, dorthin, links, dem Garten zu ... auf die andere Seite!« Was soll das bedeuten? dachte Sachar. Er schickt mich spazieren; das war noch nicht da! »Ich werde lieber am Sonntag fortgehen, Ilja Iljitsch ...« »Wirst du gehen?« begann Oblomow, sich mit zusammengepreßten Zähnen Sachar nähernd. Sachar verschwand, und Oblomow rief Anissja herein. »Geh auf den Markt«, sagte er ihr, »und kaufe zum Mittagessen ein ...« »Ich habe alles eingekauft; das Essen wird bald fertig sein ...« begann die Nase. »Schweig und gehorche!« fuhr Oblomow sie so an, daß Anissja Angst bekam. »Kaufe ... Spargel ...« schloß er nach einer Weile, da ihm nichts einfiel, was er holen lassen konnte. »Wo bekommt man denn jetzt Spargel, Väterchen? Das gibt es doch jetzt nicht ...« »Marsch!« schrie er, und sie lief fort. »Laufe, so schnell du kannst!« schrie er ihr nach. »Und schau dich nicht um; von dort mußt du aber so langsam als möglich zurückkehren und darfst nicht vor zwei Stunden hier sein!« »Was soll das heißen?« sagte Sachar zu Anissja, ihr vor dem Tore begegnend. »Er hat mich spazieren fortgejagt und hat mir zwanzig Kopeken gegeben! Wohin soll ich spazieren gehen?« »Das ist die Sache des Herrn!« bemerkte die findige Anissja. »Geh zu Artemij, dem gräflichen Kutscher, und bewirte ihn mit Tee, er hält dich immer frei; und ich laufe auf den Markt.« »Was heißt das, Artemij?« fragte Sachar auch ihn. »Der Herr hat mich spazieren fortgejagt und hat mir ein Trinkgeld gegeben ...« »Vielleicht will er sich selbst einen Rausch antrinken?« fiel es Artemij ein. »Da hat er auch dir was gegeben, damit du ihn nicht beneidest. Komm!« Er blinzelte Sachar zu und wies mit dem Kopf auf irgendeine Straße hin. »Komm!« wiederholte Sachar und winkte gleichfalls mit dem Kopf nach derselben Straße hin. »So etwas! Er hat mich spazieren fortgejagt!« krächzte er leise lächelnd. Sie gingen fort, und Anissja lief bis zum ersten Kreuzweg, setzte sich in einen Graben am Zaune und wartete, was geschehen würde. Oblomow lauschte und wartete. Jetzt ergriff jemand den Ring an der Pforte, und in demselben Augenblick ertönte das verzweifelte Bellen und begann das Springen des Hundes an der Kette. »Der verfluchte Hund!« sagte Oblomow zähneknirschend, griff nach dem Hut, stürzte zur Pforte hin, öffnete sie und trug Oljga fast in seinen Armen bis zur Stiege. Sie war allein. Katja erwartete sie im Wagen, in der Nähe des Tores. »Du bist gesund? Du liegst nicht zu Bett? Was ist mit dir?« fragte sie schnell, ohne den Mantel und den Hut abzulegen und ihn vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend, als sie sich in seinem Arbeitszimmer befanden. »Es geht mir schon wieder besser, die Halsentzündung ist ... fast ganz vorüber«, sagte er, seinen Hals berührend und leicht hüstelnd. »Warum bist du gestern nicht gekommen?« fragte sie, ihn so forschend anblickend, daß er kein einziges Wort aussprechen konnte. »Wie hast du dich zu einer solchen Handlung entschließen können, Oljga?« begann er entsetzt. »Weißt du denn, was du tust? ...« »Lassen wir das jetzt!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich frage dich: Was bedeutet es, daß du dich nicht sehen läßt?« Er schwieg. »Hast du vielleicht ein Gerstenkorn?« Er schwieg. »Du warst nicht krank. Du hast keine Halsschmerzen gehabt!« sagte sie mit gefurchten Brauen. »Nein«, antwortete Oblomow mit der Stimme eines Schulknaben. »Du hast mich betrogen!« Sie blickte ihn erstaunt an. »Warum?« »Ich werde dir alles erklären, Oljga!« rechtfertigte er sich. »Ein wichtiger Grund hat mich daran verhindert, während dieser zwei Wochen zu dir zu kommen ... ich habe mich gefürchtet ...« »Wovor?« fragte sie, sich setzend und Hut und Mantel ablegend. Er nahm ihr beides ab und legte es auf den Diwan. »Vor dem Klatsch und der Verleumdung ...« »Du hast dich aber nicht davor gefürchtet, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen, Gott weiß woran denken werde und erkranken kann?« sagte sie, ihn mit einem forschenden Blick streifend. »Oljga, du weißt nicht, was hier bei mir vorgeht!« sagte er, aufs Herz und auf den Kopf zeigend. »Ich bin vor Unruhe wie im Feuer. Weißt du nicht, was geschehen ist?« »Was ist noch geschehen?« fragte sie kalt. »Wie weit das Gerücht von dir und mir gedrungen ist! Ich wollte dich nicht aufregen und habe gefürchtet, mich bei dir blicken zu lassen.« Er erzählte ihr alles, was er von Sachar und Anissja gehört hatte, erwähnte auch das Gespräch der beiden Gecken und schloß, indem er sagte, daß er seit der Zeit nicht schlafe, daß er in jedem Blick eine Frage, einen Vorwurf oder neckische Andeutungen auf ihre Zusammenkünfte sehe. »Aber wir haben ja beschlossen, noch diese Woche mit ma tante zu sprechen!« entgegnete sie. »Dann müssen diese Gerüchte doch verstummen ...« »Ja; aber ich wollte bis zum Empfang des Briefes der Tante noch nichts sagen. Ich weiß, daß sie mich nicht über meine Liebe, sondern über das Gut ausfragen und sich in Details einlassen wird; ich kann ihr das alles aber nicht erklären, bevor der Nachbar mir geantwortet hat.« Sie seufzte. »Wenn ich dich nicht kennen würde, könnte ich Gott weiß was glauben!« sagte sie nachdenklich. »Du hast mich durch Klatschgeschichten der Lakaien zu beunruhigen gefürchtet? Ich höre auf, dich zu verstehen.« »Ich dachte, ihre Gespräche würden dich aufregen. Katja, Marfa, Sjemjon und dieser Dummkopf Nikita sagen Gott weiß was ...« »Ich weiß längst, was sie sagen!« bemerkte sie gleichgültig. »Wie, du weißt es?« »Ja! Katja und die Kinderfrau haben es mir längst mitgeteilt; sie haben mich über dich ausgefragt und mir gratuliert ...« »Sie haben dir wirklich gratuliert?« fragte er entsetzt. »Was hast du dazu gesagt?« »Ich habe ihnen gedankt; ich habe der Kinderfrau ein Tuch geschenkt, und sie hat mir versprochen, ins Sergiuskloster zu Fuß hinzugehen. Ich habe Katja versprochen, mich für sie zu verwenden und sie mit dem Konditor zu verheiraten; sie hat ihren eigenen Roman ...« Er sah sie mit erschrockenen und erstaunten Augen an. »Du kommst jeden Tag zu uns; es ist also sehr natürlich, daß die Dienstboten davon sprechen«, fügte sie hinzu. »Sie sind immer die ersten. Mit Sonitschka war es ganz ebenso; warum erschreckt dich das so?« »Also daher stammen die Gerüchte!« sagte er gedehnt. »Sind sie denn unbegründet? Es ist ja wahr!« »Es ist wahr!« wiederholte Oblomow weder fragend noch verneinend. »Ja«, fügte er dann hinzu, »du hast wirklich recht; ich will aber nicht, daß sie von unseren Zusammenkünften etwas erfahren, darum fürchte ich mich ...« »Du fürchtest dich und zitterst wie ein Knabe ... Ich begreife nicht! Stiehlst du mich denn?« Es war ihm unbehaglich; sie blickte ihn aufmerksam an. »Höre einmal!« sagte sie. »Es steckt irgendeine Lüge, irgend etwas anderes dahinter ... Komm zu mir und erzähle alles, was du auf dem Herzen hast. Du hättest einen, zwei Tage, vielleicht eine Woche aus Vorsicht nicht kommen können; du hättest mir aber doch schreiben und alles mitteilen können. Du weißt, ich bin kein Kind mehr, und es ist nicht mehr so leicht, mich durch einen Unsinn zu verwirren. Was bedeutet das?« Er sann nach, küßte ihr dann die Hand und seufzte. »Weißt du, Oljga, ich glaube, daß es folgendes ist«, sagte er. »Meine Phantasie ist während dieser ganzen Zeit so von Angst um dich erfüllt, mein Verstand quält sich so mit Sorgen, mein Herz schmerzt mir vor bald sich verwirklichenden und bald dahinschwindenden Hoffnungen und Erwartungen, und mein ganzer Organismus ist erschüttert; er erstarrt und verlangt wenigstens zeitweise nach Ruhe.« »Warum erstarrt denn der meine nicht, und warum suche ich nur neben dir nach Ruhe?« »Du hast junge, unverbrauchte Kräfte, und du liebst ruhig und ohne Zweifel, während ich ... Aber du weißt ja, wie ich dich liebe!« sagte er, auf den Fußboden herabgleitend und ihr die Hände küssend. »Nein, ich weiß das noch nicht zur Genüge. Du bist so seltsam, mir kommen allerlei Vermutungen; mir steht der Verstand still, und meine Hoffnung erlischt ... Bald werden wir aufhören, einander zu verstehen. Dann steht es schlimm!« Sie schwiegen. »Was hast du denn diese Tage getan?« fragte sie, jetzt erst das Zimmer betrachtend. »Bei dir ist es nicht schön; was für niedere Zimmer! Die Fenster sind klein und die Tapeten alt ... Wo sind denn deine anderen Zimmer?« Er zeigte ihr voll Eifer die Wohnung, um die Frage, was er diese Tage getan hatte, zu vertuschen. Dann setzte sie sich aufs Sofa, und er ließ sich wieder zu ihren Füßen auf den Teppich nieder. »Was hast du denn während der zwei Wochen getan?« fragte sie wieder. »Ich habe gelesen, geschrieben und an dich gedacht.« »Hast du meine Bücher zu Ende gelesen? Wie sind sie? Ich werde sie mitnehmen.« Sie nahm ein Buch vom Tisch und sah die aufgeschlagene Seite an; sie war verstaubt. »Du hast nicht gelesen?« sagte sie. »Nein!« antwortete er. Sie blickte die zerdrückten, gestickten Kissen, die verstaubten Fenster, den Schreibtisch an, fand alles in der größten Unordnung, prüfte ein paar staubige Papiere, steckte die Feder ins ausgetrocknete Tintenfaß und sah ihn erstaunt an. »Was hast du denn getan?« wiederholte sie. »Du hast weder gelesen noch geschrieben?« »Ich habe zu wenig Zeit gehabt«, begann er stotternd. »Wenn ich des Morgens aufstehe, werden die Zimmer aufgeräumt, das stört mich; dann beginnt man vom Essen zu sprechen, die Kinder der Hausfrau kommen herein und bitten mich, ihre Aufgaben durchzusehen, und dann kommt das Mittagessen. Nach dem Essen kann man nicht mehr lesen.« »Du hast nach dem Essen geschlafen!« sagte sie so überzeugt, daß er nach einigem Schwanken leise antwortete: »Ja ...« »Warum denn?« »Um die Zeit nicht zu bemerken. Du warst nicht bei mir, Oljga, und das Leben ohne dich ist langweilig und unerträglich ...« Er schwieg, und sie blickte ihn streng an. »Ilja!« begann sie ernsthaft. »Erinnerst du dich, wie du mir im Park gesagt hast, daß in dir ein neues Leben beginne, wie du mir versichert hast, daß ich das Ziel deines Lebens und dein Ideal sei; du hast mich bei der Hand genommen und gesagt, sie gehöre dir – weißt du noch, wie ich eingewilligt habe?« »Kann man denn so etwas vergessen? Hat denn das nicht mein ganzes Leben umgewälzt? Siehst du denn nicht, wie glücklich ich bin?« »Nein, ich sehe es nicht; du hast mich betrogen!« sagte sie kalt. »Du läßt dich wieder gehen ...« »Ich habe dich betrogen! Das ist eine Sünde! Ich schwöre dir vor Gott, ich würde mich sofort in den Abgrund stürzen! ...« »Ja, wenn der Abgrund jetzt, in diesem Augenblick, hier vor deinen Füßen wäre!« unterbrach sie ihn. »Wenn man es aber auf drei Tage verschoben hätte, würdest du dir die Sache überlegen und dich fürchten, besonders wenn Sachar oder Anissja darüber klatschen würden ... Das ist keine Liebe.« »Du zweifelst an meiner Liebe?« begann er leidenschaftlich. »Du glaubst, daß ich aus Furcht um mich und nicht um dich zögere? Daß ich deinen Namen nicht wie hinter eine Mauer verschanzen will, daß ich nicht wie eine Mutter über dich wache, damit kein einziges Gerücht dich zu berühren wagt ... Ach, Oljga, verlange Beweise! Ich wiederhole dir, daß, wenn du mit einem anderen glücklicher sein könntest, ich ihm, ohne zu murren, meine Rechte abtreten würde; daß ich freudig sterben würde, wenn man für dich sterben müßte!« schloß er mit Tränen in den Augen. »Das ist alles unnötig, niemand verlangt es! Wozu brauche ich dein Leben? Tue das, was notwendig ist. Das ist eine Finte listiger Menschen, Opfer anzubieten, die unnötig oder unausführbar sind, um keine notwendigen zu bringen. Du bist nicht listig – ich weiß es, aber ...« »Du weißt nicht, wieviel Kraft die Sehnsucht und die Sorgen mir geraubt haben!« fuhr er fort. »Ich habe, seit ich dich kenne, keinen anderen Gedanken ... Ich wiederhole auch jetzt, du bist mein Ziel, du allein. Wenn du nicht bei mir bleibst, werde ich sterben oder wahnsinnig werden. Ich atme jetzt, schaue, denke und fühle nur durch dich. Warum wunderst du dich denn, daß ich an den Tagen, an denen ich dich nicht sehe, einschlafe und versumpfe? Mir erscheint alles widerlich und langweilig, ich werde zu einer Maschine, ich gehe und tue etwas, ohne zu bemerken, was ich tue. Du bist das Feuer und die Kraft dieser Maschine!« sagte er, vor ihr niederkniend und sich aufrichtend. Seine Augen leuchteten wie einst im Park. In ihnen erstrahlte wieder Stolz und Willenskraft. »Ich bin jetzt bereit, wohin du mir befiehlst, zu gehen, und was du willst, zu tun. Ich fühle, daß ich lebe, wenn du mich anblickst, wenn du sprichst und singst.« Oljga lauschte, sinnend, mit strengem Ausdruck, diesen leidenschaftlichen Ergüssen. »Höre, Ilja«, sagte sie, »ich glaube an deine Liebe und an die Macht, die ich auf dich ausübe. Warum erschreckst du mich aber durch deine Unentschlossenheit und machst mich zweifeln? Ich bin dein Ziel, sagst du, du näherst dich ihm aber so schüchtern und langsam; und du hast noch einen weiten Weg; du mußt dich über mich erheben. Ich erwarte das von dir! Ich habe glückliche Menschen gesehen, die lieben«, fügte sie seufzend hinzu, »bei ihnen wogt alles, und ihre Ruhe sieht der deinigen nicht ähnlich; sie senken nicht den Kopf; ihre Augen sind offen; sie schlafen fast gar nicht, sie handeln! Und du ... Nein, es sieht nicht so aus, als ob die Liebe, als ob ich dein Ziel wäre ...« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Du, du! ...« sagte er, ihr wieder die Hände küssend und voller Leidenschaft zu ihren Füßen liegend, »du allein, o Gott, welch ein Glück!« sprach er wie im Fieber. »Und du glaubst, daß es möglich ist, dich zu betrügen, nach einem solchen Erwachen wieder einzuschlafen, nicht zum Helden zu werden! Du und Andrej werden sehen«, fuhr er, mit begeisterten Augen um sich schauend, fort, »bis zu welcher Höhe die Liebe einer Frau, wie du es bist, einen Menschen erheben kann! Schau mich an, schau mich an: Bin ich denn nicht auferstanden, lebe ich denn nicht in diesem Augenblick? Gehen wir von hier fort, weit fort! Ich kann keinen Augenblick hier bleiben, es ekelt mich! Ich ersticke!« sagte er, mit ungeheucheltem Widerwillen um sich schauend. »Laß mich heute dieses Gefühl auskosten ... Ach, wenn dasselbe Feuer, welches heute in mir brennt, morgen und immer anhalten würde! Wenn du aber nicht da bist, erlischt es, und ich falle! Jetzt lebe ich auf und bin auferstanden. Mir scheint, ich ... Oljga, Oljga! Du bist schöner als alles auf der Welt, du bist das beste Weib, du ... du ...« Er schmiegte sein Gesicht in ihre Hand und erstarrte. Die Worte wollten ihm nicht mehr von der Zunge. Er preßte seine Hand ans Herz, um die Erregung zu beschwichtigen, richtete seinen leidenschaftlichen, feuchten Blick auf Oljga und erstarrte. Er ist zärtlich, nichts als zärtlich! wiederholte Oljga im Geiste, aber nicht so wie im Park, sondern seufzend, und versenkte sich in tiefes Sinnen. »Es ist Zeit für mich, zu gehen!« sagte sie freundlich, als sie wieder zur Besinnung gekommen war. Er wurde plötzlich wieder nüchtern. »Du bist hier, bei mir? Ach Gott!« sagte er, und der begeisterte Blick verwandelte sich in ein scheues Herumlugen; die leidenschaftlichen Worte kamen nicht mehr über seine Lippen. Er griff eilig nach ihrem Mantel und Hut und woll te ihr in der Eile den Mantel über den Kopf ziehen. Sie lachte. »Fürchte dich nicht meinetwegen«, beruhigte sie ihn; » ma tante ist für den ganzen Tag fortgegangen; zu Hause weiß nur die Kinderfrau und Katja, daß ich fort bin. Begleite mich hinaus.« Sie reichte ihm, ohne zu zittern, ruhig, im stolzen Bewußtsein ihrer Unschuld, die Hand, ging durch den Hof, wobei der Hund verzweifelt bellte und an der Kette zerrte, stieg in den Wagen und fuhr fort. In den Fenstern der Hausfrau erschienen Köpfe; hinter der Ecke am Zaun schaute Anissja hervor. Als der Wagen in eine andere Straße einbog, kam Anissja und sagte, sie hätte den ganzen Markt abgesucht, es wäre aber kein Spargel zu finden. Sachar kam nach drei Stunden zurück und schlief volle vierundzwanzig Stunden. Oblomow schritt lange im Zimmer herum, ohne seine Füße zu fühlen und seine eigenen Schritte zu hören; er ging so, als schwebe er über der Erde. Sowie das Knirschen der Wagenräder auf dem Schnee, die sein Leben und sein Glück fortführten, verstummt war, verging seine Unruhe, sein Kopf und sein Rücken richteten sich auf, das Leuchten der Begeisterung kehrte auf sein Gesicht zurück, und die Augen wurden vor Glück und Rührung feucht. In seinen Organismus ergossen sich Wärme, Frische und Kraft. Und er bekam wie früher wieder einmal Lust, irgendwohin, weit fort zu fahren und überall zu sein; mit Oljga zu Stolz und aufs Gut, in die Felder und Wälder zu reisen, dann wollte er sich in sein Zimmer zurückziehen und sich in eine Arbeit vertiefen, zum Ribinskyhafen fahren, die Straße bahnen, das soeben erschienene Buch lesen, von dem alle sprachen, und heute in die Oper gehen ... Ja, heute war sie bei ihm, dann würde er bei ihr sein und abends in die Oper gehen. Wie ausgefüllt der Tag war! Wie leicht atmete es sich bei diesem Leben, in Oljgas Sphäre, in den Strahlen ihres jungfräulichen Leuchtens, ihrer frischen Kraft, ihres jungen, aber feinen, tiefen und gesunden Verstandes! Er ging, als flöge er, als trüge ihn jemand durch das Zimmer! »Vorwärts, vorwärts!« sagte Oljga; höher, immer höher, dorthin, zu jenem Striche, wo die Zärtlichkeit und Grazie ihre Macht verlieren und wo das Reich des Mannes beginnt! Wie klar sie in das Leben blickt! Wie sie in diesem schwerverständlichen Buch ihren Weg abliest und instinktiv auch seinen Weg errät. Ihre beiden Leben müssen sich wie zwei Flüsse vereinigen; er würde ihr Führer und Lehrer sein! Sie sah seine Kräfte und Fähigkeiten, wußte, was er vermochte, und erwartete demütig seine Herrschaft. Einzige Oljga! Dieses durch nichts zu verwirrende, kühne, einfache und entschlossene Weib, das natürlich wie das Leben selbst war! »Wie häßlich es hier tatsächlich ist!« sagte er, um sich blickend, »und dieser Engel ist in den Sumpf herabgestiegen und hat ihn durch seine Anwesenheit geheiligt!« Er blickte liebevoll auf den Sessel, auf dem sie gesessen hatte, und seine Augen leuchteten plötzlich auf; er erblickte auf dem Fußboden neben dem Sessel einen winzigen Handschuh. »Ein Pfand! Ihre Hand; das ist ein Vorzeichen! Oh! ...« stöhnte er, leidenschaftlich den Handschuh an die Lippen pressend. Die Hausfrau schaute zur Tür herein und fragte, ob er sich nicht die Leinwand ansehen wollte, die man gebracht hatte, falls er welche brauchte. Doch er bedankte sich trocken, dachte gar nicht daran, die Ellbogen anzublicken, und entschuldigte sich, indem er Arbeit vorschützte. Dann vertiefte er sich in die Erinnerungen an den Sommer, dachte an jede Kleinigkeit, an jeden Baum, jeden Busch, an jede Bank, an jedes gesprochene Wort und fand alles holder, als es um die Zeit, da er es genossen hatte, gewesen war. Er konnte sich gar nicht mehr beherrschen, sang, sprach freundlich mit Anissja, scherzte, daß sie keine Kinder hatte, und versprach Pate zu sein, sowie sie ein Kind bekam. Dann tollte er mit Mascha so herum, daß die Hausfrau hereinkam und Mascha fortjagte, damit sie den Zimmerherrn nicht bei der »Arbeit« störe. Der Rest des Tages steigerte noch seinen Übermut; Oljga war lustig und sang, dann waren sie in der Oper, nach der Vorstellung trank er bei ihnen Tee, und die Tante, der Baron, Oljga und er führten dabei ein so herzliches, aufrichtiges Gespräch, daß Oblomow sich ganz als Mitglied dieser kleinen Familie fühlte; er hatte genug einsam gelebt; jetzt hatte er einen Unterschlupf gefunden, sein Leben hatte ein festes Ziel; er besaß Licht und Wärme – wie schön lebte es sich damit! In der Nacht schlief er wenig; er las in Oljgas Büchern und bewältigte anderthalb Bände. Morgen muß vom Gut ein Brief kommen, dachte er, und sein Herz klopfte ... und klopfte ... Endlich! Achtes Kapitel Achtes Kapitel Als Sachar am nächsten Tag das Zimmer aufräumte, fand er auf dem Schreibtisch einen kleinen Handschuh, betrachtete ihn lange, lächelte und reichte ihn dann Oblomow. »Wahrscheinlich hat ihn das Iljinskysche Fräulein vergessen«, sagte er. »Zum Teufel!« donnerte Ilja Iljitsch ihn an, ihm den Handschuh aus den Händen reißend, »du lügst! Was für ein Iljinskysches Fräulein? Das gehört der Näherin aus dem Geschäft, die mir die Hemden zur Anprobe gebracht hat. Wie wagst du es, dir solche Sachen auszudenken?« »Warum schimpfen Sie mich! Was denke ich mir denn aus? Man spricht ja schon bei der Hausfrau davon ...« »Wovon spricht man?« »Daß das Iljinskysche Fräulein mit ihrem Stubenmädchen hier war ...« »Mein Gott!« rief Oblomow entsetzt aus, »woher kennen sie denn das Iljinskysche Fräulein? Du oder Anissja haben es ausgeplaudert ...« Plötzlich schob sich Anissja bis zur Hälfte durch die Vorzimmertür. »Wie, schämst du dich nicht, solchen Unsinn zu reden, Sachar Trofimitsch? Hören Sie ihm nicht zu, Väterchen, niemand hat das gesagt, weiß das und, bei Gott ...« »Nun, nun, nun!« krächzte Sachar sie an, mit dem Ellbogen auf ihre Brust zielend, »warum steckst du überall deine Nase herein, wenn du gar nicht gefragt wirst!« Anissja verschwand. Oblomow drohte Sachar mit beiden Fäusten und öffnete dann rasch die Tür in die Zimmer der Hausfrau. Agafja Matwejewna saß auf dem Fußboden und durchsuchte den Kram in einem alten Koffer; neben ihr lagen Haufen von Fetzen, Watte, alten Kleidern, Knöpfen und Pelzstückchen. »Hören Sie«, begann Oblomow freundlich, aber aufgeregt, »meine Dienstboten plaudern lauter dummes Zeug; glauben Sie ihnen um alles in der Welt nicht!« »Ich habe nichts gehört«, sagte die Hausfrau. »Was plaudern sie?« »Bezüglich des gestrigen Besuches«, fuhr Oblomow fort, »sie sagen, daß bei mir ein Fräulein war ...« »Was geht es uns an, wer unsere Mietspartei besucht?« sagte die Hausfrau. »Glauben Sie, bitte, nicht daran; das ist nichts als Verleumdung! Es war gar kein Fräulein da; es ist nur die Näherin hier gewesen, die mir Hemden näht. Sie hat sie mir zur Anprobe gebracht ...« »Wo haben Sie Ihre Hemden bestellt? Wer näht Ihnen?« fragte die Hausfrau lebhaft. »Im französischen Geschäft ...« »Zeigen Sie sie mir, wenn man sie Ihnen bringt; ich kenne zwei Mädchen, die so nähen und so steppen, wie es keine Französin machen kann. Ich habe es gesehen, sie haben für den Grafen Metlinskij genäht und haben ihre Arbeit hergebracht, um sie mir zu zeigen; niemand kann das so machen. Die Hemden, die Sie tragen, sind bei weitem nicht so schön genäht ...« »Sehr wohl, ich werde daran denken. Glauben Sie nur um Gottes willen nicht, daß das Fräulein da war ...« »Was geht es uns an, wer zur Partei kommt? Und wenn es auch ein Fräulein war ...« »Nein, nein!« leugnete Oblomow. »Aber ich bitte Sie, das Fräulein, das Sachar meint, ist sehr groß und hat eine Baßstimme, während diese Näherin, wie sie wohl gehört haben, mit einer ganz feinen Stimme spricht; sie hat eine wunderschöne Stimme. Bitte, glauben Sie nicht ...« »Was geht das uns an?« sagte die Hausfrau, als er ging. »Vergessen Sie also nicht, mir zu sagen, wenn Sie sich Hemden nähen lassen wollen. Meine Bekannten können so steppen ... sie heißen Lisaweta Nikolawna und Maria Nikolawna.« »Gut, gut, ich werde nicht vergessen; aber glauben Sie nur bitte nicht ...« Und er ging, zog sich an und fuhr zu Oljga hin. Als er abends nach Hause zurückkehrte, fand er auf seinem Tisch einen Brief von dem Gut, von seinem Nachbar, dem er die Vollmacht übersandt hatte. Er stürzte zur Lampe hin, las, und ihm sank der Mut. »Ich möchte Sie sehr darum bitten, die Vollmacht jemand anderem zu übergeben« (schrieb der Nachbar), »denn ich habe so viel zu tun, daß ich Ihr Gut, offen gestanden, nicht, wie es sich gehört, beaufsichtigen kann. Es wäre besser, wenn Sie selbst herkämen, und am allerbesten, wenn Sie ganz hierher übersiedeln würden. Ihr Gut ist schön, aber sehr vernachlässigt. Vor allem müßte man die Abgaben und die Arbeiten genauer verteilen; das kann nicht in Abwesenheit des Besitzers geschehen; die Bauern sind ohne jede Zucht, sie hören nicht auf den neuen Dorfschulzen, und der alte ist ein Betrüger, man muß auf ihn ein Augenmerk haben. Die Einkünfte sind nicht zu berechnen. Bei der jetzt herrschenden Unordnung werden Sie wohl kaum über dreitausend bekommen, und auch das nur, wenn Sie selbst herkommen. Ich berechne dabei nur den Erlös des Getreides, denn von den Abgaben ist wenig zu erwarten; man muß die Bauern unter ein strenges Regiment bringen und die Zahlungsrückstände einziehen – dazu werden etwa drei Monate erforderlich sein. Das Korn ist gut geraten und wird zu guten Preisen verkauft, so daß Sie im März oder April Geld haben werden, wenn Sie den Verkauf selbst beaufsichtigen. Jetzt gibt es aber keine Kopeke an barem Gelde. Was die Straße über Werchljowo und die Brücke betrifft, so habe ich mich nunmehr entschlossen, da ich von Ihnen lange Zeit keine Antwort bekam, mit Odonzew und Bjelowodow zusammen die Straße von mir aus über Neljky anzulegen, so daß Oblomowka ganz seitwärts liegenbleibt. Zum Schluß wiederhole ich die Bitte, Sie möchten recht bald herkommen; man kann in drei Monaten in Erfahrung bringen, was vom künftigen Jahr zu erhoffen ist. Außerdem finden jetzt die Wahlen statt; würden Sie sich nicht zum Kreisrichter wählen lassen? Beeilen Sie sich. Ihr Haus ist sehr schlecht« (stand in der Niederschrift). »Ich habe der Viehmagd, dem alten Kutscher und den zwei alten Mägden befohlen, von dort in ein Bauernhaus zu übersiedeln; es wäre gefährlich, länger darin zu bleiben. « Dem Brief war eine Notiz beigelegt, wieviel Tschetwert Getreide geschnitten, gedroschen und in die Scheunen geschüttet wurden, wieviel davon zum Verkauf bestimmt wurden und andere ähnliche wirtschaftliche Details. Kein Heller an barem Gelde, ich soll für drei Monate selbst kommen, die Angelegenheiten der Bauern ordnen, meine Einkünfte berechnen und ein Amt versehen; das alles umringte Oblomow, als wären es Gespenster. Er schien plötzlich in der Nacht in einen Wald hineingeraten zu sein und in jedem Busch und Baum einen Räuber, einen Geist oder ein wildes Tier zu sehen. »Aber das ist ja eine Schande; ich werde mich davon nicht so unterkriegen lassen!« sagte er und versuchte mit diesen Gespenstern vertraut zu werden, wie ein Feigling mit geschlossenen Lidern sich bestrebt, die Gespenster anzuschauen und dabei nur Kälte im Herzen und Schwäche in den Händen und Füßen fühlt. Worauf hatte Oblomow denn gehofft? Er hatte geglaubt, es würde im Brief genau stehen, wieviel Einkünfte er zu erwarten hatte, und natürlich möglichst viel, zum Beispiel sechs-, siebentausend; außerdem sollte drin stehen, daß das Haus8 noch gut ist, so daß man im Notfall darin wohnen kann, bis das neue fertig wird, und zum Schluß, daß der Nachbar ihm drei-, viertausend Rubel schickt – er erwartete mit einem Wort, daß er im Briefe dasselbe Lachen, dasselbe schäumende Leben und die Liebe lesen würde, die er in Oljgas Briefchen fand. Er schwebte nicht mehr über dem Fußboden durch das Zimmer, scherzte nicht mit Anissja, gab sich nicht mehr den Träumen von Glück hin; er muß sie jetzt für drei Monate verschieben; oder noch länger! Er würde in drei Monaten erst die Gutsangelegenheiten erledigen und mit seiner Besitzung vertraut werden, und die Hochzeit ... »An die Hochzeit ist vor einem Jahr gar nicht zu denken«, sagte er ängstlich, »ja, in einem Jahr, nicht früher!« Er mußte noch seinen Plan zu Ende schreiben, mit dem Architekten alles besprechen, dann ... dann ... Er seufzte. Das Geld leihen! fiel ihm ein; doch er stieß diesen Gedanken von sich. »Das ist unmöglich! Und wenn ich es nicht zur rechten Zeit zurückgeben kann? Wenn meine Angelegenheiten eine schlechte Wendung nehmen, wird man mir das Geld abfordern, und der Name Oblomow, der bis dahin so rein und unantastbar war ...« Nein, um nichts in der Welt! Dann wäre es mit seinem Stolz und seiner Ruhe zu Ende ... nein, nein! Andere leihen sich Geld aus und rackern sich dann ab, schlafen nicht, als hätten sie einen Dämon zu sich hereingelassen. Ja. Schulden sind ein Dämon, ein Teufel, den man nur mit Geld vertreiben kann! Es gibt solche Menschen, die das ganze Leben auf fremde Rechnung verbringen, sich rechts und links alles aneignen und sich nichts daraus machen! Es ist unbegreiflich, wie sie ruhig schlafen und essen können! Schulden! Ihre Folgen waren entweder endlose Arbeit, wie bei einem Zuchthäusler, oder Ehrlosigkeit. Das Gut verpfänden? War das denn nicht dieselbe Schuld, nur eine unaufschiebbare und erbarmungslose? Dann muß man jedes Jahr zahlen, so daß nichts zum Leben übrigbleibt. Das Glück war um ein ganzes Jahr fortgerückt! Oblomow stöhnte schmerzlich auf und warf sich aufs Bett; doch dann kam er plötzlich zur Besinnung und stand auf. Und was hatte Oljga ihm gesagt? Sie hatte vorausgesetzt, daß er ein Mann sei, und hatte sich seinen Kräften anvertraut? Sie erwartet, daß er vorwärtsschreiten und eine Höhe erreichen wird, von wo aus er ihr die Hand hinstrecken, sie mit sich führen und ihr den Weg zeigen kann! Ja, ja! Aber womit sollte er beginnen? Er dachte und dachte, schlug sich dann mit der Hand auf die Stirn und ging in das Zimmer der Hausfrau. »Ist Ihr Bruder zu Hause?« fragte er die Hausfrau. »Ja, er schläft aber schon.« »Also bitten Sie ihn, morgen zu mir zu kommen«, sagte Oblomow, »ich muß ihn sprechen.« Neuntes Kapitel Neuntes Kapitel Der Bruder trat wieder ebenso bescheiden ins Zimmer, setzte sich ebenso vorsichtig auf einen Sessel und wartete, was Ilja Iljitsch sagen würde. »Ich habe von dem Gut einen sehr unangenehmen Brief als Antwort auf die hingeschickte Vollmacht bekommen, wissen Sie noch?« sagte Oblomow, »haben Sie die Güte, ihn zu lesen.« Iwan Matwejewitsch ergriff den Brief, überflog mit getrübten Augen die Zeilen, und der Brief zitterte leicht in seinen Fingern. Nachdem er den Brief gelesen hatte, legte er ihn auf den Tisch und versteckte die Hände auf dem Rücken. »Was glauben Sie, daß man jetzt tun soll?« fragte Oblomow. »Man rät Ihnen, hinzufahren«, sagte Iwan Matwejewitsch. »Tausendzweihundert Werst sind nicht etwas gar so Arges! In einer Woche wird der Weg schon gut sein, da können Sie hinfahren.« »Ich bin das Reisen gar nicht mehr gewohnt; im Winter hinzureisen wäre mir, offen gesagt, schwer und unangenehm ... Außerdem ist das Alleinsein auf dem Gut sehr langweilig.« »Und haben Sie viele Bauern?« fragte Iwan Matwejewitsch. »Ja ... ich weiß nicht; ich war schon lange nicht auf dem Gute.« »Das müßte man wissen, sonst kann man nichts machen ... und kann keine Erkundigungen darüber einziehen, wieviel das Gut Ihnen trägt.« »Ja, das müßte man«, wiederholte Oblomow, »der Nachbar schreibt das auch; aber jetzt beginnt schon der Winter.« »Und wie haben Sie die Abgaben verteilt?« »Abgaben? Ich glaube ... gedulden Sie sich ein wenig, ich habe irgendwo eine Liste gehabt; Stolz hat sie mir einmal aufgestellt, es ist aber schwer, sie zu finden; Sachar hat sie gewiß irgendwo hingesteckt. Ich zeige sie Ihnen später ... ich glaube, es waren dreißig Rubel per Hof.« »Wie sind denn Ihre Bauern? Wie leben sie?« fragte Iwan Matwejewitsch. »Sind sie reich oder arm? Wie hoch sind denn die Abgaben?« »Hören Sie«, sagte Oblomow, an ihn herantretend und ihn zutraulich am Uniformrock fassend. Iwan Matwejewitsch erhob sich schnell, doch Oblomow ließ ihn sich wieder niedersetzen. »Hören Sie«, wiederholte er langsam, fast flüsternd, »ich weiß nicht, wie hoch die Abgaben sind, was die Landwirtschaft ist, was ein reicher und ein armer Bauer ist; ich weiß nicht, was eine Tschetwert Roggen oder Hafer bedeutet, was in welchem Monat gesät und geschnitten wird und wie und wann verkauft wird; ich weiß nicht, ob ich reich oder arm bin, ob ich in einem Jahre satt oder ein Bettler bin – ich weiß nichts!« schloß er traurig, den Rock loslassend und von Iwan Matwejewitsch zurücktretend, »also sprechen Sie mit mir und raten Sie mir wie einem Kind ...« »Wie kann ich das denn, ich muß doch alles wissen, sonst kann ich nichts raten«, sagte Iwan Matwejewitsch mit sanftem Lächeln, erhob sich und legte die eine Hand hinter den Brustlatz und die andere auf den Rücken. »Ein Gutsbesitzer muß sein Gut kennen und muß wissen, wie man damit umgeht ...« sagte er belehrend. »Ich kenne es aber nicht, lehren Sie es mich, wenn Sie können.« »Ich habe mich mit so etwas noch nie befaßt; ich muß mich mit Sachverständigen beraten. Man schreibt Ihnen ja im Briefe«, fuhr Iwan Matwejewitsch fort, mit dem Mittelfinger, dessen Nagel er nach unten zukehrte, auf die entsprechende Seite des Briefes hinweisend, »daß Sie sich wählen lassen sollen; das trifft sich ja gerade recht! Sie würden dort leben, im Kreisgerichte angestellt sein und könnten bei der Gelegenheit mit der Wirtschaft vertraut werden.« »Ich weiß nicht, was ein Kreisgericht ist, was man darin tut und was das für ein Amt ist!« sagte Oblomow, wieder mit Nachdruck, aber leise, an Iwan Matwejewitsch ganz dicht herantretend. »Sie werden sich daran gewöhnen. Sie haben ja hier im Departement gearbeitet. Das bleibt sich überall gleich, es besteht nur ein kleiner Unterschied in der Form. Überall gibt es Vorschriften, Relationen und Protokolle ... Wenn nur ein guter Sekretär da ist, dann brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen und haben nur zu unterschreiben. Wenn Sie wissen, wie in einem Departement gearbeitet wird ...« »Ich weiß auch nicht, wie im Departement gearbeitet wird«, sagte Oblomow mit eintöniger Stimme. Iwan Matwejewitsch richtete seinen doppelten Blick auf Oblomow und schwieg. »Sie haben gewiß immer Bücher gelesen?« bemerkte er mit demselben sanften Lächeln. »Gelesen!« erwiderte Oblomow bitter und schwieg. Es mangelte ihm an Mut, und es war auch nicht notwendig, seine Seele vor einem Kanzleibeamten zu entblößen. Ich habe auch keine Bücher gelesen, regte sich in ihm der Gedanke, wollte aber nicht von der Zunge und löste sich in einen traurigen Seufzer auf. »Sie haben sich doch aber mit irgend etwas beschäftigt«, fügte der Bruder bescheiden hinzu, als hatte er in Oblomows Seele die Antwort betreffs der Bücher gelesen, »es ist doch unmöglich, daß ...« »Es ist möglich, Iwan Matwejewitsch, da haben Sie einen lebendigen Beweis, mich! Wer bin ich? Was bin ich? Fragen Sie Sachar, und er wird Ihnen sagen: ›Ein gnädiger Herr!‹ Ja, ich bin ein gnädiger Herr und kann nichts tun! Tun Sie es und helfen Sie mir, wenn Sie können, und nehmen Sie sich für Ihre Mühe alles, was Sie wollen – man muß eine gute Lehre immer teuer erkaufen!« Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, während Iwan Matwejewitsch auf demselben Fleck stehenblieb und seinen Körper jedesmal leise der Ecke zukehrte, der Oblomow zuschritt. Sie schwiegen beide eine Weile. »Wo haben Sie gelernt?« fragte Oblomow, wieder vor ihm stehenbleibend. »Ich habe anfangs das Gymnasium besucht, der Vater hat mich aber aus der sechsten Klasse austreten lassen und hat mich in die Kanzlei geschickt. Was wir gelernt haben, Lesen, Schreiben, Grammatik und Arithmetik, das ist alles. Ich habe in meinem Amte einige Übung erlangt und schlage mich, so gut es geht, durch. Mit Ihnen steht es anders; Sie sind mit der wirklichen Wissenschaft vertraut ...« »Ja«, bestätigte Oblomow seufzend, »es ist wahr, ich habe Algebra, politische Ökonomie und die Rechtswissenschaften studiert und habe in keiner Beschäftigung irgendwelche Übung erlangt. Sie sehen, ich weiß trotz meiner Algebra nicht, was für Einkünfte ich habe. Ich bin aufs Gut gekommen, habe zugehört und zugeschaut, wie es in unserem Hause, im Dorfe und um uns herum zuging, und habe gesehen, daß die Rechtswissenschaften ganz unnötig sind. Ich bin fortgefahren und habe gehofft, mit Hilfe der politischen Ökonomie mein Glück zu machen ... Man hat mir aber gesagt, ich könnte die Bildung erst mit der Zeit, vielleicht im Alter, brauchen, jetzt müßte ich aber vor allem im Amte vorwärtskommen, und dabei sei nur das eine notwendig: – Papiere zu schreiben. Ich habe mich daran aber nicht gewöhnen können und bin einfach zum gnädigen Herrn geworden, Sie aber haben darin Übung erlangt; sagen Sie also, wie ich mir jetzt helfen soll.« »Gut, ich werde es machen!« sagte endlich Iwan Matwejewitsch. Oblomow blieb ihm gegenüber stehen und wartete, was er sagen würde. »Man kann das alles einem sachkundigen Menschen übergeben und die Vollmacht auf seinen Namen umschreiben lassen«, fügte Iwan Matwejewitsch hinzu. »Und wo soll man einen solchen Menschen hernehmen?« »Ich habe einen Kollegen, Issaj Fomitsch Satjortij; er stottert ein wenig, ist aber ein tüchtiger, brauchbarer Mensch. Er hat drei Jahre lang ein großes Gut verwaltet, der Gutsbesitzer hat ihn aber fortgeschickt, weil er stottert. Da ist er in unsere Kanzlei eingetreten.« »Kann man sich aber auf ihn verlassen?« »Er ist eine ehrliche Seele – da können Sie ohne Sorge sein! Er ist imstande, sein eigenes Geld hinzugeben, nur um den Vollmachtgeber zufriedenzustellen. Er ist bei uns schon das zwölfte Jahr angestellt.« »Wie wird er denn hinfahren können, wenn er eine Anstellung hat?« »Das macht nichts, er wird einen viermonatigen Urlaub nehmen. Haben Sie also die Güte, einen Entschluß zu fassen, dann bringe ich ihn her. Er wird ja nicht umsonst fahren ...« »Selbstredend nicht«, bestätigte Oblomow. »Sie werden so freundlich sein, ihm die Reisekosten und die täglichen Ausgaben zu ersetzen und dann nach Erledigung der Angelegenheit nach Übereinkommen eine Vergütung zu bestimmen. Dann fährt er schon hin!« »Ich bin Ihnen sehr dankbar; Sie werden mich von großen Sorgen befreien«, sagte Oblomow, ihm die Hand reichend. »Wie heißt er? ...« »Issaj Fomitsch Satortij«, wiederholte Iwan Matwejewitsch, die Hand schnell mit dem Ärmel abwischend, reichte sie für einen Augenblick Oblomow und versteckte sie schnell wieder. »Ich werde morgen mit ihm sprechen und ihn herbringen.« »Kommen Sie zum Mittagessen, da werden wir alles miteinander besprechen. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar!« sagte Oblomow, Iwan Matwejewitsch zur Tür begleitend. Zehntes Kapitel Zehntes Kapitel Am Abend desselben Tages saßen in einem der Zimmer des oberen Stockwerkes eines zweistöckigen Hauses, das mit der einen Seite auf die Straße, in der Oblomow wohnte, und mit der anderen auf den Kai hinausging, Iwan Matwejewitsch und Tarantjew. Es war eine Kneipe, vor deren Tür stets zwei, drei leere Droschken standen, während die Kutscher im Parterre saßen und aus Untertassen Tee tranken. Das obere Stockwerk war für die »Herrschaften« der Wiborgskajastraße bestimmt. Vor Iwan Matwejewitsch und Tarantjew stand Tee und eine Flasche Rum. »Das ist echter Jamaika-Rum«, sagte Iwan Matwejewitsch, sich mit zitternder Hand Rum ins Glas einschenkend, »sei kein Kostverächter, Gevatter.« »Du mußt aber auch zugeben, daß ich deine Bewirtung verdient habe«, gab Tarantjew zur Antwort, »das Haus wäre zerfallen, bevor du einen solchen Mieter gefunden hättest.« »Das ist wahr«, gab Iwan Matwejewitsch zu. »Und wenn unsere Sache zustande kommt und Satjortij aufs Gut fährt, werde ich mich wieder erkenntlich erweisen!« »Du bist aber geizig, Gevatter; man muß mit dir handeln«, sprach Tarantjew, »fünfzig Rubel für einen solchen Mieter!« »Ich fürchte mich, er droht auszuziehen«, bemerkte Iwan Matwejewitsch. »Ach du, und du willst dich auf solche Dinge verstehen? Wohin soll er ziehen? Er wird sich jetzt nicht einmal fortjagen lassen.« »Und die Hochzeit? Man sagt, daß er heiratet.« Tarantjew lachte laut. »Er heiratet! Willst du wetten, daß er nicht heiratet?« entgegnete er, »ihm hilft Sachar sogar einschlafen, und er soll heiraten! Bis jetzt habe ich ihn immer mit Wohltaten überhäuft; ohne mich, Bruder, wäre er schon längst Hungers gestorben oder ins Gefängnis gekommen. Wenn der Wachmann gekommen ist oder der Hausherr etwas gefragt hat, hat er ja keinen Finger gerührt. Alles habe ich machen müssen! Er versteht nichts ...« »Nein, gar nichts! Er sagt: ich weiß nicht, was im Kreisgericht gemacht wird, auch nicht, was im Departement vorgeht; er weiß nicht, was er für Bauern hat. Ein kluger Kopf! Ich habe lachen müssen ...« »Und der Kontrakt, was für einen Kontrakt wir abgeschlossen haben!« prahlte Tarantjew. »Du verstehst dich darauf, Papiere zu schreiben, Iwan Matwejewitsch, bei Gott, du verstehst dich darauf! Ich muß dabei an meinen seligen Vater denken; auch ich war nicht ungeschickt, ich habe es aber verlernt, es ist wirklich wahr, ich habe es vergessen. Sowie ich mich hinsetze, tränen mir die Augen. Er hat es nicht gelesen und hat seine Unterschrift darunter gekritzelt! Und darin steht das vom Gemüsegarten, von den Ställen und Schuppen ...« »Ja, Gevatter, solange in Rußland die Tölpel nicht aussterben, welche Papiere, ohne sie zu lesen, unterschreiben, kann unsereiner noch leben. Sonst könnte man es gar nicht mehr aushalten! Wenn man den Alten zuhört, war es früher ganz anders! Was für ein Kapital habe ich mir in den fünfundzwanzig Jahren, seit ich in der Kanzlei bin, gesammelt? Man kann damit auf der Wiborgskajastraße wohnen, ohne sich auf Gottes Welt blicken zu lassen; ich habe zwar einen anständigen Bissen erwischt, ich darf nicht klagen, mein Brot wird nicht gar werden! Aber die Zeit, da man sich eine Wohnung auf der Litejnaja mieten, Teppiche kaufen, eine Reiche heiraten und die Kinder zu vornehmen Leuten machen konnte, ist vorüber! Jetzt paßt ihnen auf einmal mein Gesicht nicht, und meine Finger sind zu rot, man soll keinen Schnaps trinken ... Wie sollte man aber keinen trinken? Versuch's einmal! Sie sagen, ich sei ärger als ein Lakai; jetzt trägt selbst ein Lakai keine solchen Stiefel und wechselt täglich das Hemd. Jetzt ist eine ganz andere Erziehung – die Grünschnäbel reißen einem alles vor der Nase fort; sie machen Grimassen, lesen und sprechen französisch ...« »Sie verstehen aber nichts vom Geschäft«, fügte Tarantjew hinzu. »Nein, Bruder, sie verstehen schon was; die Geschäfte sind ja jetzt anders geworden; ein jeder will die Sache möglichst einfach betreiben, und alle schaden uns. Es ist unnötig, so zu schreiben; das sei überflüssige Arbeit und Zeitverlust; es könnte schneller gemacht werden ... sie schaden uns!« »Der Kontrakt ist aber unterschrieben; das haben sie uns nicht verdorben!« sagte Tarantjew. »Das ist natürlich unantastbar. Trinken wir, Gevatter! Jetzt wird er den Satjortij nach Oblomowka schicken, er wird das Gut ein wenig aussaugen; dann kann es für die Erben bleiben ...« »Ja, dann sollen sie es behalten!« bemerkte Tarantjew. »Aber was sind das für Erben; in dritter Linie.« »Ich fürchte mich nur vor der Hochzeit!« sagte Iwan Matwejewitsch. »Fürchte dich nicht, sag ich dir. Denke an meine Worte.« »Ist's wahr?« erwiderte Iwan Matwejewitsch fröhlich. »Er glotzt meine Schwester an ...« fügte er flüsternd hinzu. »Was sagst du?« »Schweig nur, es ist, bei Gott, wahr ...« »Na, weißt du, Bruder«, wunderte sich Tarantjew, mit Mühe zu sich kommend, »mir wäre das nicht im Traume eingefallen! Nun, und wie verhält sie sich dazu?« »Wie sie sich verhält? Du kennst sie ja, so ist sie!« Er schlug mit der Faust über den Tisch. »Kann sie denn ihren Nutzen wahren? Sie ist eine Kuh, eine wahre Kuh; man kann sie schlagen oder umarmen, und sie grinst immer wie ein Pferd, das Hafer sieht. Wenn's eine andere wäre, o je! Ich werde das aber nicht aus dem Auge verlieren – verstehst du, was das bedeutet?« Elftes Kapitel Elftes Kapitel Vier Monate! Noch vier Monate unfrei sein, heimlich zusammenkommen, mißtrauisch lächelnden Gesichtern begegnen! dachte Oblomow, die Treppe zu Iljinskys erklimmend. Mein Gott, wann wird das enden? Und Oljga wird mich zur Eile antreiben: heute, morgen. Und sie ist so beharrlich und unerschütterlich! Oblomow war fast bis in Oljgas Zimmer gedrungen, ohne irgendwem zu begegnen. Oljga saß in ihrem kleinen Salon, der an ihr Schlafzimmer stieß, und war in das Lesen eines Buches vertieft. Er erschien plötzlich vor ihr, so daß sie zusammenfuhr, dann streckte sie ihm freundlich lächelnd die Hand hin, doch ihre Augen schienen noch das Buch zu Ende zu lesen, sie blickten zerstreut. »Du bist allein?« fragte er sie. »Ja, ma tante ist nach Zarskoje Selo gefahren; sie wollte mich mitnehmen. Wir werden fast allein zu Mittag essen; es kommt nur Marja Sjemjonowna; sonst hätte ich dich nicht empfangen können. Heute kannst du noch nicht mit der Tante sprechen. Wie langweilig das alles ist! Aber dafür morgen ...« fügte sie lächelnd hinzu. »Und was würdest du sagen, wenn ich heute nach Zarskoje Selo mitgefahren wäre?« fragte sie scherzend. Er schwieg. »Hast du Sorgen?« fragte sie. »Ich habe einen Brief vom Gut bekommen«, sagte er mit eintöniger Stimme. »Wo ist er? Hast du ihn hier?« Er reichte ihr den Brief. »Ich kann das gar nicht entziffern«, sagte sie, den Brief anblickend. Er nahm ihn zurück und las ihn ihr vor. Sie sann nach. »Was wird jetzt geschehen?« fragte sie nach einer Weile. »Ich habe heute den Bruder der Hausfrau um Rat gefragt«, antwortete Oblomow, »und er hat mir einen Sachverständigen, Issaj Fomitsch Satjortij, empfohlen; ich werde ihn beauftragen, das alles zu erledigen ...« »Einen wildfremden Menschen!« erwiderte Oljga erstaunt. »Du willst ihm das Einheben der Abgaben, das Beaufsichtigen der Bauern und das Verkaufen des Getreides anvertrauen ...« »Er sagt, daß er der ehrlichste Mensch von der Welt ist, er arbeitet mit ihm seit zwölf Jahren zusammen ... Er stottert nur ein wenig.« »Und wie ist denn der Bruder deiner Hausfrau? Kennst du ihn?« »Nein, er scheint aber ein solider, tüchtiger Mann zu sein, und dann wohne ich ja bei ihm im Hause; da würde er sich wohl schämen, mich zu betrügen!« Oljga schwieg mit gesenkten Augen. »Sonst müßte ich selbst hinfahren«, sagte Oblomow, »und das wäre mir, offen gesagt, unangenehm. Ich bin das Reisen gar nicht mehr gewöhnt, besonders im Winter ... Da bin ich überhaupt nie irgendwohin gefahren.« Sie blickte noch immer nach unten, indem sie die Spitze ihres Schuhes bewegte. »Und wenn ich sogar hinfahre«, sprach Oblomow weiter, »wird dabei nichts herauskommen; die Bauern werden mich betrügen; der Dorfschulze kann sagen, was er will, und ich muß ihm glauben; er wird mir so viel Geld geben, als ihm gerade einfällt. Ach, daß Andrej nicht da ist; er hätte alles in Ordnung gebracht!« fügte er gekränkt hinzu. Oljga lächelte, das heißt, nur ihre Lippen lächelten, aber nicht ihr Herz; in ihrem Herzen war Bitternis. Sie begann durchs Fenster zu blicken, indem sie das eine Auge ein wenig zukniff und jedem vorüberfahrenden Wagen folgte. »Aber dieser Satjortij hat ein großes Gut verwaltet«, fuhr er fort, »der Gutsbesitzer hat ihn nur deswegen fortgeschickt, weil er stottert. Ich werde ihm die Vollmacht und die Pläne übergeben; er wird das Material zum Bau des Hauses besorgen, wird die Abgaben einheben, das Getreide verkaufen, das Geld bringen und dann ... Wie froh bin ich, liebe Oljga«, sagte er, ihre Hand küssend, »daß ich dich nicht zu verlassen brauche. Ich hätte die Trennung nicht ertragen; allein, ohne dich auf dem Gut zu sein ... wie entsetzlich! Wir müssen aber jetzt sehr vorsichtig sein ...« Sie blickte ihn groß an und wartete. »Ja«, begann er langsam, fast stotternd, »wir müssen uns selten sehen; gestern wurde bei uns wieder geklatscht, und sogar in der Wohnung der Hausfrau ... und ich will das nicht haben ... Sowie alles erledigt ist, wird der Bevollmächtigte den Bau anordnen und mir das Geld bringen ... das alles wird kaum ein Jahr dauern ... dann gibt es keine Trennung mehr, wir sagen alles der Tante, und ... und ...« Er blickte Oljga an; sie war ohnmächtig geworden. Ihr Kopf hatte sich zur Seite geneigt, zwischen den bläulichen Lippen schauten die Zähne hervor. Er hatte im Übermaß der Freude nicht bemerkt, daß Oljga bei den Worten: »Sowie alles erledigt ist, wird der Bevollmächtigte den Bau anordnen«, erbleicht war und den Schluß des Satzes nicht gehört hatte. »Oljga! ... Mein Gott, ihr ist übel!« sagte er und zog die Klingel. »Dem Fräulein ist übel«, sagte er zur herbeilaufenden Katja. »Schnell Wasser! ... Äther ...« »O Gott! Das Fräulein war den ganzen Morgen so lustig ... Was ist nur geschehen?« flüsterte Katja, vom Tisch der Tante Äther bringend und mit einem Glas Wasser hin und her laufend. Oljga kam zu sich, stand mit Katjas und Oblomows Hilfe vom Sessel auf und ging wankend in ihr Schlafzimmer. »Es wird vorübergehen«, sagte sie mit schwacher Stimme, »es sind nur die Nerven; ich habe heute nacht schlecht geschlafen, Katja, mach die Tür zu, warten Sie auf mich, sowie es mir besser geht, komme ich heraus.« Oblomow blieb allein, legte das Ohr an die Tür, er konnte aber weder etwas sehen noch hören. Er ging nach einer halben Stunde durch den Korridor ins Mägdezimmer und fragte Katja, was mit dem Fräulein sei. »Nichts«, sagte Katja, »sie hat sich hingelegt und mich hinausgeschickt; ich bin später hineingegangen und habe sie auf dem Lehnstuhl sitzen sehen.« Oblomow ging wieder in den Salon, lauschte an der Tür; es war nichts zu hören. Er klopfte leise mit dem Finger, erhielt aber keine Antwort. Er setzte sich hin und vertiefte sich in seine Gedanken. Er dachte an vieles in diesen anderthalb Stunden, in seinen Gedanken veränderte sich viel, und er faßte viele neue Entschlüsse. Endlich blieb er dabei, daß er selbst mit dem Bevollmächtigten aufs Gut fahren würde, nach dem er bei der Tante die Einwilligung zur Hochzeit erbeten und sich dann mit Oljga hatte trauen lassen; er würde Iwan Gerassimitsch das Suchen einer Wohnung übergeben und sich sogar ein wenig Geld ausborgen ... um die Hochzeit zu arrangieren. Man könnte diese Schuld mit der Einnahme für das Getreide begleichen. Warum war er denn so mutlos gewesen? Ach Gott, wie alles sich innerhalb einer Minute verändern kann! Und dort auf dem Gut wird er mit dem Bevollmächtigten die Abgaben verteilen; ja, und dann schreibt er an Stolz; dieser wird ihm das nötige Geld geben, er wird herkommen und Oblomowka auf die erdenklich beste Weise einrichten; er wird überall Straßen bahnen, Brücken bauen und Schulen einrichten ... Und er wird mit Oljga dort leben! ... O Gott! Da war es ja, das Glück! Daß ihm das alles nicht früher eingefallen war! Es wurde ihm plötzlich so leicht und froh ums Herz; er begann aus einer Ecke in die andere zu gehen, schnalzte sogar leise mit den Fingern, schrie vor Freude fast auf, trat an Oljgas Tür heran und rief sie leise mit fröhlicher Stimme: »Oljga, Oljga! Was ich Ihnen mitzuteilen habe«, sagte er, die Lippen an die Tür haltend, »das erwarten Sie keinesfalls zu hören ...« Er beschloß sogar, jetzt noch nicht von ihr fortzugehen, sondern auf die Tante zu warten. »Wir werden ihr noch heute alles sagen, und ich werde von hier als Bräutigam fortgehen ...« Die Tür öffnete sich leise, und darin erschien Oljga; er blickte sie an, und ihm sank plötzlich der Mut; seine Freude entschwand; Oljga erschien ein wenig gealtert. Sie war bleich, doch ihre Augen leuchteten; in den zusammengepreßten Lippen, in jedem Zug zitterte gespanntes, innerliches Leben, das mit gewaltsamer Ruhe und Unbeweglichkeit wie mit Eis gefesselt war. Er las in ihrem Blick einen Entschluß, er wußte noch nicht, was für einen, aber das Herz klopfte ihm wie noch nie. Solche Augenblicke waren in seinem Leben noch nicht vorgekommen. »Höre, Oljga! Sieh mich nicht so an. Mir wird angst!« sagte er. »Ich habe mir alles überlegt. Man muß die Sache ganz anders einrichten ...« fuhr er fort, die Stimme immer mehr senkend, sich unterbrechend und in diesen ihm neuen Ausdruck ihrer Augen, Lippen und beredten Brauen einzudringen versuchend. »Ich habe beschlossen, mit dem Bevollmächtigten zusammen auf das Gut zu reisen ... um dort ...« schloß er kaum hörbar. Sie schwieg und blickte ihn starr wie ein Gespenst an. Er ahnte dunkel, welchen Urteilsspruch er zu erwarten hatte, griff nach seinem Hut, zögerte aber, sie zu fragen. Er fürchtete sich, den verhängnisvollen und vielleicht unwiderruflichen Entschluß zu hören. Endlich beherrschte er sich. »Habe ich recht verstanden? ...« fragte er sie mit veränderter Stimme. Sie nickte langsam und sanft mit dem Kopf, als Zeichen der Zustimmung. Er hatte ihren Gedanken zwar schon erraten; er erbleichte aber und blieb vor ihr stehen. Sie war etwas ermattet, erschien aber so ruhig und reglos wie eine steinerne Statue. Das war jene übernatürliche Ruhe, wenn ein fester Vorsatz oder ein verletztes Gefühl dem Menschen plötzlich die ganze Kraft gibt, sich an sich zu halten, aber nur für einen Augenblick. Sie erinnerte an einen Verwundeten, der die Wunde mit der Hand zudrückt, um das Nötigste zu Ende zu sprechen und dann zu sterben. »Du wirst mich hassen?« fragte er. »Wofür?« sagte sie leise. »Für alles, was ich mit dir getan habe ...« »Was hast du getan?« »Ich habe dich geliebt. Das ist eine Beleidigung.« Sie lächelte mitleidig. »Dafür«, sagte er mit gesenktem Kopf, »daß du dich geirrt hast ... Vielleicht wirst du mir verzeihen, wenn du dich daran erinnerst, daß ich dich gewarnt habe, du würdest dich schämen und bereuen ...« »Ich bereue nicht. Mir ist nur so weh, so weh ums Herz ...« sagte sie und hielt inne, um Atem zu holen. »Um so schlimmer für mich!« antwortete Oblomow. »Doch ich habe es verdient. Warum quälst du dich aber so?« »Ich war zu stolz«, sagte sie, »ich bin gestraft, ich habe von meiner Kraft zuviel erwartet – das war mein Irrtum, nicht das, was du gefürchtet hast. Ich habe nicht von der ersten Jugend und von Schönheit geträumt, ich dachte, ich würde dich beleben, du würdest noch für mich leben können – und du bist schon längst gestorben. – Ich habe diesen Irrtum nicht vorausgesehen, ich habe immer gewartet und gehofft ... und jetzt! ...« sprach sie seufzend und mit Mühe zu Ende. Sie schwieg und setzte sich. »Ich kann nicht stehen; meine Beine zittern mir. Ein Stein würde bei dem, was ich getan habe, lebendig werden«, sprach sie mit zerschlagener Stimme weiter. »Jetzt mache ich nichts mehr, keinen Schritt, ich gehe nicht einmal mehr in den Sommergarten. Es ist alles umsonst – du bist gestorben! Du stimmst mir bei, Ilja?« fügte sie dann nach einem Schweigen hinzu. »Du wirst mir nie vorwerfen, ich hätte dich aus Stolz oder wegen einer Laune verlassen!« Er schüttelte verneinend den Kopf. »Bist du davon überzeugt, daß uns nichts geblieben ist, gar keine Hoffnung?« »Ja«, sagte er, »es ist wahr ... Aber vielleicht ...« fügte er dann unschlüssig hinzu, »in einem Jahr ...« Er hatte nicht den Mut, seinem Glücke einen endgültigen Schlag zu versetzen. »Glaubst du denn wirklich, daß du in einem Jahre deine Angelegenheiten und dein Leben geordnet haben wirst?« fragte sie. »Überlege es dir!« Er seufzte, vertiefte sich in seine Gedanken und kämpfte mit sich. Sie las diesen Kampf von seinem Gesichte ab. »Höre«, sagte sie, »ich habe soeben das Bild meiner Mutter angeschaut, und ich glaube in ihren Augen Rat und Kraft gefunden zu haben. Wenn du jetzt ein ehrlicher Mensch bist ... Vergiß nicht, Ilja, daß wir keine Kinder sind und nicht scherzen. Es handelt sich um das ganze Leben. Befrage streng dein Gewissen und sprich dann – ich werde dir glauben, ich kenne dich. Hast du genug Kraft für ein ganzes Leben? Wirst du mir das sein, was ich brauche? Du kennst mich, du verstehst also, was ich sagen will. Wenn du mutig und wohlüberlegt ja sagst, dann nehme ich meinen Entschluß zurück, dann reiche ich dir die Hand und folge dir, wohin du willst; ins Ausland, aufs Gut, sogar in die Wiborgskajastraße!« Er schwieg. »Wenn du wüßtest, wie ich dich liebe ...« »Ich erwarte keine Liebeserklärungen, sondern eine kurze Antwort!« unterbrach sie ihn fast trocken. »Quäle mich nicht, Oljga!« flehte er traurig. »Wie ist's, Ilja, habe ich recht oder nicht?« »Ja«, sagte er deutlich und entschlossen, »du hast recht!« »Dann ist es Zeit, daß wir uns trennen«, beschloß sie, »bevor man dich hier angetroffen und gesehen hat, wie aufgeregt ich bin!« Er ging noch immer nicht. »Wenn du mich auch geheiratet hättest, was dann?« fragte sie. Er schwieg. »Du würdest mit jedem Tag immer fester einschlafen – nicht wahr? Und ich? Du siehst, wie ich bin! Ich werde niemals altern und des Lebens müde werden. Und mit dir zusammen müßte ich einen Tag wie den anderen verleben, wir würden auf Weihnachten und dann auf den Karneval warten, Besuche machen, tanzen und an nichts denken; wir würden uns schlafen legen und Gott danken, daß der Tag so schnell vergangen ist, und des Morgens würden wir mit dem Wunsche erwachen, das Heute möchte dem Gestern ähnlich sehen ... Das ist unsere Zukunft – ja? – Heißt denn das leben? Ich werde zugrunde gehen und sterben ... warum, Ilja? Wirst du denn glücklich sein? ...« Er ließ seine Augen gequält über den Plafond gleiten, wollte sich erheben und fortstürzen – doch die Füße gehorchten ihm nicht. Er wollte etwas sagen; sein Mund war ausgetrocknet, die Zunge rührte sich nicht, die Stimme wollte nicht aus der Kehle dringen. Er streckte ihr die Hand hin. »Also ...« begann er mit gesenkter Stimme, sprach aber nicht weiter und schloß mit dem Blicke »Lebewohl!«. Auch sie wollte etwas sagen, tat es aber nicht und reichte ihm die Hand hin, doch diese sank herab, bevor sie die seinige berührt hatte; sie wollte ihm auch »Lebewohl« zurufen, doch die Stimme versagte ihr in der Mitte des Wortes und schlug einen falschen Ton an; das Gesicht verzerrte sich in einem Krampf; sie legte ihm den Kopf und die Hand auf die Schulter und schluchzte. Es war, als hätte man ihr die Waffe aus der Hand gerissen. Der Verstand versagte, sie war jetzt einfach ein vom Gram überwältigtes Weib. »Leb wohl, leb wohl ...« stieß sie zwischen den Anfällen von Schluchzen hervor. Er schwieg und hörte entsetzt ihrem Weinen zu, ohne zu wagen, ihm Einhalt zu tun. Er empfand weder ihr noch sich selbst gegenüber Mitleid; er war sehr elend. Sie ließ sich in den Lehnstuhl sinken, preßte das Tuch vors Gesicht, stützte sich auf den Tisch und weinte bitterlich. Die Tränen brachen nicht wie eine unerwartet hervorströmende heiße Quelle hervor, von plötzlichem, vergänglichem Schmerz hervorgerufen, wie damals im Parke, sondern flossen trostlos in kalten Strömen, wie Herbstregen, der unerbittlich die Felder netzt. »Oljga«, sagte er endlich, »warum quälst du dich? Wenn ich des Glückes auch unwürdig bin, so schone doch dich selbst! Du liebst mich, du wirst die Trennung nicht ertragen! Nimm mich, wie ich bin, liebe in mir das, was ich in mir Gutes habe.« Sie schüttelte ablehnend den Kopf, ohne ihn zu erheben. »Nein ... nein ...« sagte sie dann mit Mühe, »mache dir keine Sorgen um mich und um mein Glück. Ich kenne mich. Ich werde mein Leid ausweinen und werde dann ruhig sein. Und störe mich jetzt nicht ... geh ... Ach, nein, warte! ... Gott straft mich! ... Es ist mir so weh, ach, so weh ums Herz ...« Das Schluchzen erneuerte sich. »Und wenn der Schmerz nicht vergeht«, sagte er, »und deine Gesundheit darunter leidet? Deine Tränen sind Gift; Oljga, mein Engel, weine nicht ... vergiß alles ...« »Nein, laß mich weinen! Ich weine nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit ...« sagte sie mit Mühe, »sie ist ›verblaßt und verwelkt‹ ... Nicht ich, sondern die Erinnerungen weinen! Der Sommer ... der Park ... weißt du noch? Es ist mir leid um unsere Allee und um den Flieder ... Das alles ist mir ans Herz gewachsen; es tut so weh, es fortzureißen ...!« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und schluchzte, indem sie wiederholte: »O wie weh, wie weh!« »Und wenn du stirbst?« sagte Oblomow plötzlich entsetzt. »Denke nur, Oljga ...« »Nein!« unterbrach sie, den Kopf erhebend, und bestrebte sich, ihn durch ihre Tränen hindurch anzublicken. »Ich habe erst vor kurzem erfahren, daß ich in dir dasjenige geliebt habe, was ich in dir sehen wollte, was Stolz mir gezeigt hat, was wir uns zusammen ausgedacht haben. Ich habe den zukünftigen Oblomow geliebt, Ilja. Du bist sanft und ehrlich, Ilja; du bist zärtlich wie ein Täuberich; du versteckst den Kopf unter den Flügel – und willst nichts mehr; du bist bereit, das ganze Leben unter dem Dache zu girren ... ich aber bin nicht so; das genügt mir nicht, ich brauche noch etwas, ich weiß nicht was! Kannst du mich denn darüber belehren und mir sagen, was es ist, was mir fehlt, mir das alles geben, damit ich ...? Zärtlichkeit ... wo findet man sie nicht!« Oblomow versagten die Knie. Er setzte sich auf den Lehnstuhl und wischte sich mit dem Tuche Hände und Stirne ab. Das Wort war grausam; es verletzte Oblomow tief; es schien ihn innerlich zu verbrennen und wehte ihn äußerlich kalt an. Anstatt zu antworten, lächelte er so kläglich und krankhaft verschämt, wie ein Bettler, dem man seine Blöße vorgeworfen hat. Er saß mit diesem kraftlosen Lächeln vor Erregung und Kränkung ermattet da, und sein erloschener Blick sagte deutlich: Ja, ich bin arm, elend, ein Bettler ... schlagt und beschimpft mich! ... Oljga sah plötzlich, wieviel Gift in ihren Worten enthalten war; sie stürzte schnell zu ihm hin. »Verzeihe mir, mein Freund!« begann sie zärtlich und fast weinend. »Ich weiß nicht, was ich sage; ich bin wahnsinnig! Vergiß alles, laß alles beim alten bleiben, wie's früher war ...« »Nein!« sagte er, sich plötzlich erhebend und sie mit einer entschlossenen Handbewegung von sich weisend. »Es wird nicht beim alten bleiben! Rege dich nicht darüber auf, daß du die Wahrheit gesagt hast. Ich habe es verdient ...« fügte er traurig hinzu. »Ich bin eine Träumerin, eine Grillenfängerin!« sagte sie. »Was für einen unglücklichen Charakter ich habe! Warum sind die andern, warum ist Sonitschka so glücklich ...« Sie weinte auf. »Geh!« schloß sie, an dem nassen Tuche mit den Händen zerrend. »Ich ertrage es sonst nicht; mir ist die Vergangenheit noch teuer ...« Sie bedeckte sich das Gesicht wieder mit dem Tuche und bestrebte sich, das Schluchzen zu unterdrücken. »Warum ist alles zugrunde gegangen?« fragte sie plötzlich, den Kopf erhebend. »Wer hat dich verflucht, Ilja? Was hast du getan? Du bist gut, klug, zärtlich und edel ... und ... gehst zugrunde! Was hat dich dem Verderben geweiht? Dieses Übel hat keinen Namen ...« »Es hat einen«, sagte er kaum hörbar. Sie blickte ihn fragend mit tränenerfüllten Augen an. »Die Oblomowerei!« flüsterte er, erfaßte dann ihre Hand, wollte sie küssen, konnte aber nicht, sondern preßte sie nur fest an die Lippen, und heiße Tränen tropften auf ihre Finger herab. Ohne den Kopf zu erheben und ihr das Gesicht zuzuwenden, wandte er sich um und ging. Zwölftes Kapitel Zwölftes Kapitel Gott weiß, wo er den ganzen Tag herumirrte und was er tat; er kehrte aber spät des Nachts nach Hause zurück. Die Hausfrau hörte zuerst das Klopfen am Tor und das Bellen des Hundes und weckte Anissja und Sachar vom Schlaf auf, indem sie ihnen mitteilte, der Herr wäre zurückgekehrt. Ilja Iljitsch bemerkte fast gar nicht, wie Sachar ihn auskleidete, ihm die Stiefel auszog und ihm den Schlafrock umwarf. »Was ist das?« fragte er nur, den Schlafrock anblickend. »Die Hausfrau hat ihn heute gebracht; sie hat den Schlafrock gewaschen und geflickt«, sagte Sachar. Oblomow blieb im Lehnstuhle sitzen. Alles um ihn herum versenkte sich in Schlaf und Finsternis. Er saß, sich auf den Arm stützend, da, ohne das Dunkel zu bemerken und das Schlagen der Uhr zu hören. Sein Verstand ging in einem Chaos von formlosen, unklaren Gedanken unter, die wie die Wolken am Himmel ziellos und zusammenhanglos vorüberzogen – er hielt keinen einzigen auf. Sein Herz war tot; darin hatte für einige Zeit jedes Leben aufgehört. Die Rückkehr zum Leben, zur regelmäßigen Betätigung des sich ansammelnden Andranges von Lebenskräften ging langsam vor sich. Der Schlag war sehr grausam gewesen, und Oblomow fühlte weder seinen Körper noch Müdigkeit oder sonst irgend etwas. Er konnte vierundzwanzig Stunden wie ein Stein daliegen oder ebensolange gehen, fahren und sich wie eine Maschine bewegen. Entweder lernt es der Mensch nach und nach, auf mühevollem Pfad sich dem Schicksal zu fügen – und dann nimmt der Organismus langsam und allmählich alle seine Funktionen wieder auf – oder das Unglück knickt den Menschen und er erhebt sich nicht mehr – je nachdem das Unglück und der Mensch ist. Oblomow konnte sich nicht erinnern, wo er saß und ob er überhaupt saß; er schaute mechanisch vor sich hin und bemerkte nicht, wie der Morgen zu dämmern begann; er hörte und wußte nichts davon, daß der trockene Husten der Großmutter ertönte, daß der Hausbesorger auf dem Hof Holz zerkleinerte, daß man im Hause zu klopfen und zu lärmen begann, er sah und sah zugleich nicht, wie die Hausfrau und Akulina auf den Markt gingen, wie das Paket am Zaun vorüberhuschte. Weder die Hähne noch das Hundegebell und das Knarren des Tores konnten ihn aus seiner Erstarrung aufrütteln. Die Tassen klapperten und der Samowar zischte. Endlich gegen zehn Uhr öffnete Sachar mit dem Präsentierbrett die Tür in Oblomows Zimmer, schlug dann nach seiner Gewohnheit mit dem Fuß aus, um die Tür zu schließen, zielte wie gewöhnlich fehl, hielt aber das Brett auf; er hatte darin doch eine gewisse Übung erlangt, außerdem wußte er, daß Anissja ihn hinter der Tür beobachtete und sowie er etwas fallen ließ, sofort hereinspringen und ihn verlegen machen würde. Er hatte glücklich das Bett erreicht, indem er den Bart an das Brett schmiegte und es fest umarmt hielt; aber als er gerade die Schalen auf den Tisch neben dem Bett stellen und den Herrn aufwecken wollte, bemerkte er, daß das Bett unberührt und der Herr nicht darin war! Er fuhr zurück, die Schale kollerte auf die Erde und die Zuckerdose folgte ihr. Er begann die Gegenstände in der Luft aufzufangen, wiegte dabei das Brett und ließ das übrige fallen. Es gelang ihm nur ein Löffelchen auf dem Brett zurückzubehalten. »Was das für ein Unglück ist!« sagte er, indem er zusah, wie Anissja Zuckerstücke, Scherben und Brot aufhob. »Wo ist denn der Herr?« Und der Herr saß im Lehnstuhle und war ganz fahl im Gesicht. Sachar blickte ihn mit weit offenem Munde an. »Warum sind Sie die ganze Nacht im Lehnstuhl geblieben und haben sich gar nicht niedergelegt, IIja Iljitsch?« fragte er. Oblomow wandte ihm langsam den Kopf zu, blickte Sachar, den ausgeschütteten Kaffee und den auf dem Teppich herumliegenden Zucker zerstreut an. »Und warum hast du die Schale zerschlagen?« sagte er und trat ans Fenster. Der Schnee fiel in großen Flocken herab und deckte die Erde ganz zu. »Schnee, Schnee, Schnee«, sagte er, sinnlos den Schnee anblickend, der den Zaun, das Gitter und die Beete im Gemüsegarten mit einer dichten Schicht bedeckt hatte. »Er hat alles verschüttet!« flüsterte er dann verzweifelt, legte sich aufs Bett und fiel in einen bleiernen, nicht erquickenden Schlaf. Es war schon Mittag vorbei, als ihn das Knarren der Tür, die in die Zimmer der Hausfrau führte, aufweckte; in der Tür erschien ein nackter Arm und eine Hand mit einem Teller; auf dem Teller dampfte eine Piroge, »Heute ist Sonntag«, sprach eine freundliche Stimme, »wir haben Pirogen gebacken, wünschen Sie nicht zu kosten?« Doch er antwortete nichts; er hatte Fieber. Vierter Teil Erstes Kapitel Erstes Kapitel Seit Ilja Iljitschs Krankheit war ein Jahr vergangen. Dieses Jahr hatte an verschiedenen Enden der Erde viele Veränderungen verursacht; es brachte das eine Land in Aufruhr und beruhigte ein zweites; hier war ein strahlendes Gestirn der Welt untergegangen und dort leuchtete ein neues auf; da hatte man ein neues Welträtsel entdeckt, und dort zerfielen Häuser und Generationen zu Staub. Wo das alte Leben aufhörte, drang wie junges Grün ein neues hervor ... Und auch auf der Wiborgskajastraße im Hause der Witwe Pschenizin, wo die Tage und Nächte friedlich dahinflossen, ohne stürmische und plötzliche Veränderungen in das monotone Leben zu bringen, indem die vier Jahreszeiten ihre Funktionen wie im vergangenen Jahr wiederholten, blieb das Leben doch nicht stehen und veränderte sich in seinen Äußerungen, doch die Veränderungen gingen so langsam und allmählich vor sich, wie die geologischen Neubildungen unsres Planeten; hier versinkt langsam ein Berg, dort spült das Meer ganze Jahrhunderte lang Schlamm heran oder tritt vom Ufer zurück und bildet neue Erdstriche. Ilja Iljitsch war genesen. Der Bevollmächtigte Satjortij hatte sich aufs Gut begeben und das für den Verkauf des Getreides eingetroffene Geld geschickt, wonach Oblomow ihm das Reisegeld, die täglichen Ausgaben ersetzte und eine Vergütung für die Mühe bestimmte. Was die Abgaben betraf, schrieb Satjortij, es sei unmöglich, das Geld einzusammeln, da die Bauern zum Teil verarmt und zum Teil sich in verschiedene Gegenden zerstreut hätten; es sei unbekannt, wo sie sich befänden, und er ziehe überall eifrig Erkundigungen danach ein. Bezüglich der Straßen und der Brücken schrieb er, daß das noch Zeit hätte, daß die Bauern es vorzögen, über den Berg und den Graben in den Marktflecken zu gelangen, wenn sie nur nicht an der neuen Straße und den Brücken arbeiten müßten. Das Geld und die Nachrichten stellten Oblomow mit einem Wort vollkommen zufrieden, er sah keine Notwendigkeit selbst hinzureisen und war in dieser Beziehung bis zum nächsten Jahr beruhigt. Der Bevollmächtigte ordnete auch den Bau des Hauses an; nachdem er mit Hilfe des Gouvernementsarchitekten die Quantität des nötigen Materials bestimmt hatte, ließ er an den Dorfschulzen den Befehl ergehen, mit Beginn des Frühjahrs Holz herbeizuschaffen, und baute einen Schuppen für die Ziegelsteine, so daß Oblomow im Frühjahr nur hinzureisen und den Bau in seiner Anwesenheit beginnen zu lassen hatte. Man hatte Aussichten, um diese Zeit die Abgaben einzusammeln, und außerdem wurde beschlossen, das Gut zu verpfänden, so daß man also die nötigen Mittel haben würde. Ilja Iljitsch war nach der Krankheit lange Zeit düster, versenkte sich stundenlang in krankhaftes Brüten, beantwortete manchmal Sachars Fragen nicht und bemerkte nicht, wie er die Schalen zu Boden fallen ließ oder den Tisch nicht abstaubte, und die Hausfrau, die an den Feiertagen mit einer Piroge erschien, traf ihn weinend an. Dann wurde der quälende Schmerz nach und nach durch stumme Gleichgültigkeit abgelöst. Ilja Iljitsch sah stundenlang zu, wie der Schnee herabfiel, auf dem Hof und auf der Straße Haufen bildete, wie er die Höfe, die Hühnerställe, die Hundehütte, das Gärtchen, die Beete des Gemüsegartens zudeckte, wie die Zaunpflöcke zu Pyramiden wurden, wie alles erstarb und sich mit einem Leichentuch bedeckte. Er hörte lange Zeit dem Knarren der Kaffeemühle, dem Zerren an der Kette und dem Bellen des Hundes, dem Stiefelputzen Sachars und dem gleichmäßigen Ticken des Pendels zu. Zu ihm kam wie früher die Hausfrau herein und riet ihm, etwas zu kaufen, oder lud ihn ein, von ihren Speisen zu kosten; die Kinder liefen zu ihm ins Zimmer; er sprach gleichgültig und freundlich mit der Mutter, gab den Kindern Aufgaben auf, hörte ihrem Lesen zu und lächelte träge und matt, wenn sie plauderten. Doch der Berg verschwand allmählich, das Meer trat von dem Ufer zurück oder netzte es mit seiner Flut, und Oblomow nahm nach und nach sein früheres normales Leben wieder auf. Der Herbst, der Sommer und der Winter vergingen eintönig und langweilig. Doch Oblomow wartete wieder auf den Frühling und träumte von einer Reise aufs Gut. Im März wurden Lerchen gebacken, im April nahm man bei ihm die Doppelfenster heraus und teilte mit, die Newa sei aufgetaut und der Frühling habe begonnen. Er spazierte im Garten herum. Dann begann man das Gemüse zu pflanzen; es kamen verschiedene Feiertage: Pfingsten, der Semik und der Erste Mai; das alles war aus den Birken und Kränzen, mit denen die Häuser geschmückt wurden, zu ersehen; man trank im Wald Tee. In den ersten Sommertagen begann man im Hause von zwei großen bevorstehenden Ereignissen zu sprechen, vom Namenstage des Bruders, dem Iwantage, und vom Iljatage, dem Namenstage Oblomows; das waren zwei wichtige Tage. Und wenn es der Hausfrau gelang, ein schönes Stück Kalbsbraten auf dem Markt zu sehen oder zu kaufen, oder wenn ihr eine Piroge besonders gut geriet, sagte sie: »Ach, wenn mir ein solcher Kalbsbraten und eine solche Piroge am Iwan- oder Iljatage geriete!« Man begann von dem jährlich am Eliasfreitag in Aussicht genommenen Spaziergang zu den Pulvermühlen und vom Fest auf dem Smolensker Friedhof in Kolpino zu sprechen. Unter den Fenstern ertönte wieder das laute Gackern der Gluckhenne und das Piepsen der neuen Küchleingeneration; man backte wieder Pirogen mit jungen Hühnern und frischen Pilzen, aß frischgesalzene Gurken; bald kam die Beerenzeit. »Das Gekröse ist jetzt nicht mehr gut«, sagte die Hausfrau zu Oblomow. »Man hat gestern für zwei ganz kleine Portionen siebzig Kopeken verlangt, dafür gibt es frischen Lachs; man könnte jetzt jeden Tag Betensuppe kochen.« Die Wirtschaft stand im Hause der Pschenizin nicht nur deshalb auf einem so hohen Niveau, weil Agafja Matwejewna eine mustergültige Hausfrau war, und weil das ihr Beruf war, sondern auch weil Iwan Matwejewitsch Muchojarow in gastronomischer Beziehung ein großer Sybarit war. Er war, was seine Kleider und Wäsche betraf, mehr als nachlässig; er trug seine Anzüge viele Jahre und gab für die Anschaffung von neuen Kleidungsstücken nur mit Ärger und Widerwillen Geld aus, behandelte seine Sachen dabei nicht behutsam, sondern warf sie in einem Haufen in die Ecke. Er wechselte die Wäsche wie ein Arbeiter nur am Samstag; aber er ließ sich, was das Essen anbelangte, nichts abgehen. Er hielt sich in dieser Beziehung teilweise an die von ihm selbst während seiner Amtstätigkeit geschaffene Theorie, die lautete: »Man sieht nicht, was im Magen drin ist, und wird keinen Unsinn schwatzen, während eine schwere Uhrkette, ein neuer Frack, helle Stiefel unnötiges Aufsehen hervorrufen.« Infolgedessen erschien auf seinem Tisch der beste Kalbsbraten, bernsteinfarbenes Störfleisch und weiße Haselhühner. Der Bruder ging manchmal selbst auf den Markt und in die Läden und beschnüffelte alles wie ein Jagdhund, brachte unter seinem Rockschoß das beste Poulard, das aufzutreiben war, mit und gab vier Rubel für einen Kapaun aus. Er kaufte auch Wein, schloß ihn ein und holte ihn selbst heraus; aber bei Tische wurde außer einer Flasche Johannisbeerschnaps nichts gesehen; der Wein wurde im Giebelzimmer getrunken. Wenn er mit Tarantjew fischen ging, hielt er immer eine gute Sorte Madeira in seiner Tasche versteckt, und wenn sie in der Kneipe Tee tranken, brachte er seinen eigenen Rum mit. Das allmähliche Ansammeln von Schlamm, das Hervortreten des Meergrundes und das Verschwinden von Bergen machte sich in allem und unter anderem auch in Anissjas Leben bemerkbar. Die gegenseitige Sympathie Anissjas und der Hausfrau verwandelte sich in ein unzertrennliches Band, in eine einzige Existenz. Als Oblomow das Interesse sah, das die Hausfrau an seinen Angelegenheiten nahm, schlug er ihr einmal im Scherz vor, alle Sorgen um seine Verpflegung auf sich zu nehmen und ihn von allen Scherereien zu erlösen. Ihr Gesicht erstrahlte vor Freude, und sie lächelte sogar ausdrucksvoll. Wie das Feld ihrer Tätigkeit sich vergrößerte! Jetzt sollte sie statt eines Haushaltes zwei oder einen ungeheuer großen haben! Außerdem gewann sie Anissja ganz für sich. Sie sprach diesbezüglich mit dem Bruder, und am nächsten Tag wurde alles aus Oblomows Küche in die Küche der Pschenizin geschleppt, sein Silberzeug und sein Geschirr ging in ihre Kredenz über und Akulina wurde zur Hühnermagd und Gemüsegärtnerin degradiert. Alles wurde jetzt en gros eingekauft; der Zucker, der Tee, die Konserven, die Gurken zum Salzen, die Äpfel zum Einlegen, die Kirschen zum Sieden – alles nahm große Dimensionen an. Agafja Matwejewna wuchs, Anissja regte ihre Hände wie ein Adlerweibchen die Flügel, und das Leben begann wie ein Fluß zu wogen und zu rauschen. Oblomow speiste mit der Familie um drei Uhr, nur der Bruder aß allein, später, meistens in der Küche, weil er sehr spät aus der Kanzlei kam. Den Tee und Kaffee brachte Oblomow nicht mehr Sachar, sondern die Hausfrau selbst. Er konnte abstauben, wenn er Lust hatte; wenn das aber nicht der Fall war, flog Anissja wie der Wind herein, wischte und blies, zum Teil mit der Schürze, zum Teil mit der bloßen Hand und fast mit der Nase alles fort, räumte auf, brachte das Zimmer in Ordnung und verschwand; oder die Hausfrau blickte selbst in Oblomows Zimmer herein, während er im Garten war, schüttelte den Kopf, wenn sie etwas in Unordnung fand, brummte vor sich hin, schüttelte die Kissen wie einen Berg auf, sah sich die Überzüge an, flüsterte sich selbst zu, daß man sie wechseln müßte, tat es, wischte die Fenster ab, schaute hinter die Sofalehne und ging. Das allmähliche Heben des Meergrundes, das Verschwinden der Berge, das Ansammeln des Schlammes mit der Hinzufügung von leichten vulkanischen Ausbrüchen – das alles machte sich am meisten in Agafja Matwejewnas Schicksal bemerkbar, und niemand, am wenigsten sie selbst, wurde sich dessen bewußt. Das alles äußerte sich nur in den reichhaltigen, unerwarteten und endlosen Folgen. Warum war sie seit einiger Zeit so aufgeregt? Wenn früher der Braten angebrannt wurde, der Fisch in der Fischsuppe zu lange kochte und man kein Grünzeug in die Suppe gelegt hatte, gab sie Akulina strenge, aber ruhig und würdevoll einen Verweis und vergaß es wieder; wenn aber jetzt etwas Ähnliches vorkam, sprang sie während des Essens auf, lief in die Küche, ließ eine ganze Flut von bitteren Vorwürfen auf Akulina herabsausen und schmollte selbst mit Anissja; am nächsten Tage paßte sie aber selbst auf, ob man das Grünzeug nicht vergessen hatte und ob der Fisch nicht zu lange kochte. Man könnte vielleicht glauben, daß sie in den Augen eines Fremden auf dem Gebiet der Wirtschaft, auf das ihre ganze Eitelkeit und Tätigkeit gerichtet war, als unzuverlässig zu erscheinen fürchtete. Gut. Warum fielen ihr aber früher um acht Uhr abends die Augen zu, und warum legte sie sich um neun schon hin, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht und nachgesehen hatte, ob das Licht in der Küche ausgelöscht war, ob man die Rauchfänge geschlossen hatte und ob alles in Ordnung war – und dann hätte sie bis sechs Uhr früh keine Kanone aufgeweckt? Aber wenn Oblomow jetzt ins Theater fuhr oder sich bei Iwan Gerassimowitsch verspätete und lange nicht zurückkam, konnte sie nicht schlafen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, bekreuzte sich, seufzte, schloß die Augen, aber der Schlaf kam nicht über sie! Sowie sie auf der Straße ein Geräusch hörte, hob sie den Kopf, sprang manchmal vom Bett auf, öffnete das Fenster und lauschte, ob das nicht er sei. Wenn ans Tor geklopft wurde, warf sie einen Rock über, lief in die Küche, weckte Sachar und Anissja auf und schickte sie hinaus. Man könnte vielleicht sagen, daß sich darin eine gewissenhafte Hausfrau äußerte, die es nicht haben wollte, daß in ihrem Hause Unordnung herrschte, daß der Zimmerherr in der Nacht draußen warten mußte, bis der betrunkene Hausbesorger ihn hörte und ihm öffnete, und daß sie endlich fürchtete, das anhaltende Klopfen könnte die Kinder aufwecken ... Gut. Aber warum ließ sie niemand in Oblomows Zimmer herein, als er erkrankte, warum bedeckte sie es mit Teppichen und Filz, verhängte die Fenster und geriet trotz ihrer Güte und Sanftheit in Wut, wenn Wanja und Mascha aufschrien oder laut auflachten? Warum saß sie des Nachts, ohne sich auf Sachar und Anissja zu verlassen, an seinem Bett und wandte bis zur Frühmesse kein Auge von ihm, warf dann ihren Mantel um, schrieb mit großen Buchstaben Ilja auf ein Stück Papier, lief in die Kirche hin, wo sie für seine Gesundheit beten ließ, ging dort in eine Ecke, warf sich auf die Knie und blieb lange mit auf den Fußboden geschmiegtem Kopf liegen, dann eilte sie auf den Markt, kehrte angsterfüllt nach Hause zurück, schaute zur Tür herein und fragte Anissja flüsternd: »Nun, wie ist's?« Man wird sagen, daß es nichts als Mitleid und Nächstenliebe, die Hauptelemente des weiblichen Wesens, waren. Gut. Warum magerte sie aber ab und verhielt sich allem gegenüber so gleichgültig? Sie war imstande, Kaffee zu mahlen, ohne zu wissen, was sie tat, oder legte eine solche Menge Zichorie hinein, daß man den Kaffee gar nicht trinken konnte, und schmeckte das gar nicht, als ob sie keine Zunge hätte, als Oblomow während seiner Genesung den ganzen Winter düster blieb, mit ihr kaum sprach, nicht zu ihr hereinschaute, sich nicht dafür interessierte, was sie tat, und mit ihr nicht scherzte und lachte. Wenn Akulina den Fisch zu wenig kochen ließ, wenn der Bruder brummte und vom Tisch fortging, saß sie wie steinern da, als hörte sie nicht. Früher hatte niemand sie nachdenklich gesehen, das kleidete sie auch gar nicht gut; sie war sonst immer in steter Bewegung und Tätigkeit, sie schaute überall hin und sah alles, und jetzt konnte sie mit dem Mörser auf den Knien wie im Schlaf reglos dasitzen und begann dann mit der Mörserkeule so zu klopfen, daß sogar der Hund anschlug und jemanden am Tor vermutete. Sowie Oblomow aber zu sich kam, sowie auf seinem Gesicht wieder ein freundliches Lächeln erschien, sowie er sie wieder freundlich anzublicken begann, zu ihr kam und mit ihr scherzte, nahm sie wieder zu und führte froh und voll Lust ihre Wirtschaft, die jetzt einen leisen individuellen Anstrich gewann. Früher bewegte sie sich den ganzen Tag wie eine gut konstruierte Maschine, genau und gleichmäßig, sie ging mäßig schnell, sprach weder leise noch laut, mahlte Kaffee, hackte Zucker, siebte irgend etwas durch, setzte sich dann an ihre Näharbeit und handhabte die Nadel in genauen Zwischenräumen wie einen Uhrzeiger; dann erhob sie sich langsam, blieb auf halbem Wege in die Küche stehen, öffnete den Schrank, nahm etwas heraus und trug es wie eine Maschine irgendwohin. Aber jetzt, da Ilja Iljitsch zum Mitglied ihrer Familie geworden ist, stößt und siebt sie ganz anders. Sie hat ihre Spitzen fast vergessen. Sie setzt sich ruhig hin und beginnt zu nähen; plötzlich ruft Oblomow Sachar zu, er möchte ihm den Kaffee reichen. Sie ist in einem Satz in der Küche und sieht alles so genau an, als zielte sie irgendwohin, ergreift einen Löffel, sieht sich den Kaffee bei Licht an, um zu erfahren, ob er genug gekocht ist und sich gesetzt hat, gibt acht, daß kein Satz hineinkommt, und überzeugt sich, ob auf dem Rahm keine Haut ist. Wenn sein Lieblingsgericht gekocht wurde, sah sie in die Pfanne hinein, hob den Deckel auf, roch, kostete, ergriff dann selbst die Pfanne und hielt sie über dem Feuer. Wenn sie für ihn Mandeln rieb oder etwas stieß, tat sie es mit solchem Eifer und solcher Anstrengung, daß ihr der Schweiß kam. Ihre ganze Wirtschaft, das Stoßen, das Bügeln, Sieben und Ähnliches gewann für sie einen neuen, lebendigen Sinn: die Ruhe und Bequemlichkeit von Ilja Iljitsch. Früher hatte sie das für ihre Pflicht angesehen, und jetzt war es für sie zum Genuß geworden. Sie begann auf ihre Weise voll und ganz zu leben. Sie wußte aber nicht, was mit ihr vorging, befragte sich niemals darüber, sondern ergab sich bedingungslos, ohne Widerstand oder Begeisterung, ohne Beben, ohne Leidenschaft, ohne vage Ahnungen und Traurigkeit, und ohne daß die Saiten der Nerven berührt wurden, diesem süßen Joch. Es war, als hätte sie plötzlich ihren Glauben gewechselt, und als erfülle sie alle seine Ritualien, ohne darüber zu grübeln, was das für ein Glaube sei, und welche Dogmen er habe, vielmehr, als gehorche sie blind seinen Gesetzen. Das alles hatte sich wie von selbst auf sie herabgesenkt, als wäre sie, ohne zurückzuwanken oder vorauszueilen, unter eine Wolke geraten; die Liebe zu Oblomow war so einfach über sie gekommen, als hätte sie sich erkältet und wäre an einem unheilbaren Fieber erkrankt. Sie selbst ahnte nichts; wenn man es ihr gesagt hätte, wäre es für sie etwas ganz Neues gewesen, sie hätte gelächelt und wäre verlegen geworden. Sie hatte die Pflichten in bezug auf Oblomow schweigend übernommen, vertiefte sich in die Physiognomie jedes Hemdes, zählte die durchgewetzten Fersen seiner Strümpfe, wußte, mit welchem Fuß er vom Bett aufstand, bemerkte, wenn sich auf seinem Auge ein Gerstenkorn bilden wollte, wieviel er von jedem Gericht aß, ob er fröhlich oder traurig war, ob er viel oder wenig schlief, als hätte sie sich ihr ganzes Leben damit abgegeben, und stellte sich nicht die Frage, warum sie es tat, was Oblomow ihr war, warum sie sich so abmühte. Wenn man sie gefragt hätte, ob sie ihn liebte, würde sie wieder lächeln und bejahend antworten, doch sie würde schon damals, als Oblomow erst seit einer Woche bei ihr war, dasselbe geantwortet haben. Warum oder wofür liebte sie gerade ihn, warum hatte sie ohne zu lieben geheiratet und ihr dreißigstes Lebensjahr erreicht, und warum war es jetzt plötzlich über sie gekommen? Wenn man die Liebe auch ein launisches, unbewußtes Gefühl nennt, das wie eine Krankheit entsteht, hat sie doch wie alles ihre Gesetze und Ursachen. Und wenn diese Gesetze bis jetzt noch wenig erforscht worden sind, ist dieser Umstand dadurch zu erklären, daß ein von der Liebe betroffener Mensch sich nicht in der Verfassung befindet, um mit den Augen des Gelehrten zu beobachten, wie die Empfindung sich in seine Seele schleicht, wie sie die Sinne wie mit Schlaf umfängt, wie zuerst die Augen erblinden, von welchem Momente an der Puls und dann das Herz heftiger zu schlagen beginnen, wie vom gestrigen Tage an plötzlich eine Ergebenheit bis in den Tod und ein Bestreben sich hinzuopfern entsteht, wie das eigene Ich allmählich verschwindet und in ihn oder in sie übergeht, wie ungewöhnlich der Geist sich abstumpft oder wie ungewöhnlich er sich verfeinert, wie der Wille sich dem Willen eines anderen ergibt, wie der Kopf sich senkt und die Knie zittern, wie Tränen und Fieber kommen ... Agafja Matwejewna hatte früher solche Menschen wie Oblomow selten gesehen, und wenn sie sie auch gesehen hatte, so geschah es doch nur aus der Ferne; sie gefielen ihr vielleicht auch, doch sie lebten in einer anderen Sphäre, die nicht die ihrige war, und sie fand keine Gelegenheit, in ihre Nähe zu kommen. Ilja Iljitsch hatte einen anderen Gang, als ihn ihr verstorbener Mann, der Kollegiensekretär Pschenizin, gehabt hatte, der stets mit kleinen geschäftigen Schritten einhertrottete, er schrieb nicht unaufhörlich Papiere, zitterte nicht vor Furcht, zu spät ins Amt zu kommen, sah einen jeden nicht so an, als bitte er, ihn zu satteln und auf ihm zu reiten, sondern hatte allen gegenüber einen so mutigen, freien Blick, als forderte er, man möchte sich ihm unterwerfen. Sein Gesicht war nicht grob und rötlich, sondern weiß und zart, die Hände erinnerten nicht an diejenigen des Bruders, sie zitterten nicht und waren nicht rot, sondern weiß und klein. Wenn er sich hinsetzt, die Beine übereinanderschlägt und den Kopf mit der Hand stützt, geschieht das alles so frei, so ruhig und schön; er spricht so, wie weder ihr Bruder noch Tarantjew sprechen, und wie auch ihr Mann nicht gesprochen hat; sie versteht sogar vieles davon nicht, er spricht gar nicht so wie die anderen. Er trägt feine Wäsche, wechselt sie jeden Tag, wäscht sich mit duftender Seife, putzt sich die Nägel – seine ganze Person ist so rein und anziehend, er kann sich erlauben, nichts zu tun, und tut auch nichts, er überläßt es anderen, für ihn zu arbeiten; er hat Sachar und noch dreihundert Sachars ... Er ist ein Edelmann, er strahlt und leuchtet! Außerdem ist er so gut! Er hat so weiche Bewegungen, und wenn er die Hand berührt, ist es wie Samt, wenn es aber ihr Mann tat, war es, als schlage er sie. Er blickt und spricht auch so weich, so gütig ... Sie dachte nicht so und war sich dessen nicht bewußt, wenn aber jemand anders den Einfall hätte, den Eindruck, den Oblomows Erscheinen in ihrer Seele hervorrief, aufzufangen und zu erklären, würde er das so und nicht anders beginnen müssen. Oblomow begriff, welche Bedeutung er für diesen Winkel und dessen Bewohner, vom Bruder bis zum Kettenhund, erlangt hatte, der seit seinem Umzug dreimal soviel Knochen bekam, doch er ahnte nicht, welche tiefe Wurzeln er im Herzen der Hausfrau gefaßt und welchen unerwarteten Sieg er davongetragen hatte. In ihrer Geschäftigkeit und Besorgtheit um sein Essen, seine Wäsche und Zimmer sah er nur die Äußerung des Hauptzuges ihres Charakters, den er schon während seines ersten Besuches bemerkt hatte, als Akulina plötzlich den zappelnden Hahn ins Zimmer brachte, und als die Hausfrau, trotzdem sie durch den unpassenden Eifer der Köchin in Verlegenheit geraten war, ihr doch sagte, sie möchte dem Krämer nicht diesen, sondern den grauen Hahn verkaufen. Agafja Matwejewna lag es nicht nur ferne, mit Oblomow zu kokettieren und ihm durch irgendeine Äußerung das, was in ihr vorging, anzudeuten, sondern sie war sich dessen, wie schon gesagt, gar nicht bewußt, begriff es nicht und hatte sogar vergessen, daß vor einiger Zeit das alles in ihr noch nicht existiert hatte; ihre Liebe äußerte sich nur in einer grenzenlosen Ergebenheit bis ans Grab. Oblomow hatte die Art ihrer Beziehungen ihm gegenüber nicht erkannt und hielt deren Äußerungen wie bisher für ihre Charaktereigenschaften. Und das so normale, natürliche und selbstlose Gefühl der Pschenizin Oblomow gegenüber blieb für diesen, für ihre Umgebung und für sie selbst ein Geheimnis. Dieses Gefühl war tatsächlich selbstlos, denn sie stellte nur deswegen eine Kerze in die Küche hin und ließ eine Messe für Oblomow beten, damit er genas, ohne daß er jemals etwas davon erfuhr. Sie saß in der Nacht an seinem Kopfende und ging erst beim Morgengrauen hinaus, und es wurde nie davon gesprochen. Sein Verhalten ihr gegenüber war viel einfacher: für ihn verkörperte sich in Agafja Matwejewna, in ihren sich stets bewegenden Ellbogen, in den besorgt auf allem ruhenden Augen, in ihrem Überblicken der Schränke, der Küche, der Vorratskammer und des Kellers, in der Allwissenheit, die sie in allen häuslichen und wirtschaftlichen Fragen bekundete, das Ideal jener wie ein Ozean unabsehbaren und unveränderlichen Ruhe, deren Bild sich in der Kindheit, unter dem väterlichen Dache, unaustilgbar in seine Seele gegraben hatte. Ebenso wie dort der Vater, der Großvater, die Kinder, die Enkel und Gäste in träger Ruhe dalagen und saßen, da sie wußten, daß es neben ihnen im Hause ein ewig sorgendes, nie schlummerndes Auge und unermüdliche Hände gab, welche für sie nähten, sie kleideten, fütterten, sie zu Bette brachten und ihnen beim Sterben die Augen zudrückten, sah auch Oblomow, wenn er hier, ohne sich zu rühren, auf dem Sofa saß, daß es etwas sich für ihn Regendes und Sorgendes gab, und daß es eher zu erwarten war, die Sonne würde morgen nicht mehr aufgehen, der Himmel würde von Wirbelwinden zerrissen sein, die aus einem Ende des Weltalls zum anderen herüberwehten, als daß die Suppe und der Braten nicht auf seinem Tische erscheinen, daß seine Wäsche nicht rein und frisch ist, und das Spinngewebe nicht von der Wand entfernt ist, ohne daß er weiß, wie das gemacht wird; bevor er sich die Mühe gibt zu denken, was er wohl haben möchte, wird es schon erraten und ihm gebracht werden, aber nicht träge und grob von Sachars schmutzigen Händen, sondern mit einem fröhlichen, sanften Blick, mit einem tief ergebenen Lächeln, von reinen, weißen Händen mit nackten Ellbogen. Er wurde mit der Hausfrau täglich mehr befreundet; er dachte nicht im entferntesten an Liebe, das heißt an jene Liebe, die er vor kurzem wie Blattern, Masern oder ein Fieber ertragen hatte und bei deren Erinnerung er bebte. Er näherte sich Agafja Matwejewna, als rücke er an ein Feuer, das einen immer mehr und mehr erwärmt, das man aber nicht lieben kann. Er blieb nach dem Essen gerne in ihrem Zimmer, rauchte dort gerne seine Pfeife und sah zu, wie sie das Silber und das Geschirr in die Kredenz einräumte, wie sie die Schalen herausnahm, den Kaffee einschenkte und wie sie die eine Schale ganz besonders sorgfältig abwusch und abtrocknete, zuerst füllte, ihm hinreichte und zuschaute, ob er zufrieden sei. Er ließ seine Augen gerne auf ihrem vollen Hals und den runden Ellbogen ruhen, wenn sich die Tür in ihr Zimmer öffnete, und wenn dies lange nicht geschah, stieß er den Türflügel leise mit dem Fuße auf, scherzte mit ihr und spielte mit den Kindern. Aber er langweilte sich nicht, wenn der Morgen verging, ohne daß er sie sah; nachmittags ging er oft, anstatt bei ihr zu bleiben, auf zwei Stunden schlafen; doch er wußte, daß, sowie er erwachte, sogar in demselben Augenblick, sein Tee bereitet war. Und vor allem geschah das alles in Ruhe; er spürte keinen Dank am Herzen, regte sich niemals darüber auf, ob er die Hausfrau sehen würde oder nicht, darüber, was sie denken würde, was er ihr sagen, wie er ihre Fragen beantworten sollte, wie sie ihn anblicken würde – über gar nichts. Er erlebte weder Momente der Traurigkeit noch schlaflose Nächte noch süße und bittere Tränen. Er saß da, rauchte und sah zu, wie sie nähte, manchmal sagte er irgend etwas oder auch nicht, und dabei war er ruhig, er hatte keine Wünsche und wollte nirgendshin, als besäße er alles, was er wünschte. Agafja Matwejewna machte keine Versuche, ihn aufzurütteln, und stellte an ihn keinerlei Ansprüche. Und in ihm stiegen keine ehrgeizigen Wünsche und Bestrebungen auf, kein Drang nach Heldentaten, kein qualvolles Selbstfoltern, weil die Zeit verging, weil seine Kräfte schwanden, weil er nichts, weder Gutes noch Böses, getan hatte, weil er müßig war, nicht lebte, sondern vegetierte. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand ihn wie eine wertvolle Pflanze in den Schatten gepflanzt, wo er vor Glut und Regen geschützt war, als hegte und pflegte sie ihn. »Wie geschwind Sie die Nadel an der Nase vorüberziehen, Agafja Matwejewna!« sagte Oblomow, »das geht so schnell, daß ich wirklich fürchte, Sie könnten sich den Rock an die Nase festnähen.« Sie lächelte. »Ich nähe nur diese Naht zu Ende«, sagte sie zu sich selbst, »dann werden wir Abendbrot essen.« »Was haben wir heute zum Abendbrot?« »Sauerkraut mit Lachs«, sagte sie. »Es gibt schon nirgends mehr Störe; ich war in allen Geschäften und auch der Bruder hat überall nachgefragt – sind aber keine aufzutreiben. Vielleicht finde ich aber einen frischen Stör – ein Kaufmann aus der Karjetnatjastraße hat einen bestellt, und man hat versprochen, mir ein Stück davon abzuschneiden. Dann gibt es Kalbsbraten und gebratene Grütze ...« »Das ist sehr schön! Wie lieb es von Ihnen ist, daran zu denken, Agafja Matwejewna! Wenn es Anissja nur nicht vergißt.« »Wozu bin ich denn da? Hören Sie, wie es zischt?« antwortete sie, die Tür in die Küche ein wenig öffnend. »Es brät schon.« Dann beendigte sie ihre Naht, biß den Faden ab, legte die Arbeit zusammen und trug sie ins Schlafzimmer. Er rückte also wie an ein wärmendes Feuer an sie heran und kam ihr einmal so nahe, daß fast eine Feuersbrunst, jedenfalls aber ein Aufflammen entstand. Er ging in seinem Zimmer auf und ab und sah, wenn er der Tür zuschritt, daß die Ellbogen sich mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit bewegten. »Sie sind ewig beschäftigt!« sagte er, bei der Hausfrau eintretend. »Was machen Sie?« »Ich stoße Zimt«, antwortete sie, in den Mörser wie in einen Abgrund blickend und unbarmherzig mit der Keule stampfend. »Und wenn ich Sie dabei störe?« fragte er, sie bei den Ellbogen fassend, so daß sie nicht stoßen konnte. »Lassen Sie mich los! Ich muß noch Zucker stoßen und Wein für den Pudding herausgeben.« Er hielt sie noch immer an den Ellbogen fest, und sein Gesicht war an ihrem Nacken. »Sagen Sie, was wäre, wenn ich Sie ... liebhätte?« Sie lächelte. »Würden Sie mich wieder lieben?« fragte er weiter. »Warum denn nicht? Gott hat befohlen, alle zu lieben.« »Und wenn ich Sie küsse?« flüsterte er, sich zu ihr herabbeugend, so daß sein Atem ihre Wange sengte. »Jetzt ist ja nicht die Osterwoche!« sagte sie lächelnd. »So küssen Sie mich doch!« »Wenn Gott uns Ostern erleben läßt, dann werden wir uns küssen!« sagte sie, ohne verlegen zu werden, sich zu wundern oder zu fürchten, sondern gerade und reglos dastehend wie ein Pferd, dem man das Kumt anzieht. Er küßte sie leicht auf den Hals. »Geben Sie acht, ich werde den Zimt ausschütten, dann werde ich für Ihre Mehlspeise nichts haben!« bemerkte sie. »Das macht nichts!« antwortete er. »Was haben Sie da auf dem Schlafrock, wieder einen Fleck?« fragte sie besorgt. »Ich glaube, es ist Öl!« Sie roch am Fleck. »Woher haben Sie das? Ist es nicht aus dem Öllämpchen auf Sie heruntergetropft?« »Ich weiß nicht, woher ich das habe.« »Sie haben gewiß die Tür gestreift?« fiel es Agafja Matwejewna plötzlich ein. »Man hat gestern die Türangeln geschmiert; sie haben immer geknarrt. Ziehen Sie ihn aus und geben Sie ihn mir geschwind her, ich werde den Fleck herausmachen und die Stelle waschen; dann wird morgen nichts mehr zu sehen sein.« »Gute Agafja Matwejewna!« sagte Oblomow, den Schlafrock träge von den Schultern abwerfend. »Wissen Sie was? Wollen wir aufs Gut fahren und dort leben; dort ist erst die wahre Wirtschaft! Was es dort alles gibt: Pilze, Beeren zum Einsieden, einen Geflügel- und einen Viehhof ...« »Nein, wozu?« antwortete sie seufzend. »Wir sind hier auf die Welt gekommen, haben das ganze Leben hier verbracht und müssen auch hier sterben.« Er blickte sie in leichter Aufregung an, aber seine Augen leuchteten nicht und füllten sich nicht mit Tränen; es trieb ihn nicht in die Höhe, zu irgendwelchen Heldentaten. Er hatte nur Lust, sich auf das Sofa zu setzen und die Augen nicht von ihren Ellbogen zu wenden. Zweites Kapitel Zweites Kapitel Der Iwantag wurde feierlich begangen. Iwan Matwejewitsch ging am vorhergehenden Tage nicht in die Kanzlei, fuhr wie besessen in der Stadt herum und kam jedesmal mit einem Paket oder einem Korb zurück. Agafja Matwejewna lebte drei Tage lang von Kaffee, und nur für Ilja Iljitsch wurden drei Gerichte gekocht, während die übrigen von irgendwas und irgendwie lebten. Anissja legte sich am Tage vorher sogar überhaupt nicht schlafen! Nur Sachar schlief für sie beide und sah alle diese Vorbereitungen nachlässig und mit halber Verachtung an. »Bei uns in Oblomowka wurde an jedem Feiertag so gekocht«, sagte er den beiden Köchen, die man aus der gräflichen Küche bestellt hatte. »Es gab manchmal fünf Torten, und die Soßen waren nicht zu zählen! Die Herrschaften haben den ganzen Tag daran gegessen und auch noch am nächsten Tag. Und wir haben fünf Tage lang an den Resten genug gehabt. Sowie wir damit fertig waren, sind wieder Gäste gekommen, und dann hat die Sache von vorn angefangen, und hier ist das einmal im Jahre!« Bei Tische reichte er zuerst Oblomow und war für nichts auf der Welt zu bewegen, einen Herrn mit einem großen Orden auf der Brust zu bedienen. »Unser Herr ist ein Edelmann«, sprach er stolz, »und wer sind denn diese Gäste!« Tarantjew, der am Ende des Tisches saß, bekam von ihm entweder gar nichts, oder er legte ihm selbst so viel auf den Teller, als er es für gut hielt. Alle Kollegen Iwan Matwejewitschs, etwa dreißig Personen, waren erschienen. Eine riesengroße Forelle, gefüllte junge Hühner, Wachteln, Gefrorenes und ausgezeichneter Wein, das alles trug in würdiger Weise zur Feierlichkeit des Tages bei. Zum Schlusse umarmten die Gäste einander, lobten den Geschmack des Hausherrn über alles und setzten sich dann an die Kartentische. Muchojarow verneigte sich und dankte, indem er sagte, daß er für das große Glück, die teuren Gäste bewirten zu können, den dritten Teil seines Gehaltes geopfert hätte. Gegen Morgen fuhren und gingen die Gäste, so gut es ging, fort, und im Hause beruhigte sich alles wieder bis zum Iljatage. An diesem Tage waren von Fremden nur Iwan Gerassimowitsch und Alexejew, der stumme und bescheidene Gast, der Oblomow einst am Ersten Mai zum Spaziergang eingeladen hatte, zu Besuch. Oblomow wollte Iwan Matwejewitsch noch übertreffen und bestrebte sich, mit der Feinheit und Eleganz der Servierung, die in diesem Winkel unbekannt waren, zu glänzen. Statt der fetten Fischpiroge erschienen mit Luft gefüllte Pastetchen; vor der Suppe wurden Austern gereicht; dann kamen Hühner in Papillotten, mit Trüffeln, süßes Fleisch, feines Gemüse und englische Suppe. In der Mitte des Tisches prangte eine ungeheure Ananas, von Pfirsichen, Kirschen und Aprikosen umringt. In den Vasen standen frische Blumen. Als man die Suppe in Angriff nahm und Tarantjew über die Pastetchen und den Koch für den dummen Einfall, nichts hineinzugeben, schimpfte, ertönte das verzweifelte Zerren an der Kette und das Bellen des Hundes. Ein Wagen fuhr in den Hof hinein, indem er mit der Deichsel gegen den Zaun stieß, und jemand fragte nach Oblomow. Alle rissen den Mund auf. »Jemand von den vorjährigen Bekannten hat sich an meinen Namenstag erinnert«, sagte Oblomow. »Ich bin nicht zu Hause, sag, daß ich nicht zu Hause bin!« rief er Sachar flüsternd zu. Man speiste im Garten in der Laube, Sachar wollte fortstürzen und stieß auf dem Gartenwege mit Stolz zusammen. »Andrej Iwanowitsch!« krächzte er freudig. »Andrej!« schrie Oblomow laut auf, stürzte auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich komme gerade zur rechten Zeit, zum Mittagessen!« sagte Stolz. »Gib mir zu essen, ich habe Hunger. Ich habe dich mit Mühe und Not gefunden!« »Komm, komm, setze dich!« sagte Oblomow eilig, ihm neben sich Platz machend. Bei Stolz' Erscheinen erhob sich zuerst Tarantjew, stieg rasch über den Zaun und verschwand im Gemüsegarten; ihm folgte Iwan Matwejewitsch, der sich hinter die Laube versteckte und sich dann in sein Giebelzimmer zurückzog. Auch die Hausfrau erhob sich von ihrem Platze. »Ich störe ...« sagte Stolz aufspringend. »Wohin denn, warum? Iwan Matwejewitsch! Michej Andreitsch!« rief Oblomow. Er überredete die Hausfrau, sitzen zu bleiben, aber Iwan Matwejewitsch und Tarantjew ließen sich nicht mehr blicken. »Woher, wieso, auf lange?« fragte Oblomow. Stolz war geschäftlich auf zwei Wochen gekommen, begab sich dann aufs Gut, nach Kiew und Gott weiß wohin noch. Stolz sprach bei Tische wenig, aß aber viel; man sah, daß er tatsächlich hungrig war. Die anderen schwiegen erst recht. Nach dem Essen, als alles abgeräumt war, ließ Oblomow Champagner und Selters in die Laube stellen und blieb mit Stolz allein. Sie schwiegen einige Zeit. Stolz blickte ihn lange und forschend an. »Nun, Ilja!?« sagte er endlich so streng und fragend, daß Oblomow zu Boden blickte und schwieg. »Also ›nie‹?« »Was ›nie‹?« fragte Oblomow, als wüßte er nicht, worum es sich handelte. »Du hast schon vergessen: ›Jetzt oder nie!‹«. »Ich bin jetzt anders ... als ich damals war, Andrej!« sagte er endlich. »Meine Angelegenheiten sind Gott sei Dank in Ordnung. Ich liege nicht müßig da; mein Plan ist fast fertig, ich halte mir zwei Zeitschriften; ich habe die Bücher, die du mir zurückgelassen hast, fast alle gelesen ...« »Warum bist du denn nicht ins Ausland gekommen?« fragte Stolz. »An der Reise ins Ausland hat mich jemand verhindert ...« Er schwieg. »Oljga?« sagte Stolz, ihn bedeutungsvoll anblickend. Oblomow wurde blutrot. »Wie, ist es möglich, daß du das gehört hast ... Wo ist sie jetzt?« fragte er rasch, indem er Stolz anblickte. Stolz fuhr fort, ihm, ohne zu antworten, in die Augen zu schauen und drang tief in seine Seele ein. »Ich habe gehört, sie sei mit der Tante ins Ausland gereist«, sagte Oblomow, »gleich nachdem ...« »Nachdem sie ihren Irrtum eingesehen hat!« schloß Stolz. »Weißt du denn das? ...« fragte Oblomow und wußte nicht, wo er vor Verlegenheit hin sollte. »Alles«, sagte Stolz, »sogar von dem Fliederzweig. Und es tut dir nicht weh, du schämst dich nicht, Ilja? Nagt an dir keine Reue, kein Bedauern? ...« »Sprich nicht, erwähne das nicht!« unterbrach ihn Oblomow. »Ich bin erkrankt, als ich sah, welch ein Abgrund zwischen mir und ihr liegt, als ich mich davon überzeugte, daß ich ihrer nicht wert bin ... Ach, Andrej! Wenn du mich liebst, dann quäle mich nicht und erinnere mich nicht an sie. Ich habe sie längst auf ihren Irrtum hingewiesen, sie wollte mir nicht glauben ... meine Schuld ist wirklich nicht sehr groß ...« »Ich beschuldige dich ja nicht, Ilja!« fuhr Stolz freundschaftlich und weich fort. »Ich habe deinen Brief gelesen. Die meiste Schuld trage ich, dann sie und ganz zuletzt du, aber in sehr geringem Maße.« »Was ist mit ihr jetzt?« fragte Oblomow traurig. »Was? Sie trauert, weint unaufhörlich und flucht dir ...« Bei jedem Worte erschien auf Oblomows Gesicht Angst, Mitleid, Entsetzen und Reue. »Was sagst du, Andrej?« rief er aus, indem er sich erhob. »Fahren wir um Gottes willen gleich zu ihr, sofort! Ich werde ihr zu Füßen fallen und mir ihre Verzeihung erflehen ...« »Bleibe ruhig sitzen!« unterbrach ihn Stolz lachend. »Sie ist guter Laune, sogar glücklich, hat dich grüßen lassen und wollte dir schreiben; ich habe ihr aber davon abgeraten und habe gesagt, daß dich das aufregen würde.« »Gott sei Dank!« rief Oblomow fast mit Tränen aus. »Wie froh bin ich, Andrej, laß dich küssen, und wollen wir auf ihre Gesundheit trinken!« Sie leerten ein Glas Champagner. »Wo ist sie denn jetzt?« »Jetzt ist sie in der Schweiz. Zum Herbst fährt sie mit der Tante auf ihr Gut. Ich bin deswegen jetzt hier. Man muß sich noch für ihre Angelegenheiten verwenden. Der Baron hat den Prozeß nicht zu Ende geführt; es ist ihm eingefallen, um Oljgas Hand anzuhalten ...« »Ist's möglich? Das ist also doch wahr?« fragte Oblomow. »Nun, und was hat sie darauf erwidert?« »Sie hat ihn natürlich abgewiesen; er war gekränkt und ist abgereist, so daß ich jetzt die Sache zu Ende führen muß! Nächste Woche wird alles erledigt sein. Nun, wie geht es dir? Warum hast du dich in diese abgelegene Straße verkrochen?« »Hier ist es ruhig und still, Andrej; niemand stört ...« »Wobei?« »Bei der Arbeit ...« »Ich bitte dich, hier ist es ganz wie in Oblomowka, nur noch widerwärtiger!« sagte Stolz, um sich schauend. »Wollen wir aufs Gut fahren, Ilja?« »Aufs Gut ... vielleicht, dort beginnt man auch bald zu bauen; aber nicht so plötzlich, Andrej, laß es uns überlegen ...« »Wieder überlegen! Ich kenne dieses Überlegen; es wird so sein, wie mit deiner Reise ins Ausland vor zwei Jahren. Fahren wir nächste Woche hin.« »Wieso nächste Woche?« wehrte sich Oblomow. »Du bist frei, ich aber muß Vorbereitungen treffen ... ich habe meine ganze Wirtschaft hier; wie, soll ich das alles liegen und stehen lassen? Ich habe ja nichts.« »Du brauchst ja auch nichts. Was brauchst du denn?« Oblomow schwieg. »Es steht schlecht mit meiner Gesundheit, Andrej«, sagte er, »die Atemnot quält mich so. Dann kehren auch die Gerstenkörner immer wieder, bald auf dem einen und bald auf dem anderen Auge, und die Füße schwellen mir an. Wenn ich manchmal in der Nacht sehr fest schlafe, ist's plötzlich, als schlage mich jemand auf den Kopf oder den Rücken, so daß ich aufspringen muß ...« »Höre, Ilja, ich werde dir ganz ernsthaft sagen, daß du die Lebensweise verändern mußt, sonst bekommst du die Wassersucht oder den Schlagfluß. Mit den Hoffnungen auf die Zukunft ist es jetzt zu Ende. Wenn Oljga, dieser Engel, dich auf ihren Flügeln nicht aus deinem Sumpfe forttragen konnte, werde ich nichts mehr tun können. Aber du könntest und müßtest dir ein kleines Arbeitsfeld wählen, dir dein Gut einrichten, dich mit den Bauern und ihren Angelegenheiten abgeben, bauen und pflanzen ... Ich werde davon nicht abstehen. Jetzt erfülle ich nicht mehr meinen eigenen Wunsch, sondern Oljgas Willen; sie will es – hörst du? – Daß du nicht ganz stirbst und dich nicht lebend begraben läßt – und ich habe versprochen, dich aus dem Grabe herauszureißen ...« »Sie hat mich noch nicht vergessen! Bin ich es denn wert?« sagte Oblomow voll Empfindung. »Nein, sie hat nicht vergessen und wird wohl auch nie vergessen; das ist keine solche Frau. Du mußt noch zu ihr aufs Gut zu Besuch kommen.« »Aber nur nicht jetzt, um Gottes willen, nicht jetzt, Andrej! Laß mich vergessen. Ach, hier ist noch ...« Er zeigte aufs Herz. »Was ist da? Doch nicht Liebe?« »Nein, Scham und Traurigkeit!« antwortete Oblomow seufzend. »Nun gut! Wollen wir zu dir hinfahren? Du mußt ja jetzt bauen lassen; es ist Sommer, die wertvollste Zeit vergeht ...« »Nein, ich habe einen Bevollmächtigten. Er ist jetzt auf dem Gute, und ich kann auch später kommen, wenn ich mit allem fertig bin und mir alles überlegt habe.« Er begann vor Stolz damit zu prahlen, wie gut er, ohne sich vom Fleck zu rühren, seine Angelegenheiten geordnet habe, wie der Bevollmächtigte über die flüchtigen Bauern Erkundigungen einziehe, wie vorteilhaft er das Getreide verkaufe, daß er ihm anderthalb Tausend geschickt habe und in diesem Jahre wahrscheinlich auch die Abgaben einsammeln und schicken würde. Stolz schlug bei diesem Berichte die Hände zusammen. »Man hat dich bestohlen!« sagte er. »Anderthalb Tausend von dreihundert Seelen! Wer ist dieser Bevollmächtigte, was für ein Mensch?« »Mehr als anderthalb Tausend«, verbesserte sich Oblomow. »Er hat aus dem Erlös für das Getreide auch die Vergütung für seine Mühe erhalten ...« »Wieviel denn?« »Ich erinnere mich wirklich nicht; ich werde es dir aber zeigen; ich habe irgendwo eine Rechnung.« »Nun, Ilja! Du bist wirklich zugrunde gegangen und gestorben!« entschied er. »Zieh dich an und komm mit!« Oblomow wollte sich wehren, aber Stolz führte ihn fast gewaltsam in sein Zimmer, setzte eine Vollmacht auf seinen Namen auf, ließ dieselbe von Oblomow bestätigen und erklärte ihm, er selbst wolle Oblomowka so lange in Pacht nehmen, bis Oblomow persönlich aufs Gut kommen und sich an die Landwirtschaft gewöhnen würde. »Du wirst dreimal soviel bekommen«, sagte er, »aber ich werde nicht lange dein Pächter sein; ich habe meine eigenen Angelegenheiten. Komm jetzt aufs Gut mit oder folge mir bald nach. Ich werde auf Oljgas Gut sein; das befindet sich in einer Entfernung von dreihundert Werst von dem deinigen; ich werde hinfahren, den Bevollmächtigten fortjagen, alles anordnen, und dann kannst du selbst kommen. Ich werde dich nicht in Ruhe lassen.« Oblomow seufzte. »Ach, das Leben!« sagte er. »Was ist mit dem Leben?« »Es greift überall an, man hat keine Ruhe! Ich möchte mich hinlegen ... und für immer einschlafen ...« »Das heißt, du würdest das Licht auslöschen und im Dunkeln bleiben! Ein schönes Leben! Ach, Ilja! wenn du doch wenigstens ein wenig philosophieren würdest, wirklich! Das Leben wird wie ein Augenblick dahineilen, und du möchtest dich noch hinlegen und einschlafen. Es soll ein ewiges Flammen sein! Ach, wenn man zwei-, dreihundert Jahre leben könnte!« schloß er. »Was man da alles leisten könnte!« »Du bist etwas anders, Andrej!« entgegnete Oblomow. »Du hast Flügel, du lebst nicht, du fliegst, du bist begabt und ehrgeizig. Du bist nicht dick, leidest nicht an Gerstenkörnern und an Nackenjucken. Du bist ganz anders ...« »Aber laß das! Der Mensch ist so erschaffen, daß er sich selbst lenken und selbst seine Natur verändern kann, und du hast dir einen Bauch wachsen lassen und glaubst, daß die Natur dir diese Last auferlegt hat! Du hattest Flügel, du hast sie dir aber gestutzt.« »Wo sind denn die Flügel?« fragte Oblomow traurig. »Ich kann nichts ...« »Das heißt, du willst nichts können!« unterbrach ihn Stolz. »Es gibt keinen Menschen, der nicht irgend etwas versteht; das gibt es wirklich nicht!« »Ich kann aber nichts!« sagte Oblomow. »Wenn man dir zuhört, müßte man glauben, du könntest nicht einmal ein Papier an die Polizeiverwaltung und einen Brief an den Hausherrn schreiben. Du hast aber doch an Oljga geschrieben? Du hast darin ›welches‹ und ›daß‹ immer an richtiger Stelle angewendet. Da hat sich bei dir auch Atlaspapier und Tinte aus dem englischen Geschäft gefunden, und deine Handschrift ist darin so energisch, nicht wahr?« Oblomow errötete. »Als du es gebraucht hast, sind dir Gedanken und Ausdrücke eingefallen, wie man sie irgendwo in einem Roman drucken lassen könnte. Wenn aber keine Notwendigkeit vorliegt, kann man nichts, dann sehen die Augen nicht und sind die Hände schwach! Du hast dein Können schon in der Kindheit in Oblomowka, inmitten von Tanten, Kinderfrauen und Dienern eingebüßt. Du hast zuerst die Strümpfe nicht anzuziehen verstanden und hast damit geendet, daß du nicht zu leben verstehst.« »Das alles mag wahr sein, Andrej. Man kann aber nichts dagegen tun und das Leben nicht von vorne beginnen!« sagte Ilja, entschlossen aufseufzend. »Wieso kann man es nicht wieder beginnen!« entgegnete Stolz ärgerlich. »Welch ein Unsinn! Höre mir zu und tue, was ich sage, dann kannst du wieder zu leben beginnen!« Aber Stolz fuhr allein aufs Gut, und Oblomow blieb da und versprach, im Herbste hinzukommen. »Was soll ich Oljga sagen?« fragte Stolz Oblomow vor der Abreise. Oblomow senkte den Kopf und schwieg traurig; dann seufzte er. »Sag ihr nichts von mir!« antwortete er endlich verlegen. »Sag, daß du mich nicht gesehen und von mir nichts gehört hast ...« »Sie glaubt es nicht.« »Nun, dann sag ihr, daß ich zugrunde gegangen, gestorben und verschwunden bin ...« »Dann wird sie weinen und lange nicht zu trösten sein. Warum sollte man sie denn traurig machen?« Oblomow dachte gerührt nach; seine Augen waren feucht. »Nein, gut; ich werde lügen und ihr sagen, daß du in der Erinnerung an sie lebst«, schloß Stolz, »und nach einem ernsten, wahren Lebensziel suchst. Merke dir, daß das Leben selbst und die Arbeit das Ziel des Lebens ist, nicht aber ein Weib. Darin habt ihr euch beide geirrt. Wie froh sie sein wird!« Sie verabschiedeten sich voneinander. Drittes Kapitel Drittes Kapitel Tarantjew und Iwan Matwejewitsch trafen sich nach dem Iljatage wieder in der Kneipe. »Tee!« bestellte Iwan Matwejewitsch düster, und als der Kellner Tee und Rum brachte, schob er ihm ärgerlich die Flasche hin. »Das ist kein Rum, sondern es sind Nelken!« sagte er, nahm aus der Manteltasche seinen eigenen Rum heraus und ließ den Kellner diesen riechen. »Komm mir also nicht mehr mit deiner Flasche!« bemerkte er. »Was, Gevatter, es steht schlecht!« sagte er, als der Kellner fort war. »Ja, der Teufel hat ihn hergebracht!« entgegnete Tarantjew wütend. »Was für ein Schurke dieser Deutsche ist! Er hat die Vollmacht vernichtet und das Gut gepachtet! Das ist unerhört! Er wird sein Schäfchen aber gehörig ins trockene bringen.« »Ich fürchte, Gevatter, daß, wenn er sich in der Sache auskennt, dabei etwas herauskommen kann. Wenn er erfährt, daß die Abgaben eingesammelt sind und daß wir das Geld erhalten haben, kann er womöglich noch einen Prozeß anfangen ...« »Gleich einen Prozeß! Bist du aber ängstlich geworden, Gevatter! Es ist nicht das erstemal, daß Satjortij seine Finger nach fremdem Gelde ausstreckt, er versteht es, seine Spuren zu verwischen. Ich glaube, er gibt den Bauern keine Quittungen; er nimmt ihnen das Geld wohl unter vier Augen ab. Der Deutsche wird sich ärgern, wird schimpfen, und damit basta. Und du denkst gleich an einen Prozeß!« »Glaubst du wirklich?« fragte Muchojarow, Mut fassend, »nun wollen wir trinken.« Er schenkte sich und Tarantjew Rum ein. »Manchmal glaubt man, daß man auf der Welt gar nicht leben kann, wenn man aber trinkt, geht es doch noch weiter!« tröstete er sich. »Mache unterdessen Folgendes, Gevatter«, fuhr Tarantjew fort, »stelle irgendwelche Rechnungen auf, welche du willst, für Holz, für Kraut, nur für irgend etwas, Oblomow hat ja jetzt die Wirtschaft deiner Schwester übergeben, und füge die Summe den übrigen Ausgaben an. Und wenn Satjortij kommt, werden wir sagen, daß er so und so viel Abgabegelder gebraucht hat und daß wir damit die Ausgaben für Oblomow gedeckt haben.« »Wenn er aber die Rechnungen nimmt und sie dem Deutschen zeigt, dann könnte die Sache doch ans Licht kommen ...« »Aber nein! Er steckt sie irgendwohin, und der Teufel selbst findet sie dann nicht. Und bis der Deutsche kommt, ist alles längst vergessen ...« »Wirklich? Trinken wir, Gevatter«, sagte Iwan Matwejewitsch, den Rum in Weingläser einschenkend, »es ist schade, das mit Tee zu verdünnen. Rieche einmal; drei Rubel. Wollen wir uns nicht etwas zu essen bestellen?« »Das könnte man.« »Kellner!« »Aber was das für ein Schurke ist! ›Ich nehm's in Pacht‹, sagt er«, begann Tarantjew wieder wütend, »uns Russen würde so etwas nie einfallen! Diese Einrichtung riecht gleich nach etwas Deutschem. Dort haben sie lauter Farmen und Pachtgüter. Wart nur, er wird ihm dann noch mit Aktien heimleuchten.« »Was sind denn das, Aktien? Ich kenne mich damit gar nicht aus«, fragte Iwan Matwejewitsch. »Eine deutsche Erfindung!« sagte Tarantjew zornig, »das ist so: Ein Schwindler erfindet, wie man feuersichere Häuser baut, und übernimmt es, eine Stadt zu bauen; er braucht Geld, da läßt er Papiere, sagen wir zu je fünfhundert Rubel, erscheinen, und die Dummköpfe kaufen und verkaufen sie einander. Wenn Gerüchte entstehen, daß das Unternehmen gut geht, steigen die Papiere im Preise, wenn es schlecht geht, kracht das Ganze. Man behält dann die Papiere, aber kein Geld. Wenn man frägt, wo die Stadt ist, bekommt man zur Antwort, daß sie verbrannt ist und nicht fertig gebaut wurde, und der Erfinder hat sich unterdessen mit dem Geld aus dem Staube gemacht. Das sind Aktien! Der Deutsche wird ihn schon hineinverwickeln! Ich wundere mich nur, daß er das noch bis jetzt nicht getan hat! Ich hab' ihn immer daran gehindert und habe dem Landsmann Wohltaten erwiesen!« »Ja, jetzt ist's aus; die Sache ist zu Ende und dem Archiv übergeben worden, jetzt haben wir zum letztenmal Geld aus Oblomowka bekommen ...« sagte Muchojarow ein wenig benebelt. »Daß ihn der Teufel hol! Du hast ja so viel Geld, daß man darin mit einer Schaufel wühlen kann«, entgegnete Tarantjew, auch ein wenig im Dusel; »du hast eine sichere Quelle, schöpfe daraus, solange du nicht müde bist. Trinken wir!« »Was ist das für eine Quelle, Gevatter? Man sammelt das ganze Leben und kann nur immer einen Rubel oder einen Dreirubelschein einstecken ...« »Du sammelst doch aber schon zwanzig Jahre, Gevatter, versündige dich nicht!« »Aber was fällt dir ein!« entgegnete Iwan Matwejewitsch mit lallender Stimme, »du vergißt, daß ich erst seit zehn Jahren Sekretär bin. Und früher haben nur Zehn- und Zwanzigkopekenstücke in meiner Tasche geklimpert, und manchmal mußte ich, ich schäme mich, es zu sagen, Kupfermünzen sammeln. Was ist das für ein Leben! Ach, Gevatter! Was für glückliche Menschen es auf der Welt gibt, die dafür, daß sie nur ein Wort ins Ohr flüstern oder eine Zeile diktieren oder einfach ihren Namen auf ein Papier schreiben, plötzlich eine Geschwulst wie ein Kissen in ihrer Tasche bekommen, so daß sie sich darauf schlafen legen könnten! Ja, wenn man so arbeiten könnte«, träumte er, immer betrunkener werdend, »die Bittsteller sehen solche Leute gar nicht persönlich und wagen es nicht, an sie heranzutreten. Er steigt in den Wagen und ruft ›in den Klub!‹, dort drücken ihm ganz mit Orden behängte Leute die Hand, das Spiel dreht sich nicht um fünf Kopeken. Und wie er zu Mittag speist – ach! Er würde sich schämen, über unsere Gerichte zu sprechen; da würde er die Stirn furchen und ausspucken. Im Winter essen sie junge Hühner, im April werden Erdbeeren gereicht! Zu Hause geht die Frau in Spitzen herum, die Kinder haben eine Gouvernante, sind schön gekleidet und frisiert. Ach, Gevatter, es gibt ein Paradies, doch die Sünden sind zu groß! Trinken wir. Da bringt man das Essen!« »Klage nicht, Gevatter, versündige dich nicht; du hast ein schönes Kapital ...« sagte der gänzlich betrunkene Tarantjew mit blutroten Augen, »fünfunddreißig Tausend in Silber, das ist kein Spaß!« »Still, still, Gevatter!« unterbrach ihn Iwan Matwejewitsch, »was hat man von fünfunddreißig Tausend, wann bringt man es aber bis auf fünfzig Tausend? Man kommt auch mit fünfzig Tausend noch nicht ins Paradies. Wenn man heiratet, muß man vorsichtig leben, jeden Rubel zählen, den Rum ganz vergessen, was ist das für ein Leben!« »Dafür lebt man ruhig, Gevatter; bald ist's ein Rubel, bald sind's zwei, und ehe man sich's versieht, hat man im Tag sieben Rubel zurückgelegt. Wenn man aber manchmal seinen Namen unter etwas Großes setzt, kann man ihn dann sein Leben lang mit seinen Seiten fortwetzen. Nein, Bruder, versündige dich nicht!« Iwan Matwejewitsch hörte nicht zu und überlegte sich längst etwas. »Hör einmal«, begann er plötzlich, die Augen weit aufreißend und sich so freuend, daß sein Rausch fast verging, »oder nein, ich fürchte mich und sage es nicht, ich werde einen solchen Vogel nicht aus meinem Kopf fortfliegen lassen. Das ist ja ein wahrer Schatz ... Trinken wir, Gevatter, trinken wir schnell!« »Ich werde nicht trinken, bevor du es mir nicht erzählst«, sagte Tarantjew, das Glas fortschiebend. »Es ist eine wichtige Sache, Gevatter ...« flüsterte Muchojarow, auf die Tür schauend. »Nun? ...« fragte Tarantjew ungeduldig. »Was mir da eingefallen ist. Weißt du was, Gevatter, das ist dasselbe, wie wenn man irgend etwas Großes unterschreibt, bei Gott, es ist so!« »Aber was denn, wirst du es mir sagen?« »Und was man da zurücklegen kann!« »Nun?« trieb Tarantjew ihn an. »Wart, laß mich noch nachdenken. Ja, da braucht man aber nichts zu streichen, das ist gesetzlich. Also gut, Gevatter, ich sage es dir nur darum, weil ich dich dabei brauche; ohne dich geht es schlecht. Sonst hätte ich's dir, bei Gott, nicht gesagt; das ist nicht so etwas, das man anderen anvertraut.« »Bin ich denn für dich ein anderer, Gevatter? Mir scheint, ich habe dir mehr als einmal Gefälligkeiten erwiesen, ich bin dein Zeuge gewesen und habe dir die Kopien geschrieben ... weißt du's nicht mehr, du Schwein!« »Gevatter, Gevatter, halte deine Zunge im Zaum. Was du für einer bist, du läßt ja alles wie aus einer Kanone herausschießen!« »Wer hört es denn hier? Weiß ich denn nicht, was ich tue?« sagte Tarantjew ärgerlich. »Warum quälst du mich? Also sprich.« »Nun, höre zu, Ilja Iljitsch ist ja sehr ängstlich und kennt gar keine Gesetze, damals beim Kontrakt hatte er ganz den Kopf verloren, als man die Vollmacht geschickt hat, wußte er nicht, was er beginnen sollte, er hatte sogar vergessen, wieviel er an Abgaben zu bekommen hat, er sagte selbst, ›ich weiß nichts‹ ...« »Nun?« fragte Tarantjew ungeduldig. »Also er hat es sich angewöhnt, sehr oft zur Schwester zu kommen. Neulich ist er bis ein Uhr dort sitzen geblieben, und als er dann im Vorzimmer mit mir zusammengestoßen ist, hat er sich den Anschein gegeben, mich nicht zu sehen. Wir wollen also noch abwarten, was geschieht, und dann ... Sag ihm gelegentlich, daß es häßlich ist, Schande ins Haus zu bringen, daß sie eine Witwe ist, sag, daß man es erfahren hat und daß sie jetzt nicht heiraten kann, ein reicher Kaufmann hätte um sie angehalten, jetzt wüßte er aber, daß er des Abends bei ihr sitzt, und wolle nicht mehr.« »Nun, was kommt denn dabei heraus? Er wird erschrecken, sich aufs Bett legen und sich wie ein Eber darin herumwälzen und seufzen, das ist alles!« sagte Tarantjew. »Was werden wir denn davon haben, was kann man sich dabei zurücklegen?« »Bist du aber einer! Du wirst ihm sagen, daß ich ihn verklagen will, daß man ihm aufgelauert hat, daß Zeugen da sind ...« »Nun?« »Und wenn er sehr erschrickt, dann sage ihm, daß ich auf einen Ausgleich eingehen würde, wenn er ein kleines Kapital hergibt.« »Wo ist denn sein Geld?« fragte Tarantjew, »er verspricht ja alles vor lauter Angst, sogar zehntausend ...« »Blinzle mir nur zu, dann stelle ich einen Schuldschein aus ... auf den Namen der Schwester: ›Ich, Oblomow, habe bei der Witwe Soundso zehntausend Rubel geliehen bis zu dem und dem Datum usw.‹« »Was haben wir denn davon, Gevatter? Ich verstehe dich nicht, das Geld geht dann zu der Schwester und den Kindern über. Wo ist dann unser Verdienst?« »Und die Schwester gibt mir einen Schuldschein auf dieselbe Summe; ich laß ihn von ihr unterschreiben.« »Wenn sie aber darauf besteht und nicht unterschreibt?« »Die Schwester?« Und Iwan Matwejewitsch brach in ein dünnes Gelächter aus. »Sie unterschreibt schon, Gevatter, sie würde sogar ihr Todesurteil unterschreiben, ohne zu fragen, was es sei, und nur lächeln. Sie setzt schief ›Agafja Pschenizin‹ darunter und wird nie erfahren, was sie unterschrieben hat. Siehst du, wir sind also gar nicht bloßgestellt; die Schwester hat den Kollegiensekretär Oblomow und ich die Frau des Kollegiensekretärs Pschenizin zum Schuldner. Der Deutsche kann wüten, soviel er will, die Sache ist gesetzlich!« sagte er, die zitternden Hände in die Höhe haltend. »Trinken wir, Gevatter!« »Die Sache ist gesetzlich!« sagte Tarantjew entzückt, »trinken wir.« »Und wenn alles gut geht, kann man es in zwei Jahren wiederholen; es ist eine gesetzliche Sache!« »Eine ganz gesetzliche!« erklärte Tarantjew, beifällig nickend, »wollen wir auch dann wiederholen!« »Wiederholen!« Und sie tranken. »Wenn dein Landsmann sich nur nicht wehrt und dem Deutschen schreibt«, bemerkte Muchojarow ängstlich, »dann steht es schlimm, Bruder! Man kann keine Klage gegen ihn erheben, sie ist eine Witwe und kein Mädchen!« »Er wird schreiben! Gewiß wird er schreiben!« sagte Tarantjew. »So in zwei Jahren. Und wenn er sich wehrt, dann schimpfe ich ...« »Nein, nein, Gott behüte! Dann verdirbst du alles, Gevatter. Er wird sagen, man hätte ihn gezwungen, wird vielleicht noch etwas von Schlägen erwähnen, dann ist es ein Kriminalprozeß. Nein, das taugt nicht! Man kann es aber anders machen. Zuerst mit ihm essen und trinken; er liebt Johannisbeerschnaps. Sowie er ein wenig benebelt ist, gibst du mir ein Zeichen, und ich komme mit dem Schein herein. Er wird sich die Summe gar nicht anschauen und wird wie damals den Kontrakt unterschreiben; wenn die Sache dann aber vom Notar bestätigt ist, kann er nichts mehr machen! Dieser Edelmann wird sich schämen einzugestehen, daß er in betrunkenem Zustand unterschrieben hat; eine gesetzliche Sache!« »Eine gesetzliche Sache!« wiederholte Tarantjew. »Oblomowka wird dann den Erben zufallen.« »Gewiß! Trinken wir, Gevatter.« »Auf das Wohl der Tölpel!« sagte Iwan Matwejewitsch. Sie tranken. Viertes Kapitel Viertes Kapitel Wir müssen uns jetzt in die Zeit vor der Ankunft von Stolz an Oblomows Namenstag und in einen anderen Ort, weit von der Wiborgskajastraße entfernt, versetzen. Dort treffen wir bekannte Personen, von denen Stolz Oblomow nicht alles, was er wußte, erzählt hatte, vielleicht weil er seine Gründe dafür hatte oder weil Oblomow ihn nicht über alles diesbezüglich ausfragte, wofür er gewiß auch seine Gründe hatte. Eines Tages schritt Stolz in Paris über einen Boulevard, betrachtete zerstreut die Passanten und die Aushängeschilder, ohne die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Er hatte lange keine Briefe aus Rußland erhalten, weder aus Kiew noch aus Odessa noch aus Petersburg. Er langweilte sich, er trug drei Briefe auf die Post und wollte nach Hause zurückkehren. Plötzlich blieben seine Augen reglos und erstaunt an etwas haften, nahmen dann aber wieder ihren gewohnten Ausdruck an. Zwei Damen bogen vom Boulevard ab und traten in ein Geschäft. »Nein, das ist unmöglich; welch ein Gedanke! Ich müßte es ja wissen! Das sind sie nicht.« Er trat aber trotzdem an das Fenster dieses Geschäftes und betrachtete die Damen durch die Scheiben hindurch. »Man kann nichts sehen; sie kehren dem Fenster den Rücken zu.« Stolz trat in das Geschäft und verlangte etwas. Eine der Damen wandte sich dem Licht zu, er erkannte Oljga Iljinskaja und erkannte sie zugleich nicht! Er wollte zu ihr hineilen, blieb aber stehen und begann sie forschend zu betrachten. Mein Gott! Welch eine Veränderung! Das war zugleich sie und nicht sie. Es waren ihre Züge, aber sie war bleich, ihre Augen erschienen ein wenig eingefallen, und es war kein kindliches, naives, sorgloses Lächeln mehr auf ihren Lippen. Über den Brauen schwebte ein ernster, trauriger Gedanke, die Augen sprachen über vieles, was ihnen früher unbekannt war und worüber sie früher nicht gesprochen hatten. Sie hatte nicht mehr den früheren offenen, hellen, ruhigen Blick; über dem ganzen Gesicht lag ein Nebelschleier von Traurigkeit. Er kam auf sie zu. Sie runzelte ein wenig die Brauen und blickte ihn einen Augenblick lang erstaunt an, dann erkannte sie ihn. Die Stirn glättete sich, die Brauen legten sich symmetrisch hin, die Augen erglänzten in stiller, nicht stürmischer, aber tiefer Freude. Jeder Bruder wäre froh gewesen, wenn eine geliebte Schwester sich über ihn so erfreut gezeigt hätte. »Mein Gott! Sind Sie es!« sagte sie mit zu Herzen dringender, rührend freudiger Stimme. Die Tante wandte sich schnell um, und sie begannen alle drei zugleich zu sprechen. Er warf ihnen vor, daß sie ihm nicht früher geschrieben hatten; sie suchten sich zu rechtfertigen. Sie waren erst seit drei Tagen da und suchten ihn überall. Jemand hatte ihnen gesagt, er wäre nach Lyon verreist, und sie wußten nicht, was sie tun sollten. »Wie ist es Ihnen nur eingefallen zu reisen? Und Sie haben mir kein Wort davon geschrieben!« warf er ihnen wieder vor. »Wir haben die Reise so schnell beschlossen, daß wir Ihnen nicht schreiben konnten«, sagte die Tante, »Oljga wollte Sie überraschen.« Er blickte Oljga an; ihr Gesicht bestätigte nicht die Worte der Tante. Er blickte sie noch forschender an, doch sie war unergründlich und seiner Beobachtung unzugänglich. Was ist mit ihr? dachte Stolz, ich habe sie sonst auf den ersten Blick verstanden, und jetzt ... welch eine Veränderung! »Wie gereift und wie gewachsen Sie sind, Oljga Sjergejewna!« sprach er. »Ich erkenne Sie nicht! Und wir haben uns kaum ein Jahr nicht gesehen. Was haben Sie getan, was war mit Ihnen? Erzählen Sie, erzählen Sie!« »Ja ... nichts Besonderes«, sagte sie, einen Stoff betrachtend. »Was ist mit Ihrem Gesang?« fragte Stolz, die für ihn neue Oljga betrachtend und das ihm unbekannte Spiel ihrer Gesichtszüge studierend, doch dieses Spiel brach hervor und verschwand wie ein Blitz. »Ich habe schon lange nicht mehr gesungen, schon seit zwei Monaten nicht mehr«, sagte sie nachlässig. »Und was ist mit Oblomow?« fragte er plötzlich. »Lebt er? Er schreibt nicht.« Jetzt hätte Oljga vielleicht unwillkürlich ihr Geheimnis verraten, wenn die Tante ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre. »Denken Sie sich«, sagte sie, aus dem Geschäft heraustretend, »er hat uns täglich besucht und ist dann verschwunden. Als wir ins Ausland reisen wollten, habe ich zu ihm hingeschickt – man hat sagen lassen, er sei krank und empfange niemand, wir haben uns also nicht mehr gesehen.« »Und auch Sie wissen nichts?« fragte Stolz besorgt Oljga. Oljga betrachtete eingehend einen vorüberfahrenden Wagen durch ihr Lorgnon. »Er ist tatsächlich erkrankt«, sagte sie, mit geheuchelter Aufmerksamkeit dem Wagen folgend. »Schauen Sie, ma tante, mir scheint, unsere Reisegefährten sind vorübergefahren!« »Nein, erzählen Sie mir genau von meinem Ilja«, ließ Stolz nicht ab. »Was haben Sie mit ihm getan? Warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?« »Mais ma tante vient de dire«, sagte sie. »Er ist furchtbar träge«, bemerkte die Tante, »und dann ist er so menschenscheu; sowie drei, vier Personen zu uns kommen, geht er gleich fort. Denken Sie sich, er hat ein Abonnement in die Oper genommen und hat nicht einmal die Hälfte der Opern besucht.« »Er hat Rossini nicht gehört«, fügte Oljga hinzu. Stolz schüttelte den Kopf und seufzte. »Weshalb haben Sie zu reisen beschlossen? Für lange? Wie ist es Ihnen plötzlich eingefallen?« fragte er. »Ihretwegen, auf den Rat des Arztes hin«, sagte die Tante, auf Oljga zeigend. »Petersburg hat ihr schlecht behagt, und wir sind für den Winter fortgereist, wir haben aber noch keine Entscheidung getroffen, wo wir ihn verbringen werden. In Nizza oder in der Schweiz.« »Ja, Sie haben sich sehr verändert«, sagte Stolz, sinnend Oljga in die Augen blickend. Iljinskys brachten ein halbes Jahr in Paris zu, und Stolz war ihr einziger täglicher Gesellschafter und Führer, Oljga begann sich merklich zu erholen; sie ging von ihrer Nachdenklichkeit zu Ruhe und Gleichgültigkeit über, wenigstens äußerlich. Was in ihrem Innern vorging, wußte niemand, doch sie wurde nach und nach wieder zu Stolz' Freundin, wenn sie auch nicht mehr ihr früheres lautes, kindliches, silberhelles Lachen besaß, sondern nur zurückhaltend lächelte, wenn Stolz ihr etwas Komisches erzählte. Sie schien sich manchmal sogar darüber zu ärgern, daß sie lachen mußte. Er merkte es sofort, daß sie nicht mehr zum Lachen zu bringen war. Manchmal hörte sie seinen komischen Bemerkungen mit unsymmetrisch liegenden Augenbrauen und mit einer Falte auf der Stirn ohne ein Lächeln zu, blickte ihn dann schweigend an, als wäre sie ungeduldig oder als werfe sie ihm seinen Leichtsinn vor, und richtete an ihn plötzlich, statt seinen Witz zu beantworten, eine tiefgehende Frage, die sie mit einem so beharrlichen Blick begleitete, daß er sich seiner nachlässigen, leeren Worte schämte. Manchmal äußerte sich in ihr eine solche innere Ermüdung von dem täglichen Trubel und leeren Geplauder der Menschen, daß Stolz sich plötzlich einer anderen Sphäre zuwenden mußte, die er sonst selten und ungern im Gespräch mit Frauen berührte. Wieviel Geist, Spitzfindigkeit und Anstrengung mußte er anwenden, damit Oljgas tiefer, fragender Blick sich klärte und beruhigte, nicht länger dürstete und nicht nach etwas in der Ferne an ihm vorbei suchte! Wie regte es ihn auf, wenn ihr Blick bei einer nachlässigen Erklärung trocken und streng wurde, wenn die Brauen sich zusammenzogen und der Schatten einer tiefen, wenn auch unausgesprochenen Unzufriedenheit sich über ihr Gesicht breitete. Und er mußte zwei, drei Tage lang die feinsten Fähigkeiten seines Geistes, selbst List und Leidenschaft und sein ganzes Verständnis, mit Frauen umzugehen, anwenden, um mit Mühe allmählich einen Widerschein von Frieden und sanfter Resignation aus Oljgas Herzen auf ihr Gesicht, in ihren Blick und ihr Lächeln zu locken. Er kehrte manchmal von diesem Kampf ermattet abends nach Hause zurück und war glücklich, wenn er Sieger blieb. »O Gott, wie reif ist sie geworden! Wie dieses Mädchen sich entwickelt hat! Wer war denn ihr Lehrer? Wo hat sie das Leben erlernt? Beim Baron? Aus seinen glatten, geckenhaften Phrasen ist nichts zu schöpfen. Doch nicht bei Ilja! ...« Und er konnte Oljga nicht begreifen, kam am nächsten Tag wieder zu ihr, las dann vorsichtig und ängstlich in ihrem Gesicht, wobei er oft in Verlegenheit geriet und nur mit Zuhilfenahme seiner ganzen Vernunft und Lebenskenntnis die Fragen, Zweifel und Forderungen besiegte – alles das, was sich in Oljgas Zügen widerspiegelte. Er begab sich mit der Fackel der Erfahrung in den Händen in das Labyrinth ihres Verstandes und Gemütes und entdeckte und studierte täglich neue Züge und neue Tatsachen, ohne noch den Grund zu entdecken, und verfolgte nur erstaunt und beunruhigt, wie ihr Geist täglich neue Nahrung verlangte und ihre Seele ohne Unterlaß nach Erfahrungen und Betägigung suchte. Dem ganzen Leben und der Tätigkeit von Stolz gesellte sich mit jedem Tage ein anderes Leben und eine andere Tätigkeit hinzu; nachdem er Oljga mit Blumen umringt hatte, nachdem er sie mit Büchern, Noten und Albums versorgt hatte, beruhigte sich Stolz, da er die freie Zeit seiner Freundin für genügend ausgefüllt hielt, und ging arbeiten oder fuhr irgendein Bergwerk oder ein mustergültiges Gut besichtigen, oder er ging in Gesellschaft, um mit neuen hervorragenden Menschen bekannt zu werden; dann kehrte er müde zu ihr zurück, wollte sich ans Klavier setzen und den Tönen ihrer Stimme lauschen. Statt dessen sah er aber auf ihrem Gesicht schon neue Fragen und in ihrem Blick ein beharrliches Verlangen nach Aufklärung auftauchen. Und er gab ihr unmerklich und unwillkürlich nach und nach Rechenschaft darüber, was er besichtigt hatte und weshalb er es getan hatte. Manchmal äußerte sie den Wunsch, das, was er gesehen und erfahren hatte, selbst zu sehen und zu erfahren. Und er wiederholte seine Arbeit und fuhr mit ihr, um ein Gebäude, eine Gegend, eine Maschine zu besichtigen oder eine alte Begebenheit von den Mauern und Steinen abzulesen. Er hatte sich allmählich unmerklich daran gewöhnt, in ihrer Anwesenheit laut zu denken und zu fühlen, und erfuhr, als er sich eines Tages streng prüfte, daß er nicht mehr allein, sondern zu zweien lebte und daß er dieses Leben seit dem Tage von Oljgas Ankunft führte. Er schätzte vor ihr wie vor sich selbst fast unbewußt die von ihm erworbenen Schätze ab und wunderte sich über sich und über sie; dann prüfte er sorgfältig, ob in ihrem Blick keine Frage zurückblieb, ob das Leuchten des befriedigten Geistes sich über ihr Gesicht verbreitete und ob ihr Blick ihm wie einem Sieger das Geleite gab. Wenn das geschah, ging er stolz und voller Aufregung nach Hause und bereitete sich in der Nacht lange Zeit heimlich für morgen vor. Die langweiligsten Arbeiten erschienen ihm nicht trocken, sondern nur notwendig; sie näherten ihn dem Innern des Lebensgewebes. Die Gedanken, die Beobachtungen und Erlebnisse wurden nicht schweigend dem Archiv des Gedächtnisses einverleibt, sondern hauchten jedem Tag glühende Farben ein. Wie glühte Oljgas bleiches Gesicht, wenn er, ohne ihren fragenden, düsteren Blick abzuwarten, vor ihr voll Feuer und Energie den neuen Vorrat, das neue Material ausbreitete! Und wie vollkommen glücklich war er, wenn ihr Geist voll Aufmerksamkeit und anmutiger Demut sich seinen Blick und jedes Wort aufzufangen beeilte und sie beide wachsam aufpaßten: er, ob in ihren Augen keine Frage zurückblieb, und sie, ob in ihm nicht noch etwas Ungesagtes verborgen war, ob er nicht etwas vergessen hatte, und vor allem, ob er es nicht für nötig hielt, ihr irgendeinen dunkeln, für sie schwer zugänglichen Punkt zu erwähnen und ihr seine Gedanken zu erläutern. Je wichtiger und komplizierter die Frage war, je aufmerksamer er sie in dieselbe einführte, desto länger und forschender ruhte ihr dankbarer Blick auf ihm und desto wärmer, tiefer und dankbarer wurde er. Oljga, dieses Kind, wächst mir über den Kopf! dachte er erstaunt. Er dachte über Oljga so viel nach, wie er noch nie über etwas nachgedacht hatte. Im Frühjahr reisten sie alle in die Schweiz. Stolz hatte noch in Paris eingesehen, er könne von nun an nicht mehr ohne Oljga leben. Nachdem er diese Frage gelöst hatte, begann er zu überlegen, ob Oljga ohne ihn leben könne. Doch diese Frage war nicht so leicht zu beantworten. Er nahm sie langsam, allmählich und vorsichtig in Angriff, ging bald tastend, bald kühn vorwärts und glaubte sich schon nahe am Ziele, er mußte nur noch ein unzweifelhaftes Symptom, einen Blick, ein Wort, eine Regung der Langeweile oder der Freude erhaschen; es fehlte ihm noch eine kleine Linie, eine kaum merkliche Bewegung von Oljgas Augenbrauen, ein Seufzer, und morgen würde das Geheimnis gelöst werden! Er wurde geliebt! Auf ihrem Gesichte las er ein kindliches Vertrauen zu ihm; sie blickte ihn manchmal so an, wie sie es sonst niemand gegenüber tat und wie sie nur eine Mutter anblicken würde, wenn sie eine hätte. Sein Kommen, der Umstand, daß er ihr seine freie Zeit und ganze Tage widmete, wurde von ihr nicht als ein Gefallen, als eine schmeichelhafte Äußerung von Liebe und als eine Liebenswürdigkeit, sondern einfach als eine Pflicht angesehen, als wäre er ihr Bruder, ihr Vater und sogar ihr Gatte; und das war viel, das war alles. Sie war mit ihm in jeder Äußerung und jedem Schritte so offen und aufrichtig, als ob seine Worte für sie eine unbestreitbare Bedeutung hätten und sie seine Autorität anerkannte. Er wußte auch, daß er diese Autorität besaß; sie bestätigte das jeden Augenblick, sagte, daß sie nur ihm glaubte und sich im Leben auf ihn allein und sonst auf niemand blind verlassen könnte. Das machte ihn natürlich stolz, doch darauf hätte ja auch irgendein älterer, kluger und erfahrener Onkel und sogar der Baron stolz sein können, wenn er ein Mensch von tiefem Verstande und von Charakter gewesen wäre. Es blieb aber eine ungelöste Frage, ob das ein Symptom von Liebe war! Gesellte sich diesem Glauben an die Autorität ein wenig von dem berückenden Selbstbetrug, von jener schmeichelhaften Verblendung hinzu, bei der die Frau bereit ist, sich auf eine grausame Weise zu irren und durch diesen Irrtum glücklich zu sein? ... Nein, sie fügte sich ihm so bewußt. Es ist wahr, ihre Augen leuchteten, wenn er ihr irgendeinen Gedanken entwickelte oder seine Seele vor ihr bloßlegte; sie überflutete ihn mit den Strahlen ihres Blickes, aber man sah stets die Ursache. Und in der Liebe wird ein Verdienst blind und unbewußt anerkannt, und gerade in dieser Blindheit und Unbewegtheit liegt das Glück. Wenn sie gekränkt war, sah man gleich den Grund. Er ertappte sie nie auf einem plötzlichen Erröten, auf einer Freude oder Angst und fing niemals einen sehnsuchtsvollen oder flammenden Blick bei ihr auf, und wenn er irgend etwas Ähnliches zu erhaschen glaubte, wenn es ihm schien, ihr Gesicht hätte sich vor Schmerz verzerrt, als er ihr sagte, er würde nächstens nach Italien reisen, wenn sein Herz in diesen ihm teuren, seltenen Augenblicken zu erstarren und sich mit Blut zu füllen begann, verhüllte sich alles wieder in einen Schleier, und sie fügte naiv und offen hinzu: »Wie schade, daß ich mit Ihnen nicht hinreisen kann, ich hätte so große Lust! Sie werden mir aber alles erzählen und so wiedergeben, als ob ich selbst dort gewesen wäre.« Und der Zauber wurde durch diesen offenen, vor ihm nicht verheimlichten Wunsch und durch dieses förmliche, banale Lob für sein Erzählertalent zerstört. Sowie er die kleinsten Züge gesammelt hatte, sowie es ihm gelungen war, das feine Gewebe fertigzustellen und ihm nur mehr irgendeine Masche fehlte, die er jetzt gleich haben würde ... wurde sie plötzlich wieder ruhig, gleichmäßig, einfach und manchmal sogar kalt. Sie saß mit ihrer Handarbeit schweigend da, hörte zu, indem sie ab und zu den Kopf hob und auf ihn so neugierige, fragende und sachliche Blicke richtete, daß er mehr als einmal ärgerlich das Buch fortwarf oder irgendeine Erklärung abbrach, aufsprang und fortging. Wenn er sich umwandte, begegnete er ihrem erstaunten Blick und kehrte um, nachdem er sich irgend etwas zu seiner Entschuldigung ausgedacht hatte. Sie hörte einfach zu und glaubte ihm. Sie hatte nicht einmal einen Zweifel oder ein schelmisches Lächeln. Liebt sie oder liebt sie nicht? Diese zwei Fragen wechselten in ihm immer ab. Wenn sie liebte, warum war sie dann so vorsichtig, so verschlossen? Wenn sie nicht liebte, warum war sie so freundlich und gehorsam? Er fuhr für eine Woche aus Paris nach London und teilte ihr das am Tage der Abreise mit, ohne ihr vorher etwas davon gesagt zu haben. Wenn sie plötzlich erschrocken wäre und die Farbe gewechselt hätte, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen, das Geheimnis hätte vor ihm offen gelegen und er wäre glücklich gewesen! Sie drückte ihm aber fest die Hand und wurde traurig; er war verzweifelt. »Ich werde mich schrecklich langweilen«, sagte sie, »ich möchte weinen, ich bin jetzt wie eine Waise. Ma tante, schauen Sie, Andrej Iwanowitsch verreist!« fügte sie weinerlich hinzu. Er war ganz verstimmt. Sie wendet sich sogar an die Tante! dachte er, das hatte noch gefehlt! Ich sehe, daß es ihr leid tut, daß sie mich vielleicht lieb hat ... Aber diese Liebe kann man wie Ware auf dem Markte, in soundso viel Zeit, für eine gewisse Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit kaufen ... Ich kehre nicht zurück, dachte er düster. Ich danke schön, Oljga, dieses Mädchen, das mir sonst immer wie am Schnürchen folgte. Was ist mit ihr? Er versenkte sich in tiefes Sinnen. Was war mit ihr? Ihm war das eine Detail unbekannt, daß sie schon einmal geliebt hatte und daß die Zeit, da man sich nicht beherrschen kann, da man plötzlich errötet, da man den Schmerz im Herzen schlecht verbergen kann, da man die fieberhaften Anzeichen der Liebe in ihrem ersten leidenschaftlichen Stadium äußert, für sie schon vorüber war. Wenn er das gewußt hätte, würde er sich, wenn nicht das Geheimnis, ob sie ihn liebte oder nicht, so doch wenigstens die Ursache, warum sie so schwer zu ergründen war, klargemacht haben. In der Schweiz waren sie überall, wohin die Vergnügungsreisenden hinzukommen pflegen. Sie hielten sich aber am liebsten und häufigsten in den stillen Orten auf, die wenig besucht wurden. Sie (oder wenigstens Stolz) waren von ihren eigenen Angelegenheiten so in Anspruch genommen, daß das Reisen sie ermüdete und in den Hintergrund geschoben wurde. Er ging mit ihr auf die Berge, sah sich die Abstürze und Wasserfälle an, und sie war für ihn in jedem Rahmen der Mittelpunkt. Er folgte ihr über irgendeinen schmalen Pfad, während die Tante unten im Wagen saß; er beobachtete sie mit heimlicher Spannung, wenn sie stehenblieb, nachdem sie den Berg erklommen hatte, Atem holte und immer zuerst ihn anblickte; er hatte diese Überzeugung gewonnen. Das wäre sehr schön gewesen; ihm wurde dabei warm und wohl ums Herz, doch dann wandte sie sich plötzlich der Landschaft zu, erstarrte, vergaß sich in einem beschaulichen Hindämmern und sah ihn nicht mehr. Sowie er sich bewegte, ein Lebenszeichen von sich gab oder ein Wort sprach, erschrak sie und schrie manchmal auf; es war klar, daß sie vergessen hatte, ob er in der Nähe oder weit entfernt, ja, ob er überhaupt auf der Welt war. Aber dafür zu Hause, am Fenster, auf dem Balkon, sprach sie lange mit ihm allein, suchte lange aus ihrer Seele die empfangenen Eindrücke hervor, bis sie sich ganz ausgesprochen hatte; sie sprach eifrig und leidenschaftlich, unterbrach sich manchmal, suchte nach einem Wort und fing den von ihm vorgesagten Ausdruck im Fluge auf, und in ihrem Blick leuchtete ein Strahl von Dankbarkeit für die geleistete Hilfe. Oder sie setzte sich bleich vor Müdigkeit in einen großen Lehnstuhl, und nur ihre gierigen, unermüdlichen Augen sagten ihm, daß sie ihm zuhören wollte. Sie hörte regungslos zu, ohne ein Wort oder eine Bewegung zu verlieren. Wenn er schwieg, hörte sie noch zu, die Augen fragten noch, und er beantwortete diese stumme Herausforderung mit neuer Kraft und neuer Begeisterung. Auch das wäre gut gewesen; es wurde ihm warm und wohl, und das Herz klopfte, sie lebte in seiner Anwesenheit auf und brauchte nichts mehr; hier war ihre Welt, in der ihr Verstand sich befriedigt fühlte. Und dann erhob sie sich plötzlich ermüdet, und dieselben Augen, die ihn soeben fragend angeblickt hatten, baten ihn fortzugehen, oder sie war hungrig, und das mit solchem Appetit ... Das wäre alles sehr schön gewesen; er war kein Träumer; er wollte keine wilde Leidenschaft, wie auch Oblomow sie sich nicht gewünscht hatte, aber aus anderen Gründen. Er wollte aber doch, daß das Gefühl in einem ruhigen Geleise dahinfloß, nachdem es einmal an der Quelle heiß aufgewallt war, so daß man daraus schöpfen und sich berauschen könnte und das ganze Leben lang wüßte, wo diese Quelle des Glücks entsprungen war ... Liebt sie oder nicht? fragte er sich in qualvoller Aufregung, fast Blut schwitzend und weinend. Diese Frage brannte immer intensiver, umfing ihn wie eine Flamme und fesselte seine Vorsätze; das war die Hauptfrage nicht nur seiner Liebe, sondern auch seines Lebens. Er hatte jetzt für nichts anderes mehr Raum in seiner Seele. Er schien in diesem halben Jahre all die Qualen und Foltern der Liebe, denen er bei seinen Begegnungen mit Frauen so geschickt ausgewichen war, auf einmal zu erdulden. Er fühlte, auch sein gesunder Organismus würde nicht standhalten, wenn diese Spannung des Geistes, des Willens und der Nerven noch länger anhalten würde. Er hatte begriffen, was ihm bis dahin fremd war, wie die Kräfte in diesem dem Auge verborgenen Kampf der Seele mit der Leidenschaft erschöpft werden, wie das Herz von unheilbaren Wunden ohne Blut bedeckt wird, die aber Schmerz und Stöhnen verursachen, und wie das Leben davoneilt. Er hatte den selbstbewußten Glauben an seine Kraft ein wenig eingebüßt; er scherzte nicht mehr leichtsinnig, wenn man ihm erzählte, wie manche den Verstand verlieren und aus verschiedenen Gründen, unter anderem ... aus Liebe, dahinwelken. Es wurde ihm angst. »Nein, ich werde dem ein Ende machen«, sagte er, »ich werde ihr wie früher in die Seele blicken und werde morgen entweder glücklich sein oder verreisen! Meine Kraft ist zu Ende!« sprach er weiter, sich im Spiegel betrachtend. »Wie schaue ich denn aus ... Genug! ...« Er steuerte geradeaus auf sein Ziel los, das heißt, er ging zu Oljga. Und was war mit Oljga? Bemerkte sie seinen Zustand nicht, oder hatte sie für ihn gar kein Gefühl? Es war ganz ausgeschlossen, daß sie es nicht bemerkte; auch Frauen, die weniger fein sind, verstehen es, die freundschaftliche Ergebenheit und Liebenswürdigkeit von der zarten Äußerung eines anderen Gefühles zu unterscheiden, wenn man ihre wahre, ungeheuchelte, ihr durch niemand beigebrachte innere Sittlichkeit begriffen hatte. Sie stand über dieser gemeinen Schwäche. Man konnte nur das eine voraussetzen, daß ihr diese immerwährende, von Geist und Leidenschaft erfüllte Anbetung eines solchen Menschen wie Stolz ohne irgendwelche praktische Pläne gefiel. Diese Anbetung richtete ihre verletzte Eitelkeit wieder auf und stellte sie nach und nach wieder auf das Piedestal, von dem sie herabgestiegen war; ihr Selbstbewußtsein stand wieder auf. Wie stellte sie sich die Sache aber vor, wie sollte diese Anbetung enden? Sie konnte sich doch nicht in diesem Kampf von Stolz' forschendem Verhalten ihrem beharrlichen Schweigen gegenüber äußern? Ahnte sie wenigstens, daß sein Kampf nicht vergeblich war, daß er die Sache, in die er so viel Wollen und Charakter hineingelegt hatte, nicht verlieren würde? Verschwendete er vergeblich dieses Feuer? Wird das Bild Oblomows und jener Liebe in den Strahlen dieses Feuers untergehen? ... Sie begriff das alles nicht, war sich dessen nicht klar bewußt und kämpfte verzweifelt mit diesen Fragen und mit sich selbst, und wußte nicht, wie sie sich von diesem Chaos befreien und was sie beginnen sollte. Es war unmöglich, in diesem ungewissen Zustand länger zu verharren; es würde einmal der Zeitpunkt kommen, wo dieses stumme Spiel und dieser Kampf der in der Brust eingeschlossenen Gefühle in Worte übergehen würde – was würde sie ihm dann über die Vergangenheit sagen und wie sie nennen, und wie würde sie das, was sie für Stolz fühlte, in Worte kleiden? Wenn sie Stolz liebte, was war dann die andere Liebe gewesen? – Koketterie, Leichtsinn ... oder etwas noch Ärgeres? Sie erglühte bei diesem Gedanken vor Scham. Sie würde eine solche Klage nicht gegen sich erheben. Wenn jenes Gefühl aber die reine erste Liebe gewesen war, was war dann ihr Verhalten Stolz gegenüber? – Wieder eine Intrige, Betrug, eine schlaue Spekulation, um ihn zum Heiraten zu bringen und dadurch den Leichtsinn ihres Betragens zu verbergen? ... Dieser Gedanke machte sie zusammenfahren und erbleichen. Wenn es aber keine Intrige, kein Betrug und keine Spekulation war – dann ... war es wieder Liebe? Das verwirrte sie; eine zweite Liebe sieben, acht Monate nach der ersten! Wer würde ihr das glauben? Wie durfte sie das nur erwähnen, ohne Staunen und vielleicht ... Verachtung hervorzurufen! Sie wagte es nicht und hatte kein Recht, daran zu denken! Sie kramte ihre Erfahrungen durch; sie fand darin nichts, was auf eine zweite Liebe Bezug hatte. Sie erinnerte sich an die Aussprüche verschiedener Tanten, alter Jungfrauen, kluger Köpfe und endlich der Schriftsteller, »der Philosophen der Liebe« – und hörte von allen Seiten das unerbittliche Urteil: »Das Weib liebt nur einmal wahrhaft.« Auch Oblomow hatte dieselbe Ansicht geäußert. Sie dachte an Sonitschka und daran, wie diese sich wohl dieser zweiten Liebe gegenüber verhalten würde, und hörte, daß diese bereits zu einer dritten übergegangen war ... Nein, nein, sie empfand Stolz gegenüber keine Liebe, entschied sie bei sich, das konnte nicht sein! Sie hatte Oblomow geliebt, und diese Liebe war gestorben, die Blüte ihres Lebens war für immer verwelkt! Sie empfand für Stolz nur Freundschaft, die durch seine wertvollen Eigenschaften und dann auch durch seine Freundschaft für sie hervorgerufen wurde und gegenseitige Aufmerksamkeit und gegenseitiges Vertrauen zur Folge hatte ... So stieß sie den Gedanken an die Möglichkeit der Liebe ihrem alten Freund gegenüber von sich. Das war der Grund, warum Stolz in ihrem Gesicht und in ihren Worten weder ein Zeichen von vollkommener Gleichgültigkeit, noch einen aufflammenden Blitz, noch selbst einen Funken von Gefühl erhaschen konnte, das auch nur um ein Haar die Grenzen einer warmen, herzlichen, aber aussichtslosen Freundschaft überschritten hätte. Ihr blieb, um dem allem ein Ende zu machen, nichts übrig, als, nachdem sie die Anzeichen einer aufkeimenden Liebe in Stolz wahrgenommen hatte, ihr weder Nahrung noch Spielraum zu lassen und schnell zu verreisen. Doch sie hatte den rechten Zeitpunkt schon verfehlt; das war längst geschehen, außerdem hätte sie voraussehen sollen, daß das Gefühl sich in ihm zur Leidenschaft steigern würde; das war auch nicht Oblomow; sie konnte ihm nicht entfliehen. Es wäre vielleicht physisch möglich gewesen, aber moralisch war die Abreise für sie unmöglich; bisher hatte sie nur von den früheren Rechten der Freundschaft Gebrauch gemacht und in Stolz wie bisher bald einen launigen, spöttischen Gesellschafter, bald einen klugen, tiefen Beobachter der Lebenserscheinungen gefunden – alles dessen, was mit ihnen geschah oder an ihnen vorüberhuschte und ihr Interesse hervorrief. Doch je öfter sie zusammenkamen, desto mehr näherten sie sich geistig einander, und desto mehr steigerte sich seine Bedeutung für sie; er vertauschte die Rolle eines Beobachters unmerklich mit derjenigen des Deuters der Lebenserscheinungen und ihres Leiters. Er wurde unsichtbar zu ihrem Verstande und ihrem Gewissen, und es entstanden neue Rechte und neue Bande, die Oljgas ganzes Leben umstrickten, alles außer einem geheimen Winkel, den sie sorgsam vor seinen Augen und seinem Urteil verbarg. Sie nahm diese geistige Bevormundung ihres Verstandes und Herzens und sah, daß auch sie einen gewissen Einfluß auf ihn ausübte. Sie hatten ihre Rechte ausgetauscht; sie hatte diesen Austausch schweigend und ohne sich darüber zu äußern angenommen. Wie sollte sie jetzt plötzlich alles zurückfordern? ... Und außerdem war darin ... so viel Vergnügen, Abwechslung und Inhalt ... des Lebens enthalten ... Was würde sie tun, wenn das alles plötzlich nicht mehr da wäre? Und als ihr der Gedanke zu fliehen kam, war es schon zu spät, sie hatte nicht mehr die Kraft, es zu tun. Jeder Tag, den sie ohne ihn verbrachte, jeder Gedanke, den sie ihm nicht anvertraut und nicht mit ihm geteilt hatte, verlor für sie jeden Reiz und jede Bedeutung. Mein Gott, wenn ich seine Schwester sein könnte! dachte sie. Welch ein Glück, auf einen solchen Menschen stete Rechte zu haben und nicht nur seinen Verstand, sondern auch sein Herz, seine Anwesenheit offen und frei genießen zu können, ohne es mit irgendwelchen schweren Opfern, Kränkungen und mit dem Anvertrauen einer kläglichen Vergangenheit zu erkaufen. Und was bin ich jetzt? Wenn er verreist, habe ich nicht nur kein Recht, ihn zurückzuhalten, sondern muß die Trennung wünschen, und wenn ich ihn zurückhalten wollte, was müßte ich ihm sagen, mit welchem Rechte will ich ihn jeden Augenblick sehen und sprechen hören? ... Weil ich mich sonst langweile und sehne, weil er mich belehrt und amüsiert, weil er mir nützlich und angenehm ist ... Das ist natürlich ein Grund, aber kein Recht. Und was biete ich ihm dagegen? Das Recht, mich selbstlos zu bewundern und an Gegenliebe nicht einmal denken zu dürfen, während so viele andere Frauen sich glücklich schätzen würden ... Sie quälte sich und grübelte, wie sie sich von diesen Dilemmas des Lebens befreien könnte, und sah weder ein Ziel noch ein Ende. Vor ihr war nur die Furcht vor seiner Enttäuschung, vor der ewigen Trennung. Manchmal dachte sie daran, ihm alles zu entdecken, um ihren und seinen Kampf auf einen Schlag zu beenden, aber sie hatte nicht den Mut, sowie sie daran dachte. Sie schämte sich, und es war ihr weh ums Herz. Am seltsamsten war der Umstand, daß sie ihre Vergangenheit zu achten aufhörte und sich ihrer zu schämen begann, seit sie mit Stolz unzertrennlich war und seit er sich ihres Lebens bemächtigt hatte. Wenn zum Beispiel der Baron oder jemand anderes es erfahren hätte, wäre sie gewiß verlegen geworden und hätte sich unbehaglich gefühlt, doch sie hätte sich nicht so gequält, wie sie sich jetzt beim Gedanken daran, daß Stolz es erfahren könnte, quälte. Sie dachte mit Entsetzen daran, was sein Gesicht ausdrücken würde, wie er sie anblicken, was er sagen und was er dann denken würde? – Sie würde ihm plötzlich so nichtig, schwach und klein erscheinen. Nein, nein, um nichts in der Welt! Sie begann sich zu beobachten und entdeckte zu ihrem Entsetzen, daß sie sich nicht nur ihres vergangenen Romans, sondern auch dessen Helden schämte ... Dabei quälte sie auch die Reue, weil sie für die tiefe Ergebenheit ihres früheren Freundes undankbar war. Vielleicht hätte sie sich auch an ihre Scham gewöhnt; woran gewöhnt sich denn der Mensch nicht! Wenn ihre Freundschaft für Stolz aller eigennütziger Gedanken und Wünsche bar gewesen wäre. Doch wenn es ihr sogar gelang, jedes verführerische, schmeichelnde Flüstern des Herzens zu betäuben, war sie den Träumen ihrer Phantasie gegenüber machtlos. Oft erschien vor ihren Augen, gegen ihren Wunsch, und leuchtete das Bild jener anderen Liebe, der Traum von einem reichen Glück, nicht mit Oblomow, nicht in trägem Hindämmern, sondern auf dem geräumigen Schauplatz eines vielseitigen Lebens, mit all seiner Tiefe, mit allen Reizen und mit allem Leid. Der Traum vom Glück mit Stolz wuchs immer mehr in ihr! ... Da begann sie ihre Vergangenheit mit Tränen zu netzen, konnte sie aber nicht reinwaschen. Sie suchte ihren Traum zu verscheuchen und versteckte sich noch mehr hinter der Mauer von Undurchdringlichkeit, von Schweigen und von jener freundschaftlichen Gleichgültigkeit, die Stolz quälte. Dann vergaß sie sich und ließ sich ganz selbstlos durch die Anwesenheit des Freundes hinreißen, war bezaubernd, liebenswürdig und zutraulich, bis der unrechtmäßige Traum von Glück, auf das sie alle Rechte verloren hatte, sie daran erinnerte, daß die Zukunft für sie verloren war, daß die rosigen Träume schon hinter ihr lagen, daß die Blüte ihres Lebens abgefallen war. Mit den Jahren hätte sie es gewiß dazu gebracht, sich mit ihrer Lage zu versöhnen, sie hätte den Hoffnungen auf die Zukunft entsagt, wie es alle alten Jungfrauen tun, und würde sich in eine kalte Apathie versenken oder sich mit Wohltätigkeit befassen; aber ihr unberechtigter Traum nahm eine drohendere Gestalt an, als sie aus einigen Worten, die Stolz entschlüpft waren, deutlich sah, daß sie in ihm einen Freund verlor und einen feurigen Anbeter gewann. Die Freundschaft war in der Liebe untergegangen. Sie war an jenem Morgen, als sie es entdeckt hatte, bleich, ging den ganzen Tag nicht aus, war aufgeregt, kämpfte gegen das Glück und Entsetzen an, dachte darüber nach, was sie jetzt tun sollte und welche Pflicht ihr oblag – und ihr fiel nichts ein. Sie fluchte sich nur, weil sie ihre Scham nicht früher bekämpft und Stolz ihre Vergangenheit nicht früher entdeckt hatte; jetzt mußte sie außerdem noch ihr Entsetzen bekämpfen. Sie hatte auch Anfälle von Entschlossenheit, wenn in ihrer Brust alles schmerzte und darin Tränen aufstiegen, wenn sie zu ihm hinstürzen und ihm nicht mit Worten, sondern mit Tränen, Schluchzen und Ohnmachtsanfällen von ihrer Liebe erzählen wollte, damit er auch die Buße sah. Doch sie besaß die Kraft nicht. Wo sollte sie sie hernehmen? Oder sollte sie in diesem Falle wie die anderen handeln? Sonitschka zum Beispiel sagte ihrem Bräutigam, sie hätte den Fähnrich zum besten gehalten, er wäre ein grüner Junge, sie hätte ihn absichtlich im Froste warten lassen, bis sie in den Wagen stieg usw. Sonitschka würde nicht gezögert haben, auch von Oblomow zu erzählen, das sei nur ein Scherz gewesen, um sie zu zerstreuen, er sei ja so komisch, könnte man denn einen solchen »Mehlsack« lieben, das würde ja niemand für möglich halten! Doch ein solches Betragen könnte nur von Sonitschkas Mann und von vielen anderen gerechtfertigt werden, aber nicht von Stolz. Oljga hätte die Sache auch noch plausibler darstellen und sagen können, sie hätte Oblomow nur aus dem Abgrund herausziehen wollen und hätte dabei eine sozusagen freundschaftliche Koketterie angewandt, um einen versumpfenden Menschen zu beleben und dann von ihm fortzugehen. Doch das wäre zu sehr gesucht, bei den Haaren herangezogen und jedenfalls falsch gewesen. Nein, es gab keine Rettung! O Gott, in welchen Sumpf bin ich hineingeraten! peinigte sie sich. Es ihm entdecken ...! Ach nein! Er soll es lange Zeit nicht, am liebsten niemals erfahren! Wenn ich es ihm aber nicht entdecke, ist es wie Diebstahl. Das sieht dann wie Betrug, wie Beschönigung aus. O Gott, hilf mir! ... Sie fand aber keine Hilfe. So sehr sie Stolz' Anwesenheit auch genoß, wünschte sie doch manchmal, ihm nicht mehr zu begegnen, als ein kaum merklicher Schatten durch sein Leben zu huschen und sein klares, vernünftiges Dasein nicht durch eine sinnlose Leidenschaft zu verdüstern. Sie hätte vielleicht eine Zeitlang über ihre unglückliche Liebe getrauert, hätte die Vergangenheit beweint und die Erinnerung daran in ihrem Herzen begraben und dann ... dann würde sie vielleicht eine »gute Partie« finden, wie es viele gibt, und sie wäre eine gute, verständige, pflichttreue Frau und Mutter geworden, die Vergangenheit würde ihr jetzt als eine Phantasterei ihrer Mädchenjahre erscheinen, und sie würde nicht leben, sondern das Leben erdulden. Alle machen es ja so! Aber hier handelte es sich nicht um sie allein, hier war noch ein anderer mit im Spiel, und dieser andere richtete seine schönsten Hoffnungen, die das Endziel seines Lebens sein sollten, auf sie. Warum ... habe ich geliebt? quälte sie sich in ihrer Verzweiflung und dachte an den Morgen im Park, als Oblomow fliehen wollte, und sie dachte, das Buch ihres Lebens würde sich für immer verschließen, wenn er es tat. Sie hatte die Fragen der Liebe und des Lebens so kühn und leicht gelöst, alles erschien ihr so klar, und nun hatte sich alles zu einem unentwirrbaren Knoten verwickelt! Sie hatte sich für weise gehalten und hatte geglaubt, man müßte alles nur einfach anschauen und geradeaus schreiten, und das Leben würde sich gehorsam wie ein Tuch vor ihren Füßen ausbreiten, und jetzt! Sie konnte die Schuld auch niemand anderem zuschieben; nur sie allein war schuldig. Oljga ahnte nicht, weshalb Stolz gekommen war, erhob sich sorglos vom Sofa, legte das Buch fort und ging auf ihn zu. »Störe ich Sie nicht?« fragte er, sich in ihrem Zimmer, das nach dem See hinausging, ans Fenster setzend. »Haben Sie gelesen?« »Nein, ich habe schon zu lesen aufgehört. Es wird dunkel. Ich habe auf Sie gewartet!« sagte sie weich, freundschaftlich und zutraulich. »Um so besser; ich muß mit Ihnen sprechen!« bemerkte er ernst, ihr einen Sessel ans Fenster schiebend. Sie fuhr zusammen und blieb erstarrt stehen. Dann ließ sie sich mechanisch auf den Sessel nieder und saß mit gesenktem Kopfe und ohne die Augen zu erheben, in einem schrecklichen Zustand da. Sie wünschte sich jetzt hundert Werst von diesem Orte fort. In diesem Augenblick glitt die Vergangenheit wie ein Blitz durch ihr Gedächtnis. »Das Gericht beginnt! Man darf mit dem Leben nicht wie mit Puppen spielen!« hörte sie eine Stimme. »Scherze damit nicht, sonst mußt du es büßen!« Sie schwiegen einige Minuten lang. Er sammelte merklich seine Gedanken. Oljga betrachtete ängstlich sein abgemagertes Gesicht, die gefurchten Brauen, die mit dem Ausdruck von Entschlossenheit aufeinandergepreßten Lippen. Nemesis! dachte sie, innerlich erbebend. Beide bereiteten sich wie zu einem Zweikampf vor. »Oljga Sjergejewna. Sie erraten gewiß, wovon ich sprechen will!« sagte er und blickte sie fragend an. Er saß an einer Zwischenwand, die sein Gesicht verdeckte, während das Licht voll auf sie fiel, so daß er von ihren Zügen ablesen konnte, was in ihr vorging. »Wie kann ich es wissen? ...« antwortete sie leise. Diesem gefährlichen Gegner gegenüber äußerte sie weder jene Willenskraft noch jenen Charakter, weder den Scharfsinn noch die Selbstbeherrschung, mit denen gewaffnet sie immer vor Oblomow erschienen war. Sie begriff, daß, wenn sie sich bis dahin vor Stolz' forschendem Blick verbergen und den Kampf glücklich führen konnte, sie das durchaus nicht ihrer Kraft, wie in den Beziehungen zu Oblomow, sondern nur dem beharrlichen Schweigen von Stolz und seinem zurückhaltenden Benehmen verdankte. Doch in offenem Felde war der Vorteil nicht auf ihrer Seite, und darum wollte sie durch die Frage: »Wie kann ich es wissen?« einen Zoll Raum und eine Minute Zeit gewinnen, während der Feind seinen Plan deutlicher äußerte. »Sie wissen es nicht?« fragte er einfach. »Also gut, ich werde es sagen.« »Ach nein!« entschlüpfte es ihr plötzlich. Sie ergriff seine Hand und blickte ihn an, als bäte sie um Gnade. »Sehen Sie, ich habe es erraten, daß Sie es wissen!« sagte er. »Warum denn ›nein‹?« fügte er dann traurig hinzu. Sie schwieg. »Wenn Sie vorausgesehen haben, daß ich mich jemals aussprechen werde, haben Sie ja auch sicher gewußt, was Sie mir antworten werden?« fragte er. »Ich sah es voraus und habe mich gequält!« sagte sie, sich in den Sessel zurücklehnend, sich vom Licht abwendend und im Geiste die Dämmerung anrufend, ihr zu Hilfe zu kommen, damit er nicht den Kampf der Verlegenheit und der Traurigkeit auf ihrem Gesichte sah. »Gequält! Das ist ein furchtbares Wort«, sagte er fast flüsternd, »das erinnert an Dante: ›Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung schwinden.‹ Dann habe ich nichts mehr zu sagen. Das ist alles! Ich danke Ihnen aber auch dafür«, fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »ich komme aus dem Chaos, aus dem Dunkel heraus und weiß wenigstens, was ich zu tun habe. Es gibt nur eine Rettung – schnell zu fliehen!« Er erhob sich. »Nein, um Gottes willen, nein!« begann sie ängstlich und flehentlich zu ihm stürzend und wieder seine Hand ergreifend, »haben Sie Erbarmen mit mir; was wird dann mit mir sein?« Er setzte sich und sie auch. »Aber ich liebe Sie, Oljga Sjergejewna«, sagte er fast barsch. »Sie haben gesehen, was mit mir in diesem halben Jahr vorgegangen ist! Was wollen Sie denn; vollen Triumph? Daß ich verkomme und wahnsinnig werde? Ich danke ergebenst!« Sie wechselte die Farbe. »Gehen Sie!« sagte sie voll Würde, unterdrücktem Schmerz und tiefer Traurigkeit, die sie nicht verbergen konnte. »Verzeihung, ich bin Ihnen gegenüber schuldig!« bat er sie. »Wir haben uns gezankt, bevor wir uns noch irgend etwas klar gemacht haben. Ich weiß, daß Sie das nicht wollen können, Sie können sich aber auch nicht in meine Lage versetzten, und darum erscheint Ihnen mein Wunsch, zu fliehen, seltsam. Der Mensch wird manchmal unbewußt zum Egoisten.« Sie änderte die Stellung auf dem Sessel, als ob sie unbequem säße, sagte aber nichts. »Nun, und wenn ich dableibe, was kommt dabei heraus?« fuhr er fort. »Sie werden mir natürlich Ihre Freundschaft anbieten, die ich aber ja auch ohnehin besitze. Wenn ich verreise, wird sie mir auch in einem Jahr und in zwei Jahren sicher sein. Die Freundschaft ist etwas sehr Schönes, Oljga Sjergejewna, wenn sie zwischen jungen Männern und Frauen Liebe heißt oder zwischen alten Leuten Erinnerung an Liebe ist. Aber Gott behüte uns davor, daß sie von der einen Seite Freundschaft und von der anderen Liebe sei. Ich weiß, daß Sie sich in meiner Gesellschaft nicht langweilen, was empfinde aber ich, wenn ich mit Ihnen zusammen bin?« »Ja, wenn es so ist, dann verreisen Sie in Gottes Namen!« flüsterte sie kaum hörbar. »Dableiben!« überlegte er sich laut. »Auf der Klinge eines Messers stehen, das ist eine schöne Freundschaft!« »Und geht es mir denn besser?« entgegnete sie unerwartet. »Ihnen?« fragte er lebhaft. »Sie ... Sie lieben ja nicht ...« »Ich weiß nicht, ich schwöre es, ich weiß nicht! Aber wenn Sie ... wenn mein gegenwärtiges Leben sich irgendwie verändert, was geschieht dann mit mir?« fügte sie traurig, fast flüsternd hinzu. »Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie es mir, um Gottes willen!« sagte er, den Sessel an sie heranschiebend, durch ihre Worte und den innerlichen, wahrhaften Ton, in welchem sie gesprochen wurden, betroffen. Er bemühte sich, ihr Gesicht zu sehen. Sie schwieg. In ihr brannte der Wunsch, ihn zu beruhigen, das Wort »gequält« ungesagt zu machen oder es anders zu erklären, als er es aufgefaßt hatte; sie wußte aber selbst nicht, wie sie das beginnen sollte, sie fühlte nur dunkel, daß sie sich beide unter dem Druck eines verhängnisvollen Mißverständnisses in falscher Lage befanden, daß sie beide darunter litten, daß nur er oder sie mit seiner Hilfe in die Vergangenheit und die Gegenwart Ordnung und Klarheit bringen konnte. Aber dann müßte man den Abgrund überschreiten und ihm eröffnen, was sie erlebt hatte; wie wünschte und wie fürchtete sie sein Urteil! »Ich verstehe selbst nichts; ich befinde mich noch mehr als Sie im Chaos und Dunkel!« sagte sie. »Sagen Sie, glauben Sie mir?« fragte er, ihre Hand ergreifend. »Grenzenlos, wie einer Mutter – das wissen Sie«, antwortete sie leise. »Erzählen Sie mir doch, was mit Ihnen seit unserer Trennung vorgegangen ist. Sie sind jetzt für mich undurchdringlich, und früher habe ich Ihre Gedanken von Ihrem Gesicht abgelesen; ich glaube, daß es das einzige Mittel ist, damit wir einander verstehen. Sind Sie mit mir einverstanden?« »Ach ja, das ist unvermeidlich ... Man muß irgendwie ein Ende machen ...« sprach sie bange, das nahe Geständnis voraussehend. Nemesis! Nemesis! dachte sie, den Kopf auf die Brust herabsenkend. Sie blickte zu Boden und schwieg. Und ihm hatten diese einfachen Worte und noch mehr ihr Schweigen Entsetzen eingeflößt. Sie quält sich! O Gott! Was war mit ihr? dachte er mit kaltem Schweiß auf der Stirn und fühlte, daß ihm die Hände und Füße zitterten. Er stellte sich etwas sehr Furchtbares vor. Sie schwieg immer noch und kämpfte sichtlich mit sich. »Also ... Oljga Sjergejewna ...« trieb er sie zur Eile an. Sie schwieg und machte eine nervöse Bewegung, die man im Dunkel nicht unterscheiden konnte, man hörte nur ihr seidenes Kleid knistern. »Ich sammle Mut«, sagte sie endlich. »Wenn Sie wüßten, wie schwer das ist!« fügte sie dann hinzu, sich zur Seite abwendend und den Kampf zu Ende zu führen bemüht. Sie wünschte, Stolz möchte das Ganze nicht aus ihrem Mund, sondern durch ein Wunder erfahren. Zum Glück dunkelte es schon, und ihr Gesicht war schon im Schatten; nur die Stimme konnte sie verraten, und die Worte wollten ihr nicht von der Zunge, als wüßte sie nicht recht, in welchem Ton sie beginnen sollte. Mein Gott! Wie schuldig ich sein muß, wenn ich mich so schäme und es mir so weh ums Herz ist! peinigte sie sich innerlich. Und war es denn lange her, daß sie so selbstbewußt ihr eigenes und ein fremdes Schicksal gelenkt hatte und so klug und stark war? Und jetzt war an sie die Reihe gekommen, wie ein kleines Mädchen zu zittern! Scham über die Vergangenheit, die Qual der verletzten Eitelkeit in der Gegenwart und die ganze falsche Stellung peinigte sie ... Es war unerträglich! »Ich werde Ihnen helfen ... Sie ... haben geliebt ...« sagte Stolz mit Mühe, so weh taten ihm die eigenen Worte. Sie bestätigte seine Annahme durch ein Schweigen. Und ihn wehte Entsetzen an. »Wen denn? Ist das ein Geheimnis?« fragte er, bemüht, mit fester Stimme zu sprechen, fühlte aber, daß ihm die Lippen zitterten. Und sie quälte sich noch mehr! Sie wollte einen anderen Namen nennen und eine andere Geschichte erzählen. Sie schwankte einen Augenblick lang, es war aber nichts zu machen; sie sagte plötzlich, wie ein Mensch, der sich im Augenblick der höchsten Gefahr vom steilen Ufer oder in die Flammen stürzt: »Oblomow.« Er erstarrte. Ein paar Minuten lang hielt das Schweigen an. »Oblomow!« wiederholte er erstaunt, »das ist nicht wahr!« fügte er dann überzeugt mit gesenkter Stimme hinzu. »Es ist wahr!« sagte sie ruhig. »Oblomow!« wiederholte er nochmals. »Das ist unmöglich!« sagte er dann. »Da stimmt etwas nicht: Sie haben sich, Oblomow oder endlich die Liebe selbst nicht begriffen.« Sie schwieg. »Das ist keine Liebe, das ist etwas anderes, sage ich!« wiederholte er beharrlich. »Ja, ich habe mit ihm kokettiert, habe ihn an der Nase herumgeführt und unglücklich gemacht ... und jetzt nehme ich, Ihrer Meinung nach, Sie in Angriff?« sagte sie mit zurückgehaltener Stimme, in der wieder Tränen der Kränkung erklangen. »Liebe Oljga Sjergejewna! Seien Sie nicht böse und sprechen Sie nicht so; das ist nicht Ihre Art. Sie wissen, daß ich das alles nicht denke. Aber ich kann es mir nicht vorstellen, ich begreife nicht, wie Oblomow ...« »Er ist doch aber Ihrer Freundschaft würdig; Sie wissen nicht, wie hoch Sie ihn schätzen sollen. Warum ist er denn der Liebe nicht wert?« verteidigte sie ihn. »Ich weiß, daß die Liebe weniger anspruchsvoll ist als die Freundschaft«, sagte er, »sie ist manchmal sogar blind, und man liebt nicht der Verdienste wegen – das stimmt alles. Aber für die Liebe ist etwas anderes, sind manchmal Kleinigkeiten notwendig, etwas, das weder zu bestimmen noch zu nennen ist und das mein unvergleichlicher, aber plumper Ilja nicht besitzt. Deshalb wundere ich mich. Hören Sie«, fuhr er lebhaft fort, »wir werden so niemals ans Ziel gelangen und einander verstehen. Schämen Sie sich nicht der Einzelheiten, schonen Sie sich eine halbe Stunde lang nicht, erzählen Sie mir alles, und ich werde Ihnen sagen, was es war und vielleicht auch, was sein wird ... Mir scheint immer, daß es nicht das Richtige war ... Ach, wenn es so wäre!« fügte er eifrig hinzu. »Wenn es Oblomow und kein anderer war! Oblomow! Das bedeutet ja, daß Sie nicht der Vergangenheit und nicht der Liebe angehören, sondern daß Sie frei sind ... Erzählen Sie, erzählen Sie schnell!« schloß er mit ruhiger, fast fröhlicher Stimme. »Ja, ich werde erzählen!« antwortete sie vertrauend und erfreut, daß man ihr einen Teil der Ketten abgenommen hatte. »Ich werde allein wahnsinnig. Wenn Sie wüßten, wie elend mir ist! Ich weiß nicht, ob ich schuldig bin oder nicht, ob ich mich der Vergangenheit schämen oder sie bedauern soll, ob ich auf die Zukunft hoffen oder verzweifeln soll ... Sie haben von Ihren Qualen gesprochen, ohne die meinigen zu ahnen. Hören Sie mir bis zu Ende zu, aber nicht mit dem Verstand; ich fürchte ihren Verstand; lieber mit dem Herzen, vielleicht wird es Sie daran erinnern, daß ich keine Mutter habe, daß ich wie im Walde war ...« fügte sie leise, mit gesenkter Stimme hinzu. »Nein«, verbesserte sie sich eilig, »schonen Sie mich nicht. Wenn es Liebe war, dann ... verreisen Sie ...« Sie schwieg eine Weile. »Und kommen Sie wieder, wenn in Ihnen nur die Freundschaft sprechen wird. Wenn es aber nur Leichtsinn und Koketterie war, dann richten Sie mich, fliehen Sie und vergessen Sie mich! Hören Sie.« Er drückte ihr statt einer Antwort beide Hände. Jetzt begann Oljgas lange, genaue Beichte. Sie versetzte deutlich, Wort für Wort alles das, was so lange an ihr genagt hatte, wovor sie errötete, was sie früher gerührt und glücklich gemacht hatte, und dann in den Sumpf des Leidens und der Zweifel zu versinken, aus ihrem Hirn in ein fremdes. Sie erzählte von den Spaziergängen, vom Park, von ihren Hoffnungen, von Oblomows Klärung und Fall, vom Fliederzweig, sogar vom Kuß. Sie überging nur den schwülen Abend im Garten mit Schweigen – wahrscheinlich deshalb, weil sie sich noch nicht darüber klar war, welch einen Anfall sie damals gehabt hatte. Zuerst hörte man nur ihr verlegenes Flüstern, aber in dem Maße, als sie sprach, wurde ihre Stimme deutlicher und freier; sie ging vom Flüstern in halblautes Sprechen über und erhob sich dann bis zu den vollen Brusttönen. Sie schloß ruhig, als hätte sie fremde Erlebnisse erzählt. Vor ihr selbst sank ein Schleier herab, vor ihr stand deutlich die Vergangenheit, die sie bis zu diesem Augenblicke genau zu betrachten gefürchtet hatte. Ihr eröffnete sich jetzt vieles, und sie hätte ihren Freund dreist angeblickt, wenn es nicht dunkel gewesen wäre ... Sie war zu Ende und wartete sein Urteil ab. Die Antwort war aber Todesschweigen. Was hat er? Man hört kein Wort, keine Bewegung, nicht einmal einen Atemzug, als ob niemand neben ihr wäre. Dieses stumme Verhalten rief in ihr wieder Zweifel hervor. Das Schweigen dauerte fort. Was bedeutete es? Welches Urteil hatte sie vom scharfsinnigsten, nachsichtigsten Richter der ganzen Welt zu erwarten? Alle anderen würden sie erbarmungslos verurteilen, nur er allein konnte ihr Rechtsanwalt sein, sie hätte ihn dazu erwählt ... er würde alles begreifen, erwägen und besser als sie selbst zu ihrem Besten deuten! Er schwieg aber; war denn ihre Sache verloren? ... Ihr wurde wieder angst ... Die Tür öffnete sich, und die beiden Kerzen, die von dem Stubenmädchen hereingebracht wurden, beleuchteten ihre Ecke. Sie wandte ihm einen schüchternen, aber gierigen und fragenden Blick zu. Er hatte die Hände gekreuzt, blickte sie mit sanften, offenen Augen an und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Sie atmete auf, und es wurde ihr warm ums Herz. Sie seufzte beruhigt und hätte fast geweint. Zu ihr kehrte augenblicklich die Nachsicht mit sich und das Vertrauen ihm gegenüber zurück. Sie war glücklich wie ein Kind, dem man verziehen, das man beruhigt und liebkost hatte. »Ist das alles?« fragte er leise. »Alles!« sagte sie. »Und wo ist sein Brief?« Sie nahm den Brief aus der Mappe heraus und reichte ihn ihm. Er trat ans Licht, las ihn und legte ihn auf den Tisch. Und seine Augen wandten sich ihr wieder mit dem Ausdruck zu, den sie bei ihm schon lange nicht beobachtet hatte. Vor ihr stand ihr selbstbewußter, ein wenig spöttischer und grenzenlos gütiger Freund von früher, der sie stets verzogen hatte. Auf seinem Gesicht war kein Schatten von Leiden und Zweifeln. Er ergriff ihre beiden Hände, küßte bald die eine, bald die andere und versank dann in tiefes Sinnen. Auch sie wurde still und beobachtete starr den Widerschein des Denkens auf seinem Gesicht. Plötzlich erhob er sich. »Mein Gott, würde ich mich denn so quälen, wenn ich wüßte, daß es sich um Oblomow handelt!« sagte er, sie so freundlich und zutraulich anblickend, als ob sie keine schreckliche Vergangenheit hinter sich hätte. Ihr wurde froh und festlich zumute. Sie wurde sich darüber klar, daß sie sich vor ihm allein geschämt hatte; er richtete sie aber nicht und floh nicht! Was ging sie das Urteil der ganzen Welt an? Er beherrschte sich wieder und war froh; doch das genügte ihr nicht. Sie sah, daß sie freigesprochen war; doch sie wollte wie eine Angeklagte ihr Urteil wissen. Er griff aber nach dem Hut. »Wohin?« fragte sie. »Sie sind aufgeregt, ruhen Sie aus«, sagte er. »Wir sprechen morgen weiter.« »Sie wollen, daß ich die ganze Nacht nicht schlafe!« unterbrach sie ihn, seine Hand ergreifend und ihn zum Sitzen einladend. »Sie wollen gehen, ohne mir zu sagen, was es ... war, was ich jetzt bin und was ich sein werde? Andrej Iwanowitsch, haben Sie Mitleid mit mir; wer wird es mir sonst sagen? Wer wird mich bestrafen, wenn ich es verdient habe, oder ... wer verzeiht mir? ...« fügte sie hinzu und blickte ihn mit so zärtlicher Freundschaft an, daß er den Hut fortwarf und vor ihr fast niedergekniet wäre. »Sie Engel, erlauben Sie, daß ich mein Engel sage. Quälen Sie sich nicht unnütz; man braucht Sie weder zu richten noch zu begnadigen. Ich habe zu Ihrem Bericht nichts mehr hinzuzufügen. Was für Zweifel können Sie hegen? Sie wollen wissen, was das war, wie das heißt? Sie wissen es längst ... Wo ist Oblomows Brief?« Er nahm den Brief vom Tisch. »Hören Sie zu!« Er las: »Ihr gegenwärtiges ›Ich liebe‹ ist nicht gegenwärtige, sondern zukünftige Liebe. Das ist nur das unbewußte Verlangen, zu lieben, das sich in Ermangelung von echter Nahrung bei Frauen manchmal im Liebkosen eines Kindes, einer anderen Frau oder einfach in Tränen und in hysterischen Anfällen äußert ... Sie haben sich geirrt« (las Stolz, dieses Wort betonend). »Vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben. Warten Sie – er wird kommen, und dann werden Sie erwachen und sich über Ihren Irrtum ärgern und schämen ...« »Sehen Sie, wie wahr das ist!« sagte er. »Sie haben sich über Ihren ... Irrtum geschämt und geärgert. Man kann nichts mehr hinzufügen. Er hat recht gehabt, und Sie haben ihm nicht geglaubt, das ist Ihre Schuld. Sie hätten sich damals gleich trennen sollen; doch Ihre Schönheit hat ihn besiegt ... und Sie waren ... von seiner taubenhaften Zärtlichkeit gerührt!« fügte er ein wenig spöttisch hinzu. »Ich habe ihm nicht geglaubt, ich dachte, das Herz irre nicht ...« »Nein, es irrt sich; und stößt manchmal ins Verderben! Aber Ihr Herz hat ja gar nicht mitgesprochen«, fügte er hinzu. »Es war einerseits Einbildung und Eitelkeit und anderseits Schwäche ... Und Sie haben gefürchtet, daß es der einzige Feiertag Ihres Lebens wäre, daß dieser klare Strahl Ihr Leben erhellt hätte und daß darauf ewige Nacht folgen würde ...« »Und die Tränen?« sagte sie, »sind sie mir denn nicht vom Herzen gekommen, wenn ich geweint habe? Ich habe nicht gelogen, ich war aufrichtig ...« »Mein Gott! Worüber weinen die Frauen denn nicht? Sie haben ja selbst gesagt, daß es Ihnen um den Fliederstrauß und die Lieblingsbank leid tat ... Fügen Sie noch die betrogene Eitelkeit, die mißlungene Rolle einer Retterin und ein wenig Gewohnheit hinzu ... wieviel Ursachen, um zu weinen!« »Und unsere Begegnungen und Spaziergänge waren auch ein Irrtum? Erinnern Sie sich, daß ich ... bei ihm gewesen bin ...« schloß sie verlegen und schien ihre Worte selbst übertäuben zu wollen. Sie bestrebte sich, sich selbst anzuklagen, nur damit er sie eifriger verteidigte und um in seinen Augen immer mehr recht zu haben. »Aus Ihrem Bericht ist zu ersehen, daß Sie bei den letzten Zusammenkünften gar nicht mehr wußten, worüber Sie sprechen sollten. Ihrer sogenannten ›Liebe‹ mangelte es auch an Inhalt; sie konnte nicht weiterschreiten. Ihr hattet euch noch vor eurem Bruch getrennt und waret nicht der Liebe, sondern ihrem Schemen, den ihr euch selbst ausgedacht hattet, treu – das ist das ganze Geheimnis.« »Und der Kuß?« flüsterte sie so leise, daß er es nicht hörte, sondern erriet. »Oh, das ist wichtig!« sagte er mit komischer Strenge. »Man müßte Sie deswegen beim Mittagessen ... eines Gerichtes berauben.« Er blickte sie mit stets wachsender Liebe und Zärtlichkeit an. »Ein Scherz entschuldigt einen solchen Irrtum nicht!« entgegnete sie streng, durch seine Gleichgültigkeit und seinen nachlässigen Ton verletzt. »Mir wäre leichter, wenn Sie mich durch irgendein barsches Wort gestraft und meine Schuld beim rechten Namen genannt hätten.« »Ich würde auch nicht scherzen, wenn es sich nicht um Ilja, sondern um einen anderen handeln würde, dann hätte der Irrtum mit einem Unglück enden können; doch ich kenne Oblomow ...« »Ein anderer? Nie!« unterbrach sie ihn errötend. »Ich habe ihn besser kennengelernt als Sie ...« »Sehen Sie!« bestätigte er. »Wenn er sich aber ... verändert und mir gefolgt hätte, wenn er lebendig geworden wäre ... würde ich ihn denn dann nicht lieben? Wäre es auch dann Lüge und Irrtum gewesen?« sprach sie, um die Sache von allen Seiten zu betrachten und nicht den geringsten Fleck, nicht die kleinste Unklarheit daran haften zu lassen. »Das heißt, wenn an seiner Stelle ein anderer Mensch wäre«, unterbrach sie Stolz, »es besteht kein Zweifel, daß eure Beziehungen sich dann zur Liebe entwickelt und gefestigt hätten, und dann ... Das ist aber ein anderer Roman und ein anderer Held, der uns nichts angeht.« Sie seufzte auf, als hätte sie ihre Seele von der letzten Last befreit. Beide schwiegen. »Ach, welch ein Glück ist es ... zu genesen!« sprach sie langsam, als blühe sie auf, und richtete auf ihn einen Blick, der von so tiefer Dankbarkeit und so warmer, unbeschreiblicher Freundschaft erfüllt war, daß er darin den Funken zu erhaschen glaubte, den er schon fast seit einem Jahr vergeblich gesucht hatte. Ihn überlief ein freudiges Zittern. »Nein, ich gesunde!« sagte er sinnend. »Ach, wenn ich nur Gewißheit gehabt hätte, daß Ilja der Held dieses Romans war! Wieviel Zeit und wieviel Kraft habe ich verloren! Warum? Wozu?« sagte er fast ärgerlich. Doch dann schien er diesen Ärger von sich abzuschütteln und aus diesem tiefen Sinnen zu erwachen. Seine Stirn glättete sich und seine Augen blickten froher. »Aber das war wohl unvermeidlich, doch wie ruhig und ... wie glücklich bin ich jetzt!« fügte er wonnetrunken hinzu. »Es ist wie ein Traum, als ob nichts geschehen wäre!« sagte sie sinnend und kaum hörbar, über ihre plötzliche Wiedergeburt erstaunt. »Sie haben mich nicht nur von der Scham und Reue, sondern auch vom Schmerz und der Bitternis, überhaupt von allem befreit ... Wie haben Sie das fertiggebracht?« fragte sie leise. »Und das alles wird vergehen, dieser ... Irrtum?« »Ich glaube, es ist schon vergangen!« sagte er, sie zum erstenmal mit leidenschaftlichen Augen betrachtend, ohne es zu verbergen. »Das heißt, alles das, was war.« »Und wird das, was kommt ... kein Irrtum, sondern ... Wahrheit sein?« fragte sie, ohne zu Ende zu sprechen. »Hier steht es«, entschied er, indem er wieder den Brief ergriff: »›Vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet und von dem Sie geträumt haben. Er wird kommen, und Sie werden erwachen ...‹ Und lieben, füge ich hinzu, Sie werden so lieben, daß nicht nur ein Jahr, sondern ein ganzes Leben für diese Liebe nicht hinreichen wird, ich weiß nur nicht ... wen?« schloß er, sie mit den Augen durchdringend. Sie senkte den Blick und preßte die Lippen aufeinander, doch durch die Lider drangen Strahlen hindurch, die Lippen wollten ein Lächeln zurückhalten, doch es gelang ihnen nicht. Sie blickte ihn an und lachte so von Herzen laut, daß ihr sogar Tränen in die Augen kamen. »Ich habe Ihnen gesagt, was mit Ihnen war und sogar das, was mit Ihnen sein wird, Oljga Sjergejewna«, schloß er, »und werden Sie mir auf meine Frage, die Sie mich nicht aussprechen ließen, nichts antworten?« »Was kann ich denn darauf sagen?« fragte sie verlegen, »hätte ich denn das Recht, Ihnen das zu sagen, was Sie so brauchen und was Sie so verdienen?« fügte sie flüsternd hinzu und blickte ihn verschämt an. Er glaubte in diesem Blick wieder das Aufleuchten von noch nie dagewesener Freundschaft zu sehen, und er erbebte wieder vor Glück. »Beeilen Sie sich nicht«, fügte er hinzu, »sagen Sie, was ich wert bin, wenn Ihre Herzenstrauer, diese Anstandstrauer, zu Ende ist. Mir hat dieses Jahr nicht wenig gebracht. Und jetzt entscheiden Sie nur die Frage, ob ich fahren oder dableiben soll?« »Hören Sie, Sie kokettieren mit mir«, sagte sie plötzlich fröhlich. »O nein«, bemerkte er bedeutungsvoll, »das ist nicht mehr dieselbe Frage, sie hat jetzt einen anderen Sinn: in welcher Eigenschaft bleibe ... ich da?« Sie wurde plötzlich verlegen. »Sie sehen, daß ich nicht kokettiere!« scherzte er. »Wir müssen ja nach dem heutigen Gespräch einander anders gegenüberstehen; wir sind beide nicht mehr dieselben wie gestern.« »Ich weiß nicht«, flüsterte sie noch verlegener. »Erlauben Sie mir, Ihnen zu raten?« »Sprechen Sie ... ich gehorche Ihnen blindlings!« fügte sie mit fast leidenschaftlicher Demut hinzu. »Heiraten Sie mich in der Erwartung, bis ›er‹ kommt!« »Ich wage es noch nicht ...« flüsterte sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, erregt, aber glücklich. »Warum wagen Sie denn nicht?« fragte er auch flüsternd und ihren Kopf an sich ziehend. »Und die Vergangenheit?« flüsterte sie wieder, ihm den Kopf wie einer Mutter auf die Brust legend. Er zog ihr die Hände leise vom Gesicht fort, küßte sie auf den Kopf, bewunderte lange ihre Verlegenheit und blickte entzückt auf die ihr in die Augen getretenen und wieder trocknenden Tränen. »Sie wird verblassen wie Ihr Flieder!« schloß er. »Sie haben gelernt, jetzt ist die Zeit zum Genießen gekommen. Jetzt beginnt das Leben; überlassen Sie mir Ihre Zukunft und denken Sie an nichts – ich übernehme die Verantwortung für alles. Gehen wir zur Tante.« Stolz ging spät nach Hause. Ich habe das, was mir zukommt, gefunden, dachte er, die Bäume, den Himmel, den See und selbst den vom Wasser aufsteigen den Nebel mit verliebten Augen betrachtend. Es ist gekommen! Wieviel Jahre dürste ich nach Liebe, gedulde mich und spare meine Seelenkräfte! Wie lange habe ich gewartet – jetzt ist alles belohnt; das ist es, das höchste menschliche Glück! Alles trat jetzt in seinen Augen hinter dem Glück zurück, das Kontor, der Wagen des Vaters, die Gemslederhandschuhe, die fettigen Rechnungen, das ganze geschäftliche Leben. In seiner Erinnerung erstand nur das duftende Zimmer seiner Mutter, die Variationen von Herz, die fürstliche Galerie, die blauen Augen und gepuderten kastanienbraunen Haare, das alles wurde von einer zarten Stimme, von Oljgas Stimme, übertönt; er hörte im Geiste ihren Gesang ... »Oljga ... mein Weib!« flüsterte er, in Leidenschaft erbebend. »Alles ist gefunden, ich habe nichts mehr zu suchen und brauche nirgends mehr hinzugehen!« Und er ging sinnend und vom Glück betäubt nach Hause, ohne den Weg und die Straßen zu beachten ... Oljga folgte ihm lange mit den Augen, öffnete dann das Fenster und atmete ein paar Minuten lang die nächtliche Frische ein; ihre Erregung hatte sich ein wenig beruhigt, ihre Brust atmete gleichmäßiger. Sie richtete die Augen auf den See und in die Ferne und sann so still und tief nach, als wäre sie im Schlaf. Sie wollte das, was sie dachte und fühlte, auffangen, es gelang ihr aber nicht. Die Gedanken wogten wie Wellen, und das Blut floß so rhythmisch durch ihre Adern. Sie empfand großes Glück und konnte nicht bestimmen, wo sich sein Ursprung und seine Grenzen befanden und was es war. Sie dachte, warum es ihr wohl so still, friedlich ruhig und wohl war, während ... »Ich bin seine Braut!« flüsterte sie. Ich bin Braut! denkt ein Mädchen, vor Stolz bebend, beim Eintreten dieses Momentes, der ihr ganzes Leben beleuchtet, sie wächst in die Höhe und schaut von da auf den dunklen Pfad herab, auf dem sie gestern einsam und unbemerkt gewandert ist. Warum bebte Oljga nicht? Auch sie war unbemerkt auf einsamem Pfad gewandelt, auch ihr war auf dem Kreuzweg er begegnet, hatte ihr die Hand gereicht, aber sie nicht ins Licht der blendenden Strahlen, sondern gleichsam zu einem weiten Fluß, zu unabsehbaren Feldern und freundlich lächelnden Hügeln geführt. Sie blinzelte nicht vor Glanz, ihr Herz erstarrte nicht, und ihre Phantasie flammte nicht auf. Sie ließ den Blick mit stiller Freude auf den Wogen des Lebens, auf seinen weiten Feldern und den grünen Hügeln ruhen. Ihre Schultern überlief kein Zittern, ihr Blick leuchtete nicht vor Stolz auf; erst dann, als sie den Blick von den Feldern und Hügeln auf denjenigen, der ihr die Hand reichte, richtete, fühlte sie, daß ihr langsam eine Träne über die Wange rollte ... Sie saß noch immer da, als schliefe sie – so still war der Traum ihres Glückes; sie rührte sich nicht und atmete fast nicht. In Träumen versunken, blickte sie in die stille, blau schimmernde Nacht hinein, die mit sanftem Licht, mit Wärme und Duft erfüllt war. Das Glück hatte seine weiten Flügel ausgebreitet und glitt langsam, wie eine Wolke am Himmel, über ihren Kopf hin ... In diesem Traum sah sie sich nicht für zwei Stunden in Tüll und Spitzen eingewickelt und dann das ganze Leben lang in Lumpen des Alltags. Sie träumte von keinem Festmahl, von keinen Lichtern und fröhlichen Stimmen; sie träumte von einem so einfachen, so schmucklosen Glück, daß sie noch einmal, ohne vor Stolz zu beben, sondern nur in tiefer Rührung, flüsterte: »Ich bin seine Braut!« Fünftes Kapitel Fünftes Kapitel Mein Gott! Wie düster und trostlos sah es anderthalb Jahre nach Oblomows Namenstag in seiner Wohnung aus, als Stolz zu ihm unerwartet zum Essen kam. Auch Ilja Iljitsch selbst war aufgedunsen, und in seinen Augen hatte sich Langeweile gegraben, die wie eine Krankheit von dort hervorblickte. Er ging eine Weile im Zimmer herum, legte sich hin und schaute auf den Plafond; dann nahm er ein Buch von der Etagere, öffnete es, überflog ein paar Zeilen mit den Augen, gähnte und begann mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Sachar war noch plumper und unordentlicher geworden; die Ellbogen seines Rockes waren geflickt, er sah so arm und hungrig aus, als ob er wenig zu essen habe, wenig schlafe und für drei arbeite. Oblomows Schlafrock war abgenützt und ging aus den Fugen, so sorgfältig man seine Löcher auch zunähte; er hätte sich längst einen neuen anschaffen sollen. Die Decke auf dem Bett sah auch ganz abgenützt aus und wies hie und da Flicken auf; die Vorhänge an den Fenstern waren längst verblichen und wirkten, trotzdem sie gewaschen waren, wie Fetzen. Sachar brachte ein altes Tischtuch herein, bedeckte damit den halben Tisch auf der Seite, an der Oblomow saß, brachte dann vorsichtig, sich auf die Zunge beißend, das Gedeck und eine Karaffe mit Schnaps herein, legte das Brot hin und ging. Die Tür der Hausfrau öffnete sich, und Agafja Matwejewna kam rasch herein, eine Pfanne mit einer zischenden Eierspeise tragend. Auch sie hatte sich furchtbar und nicht zu ihrem Vorteil verändert. Sie war sehr abgemagert. Sie hatte keine runden, weißen, weder errötenden noch erbleichenden Wangen mehr; ihre dünnen Augenbrauen glänzten nicht; ihre Augen waren eingefallen. Sie trug ein altes Kattunkleid; ihre Hände waren von der Arbeit, vom Feuer oder von beidem rot und grob geworden. Akulina war nicht mehr im Hause. Anissja hatte in der Küche und im Gemüsegarten zu tun, sie pflegte die Hühner, scheuerte die Fußböden und wusch die Wäsche; sie konnte allein nicht fertig werden, und Agafja Matwejewna mußte, ob sie wollte oder nicht, selbst in der Küche arbeiten. Sie stieß, siebte und rieb jetzt wenig, denn es wurde wenig Kaffee, Zimt und Mandeln verwendet, und sie dachte nicht einmal mehr an ihre Spitzen. Jetzt mußte sie oft Zwiebeln schneiden und Meerrettich und dergleichen Gewürze reiben. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe Traurigkeit wider. Doch sie seufzte nicht ihretwegen, nicht weil sie keinen Kaffee zum Trinken hatte, sie grämte sich nicht, weil sie keine Gelegenheit hatte, sich zu betätigen, in größerem Umfange zu wirtschaften, Zimt zu stoßen, Vanille in die Soße zu legen oder dicken Rahm zu sieden, sondern weil Ilja Iljitsch schon das zweite Jahr das alles nicht bekam, weil man den Kaffee für ihn nicht pudweise aus dem besten Geschäft holte, sondern für ein paar Kopeken in dem Krämerladen kaufte; weil der Rahm nicht von einer Finnin gebracht wurde, sondern aus demselben Laden geholt werden mußte; weil sie ihm statt eines saftigen Kotelettes eine mit hartem, altem Schinken aus dem Krämerladen zubereitete Eierspeise brachte. Was bedeutete das? Nichts anderes, als daß die aus Oblomowka eintreffenden Gelder, die Stolz regelmäßig schickte, zur Deckung des Schuldscheines, den Oblomow der Hausfrau ausgestellt hatte, verwendet wurden. Die »gesetzliche Sache« des Bruders war über alle Erwartungen gelungen. Bei der ersten Andeutung Tarantjews auf die skandalöse Angelegenheit war Ilja Iljitsch errötet und verlegen geworden; dann gingen sie zum Ausgleich über, tranken alle drei, und Oblomow unterschrieb den Schuldschein, der für vier Jahre ausgestellt wurde; nach einem Monat unterschrieb Agafja Matwejewna einen ebensolchen Brief auf den Namen des Bruders, ohne zu ahnen, was es war und warum sie es tat. Der Bruder sagte, es sei ein notwendiges Dokument, das sich auf das Haus beziehe, und befahl ihr, zu schreiben: »Diesen Schuldschein hat Frau Soundso (Rang, Vor- und Zuname) eigenhändig unterschrieben.« Es machte sie nur verwirrt, daß sie so viel schreiben mußte, und sie bat den Bruder, lieber Wanjuscha schreiben zu lassen, er könnte das so gut, sie selbst würde aber vielleicht noch etwas Unrechtes hineinschreiben. Doch der Bruder bestand energisch darauf, und sie unterschrieb mit schiefen und großen Buchstaben. Seitdem war nie mehr die Rede davon. Oblomow tröstete sich beim Unterschreiben teilweise damit, daß dieses Geld den Waisen zugute kommen würde, und dann am nächsten Tage, als ihm der Kopf klar war, dachte er beschämt an diese Angelegenheit, bestrebte sich, sie zu vergessen, vermied es, mit dem Bruder zusammenzukommen, und wenn Tarantjew davon zu sprechen begann, drohte er, sofort aus der Wohnung auszuziehen und aufs Gut zu reisen. Als dann das Geld aus dem Gut eintraf, kam der Bruder zu ihm und erklärte, es wäre für Ilja Iljitsch leichter, die Auszahlung der Schuld sofort aus den Einkünften zu beginnen, dann wäre die Schuld in drei Jahren beglichen, während beim Eintreten des Termins, an dem der Schein eingelöst werden mußte, das Gut öffentlich versteigert werden müßte, da Oblomow kein bares Geld besaß und auch keine Aussichten darauf hatte. Oblomow begriff, in welche Falle man ihn gelockt hatte, als alles, was Stolz schickte, zur Bezahlung der Schuld verwendet wurde und ihm nur eine kleine Summe zum Leben übrigblieb. Der Bruder beeilte sich, diese freiwillige Abmachung mit seinem Schuldner auszunützen und die Schuld innerhalb zweier Jahre einzuheben, damit ihm nicht etwas in den Weg kam und ihn daran hinderte; infolgedessen geriet Oblomow plötzlich in Verlegenheit. Zuerst bemerkte er es nicht sehr, da er die Gewohnheit hatte, nicht zu wissen, wieviel er in seiner Tasche hatte; aber dann fiel es Iwan Matwejewitsch ein, um eine Kaufmannstochter anzuhalten; er mietete eine Wohnung für sich und übersiedelte. Die wirtschaftliche Tätigkeit von Agafja Matwejewna wurde plötzlich eingeschränkt; die Störe, das schneeweiße Kalbfleisch und die Kapaune begannen in der anderen Küche, in Muchojarows neuer Wohnung zu erscheinen. Dort brannte abends Licht und versammelten sich die künftigen Verwandten des Bruders, seine Kollegen und Tarantjew. Alles ging dort hinüber. Agafja Matwejewna und Anissja blieben mit offenem Mund und müßigen Händen bei leeren Pfannen und Töpfen zurück. Agafja Matwejewna erfuhr zum erstenmal, daß sie nur ein Haus, einen Gemüsegarten und Hühner besaß, und daß weder Zimt noch Vanille bei ihr wuchsen; sie sah, daß die Verkäufer auf dem Markt nach und nach aufhörten, sich vor ihr tief zu verbeugen, und daß der ehrfurchtsvolle Gruß und das Lächeln auf die neue, dicke, elegant gekleidete Köchin ihres Bruders über gingen. Oblomow überließ der Hausfrau das ganze Geld, das der Bruder ihm übriggelassen hatte, und sie mahlte drei, vier Monate lang, ohne sich Gedanken zu machen, pudweise Kaffee, stieß Zimt, briet Kalbfleisch und Kapaune und setzte das bis zum Tag fort, an dem sie ihre letzten siebzig Kopeken ausgegeben hatte und ihm mitteilte, sie hätte kein Geld mehr. Er drehte sich bei dieser Nachricht dreimal auf dem Sofa um, schaute dann in seine Lade; es war nichts drin. Er wollte sich erinnern, worauf er es ausgegeben hatte, ihm fiel aber nichts ein; er tastete mit der Hand auf dem Tisch herum, ob es keine Kupfermünze gab, fragte Sachar, doch dieser wußte nichts. Sie ging zum Bruder hin und sagte naiv, es wäre kein Geld im Hause. »Wo habt ihr, der Edelmann und du, die tausend Rubel hingetan, die ich ihm zum Leben gegeben habe?« fragte er. »Wo soll ich das Geld hernehmen? Du weißt, ich gehe eine Ehe ein, ich kann nicht zwei Familien erhalten, und du mußt dich mit deinem gnädigen Herrn nach der Decke strecken.« »Warum werfen Sie mir den Herrn vor, Bruder?« sagte sie, »was hat er Ihnen getan? Er rührt niemanden an und lebt für sich allein. Nicht ich, sondern Sie und Michej Andreitsch habt ihn in die Wohnung gelockt.« Er gab ihr zehn Rubel und sagte, er besäße nicht mehr. Als er sich die Sache aber mit dem Gevatter in der Kneipe überlegt hatte, beschloß er, man dürfe die Schwester und Oblomow nicht ihrem Schicksal überlassen, die Sache könnte sonst noch bis zu Stolz dringen, dieser würde kommen, sich über alles erkundigen, und womöglich alles umändern, so daß sie nicht Zeit hätten, die Schuld einzuheben, obwohl das »eine gesetzliche Sache« war; es war ein so durchtriebener Deutscher! Er begann ihnen fünfzig Rubel monatlich zu geben und nahm sich vor, dieses Geld aus Oblomows Einkünften im dritten Jahre zurückzunehmen, dabei erklärte er aber der Schwester und gab ihr sein Wort darauf, daß er auch nicht eine Kopeke mehr hergeben würde, und rechnete ihr vor, was für eine Kost sie sich erlauben dürften, wie sie die Ausgaben verringern sollten, bestimmte sogar, welche Gerichte sie kochen sollte, rechnete aus, wieviel sie für die Hühner und für das Kraut bekommen konnte, und entschied, daß man für alles das sehr gut leben konnte. Agafja Matwejewna dachte zum erstenmal im Leben über etwas anderes als über die Wirtschaft nach und weinte zum erstenmal nicht aus Ärger über Akulina, weil sie Geschirr zerschlagen hatte, und nicht, weil der Bruder über einen zu wenig gekochten Fisch schimpfte; sie blickte zum ersten Male drohender Not, die aber nicht sie, sondern Ilja Iljitsch bedrohte, in die Augen. Wie würde dieser Edelmann (überlegte sie sich) statt Spargel – Rüben mit Butter, statt Haselhühner – Hammelfleisch, statt Forellen und bernsteinfarbenes Störfleisch – gesalzenen Zander und vielleicht Sulz aus dem Krämerladen essen? ... Entsetzlich! Sie dachte die Sache nicht bis zu Ende, sondern zog sich eilig an, nahm einen Wagen und fuhr, trotzdem es weder Weihnachten noch Ostern war und kein Familienessen stattfand, früh des Morgens zu den Verwandten ihres Mannes, von Sorge erfüllt, hin, um an sie in ungewohnten Worten die Frage zu richten, was sie tun sollte, und um bei ihnen Geld zu leihen. Sie hatten viel davon, sie würden ihr sofort welches geben, wenn sie erfuhren, daß es für Ilja Iljitsch war. Wenn es sich um Tee oder Kaffee für sie selbst, um Schuhe und Kleider für die Kinder oder um ähnliche Launen gehandelt hätte, würde sie kein Wort gesagt haben, sie brauchte es aber in höchster Not, wo es bis ans Messer ging: um Ilja Iljitsch Spargel und Haselhühner zu kaufen, er liebte auch so französische Erbsen ... Man war dort aber erstaunt und gab ihr kein Geld, sondern sagte, daß, wenn Ilja Iljitsch irgendwelche Gold- oder Silbersachen und sogar Pelz hatte, man es versetzen konnte und daß es solche Wohltäter gab, welche den dritten Teil der gebetenen Summe vorstreckten, bis er wieder Geld aus dem Gute bekam. Dieser praktische Rat würde zu einer anderen Zeit an der genialen Hausfrau vorübergeflogen sein, ohne ihre Gedanken irgendwie zu berühren, und es würde kein Mittel gegeben haben, ihr das klarzumachen; jetzt faßte sie alles mit dem Verstande des Herzens auf und wog ... ihre Perlen, die sie als Mitgift bekommen hatte. Ilja Iljitsch trank, ohne etwas zu ahnen, am nächsten Tage Johannisbeerschnaps, aß ausgezeichneten Lachs, sein geliebtes Gekröse und ein weißes, frisches Haselhuhn dazu. Agafja Matwejewna und ihre Kinder aßen mit den Dienstboten zusammen Schtschi und Brei, und sie trank, nur um Ilja Iljitsch Gesellschaft zu leisten, zwei Schalen Kaffee. Bald holte sie aus einem gewissen Koffer ihre Kette hervor, dann das Silber und den Pelz ... Dann kam der Zeitpunkt, in dem das Geld aus dem Gute kam; Oblomow gab ihr das ganze. Sie löste die Perlen ein und bezahlte die Zinsen für die Halskette, das Silber und den Pelz, begann ihm wieder Spargel und Haselhühner zu kochen und trank nur seinetwegen Kaffee. Die Perlen wurden wieder auf ihren Platz hingelegt. So spannte sie von Woche zu Woche ihre Kräfte an, quälte sich ab und tat alles, was sie konnte; sie hatte ihren Schal und das Sonntagskleid verkauft, trug jetzt immer ihr altes Kattunkleid mit den kurzen Ärmeln und deckte sich am Sonntag den Hals mit einem alten, abgetragenen Tuche zu. Darum war sie abgemagert, hatte eingefallene Augen und brachte Ilja Iljitsch eigenhändig das Frühstück. Sie hatte sogar die Kraft, eine fröhliche Miene aufzusetzen, wenn Oblomow ihr erklärte, morgen würde Tarantjew, Alexejew oder Iwan Gerassimowitsch zu ihm zu Mittag kommen. Es erschien ein schmackhaftes, gut serviertes Essen. Sie machte dem Gastgeber keine Schande. Aber wie mußte sie sich aufregen und herumlaufen, wieviel Bitten mußte sie an den Krämer richten, und wieviel schlaflose Nächte und Tränen verursachten ihr diese Sorgen! Wie tief mußte sie sich in die Aufregungen des Lebens versenken und wie gut lernte sie die Tage des Glücks und Unglücks kennen! Doch sie liebte dieses Leben und würde es trotz ihrer Tränen und Sorgen nicht gegen das frühere, stille Dasein eingetauscht haben, das sie geführt hatte, bevor sie Oblomow kannte, als sie mit Würde inmitten von gefüllten, knisternden und zischenden Töpfen, Pfannen und Kasserolen herrschte und Akulina und den Hausbesorger befehligte. Sie fuhr sogar vor Entsetzen zusammen, wenn ihr der Gedanke an den Tod kam, trotzdem der Tod ja mit einem Schlage ihren nie trocknenden Tränen, dem täglichen Herumlaufen und den schlaflosen Nächten ein Ende gemacht hätte. Ilja Iljitsch frühstückte, hörte zu, wie Mascha Französisch las, saß eine Weile in Agafja Matwejewnas Zimmer und schaute zu, wie sie Wanjas Rock ausbesserte, indem sie ihn zehnmal von einer Seite auf die andere wandte und zu gleicher Zeit immerwährend in der Küche nachsehen lief, wie das Hammelfleisch, das zum Mittagessen bestimmt war, briet und ob es nicht Zeit sei, die Fischsuppe zu kochen. »Warum bemühen Sie sich so?« sagte Oblomow, »lassen Sie das doch!« »Wer wird denn für alles sorgen, wenn ich es nicht tue?« sagte sie, »Ich werde nur noch zwei Flicken auflegen, und dann muß ich die Fischsuppe kochen. Was für ein schlimmer Knabe dieser Wanja ist! Ich habe ihm erst vorige Woche den Rock ausgebessert, und er hat ihn wieder zerrissen! Was lachst du?« wandte sie sich an Wanja, der in Hosen und im Hemd und nur mit einem Hosenträger am Tische saß. »Ich werde dir das bis zum Morgen nicht ausbessern, dann kannst du nicht zum Tor hinlaufen. Du hast gewiß gerauft, und die Kinder haben ihn dir zerrissen. – Gestehe nur!« »Nein, Mamachen, er ist von selbst zerrissen!« sagte Wanja. »Wisch dir die Nase ab, siehst du denn nicht«, bemerkte sie, ihm das Tuch hinwerfend. Wanjuscha kicherte, wischte sich aber die Nase nicht ab. »Warten Sie nur, bis ich das Geld aus dem Gut bekomme, dann lasse ich ihm zwei Anzüge nähen«, sprach Oblomow dazwischen, »einen blauen, und nächstes Jahr, wenn er ins Gymnasium eintritt, eine Uniform.« »Er kann noch den alten tragen«, sagte Agafja Matwejewna, »und das Geld brauchen wir ja für die Wirtschaft. Ich werde für Sie dann Pökelfleisch und Eingesottenes vorbereiten. Ich muß nachsehen, ob Anissja den Rahm gebracht hat ...« Sie erhob sich. »Was haben wir heute?« »Fischsuppe von Barschen, gebratenes Hammelfleisch und Obstkuchen.« Oblomow schwieg. Plötzlich rollte ein Wagen heran, man klopfte an die Pforte, der Hund begann zu bellen und an der Kette zu zerren. Oblomow ging in sein Zimmer, da er glaubte, es wäre jemand zur Hausfrau gekommen, der Fleischer, der Gemüsehändler oder sonst jemand. Ein solcher Besuch hatte gewöhnlich die Bitte um Geld, die Absage der Hausfrau, die Drohungen von seiten des Verkäufers, die Bitte, zu warten, von seiten der Hausfrau, dann Schimpfen, Zuschlagen der Tür, der Pforte und wildes Bellen und Zerren des Hundes an der Kette – alles in allem eine unangenehme Szene im Gefolge. Es war eben ein Wagen gekommen – was konnte das bedeuten? Die Fleischer und Gemüsehändler fuhren nicht im Wagen. Plötzlich lief die Hausfrau erschrocken zu ihm herein. »Zu Ihnen kommt ein Gast«, sagte sie. »Wer denn? Tarantjew oder Alexejew?« »Nein, nein, der, welcher am Iljatage bei Ihnen gegessen hat.« »Stolz?« fragte Oblomow, unruhig um sich blickend, »wohin könnte ich gehen, mein Gott! Was wird er sagen, wenn er sieht ... Sagen Sie, daß ich fort bin!« setzte er eilig hinzu und ging in das Zimmer der Hausfrau. Anissja kam gerade zur rechten Zeit, um den Gast zu empfangen. Agafja Matwejewna hatte ihr Oblomows Befehl übermittelt. Stolz glaubte ihr, wunderte sich nur darüber, daß Oblomow nicht zu Hause war. »Nun, so sage, daß ich in zwei Stunden zum Mittagessen komme!« sagte er und ging in den Park, der sich in der Nähe befand. »Er wird mit uns essen!« teilte Anissja erschrocken mit. »Er wird mit uns essen!« wiederholte Agafja Matwejewna ängstlich Oblomow. »Man muß ein anderes Mittagessen vorbereiten«, beschloß er nach einem Schweigen. Sie richtete auf ihn einen entsetzten Blick. Sie besaß nur einen halben Rubel, und es blieben noch zehn Tage bis zum ersten, da sie das Geld vom Bruder bekam. Auf Borg wollte niemand etwas geben. »Wir haben nicht genug Zeit, Ilja Iljitsch«, bemerkte sie schüchtern, »er soll das essen, was da ist ...« »Er ißt das nicht, Agafja Matwejewna; er kann keine Fischsuppe ausstehen, und wenn sie sogar aus Sterlett gemacht ist; er nimmt auch nie Hammelfleisch in den Mund.« »Man könnte in der Wursthandlung Zunge nehmen?« fragte sie plötzlich, gleichsam einer Eingebung folgend. »Das ist hier in der Nähe.« »Das ist gut, das könnte man, und lassen Sie irgendein Gemüse, vielleicht frische Bohnen, dazu reichen ...« Bohnen kosten achtzig Kopeken das Pfund! stieg es in ihr auf, kam aber nicht über die Lippen. »Gut, ich werde es besorgen ...« sagte sie und beschloß, die Bohnen durch Kohl zu ersetzen. »Lassen Sie ein Pfund Schweizer Käse holen!« kommandierte er, da er nicht wußte, wie es um Agafja Matwejewnas Geldbeutel bestellt war. »Sonst nichts! Ich werde um Entschuldigung bitten und sagen, daß wir ihn nicht erwartet haben.« Sie wollte gehen. »Und Wein!« fiel es ihm plötzlich ein. Sie richtete auf ihn wieder einen entsetzten Blick. »Man muß Lafitte holen lassen!« schloß er kaltblütig. Sechstes Kapitel Sechstes Kapitel Nach zwei Stunden kam Stolz. »Was hast du? Du bist so verändert, so aufgedunsen und blaß! Bist du nicht wohl?« fragte Stolz. »Mit meiner Gesundheit steht es schlecht, Andrej«, sagte Oblomow, ihn umarmend, »der linke Fuß erstarrt mir immer.« »Wie es bei dir aussieht!« sagte Stolz, um sich blickend. »Warum wirfst du diesen Schlafrock nicht fort? Sieh, er ist voller Flicken!« »Das macht die Gewohnheit, Andrej; es wäre zu schade, mich von ihm zu trennen.« »Und die Decke und die Vorhänge ...« begann Stolz. »Ist das auch die Gewohnheit? Ist es auch zu schade, diese Fetzen herabzunehmen? Aber ich bitte dich, ist es denn möglich, daß du auf diesem Bett schlafen kannst? Ja, was hast du denn?« Stolz blickte Oblomow forschend an und wandte sich dann wieder den Vorhängen und dem Bette zu. »Gar nichts«, sagte Oblomow verlegen, »du weißt, daß ich mich niemals sonderlich um mein Zimmer gekümmert habe ... Wollen wir lieber essen. He, Sachar! Decke geschwind den Tisch. – Also, was ist mit dir? Kommst du für lange? Und woher?« »Errate, woher und weshalb ich komme?« fragte Stolz. »Zu dir dringen hierher ja keine Nachrichten aus der Welt der Lebenden!« Oblomow sah ihn neugierig an und wartete, was er sagen würde. »Was ist mit Oljga?« fragte er dann. »Ach, du hast sie nicht vergessen! Ich dachte, du würdest sie vergessen!« »Nein, Andrej, kann man sie denn vergessen? Das hieße vergessen, daß ich einst gelebt habe und im Paradies war ... Und jetzt! ...« Er seufzte. »Aber wo ist sie denn?« »Auf ihrem Gute; sie beschäftigt sich dort mit der Wirtschaft!« »Mit der Tante?« fragte Oblomow. »Und mit dem Manne.« »Sie ist verheiratet?« fragte Oblomow, plötzlich die Augen weit öffnend. »Warum bist du denn erschrocken? Sind es vielleicht die Erinnerungen?« fügte Stolz leise und fast zärtlich hinzu. »Ach nein, was dir einfällt!« rechtfertigte sich Oblomow, zur Besinnung kommend. »Ich bin nicht erschrocken, sondern erstaunt; ich weiß nicht, warum mich das so verblüfft hat. Schon lange? Ist sie glücklich? Sag es mir um Gottes willen. Ich fühle, daß du mir eine große Last abnimmst! Trotzdem du mir versichert hast, daß sie mir verziehen hat, war ich doch ... nicht beruhigt. Es hat immer etwas an mir genagt ... Lieber Andrej, wie dankbar bin ich dir!« Er freute sich so von Herzen und sprang auf seinem Sofa so herum, daß Stolz ihn bewunderte und sogar gerührt war. »Wie gut du bist, Ilja!« sagte er. »Dein Herz hat sie verdient! Ich werde ihr das alles erzählen.« »Nein, nein, sag es ihr nicht!« unterbrach ihn Oblomow. »Sie wird mich für herzlos halten, wenn sie hört, daß ich mich über ihre Heirat gefreut habe.« »Und ist denn die Freude kein Gefühl, und dabei nicht ein ganz selbstloses? Du freust dich nur über ihr Glück.« »Das ist wahr, das ist wahr!« sagte Oblomow. »Ich schwatze da Gott weiß was zusammen ... Wer denn, wer ist denn dieser Glückliche? Ich habe ja noch gar nicht gefragt.« »Wer?« wiederholte Stolz. »Wie schwer von Begriffen du bist, Ilja.« Oblomow ließ plötzlich seinen reglosen Blick auf seinem Freunde ruhen, seine Züge erstarrten für einen Augenblick und das Blut entwich aus seinem Gesicht. »Bist ... du es vielleicht?« fragte er. »Du bist wieder erschrocken! Wovor denn?« sagte Stolz lachend. »Scherze nicht, Andrej, sag die Wahrheit!« bat Oblomow erregt. »Bei Gott, ich scherze nicht. Ich bin schon das zweite Jahr mit Oljga verheiratet.« Die Furcht verschwand allmählich von Oblomows Gesicht und machte friedlichem Sinnen Platz; er hob die Augen noch nicht, aber sein Gemüt war nach einer Weile von stiller, tiefer Freude erfüllt, und als er Stolz langsam anblickte, waren in seinem Blick schon Tränen der Rührung. »Lieber Andrej!« sprach Oblomow, ihn umarmend. »Liebe Oljga ... Sjergejewna!« fügte er dann, sein Entzücken eindämmend, hinzu. »Gott selbst hat euch gesegnet! O wie glücklich ich bin! Sag ihr ...« »Ich werde ihr sagen, daß ich keinen zweiten Oblomow kenne!« unterbrach ihn der tiefgerührte Stolz. »Nein, sag und erinnere sie daran, daß ich ihr darum begegnet bin, um sie auf den rechten Weg zu führen, und daß ich diese Begegnung und sie auf dem neuen Wege segne! Wie würde sich alles gestalten, wenn es ein anderer wäre! ...« fügte er entsetzt hinzu. »Und jetzt«, schloß er fröhlich, »erröte ich nicht über meine Rolle und bereue nicht; mir ist ein Stein von der Seele gefallen, jetzt ist dort alles licht, und ich bin glücklich. Gott, ich danke dir!« Er sprang wieder vor Erregung bald weinend und bald lachend auf dem Sofa herum. »Sachar, Champagner zum Mittagessen!« schrie er, vergessend, daß er keine Kopeke besaß. »Ich werde alles Oljga erzählen, alles!« sagte Stolz. »Es hat schon seinen Grund, daß sie dich gar nicht vergessen kann. Nein, du warst ihrer wert; dein Herz ist tief wie ein Brunnen!« Sachar steckte aus dem Vorzimmer seinen Kopf herein. »Kommen Sie, bitte!« sagte er, dem Herrn zublinzelnd. »Was ist denn?« fragte dieser ungeduldig. »Geh hinaus!« »Bitte um Geld!« flüsterte Sachar. Oblomow schwieg plötzlich. »Dann ist es nicht nötig!« flüsterte er durch die Tür. »Sage, daß du vergessen hast oder daß es schon zu spät war! Geh! ... Nein, komm her!« sagte er laut. »Weißt du schon das Allerneueste, Sachar? Gratuliere: Andrej Iwanowitsch hat geheiratet!« »Ach, Väterchen! Gott hat uns eine solche Freude erleben lassen! Wir gratulieren, Väterchen Andrej Iwanowitsch. Gott soll Sie unzählige Jahre leben lassen und Ihnen Kinderchen schenken. Ach Gott, ist das eine Freude!« Sachar verneigte sich, lächelte, krächzte und knarrte. Stolz nahm einen Papierschein heraus und gab ihn ihm. »Da hast du und kaufe dir einen Rock«, sagte er, »du siehst ja wie ein Bettler aus!« »Wen denn, Väterchen?« fragte Sachar, Stolz' Hände fangend. »Oljga Sjergejewna – weißt du noch?« sagte Oblomow. »Das Iljinskysche Fräulein! O Gott, ein so liebes Fräulein! Sie haben mich alten Hund damals mit Recht gescholten, Ilja Iljitsch! Ich bin schuldig und sündhaft; ich habe die Klatschgeschichten über Sie verbreitet. Ich hab' es auch den Iljinskyschen Dienstboten erzählt, und nicht Nikita! Es ist wahr, daß damals ein Klatsch herausgekommen ist. Ach Gott, ach du mein Gott! ...« sprach er, ins Vorzimmer gehend. »Oljga ladet dich zu sich aufs Gut zum Besuche ein; deine Liebe ist erkaltet, es ist nicht gefährlich. Du wirst nicht eifersüchtig sein. Komm mit!« Oblomow seufzte. »Nein, Andrej«, sagte er, »ich fürchte weder die Liebe noch die Eifersucht, ich fahre aber trotzdem nicht zu euch.« »Was fürchtest du denn?« »Ich fürchte den Neid. Euer Glück wird für mich ein Spiegel sein, in dem ich immerwährend mein getötetes, reizloses Leben sehen werde; ich werde aber nicht mehr anders leben, ich kann nicht.« »Genug, lieber Ilja! Du wirst unwillkürlich so leben, wie man um dich herum lebt. Du wirst rechnen, wirtschaften, lesen, Musik hören. Wie ihre Stimme sich jetzt entwickelt hat! Erinnerst du dich noch an Casta diva? « Oblomow winkte ihm mit der Hand, er solle ihn nicht daran erinnern. »Komm doch mit!« ließ Stolz nicht nach. »Es ist ihr Wille; sie wird darauf bestehen. Wenn ich müde werde, ist sie es noch lange nicht. In ihr ist so viel Feuer und Leben, daß sogar ich manchmal mein Teil abbekomme. Dann wird die Vergangenheit wieder in deiner Seele erwachen. Du wirst dich an den Park und den Flieder erinnern, und es wird sich in dir etwas regen ...« »Nein, Andrej, nein! Erinnere mich nicht daran und wecke in mir um Gottes willen nichts!« unterbrach Oblomow ihn ernsthaft. »Es tut mir weh, und mir wird nicht wohl dabei. Erinnerungen sind entweder höchste Poesie, wenn sie sich auf lebendiges Glück beziehen, oder brennender Schmerz, wenn sie vernarbte Wunden berühren ... Sprechen wir von etwas anderem. Ja, ich habe dir nicht für deine Sorge um meine Angelegenheiten und um mein Gut gedankt. Mein Freund! Ich kann nicht, ich habe nicht die Kraft; suche in deinem eigenen Herzen nach Dankbarkeit und nach Glück, und in Oljga ... Sjergejewna, ich aber ... ich ... kann nicht! Verzeih, daß ich dich noch bis jetzt nicht von den Scherereien befreit habe. – Aber jetzt kommt bald der Frühling, und ich reise be stimmt nach Oblomowka.« »Und weißt du, wie es in Oblomowka aussieht? Du wirst es gar nicht wiedererkennen!« sagte Stolz. »Ich habe dir nicht geschrieben, weil du die Briefe nicht beantwortest. Die Brücke ist fertig, das Haus ist schon vorigen Sommer unter Dach gewesen. Du mußt dich aber selbst um die innere Einrichtung kümmern und sie nach deinem Geschmack zusammenstellen – das übernehme ich nicht. Die Wirtschaft wird vom neuen Verwalter, einem von meinen Leuten, geführt. Hast du dir die Ausgaben angesehen?« Oblomow schwieg. »Hast du die Berichte nicht gelesen?« fragte Stolz, ihn anblickend. »Wo sind sie?« »Weißt du, ich werde sie nach dem Essen suchen; ich muß erst Sachar fragen ...« »Ach, Ilja, Ilja! Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll.« »Wir werden sie nach dem Essen finden. Wollen wir essen!« Stolz furchte die Stirn, als er sich zu Tisch setzte. Er dachte an den Iljatag, an die Austern, die Ananas und die Schnepfen; und jetzt sah er ein grobes Tischtuch, Essig- und Ölflaschen mit Papierstücken statt der Pfropfen; auf den Tellern lag je eine große Schnitte Schwarzbrot, die Gabeln hatten zerbrochene Griffe. Oblomow reichte man Fischsuppe und ihm Suppe mit Grütze und ein gekochtes junges Huhn; darauf folgte harte Zunge und dann Hammelfleisch. Man brachte Rotwein. Stolz schenkte sich ein halbes Glas ein, kostete, stellte das Glas auf den Tisch und trank nicht mehr. Ilja Iljitsch trank zwei Gläschen Johannisbeerschnaps hintereinander und nahm gierig den Hammelbraten in Angriff. »Der Wein taugt nichts!« sagte Stolz. »Verzeih, man hat in der Eile nicht so weit gehen können«, sagte Oblomow. »Willst du nicht Johannisbeerschnaps trinken? Es ist ausgezeichnet, Andrej, koste doch!« Er schenkte sich noch ein Gläschen ein und trank. Stolz betrachtete ihn erstaunt, schwieg aber. »Agafja Matwejewna bereitet ihn selbst; sie ist eine liebe Frau!« sagte Oblomow, auf den der Schnaps zu wirken begann. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich auf dem Gut ohne sie leben werde. Man findet keine zweite solche Hausfrau.« Stolz hörte ihm mit leicht gefurchten Brauen zu. »Wer, glaubst du, hat das alles gekocht, Anissja? Nein!« fuhr Oblomow fort. »Anissja befaßt sich mit den Hühnern, jätet das Kraut im Gemüsegarten und fegt die Fußböden; und das alles macht Agafja Matwejewna.« Stolz aß weder den Hammelbraten noch den Obstkuchen, sondern legte die Gabel hin und sah zu, mit welchem Appetit Oblomow das alles verzehrte. »Jetzt wirst du nicht mehr ein verkehrt angezogenes Hemd auf mir sehen«, sprach Oblomow weiter, mit Appetit an einem Knochen nagend – »sie sorgt sich um alles und sieht alles, ich habe keinen einzigen ungestopften Strumpf – und sie macht alles selbst. Und wie sie Kaffee kocht! Ich werde dich nach dem Mittagessen damit bewirten.« Stolz hörte schweigend mit besorgter Miene zu. »Jetzt ist ihr Bruder übersiedelt, es ist ihm eingefallen, zu heiraten, so daß die Wirtschaft nicht mehr so groß ist. Aber früher hatte sie alle Hände voll zu tun! Sie ist von früh bis spät nur so herumgeflogen, auf den Markt und in die Läden. Weißt du, ich werde dir was sagen«, schloß Oblomow, der seine Zunge nicht mehr ganz in der Gewalt hatte, »wenn du mir zwei-, dreitausend geben könntest, würde ich dich nicht mit Hammelfleisch bewirten; dann würde ich dir einen ganzen Stör, Forellen und das beste Filet geben lassen. Und Agafja Matwejewna würde auch ohne Koch wahre Wunder leisten – ja!« Er trank noch ein Gläschen Schnaps. »So trinke doch, Andrej, trinke. Es ist ein ausgezeichneter Schnaps! Oljga Sjergejewna wird dir keinen solchen zubereiten!« sagte er mit schwerer Zunge. »Sie kann Casta diva singen, sie kann aber keinen solchen Schnaps zubereiten! Sie wird auch keine Piroge mit Hühnern und Pilzen backen! So etwas hat es nur in Oblomowka gegeben. Und das Gute hier ist, daß es nicht ein Koch macht; der macht den Teig Gott weiß mit welchen Händen an, während Agafja Matwejewna die Reinlichkeit in Person ist!« Stolz hörte mit aufmerksam gespitzten Ohren zu. »Und sie hat solche weiße Hände gehabt«, fuhr Oblomow schon ziemlich benebelt fort, »es wäre keine Sünde, sie zu küssen! Jetzt sind sie aber rauh geworden, weil sie alles selbst macht! Sie stärkt mir selbst die Hemden!« sagte Oblomow gefühlvoll, fast mit Tränen. »Bei Gott, ich hab' es selbst gesehen. Manche Frau sorgt sich nicht so um ihren Mann – bei Gott! Agafja Matwejewna ist ein liebes Frauenzimmer! Ach, Andrej! Übersiedle mit Oljga Sjergejewna hierher, miete dir hier eine Sommerwohnung, das wäre ein Leben! Wir würden im Wald Tee trinken und am Eliasfreitag zu den Pulvermühlen gehen, und eine Fuhre mit einem Imbiß und mit einem Samowar würde uns folgen. Dort würden wir einen Teppich ausbreiten und uns auf das Gras legen. Agafja Matwejewna würde Oljga Sjergejewna das Wirtschaften beibringen, sie würde ihr alles beibringen. Jetzt geht es uns aber nicht besonders. Der Bruder ist ja übersiedelt; wenn man uns aber drei-, viertausend geben könnte, würde ich dir solche Kapaune reichen lassen ...« »Du bekommst von mir fünf!« sagte Stolz. »Was machst du denn damit?« »Und die Schuld?« entschlüpfte es plötzlich Oblomow. Stolz sprang auf. »Die Schuld?« wiederholte er. »Welche Schuld?« Und er blickte ihn an wie ein strenger Lehrer ein sich versteckendes Kind anblickt. Oblomow verstummte plötzlich. Stolz setzte sich zu ihm aufs Sofa. »Wem schuldest du?« fragte er. Oblomow wurde ein wenig nüchterner und kam zur Besinnung. »Niemand, ich habe gelogen«, sagte er. »Nein, du lügst jetzt, aber ungeschickt. Was ist mit dir, was hast du, Ilja? Also das hat der Hammelbraten und der saure Wein zu bedeuten? Du hast kein Geld! Wo ist es denn hingekommen?« »Ich schulde tatsächlich ... ein wenig der Hausfrau für das Essen! ...« sagte Oblomow. »Für das Hammelfleisch und die Zunge! Ilja, sprich, was geht mit dir vor? Was ist das für eine Geschichte? Der Bruder ist ausgezogen, die Wirtschaft geht schlecht ... Da ist etwas nicht in Ordnung. Wieviel schuldest du?« »Zehntausend auf einen Schuldbrief ...« flüsterte Oblomow. Stolz sprang auf und setzte sich wieder. »Zehntausend? Der Hausfrau? Für das Essen?« wiederholte er entsetzt. »Ja, wir haben viel gebraucht; ich habe auf sehr großem Fuße gelebt ... Weißt du noch, ich habe Ananas und Pfirsiche gegessen ... darum habe ich Schulden ...« murmelte Oblomow. »Aber lassen wir das!« Stolz antwortete nicht. Er überlegte sich die Sache. Der Bruder ist ausgezogen, die Wirtschaft geht schlecht – und es ist auch wirklich so. Alles sieht nackt, ärmlich und schmutzig aus! Was für eine Frau ist denn diese Pschenizina? Oblomow lobt sie; sie sorgt sich um ihn; er spricht mit Feuer von ihr ... Plötzlich wechselte Stolz die Farbe, er glaubte die Wahrheit zu erraten. Es wehte ihn kalt an. »Ilja?« fragte er. »Was ist dir ... diese Frau? ...« Aber Oblomow hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und schlummerte. Sie bestiehlt ihn und schleppt ihm alles fort ... Das ist etwas ganz Alltägliches, und er weiß noch immer nichts davon, dachte Stolz. Er erhob sich und öffnete schnell die Tür zur Hausfrau, so daß diese bei diesem Anblick erschrocken den Löffel, mit dem sie den Kaffee umrührte, fallen ließ. »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte er höflich. »Bitte in den Salon einzutreten, ich komme gleich«, antwortete sie schüchtern. Sie band sich ein Tuch um den Hals, folgte ihm in den Salon und setzte sich auf den Rand des Sofas. Sie hatte nicht mehr ihren Schal und bemühte sich, die Hände in das Tuch zu verstecken. »Ilja Iljitsch hat Ihnen einen Schuldbrief gegeben?« fragte er. »Nein ...« antwortete sie mit einem stumpfen und erstaunten Blick, »er hat mir gar keinen Brief gegeben.« »Wieso gar keinen?« »Ich habe gar keinen Brief gesehen!« sagte sie mit demselben stumpfen Staunen ... »Einen Schuldbrief!« wiederholte Stolz. Sie dachte ein wenig nach. »Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, sagte sie, »ich habe gar keinen Brief gesehen.« Ist sie dumm oder listig? dachte Stolz. »Er schuldet Ihnen aber?« fragte er. Sie sah ihn stumpf an, dann kam Ausdruck und sogar Unruhe in ihr Gesicht. Sie erinnerte sich an die versetzten Perlen, an das Silber und den Pelz und glaubte, Stolz deute auf diese Schuld hin; sie konnte nur nicht begreifen, wieso man das erfahren hatte. Sie hatte nicht nur Oblomow, sondern auch Anissja gegenüber, der sie über jede Kopeke Rechenschaft ablegte, kein Wort davon erwähnt. »Wieviel schuldet er Ihnen?« fragte Stolz unruhig. »Gar nichts! Keine Kopeke!« Sie verheimlicht es vor mir, sie schämt sich, dieses Wucherweib, dieses gierige Frauenzimmer! dachte er. Aber ich werde es ihr schon entlocken. »Und die zehntausend?« fragte er. »Welche zehntausend?« fragte sie voll Unruhe und Erstaunen. »Ilja Iljitsch schuldet Ihnen zehntausend nach einem Schuldbrief, ja oder nein?« fragte er. »Er schuldet mir nichts. Er war während der Fasten dem Fleischer zwölf und einen halben Rubel schuldig, er hat es aber noch vorige Woche bezahlt; der Rahm ist der Milchfrau auch bezahlt worden – er schuldet gar nichts.« »Haben Sie denn gar kein Dokument, das sich auf Oblomow bezieht?« Sie blickte ihn stumpf an. »Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, antwortete sie, »er wohnt auf der nächsten Straße, im Haus von Samikalow, es ist ein Weinkeller im Hause.« »Nein, erlauben Sie, daß ich mit Ihnen spreche!« sagte er entschlossen. »Ilja Iljitsch meint, daß er Ihnen schuldig ist und nicht Ihrem Bruder ...« »Er schuldet mir nichts«, sagte sie, »und wenn ich das Silber, die Perlen und den Pelz versetzt habe, ist das für mich geschehen. Ich habe Mascha und mir Schuhe und für Wanjuscha Hemden gekauft und habe den Gemüsehändler bezahlt. Für Ilja Iljitsch aber habe ich keine Kopeke ausgegeben.« Er sah sie an, hörte zu und drang in den Sinn ihrer Worte ein. Er allein schien sich der Lösung von Agafja Matwejewnas Geheimnis zu nähern, und der wegwerfende, fast verächtliche Blick, den er während des Gespräches mit ihr auf sie gerichtet hatte, verwandelte sich jetzt unwillkürlich in einen neugierigen und sogar teilnahmevollen. Im Versetzen der Perlen und des Silbers ahnte er dunkel das Geheimnis ihrer Opfer und konnte nur nicht mit sich einig werden, ob sie diese ganz selbstlos, aus reiner Ergebenheit, oder in der Erwartung einer künftigen Belohnung gebracht hatte. Er wußte nicht, ob er Iljas wegen traurig oder froh sein sollte. Es war jetzt klar, daß er ihr nichts schuldig war, daß diese Schuld irgendein Schurkenstreich ihres Bruders war; dafür eröffnete sich ihm vieles andere ... Was bedeutet dieses Versetzen des Silbers und der Perlen? »Sie erheben also auf Ilja Iljitsch keinerlei Anspruch?« fragte er. »Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, antwortete sie eintönig, »er muß jetzt zu Hause sein.« »Sie sagen, daß Ilja Iljitsch Ihnen gar nichts schuldet?« »Keine Kopeke, das ist bei Gott wahr!« schwor sie, auf das Heiligenbild blickend und sich bekreuzend. »Werden Sie das vor Zeugen bestätigen?« »Vor allen! Sogar bei der Kommunion! Und was das Silber und die Perlen betrifft, die habe ich nur für meine eigenen Ausgaben versetzt ...« »Sehr wohl!« unterbrach sie Stolz. »Morgen komme ich mit zwei Bekannten her, und Sie werden sich nicht weigern, vor ihnen dasselbe zu sagen?« »Sie sollten lieber mit dem Bruder sprechen«, wiederholte sie, »ich bin nicht anständig gekleidet ... alles in der Küche ist in Unordnung, wenn Fremde es sehen, werden sie es bemängeln.« »Das macht nichts; und mit Ihrem Bruder werde ich noch morgen sprechen, nachdem Sie das Papier unterschrieben haben ...« »Ich habe jetzt gar nicht mehr die Übung, zu schreiben.« »Man braucht dabei nicht viel zu schreiben, im ganzen zwei Zeilen.« »Nein, befreien Sie mich davon; Manjuscha sollte es lieber schreiben; er schreibt so rein ...« »Nein, weigern Sie sich nicht«, bestand er, »wenn Sie das Papier nicht unterschreiben, bedeutet es, daß Ilja Iljitsch Ihnen zehntausend schuldet.« »Nein, er schuldet gar nichts, keine Kopeke«, sagte sie, »bei Gott!« »Dann müssen Sie das Papier unterschreiben. Also auf Wiedersehen morgen!« »Sie sollten morgen lieber zum Bruder gehen ...« sagte sie, ihn begleitend, »er wohnt hier an der Ecke, man braucht nur über die Straße zu gehen ...« »Nein, und ich möchte Sie bitten, dem Bruder bis dahin nichts zu sagen, sonst wird es Ilja Iljitsch sehr unangenehm sein ...« »Ich werde ihm nichts sagen!« antwortete sie gehorsam. Siebentes Kapitel Siebentes Kapitel Am nächsten Tag bestätigte Agafja Matwejewna Stolz schriftlich, daß sie von Oblomow gar kein Geld verlangte. Mit diesem Dokument begab sich Stolz plötzlich zum Bruder. Das war für Iwan Matwejewitsch ein Blitz aus heiterem Himmel. Er nahm das Dokument heraus und zeigte mit dem zitternden, mit dem Nagel nach unten gekehrten Mittelfinger der rechten Hand auf Oblomows Unterschrift und die Bestätigung des Zeugen hin. »Das ist gesetzlich«, sagte er, »das geht mich gar nichts an. Ich habe nur die Interessen meiner Schwester im Auge, es ist mir aber unbekannt, was für ein Geld Ilja Iljitsch genommen hat.« »Damit ist Ihre Angelegenheit noch nicht erledigt!« drohte ihm Stolz beim Fortgehen. »Es ist eine gesetzliche Sache, und mich geht das gar nichts an!« rechtfertigte sich Iwan Matwejewitsch, die Hände in die Ärmel versteckend. Sowie er am nächsten Tag in die Kanzlei kam, erschien ein Bote vom General, der ihn sofort zu sich beorderte. »Zum General!« wiederholte die ganze Kanzlei entsetzt. Wozu? Was war geschehen? Vielleicht forderte er irgendwelche Akten; was für welche? Schnell, schnell! Die Akten zusammennähen und das Inventar zusammenstellen! Was war los? Am Abend kam Iwan Matwejewitsch ganz außer sich in die Kneipe. Tarantjew erwartete ihn dort schon lange. »Was ist, Gevatter?« fragte er ungeduldig. »Was!« sagte Iwan Matwejewitsch mit eintöniger Stimme. »Was glaubst du?« »Hat man dich geschimpft?« »Geschimpft?« äffte Iwan Matwejewitsch ihm nach. »Es wäre besser, wenn man mich geschlagen hätte! Und du bist auch lieb!« warf er ihm vor. »Du hast gar nicht gesagt, was das für ein Deutscher ist!« »Ich habe dir ja gesagt, daß er ein Durchtriebener ist!« »Was will das heißen, ein Durchtriebener! Wir haben schon Durchtriebene gesehen! Warum hast du nicht gesagt, daß er so viel Macht hat? Er duzt den General ebenso wie ich dich. Würde ich denn mit so einem anfangen, wenn ich das wüßte!« »Das ist doch aber eine gesetzliche Sache!« entgegnete Tarantjew. »Eine gesetzliche Sache!« äffte ihn Muchojarow wieder nach. »Sag das einmal dort; die Zunge bleibt am Gaumen kleben. Weißt du, was der General mich gefragt hat?« »Was?« fragte Tarantjew neugierig. »Ist es wahr, daß Sie mit Beihilfe eines Schuftes den Gutsbesitzer Oblomow betrunken gemacht und gezwungen haben, auf den Namen Ihrer Schwester einen Schuldschein auszustellen?« »So hat er gesagt: ›Mit Beihilfe eines Schuftes?‹« fragte Tarantjew. »Ja, wörtlich so ...« »Wer ist denn dieser Schuft?« fragte Tarantjew wieder. Der Gevatter blickte ihn an. »Weißt du das denn nicht?« sagte er gallig. »Oder bist du nicht damit gemeint?« »Wie hat man denn mich hineinverwickelt?« »Da bist du dem Deutschen und deinem Landsmann Dank schuldig. Der Deutsche hat alles ausgeschnüffelt und ausgefragt ...« »Du solltest auf jemand andern hinweisen und von mir sagen, daß ich nicht mit dabei war!« »Ja, natürlich! Was bist denn du für ein Heiliger?« »Was hast du geantwortet, als der General gefragt hat: ›Ist es wahr, daß Sie mit Beihilfe eines Schuftes –? ...‹ Da hättest du ihm was vorerzählen sollen.« »Ihm vorerzählen! Versuch's einmal. Was für grüne Augen er hat! Ich habe meine ganze Kraft gesammelt und habe sagen wollen: Das ist nicht wahr, das ist eine Verleumdung, Exzellenz, ich kenne nicht einmal diesen Oblomow. Das hat alles Tarantjew gemacht; meine Zunge hat sich aber nicht gerührt; ich bin ihm nur zu Füßen gefallen.« »Wie steht es, wollen sie denn einen Prozeß beginnen?« fragte Tarantjew mit dumpfer Stimme. »Ich bin dabei ja gar nicht beteiligt; nur du, Gevatter ...« »Du bist nicht beteiligt? Da irrst du, Gevatter, wenn jemand den Kopf in die Schlinge stecken soll, bist du es; wer hat Oblomow zu trinken zugeredet? Wer hat ihm gedroht und ihn beschämt? ...« »Du hast es mich gelehrt!« antwortete Tarantjew. »Und bist du denn unmündig? Ich weiß von gar nichts.« »Gevatter, das ist unverschämt! Dir ist durch mich so viel zugefallen, und ich habe nur dreihundert Rubel bekommen ...« »Wie, soll ich alles auf mich allein nehmen? Du bist aber schlau! Nein, ich weiß von nichts. Die Schwester hat mich gebeten, da sie als eine Frau nichts vom Geschäft versteht, den Brief beim Notar bestätigen zu lassen – das ist alles. Du und Satjortij wart Zeugen, ihr seid also verantwortlich!« »Du solltest es der Schwester ordentlich zeigen! Wie hat sie es gewagt, gegen ihren Bruder auszusagen?« sagte Tarantjew. »Die Schwester ist eine dumme Trine; was soll man mit ihr anfangen?« »Was sagt sie?« »Was sie sagt? Sie weint und besteht darauf, ›daß Ilja Iljitsch ihr nichts schuldet und daß sie ihm niemals Geld gegeben hat‹.« »Du besitzt aber doch einen Schuldschein auf ihren Namen?« sagte Tarantjew, »du verlierst also nichts ...« Muchojarow nahm aus der Tasche den Schuldschein der Schwester heraus, zerriß ihn in viele Stücke und reichte sie Tarantjew. »Da, ich schenke es dir, willst du es nicht haben?« fügte er hinzu. »Was soll man bei ihr nehmen? Das Haus mit dem Gemüsegarten? Dafür gibt man mir nicht einmal tausend Rubel: es zerfällt schon ganz. Bin ich denn ein Unmensch, der sie mit den Kindern an den Bettelstab bringen will?« »Jetzt wird also die gerichtliche Untersuchung beginnen?« fragte Tarantjew ängstlich. »Da müssen wir achtgeben, Gevatter; tu, was du kannst, Bruder!« »Was für eine Untersuchung? Es wird gar keine stattfinden! Der General hat zuerst gedroht, mich aus der Stadt auszuweisen, aber der Deutsche hat ihn davon abgebracht, er will Oblomow keine Schande machen.« »Wirklich, Gevatter! Mir fällt ein Stein vom Herzen! Trinken wir!« sagte Tarantjew. »Trinken? Und wer soll es bezahlen? Du viel leicht?« »Und du? Du hast heute doch sicher deine sieben Rubel eingesteckt?« »Wa-as! Jetzt ist es aus mit den Einkünften; ich habe dir noch nicht alles erzählt, was der General gesagt hat.« »Was denn?« fragte Tarantjew wieder erschrocken. »Er hat mir befohlen, aus dem Amt auszutreten.« »Was sagst du, Gevatter?« sagte Tarantjew, ihn anglotzend. »Nun«, schloß er wütend, »jetzt werde ich dem Landsmann aber gehörig meine Meinung sagen!« »Du bist froh, wenn du nur schimpfen kannst!« »Nein, du kannst sagen, was du willst, ich werde es ihm aber zeigen!« sagte Tarantjew. »Ich werde übrigens noch warten, du hast recht, mir ist was eingefallen, hör einmal, Gevatter!« »Was denn noch?« fragte Iwan Matwejewitsch sinnend. »Man kann da noch ein gutes Geschäft machen. Es ist nur schade, daß du aus der Wohnung ausgezogen bist ...« »Warum denn?« »Um Oblomow und die Schwester beim Pirogenbacken zu beaufsichtigen und dann ... Zeugen anzugeben!« sagte Tarantjew, Iwan Matwejewitsch anblickend. »Da kann auch der Deutsche nichts anfangen. Und du bist jetzt ein freier Mann. Wenn du eine Untersuchung einleitest, ist es eine gesetzliche Sache! Dann wird auch der Deutsche erschrecken und sich in Unterhandlungen einlassen.« »Das würde wirklich gehen!« antwortete Muchojarow sinnend. »Du bist nicht dumm, wenn es sich darum handelt, etwas auszudenken, du taugst aber nicht, wenn man etwas ausführen will, und so ist es auch mit Satjortij. Ja, ich werde es ihnen zeigen, warte nur!« sagte er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Sie werden schon etwas erleben! Ich werde meine Köchin zur Schwester in die Küche schicken; sie wird mit Anissja Freundschaft schließen und alles aus ihr herausbekommen, und dann ... Trinken wir, Gevatter!« »Trinken wir!« wiederholte Tarantjew. »Und dann werde ich mir den Landsmann hernehmen!« Stolz machte einen Versuch, Oblomow mitzunehmen, doch dieser bat, ihn nur für einen Monat dazulassen, und tat es so flehentlich, daß Stolz sich erweichen ließ. Wie er sagte, brauchte er diesen Monat, um alle Angelegenheiten zu erledigen, die Wohnung zu vermieten und alles so zu ordnen, um nicht mehr nach Petersburg zurückkommen zu müssen. Dann mußte er alles zur Einrichtung des Gutshauses einkaufen; endlich wollte er eine gute Wirtschafterin, in der Art wie Agafja Matwejewna es war, anwerben, gab auch nicht die Hoffnung auf, sie selbst dazu zu bewegen, das Haus zu verkaufen, aufs Gut zu übersiedeln und sich der ihrer würdigen Tätigkeit, der Leitung einer großen, komplizierten Wirtschaft, zu widmen. »Sag einmal, Ilja«, unterbrach ihn Stolz, »ich wollte dich fragen, in welchen Beziehungen du zu ihr stehst ...« Oblomow errötete plötzlich. »Was willst du damit sagen?« fragte er eilig. »Das weißt du sehr gut«, bemerkte Stolz, »sonst hättest du keinen Grund zu erröten. Höre, Ilja, wenn dabei eine Warnung etwas nützen kann, bitte ich dich im Namen unserer Freundschaft, vorsichtig zu sein ...« »Worin denn? Ich bitte dich!« verteidigte sich der verlegene Oblomow. »Du hast von ihr mit solchem Feuer gesprochen, daß ich wirklich zu glauben beginne, du ...« »Liebst sie, willst du sagen! Aber ich bitte dich!« unterbrach ihn Oblomow mit gezwungenem Lachen. »Um so schlimmer, wenn dabei kein einziger seelischer Funken glüht, wenn das nur ...« »Andrej! Hast du mich denn als einen unmoralischen Menschen gekannt?« »Warum bist du dann errötet?« »Weil du einen solchen Gedanken zulassen konntest.« Stolz schüttelte zweifelnd den Kopf. »Gib acht, Ilja, daß du nicht in diese Grube fällst. Ein ordinäres Frauenzimmer, ein schmutziges Leben, die bedrückende Atmosphäre von Stumpfsinn und Roheit – pfui ...« Oblomow schwieg. »Nun, leb wohl«, schloß Stolz, »ich werde also Oljga sagen, daß wir dich im Sommer, wenn nicht bei uns, so doch in Oblomowka sehen werden. Vergiß nicht, daß sie von dir nicht ablassen wird!« »Bestimmt, bestimmt«, antwortete Oblomow überzeugend, »füge sogar hinzu, daß ich bei euch den Winter verbringen werde, wenn sie es erlaubt.« »Das wäre eine Freude!« Stolz fuhr noch am selben Tage fort, und am Abend kam Tarantjew. Er konnte es nicht ertragen und kam, ihn des Gevatters wegen zu beschimpfen. Er ließ dabei nur eines aus dem Auge, daß Oblomow in Iljinskys Gesellschaft die Gewohnheit verloren hatte, mit solchen Menschen, wie er es war, umzugehen, und daß seine Nachsicht der Grobheit und Frechheit gegenüber sich in Ekel verwandelt hatte. Das würde sich schon längst geäußert haben und hatte sich zum Teil während Oblomows Aufenthalt auf dem Lande gezeigt, doch Tarantjew besuchte ihn seitdem seltener und immer in Anwesenheit anderer, so daß zwischen ihnen keine Reibungen entstehen konnten. »Guten Tag, Landsmann«, sagte Tarantjew zornig, ohne die Hand zu reichen. »Guten Tag!« antwortete Oblomow, kalt durchs Fenster blickend. »Nun, hast du deinem Wohltäter das Geleite gegeben?« »Ja. Warum?« »Ein schöner Wohltäter!« fuhr Tarantjew giftig fort. »So, gefällt er dir nicht?« »Ich würde ihn hängen lassen!« krächzte Tarantjew voll Haß. »So!« »Und dich auch, auf demselben Baum mit ihm zusammen!« »Wofür denn?« »Man muß in allem ehrlich sein; wenn man schuldig ist, muß man zahlen und keine Schliche gebrauchen. Was hast du jetzt angerichtet?« »Höre, Michej Andreitsch, befreie mich von deinen Märchen; ich habe dir aus Trägheit und Sorglosigkeit lange zugehört; ich habe geglaubt, daß du wenigstens eine Spur von Gewissen besitzest, du hast aber nicht einmal das. Ihr beide, du und dieser Schuft, wolltet mich betrügen; ich weiß nicht, wer von euch der Schlechtere ist, aber ihr beide seid mir widerwärtig. Mein Freund hat mich aus dieser dummen Falle befreit ...« »Ein guter Freund!« sagte Tarantjew. »Ich habe gehört, daß er dir deine Braut fortgeschnappt hat; ein schöner Wohltäter! Nun, Bruder Landsmann, du bist ein Dummkopf ...« »Laß, bitte, diese Zärtlichkeiten!« unterbrach ihn Oblomow. »Nein, ich werde sie nicht lassen! Du hast an mich nicht gedacht, du Undankbarer! Ich habe dich hier eingerichtet, ich habe dir eine Frau gefunden, die ein wahrer Schatz ist. Ich habe dir Ruhe und Bequemlichkeit verschafft, ich habe dich mit Wohltaten überschüttet, und du wendest dich von mir ab. Du hast dir einen schönen Freund ausgesucht – einen Deutschen! Du hast ihm dein Gut in Pacht gegeben; wart nur, wie er dich bestehlen wird, er wird dir auch Aktien anhängen. Er wird dich noch zum Bettler machen, denke an mich! Ich sage dir, daß du ein Dummkopf bist und außerdem noch ein undankbares Vieh!« »Tarantjew!« rief Oblomow drohend aus. »Was schreist du? Ich selbst werde durch die ganze Welt schreien, daß du ein Dummkopf und ein Vieh bist!« schrie Tarantjew. »Ich und Iwan Matwejewitsch haben dich gehegt und gepflegt, wir haben dich wie Leibeigene bedient, sind vor dir auf den Fußspitzen gegangen und haben dir in die Augen geschaut, und du hast ihn vor der Obrigkeit verleumdet; jetzt ist er ohne Posten und ohne ein Stück Brot! Das ist häßlich und gemein! Du mußt ihm jetzt die Hälfte deines Vermögens geben; stell einen Wechsel auf seinen Namen aus; du bist jetzt nüchtern und bei vollem Verstand, tu es, sag ich dir, sonst gehe ich nicht fort ...« »Was haben Sie, Michej Andreitsch, warum schreien Sie so?« sagten die Hausfrau und Anissja, zur Tür hereinblickend, »zwei Vorübergehende sind stehengeblieben und hören zu, was das für ein Geschrei ist ...« »Ich will schreien«, brüllte Tarantjew, »dieser Tölpel soll sich nur die Schande antun! Dieser deutsche Schurke soll dich nur betrügen, um so mehr, als er jetzt mit deiner Geliebten zusammensteckt ...« Im Zimmer erschallte eine laute Ohrfeige. Sowie Oblomow Tarantjews Wange getroffen hatte, verstummte dieser augenblicklich, ließ sich auf einen Sessel sinken und drehte seine erstaunten Augen wie geistesabwesend nach allen Seiten hin. »Was ist das? Was ist das, he? Was ist das?« sagte er, sich bleich und atemlos die Wange haltend, »du willst mir meine Ehre rauben? Du wirst mir dafür bezahlen! Ich wende mich an den Generalgouverneur; ihr habt es gesehen?« »Wir haben nichts gesehen!« sagten beide Frauen zugleich. »Ah! Hier ist eine Verschwörung, eine Räuberhöhle! Eine Diebesbande! Man plündert und schlägt tot ...« »Hinaus, Schuft!« schrie Oblomow bleich und vor Wut bebend, »sofort, dein Fuß darf nicht mehr meine Schwelle betreten, sonst töte ich dich wie einen Hund!« Er suchte mit den Augen nach einem Stock. »Hilfe! Räuber! Hilfe!« schrie Tarantjew. »Sachar! Wirf diesen Schuft hinaus, und er soll sich hier nie mehr blicken lassen!« schrie Oblomow. »Bitte, hierher!« sagte Sachar, ihm auf die Tür zeigend. »Ich bin nicht zu dir gekommen, sondern zur Gevatterin!« brüllte Tarantjew. »Gott sei mit Ihnen, Michej Andreitsch, ich brauche Sie nicht«, sagte Agafja Matwejewna. »Sie haben meinen Bruder besucht und nicht mich! Ich habe Sie satt. Sie essen und trinken und schimpfen noch obendrein.« »Ah, so ist's, Gevatterin! Gut, der Bruder wird mit Ihnen schon ein Wörtchen reden! Und dir werde ich die Schande schon heimzahlen! Wo ist mein Hut? Zum Teufel mit euch! Räuber, Mörder!« schrie er, über den Hof gehend. »Du wirst mir für die Schande bezahlen!« Der Hund zerrte an der Kette und bellte unaufhaltsam. Seitdem sahen Tarantjew und Oblomow einander nicht mehr. Achtes Kapitel Achtes Kapitel Stolz kam ein paar Jahre lang nicht nach Petersburg. Er sah sich nur einmal für kurze Zeit nach Oljgas Gut und nach Oblomowka um. Ilja Iljitsch bekam einen Brief, in dem Andrej ihm zuredete, selbst nach Oblomowka zu kommen und das geordnete Gut persönlich zu übernehmen. Er selbst fuhr mit Oljga Sjergejewna aus zwei Gründen an das südliche Krimufer: seiner Geschäfte in Odessa wegen und um die durch die Niederkunft zerrüttete Gesundheit seiner Frau zu kräftigen. Sie ließen sich in einer stillen Gegend am Meeresufer nieder. Ihr Haus war bescheiden und nicht groß. Seine innere Einrichtung hatte ebenso seinen Stil, wie die äußere Architektur und wie alles daran den Stempel der Gedanken und des persönlichen Geschmacks der Eigentümer trug. Sie hatten eine Menge Sachen mitgebracht, und man schickte ihnen aus ihrer Heimat und aus dem Auslande viele Kisten, Koffer und Fuhren nach. Ein Liebhaber des Komforts würde beim Anblick dieser verschiedenartigen Möbelstücke, der alten Bilder, der Statuen mit abgebrochenen Händen und Füßen, der manchmal schlechten, aber durch Erinnerungen wertvollen Stiche und Kleinigkeiten die Achseln gezuckt haben. Zwar die Augen eines Kenners hätten beim Blick auf das eine oder das andere Bild, auf irgendein vor Alter vergilbtes Buch, auf altes Porzellan, Kameen und Münzen gierig aufgeleuchtet. Aber inmitten dieser Möbelstücke verschiedener Stilarten, der Bilder, der für Fremde wertlosen, für sie beide aber durch eine glückliche Stunde, durch eine unvergeßliche Minute geheiligten Kleinigkeiten, inmitten dieses Ozeans von Büchern und Noten wehte warmes Leben, etwas, das den Verstand und das ästhetische Gefühl anregte; überall waren die Spuren eines unermüdlichen Geistes oder die Schönheit menschlicher Arbeit zu sehen, die mit der Schönheit der ringsherum leuchtenden Schönheit der Natur wetteiferte. Daselbst waren auch der hohe Schreibtisch, so wie ihn Andrejs Vater gehabt hatte, und die Gemslederhandschuhe untergebracht; in der Ecke neben dem Schrank mit den Mineralien, den Muscheln, den Vogelbälgen, den Mustern verschiedener Waren und Lehmarten hing der Wachstuchmantel. In der Mitte prangte auf dem Ehrenplatz, mit Gold und Intarsien verziert, ein Erardflügel. Ein Netz von Wein, Efeu und Myrten bedeckte das Cottage von unten bis oben. Von der Galerie aus sah man das Meer und von der anderen Seite die Straße in die Stadt. Dort spähte Oljga nach Andrej aus, wenn er geschäftlich vom Hause fortfuhr; sobald sie ihn erblickte, stieg sie herab, lief durch den prachtvollen Blumengarten und die lange Pappelallee und warf sich stets mit vor Freude glühenden Wangen, mit leuchtendem Blick und stets mit der gleichen Ungeduld des Glücks, trotzdem seit ihrer Verheiratung schon ein paar Jahre vergangen waren, an die Brust ihres Mannes. Stolz hatte über die Liebe und das Heiraten vielleicht originelle und übertriebene, aber selbständige Ansichten. Er hatte auch dabei einen freien und, wie ihm schien, einfachen Weg gewählt; aber welch eine schwierige Schule der Beobachtung, der Geduld und der Arbeit mußte er durchmachen, bevor er diese »einfachen Schritte« zu machen lernte! Er hatte vom Vater die Gewohnheit geerbt, alles im Leben, selbst die Kleinigkeiten, ernst zu betrachten; vielleicht hatte er von ihm auch die pedantische Strenge geerbt, welche die Deutschen in ihren Ansichten, in jedem Schritt ihres Lebens und unter anderem auch in der Ehe äußern. Das Leben des alten Stolz lag wie eine Inschrift auf einer Steintafel allen offen, und es war darin nichts zwischen den Zeilen zu lesen. Aber die Mutter mit ihren Liedern und ihrem zarten Flüstern, das fürstliche Haus, ferner die Universität, die Bücher und die Welt lenkten Andrej von dem geraden, vom Vater vorgezeichneten Weg ab; das russische Leben malte seine unsichtbaren Muster hinein und verwandelte die unscheinbare Tafel in ein großes, leuchtendes Bild. Andrej fesselte seine Gefühle nicht durch pedantische Ketten und ließ den Träumen sogar volle Freiheit, indem er nur bestrebt war, nicht »den Boden unter den Füßen« zu verlieren, wenn er auch beim Erwachen, infolge seiner deutschen Natur oder aus irgendeinem anderen Grunde, eine Folgerung nicht unterdrücken konnte und irgendeine Lebenswahrheit davontrug. Er war frisch an Körper, weil er frisch an Geist war. In seinen Knabenjahren war er übermütig, und wenn er nicht herumtollte, beschäftigte er sich unter der Aufsicht des Vaters mit etwas Ernstem. Er hatte keine Zeit, sich Träumen hinzugeben. Seine Phantasie und sein Gemüt blieben unangetastet; die Mutter hütete wachsam dessen Reinheit und Jungfräulichkeit. Als Jüngling schonte er instinktiv die Frische seiner Kräfte und begann schon zu entdecken, daß diese Frische Lebensfreude und Frohsinn erzeugt und jene Männlichkeit bildet, welche die Seele abhärtet, damit sie nicht vor dem Leben erbleicht, wie dieses auch sein mag, es nicht als ein schweres Joch und ein Kreuz, sondern nur als eine Pflicht betrachtet, und den Kampf damit würdig besteht. Viele Gedanken und Sorgen hatte er dem Herzen und dessen schwer zu ergründenden Gesetzen geweiht. Indem er bewußt oder unbewußt die Wirkung der Schönheit auf die Phantasie, den Übergang des Eindruckes in ein Gefühl, dessen Symptome, dessen Spiel und Ausgang betrachtete, um sich blickte und mit dem Leben vertraut wurde, arbeitete er sich die Überzeugung aus, die Liebe bewege mit der Macht des archimedischen Hebels die Welt, und darin sei ebensoviel allgemeine, unzweifelhafte Wahrheit und so viel Gutes enthalten, als aus ihrem Nichtbegreifen und Mißbrauch Lüge und Häßliches entstehe. Wo war das Gute und wo das Böse? Wo lag die Grenze zwischen beidem? Bei der Frage: Wo ist die Lüge? zogen bunte Masken der Gegenwart und Vergangenheit durch seine Phantasie. Er blickte lächelnd, bald errötend und bald die Stirne runzelnd, auf den endlosen Zug der Helden und Heldinnen der Liebe: auf die Don Quichottes in Stahlhandschuhen, auf die Damen ihres Herzens und auf ihre fünfzigjährige Treue in der Trennung; auf die Schäfer mit roten Wangen und treuherzig glotzenden Augen und auf ihre Chloen mit den Lämmern. Vor ihm erschienen gepuderte Marquisen in Spitzen mit geistreich leuchtenden Augen und einem lasterhaften Lächeln; ferner die Werther, die sich erschossen, aufhängten und erdrosselten, die verblühten alten Jungfern mit den ewigen Liebestränen und dem Kloster und die bärtigen Gesichter der modernen Helden, mit dem wilden Feuer in den Augen, diese naiven und bewußten Don Juans, und die Erhabenen, die vor dem Verdachte, zu lieben, zittern und heimlich ihre Wirtschafterinnen anbeten ... Alle, alle! Bei der Frage, wo die Wahrheit war, suchte er fern und nah in der Phantasie und mit den Augen nach Beispielen von einfachen, ehrlichen, aber tiefen und unwandelbaren Beziehungen zum Weibe, fand aber keine; wenn er sie zu finden glaubte, war es nur Schein, darauf folgte die Enttäuschung; er sann traurig nach und verzweifelte sogar. Dieses Glück wird uns wohl nicht in seiner ganzen Fülle zuteil, dachte er, oder die Herzen, welche vom Lichte dieser Liebe erhellt werden, sind scheu; sie ängstigen sich und verstecken sich, ohne die Klugen widerlegen zu wollen; vielleicht bemitleiden sie sie und verzeihen ihnen im Namen ihres Glückes, daß sie die Blüten in den Kot treten, weil sie keinen Boden haben, in dem diese tiefe Wurzeln fassen und sich zu einem Baume entwickeln könnten, der ihr ganzes Leben beschatten würde. Wenn er die Ehen, die Männer und ihr Verhalten den Frauen gegenüber betrachtete, sah er stets eine Sphinx mit ihrem Rätsel vor sich; alles erschien unverstanden und unausgesprochen, und dabei sannen diese Männer über keine verwickelten Fragen nach und schritten mit einem so gleichmäßigen, selbstbewußten Gang über den Weg der Ehe, als hätten sie nichts zu suchen und zu beschließen. Sind sie denn im Unrecht? Vielleicht ist tatsächlich nichts anderes mehr notwendig, dachte er, sich selbst nicht trauend, wenn er sah, wie schnell manche die Liebe durchlebten, als sei sie das Abc der Ehe oder eine Form der Höflichkeit, als hätten sie beim Eintritt in die Gesellschaft ihre Verbeugung gemacht und wären schnell weitergeschritten! Sie schütteln den Frühling des Lebens ungeduldig von ihren Schultern; viele sehen dann das ganze Leben lang ihre Frauen schief an, als ärgerten sie sich darüber, daß sie einst so dumm waren, sie zu lieben. Manche verläßt die Liebe lange nicht, bis zum Alter, sie wird aber auch immer vom Lächeln eines Satyrs begleitet ... Die meisten schließen die Ehe ebenso, wie man ein Gut kauft und seine Vorzüge genießt; die Frau bringt Ordnung ins Haus, sie ist Wirtschafterin, Mutter, Erzieherin der Kinder, und die Liebe wird von demselben Standpunkte aus betrachtet, von dem ein praktischer Besitzer die Lage des Gutes anschaut, das heißt, indem er sich sofort daran gewöhnt und sie dann nie mehr beachtet. Was ist das: angeborenes Unvermögen, als Folge der natürlichen Gesetze? fragte er sich, oder ein Fehler der Vorschule und der Erziehung? ... Wo ist denn jene Sympathie, die niemals ihren natürlichen Reiz einbüßt und kein Narrengewand anzieht, die sich verändert, aber nicht erlischt? Wie ist die natürliche Gestalt und wie sind die Farben dieses überall verstreuten und alles füllenden Glückes, dieses Saftes des Lebens? Er blickte prophetisch in die Ferne, und dort erschien ihm im Nebel die Gestalt des Gefühles und zugleich des Weibes, das seine Farbe trug und in seinem Lichte erstrahlte, eine so einfache, aber lichte und reine Vision. »Träume! Träume!« sagte er erwachend und lächelte über die müßige Arbeit der Gedanken. Aber dieser Traum lebte gegen seinen Willen in seiner Erinnerung fort. Zuerst sah er in diesem Traum die Zukunft der Frau überhaupt; als er aber in der gereiften und entwickelten Oljga nicht nur die Pracht erblühter Schönheit, sondern auch eine zum Leben bereite, nach Wahrheit und Kampf dürstende Kraft sah – alles Attribute seiner Vision –, erstand in ihm der alte, fast vergessene Traum von der Liebe. Oljga erschien ihm in dieser Gestalt, und er glaubte in weiter Ferne zu sehen, daß in ihrer Sympathie die Wahrheit ohne Narrenkappe und ohne Zwang erschien. Ohne mit der Frage von der Liebe und Ehe zu spielen, ohne irgendwelche andere Frage bezüglich des Geldes, der gesellschaftlichen Verbindungen und der Ämter damit in Zusammenhang zu bringen, dachte Stolz doch darüber nach, wie seine bis dahin unermüdliche Tätigkeit sich mit dem Familienleben verbinden würde und wie er sich aus einem Touristen und Kaufmann in einen seßhaften Familienvater verwandeln würde. Wenn diese äußere Unruhe vergehen würde, was würde dann sein Leben zu Hause ausfüllen? Die Erziehung und Bildung der Kinder, das Überwachen ihres Lebens war natürlich keine leichte und einfache Aufgabe, aber das lag noch in weiter Ferne, was würde er aber bis dahin tun? Diese Fragen hatten ihn lange und oft beunruhigt, und ihm war das Leben eines Hagestolzes nicht lästig; es fiel ihm nicht ein, sowie sein Herz, die Nähe der Liebe witternd, zu klopfen begann, sich von den Ketten der Ehe fesseln zu lassen. Darum hatte er früher sogar Oljga vernachlässigt und hatte sie nur als ein liebes Kind, das zu großen Hoffnungen berechtigte, bewundert; er warf ihr scherzend im Vorübergehen einen kühnen, neuen Gedanken oder eine treffende Beobachtung des Lebens in ihr gieriges, empfängliches Hirn und weckte in ihrer Seele, ohne daran zu denken, ein lebhaftes Verständnis für die Erscheinungen und eine richtige Ansicht über dieselben, um dann Oljga und seinen nachlässigen Unterricht zu vergessen. Und als er manchmal sah, daß in ihr nicht ganz gewöhnliche Gedanken und Meinungen auftauchten, daß in ihr keine Lüge war, daß sie keine allgemeine Anbetung suchte, daß ihr die Gefühle einfach und frei kamen und sie ebenso verließen, daß nichts Fremdes, sondern Eigenes in ihr lebte und dieses Eigene so kühn, frisch und verläßlich wurde, war er verblüfft, wo sie das hernahm, und erkannte seine eigenen Lehren und flüchtigen Bemerkungen nicht wieder. Wenn er seine Aufmerksamkeit damals auf sie gerichtet hätte, hätte er begriffen, daß sie fast allein ihren Weg ging, durch die flüchtige Aufsicht der Tante vor Übertreibungen geschützt, daß über ihr aber nicht die Vormundschaft und Autorität von sieben Kinderfrauen, von Großmüttern und Tanten mit den Traditionen des Geschlechtes, der Familie, der Gesellschaftsklassen, der veralteten Sitten, Gebräuche und Sentenzen lastete; daß man sie nicht gewaltsam über einen schablonenhaften Weg führte, daß sie einen neuen Pfad verfolgte, den sie sich durch den eigenen Verstand, Blick und durch das eigene Gefühl gefunden hatte. Die Natur hatte ihr nichts versagt; die Tante herrschte nicht despotisch über ihren Willen und Verstand, und Oljga begriff und erriet vieles selbst, beobachtete aufmerksam das Leben und lauschte ... unter anderem auch den Reden und Ratschlägen ihres Freundes ... Er zog das alles nicht in Betracht und erwartete von ihr nur in Zukunft vieles, aber in weiter Ferne, ohne in ihr jemals seine Gefährtin zu ahnen. Sie ließ sich aus eitler Schüchternheit lange nicht erraten, und er sah erst nach dem qualvollen Kampfe im Auslande voll Erstaunen, zu welch einem einfachen, kraftvollen und natürlichen Wesen dieses vielversprechende und von ihm vergessene Kind sich entwickelt hatte. Dort eröffnete sich vor ihm nach und nach die Tiefe ihrer Seele, die er stets füllen mußte und nie befriedigen konnte. Zuerst hatte er mit der Lebhaftigkeit ihrer Natur viel zu kämpfen, mußte das Fieber ihrer Jugend unterbrechen, ihren Bestrebungen einen bestimmten Umfang verleihen und ihrem Leben einen ruhigen Verlauf sichern, doch das gelang ihm nur zeitweise; sowie er vertrauend die Augen schloß, begann wieder der Sturm, das Leben strömte wie eine Quelle dahin, und es ertönten neue Fragen des unruhigen Verstandes und des aufgeregten Herzens; er mußte die gereizte Phantasie beruhigen und den Ehrgeiz beschwichtigen oder aufstacheln. Sowie sie über eine Erscheinung zu grübeln begann, beeilte er sich, ihr den Schlüssel dazu einzuhändigen. Der Glaube an Zufälle, der Nebel und die Halluzinationen verschwanden aus ihrem Leben. Vor ihr breitete sich eine helle und freie Ferne aus, und sie sah darin wie im klaren Wasser jeden Stein, jede Vertiefung und dann den reinen Grund. »Ich bin glücklich!« flüsterte sie, ihr vergangenes Leben mit einem Blick umfassend, dachte, indem sie die Zukunft befragte, an ihren Mädchentraum vom Glück, den sie einst in jener stillen, blauen Nacht in der Schweiz geträumt hatte, und sah, daß dieser Traum wie ein Schatten durch ihr Leben schwebte. Wofür ist mir das alles zuteil geworden, mir? dachte sie demütig. Sie sann und sann und fürchtete sogar manchmal, dieses Glück könnte versagen. Die Jahre eilten dahin, und sie wurden nicht müde zu leben. Über sie war eine Stille gekommen, das Drängen hatte sie beschwichtigt. Die Krümmungen des Lebens erschienen verständlich und wurden geduldig und froh ertragen, das Leben pulsierte in ihnen aber unermüdlich weiter. Oljga war schon bis zu einem strengen Verständnis des Lebens, wenn auch nur des glücklichen Lebens gelangt; Andrejs Sein und das ihrige hatten sich zu einem einzigen Strom vereinigt; es blieb für die wilden Leidenschaften kein Spielraum übrig; alles bei ihnen war Harmonie und Stille. Es schien, man sollte in dieser wohlverdienten Ruhe einschlafen und selig sein, wie die Bewohner anderer stiller Winkel es tun, indem sie dreimal täglich zusammenkommen, bei der gewohnten Unterhaltung gähnen, in stumpfes Hindämmern versinken und sich von früh bis spät damit quälen, daß alles schon durchdacht, besprochen und getan ist, daß man nichts mehr zu tun und zu besprechen hat und daß »das Leben auf der Welt nun einmal so ist«. Äußerlich geschah bei ihnen alles so wie bei den anderen. Sie standen zwar nicht beim Morgengrauen, aber doch früh auf; sie liebten es, lange beim Tee zu sitzen, manchmal schwiegen sie sogar träge, gingen dann jeder in sein Zimmer oder arbeiteten zusammen, aßen zu Mittag, fuhren ins Feld, beschäftigten sich mit Musik ... wie alle, wie auch Oblomow es geträumt hatte. Nur fehlte ihnen die Schläfrigkeit und die Trägheit; sie verbrachten ihre Tage ohne Langeweile und Apathie, ihre Blicke und Worte waren nicht leblos, ihre Gespräche nahmen kein Ende und waren oft leidenschaftlich. Ihre hellen Stimmen tönten durch die Zimmer, drangen in den Garten, oder sie teilten sich leise die durch die Sprache nicht wiederzugebende erste Regung, das Wachstum des keimenden Gedankens, das kaum hörbare Flüstern der Seele mit, als zeichneten sie einander die Linien ihres Traumes vor ... Und ihr Schweigen war manchmal immenses Glück, von dem Oblomow zu träumen pflegte, oder geistiges Verarbeiten des endlosen, einander zugewiesenen Materiales ... Oft versenkten sie sich in stummes Bewundern der ewig neuen, strahlenden Schönheit der Natur. Ihre empfänglichen Seelen konnten sich an diese Schönheit nicht gewöhnen. Die Erde, der Himmel und das Meer – alles weckte ihr Gefühl, und sie saßen schweigend nebeneinander, blickten mit denselben Augen und mit derselben Seele diesen schöpferischen Glanz an und verstanden einander ohne Worte. Sie nahmen den Morgen nicht gleichgültig hin und vermochten es nicht, sich stumpf in das Dunkel der warmen, sternenklaren südlichen Nacht zu versenken. Sie wurden durch das ewige Arbeiten des Gedankens, die stets wache Seele und das Bedürfnis, zusammen zu denken, zu fühlen und zu sprechen, geweckt! ... Was war aber der Gegenstand dieser eifrigen Debatten, der stillen Gespräche, des Lesens und der weiten Spaziergänge? Alles. Stolz hatte schon im Ausland die Gewohnheit verloren, allein zu lesen und zu arbeiten. Hier, wo er mit Oljga unter vier Augen war, dachte er auch mit ihr zusammen. Er brachte es mit Mühe zustande, der rastlosen Eile ihres Denkens und Wollens zu folgen. Die Frage, wie er sich im Familienleben betätigen würde, tauchte nicht mehr auf und hatte sich selbst gelöst. Er mußte sie sogar in seine geschäftliche Tätigkeit einweihen; denn sie erstickte in einem Leben ohne Bewegung, als mangelte es ihr an Luft. Kein Bau, keine Angelegenheit, die Oblomows oder sein Gut betraf – nichts geschah ohne ihr Wissen und ihre Teilnahme. Kein einziger Brief wurde fortgeschickt, ohne daß sie ihn las; kein einziger Gedanke und noch weniger dessen Realisierung glitt an ihr vorüber: sie wußte alles, und alles interessierte sie, weil es ihn interessierte. Zuerst tat er es, weil es unmöglich war, vor ihr etwas zu verheimlichen. Wenn ein Brief geschrieben wurde, wenn mit irgendeinem Verwalter oder Unternehmer gesprochen wurde, geschah es vor ihr, vor ihren Augen; dann setzte er es aus Gewohnheit fort, und zuletzt verwandelte es sich auch für ihn in eine Notwendigkeit. Ihre Bemerkungen, ihr Ratschlag, ihr Lob oder ihr Tadel wurden für ihn zum unumgänglichen Prüfstein; er sah, daß sie ebensogut wie er begriff und nicht schlechter als er überlegte und kombinierte ... Sachar war wie viele andere über die Fähigkeit seiner Frau ärgerlich, und Stolz war darüber glücklich! Und dann Lesen und Lernen, das ewige Nähren des Denkens und dessen endlose Entwicklung! Oljga war auf jedes Buch und jeden Journalartikel, den man ihr nicht gezeigt hatte, eifersüchtig; sie war ernsthaft böse und gekränkt, wenn er es nicht für gut hielt, ihr etwas seiner Meinung nach zu Schwieriges, Langweiliges, ihr Unverständliches zu zeigen, nannte das Pedanterie, Abgeschmacktheit, Verzopftheit und nannte ihn eine »alte deutsche Perücke«. Zwischen ihnen spielten sich aus diesem Anlasse lebhafte, gereizte Szenen ab. Sie zürnte, und er lachte, sie zürnte noch mehr und ließ sich nur dann beschwichtigen, wenn er zu scherzen aufhörte und mit ihr seine Gedanken, seine Kenntnisse oder seine Lektüre teilte. Zum Schlusse ergab es sich, daß alles, was er wissen und lesen wollte und wußte, auch für sie zum Bedürfnis geworden war. Er drängte ihr keine Technik der Gelehrsamkeit auf, um dann mit der dümmsten Prahlerei auf seine »gelehrte« Frau stolz zu sein. Wenn ihr im Gespräch ein einziges Wort oder sogar eine Andeutung auf solche Ansprüche entschlüpft wäre, wäre er noch mehr errötet, als wenn sie mit einem stumpfen Blick der Unwissenheit eine im Gebiete der Wissenschaft gewöhnliche, für die bestehende Frauenbildung aber noch unzulängliche Frage beantwortet hätte. Er wollte nur nicht – und sie um so mehr –, daß es nicht so sehr für ihr Wissen, als für ihr Verständnis etwas Unerreichbares geben sollte. Er zeichnete ihr keine Tafeln und Zahlen vor, sprach aber über alles und las vieles, ohne pedantisch irgendeiner sozialen Theorie oder volkswirtschaftlichen oder philosophischen Frage auszuweichen; er sprach mit Eifer und Leidenschaft. Er schien vor ihr ein endloses, lebendiges Bild des Wissens zu entrollen; später entfielen die Einzelheiten ihrem Gedächtnisse, doch das Bild entschwand niemals ihrem empfänglichen Geist, die Farben verblaßten nicht, und das Feuer, mit dem er den für sie erschaffenen Kosmos erhellte, erlosch nicht. Er zitterte vor Stolz und Glück, wenn er bemerkte, wie ein Funken dieses Feuers dann in ihren Augen leuchtete, wie ein Widerhall des ihr mitgeteilten Gedankens in ihren Worten erklang, wie dieser Gedanke in ihr Bewußtsein und Verständnis übergegangen war, sich in ihrem Geist verarbeitet hatte und sich nicht trocken und streng, sondern, mit dem Glanze der weiblichen Grazie versehen, in ihren Worten äußerte, besonders aber, wenn irgendein furchtbarer Tropfen alles dessen, was gesprochen, gelesen und dargestellt wurde, sich gleich einer Perle auf den klaren Grund ihres Lebens senkte. Er webte ihr als Denker und Künstler ein vernünftiges Dasein, und noch nie im Leben, weder zur Zeit der Studien noch in den mühseligen Tagen, als er mit dem Leben kämpfte, sich aus dessen Krümmungen herausarbeitete und seine Kraft in diesen Versuchen prüfte und abhärtete, war er so ganz in Anspruch genommen, als jetzt, da er diese rastlose, vulkanische Arbeit des Geistes seiner Gefährtin zu lenken hatte. Wie glücklich ich bin! sagte Stolz im stillen und träumte auf seine Weise, indem er in die Zukunft blickte, die den Flitterwochen ihrer Ehe folgen würde. In der Ferne lächelte ihm Oljga in einer neuen Gestalt zu, nicht als Egoistin, als leidenschaftlich liebende Gattin, als Mutter und Kinderfrau, die mit der Zeit in einem farblosen, nutzlosen Dasein verblüht, sondern als etwas anderes, Höheres, fast noch nicht Dagewesenes ... Er träumte von einer schaffenden Mutter, die am geistigen und öffentlichen Leben einer ganzen, glücklichen Generation teilnahm ... Er dachte ängstlich darüber nach, ob ihre Kraft und ihr Willen ausreichen würden, und half ihr, eilig mit dem Leben fertig zu werden und sich für diesen Kampf den nötigen Mut auszuarbeiten, gerade jetzt, solange sie beide noch jung und stark waren, solange das Leben sie schonte oder seine Schläge nicht schwer erschienen, solange der Schmerz noch von der Liebe weggeschwemmt wurde. Ihre Tage verdüsterten sich nicht für lange. Das Mißlingen der Geschäfte, der Verlust einer bedeutenden Geldsumme, das alles berührte sie kaum. Es verursachte ihnen viel Arbeit und Reisen und wurde dann bald vergessen. Der Tod der Tante rief Oljgas bittere, aufrichtige Tränen hervor und warf ein halbes Jahr lang einen Schatten auf ihr Leben. Die größten Befürchtungen und ewige Sorge wurden durch die Krankheiten der Kinder hervorgerufen; doch sowie die Furcht wich, kehrte das Glück zurück. Andrej wurde am meisten durch Oljgas Gesundheitszustand beunruhigt; sie brauchte lange Zeit, um sich nach der Entbindung zu erholen, und trotzdem sie wiederhergestellt war, hörte er nicht auf, sich um sie zu sorgen; er konnte sich keinen größeren Schmerz denken. Wie glücklich bin ich! sagte auch Oljga still, ihr Leben betrachtend, und versank manchmal in den Momenten dieser Betrachtung in Sinnen ... besonders nach einiger Zeit, drei, vier Jahre nach ihrer Verheiratung. Der Mensch ist seltsam! Je voller ihr Glück sich gestaltete, desto nachdenklicher und sogar ... ängstlicher wurde sie. Sie begann sich streng zu beobachten und bemerkte, daß diese Stille des Lebens, das Verweilen auf den Augenblicken des Glückes sie verwirrte. Sie schüttelte diese Nachdenklichkeit gewaltsam von ihrer Seele ab und beschleunigte das Tempo ihres Lebens, suchte fieberhaft nach Lärm, Trubel und Beschäftigung, bat den Mann, sie in die Stadt mitzunehmen, versuchte es, sich in der Gesellschaft unter den Menschen umzuschauen; aber es dauerte nicht lange. Das Leben der Gesellschaft berührte sie nur oberflächlich, sie eilte in ihren Winkel, um sich von irgendeinem drückenden, ungewohnten Eindruck zu befreien, und versenkte sich wieder in die kleinlichen Sorgen des häuslichen Lebens, verließ ganze Tage lang nicht das Kinderzimmer und erfüllte die Pflichten der Mutter als Kinderfrau, oder sie versenkte sich mit Andrej ins Lesen und in Gespräche über »Ernsthaftes und Langweiliges«; sie lasen auch Dichter und sprachen von einer Reise nach Italien. Sie fürchtete, in etwas der Apathie Oblomows Ähnliches zu versinken. Aber trotz aller ihrer Bemühungen, diese Augenblicke der periodischen Erstarrung und des Schlafes von ihrer Seele abzuschütteln, schlich an sie doch wieder zuerst ein Traum von Glück heran, eine blaue Nacht senkte sich auf sie herab und fesselte sie mit Schlummer; dann begann wieder ein Moment des Sinnens, gleichsam ein Ausruhen vom Leben, und dann ... Verwirrung, Angst, Mattigkeit, eine dumpfe Traurigkeit, und in dem unruhigen Hirn ertönten dunkle, nebelhafte Fragen. Oljga lauschte wachsam, prüfte sich, konnte aber nicht erhaschen und herausbekommen, was die Seele manchmal bittet und sucht; sie schien sogar – es war furchtbar, es zu bekennen – voll Bangigkeit zu sein, als ob das glückliche Leben sie nicht befriedigte und sie ermüdete, als forderte sie neue ungewöhnliche Erscheinungen und als eilte sie der Gegenwart voraus ... Was ist das? dachte sie entsetzt, muß man denn und kann man denn noch etwas wünschen? Wohin sollte man sich wenden? Man konnte nirgends hin, es war kein Weg da ... Ist's denn möglich, hast du denn den Kreis des Lebens schon vollendet? War denn das alles ... alles? ... fragte ihre Seele, sprach aber nicht zu Ende ... und Oljga blickte unruhig um sich, ob jemand nicht dieses Flüstern ihrer Seele erfuhr und erlauschte ... Sie befragte den Himmel, das Meer, den Wald ... Doch sie erhielt nirgends eine Antwort. Dort war nichts als die Ferne, die Tiefe und das Dunkel. Die Natur sagte immer ein und dasselbe; sie sah darin ein stetes, aber eintöniges Fortschreiten des Lebens, ohne Anfang und Ende. Sie wußte, wen sie über diese Zweifel zu befragen hatte und wo sie Antwort finden konnte; wie würde diese aber ausfallen? Was, wenn das alles das Murren eines unfruchtbaren Geistes oder noch schlimmer: der Durst eines nicht für die Liebe geschaffenen, unweiblichen Herzens war! Sie, sein Abgott, war ohne Herz, mit einem trockenen, durch nichts zu befriedigenden Verstand! Was würde denn aus ihr werden? Vielleicht ein Blaustrumpf? Wie würde sie in seinen Augen sinken, wenn sich ihm diese neuen, nicht gewohnten, aber ihm doch verständlichen Leiden eröffneten! Sie versteckte sich vor ihm oder schützte Krankheit vor, wenn ihre Augen gegen ihren Willen den samtenen Glanz verloren und so trocken und heiß blickten, wenn auf ihrem Gesichte eine schwere Wolke lastete und sie sich trotz aller Bemühungen nicht dazu zwingen konnte, zu lächeln und zu sprechen, und die wichtigsten Neuigkeiten auf dem Gebiete der Politik, die interessantesten Erklärungen eines neuen Fortschreitens der Wissenschaft, eines neuen Schaffens in der Kunst gleichgültig aufnahm. Sie wollte aber nicht weinen, und es kam über sie ein plötzliches Erbeben, wie zu der Zeit, da ihre Nerven in Aufruhr waren und ihre weiblichen Kräfte erwachten und sich äußerten. Nein, das war etwas anderes! Was ist es denn? fragte sie sich verzweifelt, wenn sie an einem schönen, stillen Abend oder an der Wiege oder sogar während der Liebkosungen und Reden ihres Mannes plötzlich traurig und allem gegenüber gleichgültig wurde ... Sie wurde wie versteinert und schwieg, bewegte sich dann mit geheuchelter Lebhaftigkeit hin und her, um ihr seltsames Leiden zu verbergen, oder schützte Migräne vor und ging schlafen. Es fiel ihr aber nicht leicht, Stolz' wachsamen Blick zu täuschen; sie wußte es und bereitete sich innerlich mit derselben Unruhe zur bevorstehenden Auseinandersetzung vor, wie sie sich einst zur Beichte der Vergangenheit vorbereitet hatte. Der Augenblick kam. Sie gingen eines Abends in der Pappelallee spazieren. Sie hängte sich fast an seine Schulter und schwieg. Sie quälte sich mit einem ihrer unbegreiflichen Anfälle ab und beantwortete kurz alles, was er sagte. »Die Kinderfrau hat gesagt, daß Olenjka in der Nacht gehustet hat. Sollte man morgen nicht den Arzt holen lassen?« fragte er. »Ich habe ihr Warmes zu trinken gegeben und werde sie morgen nicht hinauslassen, wir wollen abwarten!« antwortete sie eintönig. Sie durchschritten schweigend die Allee. »Warum hast du denn den Brief deiner Freundin Sonitschka nicht beantwortet?« fragte er. »Und ich habe immer darauf gewartet und wäre fast zu spät auf die Post gekommen. Das ist schon ihr dritter unbeantworteter Brief.« »Ja, ich möchte sie möglichst bald vergessen...« sagte sie und schwieg. »Ich habe Bitschurin von dir gegrüßt«, begann Andrej wieder; »er ist ja in dich verliebt, es wird ihn vielleicht ein wenig trösten, daß sein Weizen nicht mehr zur rechten Zeit eintrifft.« Sie lächelte trocken. »Was hast du, willst du schlafen?« fragte er. Ihr Herz begann wie jedesmal, wenn diese Fragen an sie gerichtet wurden, zu klopfen. »Noch nicht«, sagte sie mit künstlicher Frische, »warum denn?« »Bist du unwohl?« fragte er wieder. »Nein. Warum glaubst du das?« »Dann langweilst du dich!« Sie preßte ihm mit beiden Händen fest die Schulter zusammen. »Nein, nein!« wies sie seine Vermutungen mit gekünstelt unbefangener Stimme zurück, in welcher aber tatsächlich etwas wie Langeweile ertönte. Er führte sie aus der Allee heraus und wandte ihr Gesicht dem Mondlichte zu. »Sieh mich an!« sagte er und sah ihr forschend in die Augen. »Man könnte meinen, daß du ... unglücklich bist! Du hast heute so seltsame Augen, und nicht nur heute ... Was hast du, Oljga?« Er führte sie an der Taille wieder in die Allee. »Weißt du, ich ... habe Hunger!« sagte sie und versuchte zu lachen. »Lüge nicht, lüge nicht! Ich liebe das nicht!« rief er mit gespielter Strenge aus. »Unglücklich!« wiederholte sie vorwurfsvoll, in der Allee stehenbleibend. »Ja, ich bin vielleicht deswegen unglücklich ... weil ich zu glücklich bin!« fügte sie mit einem so weichen, zärtlichen Klang der Stimme hinzu, daß er sie küßte. Sie wurde dreister. Die zwar scherzhafte, leichthin geäußerte Voraussetzung, sie könnte unglücklich sein, spornte sie unerwartet zur Offenherzigkeit an. »Ich langweile mich nicht und kann mich nicht langweilen, das weißt du und glaubst natürlich selbst nicht an deine Worte; ich bin nicht krank, sondern ... mir ist ... manchmal traurig zumute ... Da hast du's, du unerträglicher Mensch, wenn man sich vor dir nicht verstecken kann! Ja, traurig, und ich weiß nicht weshalb!« Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter. »Das ist es also! Warum denn?« fragte er sie leise, sich zu ihr herabbeugend. »Ich weiß nicht«, wiederholte sie. »Es muß aber doch irgendein Grund vorhanden sein, wenn nicht in mir und in deiner Umgebung, so doch in dir selbst. Manchmal ist eine solche Traurigkeit nichts anderes als der Keim einer Krankheit ... Fühlst du dich nicht gesund?« »Ja, vielleicht«, sagte sie ernst, »ist es etwas Ähnliches, wenn ich auch nichts fühle. Du siehst, wie ich esse, spazierengehe, schlafe und arbeite. Plötzlich kommt eine Melancholie über mich ... mir scheint dann ... daß das Leben nicht alles enthält, was es enthalten sollte ... Aber achte nicht darauf; das alles ist ganz belanglos ...« »Sprich, sprich!« drang er eifrig in sie, »das Leben enthält also nicht alles; was noch?« »Manchmal fürchte ich, daß alles sich ändert oder ein Ende nimmt ... Ich weiß selber nicht! Oder ich quäle mich mit dem dummen Gedanken ab: Was wird noch sein? ... Ist denn das das Glück ... das ganze Leben ...« sprach sie immer leiser, sich dieser Frage schämend, »alle diese Freuden und Leiden ... die Natur? ...« flüsterte sie, »es zieht mich immer noch irgendwohin, nichts befriedigt mich ... Mein Gott! ich schäme mich sogar dieser Dummheiten ... Es ist Phantasterei ... Beachte es nicht und sieh mich nicht an ...« fügte sie mit flehender Stimme hinzu, indem sie sich an ihn schmiegte. »Diese Traurigkeit vergeht bald, und mir wird dann wieder so leicht und froh, wie zum Beispiel jetzt!« Sie schmiegte sich schüchtern und zärtlich an ihn, sich tatsächlich schämend und ihn gleichsam darum bittend, ihr die »Dummheiten« zu verzeihen. Andrej befragte sie noch lange, und sie teilte ihm noch lange, wie eine Kranke dem Arzt, die Symptome der Traurigkeit und alle dumpf in ihr aufsteigenden Fragen mit, stellte ihm die Unruhe ihrer Seele und das Verschwinden dieser Halluzination dar, alles, was sie bemerkt hatte und was ihr einfiel. Stolz schritt wieder schweigend durch die Allee, indem er den Kopf auf die Brust senkte und sich mit seinem ganzen Denken voll Unruhe und Staunen in das unklare Geständnis seiner Frau vertiefte. Sie schaute ihm in die Augen, sah aber nichts, und als sie das Ende der Allee zum drittenmal erreicht hatten, ließ sie ihn nicht sich umwenden, sondern führte ihn jetzt, wie er es zuvor mit ihr getan hatte, ins Mondlicht und blickte ihm fragend in die Augen. »Was hast du?« fragte sie schüchtern, »du lachst über meine Dummheiten, nicht wahr? Diese Traurigkeit ist sehr dumm, nicht wahr?« Er schwieg. »Warum schweigst du denn?« »Du hast lange geschwiegen, trotzdem du sicher gewußt hast, daß ich dich längst beobachtet habe; laß also auch mich schweigen und nachdenken. Du hast mir keine leichte Aufgabe gestellt ...« »Jetzt wirst du nachdenken, und ich werde mich damit abquälen, was für Gedanken dir wohl kommen. Ich hätte es dir nicht sagen sollen«, fügte sie hinzu, »sage lieber etwas ...« »Was soll ich dir denn sagen?« fragte er sinnend. »Vielleicht äußert sich in dir auch eine nervöse Störung, dann kann ich dir nicht sagen, was mit dir ist, das muß der Arzt entscheiden. Ich werde ihn morgen holen lassen ... Wenn es aber etwas anderes ist ...« begann er und dachte nach. »Was dann, sprich!« Er ging noch immer in Gedanken versunken. »Aber so sprich doch!« sagte sie, ihm die Hand schüttelnd. »Vielleicht ist es ein Überschuß an Phantasie – du bist zu lebhaft ... oder du bist vielleicht bis zu einem Stadium herangereift ...« sagte er halblaut, wie zu sich selbst. »Sprich, bitte, laut, Andrej! Ich kann es nicht ausstehen, wenn du vor dich hinbrummst«, klagte sie; ich habe ihm Dummheiten vorerzählt, und er läßt gleich den Kopf hängen und brummt vor sich etwas in den Bart! »Ich fürchte mich sogar mit dir, hier im Dunkel ...« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Du wirst traurig, dich quälen allerlei Fragen, wie kann man daraus klug werden? Wir werden noch darüber sprechen und uns die Sache überlegen; ich glaube, du mußt wieder im Meer baden ...« »Du hast zu dir selbst gesagt: ›Wenn ... vielleicht ... gereift‹. Was für einen Gedanken hast du gehabt?« fragte sie. »Ich dachte ...« begann er langsam und sinnend seine Gedanken zu äußern, ohne ihnen noch recht zu trauen und sich ihrer gleichsam schämend, »siehst du, es gibt Augenblicke ... das heißt, ich will sagen, daß das alles nicht das Anzeichen irgendeiner Störung ist; wenn du dabei ganz gesund bist, bedeutet das vielleicht, daß du schon gereift und an den Zeitpunkt herangekommen bist, da die Entwicklung des Lebens stehenbleibt, da es darin kein Rätsel mehr gibt und es sich ganz offenbart hat ...« »Ich glaube, du willst sagen, daß ich gealtert bin?« unterbrach sie ihn lebhaft, »untersteh dich nicht!« Sie drohte ihm sogar. »Ich bin noch jung und kräftig ...« fügte sie, sich reckend, hinzu. Er lachte. »Fürchte dich nicht«, sagte er, »du hast keine Anlagen, irgendwann zu altern! Nein, das ist es nicht ... im Alter sinken die Kräfte und hören auf, gegen das Leben anzukämpfen. Nein, deine Traurigkeit und Bangigkeit ist, wenn ich nicht irre, eher das Anzeichen von Kraft ... Das Suchen eines lebhaften, tätigen Geistes geht manchmal über die Grenzen des Lebens hinaus, findet, aber selbstverständlich keine Antwort, und dann entsteht Traurigkeit und zeitweise Unzufriedenheit mit dem Leben ... Das ist die Traurigkeit der Seele, die das Leben über sein Geheimnis befragt ... Vielleicht ist das dein Fall ... Wenn es so ist, dann ist das alles nicht belanglos.« Sie seufzte wohl hauptsächlich vor Freude, daß ihre Befürchtungen nun ein Ende hatten und sie in den Augen ihres Mannes nicht gesunken, sondern im Gegenteil noch gestiegen war ... »Ich bin doch aber glücklich, mein Geist ist nicht müßig; ich träume nicht; mein Leben ist inhaltreich – was denn noch? Wozu diese Fragen?« sagte sie. »Es ist eine Krankheit, ein lastender Druck!« »Ja, vielleicht ist es ein Druck für einen schwachen, finsteren Geist, der das nicht gewohnt ist. Diese Traurigkeit und diese Fragen haben vielleicht viele schon wahnsinnig gemacht; manchen erscheinen sie in Gestalt von unförmigen Visionen, von Hirngespinsten ...« »Das Glück schäumt über den Rand, ich möchte so gern leben, und plötzlich kommt diese Bitternis hinzu ...« »Ja! Das ist der Preis, mit dem das Feuer des Prometheus erkauft wird! Man muß diese Traurigkeit nicht nur dulden, sondern auch lieben und diese Zweifel und Fragen achten; sie sind der Überfluß, der Luxus des Lebens und erscheinen meistens nur auf den Gipfeln des Glückes, wo es keine rohen Wünsche gibt; sie entstehen nicht inmitten des Alltaglebens; wo Not und Elend ist, hat man keinen Sinn dafür; die Menge schreitet hin, ohne diesen Nebel der Zweifel und die Bangigkeit der Fragen zu kennen ... Wer ihnen aber rechtzeitig begegnet, sieht in ihnen nicht etwas Zermalmendes, sondern begrüßt sie als liebe Gäste.« »Man wird damit aber nicht fertig; sie erzeugen Traurigkeit und Gleichgültigkeit ... fast allem gegenüber ...« fügte sie unschlüssig hinzu. »Dauert das denn lange? Dann erfrischen sie das Leben. Sie führen zu einem Abgrund hin, den man über nichts befragen kann, und rufen dem übrigen Leben gegenüber größere Liebe hervor ... Sie fordern schon erprobte Kräfte zum Kampf mit sich heraus, wie um sie nicht einschlafen zu lassen ...« »Sich mit Nebeln, mit Visionen abzuquälen« klagte sie, »alles ist licht, und plötzlich fällt ein dünner Schatten auf das Leben hin! Gibt es denn kein Mittel dagegen?« »Es gibt schon welche: im Leben eine Stütze haben! Wenn man aber keine hat, dann ist das Leben auch ohne diese Fragen unerträglich!« »Was soll man denn tun? Sich dieser Stimmung hingeben und trauern?« »Nichts«, sagte er, »sich mit Festigkeit waffnen und geduldig und beharrlich seinen Weg verfolgen. Wir sind keine Titanen«, fuhr er fort und umarmte sie, »wir werden nicht mit Manfred und Faust zugleich einen kühnen Kampf mit quälenden Fragen beginnen, wir werden die Herausforderung nicht annehmen, sondern das Haupt neigen und den schweren Augenblick demütig ertragen, und dann lächelt wieder das Leben, das Glück und ...« »Und wenn das niemals aufhört, wenn die Traurigkeit immer und immer mehr quält? ...« fragte sie. »Was dann? Wir nehmen sie als ein neues Element des Lebens auf ... Aber das ist unmöglich, das kann bei uns nicht eintreffen! Das ist nicht deine Traurigkeit, sondern die allgemeine Krankheit der Menschheit. Dich hat nur ein Tropfen davon genetzt ... Das alles ist furchtbar, wenn der Mensch sich vom Leben abwendet ... wenn er keine Stütze besitzt. Aber wir ... Wollen wir hoffen, daß diese Traurigkeit das ist, wofür ich sie halte, und kein Symptom einer Krankheit ... das wäre weit schlimmer. Das wäre ein Unglück, das mich schutzlos und kraftlos vorfände ... Wie könnten aber Nebel, Traurigkeit, Zweifel, Fragen uns unseres Glückes berauben und unsere ...« Er sprach nicht zu Ende, sie stürzte sich wie wahnsinnig in seine Arme und erstarrte für einen Augenblick wie eine Bacchantin in leidenschaftlicher Selbstvergessenheit, indem sie seinen Hals mit den Armen umschlang. »Weder Nebel noch Traurigkeit noch Krankheit, nicht einmal der Tod! ...« flüsterte sie begeistert, wieder glücklich, beruhigt und froh. Ihr schien, sie hätte ihn noch nie so leidenschaftlich geliebt wie in diesem Augenblick. »Sieh dich vor, daß das Schicksal dein Murren nicht hört«, schloß er mit der abergläubischen Bemerkung, die zärtliche Sorge ihm eingab, »und nicht für Undankbarkeit hält! Es liebt nicht, daß seine Gaben nicht geschätzt werden. Bis jetzt hast du das Leben nur beobachtet, du wirst es aber noch selbst auskosten ... Warte, bis es sich vor dir entrollt und Leid und Arbeit beginnen ... Wenn sie aber beginnen, dann hat man für solche Fragen keine Zeit ... Schone deine Kräfte!« fügte Stolz leise, wie im Selbstgespräch als Antwort auf ihren leidenschaftlichen Ausbruch hinzu. In seinen Worten erklang Traurigkeit, als sehe er in der Ferne schon »Leid und Arbeit«. Sie schwieg, für den Augenblick durch den traurigen Klang seiner Stimme betroffen. Sie glaubte ihm grenzenlos, sie glaubte auch seiner Stimme. Sein Sinnen steckte auch sie an, sie sammelte ihre Gedanken und wandte sich ganz ihrem Innern zu. Sie schritt, sich auf ihn stützend, mechanisch, langsam und in tiefes Schweigen versenkt, durch die Allee. Sie blickte, ihrem Gatten folgend, ängstlich in die Ferne des Lebens, dorthin, wo seinen Worten nach die Zeit der »Prüfungen« beginnen würde und wo »Leid und Arbeit« sie erwarteten. Sie träumte einen anderen Traum, nicht von der blauen Nacht; sondern ihr eröffnete sich ein neuer Abschnitt des Lebens, nicht mehr der durchsichtig klare, festliche, in der Stille, inmitten der grenzenlosen Fülle, allein mit ihm ... Nein, sie sah dort eine Kette von Verlusten, von Entbehrungen, von mit Tränen benetzten, unvermeidlichen Opfern, ein Leben des Fastens und des unfreiwilligen Entsagens der vom Müßiggang erzeugten Launen – Stöhnen und Weinen, die neue, ihnen jetzt unbekannte Gefühle begleiten würden; sie träumte von Krankheiten, vom schlechten Gang der Geschäfte, vom Verlust des Gatten ... Sie zitterte und ermattete, blickte aber mit mutiger Neugier auf diese neue Lebensweise, betrachtete sie entsetzt und prüfte ihre Kräfte ... Nur die Liebe versagt auch in diesem Traum nicht, sie stand als treue Wache des neuen Lebens da; aber auch sie hatte sich verändert! Sie fühlte nicht ihren heißen Atem, sah keine lichten Strahlen und keine blaue Nacht; nach Jahren würde das alles im Vergleich mit jener fernen Liebe, die das tiefe und unerbittliche Leben in sich aufgenommen hatte, wie ein Kinderspiel erscheinen. Man hörte dort keine Küsse, kein Lachen und keine bebenden, sinnenden Gespräche in der Allee, inmitten von Blumen, beim Fest der Natur und des Lebens ... Alles würde verblassen und verwelken. Jene nie welkende, unvergängliche Liebe spiegelte sich mächtig wie eine Lebenskraft auf ihren Gesichtern wider, sie leuchtete in der Stunde des gemeinsamen Schmerzes in einem schweigend und langsam gewechselten Blick auf und äußerte sich in der endlosen, beiderseitigen Geduld der Folter des Lebens gegenüber, in verhaltenen Tränen und unterdrücktem Schluchzen ... Mit Oljgas nebelhafter Traurigkeit und den in ihr auftauchenden Fragen verwebten sich leise andere, wenn auch ferne, so doch klare, bestimmte und drohende Träume. Bei den beruhigenden und energischen Worten ihres Mannes und im grenzenlosen Vertrauen ihm gegenüber ruhte Oljga sowohl von ihrer rätselhaften, nicht allen verständlichen Traurigkeit, als auch von den drohenden, prophetischen Träumen der Zukunft aus und schritt mutig vorwärts. Auf den »Nebel« folgte ein heller Morgen mit den Sorgen der Mutter und Hausfrau; dort lockte sie der Blumengarten und das Feld und das Arbeitszimmer des Mannes. Sie spielte aber nicht mehr voll sorglosem Vergnügen mit dem Leben, sondern lebte mit einem verborgenen, kühnen Gedanken, bereitete sich vor und wartete ... Sie wuchs immer höher und höher ... Andrej sah, daß sein früheres Ideal einer Frau und Gattin unerreichbar war, doch er war selbst durch den bloßen Widerschein desselben in Oljga beglückt; er hatte selbst das nie erwartet. Außerdem trug er noch lange Zeit, fast das ganze Leben, die nicht geringe Sorge, seine Würde als Mann vor den Augen der ehrgeizigen, stolzen Oljga aufrechtzuerhalten; er tat es nicht aus brutaler Eifersucht, sondern um dieses kristallähnliche Leben nicht zu verdüstern; und das hätte leicht geschehen können, wenn ihr Glaube an ihn auch nur ein wenig gewankt hätte. Viele Frauen verlangen dies alles nicht; sowie sie verheiratet sind, nehmen sie die guten und die bösen Eigenschaften des Mannes demütig hin, fühlen sich in der ihnen zugewiesenen Stellung und Sphäre ohne weiteres befriedigt oder ergeben sich ebenso demütig der ersten, zufälligen Leidenschaft, indem sie es sofort für unmöglich oder nicht für notwendig halten, sich ihr zu widersetzen; das sei so ihr Schicksal, die Frau sei ein schwaches Wesen und könne dem Sturm nicht standhalten usw. Wenn der Gatte durch seinen Verstand, diese unwiderstehliche Macht des Mannes, die Menge sogar überragt, sind diese Frauen auf diesen seinen Vorzug ebenso stolz wie auf irgendeinen kostbaren Schmuck, doch auch das nur dann, wenn dieser Verstand ihren kleinlichen, weiblichen Intrigen gegenüber blind bleibt. Wenn er es aber wagt, die armselige Komödie ihrer nichtigen und manchmal lasterhaften Existenz zu durchschauen, beengt und bedrückt er sie. Oljga kannte nicht diese Logik der Unterwürfigkeit dem blinden Schicksal gegenüber und begriff die weiblichen kleinen Leidenschaften und Freuden nicht. Sowie sie in dem erwählten Mann einmal gewisse Eigenschaften und Rechte sich gegenüber erkannt hatte, glaubte sie an ihn und liebte ihn folglich auch; sowie sie aber an ihn zu glauben aufhörte, war auch ihre Liebe zu Ende, wie es mit Oblomow geschehen war. Aber damals waren ihre Schritte noch unsicher und ihr Wille schwankend gewesen; sie hatte soeben begonnen, das Leben zu beobachten, darüber nachzudenken, sich der Elemente ihres Geistes und Charakters bewußt zu werden und Material zu sammeln; die Arbeit des Schaffens war noch nicht erwacht und die Wege des Lebens waren noch nicht enträtselt. Doch jetzt glaubte sie nicht blind, sondern bewußt an Andrej, und er verkörperte ihr Ideal der männlichen Vollkommenheit. Sie glaubte immer bewußter an ihn, und es wurde ihm immer schwerer, auf der gleichen Höhe zu bleiben und der Held nicht nur ihres Verstandes und Herzens, sondern auch ihrer Phantasie zu bleiben. Und sie glaubte an ihn so, daß sie zwischen ihm und sich, außer Gott, keinen anderen Vermittler, keine andere Instanz zuließ. Darum hätte sie es nicht ertragen, wenn die von ihr anerkannten Eigenschaften sich auch nur um ein Haar verringert hätten; jede falsche Note seines Charakters oder Verstandes würde einen erschütternden Mißklang hervorgerufen haben. Das zerstörte Ideal des Glückes würde sie unter seinen Trümmern begraben haben, oder wenn ihre Kräfte sie nicht verließen, würde sie weitersuchen ... Aber nein, solche Frauen irren sich nicht zweimal. Nach dem Versagen eines solchen Glaubens, einer solchen Liebe ist eine Auferstehung unmöglich. Stolz war durch sein inhaltreiches, bewegtes Leben hoch beglückt und hütete, schützte und pflegte es eifrig und wachsam. Vom Grunde seiner Seele stieg nur dann Entsetzen auf, wenn er daran dachte, daß Oljga sich am Rande des Abgrundes befunden hatte, daß dieser glücklich erratene Weg, auf dem ihre beiden Existenzen sich vereinigt hatten, hätte verfehlt werden können, daß die Unkenntnis des Lebens den verhängnisvollen Irrtum ungehindert fast erfüllt hätte, daß Oblomow .... Er fuhr zusammen. Wie! ... er sollte sich Oljga in dem ihr von Oblomow zugedachten Leben, von einem Tag zum andern hinvegetierend, als Dorfdame, als Kinderfrau und Hausfrau denken! Alle Fragen, Zweifel, das ganze Fieber des Lebens würde sich auf die wirtschaftlichen Sorgen, auf die Erwartung der Feiertage, der Gäste, der Familienzusammenkünfte, auf Geburten, Taufen, auf die Apathie und den Schlaf des Mannes beschränken! Die Ehe wäre nur eine Form, aber kein Inhalt, ein Mittel, aber kein Ziel; sie würde als breiter, unveränderlicher Rahmen für Besuche, Empfang von Gästen, Diners, Abende und leeres Geschwätz dienen? ... Wie würde sie ein solches Leben ertragen? Zuerst würde sie sich mit dem Suchen und Erraten des Rätsels des Lebens abquälen, weinen und trauern, dann würde sie sich gewöhnen, dick werden, essen, schlafen und abstumpfen ... Nein, es würde anders sein; sie weint, quält sich, welkt dahin und stirbt in den Armen des liebenden, guten, aber kraftlosen Mannes ... Arme Oljga! Und wenn das Feuer nicht erlosch, das Leben nicht erstarb, wenn die Kräfte standhielten und nach Freiheit verlangten, wenn sie wie ein starkes, in die Ferne blickendes Adlerweibchen, das für einen Augenblick von schwachen Händen gefesselt wurde, die Flügel regt und auf jeden hohen Felsen schwebt, auf dem sie einen noch stärkeren und scharfsichtigeren Adler erblickt hat? ... Armer Ilja! »Armer Ilja!« sagte Andrej einmal laut, an die Vergangenheit denkend. Oljga ließ bei diesem Ausruf die Hände mit der Arbeit plötzlich auf die Knie sinken, warf den Kopf zurück und vertiefte sich in ihre Gedanken. Der Name weckte in ihr Erinnerungen. »Was ist mit ihm?« fragte sie dann. »Könnte man das nicht erfahren?« Andrej zuckte die Achseln. »Man könnte meinen«, sagte er, »daß wir zu einer Zeit leben, da es noch keine Post gab und da die Menschen, die nach verschiedenen Gegenden verstreut waren, einander für tot hielten und ohne jedes Lebenszeichen verschwanden.« »Du solltest wieder einem deiner Freunde schreiben, dann würden wir es wenigstens wissen ...« »Wir würden nichts anderes erfahren, als wir jetzt wissen. Er lebt, ist gesund und wohnt in derselben Wohnung – das weiß ich auch ohne Freunde. Was aber mit ihm vorgeht, wie er sein Leben erträgt, ob er schon geistig tot ist oder ob in ihm noch ein Funken von Leben glüht – das wird kein Fremder erfahren ...« »Ach, sprich nicht so, Andrej! Das erschreckt mich und tut mir weh. Ich möchte das gerne wissen, und zugleich fürchte ich mich davor ...« Sie war nahe daran, zu weinen. »Wir werden im Frühjahr in Petersburg sein und können uns dann selbst davon überzeugen.« »Es genügt nicht, das zu erfahren, man muß auch irgend etwas tun ...« »Habe ich denn nicht alles getan? Habe ich ihn denn nicht zu überreden gesucht, nicht für ihn gearbeitet, nicht seine Angelegenheiten geordnet – und er hat auf all das keinen Ton erwidert! Wenn man ihn sieht, ist er zu allem bereit, sowie man aber fort ist, hat alles ein Ende, und er schläft wieder ein. Man muß mit ihm wie mit einem Säufer umgehen!« »Warum gehst du denn von ihm fort?« entgegnete Oljga ungeduldig. »Man muß mit ihm energisch vorgehen, ihn in den Wagen setzen und fortführen. Wir übersiedeln ja jetzt auf unser Gut; er wird in der Nähe sein ... nehmen wir ihn mit.« »Was für Sorgen er uns macht!« sagte Andrej, im Zimmer auf und ab gehend. »Das nimmt kein Ende!« »Wird dir das lästig?« sagte Oljga. »Das ist mir neu! Ich höre dich zum ersten Male darüber murren.« »Ich murre nicht«, antwortete Andrej, »sondern ich überlege es mir.« »Woher kommt denn dieses Überlegen? Du hast dir selbst eingestanden, daß das alles langweilig und lästig ist, ja?« Sie blickte ihn forschend an. Er schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, es ist nicht lästig, sondern unnütz; das fällt mir manchmal ein.« »Sprich nicht so!« unterbrach sie ihn. »Sonst werde ich wieder wie vorige Woche den ganzen Tag daran denken und traurig sein. Wenn in dir die Freundschaft zu ihm erloschen ist, mußt du diese Sorge aus Liebe zur Menschheit tragen. Wenn du müde wirst, gehe ich selbst hin und komme ohne ihn nicht zurück; meine Bitten werden ihn rühren; ich fühle, daß ich bitterlich weinen werde, wenn ich ihn leblos und tot sehe! Vielleicht werden die Tränen ...« »Ihn ins Leben zurückrufen, glaubst du?« fragte Andrej. »Nein, sie werden ihn nicht zu irgendeiner Tätigkeit antreiben, vielleicht werden sie ihn aber wenigstens dazu bringen, um sich zu schauen und sein Leben mit etwas Besserem zu vertauschen. Er wird nicht mehr in einem Sumpf stecken, sondern mit uns, mit seinesgleichen zusammen sein. Ich habe mich damals nur zu zeigen gebraucht, und er ist in einem Augenblick erwacht und hat sich geschämt ...« »Vielleicht liebst du ihn noch wie einst?« fragte Andrej scherzend. »Nein!« sagte Oljga ernsthaft und sinnend, als blicke sie in die Vergangenheit zurück. »Ich liebe ihn nicht wie früher, aber es ist etwas in ihm, was ich liebe, dem ich, wie mir scheint, treu geblieben bin und das ich nicht wie manche andere vergessen werde ...« »Wer sind denn diese anderen? Sag, du giftige Schlange, beiße, stich. Meinst du mich? Du irrst dich. Und wenn du die Wahrheit wissen willst, werde ich dir sagen, daß ich dich gelehrt habe, ihn zu lieben, und beinahe etwas Schönes angerichtet habe. Ohne mich würdest du an ihm vorübergehen, ohne ihn zu beachten. Ich habe dich aber darauf hingewiesen, daß er nicht weniger Verstand als die anderen besitzt, daß dieser nur verborgen, mit allerlei Unrat verschüttet ist und im Müßiggang schlummert. Willst du, daß ich dir sage, warum er dir teuer ist und warum du ihn liebst?« Sie nickte bejahend mit dem Kopf. »Weil er etwas besitzt, das wertvoller als jeder Verstand ist, ein ehrliches, treues Herz! Das ist sein natürlicher Schatz, den er unversehrt durchs Leben getragen hat. Er hat sich von Stößen umwerfen lassen, ist erkaltet und ist endlich vernichtet, enttäuscht, ohne Kraft zu leben eingeschlafen, ohne seine Ehrlichkeit und Treue zu verlieren. Sein Herz hat nie einen falschen Ton von sich gegeben und hat keinen Schmutz in sich aufgenommen. Keine noch so glänzende Lüge wird ihn betören und ihn auf einen falschen Weg locken; wenn um ihn herum ein ganzer Ozean von Schmutz und Bösem wogt, wenn die ganze Welt von Gift erfüllt wird und eine verkehrte Richtung einschlägt, wird Oblomow doch nie den Götzen der Lüge anbeten, und in seiner Seele wird er stets rein und licht ausschauen ... Das ist eine kristallähnliche, durchsichtige Seele; es gibt wenig solche Menschen, sie sind selten, es sind die Perlen der Menge! Sein Herz ist unbestechlich; man kann sich auf ihn stets und überall verlassen. Darum bist du ihm treu geblieben, und darum wird die Sorge um ihn mir nie zur Last fallen. Ich habe viele Menschen mit glänzenden Eigenschaften gekannt, ich bin aber niemals einem reineren, lichteren und einfacheren Herzen begegnet; ich habe viele geliebt, aber niemand so unwandelbar und treu wie Oblomow. Wenn man ihn erkannt hat, kann man ihn nicht mehr zu lieben aufhören. Ist es so? Habe ich's erraten?« Oljga schwieg, indem sie ihre Augen auf die Arbeit senkte. Andrej vertiefte sich in seine Gedanken. »Ist denn das noch nicht alles? Was denn noch? Ach! ...« fügte er dann, sich aufrüttelnd lustig hinzu, »ich habe ganz die ›taubenhafte Zärtlichkeit‹ vergessen ...« Oljga lachte, warf ihre Arbeit fort, lief an Andrej heran, umschlang seinen Hals mit den Armen, blickte ihm ein paar Minuten lang mit ihren strahlenden Augen ins Gesicht, wurde dann nachdenklich und legte den Kopf auf die Schulter ihres Mannes. In ihrer Erinnerung erstand Oblomows sanftes, sinnendes Gesicht, sein zärtlicher Blick, seine Demut und dann sein klägliches, schamerfülltes Lächeln, mit dem er beim Abschied ihren Vorwurf beantwortete ... es wurde ihr so wehmütig ums Herz, und er tat ihr so leid ... »Du wirst ihn nicht verlassen und vergessen?« sagte sie, ohne ihre Arme vom Halse ihres Mannes loszulösen. »Niemals! Da müßte sich zwischen uns unerwartet ein Abgrund auftun oder eine Mauer erheben ...« Sie küßte ihren Mann. »Wirst du mich zu ihm mitnehmen, wenn wir in Petersburg sind?« Er schwieg unschlüssig. »Ja? Ja?« verlangte sie ihm beharrlich eine Antwort ab. »Höre, Oljga«, sagte er und bestrebte sich, seinen Hals von ihren ihn fesselnden Armen zu befreien, »zuerst muß man ...« »Nein, sage ja, versprich es mir, ich werde nicht ablassen!« »Gut«, antwortete er, »aber nicht beim ersten, sondern erst beim zweiten Male; ich weiß, was mit dir sein wird, wenn er ...« »Sprich nicht davon, sprich nicht!« unterbrach sie ihn. »Wir beide werden alles zustande bringen; du allein wirst es nicht können und nicht wollen!« »Gut; du wirst aber vielleicht für lange Zeit verstimmt sein!« sagte er, nicht ganz zufrieden, daß Oljga ihm seine Zustimmung abgenötigt hatte. »Also, denke daran«, schloß sie, sich auf ihren Platz setzend, »daß du ihn nur dann verlassen wirst, wenn sich zwischen dir und ihm ›ein Abgrund auftut oder eine Mauer erhebt‹. Ich werde diese Worte nicht vergessen.« Neuntes Kapitel Neuntes Kapitel Friede und Stille ruhen über der ungepflasterten Wiborgskajastraße, über ihren hölzernen Trottoirs, den spärlichen Gärten und den mit Brennesseln überwucherten Rinnsteinen, wo unter dem Zaun irgendeine Ziege mit einem abgerissenen Strick um den Hals fleißig Gras zupft oder stumpf hindämmert, wo um die Mittagsstunde die geckenhaften hohen Absätze eines über das Trottoir gehenden Schreibers vorüberstampfen, sich an dem Fenster ein Tüllvorhang bewegt und zwischen den Geranien eine Beamtenfrau hervorschaut, oder es erscheint plötzlich über dem Gartenzaun für einen Augenblick ein lustiges, frisches Mädchengesicht, um sofort wieder zu verschwinden; gleich darauf taucht ein zweites, ebensolches Gesicht auf und verschwindet auf dieselbe Weise, dann erscheint wieder das erste und wird vom zweiten abgelöst, und es ertönt das Kichern und Lachen der sich schaukelnden Mädchen. Auch im Hause der Pschenizina ist alles still. Wenn man auf den Hof tritt, stößt man auf eine lebende Idylle: die Hühner und Hähne laufen geschäftig hin und her und verstecken sich in die Winkel; der Hund beginnt an der Kette zu zerren und wütend zu bellen: Akulina hört die Kuh zu melken auf, der Hausmeister hält beim Holzhacken inne, und beide blicken neugierig den Besucher an. »Wen wünschen Sie?« fragt der Hausbesorger und zeigt, wenn er den Namen Ilja Iljitsch oder der Hausfrau vernimmt, schweigend auf den Hauseingang hin und fängt wieder Holz zu hacken an, während der Besucher über den reinen, mit Sand bestreuten Weg zur Stiege geht, deren Stufen mit einem einfachen, reinen Teppich bedeckt sind, und an dem blank geputzten Messinggriff der Klingel zieht, wonach ihm Anissja, die Kinder, manchmal die Hausfrau selbst oder Sachar, dieser aber zu allerletzt, öffnet. Alles im Hause der Pschenizina wies auf eine Fülle und einen Umfang der Wirtschaft hin, die dort auch zu der Zeit, als Agafja Matwejewna mit ihrem Bruder zusammen wohnte, nicht zu sehen waren. Die Küche, die Vorratskammern und die Kredenz – alles war mit Geschirrbrettern angefüllt, auf denen große und kleine, runde und ovale Platten, Saucieren, Tassen und Berge von Tellern, von gußeisernen, kupfernen und irdenen Töpfen standen. In den Schränken lag das Silber der Hausfrau, das längst eingelöst und nie wieder versetzt wurde, und das von Oblomow. Dann waren dort ganze Reihen von riesengroßen, bauchigen und winzigen Teekannen und ein paar Reihen von einfachen, bemalten, vergoldeten, mit Sprüchen und flammenden Herzen und mit Chinesen verzierten Porzellantassen aufgestellt. Daneben standen Glasbehälter für Kaffee, Zimt, Vanille, Kristallschüsseln, Öl- und Essigflaschen. Außerdem waren ganze Bretter mit Paketen, Flaschen und Schächtelchen mit Hausmitteln, Kräutern, Wasser, Pflastern, Spiritus, Kampfer, mit Pulvern und Räucherkerzen bedeckt; dabei befand sich Seife, Putzmittel für Spitzen und Flecken usw. usw., alles, was man bei jeder sorgsamen Hausfrau in jedem beliebigen Hause in der Provinz vorfindet. Wenn Agafja Matwejewna plötzlich den mit diesen Gegenständen gefüllten Schrank öffnet, kann sie selbst dem Bukett all dieser narkotischen Gerüche nicht widerstehen und wendet im ersten Augenblick das Gesicht zur Seite hin. In der Vorratskammer hingen an der Decke hin, um vor den Mäusen geschützt zu sein, ganze Schinkenkeulen, Käse, Zuckerhüte, gedörrte Fische, Säcke mit getrockneten Pilzen und mit bei einem Finnen gekauften Nüssen. Auf dem Fußboden standen Kübel mit Butter, große, zugedeckte Töpfe mit Rahm, Körbe mit Eiern und noch tausend andere Sachen! Man müßte über die Feder eines Homer verfügen, um alles, was in den Ecken und auf den Wandbrettern dieser kleinen Arche des häuslichen Lebens versammelt war, genau und voll wiederzugeben. Die Küche war das wahre Palladium der Tätigkeit der großen Hausfrau und ihrer würdigen Stütze Anissja. Alles befand sich im Hause bei der Hand und auf seinem Platz; man könnte sagen, daß überall Ordnung und Reinlichkeit herrschten, wenn es im Hause nicht eine Ecke gegeben hätte, wohin niemals weder ein Lichtstrahl noch ein frischer Lufthauch noch das Auge der Hausfrau noch die flinke, alles reinigende Hand Anissjas drang. Das war Sachars Ecke oder Nest. Seine Kammer besaß kein Fenster, und die ewige Dunkelheit begünstigte das Verwandeln dieser menschlichen Wohnung in eine Höhle. Wenn Sachar dort manchmal die Hausfrau mit irgendwelchen Verbesserungs- und Reinigungsplänen antraf, erklärte er resolut, es sei keine weibliche Beschäftigung, die Bürsten, die Wichse und die Stiefel zu ordnen, es gehe niemand etwas an, weshalb seine Kleider in einem Haufen auf dem Fußboden lagen und sein Bett sich im Staub hinter dem Ofen befand, daß ja er und nicht sie diese Kleider trug und auf diesem Bette schlief. Was aber den Besen, die Bretter, die beiden Ziegelsteine, den Boden eines Fasses und die Holzstücke betraf, die er in seinem Zimmer hatte, könnte er ohne dieselben in der Wirtschaft nicht auskommen; er erklärte aber niemals, wozu er das alles verwendete; außerdem meinte er, daß der Staub und die Spinnen ihn nicht stören, daß er übrigens seine Nase nicht in ihre Küche steckte und folglich auch nicht wünschte, daß sie sich um ihn kümmerten. Als er einmal Anissja bei sich antraf, überschüttete er sie mit solcher Verachtung und bedrohte ihre Brust so ernsthaft mit den Ellbogen, daß sie sich nie mehr zu ihm hineintraute. Als die Angelegenheit der höheren Instanz, Ilja Iljitschs Entscheidung, überlassen wurde, ging dieser hin, um die Sache anzuschauen und diesbezüglich strenge Befehle zu erlassen, nachdem er aber zu Sachar den Kopf hineingesteckt und für einen Augenblick alles, was sich dort befand, in Augenschein genommen hatte, spuckte er nur aus und sagte kein Wort. »Nun, was habt ihr erreicht?« sagte Sachar zu Agafja Matwejewna und zu Anissja, die mit Ilja Iljitsch gekommen waren und durch dessen Verwendung irgendeine Reform zu erreichen hofften. Dann lächelte er auf seine Art, so daß die Brauen und der Backenbart sich seitwärts auseinanderschoben. In allen übrigen Zimmern war es hell, rein und frisch. Die alten verblaßten Vorhänge waren verschwunden, und die Fenster und Türen des Salons und des Arbeitszimmers waren von blauen und grünen Draperien und Tüllvorhängen mit roten Zacken – alles Agafja Matwejewnas Arbeit – umrahmt. Die Kissen waren weiß wie Schnee und erhoben sich wie ein Berg fast bis zum Plafond; die Decken waren aus gesteppter Seide. Das Zimmer der Hausfrau war im Laufe von einigen Wochen mit aneinandergereihten und auseinandergezogenen Lombertischen gefüllt, auf denen diese Decken und Ilja Iljitschs Schlafrock ausgebreitet lagen. Agafja Matwejewna schnitt alles eigenhändig zu, fütterte es mit Watte und steppte es, indem sie ihre feste Brust an die Arbeit preßte, sie mit den Augen verschlang und sogar mit dem Mund tätig war, wenn sie einen Faden abbeißen wollte; sie arbeitete mit Liebe und mit unermüdlichem Fleiße, sich bescheiden mit dem Gedanken belohnend, daß der Schlafrock und die Decken den teuren Ilja Iljitsch bedecken, wärmen und verwöhnen würden und daß er sich darin behaglich fühlen würde. Er bewunderte, tagelang auf dem Sofa liegend, wie ihre nackten Ellbogen sich, der Nadel und dem Faden folgend, hin und her bewegten. Er schlummerte mehr als einmal wie in Oblomowka beim Zischen des eingefädelten und dem Knistern des abgebissenen Fadens ein. »Hören Sie doch zu arbeiten auf, Sie werden müde werden«, versuchte er ihrem Eifer Einhalt zu gebieten. »Gott liebt die Arbeit!« antwortete sie, ohne die Augen und die Hände von der Arbeit zu wenden. Der Kaffee wird ihm ebenso sorgsam, appetitlich und schmackhaft zubereitet wie anfangs gereicht, als er vor ein paar Jahren in die Wohnung eingezogen war. Suppe mit Gekröse, Makronen mit Parmesan, Fischpasteten, Betensuppe und selbstgezüchtete junge Hühner lösten einander in strenger Reihenfolge ab und brachten in die eintönigen Tage des kleinen Hauses eine angenehme Abwechslung. In die Fenster schienen von früh bis spät freudige Sonnenstrahlen, die eine Hälfte des Tages von der einen und die zweite Hälfte von der anderen Seite, dank der Gemüsegärten von beiden Seiten ganz unbehindert. Die Kanarienvögel sangen lustig, die Geranien und die manchmal von den Kindern aus dem gräflichen Garten mitgebrachten Hyazinthen strömten in das kleine Zimmer ihren starken Duft aus, der sich auf eine angenehme Weise mit dem Rauche einer echten Havannazigarre und dem Geruch des Zimts oder der Vanille vermengte, welche die Hausfrau, energisch die Ellbogen bewegend, stieß. Ilja Iljitsch schien sein Leben in einem Goldrahmen zu verbringen, in dem die Phasen des Tages, der Nacht und der Jahreszeiten wie in einem Diorama abwechselten; es gab sonst keine anderen Veränderungen und keine besonderen Vorfälle, die vom Grund des Lebens den ganzen, oft bitteren und trüben Satz hätten aufsteigen lassen. Von dem Augenblick an, da Stolz Oblomowka vom diebischen Schuldbrief des Bruders befreit hatte, und dieser mit Tarantjew für immer verschwunden war, hatte sich auch alles Feindliche aus Ilja Iljitschs Leben entfernt. Ihn umgaben jetzt einfache, gute, liebende Gesichter, die es zum Ziel ihres Daseins machten, sein Leben zu stützen und ihm dazu zu verhelfen, dasselbe nicht zu bemerken und zu fühlen. Agafja Matwejewna stand im Zenit ihrer Existenz; sie lebte und fühlte, daß sie sich auslebte, was sie früher nie getan hatte, sie konnte das aber wie bisher niemals in Worte kleiden, aber das fiel ihr, besser gesagt, auch gar nicht ein. Sie flehte nur Gott an, er möchte Ilja Iljitsch ein langes Leben schenken und ihn mit allem Leid, mit seinem Zorn und mit Not verschonen, und sich, die Kinder und das ganze Haus vertraute sie Gottes Gutdünken an. Aber ihr Gesicht äußerte stets ein und dasselbe Glück, das voll, befriedigt, wunschlos und folglich selten und bei einer jeden anderen Natur unmöglich war. Sie hatte zugenommen; die Brust und die Schultern strahlten gleichfalls Zufriedenheit und Fülle aus, in den Augen leuchteten Sanftheit und nur wirtschaftliche Sorgen. Zu ihr war dieselbe Ruhe und Würde zurückgekehrt, mit denen sie früher über das Haus und die gehorsame Anissja, über Akulina und über den Hausbesorger geherrscht hatte. Sie geht nicht, sondern schwebt wie früher vom Schrank in die Küche und von der Küche in die Vorratskammer und erteilt langsam und gleichmäßig Befehle mit dem vollen Bewußtsein dessen, was sie tut. Anissja ist noch flinker als bisher, weil es mehr Arbeit gibt; sie bewegt sich, läuft, arbeitet und sorgt sich um alles auf den Wink der Hausfrau. Ihre Augen sind sogar leuchtender geworden, und die Nase, diese sprechende Nase, eilt immer ihrer ganzen Person voraus, glüht vor Sorgen, vor Gedanken und Absichten und spricht, wenn die Zunge auch schweigt. Beide sind der Würde ihrer Stellung und ihres Amtes angemessen gekleidet. Die Hausfrau hatte sich einen großen Schrank mit einer Reihe von Seidenkleidern, Mänteln und Mantillen angeschafft; sie bestellte ihre Hauben in der Stadt, fast auf der Litejnajastraße, ihre Schuhe stammten nicht mehr von dem Markt, sondern aus einem guten Geschäfte und ihr Hut sogar aus der Morskajastraße! Und Anissja zog, wenn sie mit dem Kochen fertig war, und besonders am Sonntag, ein wollenes Kleid an. Nur Akulina ging noch immer mit dem in den Gürtel gesteckten Kleidersaum herum, und der Hausbesorger konnte sich selbst während der Sommerferien nicht von seinem Schafpelz trennen. Von Sachar ganz zu schweigen. Dieser hatte sich aus dem grauen Frack eine Joppe gemacht, und man konnte nicht bestimmen, welche Farbe seine Beinkleider hatten und woraus seine Krawatte gemacht war. Er putzte die Schuhe, schlief dann, saß am Haustor, die wenigen Passanten stumpf betrachtend, oder begab sich in den Krämerladen und tat alles ebenso, wie er es früher, zuerst in Oblomowka und dann auf der Gorochowajastraße, getan hatte. Und Oblomow selbst? Oblomow war das vollkommene und natürliche Spiegelbild und die Äußerung des ihn umgebenden Wohlstandes, der Ruhe und ungetrübten Stille. Er entschied, sein Leben betrachtend, darüber sinnend und sich immer mehr hineinversenkend, daß er nirgends mehr hinzugehen und nichts zu suchen hatte, daß sein Ideal vom Leben sich verwirklicht hatte, wenn es auch ohne Poesie und ohne jene Strahlen geschehen war, mit denen seine Phantasie ihm einst das sorglose, herrschaftliche Leben, auf großem Fuße auf dem eigenen Gute, inmitten von Bauern und von Dienstboten, geschmückt hatte. Er sah seine jetzige Existenz für die Fortsetzung des Lebens in Oblomowka an, die nur ein anderes Kolorit des Ortes und teilweise auch der Zeit aufzuweisen hatte. Es war ihm hier, wie früher in Oblomowka, gelungen, im Leben billig fortzukommen und sich bei demselben ungetrübte Ruhe zu erhandeln und zu sichern. Er triumphierte innerlich, weil er den qualvollen, störenden Forderungen und Stürmen entgangen war und sich von dem Horizonte entfernt hatte, unter dem die Blitze großer Freuden flammen und die Schläge großer Schmerzen herabsausen, wo trügerische Hoffnungen und majestätische Glücksphantome schweben, wo an dem Menschen die eigenen Gedanken nagen und wo ihn die Leidenschaft tötet, wo der Geist fällt oder triumphiert, wo der Mensch einen steten Kampf führt und gemartert, aber doch unbefriedigt und ungesättigt den Kampfplatz verläßt. Er hatte den Freuden, die der Kampf bietet, im Geiste entsagt, bevor er sie genossen hatte, und fühlte in seiner Seele nur in dem entlegenen Winkel, der aller Bewegung, allem Kampf und Leben fremd war, Ruhe. Und wenn seine Phantasie zu arbeiten begann, vergessene Erinnerungen und unerfüllte Träume auferstanden, wenn sich in seinem Gewissen Vorwürfe regten, warum er das Leben so und nicht anders verbrachte, schlief er unruhig, erwachte, sprang vom Bett auf und beweinte manchmal mit kalten Tränen der Hoffnungslosigkeit das lichte, für ewig erloschene Lebensideal, wie man einen teuren Toten beweint, mit dem Bewußtsein, für ihn, als er lebte, nicht genug getan zu haben. Dann blickte er seine Umgebung an, genoß die zeitlichen Güter und beruhigte sich, indem er sinnend zusah, wie still und friedlich die Sonne in den Flammen des Abendrots unterging, und entschied endlich, daß sein Leben sich nicht nur so geformt hatte, sondern dazu geschaffen und sogar vorher bestimmt war, so einfach und schlicht zu sein, um die Möglichkeit der idealen Ruhe im menschlichen Sein zu verkörpern. Andern, dachte er, fiel das Schicksal zu, dessen stürmische Elemente zu äußern und die schaffenden und zerstörenden Kräfte in Bewegung zu setzen; jeder hatte seine Bestimmung! Dieser Oblomower Plato arbeitete sich diese Philosophie aus, die ihn inmitten der Fragen und strengen Forderungen der Pflicht und der Bestimmung sanft einwiegte! Er war nicht als Gladiator für eine Arena, sondern als friedlicher Zuschauer des Kampfes auf die Welt gekommen und erzogen worden; seine ängstliche, träge Seele hätte weder die Erregungen des Glückes noch die Schicksalsschläge ertragen – folglich hatte er die eine Seite des Lebens verkörpert und brauchte nichts mehr darin zu erstreben, zu ändern oder zu bereuen. Mit den Jahren kamen diese Gedanken und die Reue seltener, und er legte sie allmählich still in den einfachen, breiten Sarg seiner übrigen Existenz, den er sich mit seinen eigenen Händen nach dem Beispiel der Eremiten vorbereitet hatte, welche sich vom Leben abwenden und sich selbst ins Grab schaufeln. Er hatte schon aufgehört, von der Einrichtung des Gutes und von der Übersiedlung dorthin mit dem ganzen Hause zu träumen. Der von Stolz eingesetzte Verwalter schickte ihm regelmäßig einen bedeutenden Betrag, zu Weihnachten brachten die Bauern Mehl und Geflügel, und das Haus war von Wohlstand und Frohsinn erfüllt. Ilja Iljitsch kaufte sich sogar Pferde, aber mit der ihm eigenen Vorsicht schaffte er sich solche an, die sich erst nach dem dritten Peitschenschlag in Bewegung setzten, beim ersten und zweiten Schlag rührte sich das erste Pferd und machte einen Schritt zur Seite, dann rührte sich das zweite Pferd und machte einen Schritt zur Seite und dann erst zogen alle drei mit gespannt gestrecktem Hals, Rücken und Schwanz auf einmal an und begannen, mit dem Kopfe nickend, zu laufen. Mit ihnen fuhr Wanja ins Gymnasium auf das gegenüberliegende Ufer der Newa und besorgte die Hausfrau ihre Einkäufe. Am Karneval und zu Ostern fuhr die ganze Familie mit Ilja Iljitsch spazieren und zu den Marktbuden hin, ab und zu wurde eine Loge genommen, und das ganze Haus ging ins Theater. Im Sommer begab man sich in die Umgegend der Stadt, am Eliasfreitag zu den Pulvermühlen; das Leben wechselte in seinen gewohnten Erscheinungen ab, und man möchte sagen, daß darin keine verhängnisvollen Veränderungen hätten eintreten können, wenn die Schicksalsschläge die kleinen, friedlichen Winkel nicht erreichen würden. Aber unglücklicherweise tönt der Donnerschlag, der die Berge und die ungeheuren Luftschichten erschüttert, auch in einem Mauseloch wider, zwar geschieht es schwächer und dumpfer, aber doch empfindlich für das Loch. Ilja Iljitsch aß viel und mit Appetit, wie in Oblomowka, und arbeitete wenig und träge, auch wie in Oblomowka. Er trank, trotzdem die Jahre vorübereilten, sorglos Johannisbeerschnaps und schlief lange und noch sorgloser nach Tisch. Plötzlich veränderte sich das alles. Als er eines Tages nach dem Nachmittagsschlafe vom Sofa aufstehen wollte, gelang es ihm nicht, und als er ein Wort sagen wollte, gehorchte ihm die Zunge nicht. Er winkte nur erschrocken mit der Hand, man möchte ihm zu Hilfe kommen. Wenn er allein mit Sachar gewohnt hätte, hätte er bis zum Morgen mit der Hand telegraphieren und endlich sterben können, was man dann am nächsten Tage erfahren hätte; doch das Auge der Hausfrau wachte gleich der Vorsehung über ihm; sie brauchte keinen Verstand, ihr genügte die bloße Ahnung des Herzens, daß Ilja Iljitsch nicht ganz wohl sei. Und sowie diese Ahnung über sie gekommen war, flog Anissja in einer Droschke zum Arzt hin, und sie selbst belegte ihm den Kopf mit Eis und schleppte aus dem geheimnisvollen Schrank alle Mittel herbei, die die Gewohnheit und die Überlieferung ihr anzuwenden vorschrieben. Sogar Sachar hatte Zeit gehabt, einen Stiefel anzuziehen, und pflegte mit dem Arzte, mit der Hausfrau und Anissja zusammen seinen Herrn. Man brachte Ilja Iljitsch zum Bewußtsein, ließ ihn zur Ader, und der Arzt erklärte, das sei ein Schlaganfall gewesen und er müsse eine andere Lebensweise beginnen. Ihm wurden Schnaps, Bier, Wein und Kaffee, mit wenigen und seltenen Ausnahmen, dann jede Fleischkost, alles Fette und Gewürze verboten und dann tägliche Bewegung und mäßiger Schlaf, nur des Nachts, vorgeschrieben. Ohne Agafja Matwejewnas Fürsorge würde das alles nicht eingehalten worden sein, doch sie verstand es, dieses System dadurch einzuhalten, daß sie demselben das ganze Haus unterordnete und Oblomow bald durch List und bald durch Güte vom verführerischen Wein, von dem Nachmittagsschlaf und den fetten Pasteten ablenkte. Sowie er einnickte, fiel wie von selbst ein Stuhl zur Erde, oder es wurde im Nebenzimmer mit großem Lärm altes Geschirr zerbrochen, oder die Kinder tollten so herum, daß es zum Davonlaufen war. Wenn das nicht half, ertönte ihre sanfte Stimme; sie rief ihn und fragte nach irgend etwas. Der Gartenweg wurde in dem Gemüsegarten fortgesetzt, und Ilja Iljitsch spazierte darauf morgens und abends zwei Stunden lang herum. Sie begleitete ihn, und wenn sie nicht konnte, schickte sie Mascha oder Wanja mit ihm oder alte Bekannte, der ruhige, gehorsame, mit allem einverstandene Alexejew ersetzte sie. Ilja Iljitsch schreitet langsam über den Weg hin und stützt sich auf Wanjas Schulter; Wanja ist schon fast ein Jüngling in der Gymnasialuniform und gebietet seinem schnellen Gang mit Mühe Einhalt, indem er sich Ilja Iljitschs Schritten anzupassen bestrebt. Oblomow kann den einen Fuß nicht ganz frei bewegen; das sind die Spuren des Schlaganfalles. »Nun gehen wir ins Zimmer, Wanjuscha!« sagte er. Sie wollten sich der Tür zuwenden. Ihnen kam Agafja Matwejewna entgegen. »Wohin gehen Sie so früh?« fragte sie, ihnen den Weg versperrend. »Es ist ja gar nicht früh! Wir sind etwa zwanzigmal hin und her gegangen, und von hier bis zum Zaun sind es fünfzig Klafter, es sind also im ganzen zwei Werst.« »Wievielmal habt ihr den Weg gemacht?« fragte sie Wanjuscha. Dieser wurde verlegen. »Du, lüg mir nichts vor!« drohte sie, ihm in die Augen blickend, »ich werde es gleich merken. Denke an Sonntag, ich lasse dich nicht auf Besuch fort.« »Nein, Mamachen, wir sind wirklich zwölfmal hin und her gegangen.« »Ach, du Schelm!« sagte Oblomow, »du hast immer Akazienblüten gepflückt, und ich habe jedesmal gezählt ...« »Nein, geht noch spazieren, meine Fischsuppe ist ohnehin noch nicht fertig!« beschloß die Hausfrau und schlug vor ihnen die Tür zu. Und Oblomow mußte nun, ob er wollte oder nicht, den Weg noch achtmal zurücklegen und durfte erst dann ins Zimmer kommen. Dort dampfte schon die Fischsuppe auf dem großen runden Tisch. Oblomow nahm seinen Platz auf dem Sofa ein, neben ihm saß rechts auf einem Sessel Agafja Matwejewna, und links setzte sich ein dreijähriges Kind auf einen Kinderstuhl mit einem vorgeschobenen Riegel hin. Daneben saß Mascha, ein schon dreizehnjähriges Mädchen, dann Wanja, und Oblomow gegenüber befand sich an diesem Tage Alexejew. »Warten Sie, ich werde Ihnen noch einen Barsch auf den Teller legen, ich habe da einen fetten gefunden!« sagte Agafja Matwejewna, Oblomow einen Fisch auf den Teller legend. »Es wäre gut, dazu eine Piroge zu essen!« sagte Oblomow. »Ich habe es ganz vergessen! Und ich wollte noch abends eine vorbereiten, ich habe jetzt gar kein Gedächtnis mehr!« sagte Agafja Matwejewna schlau. »Ich habe auch vergessen, Ihnen Kohl zu den Koteletten vorzubereiten, Iwan Alexeitsch«, fügte sie hinzu, sich an Alexejew wendend. »Verzeihen Sie.« Das war wieder eine List. »Das macht nichts, ich esse alles«, sagte Alexejew. »Warum bereitet man für ihn wirklich keinen Schinken mit Erbsen oder kein Beefsteak vor?« fragte Oblomow. »Er liebt das ...« »Ich bin selbst einkaufen gegangen, Ilja Iljitsch, es war kein gutes Fleisch da! Dafür habe ich Ihnen aber aus Weichselsirup ein Gelee machen lassen; ich weiß, daß Sie ein Liebhaber davon sind«, fügte sie hinzu, sich an Alexejew wendend. Das Gelee konnte Ilja Iljitsch nichts schaden, und darum mußte der stets gehorsame Alexejew es gerne essen. Nach dem Speisen konnte niemand und nichts Ilja Iljitsch vom Liegen abbringen. Er legte sich gewöhnlich für eine Stunde auf das Sofa hin. Die Hausfrau schenkte gleich darauf den Kaffee ein und ließ die Kinder daneben auf dem Teppich spielen, damit Ilja Iljitsch nicht einschlief, und er mußte notgedrungen an allem teilnehmen. »Höre auf, Andrjuscha zu necken; er wird gleich weinen!« wies er Wanja zurecht, wenn dieser das Kind neckte. »Maschenjka, schau, Andrjuscha wird sich am Sessel stoßen!« warnte er sorgsam, wenn das Kind unter die Sessel kroch. Und Mascha stürzte dem »Brüderchen« nach, wie sie das Kind nannte. Dann verstummte alles für einen Augenblick, die Hausfrau war in die Küche nachsehen gegangen, ob der Kaffee fertig war. Die Kinder wurden ruhig. Im Zimmer ertönte ein zuerst gedämpftes Schnaufen, das immer lauter wurde, und als Agafja Matwejewna mit der dampfenden Kaffeekanne erschien, war sie vom Schnarchen betroffen, das so laut wie in einem Bauernhaus erklang. Sie nickte Alexejew vorwurfsvoll zu. »Ich habe ihn geweckt, er hört aber nicht auf mich!« sagte dieser, um sich zu entschuldigen. Sie stellte die Kaffeekanne schnell auf den Tisch hin, nahm Andrjuscha vom Fußboden auf und setzte ihn leise aufs Sofa zu Ilja Iljitsch hin. Das Kind kroch auf ihn hinauf, erreichte sein Gesicht und packte ihn bei der Nase. »Was? Wer?« fragte unruhig der erwachte Ilja Iljitsch. »Sie sind eingenickt, und Andrjuscha ist auf Sie hinaufgekrochen und hat Sie aufgeweckt«, sagte die Hausfrau freundlich. »Wann bin ich denn eingenickt?« rechtfertigte sich Oblomow, Andrjuscha in seine Arme nehmend. »Habe ich denn nicht gehört, wie er mit seinen Händchen auf mir herumgekrabbelt ist? Ich höre alles. Ach, dieser Wildfang; er hat mich bei der Nase gepackt! Wart nur, wart! Du kriegst dafür schon etwas ab!« sagte er, das Kind liebkosend. Dann ließ er es auf den Fußboden herab und seufzte laut auf. »Erzählen Sie etwas, Iwan Alexeitsch«, sagte er. »Wir haben schon über alles gesprochen, Ilja Iljitsch; ich habe jetzt nichts mehr zu erzählen«, antwortete Alexejew. »Wieso denn? Sie kommen ja mit Menschen zusammen, gibt es denn nichts Neues? Ich denke, Sie lesen auch?« »Ja, ich lese manchmal, oder die anderen lesen und sprechen darüber, und ich höre zu. Gestern hat bei Alexej Spiridonitsch der Sohn, ein Student, laut vorgelesen ...« »Was hat er denn gelesen?« »Von den Engländern, die jemandem Gewehre und Pulver geschickt haben. Alexej Spiridonitsch hat gesagt, daß es Krieg geben wird.« »Wem haben sie es denn geschickt?« »Nach Spanien oder nach Indien, ich weiß es nicht mehr, aber der Gesandte war sehr unzufrieden.« »Welcher Gesandte?« »Das habe ich schon vergessen!« sagte Alexejew, die Nase zum Plafond erhebend und sich zu erinnern bemüht. »Mit wem wird es denn Krieg geben?« »Ich glaube mit dem türkischen Pascha.« »Nun, was gibt es noch Neues in der Politik?« fragte Ilja Iljitsch nach einem Schweigen. »Man schreibt, daß die Erdkugel sich immer mehr abkühlt; sie wird einmal ganz erstarren.« »Ist denn das Politik?« fragte Oblomow. Alexejew war verblüfft. »Dimitrij Iwanitsch hat zuerst etwas über Politik gesagt«, rechtfertigte er sich, »und hat dann weitergelesen, ohne mitzuteilen, wenn die Politik zu Ende ist. Ich weiß, daß das schon Literatur ist.« »Was hat er denn über Literatur gelesen?« fragte Oblomow. »Er hat gelesen, daß Dimitriew, Karamsin, Batjuschkow und Schukowskij die besten Schriftsteller sind ...« »Und Puschkin?« »Puschkin war nicht dabei. Es ist auch mir aufgefallen, daß er nicht dabei war! Er ist ja ein Genie!« sagte Alexejew, das »G« wie ein »Sch« aussprechend. Darauf folgte Schweigen. Die Hausfrau brachte ihre Arbeit herein und begann die Nadel hin und her zu bewegen, indem sie ab und zu Ilja Iljitsch und Alexejew anblickte und mit wachsamen Ohren lauschte, ob es nicht irgendwo Lärm und Unordnung gab, ob Sachar sich nicht in der Küche mit Anissja zankte, ob Akulina das Geschirr abwusch, ob die Pforte nicht auf dem Hof knarrte, das heißt, ob der Hausbesorger sich nicht in die »Kneipe« entfernt hatte. Oblomow versenkte sich leise in Schweigen und Sinnen. Dieses Sinnen war weder Schlaf noch Wachen; er ließ die Gedanken sorglos frei herumirren, ohne sie auf etwas zu konzentrieren, hörte dem gleichmäßigen Schlag seines Herzens zu und blinzelte manchmal, wie jemand, der seinen Blick auf nichts Bestimmtes richtet. Er hatte sich in einen unbestimmten, rätselhaften Zustand, in eine Art von Halluzination, versenkt. Der Mensch hat manchmal seltene und kurze Momente des Sinnens, wenn es ihm scheint, daß er dem schon einmal irgendwo erlebten Augenblick zum zweitenmal begegnet. Er weiß nicht, ob das um ihn Vorgehende ihm im Traum erschienen ist, oder ob er schon einmal gelebt und es vergessen hat; er sieht aber, daß ihn jetzt dieselben Personen umgeben, die einst um ihn herum waren, und daß dieselben Worte schon einmal gesprochen wurden. Die Phantasie kann sich nicht dorthin zurückversetzen, das Gedächtnis läßt die Vergangenheit nicht auferstehen und ruft nur tiefes Sinnen hervor. Das war jetzt Oblomows Zustand. Auf ihn senkte sich die schon einmal von ihm erlebte Stille herab, er sieht den bekannten Pendel sich bewegen und hört das Knistern des abgebissenen Fadens; bekannte Worte und bekanntes Flüstern wiederholen sich: »Ich kann nicht mit dem Faden in die Nadel hineinkommen, probiere du's, Mascha, du hast schärfere Augen!« Er blickte träge, mechanisch und wie im Traum auf das Gesicht der Hausfrau, und aus der Tiefe seiner Erinnerungen taucht eine bekannte, von ihm irgendwo gesehene Gestalt auf. Er sucht darauf zu kommen, wann und wo er das gesehen hat ... Und er sieht den großen, dunklen, von einer Paraffinkerze beleuchteten Salon in seinem Vaterhause, und um den Tisch herum sitzt die verstorbene Mutter mit ihren Gästen; sie nähen schweigend; der Vater geht auf und ab. Gegenwart und Vergangenheit haben sich verwebt und verflochten. Ihm träumt, daß er jenes gelobte Land erreicht hat, wo Milch und Honig fließen, wo man, ohne zu arbeiten, ißt und sich in Gold und Silber kleidet ... Er hört von den Träumen und Vorzeichen sprechen und das Klappern der Teller und Messer ertönen, schmiegt sich an die Kinderfrau und lauscht ihrer greisenhaft zitternden Stimme: »Militrissa Kirbitjewna!« sagt sie, ihn auf die Gestalt der Hausfrau hinweisend. Er glaubt, dasselbe Wölkchen wie damals über den blauen Himmel gleiten zu sehen, derselbe Wind bläst ins Fenster hinein und spielt mit seinen Haaren; und ein Oblomower Truthahn geht unter dem Fenster und schreit. Jetzt bellt der Hund; es ist gewiß ein Gast gekommen. Vielleicht ist es Andrej, der mit dem Vater aus Werchljowo kommt? Das war ein Feiertag für ihn. Das ist er wahrscheinlich. Die Schritte nähern sich immer mehr, die Tür öffnet sich ... »Andrej!« sagt er. Vor ihm steht wirklich Andrej, aber nicht als Knabe, sondern als reifer Mann. Oblomow erwachte; vor ihm stand kein Gespenst, sondern der wirkliche und greifbare Stolz. Die Hausfrau ergriff schnell Andrjuscha, nahm ihre Arbeit vom Tisch auf und führte die anderen Kinder fort; auch Alexejew verschwand. Stolz und Oblomow blieben allein und blickten einander schweigend und unbeweglich an. Stolz durchdrang ihn förmlich mit den Augen. »Bist du es, Andrej?« fragte Oblomow, vor Erregung kaum hörbar, wie man nur seine Geliebte nach langer Trennung fragt. »Ich bin es!« sagte Andrej leise. »Du lebst und bist bei guter Gesundheit?« Oblomow umarmte ihn und schmiegte sich fest an ihn. »Ach!« gab er gedehnt zur Antwort und legte in dieses »Ach« die ganze Macht der lange in seiner Seele angehäuften Freude und Traurigkeit hinein, die er seit ihrer Trennung vielleicht niemals in bezug auf jemand oder etwas geäußert hatte. Sie setzten sich und blickten einander wieder forschend an. »Bist du wohlauf?« fragte Andrej. »Ja, jetzt, Gott sei Dank.« »Warst du krank?« »Ja, Andrej, ich habe einen Schlaganfall gehabt ...« »Ist's möglich? Mein Gott!« sagte Andrej erschrocken und teilnahmsvoll. »Aber doch ohne Folgen?« »Ja, ich kann nur den linken Fuß nicht ganz frei bewegen ...« antwortete Oblomow. »Ach, Ilja, Ilja! Was ist mit dir? Du läßt dich jetzt ja ganz gehen! Was hast du diese ganze Zeit gemacht? Wir haben uns ja nun über vier Jahre nicht gesehen!« Oblomow seufzte. »Warum bist du denn nicht nach Oblomowka gekommen? Warum hast du nicht geschrieben?« »Was soll ich dir sagen, Andrej? Du kennst mich, frage nicht weiter!« sagte Oblomow traurig. »Und du bist immer noch in dieser Wohnung?« fragte Stolz, sich im Zimmer umschauend. »Und bist gar nicht übersiedelt?« »Nein, ich war die ganze Zeit hier ... Jetzt werde ich nicht mehr ausziehen!« »Wieso, bist du fest entschlossen?« »Ja, Andrej ... ich bin fest entschlossen.« Stolz blickte ihn forschend an, vertiefte sich in seine Gedanken und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Und was ist mit Oljga Sjergejewna? Geht es ihr gut? Wo befindet sie sich jetzt? Denkt sie an mich?« Er sprach nicht zu Ende. »Es geht ihr gut, und sie erinnert sich deiner, als ob ihr euch erst gestern getrennt hättet. Ich werde dir gleich sagen, wo sie ist.« »Und die Kinder?« »Auch die Kinder sind gesund ... Aber höre, Ilja: du scherzest nur, wenn du sagst, daß du hier bleiben willst! Und ich bin dich abzuholen gekommen, um dich zu uns aufs Gut mitzunehmen ...« »Nein, nein!« sagte Oblomow, die Stimme senkend und sichtbar beunruhigt nach der Tür blickend. »Nein, fang lieber gar nicht davon an, sprich nicht darüber ...« »Warum? Was hast du?« begann Stolz. »Du kennst mich! Ich habe mir längst diese Aufgabe gestellt und werde von dir nicht ablassen. Bis jetzt haben mich verschiedene Angelegenheiten davon abgelenkt, jetzt bin ich aber frei. Du mußt mit uns, in unserer Nähe wohnen. Oljga und ich haben das beschlossen, und es wird auch so sein. Gott sei Dank, daß ich dich so und nicht in einem noch ärgeren Zustand antreffe. Ich habe nicht darauf gehofft ... Komm also mit! ... Ich bin bereit, dich mit Gewalt fortzuführen; man muß anders leben, du weißt ja wie ...« Oblomow hörte ihm ungeduldig zu. »Schrei bitte nicht, sprich leiser!« bat er ihn. »Dort ...« »Was ist dort?« »Man wird es hören ... Die Hausfrau wird glauben, daß ich wirklich fortfahren will ...« »Was macht es denn? Sie soll das nur glauben!« »Nein, das geht nicht! Höre, Andrej!« fügte er plötzlich in einem für ihn ungewohnt entschlossenen Tone hinzu. »Mache keine vergeblichen Versuche, rede mir nicht zu; ich bleibe hier.« Stolz blickte seinen Freund erstaunt an. Oblomow erwiderte diesen Blick ruhig und entschlossen. »Du bist verloren, Ilja!« sagte er. »Dieses Haus, diese Frau ... dieses ganze Leben ... Das ist unmöglich! Komm, komm!« Er packte ihn beim Ärmel und zog ihn zur Tür hin. »Warum willst du mich fortführen? Wohin?« fragte Oblomow, sich wehrend. »Aus dieser Grube, aus diesem Sumpfe ans Licht, unter freien Himmel, wo es ein gesundes, normales Leben gibt!« bestand Stolz fast befehlend auf seiner Forderung. »Wo bist du? Was ist aus dir geworden? Besinne dich! Hast du dich denn zu einem solchen Leben vorbereitet, um wie ein Maulwurf in einer Höhle zu schlafen? Denke an alles ...« »Erinnere mich nicht daran, rühre nicht an der Vergangenheit; du wirst sie nicht mehr zurückbringen!« sagte Oblomow mit einem sinnenden Ausdruck im Gesicht, bei vollem Bewußtsein des Verstandes und des Willens. »Was willst du mit mir anfangen? Ich bin mit jener Welt, in die du mich ziehst, für immer zerfallen; du wirst die beiden zerrissenen Hälften nie vereinigen und zusammenlöten. Ich bin mit meiner wunden Stelle an diese Grube festgewachsen; versuche es, mich loszureißen, und du gibst mir den Tod.« »Aber so schau doch um dich! Wo bist du und mit wem?« »Ich weiß und fühle das ... Ach, Andrej, ich fühle und verstehe alles ... ich schäme mich schon, daß ich auf der Welt lebe! Ich kann dir aber nicht auf deinen Weg folgen, und wenn ich es sogar wollte ... Voriges Mal wäre es vielleicht noch möglich gewesen. Jetzt ...« er senkte die Augen und schwieg eine Weile, »ist es zu spät ... Geh und halte dich über mich nicht auf. Ich bin deiner Freundschaft wert – das sieht Gott, ich verdiene aber nicht, daß du dich mit mir abgibst.« »Nein, Ilja, du sagst etwas, sprichst es aber nicht zu Ende. Ich werde dich trotz allem mitnehmen, gerade darum, weil ich dich im Verdacht habe ... Höre«, sagte er, »zieh etwas an und komm mit mir, verbringe bei mir den Abend. Ich werde dir alles erzählen; du weißt ja nicht und hast nicht gehört, was bei uns vorgeht ...« Oblomow blickte ihn fragend an. »Du kommst ja mit niemand zusammen, ich habe ganz vergessen! Komm, ich erzähle dir alles ... Weißt du, wer mich hier am Haustor im Wagen erwartet? ... Ich gehe hin!« »Oljga!« rief der erschrockene Oblomow plötzlich aus. Er hatte sogar die Farbe gewechselt. »Laß sie um Gottes willen nicht herein! Fahre fort! Leb wohl, leb wohl, um Gottes willen!« Er stieß Stolz fast hinaus; dieser rührte sich jedoch nicht. »Ich darf ohne dich nicht zu ihr zurückkommen; ich habe es ihr versprochen, hörst du, Ilja? Wenn du heute nicht mitgehst, komme ich morgen wieder; du wirst die Sache nur hinausschieben, du kannst mich aber nicht verjagen ... Wir werden uns morgen oder übermorgen doch wiedersehen!« Oblomow schwieg mit gesenktem Kopfe und wagte es nicht, Stolz anzublicken. »Wann also? Oljga wird mich fragen.« »Ach, Andrej«, sagte er mit zärtlicher, flehender Stimme, indem er ihn umarmte und ihm den Kopf auf die Schulter legte. »Wende dich von mir ganz ab ... vergiß mich ...« »Wieso für immer?« fragte Stolz erstaunt, sich aus seiner Umarmung befreiend und ihm ins Gesicht blickend. »Ja!« flüsterte Oblomow. Stolz trat um einen Schritt vor ihm zurück. »Bist du es, Ilja?« warf er ihm vor. »Du stößt mich fort; und das alles ihretwegen, dieser Frau wegen ... Mein Gott!« schrie er wie vor plötzlichem Schmerz auf. »Dieses Kind, das ich soeben gesehen habe ... Ilja, Ilja! Fliehe von hier, komm, komm schnell! Wie tief du gesunken bist! Dieses Weib ... Was ist sie dir ...« »Meine Frau!« sagte Oblomow ruhig. Stolz erstarrte. »Und dieses Kind ist mein Sohn! Er heißt Andrej, zur Erinnerung an dich!« eröffnete Oblomow ihm alles und atmete ruhig auf, nachdem er die Last der Geheimtuerei von sich abgewälzt hatte. Jetzt wechselte Stolz die Farbe und betrachtete alles um sich herum mit erstaunten, fast wahnsinnigen Augen. Vor ihm hatte sich plötzlich »ein Abgrund aufgetan« und »eine steinerne Mauer erhoben«. Oblomow schien vor seinen Augen zu verschwinden und in die Tiefe zu versinken, und er fühlte nur den brennenden Schmerz, den man empfindet, wenn man nach einer Trennung erregt zum Freunde eilt, um ihn zu sehen, und erfährt, daß er schon längst nicht mehr da sei, daß er gestorben sei. »Verloren!« flüsterte er mechanisch. »Was werde ich Oljga sagen?« Oblomow hatte die letzten Worte gehört, wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Er streckte beide Arme zu Andrej hin, und sie umfaßten sich schweigend und fest, wie man sich vor dem Kampfe und vor dem Tode umarmt. Diese Umarmung erstickte ihre Worte, ihre Tränen und Gefühle ... »Vergiß meinen Andrej nicht, wenn ich nicht mehr da bin ...!« waren Oblomows letzte Worte, die er mit erloschener Stimme sagte. Andrej trat schweigend und langsam hinaus, ging langsam und sinnend über den Hof und stieg in den Wagen, während Oblomow sich auf das Sofa setzte, seine Ellbogen auf den Tisch stützte und sich das Gesicht mit den Händen bedeckte. Nein, ich werde deinen Andrej nicht vergessen, dachte Stolz traurig, während er über den Hof schritt, du bist verloren, Ilja! Man braucht dir nicht zu sagen, daß dein Oblomowka nicht mehr in der Wildnis liegt, daß auch dein Nest an die Reihe gekommen ist und auch dort die Sonne strahlt. Ich werde dir nicht sagen, daß dein Gut nach vier Jahren eine Bahnstation sein wird, daß deine Bauern alle dazugehörigen Arbeiten verrichten werden und daß dein Getreide per Eisenbahn zum Hafen transportiert werden wird. Und dann ... die Schulen, die Aufklärung, und ferner ... Nein, du wirst dich vor dem Morgenrot des neuen Glückes fürchten, deine ungeübten Augen werden schmerzen. Ich aber werde deinen Andrej dorthin führen, wohin du nicht gelangen konntest ... und ich werde mit ihm zusammen unsere Jugendträume zur Erfüllung bringen. »Leb wohl, altes Oblomowka!« sagte er, zum letzten Male auf die Fenster des kleinen Hauses zurückblickend. »Du hast ausgelebt!« »Was ist dort?« fragte Oljga mit starkem Herzklopfen. »Nichts!« antwortete Andrej trocken und lakonisch. »Lebt er und geht es ihm gut?« »Ja«, antwortete Andrej ungern. »Warum bist du so schnell zurückgekehrt? Warum hast du mich nicht hereingerufen und hast auch ihn nicht mitgebracht? Laß mich zu ihm!« »Das geht nicht!« »Was geht denn dort vor?« fragte Oljga erschrocken. »Hat sich denn ein Abgrund aufgetan? Willst du mir es nicht sagen?« Er schwieg. »Was geht denn dort vor?« »Dort herrscht Oblomowerei!« antwortete Andrej düster und beantwortete die ferneren Fragen Oljgas bis zum Hause hin mit düsterem Schweigen. Zehntes Kapitel Zehntes Kapitel Es waren fünf Jahre vergangen. Auch auf der Wiborgskajastraße hatte sich vieles verändert: die leere Straße, die zum Hause der Pschenizina führte, war mit Landhäusern verbaut, zwischen denen sich ein langes, steinernes Staatsgebäude ausstreckte, das die Sonnenstrahlen daran hinderte, lustig in die Fenster des stillen Obdaches der Trägheit und Ruhe zu scheinen. Auch das Häuschen selbst war ein wenig gealtert und sah nachlässig und schmutzig aus, wie ein unrasierter und ungewaschener Mensch. Die Farbe war verblaßt, die Dachrinnen waren teilweise zerbrochen; infolgedessen befanden sich auf dem Hofe große Pfützen, über die wie früher ein schmales Brett gelegt war. Wenn jemand auf den Hof trat, zerrte die alte Arapka nicht mehr an der Kette, sondern bellte heiser und träge, ohne ihre Hütte zu verlassen. Und welche Veränderungen waren im Innern des Hauses vorgegangen! Dort herrschte eine fremde Frau und spielten fremde Kinder. Dort erschien ab und zu das rote Säufergesicht des streitsüchtigen Tarantjew, aber der sanfte, bescheidene Alexejew läßt sich dort nicht mehr blicken. Weder Sachar noch Anissja sind zu sehen. Die neue, dicke Köchin herrscht in der Küche und erfüllt ungern und ungenau die stillen Befehle Agafja Matwejewnas, und Akulina wäscht mit dem in den Gürtel gesteckten Kleidersaum die Tröge und Töpfe; derselbe schläfrige Hausbesorger beendet seine Tage müßig in demselben Schlafpelz in seiner Ecke. An dem Gitterzaun huscht zu den bestimmten Stunden des frühen Morgens und der Mittagszeit wieder die Gestalt des Bruders mit einem Paket unter dem Arm und Sommer und Winter in Gummigaloschen vorüber. Was ist aus Oblomow geworden? Wo ist er? Seine irdische Hülle ruht auf dem nahen Friedhof, unter einer bescheidenen Urne, an einem stillen Ort zwischen Gebüsch. Die von einer Freundeshand gepflanzten Fliederzweige schlummern über dem Grabe, und darüber duftet friedlich der Wermut. Es schien, daß der Engel der Stille selbst seinen Schlaf bewachte. So wachsam das liebende Auge der Frau jeden Augenblick seines Lebens auch behütet hatte, wurde die Maschine seines Lebens durch die ewige Ruhe und Stille und durch das träge Hinkriechen der Tage doch aufgehalten. Ilja Iljitsch schien ohne Schmerzen und ohne Qualen verschieden zu sein, wie eine Uhr, welche stehenbleibt, weil man sie aufzuziehen vergessen hat. Niemand sah seine letzten Augenblicke und hörte seinen letzten Seufzer. Der Schlaganfall wiederholte sich nach einem Jahre und ging wieder glücklich vorüber; aber Ilja Iljitsch wurde bleich und schwach, begann wenig zu essen, ging selten im Garten spazieren, wurde immer schweigsamer und sinnender und weinte sogar manchmal. Er ahnte den nahen Tod und fürchtete ihn. Er fühlte sich ein paarmal unwohl, doch das verging. Eines Morgens brachte ihm Agafja Matwejewna wie gewöhnlich den Kaffee und traf ihn auf seinem Sterbelager ebensosanft ruhend an, wie er im Schlafe aussah, nur sein Kopf war ein wenig vom Kissen herabgeglitten, und er hatte die Hand krampfhaft ans Herz gepreßt, wo sich offenbar der Schmerz konzentrierte und das Blut zu zirkulieren aufgehört hatte. Agafja Matwejewna war schon seit drei Jahren Witwe; während der Zeit hatte ihr Leben seinen ursprünglichen Gang wieder aufgenommen. Der Bruder hatte sich in verschiedene Spekulationen eingelassen, verlor aber dabei sein ganzes Geld, und es gelang ihm durch List und Unterwürfigkeit, seinen früheren Posten als Sekretär in der Kanzlei, »in der man die Bauern eintrug«, wiederzubekommen; jetzt ging er wie früher zu Fuß ins Amt und brachte Zwanzig-, Fünfundzwanzig- und Fünfzigkopekenstücke mit, die er in einen wohlverwahrten Koffer einfüllte. Die Wirtschaft wurde ebenso ordinär und einfach, aber auch ebenso reichlich geführt wie früher, vor Oblomows Zeit. Die Hauptrolle im Hause spielte die Frau des Bruders, Irina Pantelejewna, das heißt, sie nahm sich das Recht, spät aufzustehen, dreimal am Tage Kaffee zu trinken, dreimal die Kleider zu wechseln und sich in der Wirtschaft nur um das eine zu kümmern, daß ihre Röcke möglichst steif gestärkt wurden. Sonst kümmerte sie sich um nichts, und Agafja Matwejewna war wie früher der lebendige Pendel des Hauses; sie befaßte sich mit der Küche, bereitete für das ganze Haus den Tee und den Kaffee, nähte für alle, hielt die Wäsche in Ordnung und beaufsichtigte die Kinder, Akulina und den Hausbesorger. Aber warum tat sie es? Sie war ja Frau Oblomowa, eine Gutsbesitzerin; die hätte ja allein und unabhängig leben können, ohne sich um irgend jemand zu kümmern! Was hatte sie denn dazu gezwungen, die Last einer fremden Wirtschaft, der Sorge um die fremden Kinder und um all die Kleinigkeiten auf sich zu nehmen, der eine Frau sich nur entweder aus Liebe, aus Pflichtgefühl oder aus Sorge um das liebe Brot unterwirft? Wo waren denn Sachar, Anissja und die ihr nach allen Rechten zukommenden Diener? Wo war endlich das lebendige Vermächtnis ihres Mannes, der kleine Andrjuscha? Wo waren die Kinder ihres ersten Mannes? Ihre Kinder waren versorgt, das heißt, Wanjuscha hatte den Lehrkursus absolviert und einen Posten bekommen; Maschenjka hatte den Verwalter eines Staatsgebäudes geheiratet, und Andrjuscha war von Stolz und dessen Frau an Kindes statt angenommen worden und wurde dort erzogen. Agafja Matwejewna hatte Andrjuschas Zukunft nie mit dem Schicksal ihrer andern Kinder vermengt und den ihrigen gleichgestellt, wenn sie vielleicht auch unbewußt in ihrem Herzen ihnen allen den gleichen Anteil zusprach. Aber sie teilte die Erziehung, die Lebensweise und die Zukunft Andrjuschas durch einen ganzen Abgrund vom Leben Wanjuschas und Maschenjkas ab. »Was sind denn die? Ebensolche Aschenbrödel wie ich selbst«, sagte sie wegwerfend, »sie sind von gemeinem Blut, und dieser«, fügte sie, fast mit Hochachtung an Andrjuscha denkend, hinzu, indem sie ihn, wenn nicht schüchtern, so doch vorsichtig liebkoste, »dieses herrschaftliche Kind! Wie weiß er ist, wie ein Glasapfel! Was für kleine Händchen und Füßchen und was für seidene Haare er hat! Er ist ganz dem Verstorbenen nachgeraten!« Darum ging sie ohne Widerspruch und sogar mit einer gewissen Freude auf Stolz' Vorschlag, ihn zu erziehen, ein, da sie glaubte, daß er sich dort, und nicht hier in der »Gemeinheit«, zusammen mit ihren schmutzigen Neffen, den Kindern des Bruders, in der ihm gebührenden Umgebung befinden würde. Ein halbes Jahr lang nach Oblomows Tod lebte sie mit Anissja und Sachar in ihrem Hause, in tiefen Gram versunken. Sie hatte zum Grabe ihres Mannes einen Weg ausgetreten und sich die Augen ausgeweint, sie aß fast nichts, nährte sich nur von Tee, schloß manchmal ganze Nächte lang kein Auge und ermattete ganz. Sie beklagte sich nie bei jemand und schien sich in dem Maßstabe, als sie dem Augenblicke der Trennung ferner rückte, immer mehr in sich und ihrem Schmerz zu verschließen und teilte sich niemand, nicht einmal Anissja, mit. »Ihre Gnädige beweint noch immer ihren Mann«, sagte der Händler auf dem Markte, bei dem die Hausvorräte gekauft wurden, zu der Köchin. »Sie trauert noch immer um ihren Mann«, sagte der Küster in der Friedhofskirche der Hostienverkäuferin, auf die trostlose Witwe hinweisend, die jede Woche beten und weinen kam. »Sie grämt sich immer noch!« sprach man im Hause des Bruders. Eines Tages kam zu ihr unerwartet die ganze Familie des Bruders mit den Kindern und sogar mit ihr Tarantjew, unter dem Vorwande, Trost zuzusprechen. Sie wurde mit banalen Ratschlägen überschüttet, »sich nicht zugrunde zu richten und der Kinder wegen zu schonen«, alles das, was ihr vor fünfzehn Jahren aus Anlaß des Todes ihres ersten Mannes gesagt wurde und was damals die gewünschte Wirkung erzielte, ihr jetzt aber Langeweile und Ekel einflößte. Es wurde ihr aber viel wohler ums Herz, als man von etwas anderem zu sprechen begann und ihr mitteilte, sie könnten jetzt wieder zusammen leben, es würde ihr viel leichter sein, unter den Ihrigen den Schmerz zu vergessen, das würde auch ihnen angenehm sein, denn niemand verstehe es so wie sie, das Haus in Ordnung zu halten. Sie bat um Bedenkzeit, grämte sich noch zwei Monate lang und willigte endlich ein, mit ihnen zusammen zu leben. Um diesen Zeitpunkt nahm Stolz Andrjuscha zu sich. Jetzt geht sie in dunklem Kleide, mit einem schwarzen Tuch um den Hals, wie ein Schatten aus dem Zimmer in die Küche, öffnet und schließt wie früher die Schränke, näht, bügelt Spitzen; sie tut es aber langsam und ohne Energie, sie spricht ungern, mit leiser Stimme und blickt nicht mehr mit sorglos von einem Gegenstand zum andern irrenden Augen, sondern mit einem innerlichen Ausdruck und einem verborgenen tiefen Inhalt darin. Dieser Ausdruck schien in dem Augenblick, als sie bewußt und lange das tote Gesicht ihres Mannes betrachtete, unsichtbar in ihr aufzusteigen und verließ sie seitdem nicht mehr. Sie ging im Hause herum, besorgte alles, was nötig war, eigenhändig, doch ihre Gedanken nahmen an alledem nicht teil. Als sie ihren Mann verloren hatte und über seiner Leiche stand, begriff sie plötzlich ihr Leben und dachte über dessen Sinn nach, und dieser Gedanke legte sich für immer wie ein Schatten auf ihr Gesicht. Als die Tränen dann ihren Schmerz erleichtert hatten, vertiefte sie sich in das Bewußtsein ihres Verlustes; alles außer dem kleinen Andrjuscha war für sie gestorben. Sowie sie ihn erblickte, erwachten in ihr Anzeichen des Lebens, die Gesichtszüge erhellten sich, die Augen erfüllten sich mit freudigem Strahlen und dann mit Tränen der Erinnerung. Ihre ganze Umgebung war ihr fremd; sie beachtete es nicht, wenn der Bruder ihr eines verausgabten oder nicht erhandelten Rubels, eines angebrannten Bratens oder nicht frischen Fisches wegen zürnte, wenn die Schwägerin eines nicht genügend gestärkten Rockes oder des zu schwachen, kalten Tees wegen schmollte oder wenn die dicke Köchin mit ihr grob war, als ob es sich gar um sie handelte, sie hörte nicht einmal das giftige Flüstern: »Gnädige Frau Gutsbesitzerin!« Sie beantwortete alles mit der Würde ihres Schmerzes und mit stolzem Schweigen. An Feiertagen, zu Ostern, an den lustigen Karnevalsabenden, da alles im Hause jubelte, sang, aß und trank, brach sie plötzlich, inmitten der allgemeinen Fröhlichkeit, in heiße Tränen aus und versteckte sich in ihre Ecke. Doch dann sammelte sie sich wieder und blickte sogar manchmal den Bruder und dessen Frau gleichsam bedauernd und stolz an. Sie begriff, daß es mit ihrem Glück vorüber war, daß Gott diesem Leben eine Seele eingehaucht und sie ihm wieder genommen hatte; daß die Sonne in ihr aufgeleuchtet und dann für immer wieder erloschen war ... Ja, für immer; aber dafür hatte ihr Leben einen Sinn erhalten; jetzt wußte sie schon, warum sie gelebt hatte und daß es nicht vergeblich war. Sie hatte so viel und so aus ganzer Seele geliebt; sie hatte Oblomow als Geliebten, als Gatten und als ihren Herrn geliebt, doch sie konnte das niemals jemand erzählen. Es würde sie auch niemand von ihrer Umgebung verstanden haben. Wo würde sie die nötigen Ausdrücke hergenommen haben? Im Lexikon ihres Bruders, Tarantjews und der Schwägerin gab es keine solchen Worte, weil es keine solchen Begriffe gab; nur Ilja Iljitsch hätte sie verstanden, doch sie hatte es ihm gegenüber niemals geäußert, da sie es damals selbst noch nicht begriff. Mit den Jahren wurde ihr die Vergangenheit immer verständlicher und klarer, sie verbarg sie immer tiefer und wurde immer schweigsamer und verschlossener. Die wie ein Augenblick vorübergeflogenen sieben Jahre hatten ihr ganzes Leben wie mit Strahlen und stillem Licht erfüllt, und sie hatte keine Wünsche und keine Ziele mehr. Nur wenn Stolz im Winter vom Gut kam, lief sie in sein Haus, blickte Andrjuscha gierig an, liebkoste ihn mit zärtlicher Schüchternheit und wollte dann Andrej Iwanitsch etwas sagen, ihm danken und ihm endlich alles das, was unwandelbar in ihrem Herzen lebte und sich darin angesammelt hatte, mitteilen; er würde das verstehen, sie konnte es aber nicht sagen, stürzte nur zu Oljga hin, schmiegte ihre Lippen an deren Hände und brach in einen Strom so heißer Tränen aus, daß auch Oljga unwillkürlich mit ihr zu weinen begann und Andrej erregt und eilig das Zimmer verließ. Sie alle waren durch eine allgemeine Sympathie und durch die Erinnerung an die kristallreine Seele des Verstorbenen verbunden. Sie baten sie, mit ihnen aufs Gut zu reisen und mit ihnen zusammen neben Andrjuscha zu leben – sie antwortete aber immer nur das eine: »Man muß dort sterben, wo man geboren ist und wo man das ganze Leben verbracht hat.« Stolz berichtete ihr vergeblich über die Verwaltung des Gutes und schickte ihr die ihr zukommenden Einkünfte; sie gab alles zurück und bat, es für Andrjuscha aufzuheben. »Das gehört ihm und nicht mir«, wiederholte sie eigensinnig, »er wird das brauchen, er ist ein Edelmann, und ich werde mein Leben auch so fristen.« Elftes Kapitel Elftes Kapitel Eines Tages um die Mittagsstunde schritten über das Holztrottoir der Wiborgsakastraße zwei Herren; hinter ihnen fuhr langsam ein Wagen. Der eine dieser Herren war Stolz, der zweite sein Freund, ein Schriftsteller von ziemlicher Leibesfülle, mit apathischem Gesicht und sinnenden, gleichsam schläfrigen Augen. Sie erreichten die Kirche; die Messe war zu Ende, und die Menge strömte auf die Straße hinaus; allen voran die Bettler, die eine große, bunt zusammengewürfelte Gruppe bildeten. »Ich möchte wissen, woher so viele Bettler kommen«, sagte der Schriftsteller, die Menge anblickend. »Wieso woher? Sie kriechen aus ihren Höhlen und Winkeln hervor.« »Ich meine das nicht so«, entgegnete der Schriftsteller, »ich möchte wissen: wie man zu einem Bettler werden und sich dieser Gesellschaftsklasse anreihen kann? Ob das wohl plötzlich oder allmählich, aufrichtig oder heuchlerisch geschieht ...« »Wozu brauchst du das? Willst du vielleicht ›Mystères de Pétersbourg‹ schreiben?« »Vielleicht ...« sagte der Schriftsteller träge gähnend. »Hier hast du eine gute Gelegenheit; frage den er sten besten, er verkauft dir für einen Rubel seine ganze Geschichte, notiere sie dir dann und verkaufe sie mit Gewinn wieder. Hier ist ein alter, ein typischer und ich glaube ganz normaler Bettler. He, Alter! Komm her!« Der Alte wandte sich auf ihren Ruf um, zog den Hut und trat an sie heran. »Gütige Herrschaften!« krächzte er, »helft einem armen, in dreißig Kämpfen verwundeten Krieger ...« »Sachar!« sagte Stolz verwundert, »bist du es?« Sachar verstummte plötzlich, schützte sich die Augen mit der Hand vor der Sonne und blickte Stolz starr an. »Verzeihen Sie, Euer Wohlgeboren, ich erkenne Sie nicht ... ich bin ganz erblindet!« »Hast du Stolz, den Freund deines Herrn, vergessen?« warf ihm Stolz vor. »Ach, ach, Väterchen, Andrej Iwanitsch! Meine Augen sehen nichts mehr! Väterchen!« Er lief hin und her, haschte nach Stolz' Hand und küßte, da er sie nicht fangen konnte, seinen Rockschoß. »Gott hat mich elenden Hund eine solche Freude erleben lassen ...« brüllte er zwischen Lachen und Weinen. Sein Gesicht war von der Stirne bis zum Kinn gleichsam mit einem feuerroten Siegel gezeichnet. Die Nase hatte außerdem eine bläuliche Tönung angenommen. Sein Kopf war ganz kahl; der Backenbart war dicht wie früher, er war aber ganz zerzaust und wirr wie Filz, und in jede seiner Hälften schien ein Schneeklumpen gelegt worden zu sein. Er trug einen alten, ganz verblaßten Überzieher, dem ein Schoß fehlte; an den Füßen hatte er nichts als alte, schiefgetretene Galoschen; in den Händen hielt er eine ganz abgetragene Pelzmütze. »Ach, du lieber Gott! Welche Gnade hast du mir am heutigen Feiertag erwiesen ...« »Warum siehst du so aus? Was ist geschehen? Schämst du dich nicht?« fragte Stolz streng. »Ach, Väterchen Andrej Iwanitsch! Was soll ich tun?« begann Sachar schwer seufzend. »Wovon soll ich mich nähren? Als Anissja noch am Leben war, habe ich mich nicht so herumgetrieben, da habe ich mein Stück Brot gehabt; als sie aber im Cholerajahr gestorben ist – Gott habe sie selig! hat mich der Bruder von der Gnädigen nicht länger behalten wollen, er hat mich einen Müßiggänger genannt, und Michej Andreitsch Tarantjew hat im Vorübergehen immer versucht, mich von rückwärts mit dem Fuß zu stoßen; das war nicht zu ertragen! Wieviel Vorwürfe ich zu schlucken hatte! Wissen Sie, gnädiger Herr, jeder Bissen ist mir im Halse steckengeblieben. Wenn die Gnädige nicht wäre, Gott möge ihr Gesundheit schenken!« fügte Sachar sich bekreuzigend hinzu, »würde ich längst erfroren sein. Sie gab mir im Winter Kleider, so viel Brot, als ich nur wollte, und eine Ecke auf dem Ofen, das alles habe ich ihrer Güte zu verdanken. Man hat ihr aber meinetwegen Vorwürfe gemacht, da bin ich fortgegangen und treibe mich nun herum. Jetzt ist's schon das zweite Jahr, daß ich so herumirre ...« »Warum hast du keine Stellung angenommen?« fragte Stolz. »Wo kann man denn jetzt eine Stellung finden, Väterchen Andrej Iwanitsch? Ich war in zwei Häusern, konnte es aber niemand recht machen. Jetzt ist alles anders und schlechter als früher. Man will Lakaien haben, welche lesen und schreiben können, und es ist jetzt auch bei vornehmen Herrschaften nicht mehr Sitte, daß das Vorhaus voller Dienstboten steckt. Man hat meistens einen und nur selten zwei Lakaien. Man zieht sich selbst die Stiefel aus und hat sich dafür eine Maschine ausgedacht!« fuhr Sachar traurig fort, »es ist eine Schande und ein Jammer, es gibt gar keine Edelleute mehr!« Er seufzte. »Ich bin zu einem deutschen Kaufmann ins Haus eingetreten, ich sollte im Vorzimmer sitzen; alles ging gut, er hat mich aber servieren lassen; ist denn das eine Arbeit für mich? Einmal hab' ich irgendein böhmisches Geschirr getragen, die Fußböden waren aber so glatt, zum Teufel mit ihnen! Plötzlich sind mir meine Füße auseinandergerutscht, das ganze Geschirr ist zusammen mit dem Präsentierbrett auf die Erde gestürzt, und man hat mich fortgejagt! Ein anderes Mal hat mein Gesicht einer alten Gräfin gefallen. ›Er sieht so ehrwürdig aus‹, hat sie gesagt, und hat mich als Portier angestellt. Das ist eine schöne, ehrwürdige Stellung; man muß nur mit wichtiger Miene dasitzen, die Füße aufeinanderlegen und wiegen und nicht gleich antworten, wenn jemand kommt, sondern ihn zuerst anbrüllen und erst dann durchlassen oder hinauswerfen; und wenn vornehme Gäste kommen, muß man mit dem Stab so salutieren!« Sachar salutierte mit der Hand. »Das ist ehrenhaft, da kann man nichts dagegen sagen! – Aber die Gnädige war so genau, Gott sei mit ihr! Sie hat einmal in meine Kammer hereingeschaut, hat dort eine Wanze erblickt und hat zu schreien und zu stampfen angefangen, als ob ich die Wanzen ausgedacht hätte! In welcher Wirtschaft gibt es denn keine Wanzen! Ein anderes Mal ist sie an mir vorbeigegangen, und es hat ihr geschienen, daß ich nach Wein rieche ... so eine war sie! Und da hat sie mir gekündigt!« »Du riechst aber wirklich nach Wein, und wie!« sagte Stolz. »Vor Leid, Väterchen Andrej Iwanitsch, bei Gott, vor Leid!« krächzte Sachar, sein Gesicht in Falten ziehend. »Ich habe auch versucht, Kutscher zu sein. Ich habe den Posten angetreten, mir sind aber meine Füße erfroren; ich habe wenig Kraft, ich bin schon alt! Das Pferd war so wild; einmal hat es sich unter einen Wagen gestürzt und hätte mir beinahe alle Knochen zerbrochen; ein zweites Mal hat es eine alte Frau überfahren, man hat mich auf die Polizei geschleppt ...« »Höre jetzt zu vagabundieren auf, komm zu mir, ich werde für dich einen Winkel finden, und dann fahren wir aufs Gut – hörst du?« »Ich höre, Väterchen Andrej Iwanitsch, aber ...« Er seufzte. »Ich habe keine Lust, von hier, vom Grab, fortzufahren! Ich habe heute wieder für unseren Ernährer, Ilja Iljitsch, gebetet«, heulte er auf, »Gott hab ihn selig! Er hat gelebt, um den Menschen Freude zu machen, er hätte hundert Jahre leben sollen ...« sagte Sachar schluchzend und die Stirn runzelnd. »Heute war ich auf seinem Grab; sowie ich in diese Gegend komme, gehe ich dorthin und setze mich nieder; die Tränen rinnen mir nur so herunter. Manchmal denke ich so vor mich hin, alles herum ist so still, und es scheint mir, daß jemand ›Sachar! Sachar!‹ ruft. Da läuft es mir kalt über den Rücken! Man findet keinen zweiten solchen Herrn! Und wie er Sie geliebt hat! Gott möge sich seiner Seele annehmen! ...« »Dann komm Andrjuscha anschauen, ich werde dir Essen und Kleider geben lassen, und tu dann, was du willst!« sagte Stolz, ihm Geld reichend. »Ich werde kommen; wie sollte ich Andrej Iljitsch nicht anschauen kommen? Er ist wohl schon groß geworden! O Gott! Welche Freude mich der Herr erleben läßt! Ich komme, Väterchen, Gott soll Ihnen Gesundheit und langes Leben schenken ...« brummte Sachar dem davonrollenden Wagen nach. »Nun, hast du der Geschichte dieses Bettlers zugehört?« fragte Stolz seinen Freund. »Und wer ist dieser Ilja Iljitsch, den er erwähnt hat?« fragte der Schriftsteller. »Das ist Oblomow, von dem ich dir oft erzählt habe.« »Ja, ich entsinne mich dieses Namens; das ist dein Freund und Kamerad. Was ist aus ihm geworden?« »Er ist zugrunde gegangen, und das ohne jede Ursache.« Stolz seufzte und sann nach. »Und war nicht dümmer als mancher andere, seine Seele war rein und klar wie Glas; er war edel, zart und ist zugrunde gegangen!« »Warum denn? Was war die Ursache?« »Die Oblomowerei!« sagte Stolz. »Die Oblomowerei!« wiederholte der Schriftsteller erstaunt, »was ist das?« »Das werde ich dir gleich erzählen; laß mir nur Zeit, meine Gedanken und Erinnerungen zu sammeln. Und schreibe es dann auf, vielleicht nützt es jemand.« Und er erzählte ihm, was hier steht.