9. Das Mädchen im Paradies. Mündlich aus Lautenthal. Es ist einmal eine Frau gewesen, die hat zwei Kinder gehabt, einen Jungen und ein Mädchen, und der Junge war so recht schlecht, daß er seiner Mutter und allen Leuten nur alles gebrannte Herzeleid anthun mochte; aber das Mädchen war so gut und mildthätig, daß es jeder lieb hatte. Die bekamen nun einmal jedes ein Kässtück, und wollten damit in den Wald gehn in die Aest, und als sie so ein Weilchen gegangen waren, begegnet dem Jungen, der vorauf lief, ein Männlein, das bat ihn, er möge ihm doch nur einen kleinen kleinen Bißen Brot von seinem Kässtück abgeben, ihn hungere doch gar zu sehr. Aber der Junge schalt das Männchen und sagte ihm, er bekäme nun und nimmer etwas; da sagte das Männchen: »nun, nun, es schadet ja nicht; so will ich dir wenigstens etwas schenken«, und damit gab er ihm eine Schachtel, »mach sie aber ja nicht auf, ehe du heimkommst.« Nicht lange danach begegnet dem Mädchen ein altes Mütterchen, das bittet so jämmerlich um einen Bißen Brot, daß der Kleinen die Thränen aus den Augen stürzen und sie ihr gleich das ganze Kässtück schenkt. Da gibt ihr das Mütterchen auch eine Schachtel: »mach's aber ja nicht auf, eh du daheim bist.« So gehn sie eine ganze Zeit lang im Wald umher, da kann's der Junge nicht länger aushalten und sagt: »ich muß sehn, was in der Schachtel ist, und kostet es mein Leben.« Seine Schwester will ihn abhalten, er solle doch gehorsam sein, das Männchen habe es ihm ja ausdrücklich verboten, aber er hört nicht und macht den Deckel auf. Da fliegt der Teufel daraus hervor und dreht ihm das Genick um. Als das Mädchen aber ihre Schachtel zu Haus öffnet, treten daraus der liebe Gott und unser Herr Christus hervor, führen sie gleich in's Paradies und zeigen ihr dort alle Herrlichkeit und sie wandelt lange lange mit ihnen herum. Endlich aber sagt der liebe Gott: »nun, mein Kind, mußt du aber sterben!« und er rührt sie nur an, da sinkt sie um. Als es nun aber zur Auferstehung kam, da ist sie vor allen übrigen, die mit ihr an einem Tage gestorben, voraufgegangen und Könige, Grafen und Herren haben ihr demüthig nur von fern nachfolgen dürfen.