XL. Nadine. »Nadine, komm und misch in deinen Kuß Den Zauberton, der Philomelens gleichet, Indeß die Nacht, mit unbemerktem Fuß, Den jungen Tag in Florens Arm beschleichet! Ein Augenblick wird schon zu theu'r versäumt! Sie fliehn, sie fliehn, mit Flügeln an den Füßen, Die Stunden fliehn, die unter unsern Küssen Ein Quincica 1 am Quell der Lust verträumt. Wenn deinen letztern Hauch mein Mund einst aufgeküßt, Was folget uns in's öde Reich der Schatten? Ach! die Erinnerung, was wir genossen hatten, Ist mehr vielleicht, als dann uns übrig ist!« So spricht Amynt, verbirgt, indem er's spricht, In ihrer Brust sein glühendes Gesicht, Und fühlt, vom Arm der Liebe sanft umwunden, Den ganzen Werth der eilenden Sekunden. Mit Augen, wo die Traurigkeit In süßer Wollust schmilzt, verschämt, doch hingerissen Von eurer Macht, Natur und Zärtlichkeit, Entwindt sie lässig nur sich seinen heißen Küssen. Die schlaue Nacht zieht, jüngferlich bescheiden, Ein Wölkchen, wie vom dünnsten Silberflor, Dem Seitenblick der spröden Luna vor: Ein Rosenbusch wächst schnell um sie empor, Und ungefehr umflattert sie ein Chor Von Liebesgöttern und von Freuden. Nur einer aus der kleinen Schaar, Ein junger Scherz von dreisterem Geschlechte, Den eine Grazie dem schönsten Faun gebahr, Setzt schalkhaft auf dem braunen Haar An deiner Stirn, Nadine, sich zurechte. Amynt wird ihn zuletzt gewahr, Und will den losen Gaukler fangen; Allein der Scherz, der leicht von Füßen war, Entschlüpft, und rettet sich in's Grübchen ihrer Wangen. Auch da verfolget ihn Amynt. Nun, denkt er, soll mir's doch auf ihren Lippen glücken. Doch, seht, wie sich sein Gegner schnell besinnt, Den kleinen Gott mit Küssen zu ersticken. Er zappelt, wie ein junger Aal Im feuchten Netz, und schlägt, und sträubt sich mit den Flügeln, Bis, zwischen sanft erhabnen Hügeln Von lauem Schnee, ein dämmernd Rosenthal Sich ihm entdeckt. Er glitsch an einer Leiter Von Bändern unbemerkt herab; Umsonst, der Mund, der keine Rast ihm gab, Folgt ihm durch Berg und Thal, und treibt ihn immer weiter. Wohin, o Venus, soll er fliehn? Wie kann er zu entrinnen hoffen? Er flattert keuchend her und hin, Wo findet er die letzte Zuflucht offen? So wie ein Reh, vom frühen Horn erweckt, Mit raschem Lauf, der kaum das Gras berühret, Von Bergen flieht, dann steht, die Ohren reckt, Dann schneller flieht, vom Nachhall fortgeschreckt, Und sich zuletzt in einen Hain verlieret, Wo krauser Büsche Nacht ihn seinem Feind versteckt: Der Flüchtling glaubt, in Pavos dunkelm Hain, Wo, unendeckt, so gar beym Sonnenschein, Sich Amor oft an Spröden schon gerochen, Glaubt in Dionens Heiligthum, In Dädals Labyrinth, ja im Elysium Nicht sicherer zu seyn, als wo er sich verkrochen Allein der Liebesgötter Schaar, Die, Bienen gleich, doch unsichtbar In Trauben an Nadinens Wangen An ihrem Mund, an ihrem Busen hangen, Bemerkten bald die reizende Gefahr, Und riefen laut, da es zu späte war: »Ach! Brüderchen, du bist gefangen!« Diese kleine Erzählung ist die schönste, die Wieland gemacht hat, an Erfindung, Poesie und schmelzender Zärtlichkeit. Raphael könnte das Gemählde nicht richtiger, mit nicht mehr Grazie zeichnen, und Tizian ihm kein reizender Kolorit geben. Fußnoten 1 Der Gemahl im Kalender der Alten des la Fontaine.