43. Mitternachts-Lied Gott der Tage, Gott der Nächte, Meine Seele harret dein, Lehnet sich an deine Rechte! Nie kannst du mir ferne seyn, Vater, nie dein Kind verlassen, Immer kann ich dich umfassen! Deine weise Huld und Macht Leytet mich bey Tag und Nacht! Kann mein Aug den Schlaf nicht finden, Ruhe meine Seele nicht, Schweben meiner Jugend Sünden Mir vor'm müden Angesicht; Fehler jüngstentwichner Tage, Werden sie mir Last und Plage; Jeder dir entzogne Blick, Fällt er auf mein Herz zurück 1 ; Vater! dann umfaß' ich wieder, Küsse kindlich deine Hand. Milde blickst du auf mich nieder, Du, den, wer dich suchte, fand! O in stiller Nächte Stunden Hat dich manches Herz gefunden, Das bey Tage von dir lief, Einsam wieder nach dir rief, Vater aller Menschen-Kinder! Hüter deiner ganzen Welt! Dulder auch der frechsten Sünder, Der die Schwachen führt und hält! Täglich Gutes zeigt und giebet, Immer seegnet, Alle liebet, Alle siehet, leitet, kennt, Allen alles Gute gönnt. Vater! still an dich zu denken, O wie das das Herz erfreut! Geist und Herz in dich zu senken, Höchste Menschen-Seeligkeit! Dich empfinden, dich genießen, O der unaussprechlich süßen, Unaussprechlich nahen Lust! Anerkannt in jeder Brust 2 ! Gottes Nähe! Gottes Nähe! Quell der stillsten Wonne mir! Wie, wenn dich mein Auge sähe, Eilt die Seele hin zu dir. Dir, der Tag und Nächte sendet! Freuden ausströmt, Unglück wendet! Vater, der bey Tag und Nacht Über Wurm und Engel wacht. Vater! dir aus deinem vollen Herzen quillet Kraft und Geist! Vater, der die Sonne rollen, Sanft den Mond uns leuchten heißt! Vater, dem von tausend Zungen Tags und Nachts wird Preis gesungen, Vater, der bey Tag beglückt, Leidende des Nachts erquickt! Vater! viele Brüder weynen, Viele Schwestern schmachten nun! Aber du verlässest keinen; Heißest wachen, heißest ruh'n! Trocknest unzählbare Thränen! Weckest und erfüllst das Sehnen Unzählbarer Leidenden, Die um Ruh und Lindrung fleh'n! Vater, sende Muth den Schwachen; Licht in jedes dunkle Herz! Allen, die beklommen wachen, Mildere den heißen Schmerz! Laß die Wittwen, laß die Waysen, Vater, deine Liebe preisen, Gönne Kranken sanfte Ruh! Sterbenden sey Tröstung du! O du treuer Menschenhüter! Nacht ist vor dir wie der Tag! Allgewaltiger Gebieter! Du verwandelst Schmerz und Plag Unversehns in Dank und Freuden! Laß, laß alle, die itzt leiden, Unerlöst, erlöst aus Pein 3 , Deiner Vater-Huld sich freu'n! Vielen schenkst du nun das Leben, Führst sie ein in diese Welt! Wen Gefahren itzt umgeben, Wer des rechten Wegs verfehlt; Vater Aller, die itzt klagen, Leichte, schwere Läste tragen, Alle sieht dein Vaterblick. Vater, du willst aller Glück! Vater, dieser Nam' erweitert Jede Brust voll Angst und Schmerz; Wie der Mond die Nacht erheitert, Blickst du Ruh in jedes Herz, Das nach deiner Tröstung weynet! Eh die Sonne wieder scheinet, O wie oft verwandelst du Heißen Schmerz in süße Ruh! Jesus Christus, manche Nächte Hast du für uns durchgewacht! Hast dem menschlichen Geschlechte Ruhestunden viel erwacht! Immer, Tröster der Betrübten! Gönnst du Schlummer den Geliebten, Weichst von ihnen, schlafen sie, Oder wachen, weichest nie! Fußnoten 1 Anmerkung Lavaters: »Jeder dir entzogne Blick usw.: Machts mir schwer, wenn ich dir lieblos und vorsetzlich nur Einen Blick entzogen habe«. 2 Anmerkung Lavaters: »Die Möglichkeit, Gott alle Augenblick zu genießen, wohnt, ohne daß man daran denkt, in uns«. 3 Anmerkung Lavaters: »Du magst sie aus ihrem Leiden erlösen oder nicht«.