An Herrn M. Samuel Seideln, Character der Ode Werther Seidel, liebster Freund! Meister in der Kunst zu loben, Wie bereits aus hundert Proben, Die halb Deutschland liest, erscheint: Lehre mich doch, wie man singet, Daß man Hertzen an sich zieht: Sprich, wie macht man solch ein Lied, Das gleich deinen Oden klinget! Singe, sprichst du, kühn und neu, Klebe nicht am tiefen Staube; Dichte frey, doch daß mans glaube, Und der Einfall gründlich sey; Zeig ein männlich-edles Wesen; Schreibe geistreich, kurtz und rein: Denn wirst du ein Dichter seyn, Den die Welt mit Lust wird lesen. Hoer ich nicht Amphions Sohn Seine Zauber-Kunst beschreiben? Ists mein Seidel? darf ichs gläuben, Ja er ists. Man kennt den Thon. Seidels Feuer-reiche Reime Regen und entzücken mich; Deutschlands Orpheus zeiget sich, Und beweget Stein und Bäume. Freund, dein Rath ist wunderschön: Doch was hilft dein Unterrichten? Gib mir auch die Krafft, im Dichten, Deinen Spuren nachzugehn. Sprich, wie mach ichs, wenn ich singe, Daß mein Lied zwar hoch und neu, Männlich, rein und edel sey; Doch nicht unnatürlich klinge? Meine Geister sind zu schwach; Regt dort Pindar sein Gefieder, Folgt Horatz durch kühne Lieder Diesem Adler glücklich nach. Seidel steigt mit eignen Flügeln, Gottsched, der sie künsteln muß, Mag sich an des Icarus Weltbekanntem Falle spiegeln. Waer Euterpe nur geneigt, Mir sowohl als dir zu dienen; Wie sie dir denn jüngst erschienen, Und dir alle Gunst bezeugt: O wie sollten Reim und Seyten, Durch den allerzärtsten Klang, Durch den schönsten Lobgesang, Mit dir um die Lorbern streiten! Doch die Muse kennt mich nicht, Phöbus gönnt mir keine Triebe: Höre denn, was Hertz und Liebe Sonder Kunst und Farben spricht. Weil dein Kiel auch schlechte Dinge Der Vergessenheit entzieht; So vergiß nicht solch ein Lied, Das von Deinem Freunde singe.