Wilhelm Raabe Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend Es schneiete heftig, und es hatte fast den ganzen Tag hindurch geschneit. Als es Abend werden wollte, verstärkte sich die Heftigkeit des Sturmes; das Gestäube und Gewirbel um die Hütten des Dorfes schien nimmer ein Ende nehmen zu wollen: Verweht wurden Weg und Steg. Im wilden Harzwald, nicht weit von dessen Rande die armen Hütten in einem Häuflein zusammengekauert lagen, sauste und brauste es mächtig. Es knackte das Gezweig, es knarrten die Stämme; der Wolf heulte, wenn die Windsbraut eine kurze Minute lang Atem schöpfte; – man schrieb den Vierundzwanzigsten Decembris im Jahr eintausendsechshundertundachtundvierzig. Dominus Magister Friedemann Leutenbacher, der Pfarrherr zu Wallrode im Elend, hatte den ganzen Tag über an seiner Weihnachtspredigt gearbeitet und Speise und Trank, ja schier jegliches Aufblicken darob versäumt; das irdische Leben war so bitter, daß man es nur ertragen konnte, indem man es Vergaß; aber der Prediger im Elend konnte es nicht vergessen: eine solche Weihnachtsrede hatte er noch nicht schreiben müssen. Er war nicht alt, der Pfarrherr zu Wallrode; er war im Jahre sechzehnhundertzehn geboren; allein dreißig Jahre seines Daseins mochten dreifach und Vierfach gerechnet werden; eine solche Zeit des Greuels und der Verwüstung hatte die Welt nicht gesehen, seit das Imperium Romanum Versank vor den wandernden Völkern. Nun war das zweite Imperium, das Römische Reich Deutscher Nation, auch zerbrochen, und wenngleich die Ruine zur Verwunderung aller Welt noch durch hundertundfünfzig Jahre aufrecht stand, so lösten sich doch bei jedem Sturm und Wind verwitterte, morsche Teile ab und stürzten mit Gekrach hernieder. So war es geschehen, als man den Frieden zu Münster und Osnabrück schloß, und zwei Drittel der Nation waren verschüttet worden durch den Dreißigjährigen Krieg. Ehrn Friedemann Leutenbacher, der Pastor zu Wallrode im Elend, wußte davon zu sagen. Um seine Handgelenke trug er die blutigroten Spuren und Striemen der Stricke und Riemen, welche ihm die Raubgesellen des General Pfuhl, der sich rühmte, allein achthundert Dörfer verbrannt zu haben, anlegten, als sie ihn zwischen den Gäulen fortschleppten in den Wald. Des Gallas barbarisch Volk hatte ihn den schwedischen Trunk probieren lassen, und was Linnard Torstensons fliegende Scharen an seinem armen Leibe und an seinen Pfarrkindern verübt hatten, das war nicht auszureden. Es schneiete heftig, und es schien nimmer ein Ende nehmen zu können; die Dämmerung aber nahm wohl eine Stunde zu früh dem schreibenden Magister die Feder aus der Hand; es war ihm, als ob sie auch leise und unmerklich in sein Hirn gekrochen sei, als er aufblickte und einen Blick um sich her und durch das Fenster warf. Da lag vor ihm der schlechte Fetzen groben Papieres, mit welchem letztern er in seiner Einsamkeit so sparsam umgehen mußte, da lagen die wenigen Bücher, welche der höhnischen Zerstörungslust der wilden streifenden Rotten entgangen waren, da lag vor allem die alte zerfetzte Bibel, welche er im Jahre 1639 aus dem dritten Brande seiner Hütte gerettet hatte und welche an ihrem Einband und dem Rande der vergilbten Blätter Zeichen der leckenden Flammen trug; und alles das Rüstzeug des Geistes war, seiner Äußerlichkeit nach, im vollkommenen Einklang mit allem, was den Pfarrer sonst umgab. Die schlechteste Hütte jetziger Zeit hätte mehr Gegenstände und Hülfsmittel der Üppigkeit aufzuweisen als dieses Pastorenhaus, auf dessen Dach der rote Hahn dreimal während dieses scheußlichen Kriegs gesessen hatte, und nur die große weiße Katze, welche im Winkel neben dem Herde zusammengerollt lag, mochte sich behaglich darin fühlen. Aber der Pfarrherr sah nichts von der Trostlosigkeit, die ihn umgab; er war im Elend aufgewachsen, und »Im Elend« hieß die hungerige Waldgegend, in welcher sein Pfarrdorf lag. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er während seiner Schulzeit zu Wittenberg freier Atem holen können; aber der Sonnenblick war so schnell vorübergeflogen, daß es wie ein ferner, ferner, unbestimmter Traum erscheinen mußte; – im Elend wäre Friedemann Leutenbacher längst verlorengegangen, wie das deutsche Volk, wenn Else von der Tanne nicht gewesen wäre. Er hatte die Feder neben seiner Weihnachtspredigt niedergelegt, trat zu dem niedern Fenster und betrachtete in der Dämmerung die roten Narben um seine Handgelenke. Er war sehr betrübt und dachte, während er so stand, wie das deutsche Volk gleich ihm mit gefesselten Händen, zerschlagen und blutig, herausgeschleppt sei und niedergeworfen. Der Herr hatte gebrüllt aus der Höhe und seinen Donner hören lassen aus seiner heiligen Wohnung; er hatte ein Lied gesungen wie die Weintreter, über alle Bewohner des Landes; sein Hall war erschollen bis an der Welt Ende; und bis an der Welt Ende lagen die Erschlagenen und wurden nicht geklaget noch aufgehoben noch begraben. Ehrn Friedemann Leutenbacher aber dachte noch viel mehr an Else von der Tanne, welche jetzt aus dem großen Walde fortgehen mußte, und er sprach mit den Worten des Propheten an diesem Abend vor Weihnachten des Jahres sechzehnhundertachtundvierzig: »Er hat mein Fleisch und meine Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich verbauet und mich mit Galle und Mühe umgeben. Er hat mich in Finsternis gelegt, wie die Toten in der Welt. Er hat mich vermauert, daß ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt.« Dann seufzte er tief und schwer; durch das Gestöber im Dunkel glimmerten zwei oder drei Lichter seines Dorfes, doch da er wußte, welche tierische Verdummung, welche Schmach und welcher Jammer des Menschen um diese matten Flämmchen kauerten, so wandte sich sein Geist auch von ihnen ab, um angstvoll suchend weiterzuirren; und immer finsterer ward die Nacht, immer heftiger der Sturm. Die weiße Katze war aufgestanden, schlich durch die Stube, miauzte und kam, sich an den Beinen ihres Herrn zu reiben; Martina sah in das Gemach und fragte, ob sie die Lampe anzünden solle; aber der Pfarrer schüttelte den Kopf und sagte nein; Martina machte leise die Tür wieder zu; Ehrn Friedemann Leutenbacher blickte immer noch hinaus in die Dunkelheit, er dachte immer noch an Else von der Tanne, und seine Seele war gefangener denn je. Er dachte an Else von der Tanne, an ihre Hütte neben der hohen Tanne, an den sonnigen Sommertag, an welchem der Magister Konradus sein sechsjähriges Kind auf dem Arm in den Wald getragen hatte. Er dachte an ihre Stimme im Walde, er dachte daran, wie sie im Dickicht sang und Kränze wand, und dann dachte er daran, wie seine Pfarrkinder das schöne Mädchen für eine Hexe hielten, ihr auswichen, wenn sie ihr allein begegneten, sie verhöhnten, verspotteten und verfolgten, wenn eine Schar von ihnen im wilden Forst auf sie traf; er dachte an den Tag Sankt Johannis des Täufers und stöhnte laut und rang die Hände. Es war eine so seltsame, so wunderliche Geschichte. Bannier hatte am vierundzwanzigsten September sechzehnhundertsechsunddreißig die Sachsen und Kaiserlichen bei Wittstock; in grimmigster Feldschlacht geschlagen und war Herr in Deutschland. Achtzigtausend Feinde erwürgte er, und sechshundert Fahnen und Standarten gewann er während seiner Kriegführung; aber das Volk nannte schaudernd die Jahre seines Kommandos die »Schwedenzeit«, und durch die Jahrhunderte klingt der unsägliche Jammer, den dieses Wort bedeutet, leise und schaurig fort. In der Schwedenzeit erschien Else mit ihrem Vater zu Wallrode im Elend. Es kamen Kinder, die gegen Ende des Septembers im Walde Holz gelesen hatten, heim und erzählten, an der hohen Tanne halte ein wunderlich Wesen, ein Gefährt, gezogen von einem schwarzen Roß und bewacht von einem wilden, gewaffneten Mann und vier Hunden, groß und grimm wie Wölfe. Und sie berichteten weiter, es sei ein Feuer angezündet unter der hohen Tanne, und neben dem Feuer sitze ein Mägdlein ganz holdselig, und der wilde Mann koche ihm ein Süppchen. Da machten sich einige aus dem Dorfe auf, das fremde Wesen auch zu sehen, und kehrten zurück und sagten aus, es sei also, das Feuer brenne und die vier Hunde seien auch vorhanden und das Mägdlein habe den Kopf auf den Leib des einen gelegt und schlafe, das schwarze Roß weide im Gebüsch und der fremde Mann haue Gestrüpp und baue eine Hütte für die Nacht, es seien aber keine Tartaren. Da ging auch der junge Pfarrer Friedemann Leutenbacher in den Wald hinaus und fand alles so, wie man ihm erzählt hatte; doch sah er nicht gleich den andern scheu aus der Ferne auf die Fremden, sondern er trat an sie heran, grüßte den finstern bärtigen Mann und wollte ihn fragen, weshalb er hier in der unfreundlichen Wildnis sein Nachtlager aufschlage und weshalb er nicht hinab ins Dorf und in das Pastorenhaus gestiegen sei, um mit dem vorliebzunehmen, was das Dorf im Elend bieten könne und die böse Zeit übriggelassen habe. Der fremde Mann jedoch erwiderte den frommen Gruß nicht, er sah nicht auf von seiner Arbeit, und die langen wüsten Haare verhingen ihm das Gesicht. Nur das schwarze Roß sah auf den Pastor, und drei von den greulichen Hunden richteten sich empor, reckten sich, knurrten und wiesen ihre weißen Zähne und blutroten Zungen. Der vierte, auf dessen struppigem Leibe das Köpfchen des schlafenden Kindes lag, blieb liegen; aber auch er murrte und wies die Zähne; der Pfarrer wußte nicht, was er ferner sagen und tun sollte; er stand zweifelnd und sah zu, wie unter den kunstfertigen Händen des Fremden die Hütte aus Gestrüpp und Gezweig sich erhob; er sah auf das zweiräderige Fuhrwerk und auf das niederglimmende Feuer neben der hohen Tanne. Vor allem aber sah er auf das schlafende Mägdlein, welches plötzlich ein Strahl der abendlichen Sonne, in rötlichem Glanz um den Stamm einer uralten Eiche schießend, traf und welches nunmehr in diesem Glanz und Blenden die Augen aufschlug. Es reckte sich auch und richtete sich empor, und in demselben Augenblick schoß der Wolfshund, dessen Leib ihm zum Kopfkissen gedient hatte, auf und fuhr mit Geheul gegen den Pfarrer. Da rief das Kind lieblich erschreckt: »Marschalk! Marschalk! Zurück! Laß ab!« Und Marschalk nahm die Vorderpfoten von der Brust des Pfarrherrn und ging zu den drei bösen Genossen; das Mägdlein erhob sich aber von der Erde, lächelte und trat auf Ehrn Friedemann Leutenbacher zu und sagte: »Einen fröhlichen Abend wünsch ich dir! Er hat dich wohl schwer erschreckt, der arme Marschalk? Zürn ihm nicht, ich bitt dich.« Sie wollte noch mehr sagen, und der Pastor von Wallrode im Elend wollte ihr antworten; da schritt aber der bärtige Mann mit seiner Axt her, faßte den Arm des Kindes, stellte sich dräuend vor den Pfarrherrn und schob ihn mit dem Stiel der Axt zurück und wies in den Wald, als wolle er sagen: Geh deines Weges, ich will nichts zu schaffen haben mit dir; ich will dein Lächeln und deine freundlichen Worte nicht! Geh hin, woher du gekommen bist, und warne dein Volk, daß es uns nicht in den Weg komme. Die Augen des Mannes leuchteten noch viel schrecklicher als die des zornigen Hundes, da dieser sich vor der Brust Friedemanns aufrichtete; und als der Pfarrer noch ein gut Wörtlein sagen wollte, da erhob der Fremde so dräuend das blanke Beil, daß jener erschreckt zurücktrat, um dem Schlage auszuweichen. Das kleine Mädchen schrie auf und bedeckte die Augen mit den Händchen, und Ehrn Friedemann Leutenbacher, als er sah, daß sein guter Wille also verachtet werde, schritt seines Weges durch den Forst zurück, in tiefen Gedanken, und sprach daheim seinem Völklein zu, man möge den Fremden in Frieden gewähren und ziehen lassen; es sei eine Zeit Gottes, in welcher der Herr der Menschen Sinnen und Gedanken, Tun und Treiben arg durcheinanderworfele auf seiner Tenne, eine Zeit, in welcher ein jeglicher, es sei Mann oder Weib, so viel mit sich selber zu tun habe, daß ein jeglicher wohltue, für sein armes Teil Frieden zu halten und jedem armen Bruder seinen Weg offenzulassen. Die Gemeinde schüttelte die Köpfe; aber sie mußte wohl dem Wort ihres geistlichen Beraters folgen, fürchtete sich auch wohl ein wenig vor den vier starken Hunden und dem Feuergewehr des wilden Fremdlings, vermeinte auch, daß der letztere mit allem, was er mit sich führe, gehen werde, wie er gekommen sei, sintemalen er doch nicht hausen könne unter der hohen Tanne im Elend. Als aber am andern Tage neugierige Seelen wieder zur hohen Tanne schlichen, da fanden sie das Wesen noch am alten Ort; sie hörten die Hunde in der Ferne bellen und vernahmen einen Büchsenkrach und sahen den unheimlichen Mann mit einem erlegten Rehbock aus dem Gebüsch kommen, das Kind sahen sie nicht; und darnach regnete es wohl zwei Wochen, und niemand kam so weit in den Wald; in der dritten Woche jedoch stieg der Fremdling, mit seiner Büchse auf der Schulter, begleitet von einem der Hunde, in das Dorf hinab und setzte sich vor dem verbrannten Gemeindehaus auf einen Haufen verkohlter Balken. Da dauerte es nicht lange, daß das Volk aus den Hütten sich in einem weiten Kreis um ihn her versammelt hatte, und ein Knab lief zum Pfarrherrn, um ihm anzuzeigen, was sich begehen habe und wie der Mann von der hohen Tanne gleich einem Tauben und Stummen vor dem Rathaus sitze. Mit Wunder erhub sich nun auch der Pastor von seiner Arbeit, trat auf die Gasse und ging mit dem Boten zum Gemeindeplatz, fand auch, daß es so war, wie ihm mit fliegendem Atem berichtet worden war. Als der Fremde seiner ansichtig wurde, stand er schnell auf, schritt dem Pfarrherrn entgegen und lüftete ein wenig den Filzhut, bot sodann ganz höflich die Zeit und sprach auf lateinisch: »Domine, mich verlanget, dir zu sagen, daß es mir leid ist um den Tag, an welchem wir zuerst uns sahen. Die Zeit sprach aus mir und mein Schicksal; verzeihe mir. Non sum impostor nec proditor nec erro nec magus nec thraso, ich bin kein Betrüger oder Verräter, kein Landstreicher oder Schwarzkünstler, kein Schnarchhans. Ich bin ein Sohn deines Volkes und wie das Vaterland im Elend. Ich komme aus der Ferne und will bei euch wohnen, will eine Hütte im Walde bauen für mein Kind hilf mir, daß es so geschehe, ich will es auch den Leuten deines Dorfes lohnen.« Staunend über solche Rede hub der junge Pfarrherr die Hände; diese Sprache hatte er nicht erwarten können. Sie trug den Fremden so hoch hinaus über die armen Menschen, unter welchen der Prediger bis jetzt seine Tage verbringen mußte, daß Ehrn Friedemann fast die Antwort vergaß und sich erst besann, als ihn der Fremde recht ungeduldig ansah. Nun redete auch er in lateinischer Zunge zu dem Fremden und meinte, hocherfreulich müsse ihm die Ankunft und Absicht eines solchen Mannes sein; doch verwunderlich erscheine letztere ihm auch. Der Winter sei vor der Tür; und hart, rauh und langdauernd sei er in diesem Gebirge, und es sei doch wohl nicht gut und barmherzig, ein zart klein Kind allen Gefahren und Beschwerden der Wildnis auszusetzen. Das Dorf sei arm, sprach der Pfarrherr, und habe arg und viel gelitten von der langen, schrecklichen Kriegesnot, doch biete es zuletzt immer noch einen bessern Schutz und Zufluchtsort als der wilde Forst; es stehe mehr denn eine Hütte leer, deren solle der Herr die Wahl haben, und er – Friedemann Leutenbacher – wolle in allem helfen und zu Rat und Handen sein, wo und wie er könne. Auf diese Rede schüttelte der Fremde nur den Kopf und antwortete, er sei dankbar, doch sein Entschluß stehe fest: sein Sinn sei nicht angetan unter den Menschen zu wohnen, sein Kind aber müsse bei ihm hausen im Wald und könne es auch. Ganz verdutzt hatten die Bauern von Wallrode während dieses Zwiegesprächs dagestanden. Ihre Blicke wanderten zwischen ihrem Pfarrherrn und dem Fremden hin und her, sie kratzten sich hinter den Ohren und stießen einander in die Seiten und schlossen ihren Kreis immer enger. Jetzt aber setzte ihnen Ehrn Friedemann Leutenbacher auseinander, was der fremde Mann wünsche und verlange, und nun erhob sich ein Gemurmel in der Gemeinde, welches allmählich zum lauten Geschrei wurde. Die einen sagten, man müsse dem ausländischen Herrn helfen, da er Geld biete und wenig verlange; die andern vermeinten, dem Ding sei nicht zu trauen, und das Wesen gefalle ihnen gar nicht. Letztere hatten den Kopf voll von allerlei unheimlichen Bedenken und meinten, sie traueten niemandem mehr, nicht dem Nachbar, nicht dem Verwandten, ja kaum noch dem Herrgott. Sie fluchten, wenn sie an die erduldeten Leiden und das gegenwärtige Elend dachten, und sie waren leider so im Recht, daß sie niemand darum strafen konnte. Man könne nicht wissen, sagten sie, welchem neuen Unheil dieser fremde Mensch mit seiner seltsamlichen Begleitung vorangehe. Die Welt sei nun einmal wie ausgewechselt und so falsch, schlecht und blutig, daß ein jeglicher sich hüten solle und daß keiner mehr auf sich lade, als er müsse. Sie redeten noch mancherlei und erhitzten sich immer mehr, bis sie wieder vor den begütigenden Worten des Pfarrherrn still wurden. Das Ende vom Widerstreit aber war, daß man den Fremden aufforderte, seinen Namen, Stand und früheren Wohnort anzugeben und darzutun, in welcher Weise er imstande sei, den guten Willen und die Hülfleistung des Dorfes Wallrode im Elend zu erkaufen. Da sprach der Mann, er wolle sich nennen der Magister Konradus, mehr aber sei nicht zu wissen nötig, und werde er auch nichts weiter sagen. Was aber den zweiten Punkt anbelange, so solle man angeben, was man fordere für das, was er wünsche, nämlich eine Hütte und Frieden. Als er bei diesen Worten in die Ledertasche an seiner Seite griff und vier Goldstücke hervorzog und sie in der hohlen Hand zeigte, da stießen die Bauern die Köpfe zusammen und berieten von neuem. Die Vorsichtigen, die Furchtsamen und die Schreier wurden überstimmt; es wurde beschlossen, dem Magister Konradus die erbetene Hülfe zu leisten und ihn an der hohen Tanne in Frieden wohnen zu lassen, solange er selber Frieden halte. Besiegelt wurde der Pakt durch einen Handschlag zwischen dem Pfarrherrn Friedemann Leutenbacher und dem Fremden, die Hütte wurde erbaut aus altem Gebälk und Brettern, aus Rasen und Steinen – ein wüstes Ding, selbst solang es noch neu war. Der Magister Konradus aber wohnte in der Hütte an der hohen Tanne mit seinem Kind, und die vier gewaltigen Hunde hielten Wacht davor. Das schwarze Roß stand unter einem Wetterdach. – – Zwölf lange, unruhevolle, mühselige, martervolle Jahre war's her, und es ist schon gesagt, wie die Welt, das Dorf Wallrode im Elend und der Pfarrer zu Wallrode, Ehrn Friedemann Leutenbacher, während dieser Zeit gelitten hatten. Aber über die verborgene Stelle im wilden Walde, über die Hütte an der hohen Tanne, in welcher der Magister Konradus mit seinem Kinde lebte, hatte das Geschick schützend seine Hand gehalten. Wie oft auch die Kriegsfurie diesen abgelegenen Erdenwinkel mit ihren Schrecken erreicht hatte; die Hütte an der hohen Tanne war stehengeblieben, und ihre einzigen Feinde waren die Jahre und die Witterung gewesen; die Leute aus dem Dorfe hatten es nicht gewagt, sie niederzulegen, obgleich sie oft genug den besten und bösesten Willen dazu hatten. Nun dachte der Pfarrherr zu Wallrode im Elend, Herr Friedemann Leutenbacher, an diesem Vierundzwanzigsten des Dezembers sechzehnhundertachtundvierzig in Wonne und Schmerz daran, wie viele Fäden zwischen seiner Hütte und der Hütte an der hohen Tanne hin- und widerliefen und wie sein Leben ein anderes geworden seit den Herbsttagen nach der blutigen Wittstocker Schlacht. Er hatte in einer Wüste, einer Wildnis gelebt und nicht geahnet, daß es Blumen gebe in der Welt und daß der Boden dazu geschaffen sei, sie zu tränken und zu speisen und ihre Pracht und Schönheit als seinen Schmuck zu tragen. Nun hatte eine Wunderhand aus fremdem Lande in die Wildnis und Wüste ein grün Zweiglein getragen und es in die schwarze, traurige Erde gesteckt, und Ehrn Friedemann hatte in Verwunderung gestanden und zugesehen und die Bedeutung nicht gewußt. Aber ein jeglicher Tag, der kam, brachte dem Zweiglein sein Tröpfchen Segen, und jeglicher Tag, der kam, tat das Seine, das Wunder in der Wüste zur Vollendung zu bringen. Kein Wintersturm hatte dem schwanken, zarten Reis etwas an; keine Windsbraut, die den Forst mit Gewalt durchfuhr und die höchsten Tannen und Eichen brach, durfte diesem Reislein ein Leid antun; es wuchs in der Verborgenheit und wußte nicht, wie die Welt vor dem Walde, aussah. Durch die Wipfel der hohen Bäume sah die linde Sonne, die auch nichts von dem großen Kriege um den Glauben und dem Niederfall des Reiches wußte, lächelnd hernieder; und als es wieder einmal Frühling geworden, da war der Zauber vollendet, über Nacht war das Zweiglein zu einem Rosenstock worden und stand um und um mit verschlossenen Knospen, die des Sommers harrten. – Der Magister Konrad hatte sich in seiner Hütte seltsam eingerichtet. Der Karren, welcher seine Habseligkeiten in den Wald trug, schien ebenfalls ein Wunderkarren zu sein. Es befanden sich darauf mehr Dinge, als man auf den ersten Blick glauben konnte: Hausgerät, bunte Teppiche, Bücher und Instrumente von wunderlicher Form, Tiegel und Gläser, die nicht zum Hausgebrauch dienen konnten – alles wohl verpackt. Als nun die Bauern von Wallrode ihre Arbeit und Hülfleistung an der hohen Tanne vollendet hatten, als die Hütte stand, zog der Fremde ein und richtete sein Wesen darin zurecht; vergeblich suchte er aber dabei die neugierigen Augen des Dorfes auszuschließen. Was er in dieser Hinsicht tun konnte, tat er freilich, und seine vier Rüden halfen ihm natürlich wacker dabei; aber selbst das wenige, was über seinen Haushalt unter die Leute kam, genügte, ihnen die Köpfe mit den merkwürdigsten Phantasien zu füllen. Die Übertreibung gesellte sich dazu, und die, so nichts gesehen hatten und alles nur vom Hörensagen kannten, nicht weniger als die, denen durch Zufall oder Gunst ein Einblick gestattet worden war, trugen dunkle, bedenkliche Gerüchte um, welche von Tag zu Tage, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahre sich ungeheuerlicher färbten und sich widriger festhingen um die dunkeln Herde von Wallrode im Elend. Da war bald niemand, alt oder jung – der Pfarrherr ausgenommen – im Dorfe, der nicht bereuete, einst seine Hand zum Aufbau der Hütte geliehen zu haben; da war bald niemand, welcher nicht mit Freuden seine Hand geboten hätte, sie wieder niederzuwerfen. Die Stelle bei der hohen Tanne wurde verrufen, und was das heißen wollte um die Zeit, als der Dreißigjährige Krieg seinem Ende zuging, das mag sich jeder deuten, der weiß, was das böse Wort heute noch im Munde und Herzen des Volkes wiegt. Ach, es konnte ja niemand zu Wallrode im Elend, außer dem Pfarrherrn Friedemann Leutenbacher, wissen, daß es so viele tausend gute Gründe gab, die den Menschen mit dem, was ihm noch aus einer bessern Zeit, von einem bessern Selbst blieb, in die Einsamkeit trieben! – Nur um Ungeheuerliches, Furchtbares, Tag und Lichtscheues zu brüten und zu schaffen, konnte sich der Fremde auf solche absonderliche Weise an solchem unheimlichen Orte verborgen haben – das war die Meinung des Dorfes. Zuletzt fanden der Magister Konradus und sein liebliches Kind, nachdem die Rüden bis auf den tapfern Marschalk, der auch nicht mehr sah und nicht mehr stark war, abgestorben waren, in dem Grauen, welches sich um ihr Leben in der Verborgenheit, um die Hütte an der hohen Tanne geisterhaft legte, den einzigen Schutz. Ja dieses Grauen gab ihnen bessern Schutz, als der Pastor Leutenbacher mit allen seinen Ermahnungen, Warnungen und Bitten den armen, rohen, unwissenden Seelen in seiner Gemeinde abringen konnte. Daß der Pfarrherr von dem »fremden Volk« zuerst und am giftigsten verzaubert worden sei, wußte jedes Kind im Dorfe. Es war ihm »angetan«; selbst Gott der Herr, der doch alle Dinge gemacht hatte, konnte ihm kaum noch helfen. Wahrlich lag auf dem Pfarrherrn Friedemann Leutenbacher ein Zauber, und ein gewaltiger! Je mehr seine Nachbarn im Elend, seine Pfarrkinder, sich mit Scheu und Abscheu von dem Wesen im Walde abwendeten, desto mehr und heftiger fühlte er sich dazu hingezogen, und wenn solches ein Zauber war, so war es doch kein Wunder. Der Pfarrer im Elend hatte, im Gegensatz zu seiner Zeit, immerdar aufs innigste mit der Natur verkehrt; der Arme hatte ja aus seinem und seiner Umgebung Jammer nie eine andere Zufluchtsstätte gehabt als den Wald, und wenn er wenig wußte von der gelehrten Kunst, jedes schöne Leben in Forst und Feld zu zergliedern und bei seinem lateinischen oder griechischen Namen zu nennen, so hielt er sich an die Namen, die Adam den Dingen gegeben, und ließ sie in jedweder Stimmung nach Adams Weise auf sich wirken. Er sah die Zeiten des Jahres – er sah den Nebel, den Regen, den Schnee, den Sonnen- und Mondenschein kommen und gehen. Er lehnte am knorrigen Stamme der Eiche im Schatten und blickte in das glänzende Land, dessen Brand- und Blutstätten, dessen verwüstete Felder und Fluren in der allgemeinen Schönheit, welche der Mensch der Erde, seinem theatro, nimmer zu nehmen vermag, verschwanden und untergingen. Er lag den sonnigen Tag über im Gras am Bergeshang und blickte über die schwarzen Lettern seines Neuen Testamentes in die geheimnisvolle Finsternis seines Tannenwaldes und hörte die Tannen leise singen im Hauch des Windes. Weithin war er mit seiner Gegend vertraut, und jeden Fels und Stein, jeden Quell, jeden dunkelklaren Weiher im Forst kannte er und kam zu ihnen, mit ihnen zu verkehren wie mit Freunden und Verwandten – heute mit diesem, morgen mit dem, wie sein Herz und die bange oder leichtere Stimmung des Tages ihn trieben. Den dritten Teil seiner Predigten verfertigte er im Walde – er trug seine Seele hinein und gab sie ihm. Aber wenn der Mensch seine Seele gibt, so muß er auch eine Seele wieder empfangen, wenn sich nicht der hohe Segen zum bittersten Unheil verkehren soll, und es ist einerlei, ob die Seele einem Weibe, einer Dichtung oder einem großen Werk und Plan zum Besten der Bruder des Erdentages gegeben werde. Nun war der Wald nur schön, erhaben, lieblich, feierlich: eine Seele hatte er nicht wiederzugeben, wie das Weib, wie die grau gefärbte Tafel, wie das arme Blatt weißen Papieres. Einsam blieb der Pfarrherr Friedemann Leutenbacher im Schatten wie im Sonnenschein; selbst die Schönheit, Milde und Lieblichkeit der Natur mußten erdrückend werden. Seit langen Jahren wagte Friedemann nicht mehr, das Echo mit seiner Stimme zu lustigem Gegenruf zu erwecken; er fürchtete sich vor der Stimme des Waldes, die seiner Verlassenheit spottete. Oft fuhr er schaudernd zurück vor seinem Bild im Quell oder im dunkeln, geheimnisvollen Waldteich; oft fuhr er erschreckt zusammen, wenn plötzlich fern der Wind sich erhob, über die Wipfel fuhr und sie mit dem Saum seines Gewandes geisterhaft streifte. Dem Pfarrherrn von Wallrode fröstelte oft in der heißesten Glut; des Juli auf dem sonnigsten Wiesenflecke, und der Duft, welchen der wolkenlose Sommermittag den Tannen und Fichten entlockte und der, wenn man nicht einsam ist, berauschend wie junger Wein wirkt, füllte ihm Herz und Hirn mit so jäher Angst und unsäglicher Beklemmung, daß er aus dem Bereich desselben im Lauf entfliehen mußte, um dann, atmend im freien Felde stehend, die pochenden Schläfen mit der Hand zu drücken. Weil dem Walde die Seele fehlte und weil Undine, die sich nach einer Seele sehnte, nur ein schönes Märchen ist, konnte der Pfarrherr von Wallrode im Elend nur den dritten Teil seiner Predigten im Walde ma chen. Das erbarmungswürdige, halb tierische Leben um seine leere, halbzertrümmerte Behausung her hatte doch wieder mehr dafür zu gehen als die Natur. Als nun von dem Frühling des Jahres sechzehnhundertsiebenunddreißig an dem Walde eine Seele wuchs, da huben für den Pfarrer im Elend das Wunder und der Zauber an. Den Herbst und Winter des Jahres sechsunddreißig hindurch hatte der Magister Konrad jeden Verkehr mit dem Pfarrherrn schroff und mißtrauisch von sich gewiesen, und scheu, selber halb furchtsam, hatte Ehrn Friedemann Leutenbacher, dessen Grüße kaum erwidert wurden, die Gegend der hohen Tanne gemieden und seine Schritte nach andern Richtungen gelenkt. Aber gegen Ende des Frühlings siebenunddreißig trat eines Abends, als die Sonne dem westlichen Horizont schon ziemlich nahe war, der fremde Mann dem Geistlichen jach in den Weg, grüßte ihn zum ersten Male höflich, wenn auch finster, und fragte ihn, ob er nicht eine Stelle wisse und kundgeben wolle, wo das Kräutlein Hypericum, sonsten Auch Sankt-Johannis-Kraut genannt, in guter Menge wachse und zu finden sei. Er mußte seine Frage eindringlicher wiederholen; denn so verwundert war der Pfarrherr über das plötzliche Entgegentreten aus dem Gebüsch und das Anreden, daß er des Fremden Meinung zuerst ganz und gar überhörte. Wohl aber wußte er, wo Gott ein jegliches heilkräftig, gesund, balsamisch oder giftig Kräutlein in seinem Walde wachsen ließ – sei es in der Sonne, sei's im Schatten, sei's am Felsgestein, sei's am Quell. Auch das Kraut Hypericum kannte er nach Stand und Nutzen, schritt mit dem Magister zur Stelle und half ihm pflücken. Da mußte zuletzt doch ein Wort das andere gehen und die beiden Männer aus ihrer gegenseitigen Einsamkeit hinaus- und einander entgegenführen. Der Pfarrherr erfuhr, daß das kleine Mädchen seit dem harten Winter in der Hütte krank liege und sich trotz des neuen Frühlings und der schönern Tage nicht wieder erholen und zurechtwerden könne. Der Fremde erfuhr, daß Ehrn Friedemann Leutenbacher ein Mann sei, mit welchem sich wohl in jeder Sache ein gut Wort reden und ein guter Rat halten lasse. So waren die beiden, ihnen selber fast unvermerkt, nahe an die Hütte gekommen, und es mußte geschehen, daß der Magister Konrad den Pfarrherrn einlud, einzutreten unter das Dach, so er hatte aufrichten helfen, und das kranke Mägdlein anzusehen. Zum ersten Male stand der Pfarrherr in dem Raume, vor dessen Gerät und Bewohnern dem Dorfe Wallrode so sehr grauete. Er sah die Bücher und wenigen mathematischen und physikalischen Instrumente, und er sah die kleine, kranke Else, die mit großen, dunkelblauen, fieberkranken Augen ihn von ihrem Lager aus anblickte und, nachdem sie seine Gestalt und Miene erkundet hatte, lächelte und ihn lieblich nickend grüßte. Die Bücher und Instrumente zogen den Pfarrherrn von Wallrode wohl recht an, gleich alten, trefflichen, lang entbehrten Bekannten aus längst vergangener Zeit; aber mit noch größerer Wehmut und Rührung würde er sie gegrüßt haben, wenn des Mägdleins Augen es gelitten hätten. Dem Zauber, der aus diesen beiden dunkeln Kindesaugen auf den Mann, den Diener am Worte Gottes, den Gelehrten, den Menschen, der soviel litt und erfuhr, strahlte, war nicht zu widerstehen; – Von dieser Stunde, Von diesem Augenblick an war Friedemann Leutenbacher an die Hütte des Magisters Konradus gebannt; von diesem Augenblicke an bekam der große Wald eine Seele, und der Pfarrherr brauchte nicht mehr aus ihm zu fliehen, weil er sich fürchtete in seiner Einsamkeit. Dieses Kind bedeutete für den Mann aus dem Elend die Offenbarung eines Daseins, welches er nicht kannte, nach welchem er nur ein dumpfes, schmerzvolles, unbestimmtes Sehnen im Herzen trug. Dieses Kind wußte nichts von der grausen Last, die auf der Erde und dem Herzen des Pfarrers von Wallrode im Elend lag. – Noch längere Zeit, nachdem die Tochter leicht und heiter dem Geistlichen entgegengegangen war, blieb der Meister Konrad verschlossen und finster und gestattete erst allmählich, als der Einfluß des Gelehrten auf den Gelehrten zu wirken begonnen hatte, einen tiefern Einblick in die Geschichte seines Lebens. Das Unglück maß damals mit einem gewaltigen Maß, und kein Schrecken und Schmerz, welche den Menschen treffen mochten, waren so groß, daß sie nicht noch durch gräßlicheres Unheil überboten werden konnten. Seinen Namen nannte der Magister nie; doch von seinen Schicksalen erzählte er im Laufe der Jahre bruchstücksweise, und das Herz erzitterte, sie zu hören; wir können aber nur kurz davon Bericht geben, da wir nicht seine Geschichte beschreiben. Er war ein Lehrer an der Domschule der unglücklichen Stadt Magdeburg gewesen, und mit seinem Hause waren sein Weib und seine beiden ältesten Kinder verbrannt am zehnten Mai des Jahres sechzehnhunderteinunddreißig. Ihn selber hatte das Geschick mit dem jüngsten Kind in die Domkirche unter die tausend jammervollen Menschen geschleudert, welchen nach drei Tagen der Todesangst der kaiserliche General Johann Tzerklas von Tilly das schenkte, was allein er ihnen nicht nahm, das Leben. Des Meisters Name stand auch unter dem Briefe, in welchem die letzten übriggebliebenen Bewohner der großen zertrümmerten Stadt die stromabwärts liegenden Städte, Dörfer und Flecken bis nach Hamburg um Gottes und Jesu Christi willen baten, die sechstausend Leichname ihrer Mitbürger und Verwandten, welche der Feind, um die Gassen zu räumen, in die Elbe geworfen hatte, nicht den Tieren des Waldes und Feldes zu überlassen, sondern sie barmherzig und christlich zu bestatten, wenn der Fluß sie zu ihnen tragen würde. Vier Jahre wohnte der Magister Konrad unter den Trümmern. Auf die erste stumpfsinnige Betäubung folgte die gottlästernde Verzweiflung und dieser die unheilbare, herzzerfressende, täglich wachsende Melancholie. Das neue Leben, welches sich auf der schwarzgebrannten, blutgetränkten Stätte um ihn her kümmerlich und kläglich erhob, hatte keinen Sinn für ihn; die Geister der erschlagenen dreißigtausend Männer, Weiber und Kinder, welche in den Ruinen umgingen, machten diese winzige, trostlose Lebendigkeit selber zu einem Spuk, und der Schatten der versunkenen Stadt duldete kein Sonnenlicht über den neuen Wohnstätten, die aus rauchgeschwärzten Mauersteinen und halbverkohlten Balken langsam aufwuchsen. Und die Pest saß mit unter den Trümmern und wich nicht; neue Kriegsstürme brausten heran und drangen durch die alten Breschen der Wallonen und Kroaten und fuhren grimmig durch die offenen Pf orten der Stadt, deren Torflügel seit dem zehnten Mai zu Boden lagen wie alles andere. Vergeblich versuchte es der Gelehrte, seinen Lehrstuhl wiederaufzurichten; in allem vernichtet, wich der Meister Konrad im vierten Jahre nach der Verwüstung – gen Halberstadt und von dort in den Wald, um den Menschen, dem Greuel der Welt ganz zu entfliehen und sein Kind zu retten aus dem Chaos und der Sünde der Zeit. – Wir haben erzählt, wie ihm die Leute von Wallrode im Elend und ihr Pfarrer Friedemann Leutenbacher seine Hütte an der hohen Tanne bauen halfen und wie er sein Einsiedlerleben daselbst begann. – – – Wollte dieser Schneesturm nimmer zu einem Ende kommen? Mächtiger und mächtiger sauste und brauste es und schüttete die weißen Lasten auf Forst und Dorf. Es knackte und knirschte das Gezweig, es krachten die Stämme; der Wolf heulte, wenn die Windsbraut Atem schöpfte, und durch all den Aufruhr der Natur klang dem Pfarrer Friedemann Leutenbacher ein Lied ins Ohr, Verse aus einem Liede, welches Else von der Tanne gesungen hatte: Vierzehn lange, lange Wochen Gab die Liga Sturm auf Sturm, Vierzehn lange, lange Wochen Trotzte Mauer, Wall und Turm. Tapfre, fromme, teutsche Bürger Schützten Glauben, Ehr und Haus – Dreißigtausend Ketzerleben Rottet heut die Kirche aus! Stadt gewonnen! all gewonnen! Und des Kaisers Feldherr spricht: Seit Jerusalem verloren, Sah man solch Viktori nicht! Heilige Jungfrau, Mutter Gottes, Dank und Gloria! Dir die Ehr! Seit man Troja hat gewonnen, Sah man solchen Sieg nicht mehr! Aber nicht bloß dieses Lied, nein, manch andere Weisen, deren Noten niemals eine Menschenhand auf Papier festgebannt hatte wie die Buchstaben eines Buches, sang Else von der Tanne! Else von der Tanne, die schönste Maid – Else von der Tanne, die von der Sünde und dem Greuel der Welt im Wald, im Elend unberührt geblieben war! Else von der Tanne, die reinste, heiligste Blume in der grauenvollen Wüstenei der Erde – Else von der Tanne, die Seele des großen Waldes! Der Pfarrer Friedemann Leutenbacher im Elend mußte beide Hände vor das Gesicht schlagen, er mußte bitter weinen; die winterliche Sturmnacht mußte endlich doch zu ihrem Ende gelangen; aber die Nacht, welche sein Leben jetzt bedrohte, die konnte nicht enden, solange er noch unter den Lebenden wandelte. Else von der Tanne hatte als Kind an seiner Seite gesessen und hatte um seine Knie gespielt, während er mit ihrem finstern Vater ernstes Gespräch über der Welt Lauf und Bedrängnis pflog. Er war so jung ge blieben in seiner Verlassenheit, daß er mit ihr ein Kind sein konnte, daß in ihrem kindischen Herzen kein Ton anklingen konnte, der nicht in seiner Brust einen Widerhall fand. Gleich einem Träumenden kam er stets von einem solchen lieblichen Verkehr heim in seine öde Wohnung, zu seinem armen, blöden, gequälten, mißtrauischen Volk. Es war ein ander Ding, mit dem kleinen Mädchen am Weiher mitten im dunkeln Forst zu sitzen als allein mit der Furcht vor dem eigenen Bild im Wasser. Das lachende Gesichtchen des Kindes in der Flut war nicht gespenstisch. An der Seite Elses schauderte und fröstelte den Pfarrherrn nicht mehr vor den hoben Geheimnissen der Natur; – Else von der Tanne verstand die Sprache der Tiere, des Windes, des Lichtes ganz anders und viel besser als der Pfarrherr, und der Pfarrherr hatte viel mehr von dem Kinde zu lernen als das Kind von ihm. Wie sich die junge Seele von Frühling zu Frühling mehr entfaltete, erschlossen sich auch mehr und höhere Geheimnisse in der Brust Friedemann Leutenbachers, und als Else von der Tanne die schönste der Jungfrauen geworden war, da war der Pfarrer im Elend mit ihr gewachsen und trotz seiner Jahre so jung wie sie. Es war entsetzlich – ein Schmerz sondergleichen, an diesen Glanz, diese Holdseligkeit des Lebens, welche auf ewig versinken sollten, in dieser winterlichen Sturmesnacht denken zu müssen. Gestern noch war der Wald grün, gestern noch blühten alle Blumen, sprangen alle Quellen; gestern noch wandelte Else von der Tanne in der Anmutigkeit des Jahres, und so weit auch Friedemann Leutenbacher vom höchsten Bergesgipfel über die Herrlichkeit des blühenden, funkelnden Landes blicken mochte, nichts Herrlicheres gab es, so weit das Auge und das Herz reichten, als Else von der Tanne. Die schwarzen, schrecklichen Striche, welche die Heereszüge durch die Ebene gezogen hatten, waren ausgelöscht; die roten Narben um die Handgelenke des Pfarrherrn von Wallrode waren Zeichen der Verheißung, wie der Griff des Engels an der Hüfte Jakobs auf der Stätte Pnuel, die da heißt: Ich habe Gott gesehen, und meine Seele ist genesen. Gestern, gestern! Wer kann den Gram ermessen, welcher sich in dem kleinen Worte bergen kann? Es ist der gierige Schlund, der das gespenstische Morgen gebiert, welches uns mit tausendfachen Schrecken ängstiget, bis die finstere Höhle, die alles verschlingt, wodurch wir leben, uns selber in ihre Tiefen herabzieht. Gestern wandelte Else von der Tanne im Lichte des Frühlings und des Lebens, und heute – heute schrieb der Pfarrherr zu Wallrode im Elend die Weihnachtspredigt für sein Dorf, durch welches Else von der Tanne getötet worden war. Dies aber ist die Geschichte des Todes der Jungfrau. In der fünften Woche nach Pfingsten des Jahres sechzehnhundertachtundvierzig, am Tage Johannis des Täufers, wollte Ehrn Friedemann Leutenbacher in seinem verwüsteten Kirchlein das Abendmahl austeilen, und am Tage vorher hatte ihm der Meister Konrad im Walde gesagt, daß er mit seinem Kinde herniedersteigen würde, um des heiligen Geheimnisses teilhaftig zu werden. Else aber hatte zu diesen Worten ihres Vaters genickt und lächelnd gesprochen: »Ja, Herr Pfarrer, wir kommen herab aus dem Walde; und dann nehmen wir Euch nach dem heiligen Werke mit uns zurück. Es ist mein Geburtstag morgen, den müsset Ihr mir feiern helfen. Ihr müsset mir ein Sträußlein und einen Glückwunsch in Reimen bringen.« Ehrn Friedemann hatte auch gelächelt und genickt und gesagt, er wolle schauen, daß er die Blumen zum Strauß und die Reime zum guten Wunsch mit den Blumen am Wege zum Walde finde. Dann hatte er, als der Mond aufstieg, Abschied genommen und hatte, als er sich am Fels wendete, die zarte Gestalt im weißen Schein des Mondes stehen sehen und neben ihr das zahme Reh. Die letzte Nachtigall des Jahres hatte ihr letztes Lied gesungen, und als der Pfarrer aus dem Walde hervorgetreten war, lag über den Bergen jenseits des Dorfes ein fernes Gewitter, dessen Blitze er leuchten sah, dessen Donner er aber nicht hören konnte. Die ganze Nacht hindurch war er von bösen, angstvollen Träumen geplagt; und wenn er sich halb ermunterte, nachdem er erschreckt aus dem peinlichen Schattenspiel aufgefahren war, vermeinte er immerfort den heftigsten Regen auf seinem morschen Dach und vor seinem Fenster zu vernehmen. Das war jedoch nur Täuschung; nur ein nicht starker Wind rauschte die halbe Nacht, von Mitternacht an, in den Bäumen, und die aufsteigende frühe Sonne fand einen wolkenfreien Himmel, ihre Bahn daran durch einen schönen Sommertag zu laufen. Die kleine Kirchenglocke hatten die Kroaten mit sich fortgeführt; sie konnte die Gemeinde nicht zusammenrufen. Ein Kind, vom Pfarrhaus geschickt, lief von Hütte zu Hütte und sagte an, daß der Pastor zum Dienste am Worte Gottes bereit sei. Mit Sonnenaufgang hatten der Magister Konrad und Else ihre Hütte verlassen, ohne von dem Dorfkinde aufgefordert zu sein. Lieblich lag der Sonnenmorgen über dem Walde; lieblich erregten sich die Vögel in Baum, Strauch und blauer Luft; und jeder Quell sprang und lief freudiger und mutwilliger in den Johannistag hinein. Das zahme Reh begleitete die schöne Herrin mit fröhlichen Sprüngen und schmeichelndem Anschmiegen durch den Forst; und der Meister und Vater mit seinem jetzt so weißen ehrwürdigen Bart und seinem langen Stabe glich wahrlich wohl einem Zauberer, aber einem guten, der ein aus dem Bann und der Gewalt unheimlicher Mächte gerettetes Königskind durch den Forst geleitete. Bis an den Rand des großen Waldes ging das Reh freudig mit der Herrin, wie im Tanz; doch als ein letzter lustiger Sprung unter den letzten Bäumen es plötzlich in das helle Sonnenlicht brachte, da fuhr es im jähen Schreck zusammen und zurück. Zitternd stand's und sah nach dem Dorf hinunter, und dann gebärdete es sich ganz seltsam und wollte in keiner Weise leiden, daß die Jungfrau fürderschreite und den grünen Schatten verlasse. Trotz aller Liebkosungen und Beschwichtigungen wurde es immer heftiger und ungebärdiger, so daß es zuletzt vom Meister Konrad schier mit Gewalt verscheucht werden mußte. Ach, es redete nur seine Sprache, und die konnten oder wollten die stolzen Menschen nicht verstehen. Betrübt stand es unter den Bäumen und sah dem Meister und der schönen Else nach, wie sie auf dem gewundenen Wege durch die kümmerlich bestellten Felder gegen das Dorf schritten; dann stürzte es im wildesten Lauf durch den Wald und verlor sich im Dickicht, wie gejagt von Angst und Entsetzen. Schon auf dem Feldwege trafen der Vater und die Tochter mit Leuten zusammen, die ihren Gruß nicht erwiderten, auf freundliche Worte nicht antworteten, sondern sich scheu und mißtrauisch abwendeten und zur Seite weiterschlichen. Deren Blicke und Gebärden warnten deutlicher, als die Augen des Rehes es vermochten; aber die Wanderer ließen sich auch durch sie nicht den Weg versperren, sondern wanderten langsam fürbaß, ein jedes tief versunken in seine eigenen Gedanken, ihrem Ziele zu. An dem Kirchweg saß ein altes Weiblein, dessen Ruf im Dorfe auch bös war wegen teuflischen Willens und Vermögens, dessen Macht aber zu sehr gefürchtet wurde, als daß man sich an ihm vergriffen hätte. Diese alte Frau hob, als die Jungfrau vorüberschritt, das Haupt von den Knien, winkte mit der dürren Hand und rief mit heiserer Stimme: »Hüt dich, hüt dich, Mägdlein! Hüt dein jung Leben, Liebchen! Dein Schatten gehet vor dir, fall nicht über deinen Schatten! Wer fällt, fällt in seinen Schatten, und nicht alle stehen wieder auf.« Der Meister Konrad schüttelte nur traurig den Kopf, doch Else von der Tanne nickte dankbar; – mit heiserer Stimme sang die Alte hinter ihr: Herzeleins pochend Weben Kündet dir: Tod im Leben! – Stirn so weiß und fein, Denk: Schatten im Sonnenschein! Dann legte sie das Gesicht wieder auf die Knie. – Auf dem Friedhofe vor der Kirche wartete die Gemeinde von Wallrode im Elend ihres Predigers. Die Alten schwatzten untereinander, die Jungen kosten und lachten oder neckten und höhnten einander, die Kinder jagten sich um die Gräber; aber als der Meister Konrad und Else sich zeigten, kam das alles zu einem plötzlichen Ende, und eine solche Bewegung entstand unter dem Volk, daß die Jungfrau jetzt fast ebenso angstvoll wie ihr Rehlein sich an den Vater drängte und dieser unwillkürlich seinen Stab zur Abwehr fester faßte. »Die Hex! Die Hex! Der Hexenmeister!« ging es anfangs leise, dann immer lauter in der Runde. »Was wollen sie hier? Weshalb kommen sie herab aus ihrem Schlupfloch? Sie sollen bleiben, wo sie sind! Sie sollen nicht herniederkommen ins Dorf! Schlagt sie – treibet sie von dannen – räuchert sie aus!« Als der Pfarrer Friedemann Leutenbacher in diesem Augenblick auf dem Kirchhofe erschien, wurde auch er bedenklich angesehen und von den erregten Pfarrkindern bedrohlich angegangen, den beiden Fremden den Kirchhof und die Kirche zu verbieten. Kaum vermochte sein heiliges Amt, sein schwarz Predigergewand und die erhobene Bibel seinen zürnenden Gegenworten Folge und Gehorsam zu schaffen und dem Magister Konradus sowie der schönen Tochter einen freien Weg zu der Tür des Gotteshauses zu bahnen. Als er sogar die Hand der Jungfrau faßte, sie die zertretenen Stufen hinaufzuführen, da ballte sein Dorf die Fäuste und schrie auf, als müsse nun der blaue Himmel herabstürzen. Aber der Pfarrer zu Wallrode im Elend sah und hörte nicht; mit erklingendem Herzen führte er Else von der Tanne in sein Gotteshaus und bestieg gleich einem Schlafwandler die nach der letzten Zerstörung roh wiederaufgerichtete Kanzel. Ihm nach drängte sich der größere Teil der Gemeinde in die Kirche und füllte den Raum mit Gemurr und Gemurmel. – Grünes Gezweig rankte sich durch den verkohlten Dachstuhl, durch die scheibenlosen Fenster und die Mauerrisse. Mit dem Grün, der Sonne und der Luft war auch das flatternde, summende, zwitschernde Leben eingedrungen; – lieblich und glänzend war der Tag, lieblich und glänzend war das Gesicht Elses unter der Kanzel, und der Pfarrer Friedemann Leutenbacher sah nicht die Gesichter seiner Gemeinde. Ihm war zumute, als sei er im Wald, mitten im sichern, sonnigen, beseelten Walde, und habe nur Else von der Tanne, um zu ihr zu reden. So begann er seine Johannispredigt und wußte nicht, was zu derselben Zeit vor der Tür der Kirche vorging. Da war ein junges Weib zu einem frischen Grabe gesprungen, hatte drei Hände voll Erde davon aufgegriffen und sie auf die Schwelle der Kirchentür gestreut. Ein wüster, wildblickender Bub von zwanzig Jahren war nach der Linde vor dem verbrannten Gemeindehause gelaufen und hatte von dem Baum, an welchem im Jahre vierundvierzig Hatzfelds Kürassiere den Ortsvorsteher aufhängten, einen dürren Zweig gebrochen. In atemlosem Laufe kam er mit demselben zurück und warf ihn auf die Schwelle der Sakristeitür. Nun waren die Hexe und der Zaubermeister in dem Gotteshause gebannt; – solange die Erde von dem neuen Grabe und der Ast vom Baume des Gehängten auf den beiden Schwellen lagen, konnte kein unheiliger Fuß sie überschreiten. In herzklopfender Erwartung lauerten die auf dem Friedhofe zurückgebliebenen Leute aus Wallrode im Elend auf das, was nun geschehen werde, jetzt, da der eine Zauber durch den andern Zauber gebrochen und zunichte gemacht worden war. In dem Sonnenschein auf und zwischen den Gräbern saßen und standen sie, starr die beiden Pforten im Auge haltend, selber bösen, schadenfrohen, heimtückischen Geistern und Kobolden so ähnlich als möglich. Gierig warteten sie auf das Ende des Gottesdienstes. In der Kirche gab der Prediger Friedemann Leutenbacher den Leib, der für die Welt gebrochen, und das Blut, das für sie vergossen wurde; – alle, die auch ihr Teil Schuld an Elses Tode trugen, tranken aus dem Becher, welchen die Lippen der Jungfrau berührt hatten. Als der Pfarrer das schlechte Zinngefäß dem süßen Munde der Jungfrau darbot, durchrieselte ihn ein heiliger Schauer, ein Gefühl unendlichen Glückes. Es war Friede in seiner Seele wie auf der Erde; sein Leben war nicht in die Zeit des fürchterlichsten aller Kriege gefallen; in eine einzige Minute fiel die Wonne eines ganzen Daseins, und als dieser Augenblick vorübergegangen war, hatte Friedemann Leutenbacher auf Erden nichts mehr zu erwarten. Mit einem dumpfen, verworrenen Lärm stürzte seine Gemeinde aus der Kirche, und die auf dem Kirchhofe Zurückgebliebenen schrien ihr entgegen, was sie getan hatten, die Hexe und den Hexenmeister zu fangen und festzuhalten. Ein Schrei tierischer Wut und Lust erhob sich; einen Kreis schloß das Volk um die Kirchtüren. In dem Gotteshause war der Prediger zu dem Meister Konrad und seiner Tochter getreten; sie vernahmen das Geschrei, und Ehrn Friedemann bat die Fremden, ein wenig zu harren, bis die armen, blöden Leute sich nach Haus verlaufen und den Weg geräumet haben würden. Er ahnete nicht, wie sehr diese Zögerung die dräuende Gefahr verstärkte. Die finstere Vermutung des lauernden Haufens ward zur Gewißheit; es zweifelte auf dem Friedhofe nun niemand mehr, daß die Fremden dem Bösen eigneten, und es war niemand, der nicht mit Eifer einen Brand, ein Holzscheit oder Reisigbündel zu ihrem Scheiterhaufen getragen hätte. »Gebannt! Gebannt! Sie kann nicht heraus! Sie können nicht heraus! Hex! Hex! Hex! In Christi Namen wollen wir sie nicht mehr dulden! Gebannt! Gebannt!« lief s von Mund zu Mund, und immer wilder wurden Mienen und Gebärden. Man riß Stöcke aus den Hecken und Zäunen, man griff Steine vom Boden auf; aus den nächsten Hütten holte man Äxte, Dreschflegel und Mistgabeln. – »Gebannt, gebannt! Hex, Hex, Hex! Sie können nicht heraus, holt sie, schlagt sie, ins Feuer mit der Zauberschen und dem Hexenmeister!« – »Sie weichen nicht; lasset uns gehen; sie werden nicht wagen, uns anzufallen«, sagte der Meister Konrad, und Else nickte und flüsterte: »Gott wird uns schützen, jetzt wie immer; ja, lasset uns gehen!« Den Pfarrer faßte eine fürchterliche Angst; schon hatten sich der Vater und die Tochter gegen die Pforte gewendet, und er konnte nur so schnell als möglich an ihre Seite eilen, ihnen durch seine Gegenwart und Autorität Schutz zu geben. Zwischen dem Vater und dem Prediger trat Else von der Tanne auf die Schwelle; aber all ihr Mut sank vor dem Geschrei, dem Geheul, mit welchem sie empfangen wurde. Das Blut wich aus ihren Wangen und flutete ängstlich in wilder Hast nach dem Herzen zurück. Sie wankte und faßte krampfhaft den Arm ihres Vaters, und durch die nahenden Ohnmachtsschauer vernahm sie dumpf das widrig-abscheuliche Geheul und den schrecklichen Ruf: »Hex! Hex! Hex! Schlage tot! Schlage tot!« Mit erhobenen Händen sprang der Prediger Friedemann Leutenbacher in seinem schwarzen Chorrock vor und rief um Frieden und schrie, daß er sprechen wolle, daß man ihn hören solle. Seine Gemeinde jedoch, gepackt und geschüttelt vom Wahnsinn der Zeit – seine Gemeinde, außer sich, toll, rasend, wußte nichts mehr von irgendeinem Band, das sie an Himmel und Erde fesselte. Der Ruf des Pfarrers verhallte ohnmächtig, wirkungslos in dem Tumult, dem Geschrei nach dem Blute der beiden Fremden. »Schlage tot! Schlage tot! Reißt sie Von der Schwelle, reißt sie vom Gottesacker, stürzt sie in den Mühlenteich! Schlage tot! Hex, Hex! Schlage tot!« Stöcke und Steine, Erdklöße von den Gräbern, Totengebeine, welche die Schaufel des Totengräbers aufgeworfen hatte, alles, was zur Hand war, wurde gegen den Meister Konradus, sein Kind und den Pfarrherrn von Wallrode im Elend geschleudert. Und aus der Hand des Buben, welcher den dürren Zweig vom Galgenbaume brach, die Hexe und Unholdin in die Kirche zu bannen, flog ein scharfkantiger Kiesel und traf die Jungfrau auf die linke Brust, daß sie mit einem Schrei zusammenbrach und bewußtlos in die Arme des Vaters sank. Einige Tropfen roten Blutes traten auf ihre Lippen, und gräßlich jauchzte das Volk, als es die schlanke, herrliche Gestalt zusammenknicken und sinken sah. Aber mit einem Schrei, der schier nicht aus einer Menschenbrust zu kommen schien, sah der Pfarrer Friedemann Leutenbacher Else von der Tanne fallen und das Blut über ihre Lippen brechen. Auch er vergaß sich, wie sein Dorf, er kannte sich nicht mehr; tausend Fratzen tanzten vor seinen Augen, alle die Narben, die er an seinem Körper und in seiner Seele trug, brannten in diesem Augenblick wie höllisches Feuer; vom Wahnsinn gepackt und geschüttelt wurde auch er. Von den Stufen der Kirchtür war er herabgesprungen, mit gewaltiger Faust hatte er den Mörder Elses von der Tanne zu Boden geschlagen und verfolgte mit einem Totengräberspaten, den er einer andern Hand entriß, das entsetzte Volk über die Gräber. Verwirrt, betäubt, verstört entfloh die Menge, und der Gottesacker war leer; – nur aus der Ferne blickten die atemlosen Bewohner von Wallrode stier und starr nach der Pforte des Friedhofes und nach der Mauer, die ihn umschloß. Schaudernd erwachend, ließ der Prediger den Spaten sinken und kniete mit dem Vater neben der verwundeten Jungfrau. Bleich und regungslos, mit geschlossenen Augen, doch ohne den geringsten Zug des Schmerzes im Gesicht, lag Else von der Tanne auf den Stufen der Kirchtür in den Armen ihres Vaters. Die kleinen Vögel, welche der Lärm aus den Bäumen des Friedhofs verscheucht hatte, kamen zurück, hüpften von Zweig zu Zweig und reckten zwitschernd die Hälse und sahen neugierig herab auf die stille, traurige Gruppe, wußten sie aber sowenig zu deuten wie den Aufruhr und das schreckhafte Getös vorhin: harmlos spielten sie ihr heiteres Sommerdasein im Sonnenlicht und grünen Gezweig weiter. Der Magister und der Prediger trugen die bewußtlose Jungfrau zuerst in das Pfarrhaus, wo sie den heißen Tag über lag und niemand kannte. Erst als der Abend nahete, erwachte sie und seufzte tief und sah fragend sich um. Langsam kam die Erinnerung, und als sie kam, schloß Else schaudernd und erzitternd die holden Augen zum zweitenmal. In der sanften Kuhle des Abends trugen der Meister Konrad und der Pfarrer Friedemann Leutenbacher die verwundete Maid auf ihren Wunsch in den Wald zurück, und alles Jammers waren sie voll. Niemand folgte ihnen als das alte Weiblein, welches schon am frühen Morgen am Wege saß und so warnend sang. So rot war der Schein der Abendsonne, daß man nicht sah, wie bleich, wie bleich die Stirn der Jungfrau war; – als die Träger der leichten Last die ersten Bäume des großen Waldes erreichten, ging der Mond auf, und das Reh stand und wartete auf die Herrin. – – – »Er hat mich in Finsternis gelegt, wie die Toten in der Welt!« wiederholte Ehrn Friedemann Leutenbacher zu Wallrode im Elend, trat an seinen Tisch und zeichnete drei Kreuze unter die Predigt für das Weihnachtsfest des Jahres sechzehnhundertachtundvierzig. Martina hatte jetzt das Lämpchen auf den Tisch gestellt, ohne deshalb anzufragen, sie hatte auch einen Laib Brot und ein Messer neben die Predigt gelegt; – die weiße Katze saß aufrecht im Stuhl des Pfarrers und sah mit grünlich leuchtenden Augen in das Licht und auf das Brot. In diesem Augenblick pochte jemand an das Fenster, und Ehrn Friedemann fuhr zusammen, als habe ihn die Hand des Todes berührt. Einen kurzen Moment zögerte er, dann aber öffnete er das Fenster, welches der Wind ihm fast aus der Hand riß. Heulend drang der Sturm in das Gemach und trieb den Schnee bis auf den Tisch. Die Lampe erlosch, die Blätter der Predigt wurden durcheinandergeworfen und in die Ecken gewirbelt; mit einem entsetzten Satz verkroch sich die Katze unter dem Ofen. »Wer ist da? Was will man zu solcher Stund?« rief der Pastor; zwei dürre Hände klammerten sich an das Fensterkreuz, und eine alte, keuchende Stimme kreischte: »Gebet mir ein Stück Brot für meine Nachricht: Else von der Tanne muß sterben in dieser Nacht.« Der Pfarrer von Wallrode sprach kein Wort, er fiel schwer nieder auf beide Knie und faßte ebenfalls das Fensterkreuz mit beiden Händen. Die Stimme draußen fuhr fort: »Die schöne Else muß sterben, ich aber kann's nicht; gebet mir ein Stücklein Brot. Der Wolf ist mir ausgewichen auf meinem Weg, der fallende Ast hat mich nicht treffen dürfen, der Schnee hat mich nicht verschüttet im wilden Walde. Ich bin so alt, so alt – und die schöne junge Else muß sterben. Gebet mir ein Stück Brot!« Der Prediger hatte sich wieder erhoben, er tastete mechanisch und reichte dem gespenstischen Wesen da draußen, welches die schöne junge Else um den Tod beneidete, den schwarzen Laib und das Messer. »Im Namen Gottes und aller seiner guten Geister Dank!« kreischte die Stimme, und dann kam ein neuer Sturmesstoß und jagte solche neue gewaltige Lasten des Schnees heran, daß die Lichter der Hütten dem Pfarrhaus gegenüber gänzlich verschwanden. Nun war es fast, als habe der Sturm das alte Weib wieder entführt, wie er es brachte. Vergeblich rief der Prediger den Namen desselben, der Schall seiner Stimme ging in dem Brausen und Zischen verloren. Niemand antwortete, eine Minute lang war's dem Pfarrer, als ob es gar keine Menschenstimme, nicht die Stimme jenes alten Weibes, das am Johannistag am Wege saß, gewesen sei, welche ihm das Wort, daß Else von der Tanne sterbe, ins Fenster gekreischt habe. Ein böser Geist, welcher auf den Sturmwolken fuhr, hatte es ihm ins Ohr geschrien; eine Menschenstimme konnte solch kalt, grimmig Erschrecken nicht einjagen, konnte solche furchtbare Vernichtung nicht bringen. Else, die schöne, junge Else stirbt! Else stirbt! Else stirbt! – Der Pfarrer von Wallrode im Elend faßte mit beiden Händen die Stirn – war es doch Wahrheit? War die Stunde da, die kommen mußte? War die Stunde gekommen, die seit dem Tage Johannis des Täufers langsam, drohend, unabwendbar heranschlich? »Sie stirbt – Else von der Tanne stirbt!« stöhnte der Pfarrherr. Er tastete nach der Tür und wankte hinaus. Auf dem Flur stand Martina mit ihrer Lampe. »Um Jesu willen, Ehrwürden, was ist Euch geschehen? Was wollt Ihr tun? Ehrwürden, wollt Ihr fort? Bei diesem Wetter?« Ehrn Friedemann schien die treue Dienerin gar nicht zu erblicken; er ging an ihr vorüber, er stand vor dem Haus im Sturm und tiefen Schnee; mit dem Mantel verhüllte er das Gesicht und schritt durch das Dorf, dem Wind und Flockengewirbel entgegen, dem Walde zu. Das Gebell der Hofhunde verhallte hinter ihm; er war allein mit seinen wilden Gedanken in der wilden Nacht. Von dem freien Felde zwischen dem Dorf und dem Forste hatte der Wind den Schnee so rein weggefegt, daß der kahle, schwarze Boden nackt in dem seltsamen Dämmer dalag, und entsetzlich war dieser Wind auf diesem Gange. Er trieb den Atem in die Brust zurück, als wolle er sie zersprengen, wütend griff er in die Haare, die Mantelfalten des Wanderers, um ihn zu Boden zu werfen, in rasenden Sprüngen und Sätzen schnaubte er gegen das Dorf Wallrode hinab und jagte das weiße Gestäube vor sich hin. Als der Pfarrherr den Rand des Waldes erreichte, hätte er sich selber zu Boden werfen mögen, um die keuchende Brust ausatmen zu lassen. Wie Schlachtendonner rollte es durch das Gebirge – Geächz und Stöhnen, Gekrach und Geknirsch, wie von den Grenzen der Erde her! Wo das hübsche Reh die blutende Else mit fröhlichen Sprüngen und Schmeichelgebärden empfing, lag der Schnee mannshoch; im Walde konnte der Sturm nicht also sein Spiel mit ihm treiben; – in manchen Gründen war die Luft so still wie hinter einer hohen Mauer, und nur das Gebrüll zu Häupten und das Ächzen und Wiegen der Stämme war hier ein Zeichen, wie's von Wipfel zu Wipfel, von einer Höhe zur andern in die Ebene hinausfuhr. Die Kinder und die Irren hält Gottes Hand fest auf ihren Wegen – seinen Weg durch den verschneiten Wald konnte der Pfarrer von Wallrode nur durch ein Wunder finden. In seinem zerrütteten Gehirn war jetzt seltsamerweise nur alles liebliche Frühlings- und Sommerglück der letzten elf Jahre lebendig. Wo er brusttief in dem aufgehäuften Schnee versank, da hatte die kleine Else aus den Stengeln der gelben Butterblumen Ketten geschlungen und das uralte Kinderlied vom guten Bischof Buko von Halberstadt den Pastor von Wallrode gelehrt. Wo die große Eiche, die tausend Jahre lang allen Ungewittern trotzte, niedergebrochen war, hatte Else von der Tanne in jungfräulicher Schöne ruhig und still gestanden und dem fernen, fernen Rollen und Donnern in der Ebene gelauscht, wo die Schweden unter ihrem Generalleutnant Königsmark sich mit den Kaiserlichen jagten. Vor dem Eingange, der schwarzen Höhle, in welcher sich die Gemeinde, um der Wut des Feindes im Jahre sechzehnhundertneununddreißig zu entgehen, verborgen hatte, stand ein Wolf; aber er griff den irrenden Wanderer sowenig an, wie er die irre Justine angegriffen hatte; mit winselndem Geheul wich er in das Innere der Grube zurück. Als der Prediger in den Bezirk der hohen Tanne gelangte, hörte das Sausen und Brausen in den Lüften und Wipfeln plötzlich auf, und als Friedemann Leutenbacher das Licht der Hütte des Meisters Konrad durch die Stämme schimmern sah, endete auch der Schneefall, und es wurde nach all dem Aufruhr zwischen Himmel und Erde ganz still. Aber in dieser unerwarteten gespenstischen Pause fühlte der nächtliche Wanderer erst im vollsten Maße die übermenschlichen Anstrengungen und Mühen des zurückgelegten Pfades. Die Pulse klopften, die Knie und Hände erzitterten, mit einem tiefen Seufzer griff Friedemann Leutenbacher nach einem überhängenden Baumzweig, um sich aufrecht zu erhalten. Heiß und keuchend war sein Atem, seine Augen, von der Gewalt des Windes ausgetrocknet, brannten, rings um ihn her belebte sich die Schneedämmerung und die Finsternis des Forstes mit tausendfachen wirbelnden Gestalten seiner fiebernden Phantasie – er hätte in seiner Angst laut aufschreien mögen und vermochte doch keinen Laut hervorzubringen! Es war ihm, als kämpfe er noch immer gegen den Sturm und die Gefahren des Weges an, um das ruhige Licht in der Hütte zu erreichen; und es war ihm, als weiche dieses Licht immer weiter, weiter, weiter zurück; und es war ihm, als werde er ihm in alle Ewigkeit so zum Tode erschöpft und in solch namenloser Angst folgen müssen. Dieser Zustand währte wohl eine Viertelstunde lang; dann endete er, wie der Sturm geendet hatte. »Else von der Tanne stirbt! Else von der Tanne ist tot!« sagte der Prediger von Wallrode im Elend mit tonloser Stimme und schritt durch den Raum, der ihn Von der Hütte des Meisters Konrad trennte. Nur fußtief lag der Schnee hier zwischen den Stämmen, aber gegen die Hütte selbst war er in desto gewaltigeren Massen getrieben worden. Der Pfarrherr von Wallrode vermochte es kaum, sich einen Weg zu dem niedern, engen Fenster zu bahnen; endlich gelang es ihm doch, und er stand und blickte stier und starr in das Gemach, allein die Scheiben waren so sehr vom Frosthauch beschlagen, daß er nur unbestimmte Schatten sah; er mußte die mühevolle Arbeit von neuem beginnen, um zu der Tür der Hütte zu gelangen. Er pochte, doch zuerst regte sich nichts darinnen; er pochte zum zweiten Male, und dann hörte er den schweren Tritt des Magisters. »Wer ist da? Hierinnen ist der Tod – das Leben ist entwichen aus diesem Haus.« »Öffne, Vater«, sagte der Prediger von Wallrode. Der Meister Konradus schob den Riegel zurück, und Friedemann Leutenbacher trat in die Hütte; stumm wandte sich der Meister, und Friedemann stand vor der Leiche Elses von der Tanne. – – – – – Sie lag auf ihrem Lager wie eine Schlafende; der Vater hatte ihr bereits die Arme über der Brust ins Kreuz gelegt; sie schien zu lächeln, und die Ruhe des bleichen Gesichtes war mehr als jegliches Mienenspiel irdischen Behagens, irdischen Glückes. Das zahme Reh stand neben dem Bett und hatte seinen schlanken Hals, sein Köpfchen auf die Decke gelegt, die weiße Waldtaube, welche vor zwei Jahren aus dem Neste gefallen und von Else aufgezogen war, saß zu Häupten des Lagers auf dem Bettpfosten und sah auf die bleiche Herrin. »Um fünf Uhr, als der Sturm anhub, ist sie gestorben«, sagte der Vater. »Ich dachte nicht, daß es so bald sein würde; sie ist aber ohne Schmerzen fortgegangen, hat den großen Sturm nicht mehr erlebt; – – sie ist tot.« »Sie ist tot!« wiederholte Friedemann Leutenbacher, der Pfarrherr zu Wallrode im Elend, und kniete neben dem Lager nieder. Der Meister Konrad setzte die Lampe, welche er bis jetzt über das stille Haupt der Tochter hielt, auf den Schemel und stand in der Dämmerung am Fußende des Bettes, ohne sich zu regen. Ohne das Gesicht zu erheben, sprach der Prediger nach einer Weile: »Saget mir mehr von ihrem Abscheiden, Vater; als ich gestern abend Abschied nahm, sagte sie, sie würde leben, eine Stimme in ihrem Herzen habe es ihr versprochen.« Der Vater neigte das Haupt: »Sie lebt – die Stimme, welche sie vernahm, spricht keine Lügen. Sie lebt; wir aber sind tot und werden sie nimmer wiedersehen.« Ein Schauer lief über den Leib des Predigers; der Meister Konrad fuhr fort: »In der vergangenen Nacht litt sie große Schmerzen; ich hielt ihre Hand und wich nicht von ihr, bis zum Morgen. Als der Morgen kam, schlief sie ein und schlummerte wohl drei Stunden; dann erwachte sie, grüßte mich und wußte nichts mehr von den Qualen der Nacht. Sie sorgte um ihre Tiere Reh und Täublein, und sah sie neben ihrem Bett essen. Ich aber sah, daß sie kränker war denn je; sie selber wollte weder essen noch trinken, ihre Stimme war wie ein Hauch. Sie sprach von dem heiligen Feste und sorgte um Euere Predigt, so Ihr, Friedemann, dem armen Volke im Dorfe zur Weihnacht halten würdet. ›Er soll meiner nicht gedenken‹, sprach sie – ›die Liebe Gottes ist über allem; – er soll das Vergangene von sich werfen und soll der Kinder gedenken und zu den Alten reden wie zu den Kindern. Wir sind so glücklich, glücklich gewesen in ihrem Walde, und als sie die Steine auf uns warfen und mich trafen, wußten sie nicht, was sie taten. Er soll um meinetwillen den armen Leuten nicht länger zürnen‹, redete sie weiter, ›ich werde es gewißlich in meinem Herzen fühlen, wenn er morgen hart zu ihnen spricht.‹ – – Ich erinnerte sie an das Versprechen, so Ihr über dieses ihr gestern gegeben hattet, und sie lächelte und sagte, sie wisse es. Um Mittag kam die alte Justine, die seit dem Johannistage ihre Freundin ist, um sich an unserm Herde zu wärmen, und die blieb bei uns bis zu einbrechender Dämmerung. Da der Kranken Zustand nicht schlechter geworden zu sein schien, so war allmählich wieder Ruhe in meine Seele gekommen, und ich saß am Fenster und hatte Platonis hohes Buch ›Phädon‹ vor mir aufgeschlagen; die Sanduhr zeigte vier Uhr nach Mittage an. Da tat die Justine plötzlich einen Schrei und hob beide Arme, und ich war aufgesprungen und sah auf meine Tochter. ›Der Tod! Der grimme Tod!‹ schrie die Alte im Wahnsinn und stürzte aus der Hütt hinaus in den Wald und floh wie gejagt von tausend Larven und Schrecknissen; aber meinem Kind saß der Tod am Herzen. Heimtückisch war er herangeschlichen, und ich hatte es nicht gemerket. Sie lag mit offenen Augen und sah mich an, wie sie es noch nie getan hatte; – sie regte sich nicht, sie sprach nicht mehr; aber sie kannte mich und wollte mich durch ihre Augen trösten; – gegen fünf Uhr ist sie gestorben. Ich habe sie vergeblich in der Wildnis verborgen – weh, es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt – – um fünf Uhr ist sie gestorben, und der große Sturm erhob seine Stimme im Wald, sie aber hörte dieselbe nicht; – sie ist sicher und lebt; aber wehe uns!« Jetzt erhob der Prediger von Wallrode im Elend das Gesicht von der Leiche; er ließ die Hand auf den kalten Händen der toten Else liegen und rief: »Jawohl, wehe uns! Es ist geschehen – Gottes Wille ist vollbracht. Er hat seine Hand abgezogen von der Erde, er hat die Völker verstoßen und uns vernichtet; es ist keine Hoffnung und kein Licht mehr in der Welt und wird auch nimmer wiederkommen. Wir haben uns gesträubet gegen seine mächtige Hand und sind geschlichen wie Diebe in der Nacht mit unserm und der Erde letztem Schatz und Edelstein, ihn seinem Auge zu verbergen: Er aber hat uns aufgefunden, über uns gehauchet und uns geschlagen mit der Geißel des Zornes; er hat unser gelachet und gegriffen, was sein war. Wer will sich nun fürder wehren? Es ist nicht nütze und verlohnet der Mühe nicht! Lasset der Sünde und der Schande Strom schießen und brausen! – Wer will noch Dämme bauen gegen des Herrn Willen? Der Herr spottet der Erde, und seinem Lachen lauschet der Antichrist in der Tiefe, stehet und ruft den Seinen: Wacht auf, wachet auf, ihr Fürsten der Nacht! – Der Schein Gottes gehet aus der Welt; stehet zu den Riegeln, ihr Gewaltigen, die Pforten des Abgrundes aufzuwerfen – unser ist das Reich!« »Der Schein Gottes ist für uns aus der Welt gegangen – für uns ist das letzte Fünklein erloschen. Mein Kind lebt; aber wir, die wir Atem holen, liegen unter dem Fuße des Todes.« Friedemann Leutenbacher hatte sich von den Knien erhoben; noch einmal sah er die tote Else mit einem langen Blick an; dann schritt er aus der Hütte, und der Magister Konrad machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten; er fragte ihn nicht, wohin er gehe, er wußte es nicht, daß der Prediger von Wallrode ihn neben der Leiche der Tochter allein ließ. – Der Wind hatte seine Stimme wiederum erhoben; doch nicht so laut denn zuvor. Im Kreise schritt Friedemann Leutenbacher um die Hütte an der hohen Tanne, rang die Hände und rief den Namen: »Else! Else!« Ihm antwortete niemand, sogar den Widerhall schien der Schnee im Walde erstickt zu haben. Die Nacht war jetzt so dunkel wie jene andere furchtbare Nacht, deren Nahen der Prediger so wild in seinem Schmerz verkündet hatte. Das Licht in der Hütte war plötzlich verschwunden, sei s, daß die Lampe erlosch oder daß der Meister Konrad sie an eine andere, verborgenere Stelle gesetzt hatte; – Ehrn Friedemann Leutenbacher verlor sich in der Wildnis. Er wanderte und wußte nicht, wohin. Durch tiefen Schnee und über kahle Flächen, bergauf und -ab, weiter und immer weiter jagte ihn die unendliche Angst seiner Seele. Er fiel und richtete sich empor: er zerriß die Hände und die Gewänder und das Gesicht an den Dornen; er sank von neuem zu Boden und sagte abermals: »Er hat mich in Finsternis geleget, wie die Toten in der Welt.« Allmählich war es bitter kalt geworden, und nur noch einmal gelang es dem Unglücklichen, sich zu erheben und weiterzuschwanken. Ohne es zu wissen, stieg er immer mehr aus den Tälern empor, zu jener Höhe, von welcher man die weiteste Aussicht aus dem Walde in das Land hatte, von welcher er Elsen von der Tanne Städte und Dörfer, Fluß und Bach bis in die weiteste Ferne gedeutet hatte. Er hörte eine ferne Glocke, nannte den Namen eines Fleckens und strich mit der Hand über die Stirne und sagte, daß es Mitternacht sei. Er stand schaudernd in dem pfeifenden eisigen Winde und legte lauschend die Hand an das Ohr, wie jemand, der erwartet, daß man seinen Namen rufen werde. Nachdem er lange Zeit so gestanden hatte, schüttelte er das Haupt und sank in sich zusammen. Sein Kopf ruhte auf einem Felsstück, sein Leib streckte sich lang, seine Hände mit den blutroten Narben um die Gelenke kreuzten sich über der Brust – Friedemann Leutenbacher, der Prediger am Worte Gottes zu Wallrode im Elend, glaubte jetzt, er liege in seinem Sarge und der Deckel über ihm; während er aber dumpf darum grübelte, wie es komme, daß er noch von sich wisse und denke, entschlief er und ging in einem Traume fort, ging hinüber auf dem Wege, den Else von der Tanne gegangen war. Seine Wunden waren geheilt, seine Ketten abgefallen, die Mauern seines Gefängnisses waren gebrochen, und die Pforte war aufgerissen. Else von der Tanne hatte dem Prediger Friedemann Leutenbacher das Glück gebracht, als ihr Vater sie, ein hold klein Kindlein, auf dem Arm in den Wald trug, um sie vor der bösen Welt zu retten; Else von der Tanne hatte das Gluck Friedemann Leutenbachers nicht mit sich fortgenommen, als der Welt Elend und Jammer sie doch ausfand und ihr das Herz zerbrach; – Else von der Tanne führte die Seele des Predigers aus dem Elend mit sich fort in die ewige Ruhe. Ihnen beiden war das Beste gegeben, was Gott zu geben hatte in dieser Christnacht des Jahres eintausendsechshundertvierzigundacht. Der Magister Konradus hat sein Kind begraben mitten in der Wildnis, fern von den Menschen; des Predigers Leiche aber haben die Bauern am zweiten Weihnachtstage nach langem Suchen gefunden, sie aus dem wüsten Walde hinab ins Dorf getragen und sie neben der Kirche in die Erde gelegt. Der Meister Konrad hat den Winter durch noch in der Hütte gewohnt um des armen Rehes und der Taube willen; aber im Frühling, als die Tiere seiner nicht mehr bedurften und endlich jedermann wußte, daß der Friede geschlossen sei zu Osnabrück, ist er fortgegangen. Die alte, arme, irre Justine ist ihm am Bettelbrunnen begegnet, hat seinen Schatten vor ihm am Boden und einen schwarzen aufrechten Schatten ihm folgen sehen und gesagt, das letzte sei der Tod gewesen. Heute sind von dem Dorf Wallrode im Elend nur noch geringe Trümmer im Walde zu erblicken; es ist nicht auszusagen, nicht an den Fingern herzuzählen, was niederging durch diesen deutschen Krieg, welcher dreißig Jahre gedauert hat.