Erster Teil Innocens Am südlichen Ende Prags, auf einem gegen die Moldau felsig abstürzenden Hügel, erhebt sich ernst und düster die Wyschehrader Zitadelle. Es läßt sich im Umkreise einer großen, volkreichen Stadt nichts einsam Abgeschiedeneres denken als dieses alte, ziemlich ausgedehnte Fort. Denn die Besatzung beschränkt sich in Friedenszeiten auf eine Offizierswache von geringer Stärke, die nur den allernötigsten Sicherheitsdienst an den Toren und auf den Wällen versieht. Die Kasematten und Blockhäuser im Innern stehen leer und verödet, und die spärlich gefüllten Pulvermagazine scheinen wie die Belagerungsgeschütze nur da zu sein, um einem invaliden Unteroffizier der Artillerie zur Sinekure eines Zeugwartes zu verhelfen. Auch die Poststraße, welche durch die Zitadelle über den Rücken des Hügels nach Budweis führt, wird nur wenig benützt. Harmlose Spaziergänger nach dem nahen anmutigen Dorfe Podol, Landleute aus der Umgegend, welche Lebensmittel zum Prager Markt bringen, und hin und wieder ein bestäubter Wanderbursche sind fast die einzigen Passanten der Festungstore. So herrscht innerhalb der Wälle gewöhnlich die tiefste Stille, die nur selten durch das Rollen eines Wagens, regelmäßig aber am frühen Morgen, mittags und abends durch den Wachetambour mit rasselnden Trommelsignalen unterbrochen wird. Zumal im Winter ist es hier oben traurig und ausgestorben. Kalt und schneidend saust der Wind um die verlassene Höhe, und mißmutig, dicht in ihre Mäntel gehüllt, gehen die Schildwachen auf den eingeschneiten, von krächzenden Dohlen beflogenen Wällen auf und nieder Aber wenn der Schnee ins Schmelzen kommt und die Moldau unten wieder blau und schimmernd vorüberwallt, da entfaltet sich in dieser Abgeschiedenheit ein wunderbarer Lenz. Dichter, glänzender Graswuchs überkleidet alle Gräben und Böschungen, und um die eingesunkenen Kanonenlafetten sprießen Veilchen und Primeln. Immer bunter schmückt sich der Rasen, und manche Schießscharte wird durch einen wilden, in voller Blüte stehenden Rosenbusch verdeckt, den ein langjähriger Friede hart am Gemäuer wachsen ließ. Selbst aus den Kugelpyramiden, die der Zeugwart so zierlich zu errichten versteht, sprießt und blüht es: denn der Wind hat Erdreich und Samen in den Fugen abgelagert, und nun duften und schwanken über den furchtbaren Geschossen die blaßgelbe Reseda, der dunkelblaue Rittersporn und die rötliche, langgestielte Steinnelke. Bienen und gepanzerte Käfer summen und schwirren durch die heiße, zitternde Luft; zutraulich zwitschernd lassen sich Hänfling und Rotkehlchen auf die wuchtigen Feuerrohre nieder, und an den Mauerabhängen der Wälle klettert und sonnt sich die goldgrüne, funkelnde Eidechse. – In solcher Zeit war es, als ich einst in der Zitadelle die Wache bezog. Erst vor kurzem mit einem Regimente in Prag eingerückt und mit der Örtlichkeit nicht vertraut, betrat ich, neugierig und befangen zugleich, an der Spitze meiner Abteilung die weite schattige Torhalle, wo die Mannschaft der alten Wache bereits unter Gewehr stand. Ihr Kommandant, ein mir unbekannter Offizier von junkerhaftem Aussehen, kam, als die Förmlichkeiten der dienstlichen Begrüßung abgetan waren, nachlässig auf mich zugeschritten. »Oberleutnant Baron Hohenblum«, sagte er, den Schirm seines Tschakos flüchtig berührend. Er schien meinen Namen, den ich nun auch nannte, zu überhören und fuhr mit leichtem Gähnen fort: »Die vierundzwanzig Stunden werden einem rein zur Ewigkeit in dieser alten, unnützen Kanonenbewahranstalt. Es kann keine langweiligere Wache mehr geben.« Ich warf hin, daß man eben auf keiner besondere Unterhaltung fände. »Je nun, nach Umständen«, erwiderte er, indem er den feinen blonden Schnurrbart emporstrich. »Zum Beispiel die Hauptwache am Ring ist ganz amüsant. Man setzt sich mit seiner Zigarre vor die Tür und mustert die Vorübergehenden. Es gibt ganz nette Gesichter unter den hiesigen Mädchen. Auch fehlt es nicht an Besuch von Kameraden, und nach der Retraite wird gewöhnlich ein kleines Spiel arrangiert. Hier oben aber ist man von aller Welt abgeschnitten, wie auf einer wüsten Insel. Du hast es übrigens«, setzte er nach kurzem Besinnen hinzu, »doch etwas besser getroffen als ich. Denn morgen ist Sonntag, und da kommen wenigstens Leute in die Messe herauf –« »In die Messe? Ist denn hier eine Kirche?« fragte ich überrascht. »Allerdings. Etwa tausend Schritte von hier, gegen die Moldau zu«, sagte er, während ich unwillkürlich nach dem Innern des Forts blickte. Aber die Aussicht war durch eine nahe, ziemlich hohe Schanze benommen, hinter welcher nur die Wetterstangen und spitzen Bedachungen der Pulvermagazine hervorragten. »Um sie zu sehen«, fuhr der Baron fort, »müßtest du dort auf die Schanze hinauf. Dazu hast du später Muße genug. Ein kleiner Friedhof ist auch dabei, wo ich mich gleich würde begraben lassen, wenn ich beständig hier oben leben sollte, wie der Pfaff, der ganz allein in einer Art Kloster neben der Kirche wohnt. Ein seltsamer Kauz! Man muß lachen, wenn man ihn mit seinen langen Beinen und der schlenkernden Kutte, beständig ein Buch unter dem Arm, einhersteigen sieht. Dabei schaut er immer ins Blaue und tut, als bemerke er einen gar nicht, wenn man an ihm vorüberkommt.« »Ein so abgeschiedenes, stilles Leben mag auch seinen eigenen Reiz haben«, sagte ich nachdenklich, während wir in das düstere Offizierswachtzimmer traten, wo mich mein Vorgänger mit den üblichen Dienstvorschriften bekannt machte. Dann zog er sich den etwas zerknitterten Uniformrock an den Hüften glatt, schnallte die Feldbinde fester und reichte mir mit kühler Freundlichkeit die Hand zum Abschied. Ich verließ mit ihm das Zimmer und trat, während er flüchtig seine Leute musterte und unter lustigem Trommelschall abmarschierte, in die sonnige Stille hinaus, die über dem Fort lagerte. Als ich die Schanze erstiegen hatte, tat sich hinter den Pulvermagazinen ein freier Wiesengrund meinen Blicken auf. Dort erhob sich, ziemlich zurückgezogen, die Kirche, das blinkende Messingkreuz auf dem Giebel von weißen Tauben umflattert. Den Friedhof konnte ich nicht gewahr werden; er mußte durch das angrenzende Priesterhaus verdeckt sein, das ziemlich düster aus einer schattigen Lindenumpflanzung hervorsah. In einiger Entfernung schräg gegenüber stand ein niedriges Häuschen. Die gelb angestrichenen Türen und Fensterrahmen kennzeichneten es als militärisches Gebäude; im übrigen sah es ganz wie eine kleine Bauernwirtschaft aus. Schiebkarren, Hauen und Schaufeln lehnten in der Nähe einer Zisterne an der Mauer, und rückwärts war, kunstlos umzäunt, ein Gärtchen angelegt, in welchem rot und weiß die Apfelblüten schimmerten. Zwischen diesem Häuschen und der Kirche schlängelte sich ein breiter Fußpfad hin. Er schien zu den äußersten Werken des Forts zu führen, über welchen, verhüllend, tiefgelber Sonnenduft lag. Ich verließ die Schanze und ging dem Wiesengrunde zu. Als ich an dem kleinen Hause vorüberkam, stand ein junges Weib in der offenen Tür. Sie hielt ein Kind säugend an der Brust und sah einem kleinen, etwa sechsjährigen Mädchen zu, wie es draußen mit einem munteren Zicklein spielte, dessen Sprünge eine scharrende Hühnerfamilie in Angst und Verwirrung setzten. Bei dem Geräusch meiner Schritte blickte sie auf, und eine dunkle Röte schoß in ihr Antlitz. Dann wandte sie sich rasch und ging hinein, wobei sie mir eine reiche Fülle blonden Haares wies, das ihr in ungekünstelten Flechten weit über den Nacken hinabhing. Drüben um das Priesterhaus wehte eine melancholische Ruhe. Das Tor mit dem geistlichen Wappen darüber war zu, und man hätte das ziemlich weitläufige Gebäude für gänzlich unbewohnt gehalten, wären nicht einige Fenster im ersten Stockwerk offen und mit Blumentöpfen bestellt gewesen. Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geschlossen war, hatte ich den Friedhof voll schattender Weiden und Lebensbäume zur Seite. Die Hügel waren dicht gereiht, aber sorglich gehalten und auf das schönste bepflanzt. Da die Tür des Eisengitters halb offenstand, so trat ich in die duftige Kühle hinein und schritt langsam auf dem schmalen, mit feinem Sande bestreuten Wege zwischen den Gräbern hin. Ein einsamer Falter flatterte mir still über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inschriften und Namen auf den schlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Einfachheit besonders an. Es war ein kleiner Obelisk aus weißem Marmor und stand, etwas abseits von den übrigen, unter einer breitästigen Tränenweide. Die Inschrift war in römischen Lettern, deren Vergoldung schon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim, geb. 16ten Januar 1829, gest. 30ten Mai 1846. Vor diesem Grabe stand ich lange. Wer war dieses Mädchen, das der Tod so früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahrzehnt hier bestattet hatte? Lebte ihr Andenken fort im Herzen trauernder Eltern, im Geiste eines Mannes, dessen Jünglingsideal sie gewesen? Oder war sie verweht wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des rastlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen? Solche Gedanken und Empfindungen zitterten noch in mir nach, als ich schon wieder draußen auf dem Pfade hinschritt und mich einer Bastei näherte, die als äußerster Punkt des Forts in einem stumpfen Winkel gegen den Fluß zu aussprang. Still und verlassen lag sie da, fast ganz von Schleh- und Hagedorn überwuchert. Ein verfallenes Blockhaus erhob sich darin, an dessen rötlichgrauem Mauerwerk einige hohe Fliederbüsche in voller Blüte standen, was sich ebenso lieblich wie überraschend ausnahm. Selbst zwei verkrüppelte Obstbäume hatten sich in dieses entlegene Werk verirrt. Sie wurzelten dicht an der Brustwehr und streckten ihre knorrigen Äste über eine Kanone, die wie vergessen zwischen ihnen stand und die Mündung harmlos in die sonnige Gegend hinausrichtete. Tief unten, an den freundlichen Häusern von Podol und an den bröckelnden Mauerresten der Libussaburg vorüber, zog die Moldau schimmernd nach dem braunen, rauchaufwirbelnden Häusermeere der alten böhmischen Königsstadt. Von dort her grüßte mit funkelnden Zinnen der Hradschin, während stromaufwärts, über die ansteigenden, wohlbebauten Ufer hinweg, sich eine weite Landschaft auftat und endlich in dem fernen Dufte der Königsaaler Berge verschwamm. Ich war von dieser reizenden Einsamkeit zu sehr angemutet, als daß ich so bald daran gedacht hätte, sie wieder zu verlassen; ich sah mich vielmehr nach einer schattigen Stelle um, wo ich mich, bequem hingestreckt, ganz in den eigentümlichen Zauber des Ortes und der Fernsicht versenken konnte. Eine solche bot sich mir alsbald in der Nähe des Blockhauses dar, wo sich die Zweige zweier nachbarlicher Fliederbüsche zu einer Art Laube wölbten. Auch kam mir dort, als ich mich niederließ, eine muldenförmige Vertiefung im Erdreiche, welches mit kurzem, aber dichtem Grase bewachsen war, vortrefflich zustatten. So lag ich in der stillen Kühle, sog den Duft des Flieders ein und lauschte dem Zwitschern eines Vogels über meinem Haupte, als ich plötzlich in einiger Entfernung hinter mir nahende Schritte vernahm, und bald ging eine hohe Gestalt in geistlicher Ordenstracht, ohne mich zu bemerken, an mir vorüber. Es mußte, wie mein Vorgänger gesagt hatte, der Pfaffe sein, der neben der Kirche wohnte. Das waren ja die langen Beine und die schlenkernde Soutane, welche dem Baron so lächerlich erschienen; selbst das Buch unter dem Arme fehlte nicht. Der Priester war an die Brustwehr getreten. Dort nahm er es sein schwarzes Samtkäppchen ab; man wußte nicht, tat er es aus Andacht vor der Natur, in die er hinausblickte, oder um sein Haupt der Luft preiszugeben, die über die Bastei strich und mit seinen leicht ergrauten Haaren spielte. Nach einer Weile wandte er sich und schlug die Richtung gegen das Blockhaus ein. Er schien mich noch immer nicht zu bemerken, obgleich er gerade auf die Stelle losging, wo ich lag. Ich erinnerte mich unwillkürlich an die Äußerung des Barons, daß der Priester beständig ins Blaue sähe, obgleich er gegenwärtig mehr in sich hineinzublicken schien. Endlich gewahrte er mich. Er schrak leicht zusammen, und eine feine Röte flog über sein schmales, blasses Gesicht. Aber diese Verwirrung dauerte nur einen Augenblick. Gleichgültig, ohne mich nur mit einem Blicke zu streifen, ging er an mir vorüber, brach sich ein Zweiglein von dem Flieder und verließ, still wie er gekommen, die Bastei. Mich aber überkam jetzt eine eigentümliche Unruhe. Es war mir, als hätte ich den Priester durch meine Anwesenheit von hier vertrieben. Er pflegte gewiß täglich um diese Zeit einige Stunden lesend in der Fliederlaube zuzubringen; deshalb war er auch so unbekümmert und in sich versunken darauf zugegangen. Und nun nahm ich den traulichen Platz ein, der ihm schon aus Gewohnheit lieb sein mußte. Mit einem Male erschien mir auch alles Bequeme daran, das ich früher für ein Zusammentreffen günstiger Umstände gehalten hatte, als ein Werk anordnender Absichtlichkeit. Die Laube, das sah man, war durch Beschneiden der Zweige hergestellt, und der Rasensitz wäre ohne Nachhilfe eines Spatens gewiß nicht zustande gekommen. Rasch sprang ich auf. Der Pater konnte noch nicht weit sein; ich wollte ihn einholen, auf daß er sähe, er könne ungestört wieder nach der Bastei zurückkehren. Bald gewahrte ich ihn auch in einiger Entfernung von mir auf dem Pfade hinschreiten. Ich fürchtete, er würde, eh' er mich noch bemerken konnte, sein Haus erreichen, und verdoppelte meine Schritte. Da kam von drüben das kleine Mädchen mit freudigen Gebärden auf ihn zugelaufen. Er ging dem Kinde entgegen, beugte sich zu ihm nieder und küßte es auf die Stirn. Hierauf ließ er sich von der Kleinen zur Mutter führen, die ihm von der Schwelle aus entgegenkam. Ihr folgte ein Mann, der eben noch im Gärtchen mußte gearbeitet haben, denn er hatte eine Haue in der Hand, auf welche er sich, wie es schien, mehr aus Bedürfnis als aus Bequemlichkeit, im Gehen stützte. Drei weiße Tuchsternchen auf den roten Kragenvorstößen einer leinenen, über der Brust offenen Militärjacke ließen in ihm den Zeugwart erkennen, mit welcher Eigenschaft seine noch jugendlich kräftige Gestalt einigermaßen im Widerspruche stand. Als ich näher kam, gewahrte ich in seinem Antlitz eine tiefe Narbe, die von einem Säbelhiebe herrühren mochte und sich von der Schläfe bis zum Kinn erstreckte. Der Pater sprach freundlich mit den Leuten und reichte dem Jüngsten auf dem Arme der Mutter, da es mit den kleinen Händchen begehrlich danach langte, die duftige Fliederblüte. Er wandte sich nicht um, als ich vorüberging und der Zeugwart, militärisch grüßend, die Hand an die Mütze brachte. Es kostete mich einige Überwindung, wieder in das unerquickliche Wachzimmer zurückzukehren. Dort ließ ich mich auf das alte, harte Ledersofa nieder und nahm ein Buch zur Hand. Aber meine Gedanken wollten nicht an den Zeilen haften; denn die Eindrücke, die ich auf meiner kleinen Wanderung empfangen, wirkten zu mächtig in mir nach. Vor allem war es das Wesen des Paters, das mich mit tiefer, geheimnisvoller Macht anzog. Wie glücklich erschien mir sein stilles Dasein auf diesem wallumschlossenen Fleck Erde. Abgeschieden von dem Treiben der Welt, konnte er hier ganz sich selbst angehören und war nur den milden Pflichten seines Standes untertänig, die ihm nichts auferlegten, was er nicht gerne erfüllte, die ihm nichts verwehrten, was er, das sah man ihm an, nicht freudig entbehrte. Und die Menschen in dem kleinen Hause! Welch ein reizendes Gegenbild boten sie dar in ihrem heiteren Familienglücke! Dann aber dachte ich wieder an den weißen Obelisk auf dem Friedhof und murmelte unwillkürlich den Namen der Toten vor mich hin. Über solchem Denken und Sinnen war der Abend hereingebrochen. Bald erklang draußen der Zapfenstreich, und die wuchtigen Festungstore fielen mit dumpfem Gepolter ins Schloß. Ich aber ging noch einmal auf die Schanze hinaus. Dort stand ich, während die Sterne auf den tiefen Frieden niederfunkelten, der sich über das Fort breitete, und hier und dort, bald näher, bald entfernter, in den dunklen Büschen eine Nachtigall schlug. – Es war noch ziemlich früh am andern Vormittage, als schon eine Schar Landleute im Sonntagsstaat durch das südliche Tor der Zitadelle gegen die Kirche strömte. Nach und nach erschienen Andächtige aus den nächsten Stadtteilen; meist gesetzte Männer und Frauen, in reinlicher, altbürgerlicher Kleidung. Aber auch schmucke Mädchengestalten waren darunter, deren rosige Gesichter in der heitersten Feiertagsstimmung erglänzten. So bewegte sich, während von der Kirche aus schon versprengte Orgeltöne durch die Luft irrten, eine bunte Menge in den Räumen des Forts, was ihm einen fremdartigen, feierlichen Anstrich gab. Das Verlangen, den Pater in der Ausübung seines Amtes wiederzusehen, trieb mich auch der Kirche zu. Als ich eintrat, verstummte eben die Orgel, die einen Choral begleitet hatte. Alle Anwesenden wandten jetzt ihre Blicke nach der Kanzel, wo der Prediger erscheinen sollte. Ich betrachtete unterdessen den Bau und seine freundliche Ausschmückung, die sich durch geschmackvolle Einfachheit wohltuend von dem üblichen schwerfälligen Prunk und Aufputz unterschied. Als ich wieder nach der Kanzel sah, stand der Priester schon oben. Sein Auge begegnete dem meinen und blieb eine Zeitlang auf mir ruhen, so daß ich fast errötend den Blick senkte. Jetzt schlug er das Buch auf, das er in der Hand hatte, und begann das Evangelium zu lesen. Bei den ersten Worten, die ich vernahm, war ich enttäuscht; er las in tschechischer Sprache. Ich hatte ganz vergessen, daß ich mich in Prag befand, und den vertrauten Klang der Muttersprache von ihm zu hören erwartet. Bald aber versöhnte mich der Wohllaut seiner Stimme mit dem fremden Idiom, so daß ich seinem Vortrage, obgleich ich nichts davon verstand, mit regem Interesse folgte. Er begann, als er zur Predigt selbst überging, ruhig und ganz ohne alles Pathos, das die meisten Prediger so unleidlich macht; es war, als spräche er in vernünftig belehrendem Tone zu Kindern. Nach und nach wurde er wärmer. Ohne daß er dabei nach Schauspielerart mit den Händen in der Luft gefochten hätte, schwoll seine Stimme zu einer mächtigen Fülle an und ging endlich, während er sich liebreich zu den Hörern hinabneigte, in den tiefen, zitternden Ton einer wehmütigen Klage über. Es mußten erschütternde Worte gewesen sein, denn ich sah in mehr als einem Auge Tränen, und als er jetzt schwieg, schimmerte auch seines in feuchtem Glanze. Ich selbst war bewegt, wie von den Klängen einer rätselhaften Musik. Nach dem üblichen kurzen Gebete verließ er die Kanzel. Die Orgel ertönte wieder, und kurz darauf trat er im Meßgewande an den Hochaltar, wo schon früher ein alter, weißhaariger Kirchendiener die Lichter angezündet hatte. Nach beendetem Gottesdienste strömten die Andächtigen aus der Kirche, und bald herrschte im Fort wieder die gewohnte Einsamkeit und Stille. Als ich später abgelöst wurde und mich wieder den menschenvollen Gassen der Hauptstadt näherte, war es mir, als kehrte ich aus einem reineren Elemente zu dem ganzen beengenden Qualm und Dunst der Erde zurück. Einige Zeit darauf ersuchte mich ein befreundeter Offizier, für ihn die Wache auf dem Wyschehrad zu beziehen. Er wollte ein Fest, zu dem er geladen war, nicht gerne versäumen und versprach, den Dienst in meiner Tour nachzutragen. Ich enthob ihn dieser Verpflichtung und sagte zu. Es heimelte mich wohltuend an, als ich mich wieder innerhalb der Wälle befand. Während der ersten schwülen Nachmittagsstunden verblieb ich im Wachtzimmer; dann aber nahm ich ein Buch und ging ins Freie. Die heißen Strahlen der Julisonne hatten das schwellende Grün der Schanzen schon etwas ausgetrocknet, und der würzige Geruch des Thymians, der überall in dichten Büscheln wucherte, schwamm in der Luft. Ohne es eigentlich zu wollen, schritt ich der Bastei zu. Etwas in meinem Innern sagte mir, ich würde jetzt den Pater dort treffen, und der Wunsch, mit diesem eigentümlichen Manne bekannt zu werden, überwand in mir nach und nach die Bedenklichkeit, ihm durch mein Erscheinen eine unwillkommene Störung zu bereiten. Ich nahm mir sogar vor, ihn zu grüßen, eine Höflichkeitsbezeigung, die, seinem Stande gegenüber, eben nichts Befremdendes oder Auffallendes haben konnte. Vielleicht erwiderte er meinen Gruß mit einigen freundlichen Worten, und der erste Schritt zur gegenseitigen Annäherung war getan. Mein Herz schlug erwartungsvoll, als ich die Bastei betrat. Ich hatte mich nicht getäuscht: Dort lag er, in ein Buch vertieft, unter den abgeblühten Fliederbüschen. Nun aber überkam mich eine Art Blödigkeit, jener eines Verliebten nicht unähnlich, der, mit dem festen Vorsatze, sich heute oder nie mehr zu erklären, scheu und verwirrt an dem Gegenstande seiner Sehnsucht vorüberschleicht. Ich trat unwillkürlich so leise auf, daß mich der Priester gar nicht hören konnte, und als er jetzt doch aufsah und mich, wie es schien, mit wohlwollender Überraschung betrachtete, hatte ich schon den rechten Moment, ihn zu grüßen, versäumt. Ich trat an die Brustwehr, um meine Verlegenheit hinter dem Bewundern der Aussicht zu verbergen. Als ich so dastand, wurde es mir immer klarer, wie wenig es mir ziemen mochte, meine Person dem stillen, in sich abgeschlossenen Manne aufzudrängen, und mit dem beschämenden Gefühle, bald eine Taktlosigkeit begangen zu haben, schickte ich mich wieder zum Fortgehen an. Da hörte ich mich plötzlich von dem Pater im reinsten, nur etwas hart klingenden Deutsch angesprochen. »Herr Offizier,« sagte er, indem er aufstand, »beliebt es Ihnen nicht, den Platz hier im Schatten einzunehmen? Die Sonne verweilt bis zum Untergange über diesem Teil des Forts; Sie würden nirgends eine Stelle finden, die Ihnen, gleich dieser, den behaglichen Genuß der Aussicht auf die Dauer gestattet.« »Sie sind sehr gütig, geistlicher Herr,« erwiderte ich, noch immer befangen, »daß Sie meinetwegen auf diesen Genuß verzichten wollen.« »Er steht mir ja jederzeit zu Gebote. Ein um so größeres Vergnügen muß es für mich sein, jemandem, der sich, wie ich schon unlängst zu bemerken Gelegenheit hatte, in dieser Einsamkeit wohl fühlt, mein gewöhnliches Leseplätzchen überlassen zu können.« »Von welchem ich Sie schon damals, freilich, ohne es zu wollen, vertrieben habe«, sagte ich, sehr erfreut, daß er sich meiner erinnerte. »Oder ich Sie«, entgegnete er lächelnd. »Sie sind ja gleich nach mir weggegangen.« »Um Ihnen zu zeigen, daß ich meinen Mißgriff eingesehen.« »Ich weiß es; und Sie haben mir Ihres Zartgefühles wegen herzlich leid getan. Aber ich denke, wir sollten uns nicht länger mit der Erörterung mühen, wer von uns beiden eigentlich den andern aus dieser Laube vertrieben, sondern uns vielmehr einträchtig in der unschuldigen Urheberin unseres kleinen freundschaftlichen Streites niederlassen, die wohl Raum genug dazu bietet. Zwei Lesende«, setzte er mit einem Blicke auf das Buch unter meinem Arme hinzu, »vertragen sich ja leicht und stören einander nicht.« Mit einer Handbewegung, die mich zu folgen einlud, lagerte er sich wieder in den Schatten und nahm sein Buch vor. Ich tat ein Gleiches; aber mein Blick schweifte beständig über die Seiten nach meinem Nachbar hinüber, in dessen Gesichtsbildung etwas wunderbar Anziehendes lag. Die Stirn war gerade nicht hoch zu nennen, trat jedoch frei und schön gewölbt aus den Haaren hervor. Um den etwas großen, leicht eingekniffenen Mund lag ein feiner Schmerzenszug, der eigentümlich von der milden Heiterkeit der graublauen Augen abstach. Mit Ausnahme einer tiefen Furche zwischen den Brauen war noch keine Falte in diesem edlen Antlitze zu sehen, das den Pater bei näherer Betrachtung jünger erscheinen ließ, als man sonst denken mochte. Er konnte das vierzigste Lebensjahr noch nicht lange überschritten haben. Es war, als ob auch sein Auge von einem gleichen Beobachtungsdrange gelenkt würde; denn plötzlich begegneten sich unsere Blicke. »Wir stören uns doch«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. »Es ist aber auch unverantwortlich, daß wir uns an das gedruckte Wort halten und das lebendige, das uns doch eigentlich zunächst geboten ist, verschmähen.« Dabei klappte er sein Buch zu und legte es neben sich hin. Mein Blick streifte den Titel auf dem Umschlage; es war eine zu jener Zeit vielerwähnte materialistische Schrift. Er mußte in meinen Zügen ein gewisses Befremden darüber wahrnehmen, denn er fragte: »Kennen Sie dieses Buch?« Ich bejahte es. »Und Sie scheinen sich zu wundern, daß ich es lese«, fuhr er fort. »Es mag sich allerdings etwas seltsam bei mir ausnehmen; man müßte denn voraussetzen, daß ich es mit dem empörten Feuereifer eines Inquisitors durchstöbere. Ich gestehe, dies ist nicht der Fall. Ich bin vielmehr dieser Schrift bis jetzt mit vielem Vergnügen gefolgt; denn ich interessiere mich für jede wissenschaftliche Leistung, weicht sie auch noch so sehr von meinen eigenen Ansichten und Überzeugungen ab. Ich habe seit jeher dem Satze gehuldigt: Prüfe alles und behalte von jedem das Beste.« »Und hiezu,« sagte ich, von dem warmen und dabei schlichten Ton seiner Worte hingerissen, »hiezu ist auch die glückliche Einsamkeit, in der Sie leben, wie geschaffen. Hier ist es Ihnen vergönnt, in erhabener Ruhe an alles, was im Lärm des Tages hervorgebracht wird und daher fast ohne Ausnahme mehr oder minder von Parteileidenschaften gefärbt und verfälscht ist, den Prüfstein des reinen Erkennens zu legen und so recht eigentlich die Spreu vom Weizen zu sondern.« Er sah mich etwas überrascht an. »Nun, dieser Vorzug erscheint mir denn doch kein so besonderer und wünschenswerter. Er ist das gewöhnliche Attribut müßiger Beschaulichkeit.« »Deren Sie sich doch nicht selbst anklagen werden?« rief ich aus. »Muß es denn nicht jeder, dessen Leben ohne bestimmtes, in irgendeiner Richtung förderliches Wirken oder Hervorbringen verläuft?« fragte er ruhig. »Wirken Sie denn nicht, indem Sie die Pflichten Ihres Amtes erfüllen?« »Ich bin nichts als eine Art Guardian unserer Kirche auf dem Wyschehrad, und meines Amtes ist, jeden Sonntag eine Messe zu lesen – und dann und wann einen Toten zu begraben.« »Und Betrübte aufzurichten, Verirrte zu ermahnen und Schuldige zu bessern«, setzte ich hinzu. »Ich wollte, daß ich es könnte«, sagte er still vor sich hin. »Sie haben keinen Grund, daran zu zweifeln«, versetzte ich warm. »Ich habe letzthin nur zu gut wahrgenommen, wie sehr Ihre Predigten die Zuhörer ergreifen.« »Auf wie lange? Die Luft vor der Kirche bläst wieder alles weg. Und so kommt jeder am nächsten Sonntage ganz als derselbe herauf, der er vor acht Tagen gewesen. Es ist dies auch natürlich, denn was sollen Worte dort ausrichten, wo nur ein tätiges, liebevolles Eingreifen in die Verhältnisse des einzelnen Hilfe und somit Trost bringen könnte. Ich habe, solange ich Priester bin, bloß ein einziges Mal jemand durch meine Worte wahrhaft getröstet, und auch das nur, weil ein eigentümlicher Zufall dabei im Spiele war. Und dann,« setzte er rasch, wie um eine Erinnerung zu verdrängen, hinzu, »was vermögen leere Ermahnungen gegen den nun einmal in jeder Menschenbrust wurzelnden Hang zum Bösen! Man sollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht bloß weisen, sondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die wahre Aufgabe des Priesters. Wie soll er aber dieser Aufgabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion fast ganz zu einer politischen Formel herabgesunken ist, wo ihre Vertreter in hartnäckiger Abgeschlossenheit einen Staat im Staate bilden. Einen wahrhaft segensreichen Wirkungskreis kann der Priester nur unter patriarchalischen Zuständen gewinnen. So kommt es, daß noch hier und dort auf dem Lande sich der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten nennen kann. Die Verhältnisse der Gemeindemitglieder liegen offen vor ihm da; er hat es nicht erst nötig, auf eine zweideutige Art in sie eindringen zu müssen. Er ist in der Lage, nach und nach jeden einzelnen mit seinen Vorzügen und Fehlern kennenzulernen. Wie leicht wird es da einem einsichtsvollen, von wahrer Menschenliebe beseelten Manne – einem anderen würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten, Unheil zu stiften –, durch milde Werktätigkeit und durch die Macht des Beispieles tröstend, helfend, belehrend und anregend aufzutreten und so das Wort Gottes nicht bloß zu predigen, sondern auch vorzuleben. Mir fällt bei dieser Gelegenheit der ehemalige Pfarrer meines heimatlichen Dorfes ein. Es war ein Mann von energischem, fast strengem, aber keineswegs bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte er nur wenig in den Kirchenvätern gelesen: aber er hielt oft über einem Glase Wein den Bauern in der Schenke eindringlichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel gesprochen wurden. Rechtshändel und Streitigkeiten ließ er selten vor die Gerichte kommen, sondern schlichtete das meiste selbst auf eine verständige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er mit eigenen Händen und war immer der erste bei der Arbeit; denn er wußte, daß die Menschen eine Ermahnung dazu nicht gerne von einem annehmen, der selbst müßig geht. Oft erschien er unvermutet in der Schule, unterbrach den Vortrag des Lehrers und stellte einige Fragen an die Kinder. War er mit dem Examen zufrieden, so holte er Äpfel und Nüsse aus der Tasche seiner groben, abgenützten Soutane hervor, beschenkte die Kleinen damit und ließ sie vor der Zeit auf den Spielplatz hinaus. Dort sah er ihnen eine Weile zu und erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er sich selbst anordnend und belebend ins Spiel mischte. So war er bei alt und jung beliebt, ein wahrer Vater seiner Gemeinde, die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, sondern als den besten und weisesten Menschen in ihrer Mitte verehrte. – Wie ganz anders, wie vereinsamt nimmt sich dagegen der Priester in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebildeten ob seiner falschen Stellung bemitleidet, von den sogenannten Aufgeklärten als Heuchler verschrien und an seinen menschlichen Schwächen und Fehlern schonungslos kontrolliert, erscheint er der Mehrzahl der Bevölkerung nur als der zufällige Träger eines gedankenlos überkommenen und ausgeübten Kultus.« Ich glaubte zu träumen. Diese Worte klangen so außerordentlich, so überraschend aus dem Munde eines katholischen Priesters, waren in einem so ruhigen Tone tiefer, im Innersten wurzelnder Überzeugung gesprochen, daß ich in schweigende Bewunderung versank. So trat eine Pause ein, während welcher wir beide nach der Sonne blickten, die uns gegenüber, in einem Meere von Glanz schwimmend, langsam hinter den Höhen hinabtauchte. »Ich denke, wir gehen, eh' es völlig Nacht wird«, sagte endlich der Pater. Wir erhoben uns und schritten still nebeneinander hin. Als wir uns der Kirche näherten, suchten meine Augen unwillkürlich den weißen Obelisk im Dämmerdunkel des Friedhofes. Dabei erwähnte ich des tiefen Eindruckes, den dieser Grabstein letzthin in mir hervorgebracht. Etwas wie der Schatten einer Erinnerung legte sich über das Antlitz meines Begleiters; und als ich fragte, ob er mir vielleicht Näheres über die Tote mitteilen könnte, sagte er, indem er gedankenvoll vor sich hinsah: »Sie war das einzige Kind eines reichen Großhändlers und die erste Leiche, die ich hier oben bestattete.« Wir waren mittlerweile vor dem Pfarrhause angelangt. Drüben saß der Zeugwart zwischen Weib und Kind vor der Tür und rauchte seine Abendpfeife. »Ich bin daheim«, sagte der Pater. »Wenn es Ihnen gefällt, bei mir einzutreten, so sind Sie herzlich willkommen.« Da ich mich verbindlich verneigte, öffnete er das Tor und führte mich über den einsamen Flur eine breite, dunkelnde Treppe hinan. Oben schloß er eine von den Türen auf, die in einer Reihe den Korridor hinliefen, und ließ mich in ein ziemlich weitläufiges Gemach treten. »Nehmen Sie indessen nur hier Platz«, sagte er und wies auf ein bequemes Sofa. »Ich werde sogleich Licht machen.« Während er an einer großen Kugellampe hantierte, sah ich im dämmerigen Raume umher. Die Wände waren zum Teil von oben bis unten durch dichtbestellte Bücherrepositorien verdeckt; dazwischen erhoben sich hohe Glasschränke, welche naturwissenschaftliche Sammlungen zu enthalten schienen. Auf einem geräumigen Tische in der Nähe der Fenster standen und lagen chemische und physikalische Instrumente umher; ein zweiter Tisch war ganz mit Papieren und Schriften bedeckt. Trotzdem wehte mir von allen Seiten wohnliches Behagen entgegen und gab sich, als jetzt das milde Lampenlicht das weite Gemach durchflutete, immer deutlicher kund. Die Fenstergardinen, hinter welchen das dunkle Grün tropischer Gewächse hervorlugte, waren von tadelloser Frische, und an den Büchereinbänden sowie auf dem krausgeformten und wunderlich blinkenden Gläserwerk war kein Stäubchen zu sehen. An der rückwärtigen Wand gewahrte ich ein großes, wohlgebautes Harmonium; eine Kopie der Sixtinischen Madonna, in Kupfer gestochen, hing, schlicht eingerahmt, darüber. Der Pater versah die Lampe mit einem Schirm, stellte sie auf den Tisch vor dem Sofa und ließ sich neben mir nieder. »Es ist eigentümlich,« begann er, »wie sich Menschen, die unter ganz verschiedenartigen Verhältnissen leben, manchmal rasch und unvermutet zusammenfinden. Wie hätt' ich mir's jemals träumen lassen, einen jungen Offizier in meiner Behausung zu empfangen.« »Auch ich hatte nicht gehofft, als ich das erstemal an diesen Mauem vorüberging, daß ich mir so bald das Wohlwollen des Mannes erwerben würde, der hier seine Tage, wie ich jetzt sehe, in nichts weniger als müßiger Beschaulichkeit verbringt.« »Also in müßiger Tätigkeit, wenn Sie schon nicht anders wollen«, sagte er lächelnd. »Ich treibe zu meinem Vergnügen etwas Naturwissenschaften, das ist das Ganze.« »Je nun,« erwiderte ich, »wer weiß, ob Ihre Studien nicht einem ernsteren Antriebe entspringen, als Sie selbst gestehen wollen. In den Heften und Konvoluten dort«, fuhr ich mit einem Blicke nach dem Schreibtische fort, »scheint bereits manches Ergebnis einer tieferen Forschung niedergelegt zu sein.« »Es sind bloße Exzerpte«, sagte er hastig, indem er leicht errötete. »Aufzeichnungen, wichtig für mich, unbedeutend für andere. Ich fühle mich nicht berufen, die Wissenschaft durch Entdeckungen zu bereichern oder auch nur die Zahl der schwebenden Hypothesen durch Aufstellung einer neuen zu vermehren. Ich bin, wie gesagt, ein bloßer Dilettant. Ich nehme Pflanzen in meine Herbarien auf, nach denen sich ein anderer schwerlich mehr bücken möchte, und ergötze mich an Experimenten, die jeder Quartaner als längst abgetanen Schulkram verächtlich belächeln würde. Die mikroskopische Untersuchung des Wassers, das einer ins Glas gestellten harmlosen Blume einen Tag lang das Leben gefristet, erfüllt mich mit derselben Forscherfreudigkeit und wissenschaftlichen Überraschung, mit welcher irgendein berühmter Mann die Infusorienwelt des Stillen Ozeans ergründet; und wenn ich zuweilen, mit Hammer und Botanisierkapsel ausgerüstet, einen Ausflug längs der Flußufer oder nach den umliegenden Höhen unternehme, so ist nur dabei zumute, wie es Humboldt gewesen sein mußte, als er das Gebiet des Orinoco durchstreifte und die Kordilleren bestieg. Und so wird mir das Stückchen Natur um mich her zum Teiche Bethesda, in dem ich die Seele bade und erfrische, um sie vor den Einflüssen der Langeweile zu schützen, die sonst unfehlbar mein Leben beschleichen müßte.« »Was um so weniger der Fall sein wird, als Sie, wie ich sehe, noch ein zweites Gegenmittel in Bereitschaft haben.« »Ja,« sagte er, »mein Harmonium.« Ich hatte dieses Instrument noch nie spielen hören, und bemerkte das dem Priester. »Ich selbst besitze es noch nicht lange«, erwiderte er, indem er den Schirm auf der einen Seite emporschob, so daß der volle Lichtstrom gegen die Wand fiel. »Ich pflegte früher die Orgel zu spielen. Da ich aber dazu immer erst in die Kirche gehen und die Hilfe eines Zweiten in Anspruch nehmen mußte, so schaffte ich mir endlich dieses Instrument an, das in Hinsicht auf Konstruktion und Klang der Orgel am nächsten kommt und dabei eine größere Bequemlichkeit gestattet.« Ich hatte inzwischen unverwandt nach dem Bilde gesehen, dessen ewig neuen Zauber ich hier wieder auf das tiefste empfand. Und je länger ich das Antlitz der Gottesmutter betrachtete, die mit ihren großen, unergründlichen Augen wie verwundert auf den Faustischen Apparat im Zimmer zu blicken schien, je mehr fiel mir die Ähnlichkeit desselben mit dem einer Person auf, deren ich mich aber, wie dies oft der Fall zu sein pflegt, nicht gleich entsinnen konnte. Der Priester war aufgestanden, hatte sich an das Harmonium gesetzt und legte die Spitzen seiner langen weißen Finger auf die Tasten. »Nicht wahr, ein wunderbares Bild?« sagte er. »Man kann sich nicht satt schauen daran. Das kommt aber daher, weil man seine eigentliche Schönheit mit den Blicken gleichsam erst aus der Tiefe an die Oberfläche saugen muß. Beim ersten Hinsehen erscheint es fast leer und läßt kalt. Solchen, die kein geistiges Auge besitzen, wird es niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das Original vor mir haben können.« »Der Ausdruck im Gesichte der Madonna ist ganz einzig«, erwiderte ich nachdenklich. »Und doch findet man zuweilen Köpfe, besonders bei Frauen im Volke, die mehr oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich so sagen darf, rührend unfertigen Zug aufweisen, der uns hier so sehr entzückt. So ist es mir, als hätte ich erst unlängst ein derartiges Gesicht gesehen; ich weiß nur nicht wo.« »Ich weiß es«, sagte er. »Hier in der Zitadelle.« Nun war ich darauf gebracht. »Richtig!« rief ich aus. »An das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild gemahnt.« »Es freut mich, durch Sie meine eigene Ansicht bestätigt zu finden, die vielleicht eine rein subjektive hätte sein können. Denn im Grunde genommen sind die Züge doch ganz verschieden, und die Ähnlichkeit liegt wohl nur in dem eigentümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis dessen, daß der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, anfangs auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Weibe finden wollte, und erst nach und nach, und das nur, wie es mir schien, mehr aus pflichtschuldiger Höflichkeit als aus Überzeugung, mit einstimmte.« Er hatte schon während dieser letzten Worte zu spielen begonnen. Es waren zuerst leise Töne, die er anschlug; aber immer voller, immer mächtiger rauschten sie unter seinen Händen auf. Er schien kein bestimmtes Musikstück vorzutragen, sondern ganz einer inneren Eingebung zu folgen. Sein Haupt war leicht zurückgebogen, der Blick halb durch die gesenkte Wimper verschleiert; auf seiner blassen Stirn lag der Reflex des Lampenlichtes wie ein Glorienschein. In tiefes Lauschen versunken, saß ich da. Von draußen drang der Duft der Lindenblüten ins Gemach herein und quoll mit den feierlichen Schwingungen der Töne zusammen. Als jetzt der Pater mit einer lang nachhallenden Kadenz schloß, machte ich meinen Gefühlen in den Worten Luft: »Wahrlich, Sie sind beneidenswert! Welch ein herrliches, reiches Dasein führen Sie in Ihrer Abgeschiedenheit. Gestehen Sie,« fuhr ich, mich erhebend, fort, »daß Sie glücklich sind, so glücklich, als nur irgendeine begnügte Menschenseele sein kann!« »Ja,« sagte er, indem er gleichfalls aufstand und mich mit leuchtenden Augen ansah, »ich bin glücklich. Aber auch ich war es nicht jederzeit. Denn das Kleid, das ich trage, ist kein dreifaches Erz und wappnet die Brust nicht immer gegen die Gewalten des Lebens. Wenn wir, wie ich hoffe, näher miteinander bekannt werden,« setzte er hinzu, da er sah, daß ich mich zum Fortgehen anschickte, »so will ich Ihnen einmal bei Gelegenheit etwas aus früheren Tagen erzählen, zum Beweise, daß auch mein stilles, unbeachtetes Dasein nicht ganz ohne Prüfungen, ohne Kampf und Qual gewesen.« Er geleitete mich zum Tor hinab. »Leben Sie wohl,« sagte er, »auf Wiedersehen!« So entspann sich zwischen mir und dem Pater eine jener Freundschaften, wie sie zuweilen unter Männern von ungleichem Alter vorkommen und welche dann mit zu den edelsten Verhältnissen gehören, in denen ein Mensch zum andern stehen kann. In gewöhnlichen Lebensbeziehungen durch die Verschiedenheit des Standes auseinandergehalten, wurden wir desto fester durch das geistige Interesse, das wir einander fanden, verbunden. Ich besuchte ihn nun wöchentlich in seiner einsamen Stube, wo wir den Nachmittag unter anregenden Gesprächen, noch öfter aber über seinen Büchern und Sammlungen oder am Experimentiertische zubrachten; denn er hatte es unternommen, mich in die Naturwissenschaften, darin er ebenso tiefe als ausgebreitete Kenntnisse besaß, einzuführen. Gegen Abend gingen wir gewöhnlich auf eine Stunde ins Freie und nahmen dann ein bescheidenes Mahl ein, das uns der alte Kirchendiener nebst einem Kruge leichten Landbieres oder eine Flasche Melniker auftrug. Der Pater machte dabei mit geräuschloser Zuvorkommenheit den Wirt; ihm selbst merkte man es beinahe nicht an, daß er aß oder trank, so flüchtig weg, so ganz ohne alles Behagen tat er es. Trotz des vertrauten Umganges wurden persönliche Angelegenheiten oder Verhältnisse zwischen uns fast niemals berührt. Ich wußte von ihm nicht mehr, als daß er einem in der Stadt befindlichen Stifte angehörte, mit seinem Ordensnamen Innocens heiße und der Sohn armer Landleute sei, die schon lange gestorben waren. Er hingegen mochte in mir den Menschen erkennen, der sich in einer ihm wenig zusagenden Lebensstellung befand, aber er vermied es, mich in dieser Hinsicht irgendwie auszuforschen. Auch von dem, was er mir damals zu erzählen versprochen hatte, tat er keine Erwähnung mehr. Vielleicht hatte er seine Zusage vergessen; vielleicht erwartete er, ich würde ihn daran erinnern, was ich jedoch, um nicht zudringlich zu erscheinen, unterließ. Von Zeit zu Zeit traf ich bei ihm mit einem aufgeweckten, wohlgebildeten Jüngling zusammen, in dem man beim ersten Blick einen Bruder des jungen Weibes erkennen mußte. Wie aus seinen Reden hervorging, hatte er erst vor kurzem die ärztlichen Prüfungen abgelegt und stand an einer öffentlichen Heilanstalt in Verwendung. Gegen Innocens legte er eine tiefe und, wie es schien, mit Dankbarkeit verbundene Ehrerbietung an den Tag. Inzwischen war der Sommer, war der Herbst vergangen und endlich der Winter gekommen, dessen Stürme und Schneegestöber mich nicht abhielten, nach wie vor das Priesterhaus auf dem Wyschehrad aufzusuchen. Aber der wieder erwachende Lenz setzte eine schlimme Zeitung in die Welt: den Krieg mit Piemont. Dieses Ereignis überfiel mich um so unvorbereiteter und gewaltsamer, als ich während der schönen Zeit des Verkehrs mit Innocens die Politik ganz und gar vergessen hatte und mein Regiment die Weisung erhielt, nach Italien abzurücken. Da sich bei ähnlicher Gelegenheit Befehle und Anordnungen überstürzen, so fand ich im Drange einer hastigen und verworrenen Diensttätigkeit kaum noch Zeit, meinen geistlichen Freund von unserer so bald bevorstehenden Trennung persönlich in Kenntnis zu setzen und noch einige Stunden bei ihm zuzubringen. Als ich mit beklommenem Herzen bei ihm eintrat, betrachtete er eben mit erhabener, geistvollen Naturfreunden eigentümlicher Naivetät ein paar Schneeglöckchen, die er in der Hand hielt. Er stand auf und schwenkte mir, gleichsam im stillen Triumphe, diese ersten Boten des Frühlings entgegen. Als ich ihm aber jetzt die Vorfallenheiten erzählte, da senkte sich seine Hand allmählich, und sein Mund kniff sich immer tiefer und schmerzlicher ein. »Das ist rasch über uns hereingebrochen«, sprach er tonlos vor sich hin. Wir blieben uns eine Zeitlang schweigend gegenüber. Endlich sagte er: »Der Nachmittag ist schön. Lassen Sie uns zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle tun, wo wir uns kennengelernt.« So verließen wir das Haus und begaben uns langsam und nachdenklich auf die Bastei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige frühblühende Obstbäume standen schon in ihrem weißen Schmucke, die Luft roch nach Veilchen, und in geheimnisvoller Triebkraft schien die Erde leise zu beben. Hier und dort stieg von den braunen Feldern schmetternd eine Lerche empor. Innocens deutete über die Brustwehr hinaus. »Welch ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!« sagte er. »Sehen Sie nur dort das lässig schreitende Zwiegespann vor dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann! Und hier unten den schaukelnden Kahn und den Schiffer darin, der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Flut schnell und sicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt so vor sich sieht im Sonnenschein und die harmlosen Tier- und Menschengestalten darauf, sollte man glauben, sie sei ein Eden, dessen heitere Ruhe niemals durch das wüste Geschrei kämpfender Scharen wäre gestört, dessen Fluren niemals mit argvergossenem Blute wären getränkt worden.« »Und unter solchen Umständen«, fuhr ich fort, »muß ich Italien kennenlernen! Es war seit jeher mein schönster Traum, dieses Land mit den heiligen Schauern, mit der genießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers betreten zu können. Und jetzt soll ich als rauher Kriegsknecht, bereit zu morden und zu verwüsten, über die Alpen ziehen!« »Wie einst unsere Vorfahren unter den Ottonen und Heinrichen – unter den Hohenstaufen«, erwiderte er. »So pflanzen sich die Wellenkreise, die der Sturz des römischen Kolosses hervorgebracht, noch nach einem Jahrtausende fort, und wir sind eigentlich auf unserem Weltteile noch immer Barbaren, so sehr wir uns auch mit den Fortschritten unserer Zivilisation brüsten mögen. Aber«, setzte er nach einem kurzen Besinnen hinzu, indem er mich rasch ansah, »der Zwang der Lehenspflicht und Hörigkeit ist glücklicherweise, wenn auch nur in seiner bindendsten Bedeutung, vorüber. Ich weiß, daß Sie sich schon lange im stillen mit dem Gedanken tragen, den Militärdienst zu verlassen. Tun Sie es jetzt; man kann, glaub' ich, einem Offizier den Abschied nicht verweigern, wenn er darum ansucht.« »Allerdings nicht. Allein man würde mich für einen Feigling halten, dem um sein Leben bangt. Gerade jetzt kann und darf ich den Abschied nicht fordern.« »Sie haben recht,« sagte er mit einem leichten Seufzer; »es geht nicht. Man kann sich über gewisse herrschende Meinungen und Ansichten, ohne sich oft sein ganzes Leben zu verderben, nicht hinwegsetzen.« Die Sonne war indessen tiefer gesunken, und vom Fluß herauf wehte es feucht und kühl; so kehrten wir wieder nach Hause zurück. Die Lampe ward angezündet, und wir ließen uns schweigend auf das Sofa nieder. Um die gewohnte Stunde kam der Alte mit dem Abendessen, an das wir einsilbig und gedankenvoll gingen. Zuletzt schenkte Innocens die Gläser voll und sagte: »So müssen wir denn scheiden. Wer am meisten dabei verliert, bin ich. Denn,« fuhr er, meine Einwendung abschneidend, fort, »so unangenehm Ihnen die Ereignisse, denen Sie folgen müssen, auch sein mögen: das Ungewohnte und Wechselvolle daran wird Sie doch gewaltsam über das Schmerzliche unserer Trennung hinwegreißen. Und wenn alles überwunden und abgetan ist, dann liegt das Leben wieder in einer neuen Bedeutung, mit frischen Hoffnungen vor Ihnen. Sie sind noch jung; welche Erlebnisse, welche Eindrücke harren noch Ihrer, mit welchen Menschen können Sie noch bekannt und befreundet werden! Ich aber bleibe in meiner Einsamkeit zurück. Ich werde Sie jeden Tag, zu jeder Stunde vermissen. Selbst meine gewohnte Tätigkeit wird mir verwaist erscheinen, da Sie schon so innig damit verknüpft waren – und so bleibt mir kein anderer Trost als der der Erinnerung.« Er hielt mir bei diesen Worten sein Glas entgegen, in welchem der flüssige Rubin des Weines wundersam funkelte. Wir stießen an und tranken, worauf er fortfuhr: »Ich habe noch etwas auf dem Herzen, das ich Ihnen schon vor fast einem Jahre einmal mitzuteilen versprochen. Ich will es jetzt tun, denn mir ist, als sollt' ich Ihnen beim Scheiden das Bild ergänzen, welches Sie von mir, ich weiß es, freundlich im Gedächtnisse bewahren werden.« Er stützte das Haupt auf die Hand und sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. »Wie Sie wissen,« begann er, »bin ich der Sohn armer Landleute. Meine Kindheit war im ganzen eine ziemlich freudlose. Ich mußte schon früh meinen Eltern bei der Feldarbeit an die Hand gehen und überdies fleißig die Schule besuchen; denn es hieß, ich solle einmal studieren. Wirklich kam ich später, obwohl man mich zu Hause schwer entbehrte, nach der Hauptstadt, um das Gymnasium zu besuchen. Dort wurde ich bald das Stichblatt meiner Mitschüler, die boshaft genug waren, sich über meine langen Beine, mein schüchternes, linkisches Benehmen, über meinen altväterlichen Anzug lustig zu machen und mir allerlei mutwillige Streiche zu spielen. Obgleich mir dies auch anfangs viele trübe Stunden bereitete, so hatte es doch das Gute, daß ich mich nach und nach ganz von ihrem Umgange zurückzog und somit nie in die Versuchung kam, an dem sonstigen Treiben dieser frühreifen Knaben teilzunehmen. Ich lebte damals in einer ärmlichen Dachstube auf der Kleinseite, wo mich ein entfernter Anverwandter bereitwilligst aufgenommen hatte. Er war schon ziemlich bejahrt, weib-und kinderlos und bekleidete die Stelle eines Aufsehers am zoologischen Museum der Stadt. Er brachte öfter seltene Tiere mit nach Hause, denn zu seinen Obliegenheiten gehörte es, sie auszubälgen oder auch in Weingeist zu setzen. Dabei mußt' ich ihm nun helfen, und auf diese Art erwachte in mir der Hang zum Studium der Natur und schlug immer tiefer in meinem Gemüte Wurzel. Da an unseren Gymnasien zu jener Zeit selbst die Anfangsgründe der Naturwissenschaften engherziger Rücksichten halber von den Lehrgegenständen noch ausgeschlossen waren, so wendete ich meinen geringen Sparpfennig daran, mir einige einschlägige und leicht faßliche Bücher zu erwerben. Oft verweilte ich stundenlang in den lautlosen Sälen des Museums, zu denen mein Pflegevater die Schlüssel hatte und wo mich die bunte Tierwelt in den verschiedenartigsten Stellungen und Lagen regungslos, und doch wie lebendig, mit seltsam stieren Blicken anzusehen schien, so daß ich mich anfangs eines leisen Schauders nicht hatte erwehren können. Bald aber war ich mit ihr ganz vertraut geworden, und meine kindliche Phantasie brachte Atem und Bewegung in die starren Gestalten. Ich ließ den breitmähnigen Löwen und den schön gefleckten Königstiger aus ihrem gläsernen Gefängnis heraustreten und majestätisch einen hohen Palmenwald durchschreiten, wo die Abgottschlange zwischen leuchtenden Blumen den furchtbaren Leib emporringelte, zähnefletschende Affen an den Stämmen auf- und abkletterten, krummschnäblige Papageien in den Wipfeln kreischten und Kolibris gleich farbigen Funken die Luft durchschossen. Oder ich tauchte mit den plumpen, abenteuerlichen Fischungetümen zu dem zahllosen Gewimmel in den Abgründen des Meeres hinunter, sah über mir die Kiele der Schiffe wegfahren und die Polypen still an den Riffen bauen. An schönen Ferientagen aber verließ ich schon mit dem Frühesten die Stadt und ging aufs Geratewohl ins Land hinein, nur gelenkt durch den Flug der Schmetterlinge und Käfer, auf deren Jagd ich auszog. Dabei las ich in der Eile auf, was mir gerade an den Pflanzen oder Steinen in die Augen fiel, und belud mich damit. Wenn ich mich dann recht warm und müde gelaufen hatte, ruhte ich irgendwo im Schatten aus, am liebsten bei unbewegten, von Erlen und Weiden umdüsterten Wassern, über deren Spiegel blitzende Libellen schwirrten, zartbeinige Spinnen hintanzten, während dann und wann aus der Tiefe ein schnappender Frosch aufgluckste. – So wuchs ich allmählich zum Jüngling heran und trat endlich, da mich meine Eltern zum geistlichen Stande bestimmt hatten, als Noviz in unseren Orden, der mich nach vollendeten Studien und zurückgelegter Probezeit als Pater aufnahm. Durch bescheidene Dienstwilligkeit und eine gewisse Unverdrossenheit des Gemütes hatte ich mir bald bei meinen geistlichen Vorgesetzten Liebe und Zutrauen erworben; aber plötzlich wurde meinem Ansehen ein schwerer Stoß versetzt: man begann meine Frömmigkeit in Zweifel zu ziehen. Neid und Mißgunst waren, wie überall in der Welt, so auch in unserem Kloster anzutreffen und hatten die Gelegenheit wahrgenommen, meine harmlosen Naturstudien zu verdächtigen und anzuschwärzen. Es verlautete nämlich, daß ich die Zeit, während welcher die andern Paters im schattigen Garten beschaulicher Muße oblagen, ein Spielchen machten oder Spaziergänge in der Stadt unternahmen, mit verruchten, allen kirchlichen Dogmen hohnsprechenden Experimenten hinbringe, zu welchem Zwecke ich eine ganze Teufelsküche und die Werke aller alten und modernen Atheisten in einem Wandschranke meines Zimmers verborgen halte. Der damalige Abt, eine ängstliche, etwas beschränkte Natur, fand sich durch dieses Gerede veranlaßt, mich eines Tages in Begleitung noch zweier Mitglieder bei meinen einsamen Studien zu überraschen, alles Dazugehörige in Beschlag zu nehmen und mir nach einem Verweise anzuraten, meine Fähigkeiten künftighin einer besseren Sache zuzuwenden. Es war ein tiefer Schmerz, den ich empfand, als man mir meine Apparate und Bücher forttrug. Ein bitteres, niederdrückendes Gefühl überkam mich; aber ich erduldete alles mit christlicher Ergebung, wie es meinem Stande ziemte. Die Untätigkeit, zu welcher ich mich jetzt verurteilt sah, lastete in den ersten Tagen schwer auf mir. Aber ich bedachte, wie vieles, das mit den Anschauungen meiner Vorgesetzten nicht im Widerspruche stand, ich noch zu lernen hatte, und so fand ich bald in eifrigen philologischen Studien Trost und Beruhigung. Ich ging nach wie vor fast niemals aus, und meine Erholung war, hie und da eine Stunde auf der Orgel unserer Hauskapelle zu spielen. Ich hatte die erste Anleitung dazu schon von meinem Schullehrer im Dorfe erhalten und benützte nun die Gelegenheit, diese Vorkenntnisse zu erweitern und auszubilden. Wenn ich so in der verlassenen Kapelle saß und die Töne unter meinen Händen aufquollen, da zog ein tiefer Friede, eine lichte Seligkeit in meine Brust, und auch nicht ein Schatten dieser Welt fiel hinein. So war mir manches Jahr in sanfter Gleichförmigkeit vorübergegangen, als der Abt plötzlich starb. Sein Nachfolger, ein wohldenkender, vorurteilsfreier Mann, der mich stets mit vieler Nachsicht behandelt und warm verteidigt hatte, ließ mich eines Tages zu sich bescheiden. ›Wissen Sie‹, sagte er, als ich bei ihm eintrat, ›daß der Verweser unserer Kirche auf dem Wyschehrad wegen andauernder Kränklichkeit um Amtsenthebung nachgesucht hat?‹ Ich bejahte es, da ich davon gehört hatte. ›Möchten Sie wohl‹, fuhr er fort, indem er mich forschend ansah, ›seine Stelle übernehmen?‹ Er mußte in meinen Zügen sogleich eine freudige Zustimmung wahrgenommen haben, denn er klopfte mir schnell auf die Schulter und sagte: ›Nun, so gehen Sie mit Gott! Es wird Sie niemand darum beneiden; der Ort ist gar zu einsam und abgeschieden, wenn auch das Amt eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit gewährt, die Sie, das weiß ich, nicht mißbrauchen werden.‹ Mit welch wohltuenden Gefühlen ich das stille Haus hier oben bezog, können Sie sich vorstellen. Ich war der hämischen, spähenden, zischelnden Klosterkameradschaft los und konnte wieder unbehelligt meine geliebten, langentbehrten Arbeiten aufnehmen, wozu mir der neue Abt Bücher und Apparate von selbst hatte zurückstellen lassen. Als ich nach der ersten Nacht, die ich hier oben zugebracht hatte, am frühen Morgen ans Fenster trat, fiel mein Blick auf das kleine Haus gegenüber. Mit dem Einrichten meiner neuen Wohnung beschäftigt, hatte ich es tags vorher kaum beachtet; jetzt aber zog es meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tür und Fenster waren geschlossen; alles schien drinnen noch im tiefen Schlafe zu liegen. Nur die Hühner und Gänse trieben schon vor der Schwelle ihr Wesen, und die Tauben trippelten unruhig auf dem Dachfirste umher. Wie ich so hinsah, überkam mich eine Art Heimweh. Es war mir, als säh' ich die niedere, vom Dorfe etwas abgeschiedene Behausung vor mir, in der ich meine Kindheit verlebt hatte, und als müsse sich jetzt und jetzt die Tür öffnen und meine Mutter selig heraustreten. Und die Tür öffnete sich auch, aber die heraustrat, war ein junges Mädchen. Sie hatte ein weißes Tüchlein um den Kopf geworfen und streute aus der aufgenommenen Schürze Futter zu Boden. Ohne sich weiter um das rasch hinzustürzende Geflügel zu kümmern, schöpfte sie Wasser aus der Zisterne und begab sich wieder in das Haus zurück, aus dessen Schornstein alsbald ein leichter Rauch in die heitere Morgenluft aufstieg. Mittlerweile war auch ein munter aussehender Knabe über die Schwelle gehüpft, der nun mit dem Mutwillen seines Alters die emsig pickende Schar von den reichlich zugemessenen Körnern zu verscheuchen begann, wobei er sich an dem Geschrei und an der verworrenen Flucht der furchtsamen Tiere weidlich zu ergötzen schien. Plötzlich aber wurde er von dem Mädchen, das rasch aus der Tür eilte, beim Arm gefaßt und hineingezogen. Drüben hatten sich die versprengten Gäste allmählich wieder eingefunden, als es an meiner Tür klopfte. Es war der Kirchendiener, um mich zur Messe abzuholen, mit welcher ich mein Amt einweihen sollte. Bevor wir gingen, fragte ich den Mann, wer dort drüben wohne. ›Der Zeugwart‹, erwiderte er, ›mit Weib und Kindern. Ein alter Knasterbart, der die Franzosenkriege mitgemacht und sich den ruhigen Posten hier oben durch manche Blessur verdient hat.‹ In der Kirche, welche gewöhnlich nur an Sonn- und Feiertagen offen ist, war kein Beter anwesend. Als ich mich beim Evangelium umwandte, sah ich das Mädchen hereintreten. Sie trug einen Korb am Arme und kniete in der Nähe des Altares nieder, an welchem ich die Messe las. Nach einem kurzen Gebete erhob und bekreuzte sie sich und ging wieder. Als ich nächsten Sonntag zum erstenmal die Kanzel bestieg, gewahrte ich sie gleich beim ersten Hinsehen auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den goldenen, schlichtgescheitelten Haaren stand. Neben ihr im Betstuhle saß eine schon ziemlich bejahrte Frau, die man sogleich für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich beständig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich gerichtet waren, und in dem Bestreben, ihm auszuweichen, und doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge scheu um die liebliche Gestalt herum, ohne daß ich den Mut gehabt hätte, sie anzusehen. Desto öfter jedoch blickte ich in den Tagen, die nun folgten, nach dem kleinen Hause hinüber, und bald paßte ich sogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die Jungfrau vor der Tür erschien. So trat ihr Bild unvermerkt immer tiefer in mein Leben hinein und verwuchs damit, eine holde Notwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte keinen Wunsch in mir an; aber wie an trüben, sonnenlosen Tagen ein dumpfer Druck auf einem liegt, so überkam mich, wenn ich sie zur gewohnten Stunde nicht sah, ein geheimes Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis sich die schlanke Gestalt, wenn auch noch so flüchtig, vor dem Hause, am Fenster oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als sei es erst jetzt vollends Tag geworden, dessen helles Licht mich mit sanfter Wärme und Heiterkeit durchströmte. – Eines Abends spät hatte ich eben die Lampe angezündet und mich über ein Buch gebeugt, als die Klingel am Tor ziemlich hastig gezogen wurde. Ich erhob mich und trat ans Fenster. Unten im Dunkel der Bäume stand das Mädchen. Ein jäher, freudiger Schreck durchzuckte mich, und unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Inzwischen hatte der Kirchendiener das Tor geöffnet und fragte nach ihrem Begehren. ›Um Gottes willen,‹ sagte sie mit ängstlicher Hast, ›meine Mutter ist schwerkrank; der geistliche Herr möchte sie versehen kommen.‹ Ich erbebte im Innersten bei dem Klange dieser Stimme, die ich zum erstenmal hörte. Ich fühlte das tiefste Mitleid mit dem armen Kinde; eine fieberhafte Angst und Sorge überfiel mich, und dennoch hätte ich zugleich aufjubeln können vor Freude. Rasch eilte ich die Treppe hinunter und begab mich mit dem Kirchendiener, der mir im Flur entgegenkam, in die Sakristei, um alles Notwendige zu holen. Als ich damit aus dem Hause trat, war das Mädchen am Tor niedergekniet. Ich bewegte mit zitternden Händen den Kelch segnend über ihrem Haupte, dann stand sie auf und eilte mir voran. In einer ärmlichen, aber rein und sorgsam gehaltenen Stube kniete der Zeugwart am Krankenbette, eine breitschultrige Soldatengestalt mit dem Kanonenkreuze auf der Brust; ihm gegenüber der Knabe, das große Kindesauge ängstlich und verschüchtert auf mich richtend. Ich segnete die Anwesenden und trat dann zur Kranken, die, wie es schien, bewußtlos im heftigen Fieber lag. Sie bewegte unruhig Kopf und Arme und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Es fiel mir auf, daß man fast gewaltsam eine Menge Bettzeug auf sie gehäuft hatte, was die verzehrende Fieberglut des Weibes nur noch steigern mußte. Auch waren die Fenster geschlossen, und in der Stube lagerte die Luft schwül und dunstig. Ich wandte mich an den Zeugwart mit der Frage, wann und unter welchen Umständen die Krankheit ausgebrochen sei und ob man keinen Arzt zu Rate gezogen. Hierauf nahm aber gleich das Mädchen das Wort und sagte unter leisem Schluchzen, daß die Mutter schon gestern über Mattigkeit und Kopfschmerz geklagt und die Nacht sehr unruhig zugebracht habe. Sie hätten einen Chirurgen holen lassen; dieser habe schweißbringende Mittel und Verwahrung vor Luftzug verordnet und schon für den nächsten Tag Besserung in Aussicht gestellt. Statt dessen sei jedoch die Mutter von Stunde zu Stunde kränker geworden, und sie hätten sich nicht zu raten noch zu helfen gewußt. Da ich in dem Zustande der Kranken typhöse Erscheinungen erkannte, so machte ich Vater und Tochter auf das Verkehrte dieser Behandlungsweise aufmerksam und erbot mich, falls man mir Vertrauen schenke, der Kranken Erleichterung zu verschaffen. Zugleich versprach ich, morgen mit dem Frühesten aus der Stadt einen Arzt holen zu lassen. Ein Strahl freudiger Hoffnung flog bei meinen Worten über das düstere, gebräunte Antlitz des Alten und schimmerte um so heller hinter den Tränen des Mädchens auf, als ich das Versehen mit den Sterbesakramenten für unnötig erklärte und bat, mich einstweilen nur als Arzt zu betrachten und alle meine Anordnungen zu befolgen. Das Mädchen faltete die Hände vor der Brust und sah mich erwartungsvoll an. Ich befahl fürs erste, die schweren, dicken Hüllen von dem Körper der Frau zu entfernen, dann Tür und Fenster zu öffnen, auf daß die reine, frische Nachtluft durch die Stube streiche. Sie taten es schweigend und eilig; aber ein leiser Zug ungläubiger Ängstlichkeit lag dabei in allen Gesichtern. Die Anordnungen waren ja so ganz jenen des Chirurgen entgegengesetzt, und die Menschen sind in allem und jedem zu sehr an langsame Übergänge gewöhnt, als daß sie zu einem plötzlichen Wechsel unbedingtes Vertrauen fassen sollten. Ich hatte inzwischen von dem Knaben ein Becken mit frischem Wasser füllen lassen. Dann begehrte ich Linnen, tauchte es ein und legte es auf die brennende Stirn der Kranken, die dabei, wie neubelebt, tief aufseufzte. Hierauf entfernte ich mich, um einiges aus meiner kleinen Handapotheke herüberzuholen. Als ich wieder in die Stube trat, hörte ich, wie eben der Knabe sagte: ›Wie wohl der Mutter die kalten Umschläge tun! Der dumme Chirurg. Das hätte er auch wissen sollen.‹ ›Siehst du, Ludmilla,‹ sagte jetzt der Zeugwart, ›wie gut es war, daß ich darauf bestand, du solltest den geistlichen Herrn rufen.‹ ›Ach ja,‹ erwiderte sie, indem sie mich mit ihren großen braunen Augen tief ansah, ›aber es tat mir so weh, daran zu glauben, daß es mit der Mutter so schlimm stehe.‹ Ich hatte kühlende Pflanzensäfte mitgebracht und goß davon in ein Glas Wasser, das ich an den lechzenden Mund der Kranken brachte. Kaum spürte diese das Naß an den Lippen, als sie es, obgleich noch immer bewußtlos, instinktmäßig mit gierigen Zügen einschluckte. Mittlerweile hatte der Zeugwart nach der Uhr gesehen, zögernd seine Uniform zugeknöpft und den Säbel umgeschnallt. ›Der Dienst ruft mich‹, sagte er, als ich ihm einen fragenden Blick zuwarf. ›Ich muß die Nachtrunde um das Fort und die Pulvermagazine machen. Es ist mir noch nie so schwergefallen wie heute.‹ ›Gehen Sie unbesorgt,‹ erwiderte ich, ›ich will Ihre Zurückkunft hier abwarten. Bis dahin soll sich, wie ich hoffe, Ihre Frau schon merklich besser befinden.‹ Der alte Soldat beugte sich über die Kranke und horchte auf ihren Atem. Dann zündete er das Licht einer Laterne an und ging. Wirklich wurde die Kranke von Minute zu Minute ruhiger, die Delirien hörten auf; das Bewegen und Zucken der Arme wurde seltener, und die wüste Bewußtlosigkeit schien einem tiefen, wohltätigen Schlummer zu weichen. Ich hatte mich ihr zu Häupten gesetzt und hielt ihren Puls leicht umfaßt. Ludmilla war hart am Bette niedergekniet und schien mit aufgestützten Armen zu einem Heiligenbilde an der Wand zu beten. Der Knabe lag, von dem bleiernen Schlaf der frühen Jugend bewältigt, mit überhangendem Haupte in einem alten Lehnstuhl. Still quoll die Nachtluft durch das geöffnete Fenster herein und spielte mit der gedämpften Flamme der Lampe, um welche, vom trügerischen Schein in die Stube gelockt, ein schwerfälliger Falter in immer engeren Kreisen schwirrte. Da war es mir, als neige sich das Haupt des knienden Mädchens der Seite zu, wo ich saß. Und wie es jetzt tiefer und tiefer sank, lösten sich langsam die gefalteten Hände, die Arme fielen schlaff an den Hüften hinunter, und eh' ich mich dessen versah, glitt der Oberleib der vom Schlafe Übermannten sanft in meinen Schoß herüber. Eine nie gekannte Empfindung durchzuckte mich, als die holde Last plötzlich auf meinen Knien lag. All mein Blut schoß zum Herzen; ich fühlte, wie ich erblaßte. Was sollte ich beginnen? Sollte ich sie wecken? Und wenn ich es tat, mußte sie nicht gewahren, daß sie in meinem Schoße lag? Ein tiefes Schamgefühl überkam mich und trieb mir das Blut, heiß zum Versengen, in die Wangen zurück. Ich wagte mich nicht zu rühren. Ich spürte, wie sich die Brust der Jungfrau im festen Schlummer gleichmäßig hob und senkte, und lauschte auf ihre Atemzüge, die sich mit den leisen des Knaben und den schnellen, stoßweisen der Kranken vermischten. Mein Herz schlug hörbar; der Falter schwirrte noch immer ums Licht; draußen zirpten die Grillen. Plötzlich erlosch knisternd die Lampe. Der Falter hatte das Flämmchen, endlich hineinflatternd, erstickt. Ludmilla machte im Schlafe eine Bewegung. Dabei berührte ihr warmer Hauch meine Hand. Ein heißer Schauer durchrieselte mich, meine Pulse flogen, und in der Verwirrung meiner Sinne beugte ich mich nieder, und mein Mund streifte zitternd das weiche, duftige Haar der Schläferin. Aber gleichzeitig, wie von einer inneren Angst getrieben, schob ich sie sanft von mir und erhob mich. Ludmilla erwachte und schien sich lange nicht besinnen zu können, als sie sich so am Boden und im Dunkeln befand. Ich sagte mit bebender Stimme, sie möge die Lampe anzünden, die eben erloschen sei. Sie tat es schämig verwirrt und erwiderte, indem sie mit den Händen über das rosige Gesicht fuhr: ›Mein Gott, mir scheint, ich habe gar geschlafen.‹ Ich schwieg und wechselte den Umschlag der Kranken. Es tat mir wohl, die fiebernden Hände ins Wasser zu tauchen; doch kühlte es nicht die Glut, die mich noch immer durchtobte. Bald darauf trat der Zeugwart ein. Ich wies auf die ruhig schlummernde Kranke und unterbrach errötend die schlichten Dankesworte des Mannes, indem ich mich mit dem Bemerken verabschiedete, daß für heute Nacht nichts mehr zu befürchten sei. Ludmilla hatte die Lampe ergriffen, um mir hinauszuleuchten. Ich winkte ihr zu bleiben, zog meine Hand, die sie ehrerbietig zum Kusse ergreifen wollte, zurück und eilte fort. Draußen war eine herrliche Nacht. Die Sterne flimmerten und zuckten, und der Mond goß sein feuchtes Licht über die Erde. Ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen, stand ich plötzlich auf der Bastei, deren Brustwehr meinen wahllos stürmenden Schritten Einhalt tat. Schwüle Fliederdüfte umquollen mein Antlitz; in der Runde schmetterten die Nachtigallen. Horch! Ferner Lärm, wie von verworrenen Stimmen, von Scherzen und Gelächter. Ein Kahn kam den glitzernden Strom herabgefahren, voll fröhlicher Menschen, die gewiß bis jetzt in Podol gezecht hatten und sich in der stillen Mondnacht auf der schaukelnden Flut bis zur Prager Brücke rudern ließen. Immer näher kam der Kahn; immer lauter scholl die Lustbarkeit der Menschen, deren Gestalten ich deutlich erkennen konnte, wie sie, Männer und Frauen, dichtgedrängt in dem kleinen Fahrzeug saßen und standen. Plötzlich verstummte Plaudern und Lachen, und eine weiche schmelzende Tenorstimme begann in die schimmernde Nacht hinaus zu singen: ›Sei in Tönen, weich und linde, Mir gegrüßt, o Frühlingsnacht, Glücklich, wer mit seinem Kinde Wonneselig dich durchwacht! Wie ein heimliches Gewittern, Das in dir sich leise regt, Hör ich rings die Herzen zittern, Hold von Liebesmacht bewegt!‹ Ein schneidendes Weh drängte sich durch meine Seele, und atemlos, wie von einem Zauber berührt, lauschte ich dem Gesange. ›Hör ich rings die Herzen zittern, Hold von Liebesmacht bewegt!‹ scholl es, im lauten Chor wiederholt, herauf. Jetzt glitt der Kahn gerade unterhalb des Forts vorüber, und mit kräftiger, rasch emporgeschnellter Stimme fuhr der Sänger fort: ›Aber wecken alle Träumer Möcht' ich jetzt mit hellem Sang, Treiben möcht' ich alle Säumer Vor mir her mit Becherklang! Denn mich wurmet das Genippe, Wo ein Trunk nur kühlt und stillt, Und mich wurmet jede Lippe, Die nicht heiß verlangend schwillt!‹ – ›Und mich wurmet jede Lippe, Die nicht heiß verlangend schwillt!‹ tönte es im Chor. Ich beugte mich weit über die Brustwehr hinaus, denn immer ferner und schwächer klang es: ›Und so wie der echte Zecher Jeden Tropfen froh genießt, So verschmäh' ich rascher Brecher Keine Blüte, die da sprießt –‹ Ich hörte nur mehr die immer leiser tönende Melodie des Liedes, noch einmal den Chor fern aufrauschen; dann war alles still. Jetzt überkam mich eine tiefe, wilde Sehnsucht und drohte mir die Brust zu zersprengen. Es war mir, als wäre mein Glück an mir vorübergezogen und rufe und winke durch die Nacht nach mir zurück mit geheimnisvollen Stimmen und leuchtenden Händen. In unsäglichem Drange breitete ich die Arme in der Richtung aus, in welcher der Kahn meinen Blicken entschwunden war. Dann warf ich mich nieder auf das feuchte Gras, und eine glühende Träne rann aus meinem Auge mit dem kühlen Tau des Himmels zusammen.« Er schwieg einen Augenblick, wie um eine innere Erregung auszittern zu lassen, und fuhr dann in etwas gedämpftem Tone fort: »Am Horizont stand schon ein blaßgelber Streif, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich warf mich angekleidet aufs Bett und versank in einen kurzen, von wüsten Traumbildern geängstigten Schlummer. Beim Erwachen lag das Dasein fremdartig vor mir, ein einziger großer Schmerz. Der Arzt erschien, und ich ging zögernd mit ihm hinüber. Er erklärte den Zustand der Kranken für keinen sehr gefährlichen und verordnete einiges, während ich mit bebender Seele abseits stand und den Blicken Ludmillas auswich, die sie, um die Mutter beschäftigt, voll innigen Dankes gegen mich aufschlug. Ich war froh, als ich mich mit dem Arzte wieder entfernen konnte. Es litt mich aber nicht zu Hause, sondern ich irrte zeitvergessen in der Zitadelle umher, warf mich hier und da erschöpft auf die Schanzen nieder und brütete vor mich hin. In dieser dumpfen, ruhelosen Untätigkeit vergingen die nächsten Tage. Ein schleichendes, markverzehrendes Feuer war in meinem Innern entglommen und lohte oft in so wilden, nie gekannten Wünschen auf, daß ich vor mir selbst erschrak. In meiner Seelenangst schloß ich mich dann oft stundenlang in der kühlen, dunklen Kirche ein, um durch reumütiges Gebet mein Inneres zu läutern und der schwülen Traumhaftigkeit meiner Sinne Herr zu werden. Aber umsonst: auf der Lippe, die das peccavi sprach, zitterte die wonnige Berührung mit den blonden Haaren Ludmillas nach, und wie geisterhaft fühlte ich mich von den Sirenenklängen jenes Liedes umweht. Selbst an der Orgel, deren Töne mich sonst über alles Irdische hinausgehoben, fand ich keine Beruhigung, keinen Trost. Ihr feierlich ernstes, gleichmäßiges Rauschen stimmte nicht zu dem Zwiespalte in meiner Brust, der, das fühlte ich, nur auf einer Geige in wildklagenden Akkorden, grellen Läufen und schneidenden Kadenzen hätte ausklingen können. Ein Opfer dieses Zwiespaltes, nannte ich mich selbst einen pflichtvergessenen Priester, der mit unwürdiger Hand den Kelch erhebe und dessen befleckte Lippe das Wort Gottes entheilige. Und dann nahm ich mir vor, nie mehr die Schwelle des Zeugwartes zu betreten, was ich doch schon der Kranken halber von Zeit zu Zeit tun mußte, hätte mich auch nicht die Sehnsucht, Ludmilla zu sehen, hingetrieben. Gleich darauf aber beklagte ich mich wieder als einen unglückseligen Menschen, der inmitten der Freuden und wonnigen Genüsse dieser Welt an einen düsteren Felsblock geschmiedet sei, und weinte heiße Tränen darüber, daß ich das unauflösbare Gelübde abgelegt. – Fast eine Woche lang war es mir gelungen, die drängende Sehnsucht zurückzudämmen; länger aber ertrug ich's nicht. Ich umkreiste, wie damals der Falter die Lampe, immer enger das kleine Haus und trat endlich hinein. Ich fand die Kranke schon im Gärtchen. Man hatte ihr den alten Lehnstuhl unter einen breitästigen Apfelbaum getragen, in dessen Schatten sie den herrlichen Nachmittag genoß. Neben ihr auf einer in der Erde festgerammten Bank saß Ludmilla. Diese sprang, als ich eintrat, hastig auf, wobei ihrem Schoße ein buntes Chaos von Wiesenblumen entglitt. Die Frau machte einen Versuch, sich zu erheben, sank aber alsbald kraftlos in den Stuhl zurück. So begnügte sie sich, mir ihre welke, abgemagerte Hand entgegenzustrecken. ›Wie schön, hochwürdiger Herr‹, sagte sie, ›daß Sie heute herüberkommen, wo ich zum erstenmal wieder die freie Gottesluft atme.‹ ›Es freut mich, Sie schon so wohl zu sehen‹, erwiderte ich mit gepreßter Stimme; denn ich bemerkte, daß mich Ludmilla mit ängstlicher Freude betrachtete. ›Gerade haben wir von Ihnen gesprochen, nicht wahr, Mutter?‹ sagte sie. ›Wir fürchteten schon, Sie wären krank. Sie sahen, als Sie das letzte Mal bei uns waren, gar so blaß und leidend aus.‹ Ich fühlte, wie ich bei diesen Worten noch bleicher wurde, als ich es vielleicht schon war. ›Und Sie waren auch gewiß krank‹, fuhr Ludmilla fort. ›Man sieht es Ihnen an, daß Sie sich selbst jetzt noch nicht ganz wohl fühlen.‹ ›Wahrlich,‹ bekräftigte die Mutter, ›jetzt merk' ich es erst, wie übel Sie aussehen. Was fehlt Ihnen, geistlicher Herr? Reden Sie, um Gottes willen!‹ Ich drohte umzusinken. Bei dieser ängstlichen Musterung kam mir in den Sinn, wie verstört ich aussehen mußte; ich empfand deutlich, wie mir das Haar wirr um die Schläfen hing, wie meine Augen eine düstere Fieberglut ausstrahlten. Dennoch faßte ich mich und erwiderte, indem ich mich zu lächeln zwang: ›Mir fehlt nichts; ich fühle mich ganz wohl.‹ ›Wirklich? wirklich?‹ forschten die Frauen. ›Sie wollen es nur verheimlichen‹, setzte Ludmilla hinzu. ›Warum sollt' ich das‹, sagte ich, das Zittern meiner Stimme gewaltsam unterdrückend. ›Beruhigen Sie sich, es ist nichts. Die Tage sind jetzt nur so unerträglich schwül‹, fuhr ich fort, indem ich unwillkürlich meinen Empfindungen nachgab und mit der Hand über die Stirn strich. ›So setzen Sie sich doch hierher in den Schatten!‹ rief das Mädchen und zwang mich mit sanfter Gewalt auf die Bank nieder. ›Prokop!‹ rief sie dann dem Knaben zu, der, ohne mein Kommen bemerkt zu haben, weiter rückwärts im Gärtchen herumsprang. ›Prokop, siehst du denn nicht, daß der geistliche Herr da ist?‹ Alsbald kam der Kleine auf mich zugelaufen. Froh, die Verwirrung meiner Seele hinter einem Gespräch mit dem Kinde verbergen zu können, streichelte ich ihm das erhitzte Gesicht und das lichtblonde, kurzgeschnittene Haar, während ich hastig hintereinander eine Menge Fragen an ihn stellte, die er alle bescheiden und aufgeweckt beantwortete. Ludmilla hatte inzwischen langsam die Blumen vom Boden aufgelesen und machte jetzt Miene, sich neben mir auf die Bank niederzulassen. Ich erhob mich unwillkürlich. ›Wie, Sie wollen schon wieder fort?‹ hieß es. ›Ich muß‹, stammelte ich, obgleich es sich wie unsichtbare Bande um mich legte. ›O, nur einen Augenblick!‹ bat Ludmilla, ›bis ich den Strauß hier fertig habe. Sie können sich ihn zu Hause ins Wasser stellen.‹ Ich machte verwirrt eine ablehnende Gebärde. ›Geh mit diesen Blumen!‹ sagte die Mutter. ›Da gibst du dem geistlichen Herrn was Rechtes.‹ ›Also wollen Sie sie nicht?‹ fragte Ludmilla kleinlaut. ›Sie duften doch ganz frisch.‹ Mir wollte das Herz darüber zerspringen, daß ich ihr weh getan. ›So war es nicht gemeint‹, sagte ich. ›Ich liebe ja die Blumen, die draußen frei und ungepflegt sprießen, gar sehr. Ich wollte nur nicht, daß Sie sich meinetwegen mühten.‹ ›Mühten?‹ fragte sie. ›Mein Gott, wie gerne tät ich's! Aber was ist es denn, einen Strauß zu binden.‹ Und indem sie die Blumen auf die Bank legte und rasch wieder eine nach der anderen aufnahm, fuhr sie fort: ›Die Schanzen sehen jetzt gar so schön aus. Alles steht bunt von Stern- und Glockenblumen, von Gelbveiglein und Hahnenfuß. Da pflück' ich nun, so viel ich kann. Denn hier haben wir auch gar zu wenig Raum, um Blumen zu halten. Mein Rosenbäumchen dort ist außer den Äpfeln und Bohnen das einzige, was bei uns blüht.‹ Sie deutete darauf hin. Es war wirklich die alleinige Zierde des Gärtchens, wo jedes Fleckchen Erde mit einem nützlichen Gewächse bepflanzt war, und stand bis auf eine halbaufgeblühte Rose noch in Knospen. Sie hatte den Strauß fertig und hielt ihn in der gebräunten, aber wohlgeformten Hand prüfend vor sich hin. ›Es sind doch gar zu unscheinbare Blumen,‹ sagte sie niedergeschlagen, ›sie nehmen sich im Rasen zerstreut viel besser aus als so. Aber warten Sie, ich will noch etwas hinzutun!‹ rief sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, und eilte auf das Bäumchen los. Dort pflückte sie die Rose und steckte dieselbe in die Mitte des Straußes, wo sie, von weißzackigen Sternblumen umgeben, gar lieblich aussah. ›So‹, sagte Ludmilla, indem sie zurückkehrte und mir anmutig den Strauß überreichte. ›Es war die einzige. In ein paar Tagen aber werden alle Knospen aufgegangen sein, und dann sollen Sie die schönsten Rosen haben.‹ Ich stammelte einige unzusammenhängende Worte und verabschiedete mich; Ludmilla ging noch mit mir bis zu dem Pförtchen im Zaune. Draußen atmete ich tief auf. Ein schmerzlichsüßes Weh hatte mir drinnen das Herz zusammengepreßt und eine dumpfe Hitze ins Antlitz getrieben. Nun suchte ich Luft, Kühlung. Aber die Sonne schien heiß auf meinen Scheitel nieder; kein Blatt, kein Halm regte sich. Unwillkürlich brachte ich den Strauß, um mich zu erfrischen, vors Antlitz. Dadurch wurde ich mir erst des duftigen Geschenkes bewußt, und eine seltsame Verwirrung und Beängstigung überkam mich. Es war mir, als hefteten sich rings tausend Augen auf mich und die Blumen in meiner Hand. Und da fingen die Stengel zwischen meinen Fingern zu glühen an, und aus jedem Kelche schien eine Flamme zu schlagen. Scheu blickte ich umher; es war niemand zu sehen, außer einer Schildwache, die hoch oben auf dem Wall, ohne mich zu beachten, träg auf und nieder ging. Ich nahm den Strauß unter mein Skapulier und eilte zu mir hinüber. Geräuschlos, mit hochklopfendem Herzen, huschte ich über den Flur und die Treppe hinauf und schloß die Tür hinter mir ab. Hier im kühlen einsamen Zimmer drückte ich den Strauß an die Brust, an die Augen, an den Mund. Ich gab ihm die zärtlichsten Schmeichelnamen, wühlte mit zitternden Fingern darin und bedeckte die Stengel mit zahllosen Küssen. Plötzlich aber zuckte wieder das ganze fürchterliche Bewußtsein meiner Lage in mir auf; entsetzt schleuderte ich den Strauß vor mich auf den Tisch hin, schlug mir die Hände vors Gesicht und sank laut stöhnend in einen Stuhl. Ich weiß nicht, wie lange ich so, eine Beute der widerstreitendsten Gefühle, mochte dagesessen haben, als es an der Tür klopfte. Erschreckt fuhr ich empor, warf ein Tuch über den Strauß und öffnete. Es war der Kirchendiener in Begleitung eines Mannes, der einige Papiere in der Hand hatte. ›Der Sakristan von Sankt Carl wünscht Euer Hochwürden im Auftrage seines Herrn Pfarrers zu sprechen‹, sagte der Kirchendiener. ›Wir haben morgen eine Leiche.‹ ›Eine Leiche?‹ fragte ich mechanisch. ›Eine vornehme Leiche‹, bekräftigte der Kirchendiener mit einem gewissen Behagen. ›Die Tochter des reichen Großhändlers Friedheim. Ich habe sie gut gekannt, denn sie kam fast jeden Sonntag in unsere Kirche herauf. Ein schönes schlankes Fräulein mit blonden Haaren. Sie müssen sie ja auch schon gesehen haben. Sie saß immer im ersten Betstuhle rechts, wo ich jedesmal für sie und die alte Dame, die sie begleitete, Plätze bereithielt.‹ ›Ich entsinne mich nicht‹, sagte ich, ohne daß ich dabei nur etwas gedacht hätte, und wandte mich an den Sakristan mit der Frage, warum die Tote nicht bei Sankt Carl, wohin sie doch eigentlich zu gehören scheine, begraben würde. ›Damit hat es ein eigenes Bewenden‹, antwortete der Mann. ›Die ganze Stadt ist voll davon. Das Fräulein war mit einem jungen Rechtsgelehrten verlobt, und die Trauung sollte schon in der nächsten Zeit stattfinden. Wie es heißt, hatte man sich kein ungleicheres Paar denken können als die beiden. Er – heiter, lebenslustig, zuweilen ausgelassen, wenn auch nicht mehr, als es jungen Leuten eben wohl ansteht. Sie hingegen still, nachdenklich, fast schwermütig. Dennoch sollen sie sterbensverliebt ineinander gewesen sein. Als das Fräulein zum letztenmal die Kirche hier oben besuchte, war auch der Bräutigam mit. Nach der Messe kommt es ihr in den Sinn, in den Friedhof hineinzugehen. Der Bräutigam will anfangs nicht; endlich gibt er nach. Wie sie so Arm in Arm langsam zwischen den Hügeln und Kreuzen hingehen, sagt sie: wie still, wie schön es hier ist! Wenn ich einmal sterbe, möcht' ich hier begraben sein. Ei, erwiderte der Bräutigam scherzend, bis dahin ist kein Platz mehr. Siehst du denn nicht, wie jetzt schon die Gräber dicht aneinander gedrängt sind. Sie werden bald zu einem einzigen großen Blumenhügel zusammenwachsen. – Aber nach vierzehn Tagen war sie tot. Eine entzündliche Krankheit, die sie sich bei einem Ausfluge geholt haben soll, raffte sie so schnell dahin. Der junge Rechtsgelehrte ist aus Schmerz darüber fast wahnsinnig. Nun will man sie, wie es ihr Wunsch war, hier oben begraben lassen.‹ Er hatte mir bei diesen letzten Worten die Papiere überreicht und setzte hinzu, der Pfarrer von Sankt Carl ließe mich bitten, ich möchte alles Nötige veranlassen und mich morgen nachmittags zur Begräbnisstunde im Hause des Großhändlers einfinden. Er selbst würde auch dort sein, da die Leiche vorher bei Sankt Carl eingesegnet werden müsse. Als ich wieder allein war, legte ich die Hand auf die Stirn. Es war mir, als erwache ich aus einem schweren Traum. Wie Schatten löste es sich nach und nach von allen Dingen im Zimmer, das mir schon ganz fremd geworden war. Jeder Stuhl, jeder Schrank, jedes Buch auf den Gestellen schien mich vertraut anzublicken, und über dem Tische dort am Fenster lag es wie ein Sonnenstrahl aus früheren, glücklichen Tagen. Ich überlas aufmerksam die Sterbedokumente und dachte, während ich auf und ab schritt, den Fall in seiner Besonderheit durch. Und je mehr mir dessen volle Bedeutung klar wurde, desto leichter und freier fühlte ich mich, ich wußte selbst nicht warum. Ich bemühte mich jetzt, mich auf die Verstorbene zu besinnen, mir nach den Andeutungen des Kirchendieners ein Bild von ihr zu entwerfen: aber seltsam, es floß mir immer mit jenem Ludmillas zusammen. Ein leiser Duft, der sich im Zimmer verbreitet hatte, mahnte mich endlich wieder an den Strauß. Ich nahm das Tuch davon, füllte ein Glas und stellte ihn hinein. Draußen lagerte eine dumpfe Schwüle, die sich still zu schweren Wolken zusammenballte. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich hatte so viele Nächte bloß in wüstem, entnervendem Halbschlummer zugebracht. Nun gab ich der Schläfrigkeit, die sich wohltuend auf meine Augenlider senkte, nach und ging zu Bette, während draußen die Donner zu rollen anfingen und ein erquickender Regen über die Erde niederging. – Der folgende Tag ließ sich recht unfreundlich an und blieb es. Ich aber fühlte mich nach einem langen und tiefen Schlafe wunderbar gestärkt und ging zum Friedhof hinab, wo ich dem Kirchendiener, der hier zugleich Totengräber ist, zusah, wie er für die Verstorbene ein Grab aufwarf. Zur bestimmten Stunde fand ich mich in dem Hause des Großhändlers ein. Dort wurde ich in einen schwarzausgeschlagenen Empfangssaal geführt, wo bereits eine Menge von Leidtragenden versammelt war. In der Mitte des Saales, vom Scheine leis flackernder Wachskerzen beleuchtet, lag die Tote in einem offenen Sarge, weißgekleidet, den Brautkranz im Haar. Ein junger Mann hatte sich mit verstörten Mienen über sie geworfen und benetzte ihr bleiches Antlitz und ihre starren Hände mit Tränen und Küssen. Als man jetzt Anstalten traf, den Sarg zu schließen, wollte er dies durchaus nicht zugeben. Er wehrte die Männer, die mit dem Deckel nahten, ab und rief mit herzzerreißender Stimme: ›Nein! Ich lasse sie nicht forttragen! Ich lasse sie nicht in die kalte, finstere Erde versenken!‹ Umsonst beschworen ihn seine Angehörigen und Freunde, sich zu fassen; umsonst sprach ihm der Pfarrer von Sankt Carl, ein kleiner, wohlbeleibter Herr, in salbungsvollen Worten Trost zu: er wollte nichts hören und mußte endlich mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Wahrend dieser erschütternden Szene stand ich abseits mit gesenktem Haupte da. War es eine zufällige Ähnlichkeit, war es ein Spiel meiner Phantasie – ich glaubte Ludmilla dort im Sarge zu sehen. Das waren dieselben feingeschnittenen Züge, war dasselbe blonde, schlichtgescheitelte Haar, dieselbe schlanke, zartbusige Gestalt; nur der entstellende Hauch des Todes lag darüber und der fremdartige Prunk und Schimmer der kostbaren Sterbegewänder. Ich verstand den Schmerz des Jünglings, als wär' er mein eigener – und doch war es wiederum nur eine stille, süße Wehmut, was mich durchzitterte. Jetzt ertönten schaurig dumpf die Schläge des Hammers. Die Träger hoben den Sarg, und unter den Klängen eines Chorals wurde die Leiche zur Einsegnung in die Carlskirche gebracht. Von dort aus bewegte sich der Zug, dem eine lange Wagenreihe folgte, gegen den Wyschehrad. Ein kalter Wind jagte dabei graues, zerrissenes Gewölk mit flüchtigen Regenschauern am Himmel hin und her und löschte fast die qualmenden Leichenfackeln aus. Endlich waren wir auf dem Friedhof angelangt, und die nächsten Angehörigen traten laut schluchzend an den Rand des Grabes. Nur der Bräutigam schien schon alle seine Tränen verweint zu haben, denn er starrte jetzt mit trockenem Auge in die modrige Grube. Als man aber den Sarg hineinsenkte, da machte er eine Bewegung, als wollte er sich mit den dumpf niederpolternden Schollen nachstürzen, so daß ihn ein alter Herr, augenscheinlich sein Vater, erschreckt beim Arme faßte. Man konnte ihn jedoch nicht daran hindern, daß er sich, als das Grab geschlossen war, auf den frischen Hügel niederwarf, wo er sich, ohne auf die Umstehenden zu achten, ganz einem stummen, verzweiflungsvollen Schmerze überließ. So verweilte er lange. Allmählich entfernten sich die Anwesenden, indem sie sich noch öfter mit bedauernden Blicken nach ihm umwandten. Nur sein Vater und ein junger Mann blieben bei ihm zurück. ›Artur,‹ sagte endlich der erstere, ›laß es jetzt genug sein. Bedenke, wie mir beim Anblick eines solchen, alles Maß überschreitenden Schmerzes zumute sein muß. Ich bitte dich, mein Kind, steh' auf!‹ Der Jüngling hörte nicht oder wollte nicht hören. ›Wahrlich, Artur,‹ nahm jetzt der andere das Wort, indem er dem alten Herrn einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, ›wahrlich, ich hätte nicht gedacht, daß du so wenig Seelenstärke besäßest. Du schwelgst in deinem Schmerze wie ein nervöses Weib. Ich kenne dich gar nicht mehr.‹ Artur schnellte mit halbem Leib empor und sah ihn mit wilden Blicken an. ›So sprichst du, Richard? Du, mein Freund, von dem ich glaubte, er sei der einzige, der meinen Verlust in seiner ganzen Größe ermessen und mitempfinden könnte!? Ich möchte dich an meiner Stelle sehen! Aber freilich,‹ fuhr er mit grellem Hohngelächter fort, ›deine Elise lebt ja noch! O pfui über den Egoismus, über die Teilnahmslosigkeit der Welt!‹ Und er warf sich wieder aufs Antlitz. Betroffen über das Mißlingen seiner List, schlug Richard die Augen zu Boden. ›Ich bitte Sie, hochwürdiger Herr,‹ wandte sich der Vater an mich, ›helfen Sie uns doch den Unseligen trösten, auf daß er diesen Ort verlasse, der seiner verzweiflungsvollen Stimmung nur immer neue Nahrung gibt.‹ Artur erhob abwehrend die Hand. ›Ich brauche keine leeren Worte. Der geistliche Herr soll sich keine Mühe geben. Seine Vertröstungen auf ein Wiedersehen im Jenseits erinnern mich nur daran, daß ich hier auf Erden alles verloren und daß mir nichts anderes übrigbleibt, als auf diesem Grabe zu sterben!‹ ›Artur, du versündigst dich!‹ rief der alte Herr und warf mir einen Blick zu, der für die Worte des Sohnes um Entschuldigung bat. ›Lassen Sie ihn‹, sagte ich. ›Ich fühle es ja nur zu gut, daß ihm jeder Trost leer und ungenügend erscheinen muß.‹ Diese Worte, die mir aus der tiefsten Seele kamen, schien der Jüngling nicht erwartet zu haben. Er richtete sich allmählich empor und betrachtete mich lange und schweigend. ›Das sagen Sie, ‹ sprach er endlich, › Sie, der Sie nie geliebt?‹ ›Warum verneinen Sie dies so bestimmt?‹ erwiderte ich. ›Ich bin ein Mensch wie Sie. Aber‹, fuhr ich fort, indem ich mir mit diesen Worten gleichsam selber Mut zusprach, ›fassen Sie sich jetzt. Gedenken Sie der Pflichten, die Ihnen das Leben noch auferlegt, und es wird Ihnen freier und leichter zumute werden.‹ ›O nichts davon!‹ entgegnete er hastig. ›Ich habe jetzt keine Pflichten mehr. Und wenn auch, wie vermöcht' ich es, sie zu erfüllen! Die Tatkraft, die noch vor kurzem meine Brust geschwellt, ist erloschen, und der Flug meines Geistes auf immer gelähmt.‹ ›Das scheint Ihnen jetzt so‹, sagte ich ruhig. ›Ich bin überzeugt, daß alles, was an edlen Kräften in Ihrem Wesen liegt, sich über kurz oder lang wieder regen und sich reiner und herrlicher entfalten wird, als dies vielleicht bei dem Besitze Ihrer Geliebten der Fall gewesen wäre. Denn‹, setzte ich hinzu und fühlte mich durch die Zuversicht meiner Rede selbst wunderbar getröstet und erhoben, ›ein großer Schmerz läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefstes zu sammeln. Er reift in uns die Erkenntnis, daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns selbst finden, Dauer verspricht und jedes andere, so schön es auch sei, vor einem Hauche in nichts zerstieben kann.‹ Artur blickte vor sich hin. ›Aus Ihnen spricht der Geist der Entsagung‹, erwiderte er endlich. ›Es ward Ihnen schon von jeher nahegelegt, so zu denken und den Blick auf die Kehrseiten aller irdischen Freuden zu richten. Wie hätten Sie auch sonst stark genug sein können, Ihr Gelübde zu tragen.‹ Er bemerkte nicht, wie ich im Innersten zusammenzuckte, und fuhr fort: ›Ich aber war stets ein Kind des Lebens. Ich freute mich der Blüten, ohne zu bedenken, wie rasch sie welken sollen, und genoß in vollen Zügen die Gaben der Stunde, ohne mich darum zu kümmern, was die nächste mir rauben könne. Und dann – mich hatte, was auch finstere Asketen dawider sagen mögen, schon die höchste Erdenseligkeit verheißend gestreift! O, Sie wissen nicht, was es ist, eine geliebte Braut ans Herz zu drücken!‹ setzte er, von der Erinnerung überwältigt, hinzu. ›Diesen Boden, in dem sie jetzt modern soll, betrat ich noch vor kurzem an ihrer Seite. Wie reizend erschien sie mir damals in ihrer milden Schönheit und aufknospenden Lebensfülle! Wie weich lag ihr Arm in dem meinen, wie lind schmiegte sich ihr Haupt an meine Schulter, als sie die verhängnisvollen, ahnungsreichen Worte sprach! – Sie werden vielleicht davon gehört haben?‹ Ich bejahte es schweigend. ›Wie hätt' ich mir träumen lassen, daß diese Worte sich so bald erfüllen würden!‹ Und plötzlich um sich blickend, fragte er: ›Von wo aus sieht man hier auf die Moldau hinab?‹ ›Gleich von jener Bastei aus‹, erwiderte ich. ›Aber warum fragen Sie?‹ fuhr ich fort, da ich bemerkte, daß der alte Herr und Richard einander ängstlich ansahen. ›Sie sollen es erfahren. Kommen Sie!‹ Und er ergriff mich, da ich zögerte, beim Arme und eilte mit mir, während die andern uns auf dem Fuße folgten, nach der Bastei. Dort stützte er sich mit beiden Händen auf die Brustwehr und sah schweigend hinab. ›Wie trüb und schlammig heute der Fluß vorüberzieht, als verschmäh' er es, den grauen, unfreundlichen Himmel zu spiegeln‹, sagte er endlich tonlos. ›Es ist noch nicht lange her, daß dort unten in einer duftigen Mondnacht ein Kahn voll heiterer, lebensfroher Menschen vorüberfuhr. Mein Vater, mein Freund waren darunter – und ich und meine Braut.‹ ›Wozu dieses beständige Wühlen in deiner Wunde‹, fiel ihm der Vater ins Wort, während ich atemlos aufhorchte. Artur warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu und fuhr fort: ›Wir kehrten von Podol zurück, wo wir uns unter Scherzen, anmutigen Spielen und frohen Wechselgesängen bis tief in die Nacht hinein aufgehalten hatten. Alles war von den Geistern der Laune und des Weines erregt; selbst meine sonst so stille Friederike wurde heiter, beinahe übermütig. Als wir in diese Nähe kamen und das alte Fort mit düsteren Umrissen still im Mondlichte aufragen sahen, rief einer von der Gesellschaft: laßt uns doch den alten Wyschehrad mit einem Lied begrüßen! Dieser Vorschlag fand lebhaften Anklang, und man drängte mich von allen Seiten, einen Gesang anzustimmen. Gut, erwiderte ich, wir wollen die Schläfer hinter den Wällen wachsingen. Und rasch mich besinnend, hob ich mit einem Liede an, dessen Worte mir der Augenblick eingab und welche ich einer bekannten Melodie unterschob.‹ › Sie sangen das Lied?‹ fragte ich. ›Ja, ich‹; erwiderte er, mein Erstaunen nicht in seiner eigentlichen Bedeutung fassend. ›Jetzt ist es mir, ich hätte mich damit versündigt. Es war ein echtes Lebenslied, begann weich und schmelzend, schwoll aber rasch zum Ausdrucke des frohesten Übermutes an. In welchem Vollgefühle des Glückes, wie zukunftstrunken sang ich es. Mir war, es müsse durch die Stille der Nacht über die ganze Erde erklingen und in jeder Brust einen Widerhall meiner Seligkeit wachrufen.‹ ›Ich habe Sie singen hören und den Kahn vorüberfahren sehen‹, sagte ich. Artur sah mich überrascht an. ›Erinnerst du dich nicht mehr,‹ bemerkte Richard, ›daß uns jemand auf eine dunkle Gestalt aufmerksam machte, die er hinter dem äußersten Mauervorsprung der Zitadelle zu erkennen glaubte. Vielleicht war es der geistliche Herr.‹ ›Ich war es‹, entgegnete ich. ›Und vielleicht‹, fuhr ich gegen Artur fort, ›kann es etwas zu Ihrem Troste beitragen, wenn ich Ihnen bekenne, daß mir damals Ihr Lied sehr weh getan. Während Sie dort unten an der Seite Ihrer Geliebten und von froher Gesellschaft umringt vorüberfuhren, stand ich hier oben allein, einsam, die Brust voll namenloser Sehnsucht nach den Freuden, davon Sie sangen und die mir verwehrt waren, ewig verwehrt bleiben müssen. Wenn Sie der Schmerz über Ihren Verlust wieder mit seiner ganzen Wucht befällt und Sie zu überwältigen droht, dann denken Sie derer, die an den schönsten Verheißungen, an den holdesten Genüssen dieser Welt bebenden Herzens und mit dem Entsagungsworte auf den Lippen vorüberschreiten müssen.‹ Ich hatte bei diesen Worten die Hand des Jünglings ergriffen, der sich willig und fügsam von mir fortführen ließ. Als wir an dem Friedhofe vorbeikamen, wollte er nochmals hineingehen. ›Nicht doch‹, bat der alte Herr, der schon froh war, seinen Sohn gefaßter zu sehen, und stellte sich ihm in den Weg. ›Nur noch den letzten Abschied, Vater‹, sagte Artur, indem er ihn sanft beiseite schob und durch das Gitter trat. Wir anderen folgten. Er blickte eine Zeitlang mit gesenktem Haupte schweigend auf den Hügel nieder, dann nahm er den Arm seines Vaters und ging. Ich begleitete sie noch bis an ihren Wagen, der in der Nähe hielt. Beim Abschiede sagte der Jüngling: ›Leben Sie wohl, ich werde Sie und Ihre Worte niemals vergessen.‹ Die beiden anderen drückten mir mit stummem Danke die Hand. Ich sah eine Weile dem fortrollenden Wagen nach; dann kehrte ich langsam zurück. Eine geheimnisvolle Macht trieb mich noch einmal in den Friedhof. Da stand ich nun allein inmitten der Gräber. Wie still war es um mich her! Nur manchmal rauschte ein kühler, feuchter Windstoß in den Trauerweiden und Zypressen und strich mit leisem Klingen durch die metallenen Kreuze. Die Schauer der Vergänglichkeit quollen und rieselten durch die Luft, und aus allen Hügeln schwieg mich das große Rätsel des Todes an. Ein tiefes, wohltuendes Gefühl von der Nichtigkeit des Daseins überkam mich, und eine hehre Freude zitterte in meiner Brust auf. ›Ja‹, rief ich und breitete die Arme aus, ›zweifach wird die Welt überwunden: entweder grausam durch den Tod, der alles Irdische des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und Verwesung bloßlegt, oder schön und herrlich durch den Mut der Entsagung, den Christus gepredigt und auf Golgatha besiegelt.‹ Und immer freier, immer leichter wurde mir; wie stückweis fiel es von mir ab, und gleich Flügeln fühlt' ich es an den Schultern. Als ich mich später, einem inneren Drange folgend, an die Orgel setzte, da stimmten die rauschenden, langgezogenen Töne wieder ganz zu dem feierlichen Ernste, zu der tiefen Ruhe meiner Seele.« – »Und so,« fuhr er fort, während sich noch der Nachglanz jener erhabenen Stunde in seinen Augen spiegelte, »so lebte ich wieder, mit dem stärkenden Bewußtsein meiner Pflicht, mein stilles Leben fort; mehr und mehr verblaßte und verflüchtigte in mir die Erinnerung an jene Nacht, und immer seltener und schwächer zuckte mein Herz beim Anblicke des Mädchens, dessen blondes Haar ich einst mit brennender Lippe gestreift.« »Und welches nun schon lange eine glückliche Gattin und Mutter ist«, sagte ich leise. »Ja,« erwiderte er; »ich habe sie getraut und ihre Kinder getauft. Und da fällt mir ein, daß es gerade die Schrecken des Krieges waren, was ihr Glück begründete oder doch beschleunigte. Sie hatte ihr Herz einem jungen Soldaten geschenkt. Jedoch konnte, wie dies meistens unter ähnlichen Umständen der Fall ist, an eine Verbindung um so weniger gedacht werden, als der Geliebte keine Aussicht hatte, bald vom Militär loszukommen und sich eine andere Lebensstellung zu erwerben. Da geschah es noch, daß er plötzlich versetzt wurde, und so brach nun auch über Ludmilla das Leid des Daseins herein. Man sah es, wie sie sich still härmte und die Tage ihrer schönsten Jugend in öder, hoffnungsloser Sehnsucht verlebte. Ich hatte inzwischen angefangen, von meinen geringen Ordensbezügen das Möglichste zurückzulegen, um den Liebenden doch wenigstens nach Jahren eine gewisse Summe zur ersten Beschaffung eines einfachen Hauswesens übergeben zu können. Da kam das Jahr Achtundvierzig mit seinen Revolutionsstürmen, und der Entfernte zeichnete sich auf dem italienischen Schlachtfelde derart aus, daß er dekoriert und zu einer Beförderung in Vorschlag gebracht wurde. Da er aber einige schwere Verwundungen erlitten hatte, die ihn, wie sich später erwies, zum aktiven Dienst untauglich machten, so willigte man um so eher in seine Bitte, ihn als Zeugwart auf dem Wyschehrad anzustellen, als der Vater Ludmillas mit zunehmenden Jahren zu kränkeln begonnen hatte. So bedurften die beiden meiner Hilfe nicht mehr, und meine kleinen Ersparnisse kamen Prokop zugute, dem sich damit unter meiner Anleitung eine wissenschaftliche Laufbahn erschloß. Die Alten lebten noch ein paar Jahre still und zufrieden bei den Neuvermählten; endlich starb der Vater – und bald darauf die Mutter.« »Und was ist aus Artur geworden?« fragte ich. »Erraten Sie es nicht?« antwortete er lächelnd. »Er ist wieder glücklich, im Besitz einer vortrefflichen Gattin und einer ganzen Reihe von allerliebsten Kindern. Und so bin nur ich, weil ich es eben mußte, einsam geblieben und werde es sein bis an mein Ende.« Er hatte bei diesen Worten, in deren Heiterkeit ein leiser, sanfter Schmerzenston wunderbar vibrierte, die Gläser gefüllt. »Auf Ihr Glück!« sagte er und trank. Dann legte er mir die Hand wie zum Segen aufs Haupt: »Der Himmel schütze Sie vor den feindlichen Kugeln.« Es war spät geworden, und ich mußte fort. Er geleitete mich zum Doppeltor der Zitadelle, das mir der verschlafene Wachegefreite aufschloß. Wir umarmten uns und drückten einander zum letztenmal die Hand. Dann riß ich mich los, eilte durch die Halle und auf der Straße fort, die in einer scharfen Krümmung die Höhe hinab und der Stadt zuführt. Am Buge hielt ich an und blickte nach der Zitadelle zurück. Hoch oben auf der Plattform stand Innocens und winkte noch einmal zum Abschied. Sein Antlitz schimmerte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk der Frühlingsnacht brach, wie verklärt. Marianne Die folgenden Mitteilungen rühren von einem Poeten her, welcher seinerzeit einiges von sich reden gemacht, nunmehr aber, wie so mancher andere, verschollen und vergessen ist. Das Wenige, das er geschrieben, mag noch hie und da im Bücherschrank eines Literaturfreundes oder in dem bestäubtesten Fache einer Leihbibliothek zu finden sein, und der Zukunft bleibt es anheimgestellt, ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht. * * * Am 15. April ... Ostern ist vorüber, teuerster Fritz, und allmählich schließen sich die Salons der Residenz. Ach, wie oft hab' ich im Laufe dieses Winters Deiner und der stillen Universitätsstadt gedacht, wo Du mit einer kleinen Schar begeisterter Hörer ganz Deiner Wissenschaft lebtest, während ich hier, von Einladungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen aller Art im Kreise herumgejagt, zu keiner Ruhe und Sammlung des Geistes, zu keiner gleichmäßigen Tätigkeit gelangen konnte. Und dabei noch das drückende Gefühl, daß man all den Leuten, die einem ihre schimmernden Prunkgemächer öffnen, doch eigentlich nichts ist – und auch nichts sein kann! Wenn ich so in später Nacht mißmutig und abgespannt aus irgendeiner glänzenden Gesellschaft in meine entlegene Vorstadt zurückkehrte, da fiel mir dieser leidige Müßiggang stets schwer aufs Herz, und mehr als einmal nahm ich mir vor, alle Beziehungen abzubrechen, in welche ich durch meine so plötzlichen literarischen Erfolge wider Willen hineingeraten war. Aber wie hätte ich diesen Entschluß ausführen können, ohne geradezu rücksichtslos zu sein, ohne die Menschen zu verletzen, welche mich in der besten Absicht, zu nützen und zu fördern, mit den hervorragendsten Kreisen bekannt gemacht. Und so blieb mir nichts übrig, als wohl oder übel bis ans Ende auszuharren. – Doch nun will ich mit doppeltem Behagen wieder ganz mir selbst angehören und mich gleich einer Raupe in dem kleinen Hause der guten Frau Heidrich einspinnen, deren Sohn noch immer als Ingenieur an der fernen Bahnstrecke weilt, wohin er sich im vorigen Sommer mit seiner Gattin, der Tochter eines hiesigen Kaufmannes, gleich nach der Hochzeit begeben hatte. Alles um mich her sieht mich wieder so bekannt und vertraut an: die Bilder an den Wänden, die vergilbten Schiller-und Goethe-Büsten, das alte treue Tintenfaß auf dem Schreibtische – und es weht durch meine Stube wie ein Hauch aus jenen Tagen, wo ich noch in seliger Verborgenheit über meinen ersten Arbeiten saß. So hell und freundlich wie damals ist es nun allerdings bei mir nicht mehr. Denn man hat meinen Fenstern gegenüber, an der Stelle des Holzplatzes mit den prächtigen Nußbäumen, ein hohes palastähnliches Gebäude aufgeführt, das mir Luft und Sonne nimmt, wie denn überhaupt die weitläufige Gasse, in der es, wie Du weißt, vor einigen Jahren noch ganz ländlich aussah, mehr und mehr durch großstädtische Wohnkasernen verengt und verdüstert wird. Doch dafür entschädigt mich ja unser Hausgarten, welcher bis jetzt – dem Himmel sei Dank! – der allgemeinen Bauwut entgangen ist. Ich habe dort stets meine glücklichsten Schaffensstunden gehabt, und schon beginnt der Lenz in dem kleinen Stückchen Natur seine ersten Reize zu entfalten. In hellem Grün schimmert der Rasen; das Aprikosenspalier ist mit weißen Blüten – bedeckt selbst der alte Apfelbaum, auf dessen Stamm ich heute einen goldbraunen Schmetterling sitzen sah, treibt bereits Knospen. Den Dir wohlbekannten verwitterten Pavillon mit dem schmalen Rohrsofa und den gebrechlichen Stühlen will ich auch diesmal wieder in Beschlag nehmen, und so hoff' ich bald alles Versäumte nachholen und so manchem mißgünstigen Zweifler und Kopfschüttler erweisen zu können, daß ich mein Tiefstes und Bestes noch lange nicht gebracht! Anfang Mai. Nun bin ich wieder so recht in meinem Elemente! Rings um mich her blühen Flieder und Goldregen, und fast kein Laut menschlicher Nähe dringt in den Garten, der frisch und duftig gleich einer weltvergessenen Oase zwischen stauberfüllten Gassen und Gäßchen mitteninne liegt. Einige Baumwipfel sind während der letzten Jahre so mächtig geworden, daß sie den Horizont an vielen Stellen ganz abschließen; nur die allernächsten Dächer kommen hie und da zum Vorschein, und wie meilenweit entfernt ragt die Turmspitze des Stephansdomes in den blauen Himmel hinein. Zuweilen tönt das dumpfe Rollen eines Wagens an mein Ohr, der helle Ruf einer Kinderstimme – dann wieder stundenlang nichts als das Summen wühlender Bienen und das Gezwitscher der Sperlinge, auf welche die Hauskatze, wie ein kleiner Tiger anzusehen, in ihrer versteckten Weise Jagd macht. – Wie wohl tut mir diese Ruhe, diese Abgeschiedenheit! Einem Traume gleich verdämmert in mir die Erinnerung an all die zeitraubenden Zerstreuungen und Festlichkeiten, und schaffensfroh in holder Gleichmäßigkeit, fließen meine Tage dahin. Das unselige Werk, das mir schon so viele fruchtlose Mühe, so viele herbe Qualen und Zweifel bereitet, wächst allmählich seiner Vollendung entgegen; alte, längst aufgegebene Entwürfe treten wieder mit frischem Reiz an mich heran, und neue Ideen leuchten in mir auf. Was brauch' ich mehr, um glücklich zu sein?! Nur Du fehlst mir, Teuerster, und ich möchte, wie einst, die Abendstunden mit Dir in der traulichen Weinlaube verplaudern können. Statt dessen unternehme ich nun hin und wieder nach getaner Arbeit einen einsamen Spaziergang; zumeist vor den nahen Linienwall hinaus, wo die schweigenden Friedhöfe liegen und das Arsenal in ernster, düsterer Pracht aufragt. Dort schreit' ich hinan zu dem alten Wahrzeichen, zur »Spinnerin am Kreuz«, lasse die Blicke über die weithin ausgedehnte Stadt bis zu den grünen Höhen an der Donau schweifen, sehe die Sonne versinken und vom Bahnhof aus lange Züge dem schönen Süden zubrausen. Wenn ich dann in der Dämmerung heimkehre und wieder die menschenvollen Gassen betrete, wenn ich die Kinder gewahre, die vor den Türen spielen oder mit ängstlicher Vorsicht das Abendbrot aus den nächsten Schänken und Kramläden nach Hause tragen, und vorüberkomme an den dicht belagerten Brunnen, wo Bursche und Mägde miteinander schäkern, während die Arbeiter aus den Fabriken strömen, Taglöhner mit Gesang den Bau verlassen und von Zeit zu Zeit eine stolze Karosse mit geputzten Herren und Frauen durch das abendliche Gewühl rollt, da durchschauert es mich wundersam. Ich fühle mich mit allem, was da lebt und atmet, so innig verwachsen und eins – und doch wieder so erdenfremd, so emporgehoben über das Treiben und Trachten, über die Sorgen und Hoffnungen, über die Leiden und Freuden dieser Welt! Ende Mai. »Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist bald allein«, singt Goethes Harfner. In gewissem Sinne ist es wahr; aber eigentlich hab' ich mein Leben lang gerade das Gegenteil erfahren. Denn so oft ich jeden Verkehr abgebrochen hatte und mich durch die Umstände wohl verschanzt und geborgen glaubte, traten auch bald wieder Ereignisse ein, die mich, entweder rasch und gewaltsam oder leise und unmerklich, zur Geselligkeit zurückführten. So ist auch jetzt mein still vergnügtes Dasein nicht mehr so ganz einsam und abgeschieden, wie ich es mir für diesen Sommer erwarten durfte. Der Sohn des Hauses ist nämlich mit seiner Frau, die eben erst Mutter geworden, und dem sechsjährigen Töchterchen eines verstorbenen Amtskollegen hier eingetroffen. Er hat seine Aufgabe an der Strecke gelöst und wird nun wieder im Bureau verwendet. Da ging es sogleich lebhaft und geräuschvoll in meiner Nähe zu. Kisten und Kasten waren abgeladen worden; man brachte allerlei Möbel und Gerätschaften zum Lüften und Scheuern in den Hof, und in den Garten kam die Kleine gelaufen, wo sie alsbald daranging, den letzten Fliederschmuck zu verwüsten. Ich räumte ihr das Feld und begab mich hinauf in meine Stube. Und je länger ich dort alle mutmaßlichen Folgen dieses Zwischenfalles erwog, desto gewisser schien es mir, daß nun meine ungestörten Tage gezählt seien. Aber meine Phantasie hatte wieder einmal zu schwarz gesehen. Denn sobald alles unter Dach und Fach gebracht war, kehrte auch die frühere Ruhe ins Haus zurück, und man bemerkte jetzt kaum, daß es einen Zuwachs an Bewohnern erhalten. Heidrich, dessen heiteres, offenes Wesen Dir noch in guter Erinnerung sein wird, geht schon des Morgens seinen Berufsgeschäften nach, und Frau Luise, eine hochgewachsene schmächtige Brünette, wird ganz von der Wartung und Pflege ihres Knäbleins in Anspruch genommen, das seit seiner Geburt hoffnungslos dahinkränkelt. Zuweilen bringt sie den armen Wurm auf eine Stunde in den Garten hinab, damit er etwas Luft und Sonnenschein genieße. Dann ist es gar rührend, mit anzusehen, wie die junge Mutter seinen Schlaf überwacht und ihm, wenn er die Augen aufschlägt, ein Zweiglein oder eine Blume entgegenhält, damit er nur ein wenig lächle und mit den abgezehrten Händchen danach lange. Auch die kleine Erni, welche im Hause erzogen wird, stört mich nicht. Sie besucht eine nahe Schule, und da ich die Kinder seit jeher geliebt, so mag ich es gerne leiden, daß das muntere pausbäckige Geschöpfchen in den Erholungsstunden um mich herumspringt und zutraulich in meinen Büchern und Schriften kramt. Des Abends pflegt sich die ganze Familie unter dem Vorsitze der alten Frau, welche früher nur selten das Zimmer verlassen hatte, in der Weinlaube zum Vesperbrote zu versammeln. Manchmal geselle auch ich mich dem kleinen Kreise und erfreue mich am Anblick eines häuslichen Glückes, das ich so oft für mich selbst ersehnt. Unlängst erschien auch eine jüngere Schwester der Frau Luise, ein hübsches, schlankes, kaum den Kinderschuhen entwachsenes Mädchen. Ein stattlicher Jüngling begleitete sie; er soll bereits ihr Verlobter und der Sohn eines wohlhabenden Fabrikherrn aus der Umgegend sein. Eine andere Schwester ist, wie ich höre, in der Provinz verheiratet. – Und so bin ich, siehst Du, wieder schlichten Menschen nahegerückt worden, wie sie mich stets am meisten angezogen und bei denen mir das Herz aufgeht, während ich der literarischen sowohl als auch der vornehmen Welt gegenüber eine gewisse Scheu niemals habe loswerden können. Am 18. Juni. Ich wollte, Du könntest jetzt den Garten sehen! Die beiden Rosenbüsche am Eingang, die in den letzten Jahren nicht mehr hatten treiben wollen, scheinen plötzlich wieder jung geworden zu sein, denn sie stehen über und über in Blüten und Knospen und senden, von einem Meer goldgrüner Käfer umschwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße, zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau, und rot; Lilien haben ihre weißen Kelche erschlossen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenschein mit den wunderbarsten Lichtern und Reflexen auf dem Rasen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß einem vor seliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem allem den letzten, abschließenden Zauber verleiht, das ist ein holdes Wesen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, fast täglich im Garten erscheint und sich inmitten des traumhaften Blühens und Leuchtens wie eine Märchengestalt ausnimmt. Du lächelst, Lieber? Ach, lies nur weiter und sieh, welch ein seltsamer Zustand die Seele Deines Freundes überkommen hat. – Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tisch länger als sonst in meiner Stube verweilt; um es nur zu gestehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig eingedämmert. Als ich später hinabging und den Hof durchschritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme entgegen. Behutsam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch ein lieblicher Anblick bot sich mir dar! Auf dem mittleren Rasenplatze, unter dem alten Apfelbaume, stand ein schlankes jugendliches Frauenbild und wiegte das Knäblein der Gattin Heidrichs, welche mit Erni auf einer nahen Bank saß, in den Armen. Der Sonnenstrahl, der durch die Zweige brach, umschimmerte ihr dunkelblondes Haar und ihr rosiges Antlitz, das sie mit schalkhafter Zärtlichkeit zu dem blassen, verfallenen Gesichtchen des Kleinen hinabneigte. Sie gab ihm die wunderlichsten Schmeichelnamen, küßte ihn und fing endlich, indem sie ihn mit reizender Gebärde gegen die Brust drückte, ein leichtes Getänzel an, wobei zwei schmale, längliche Füßchen unter dem Saume ihres hellfarbigen Kleides zum Vorschein kamen. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, und eine dunkle Röte schoß ihr ins Gesicht. Sie mußte offenbar den Späher bemerkt haben, und schon im nächsten Augenblick war sie auf Frau Luise zugeeilt und hatte ihr das Kind in den Schoß gelegt. Nun überkam mich eine sonderbare Verlegenheit. Ich wußte nicht, ob ich mich zurückziehen, ob ich eintreten sollte. Endlich entschloß ich mich zu letzterem und ging rasch, wie um etwas zu holen, an den Frauen vorüber. Als ich mich gleich darauf mit einem Buche unter dem Arme wieder entfernen wollte, hielt mich Frau Luise mit den Worten an: »Wohin so eilig? Bleiben Sie doch ein wenig bei uns.« Und mit einer Handbewegung fügte sie hinzu: »Herr A. – meine Schwester Marianne.« Diese aber, nachdem sie sich noch immer flammend und verwirrt, ohne mich anzusehen, leicht verneigt hatte, langte ein rundes Hütlein herab, das an einem Baumzweige hing, stülpte es auf den Kopf und zog die Handschuhe an. »Wie, du willst schon wieder fort?« fragte Frau Luise erstaunt. »Ja, mein Mann erwartet mich –« und schon hatte das anmutige Geschöpf den Sonnenschirm ergriffen und die Schwester und die Kinder zum Abschied geküßt. »Also morgen, wie verabredet«, rief noch Frau Luise, während die andere mit einem hastigen Zeichen des Einverständnisses aus dem Garten eilte. Ich sah ihr nach wie im Traum. Frau Luise aber wandte sich lächelnd zu mir und sagte: »Wie Sie meine Schwester erschreckt haben! Seltsam, sie war doch sonst nicht so menschenscheu. Sollte sie es in der Provinz geworden sein?« »Das ist also die Schwester, von der Sie mir sagten, daß sie in Marburg verheiratet sei?« fragte ich, noch immer ganz verloren. »Allerdings, dieselbe. Ihr Mann will sich jetzt, einer industriellen Unternehmung wegen, hier ansässig machen. Sie sind gestern eingetroffen und im Gasthof abgestiegen; später werden sie in unserer Nähe eine Wohnung beziehen.« »Und wie lange ist Ihre Schwester schon verheiratet?« »Seit fünf Jahren. Aber sie sieht noch immer so jugendlich und mädchenhaft aus wie an dem Tage, wo sie mit Kranz und Schleier an den Altar trat. Wer würde denken, daß sie älter ist als ich? Freilich hat sie keine Kinder«; und dabei sah Frau Luise mit leichtem Erröten auf das Knäblein nieder, das inzwischen in ihrem Schoße eingeschlummert war. Ich erwiderte nichts und spielte sinnend mit den krausen Locken Ernis, die sich an mich geschmiegt hatte. »Wir haben uns beide, wie jetzt Emilie, rasch zur Ehe entschlossen«, fuhr Frau Luise fort; »denn wir bekamen eine Stiefmutter ins Haus, die uns Mädchen das Leben recht sauer machte. Namentlich hatte Marianne viel von ihr zu leiden, weil sie durch ihr liebenswürdiges Wesen alle Herzen anzog. Sie glauben gar nicht, wie heiter, wie erlustigend sie sein kann! Ich bin glücklich, sie wieder hier zu haben, und wir beabsichtigen, uns gleich morgen zur Feier ihrer Ankunft einen fröhlichen Pfingstsonntag zu machen. Wir wollen im Garten zu Mittag essen und uns dann vergnügen, wie wir können und mögen. Emilie und ihr Verlobter nehmen auch teil; wenn es Ihnen angenehm ist, unser Gast zu sein, so werden Sie uns alle sehr erfreuen und wie ich hoffe – meine Schwester nicht mehr so verlegen und zurückhaltend finden.« Ich war immer nachdenklicher geworden, und ein dumpfer Schmerz hatte sich um mein Herz gelegt. Aber bei dem Gedanken, die junge Frau morgen wiederzusehen, drängte sich ein stiller Jubel durch die Beklommenheit meines Inneren. Ich nahm die Einladung freudig an und verbrachte den Rest des Tages in angenehmer Unruhe, die mich auch des Nachts in halbwachen Träumen verfolgte, so daß ich erst gegen Morgen fest einschlief. Als ich erwachte und ans Fenster trat, stand die Sonne schon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingsttag. Hell und blau spannte sich der Himmel über den funkelnden Dächern aus, und lustig zwitschernd schossen die Schwalben hin und her. In den Gassen herrschte feierliche Stille; hier und dort traten schmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häusern, während wohl ein großer Teil der Bevölkerung schon mit dem frühesten das Weichbild der Residenz hinter sich gelassen und die grünen Fluren und Höhen, die rauschenden Wälder der Umgegend aufgesucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genellis waren eben zur öffentlichen Ausstellung gelangt; ihnen wollt' ich den langen Vormittag widmen. Aber die Gestalten und Intentionen des genialen Künstlers, welcher so eigentümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht imstande, meinen Geist zu fesseln. Das Bild Mariannens stieg beständig vor mir auf und verknüpfte sich mit einer unsicheren Vorstellung von ihrem Gatten, welchen kennenzulernen ich eine geheime Scheu trug. So verließ ich zerstreut, wie ich gekommen, das Ausstellungsgebäude und schritt, da es noch immer nicht Mittag war, eine Zeitlang in der Ringstraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt schon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt muteten mich die stolzen Palastreihen an, fremd und kalt wie die Menschen, die heute stiller und weniger zahlreich als sonst an mir vorüberkamen. Als ich endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war, fand ich die kleine Gesellschaft bereits im Garten versammelt. Erni sprang mir sogleich entgegen, und ich näherte mich grüßend der Mutter Heidrichs, welche unter den blühenden Akazien an der Feuermauer des Nachbarhauses saß, während die beiden jungen Frauen in einiger Entfernung den Tisch deckten. Frau Luise lächelte mir freundlich zu; Marianne aber fuhr, ohne aufzublicken, in ihrer Beschäftigung fort. Nun trat das Liebespaar Hand in Hand aus der Laube, und auch Heidrich kam mit seinem Schwager heran, den er Dorner nannte. Es war ein großer, hagerer Mann in den ersten Dreißigen mit regelmäßigen, aber harten Gesichtszügen, bei deren Anblick ich eine wohltuende Erleichterung empfand. Ich wechselte mit ihm einige Worte, und dann irrte mein Blick unwillkürlich nach seiner Frau, die sich jetzt, halb von uns abgewandt, mit einem großen Blumenstrauße zu schaffen machte, der für die Tafel bestimmt schien. Sie trug diesmal ein weißes, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid, das die jungfräuliche Zartheit ihrer Formen reizvoll hervortreten ließ. Ein breites, hellgrünes Seidenband umgürtete, nach rückwärts geknüpft, ihren schlanken Leib; ein schmäleres von gleicher Farbe hielt die Fülle des Haares zusammen, das ihr, tief in die kleine Stirn hinein gescheitelt, anmutig Haupt und Nacken umquoll. Als wir zu Tisch gingen, sollte ich neben ihr meinen Platz erhalten; aber Erni verlangte durchaus bei Tante Marianne zu sitzen, und da sich Heidrich bereits dieser zur Linken niedergelassen hatte, so kam ich dem Wunsche des Kindes entgegen, indem ich mich rasch auf die andere Seite neben Frau Luise begab. Nun hatte ich sie mir gegenüber und ihr Antlitz vor Augen, in welchem mir erst jetzt die Ähnlichkeit mit dem ihrer Schwester Emilie auffiel. Aber die Züge dieses jungen Mädchens erschienen in unangenehmer Deutlichkeit neben jenen Mariannes, welche von einem weichen, vermittelnden Schmelz überhaucht waren, wie er die Frauenköpfe Greuzes kennzeichnet, hier jedoch von einer fast kindlichen Frische des Kolorits durchleuchtet wurde. Ihr Blick wich dem meinen aus; schweigend, aber mit inniger Sorgfalt legte sie der Kleinen an ihrer Seite von den Speisen vor und lächelte, während sie selbst zierlich und flüchtig aß, still zu den heiteren Bemerkungen, welche ihr Nachbar zur Linken aufmunternd an sie richtete. Nach und nach wurde sie gesprächiger, wozu wohl der feurige Ungarwein, der in kleinen Gläsern gereicht worden war und von dem sie mehrmals genippt hatte, mochte beigetragen haben. Eine eigentümliche Selbstvergessenheit schien sie allmählich zu überkommen; ihre großen dunklen Augen begannen zu funkeln, und mit heller Stimme und fröhlichem Lachen erwiderte sie die Scherze Heidrichs, dessen Munterkeit ebenfalls mehr und mehr zunahm. Und als der junge Mann nach beendeter Mahlzeit sich plötzlich erhob und ein gemeinsames Spiel vorschlug, da sprang auch sie auf und blickte, indem sie zustimmend in die Hände klatschte, erwartungsvoll vor sich hin. Die andern, selbst die alte Frau, folgten ihrem Beispiele; nur Dorner, der über Tisch ein fast verletzendes Schweigen beobachtet hatte, blieb sitzen. »Ich bin kein Freund von solchen Dingen«, sagte er und blies den Rauch seiner Zigarre in die Luft. »Ich will den Zuschauer machen.« Indessen war schon allerlei in Vorschlag gebracht worden; allein die erregte Gesellschaft fand nichts lebhaft, nichts erlustigend genug. Endlich nannte jemand »blinde Kuh«, und unter allseitigem Beifall entschloß man sich rasch zu diesem tollen Spiele. Ein Tuch wurde gebracht; man verband dem Verlobten Emiliens, als dem ersten, den das Los getroffen, die Augen, und das gegenseitige Fliehen und Haschen begann. Mir war dabei ganz eigentümlich zumute; Erinnerungen aus der Knabenzeit tauchten in mir auf, und während ich mich im ganzen mehr betrachtend als teilnehmend verhielt, erfreute ich mich an den Bewegungen der jugendlichen Gestalten, an dem Jubel des Kindes und der erzwungenen Rührigkeit der Matrone. Überaus lieblich war aber Marianne anzusehen, wie sie in ihrem weißen Gewande mit glühenden Wangen umherflatterte und die Geblendeten mit holder Ausgelassenheit neckte, bis sie endlich selbst gefangen wurde. Nachdem man ihr die Binde um die Augen gelegt hatte, blieb sie noch eine Weile, tief aufatmend, mit ausgebreiteten Armen stehen; dann aber schoß sie pfeilschnell gleich einer Libelle im Zickzack bald hierhin, bald dorthin. Bei diesen anmutigen Haschversuchen war sie endlich auch mir nahe gekommen; schon fühlte ich die Berührung ihrer Hände – als sie plötzlich, unter dem Tuche bis zum dunklen Karmin des Pfirsichs errötend, von mir abließ und mit einer raschen Wendung ihren Schwager zu fassen bekam, der ihr wohl nicht ganz ohne Absicht in die Arme lief. Während ihm die Augen verbunden wurden, sagte er, die Frauenzimmer möchten sich jetzt in acht nehmen; denn er wäre gesonnen, keine von ihnen ohne herzhaften Kuß wieder loszulassen. Marianne schien sogleich verstanden zu haben, auf wen diese Rede eigentlich gemünzt war; denn sie legte bedeutsam den Finger an den Mund und huschte lautlos an das äußerste Ende des Gartens. Der Schalk aber, dem die Binde nicht allzu fest sitzen mochte, bewegte sich zum Schein noch ein wenig zwischen den übrigen hin und her; dann eilte er ihr nach, und da er, wie man bemerken konnte, recht wohl sah, so hatte die junge Frau Mühe, seinen Nachstellungen zu entkommen. Aber es gelang ihr doch, im entscheidenden Momente auszubiegen und, indem sie ein paar Blumenbeete und eine niedere Hecke von Stachelbeerstauden übersprang, in den Kreis zurückzulaufen. Dort angelangt, erblaßte sie plötzlich, griff mit beiden Händen zum Herzen, wankte und fiel wie leblos zu Boden. Alles stürzte erschrocken auf sie zu; man löste ihr den Gürtel und benetzte ihre Schläfen mit Wasser. Sie kam auch alsbald wieder zu sich, fuhr mit der Hand über die Stirn und ließ sich, matt und kraftlos, wie sie war, nach dem Pavillon bringen, der sich hinter den Frauen und Dorner schloß, so daß nur ich, die beiden jungen Männer und das vor Entsetzen noch immer ganz sprachlose Kind draußen zurückblieben. Heidrich, der sich als Urheber dieses peinlichen Vorfalles ansah, zeigte sich sehr ängstlich und aufgeregt; nach einer Weile jedoch trat seine Frau mit beruhigendem Lächeln aus dem Pavillon. »Sie fühlt sich wieder ganz wohl«, sagte sie mit leiser Stimme, »und will jetzt nur ein bißchen schlummern.« Auch die anderen kamen mit heiterer Miene heraus; nur Dorner, dessen erste Bestürzung sich schon früher rasch in Ärger und Verdruß aufgelöst zu haben schien, zog ein finsteres Gesicht und murmelte unverständliche Worte in den Bart. Eine langsame, erwartungsvolle Stunde verstrich. Endlich öffnete sich die Tür des Pavillons, und Marianne erschien auf der Schwelle. Sie sah zwar noch immer etwas blaß aus; aber sie versicherte, daß alles vorüber sei, und schnitt jede besorgte Frage sowie die Entschuldigungen ihres Schwagers mit scherzenden Worten ab. Trotzdem wollte sich die frühere Behaglichkeit nicht mehr in dem kleinen Kreise einstellen, und nachdem man bei herannahender Dämmerung einige Erfrischungen genommen hatte, sah Dorner nach der Uhr und mahnte zum Aufbruch, da es spät sei und Emilie noch nach Hause gebracht werden müsse. Marianne stand auf, umarmte ihre Schwester und nahm den Arm ihres Gatten, worauf auch die Verlobten sich empfahlen und beide Paare den Garten verließen. Wir Hausgenossen verweilten noch kurze Zeit beisammen; dann gingen die Frauen mit Erni hinauf, Heidrich folgte ihnen bald, und ich blieb allein zurück. Eine laue, mondlose Nacht breitete sich allmählich über die Wipfel. Geheimnisvoll schimmerten die Akazienblüten; eine Fledermaus huschte mit leisem Fluge durch den Garten; von draußen herein scholl der Gesang fröhlich heimkehrender Menschen. Ich erhob mich und schritt langsam die verschlungenen Pfade auf und nieder. Die Eindrücke des durchlebten Tages wirkten mit stiller Macht in mir nach, und es war mir, als säh' ich das weiße Kleid Mariannes durch die Büsche leuchten und über den dunklen Rasen hinflattern. Endlich ging ich in den Pavillon, dessen Tür nur wenig offenstand. Ein leichter Duft war in dem Raume verbreitet. Ich trat an das Sofa, wo die junge Frau geschlummert haben mußte; als ich mich darauf niederließ, faßte meine Hand etwas Glattes, Knisterndes: es war das Band, das sie in den Haaren getragen. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich streckte mich aus – und eh' ich mich dessen versehen hatte, war ich, die kühle duftende Seide zwischen Hand und Wange, eingeschlafen. – Am andern Vormittage saß ich im Schatten der Laube. Ich hatte ein Buch vor mir; aber ich las nicht, sondern blickte hinaus in den goldenen Sonnenschein. Weiße Falter flatterten um die Blumen; ferne Glockenklänge zitterten durch die Luft; in den Zweigen des Apfelbaumes sang ein buntgefiederter Vogel, der sich vom Belvedere herüber verirrt haben mochte. Plötzlich war es mir, als vernähme ich leichte, zögernde Tritte und das Rauschen eines Kleides. Ich erhob mich und stand Mariannen gegenüber, die am Eingange der Laube erschien und ihre reizende Verlegenheit bei meinem Anblick hinter dem aufgespannten Sonnenschirm zu verbergen trachtete. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit unsicherer Stimme, »ich dachte – ich suche meine Schwester –« »Ihre Schwester ist heute noch nicht herabgekommen. Aber es scheint, Frau Dorner, ich habe Sie wieder erschreckt«, fuhr ich fort, da ich sah, daß sie noch immer nach Fassung rang. »Wieder?« sagte sie und sah mich an. Das Wort war mir unwillkürlich entschlüpft. »Ich glaube wenigstens, es schon einmal getan zu haben; vorgestern, als Sie unter jenem Baume standen –« Ein Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Ach ja!« sagte sie leichthin. »Wie töricht von mir, so plötzlich davonzulaufen! Luise hatte mir ja schon von Ihnen gesprochen. Doch dafür hab' ich Sie gestern auch erschreckt.« »Mehr als das. Sie glauben gar nicht, wie uns allen zumute war, als Sie so plötzlich zu Boden stürzten. Aber ich sehe, dieser Unfall hat keine weiteren Folgen gehabt«; und dabei blickte ich ihr ins Antlitz, das wieder ganz frisch und rosig aussah. »Es war ja nichts von Bedeutung. Ich hatte gegen meine Gewohnheit Wein getrunken. Auch war ich recht ausgelassen«, setzte sie etwas kleinlaut hinzu. »Vielleicht; aber nur wie es Kinder zu sein pflegen. Wahrlich, Frau Dorner, wenn man nicht wüßte, daß Sie verheiratet sind –« »So würde man mich nicht dafür halten«, vollendete sie, da ich mitten in der Rede abbrach. »Mir ist oft selbst so zumute!« Und es klang wie ein leiser Seufzer durch diese Worte, die eigentlich ganz unbefangen gesprochen waren. »Aber«, fuhr sie mit plötzlichem Ernste fort, »ich muß jetzt meine Schwester aufsuchen.« Und mit einer Verneigung wollte sie sich entfernen. »Noch einen Augenblick!« bat ich. »Sie haben gestern im Pavillon etwas vergessen.« Und ich reichte ihr das grüne Band, das ich bei mir trug. Sie warf errötend einen Blick darauf, nahm es mit einem dankenden Kopfnicken an sich und verließ, rasch und anmutig schreitend, den Garten. Und nun kommt sie, wie gesagt, fast täglich; zumeist in den frühen Nachmittagsstunden. Dann sitzt sie arbeitend in der Laube oder spielt mit Erni, welche mit der Leidenschaftlichkeit der Kinder an ihr hängt. Auch hilft sie ihrer Schwester das Knäblein betreuen, wobei sie fast noch mehr Zärtlichkeit und Sorgfalt an den Tag legt als die Mutter selbst. Eine wahre Freude aber ist es, wenn sie auch beim Abendessen bleibt; denn sie weiß dann durch allerlei Scherz und eine köstliche Plaudergabe stets die heiterste Stimmung hervorzurufen. Nur in Gegenwart ihres Gatten, der meistens, um sie abzuholen, ziemlich spät erscheint, ist sie stiller und schweigsamer. Denn man kann deutlich merken, daß er nach Art trockener und halbgebildeter Menschen ihr munteres und offenes Wesen als etwas Unziemliches empfindet und es, sowie die holde, echt weibliche Beschränktheit, welche Marianne in gewissen Dingen verrät, für Torheit und Mangel an Verstand ansieht. So hatte er unlängst ein Kartenspiel (die einzige Unterhaltung nach seinem Geschmack) in Vorschlag gebracht, bei welchem jeder die Augen seiner Karten zu zählen hatte. Marianne konnte damit nie rasch genug zustande kommen und mußte oft die Spitze ihres Zeigefingers zu Hilfe nehmen, bis ihr endlich Dorner mit der Bemerkung, sie solle doch wenigstens zählen lernen, die bemalten Blätter ziemlich unsanft aus der Hand nahm und auf den Tisch warf. Ich zuckte zusammen; Marianne schwieg; nach und nach aber kam eine glühende Schamröte in ihrem Antlitz zum Vorschein. Auch die anderen waren betroffen, und eine peinliche, unerquickliche Stimmung blieb zurück. Überhaupt wirkt die Anwesenheit Dorners stets lähmend und niederdrückend auf alle: es wagt sich niemand mit einem freien, fröhlichen Worte hervor. Selbst die Hauskatze, welche jeden Abend, um ein paar Bissen zu erhaschen, schnurrend den Tisch umkreist, ergreift bei seinem Erscheinen die Flucht, weil er gleich das erstemal mit dem Stock nach ihr geschlagen hatte. Wenn die lebensfrohe junge Frau beim Abschied den Arm des harten, finsteren Mannes nimmt und dabei manchmal wie es mir scheinen will – mit ihren wunderbaren Augen nach mir zurückblickt: da, Teuerster, zieht sich mein Herz immer schmerzlich zusammen, und es ist mir oft, als sollt' ich aufspringen und ihm das süße Geschöpf von der Seite reißen, für dessen Zauber seine schwunglose Seele so wenig Verständnis hat! Ende Juni. Du meinst, ich sei im besten Zuge, eine Torheit zu begehen und mich ernstlich in die junge Frau zu verlieben. Und wenn dies der Fall wäre? Wenn ich wieder einmal meinen Empfindungen freien Lauf ließe? Aber fürchte nichts, Guter! Ich bin an Entsagung gewöhnt; ja noch mehr: ich habe – so seltsam dies auch klingen mag – bereits gelernt, entsagend zu genießen . Und es ist gut, daß es so ist; denn sonst – – Höre nur, was sich zwischen uns beiden ereignet hat. Als ich gestern nach Tisch wie gewöhnlich in den Garten kam, fand ich Marianne mit den Kindern allein. Sie hatte sich, da über der Laube noch die volle Junisonne brannte, auf der Bank bei dem dichten Holundergebüsch niedergelassen, welches mit dem nahen Pavillon im Schatten lag. Ihr zu Füßen saß Erni, in eifrige Betrachtung einer zierlichen Stickerei der Tante versunken; auf der andern Seite schlummerte das Knäblein im Wiegenkorbe, mit einem Fliegenschleier bedeckt. Marianne las in einem Buche, das sie, kaum meiner ansichtig geworden, beiseite brachte und unter ein Tuch schob, in welchem ich aber mit dem Scharfblicke des Autors sogleich eine jener Erzählungen erkannte, die ich schon vor Jahren geschrieben. Als ich grüßend an die junge Frau herantrat, sagte sie, daß die andern eines dringenden Besuches wegen das Haus verlassen und sie gebeten hätten, einstweilen über den Kindern zu wachen. »Ich tu es gern«, fuhr sie fort, indem sie die Hand schmeichelnd auf das Haupt Ernis legte. »Erni ist mein gutes, braves Mädchen, und den armen Kleinen dort lieb' ich, als wär' er mein eigenes Kind.« Sie errötete bei diesen Worten und hob vorsichtig ein Ende des grünen Schleiers empor. »Sehen Sie nur, wie sanft, wie ruhig er heute schläft, wie lieblich er trotz seiner Blässe aussieht! Aber ich fürchte, Luise wird ihn nicht aufbringen.« Und dabei ließ sie traurig wieder den Flor sinken. Ich hatte mich neben sie auf die Bank gesetzt, und wir sahen eine Zeitlang schweigend in das sonnige Grün hinein. »Ich habe bis jetzt gelesen«, sagte sie endlich und zog langsam und verschämt das schlichte Bändchen hervor. Was blieb mir übrig, als mich überrascht zu stellen. »Wie, Sie lesen mein Buch?« fragte ich also. »Ja, und nicht zum ersten Male. Es zieht mich immer von neuem an, – Sie verwundern sich? Sie hätten mir nicht zugetraut –« »O nicht doch – nicht so, Frau Dorner! Ich meinte nur – es ist eine gar zu stille, traurige Geschichte.« »Ebendeshalb gefällt sie mir. Ich bin nicht immer so fröhlich, wie Sie mich zu sehen pflegen. Ich habe auch meine trüben Stunden, und mir ist eigentlich stets am wohlsten, wenn ich für mich allein sein und meinen Gedanken nachhängen kann. Nur unter Menschen überkommt es mich –« »Dann ist es doch nur die Heiterkeit Ihrer innersten Natur, was sich da Bahn bricht.« »Meinen Sie?« sagte sie nachdenklich. »Gewiß. Und die Menschen sollten sich glücklich schätzen, daß sie so sprühende Lebensfunken in Ihnen zu wecken vermögen.« Sie schüttelte leicht das Haupt. »Nun, ich habe meistens nur Tadel und Verweise zu hören bekommen. Von meinen Eltern und Lehrern, von –« sie unterbrach sich. »Ich glaube, man hat mich seit jeher für leichtsinnig und einfältig gehalten«, setzte sie mit gedämpfter Stimme hinzu. »O wer könnte, wer dürfte so urteilen«, sagte ich warm. Sie schien diesen Einwurf nicht zu beachten und fuhr, an ihre letzten Worte anknüpfend, mit gesenktem Haupte fort: »Vielleicht bin ich's auch. Kinder-und Mädchenjahre sind mir wie im Traume vergangen; selbst der Tod unserer Mutter, die uns freilich schon sehr früh entrissen wurde, hat mich nicht besonders schmerzlich ergriffen; es war mehr ein geheimes Grauen, was ich dabei empfand. Jedes Spielzeug, das ich erhielt, jedes neue Kleid, jeder Ausflug aufs Land, ein jedes Fest, bei welchem ich getanzt hatte, ließ mich noch lange nachher alles andere vergessen, so daß ich gar nicht darauf achtete, was um mich her in der Welt vorging. Und auch jetzt ist es noch so. Wenn ich oft andere Frauen von Dingen reden höre, die mir ganz fremd sind, da fühle ich immer, wie weit ich zurückgeblieben bin, und schäme mich meiner Unwissenheit.« »Mit Unrecht«, rief ich aus, überwältigt von der schlichten Erhabenheit dieses Geständnisses, »mit Unrecht, Frau Dorner! Denn es ist Ihnen dafür jene Ursprünglichkeit bewahrt geblieben, die an Ihrem Geschlechte mehr entzückt als alle Kenntnisse der Erde.« Sie sah mich zweifelnd an. »Wie? das sagen Sie, ein Gelehrter – ein Dichter?« »Warum nicht? Gerade wir, deren Dasein ganz in geistiger Tätigkeit aufgeht, werden von den Kundgebungen einer unbewußten Natur im Tiefsten erquickt. Glauben Sie mir, alles Wissen ist wertlos, wenn es nicht von einer mächtigen, eigentümlichen Empfindungsweise getragen und durchdrungen wird, während ein tiefes Gemüt, ein warmes Herz jeder Formel entraten kann, denn es überzeugt und gewinnt, indem es sich einfach im Tun und Lassen ausspricht. – Und Sie besitzen ein solches Gemüt, ein solches Herz, Frau Marianne!« Sie erwiderte nichts und brachte nur langsam die Hand vor die Brust. »Und auch Gefühl und Verständnis für so manches, das unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüberzieht, liegt in Ihrem Wesen«, fuhr ich fort. »Aber es hat noch niemand das lösende Wort zu sprechen gewußt, und so blieb Ihrem Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verschlossen und all Ihr innerer Reichtum Ihnen selbst ein Geheimnis.« »Es ist wahr«, sagte sie, kaum vernehmlich, »ich fühle mich oft so beengt und ringe nach etwas, das ich nicht nennen kann – –.« Ach, Freund, es war wunderbar, wie sie dasaß, die schmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden gerichtet. Sie war ganz bleich geworden, und ihr zarter Busen hob und senkte sich leise. Und mich überkam's, ihr zu sagen, daß es die Liebe sei, nach der sie ringe und die allein dem Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erschließt – aber ein Blick auf das lauschende Kind zu ihren Füßen dämmte meine wogende Seele zurück, und ich schwieg. So entstand eine tiefe Stille; Erni sah mit klugen braunen Augen forschend zu uns empor, und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen, die uns in immer engeren Kreisen umflog. Plötzlich stieß Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand nach der Wange. Das geflügelte Tierchen war ihr nahe gekommen und hatte sie unterhalb des rechten Auges gestochen; ein kleines, rotumrändertes Bläschen zeigte sich. Ich eilte an das nächste Blumenbeet und grub etwas Erde auf. Marianne wollte damit die schmerzende Stelle bedecken; aber die feuchte Masse zerbröckelte unter ihren bebenden Fingern und fiel zu Boden. »Lassen Sie es mich versuchen«, sagte ich und holte frische Erde herbei. Sie zog den schlanken Leib schamhaft zurück, und ich drückte ihr, während sie in holder Verwirrung die Augen schloß, das kühlende Element sanft gegen die Wange. Sie atmete tief auf und schien eine wohltuende Linderung zu empfinden. So weilten wir: Beide, das fühlt' ich, leise durchschauert. Da regte sich das Knäblein unter dem Schleier und fing nach Art erwachender Kinder laut zu weinen an. Marianne wurde immer unruhiger; endlich machte sie sich von mir los, sprang auf und nahm den Kleinen in die Arme, wo er auch alsbald still ward und zu lächeln begann. Nun schickte sie, von mir abgewendet, Erni um Wasser. Das Kind, welches allem besorgt zugesehen hatte, eilte fort; wir aber sprachen nichts mehr; unsere Blicke mieden sich, und als Erni mit dem gefüllten Becken erschien, zog ich mich in den Pavillon zurück. Ich hörte, wie sich Marianne draußen wusch, dann einige Male durch den Garten ging und sich endlich wieder bei den Holunderbüschen niederließ, wo sie von Zeit zu Zeit sanfte Worte an die Kinder richtete. So wurde es Abend, und die anderen kamen nach Hause. Erni lief ihnen entgegen und erzählte sogleich mit lauter Stimme den ganzen Vorfall. Ich vernahm, wie man darüber scherzte und lachte; als ich jedoch später hinaustrat, fand ich Marianne nicht mehr unter den Anwesenden. Es hieß, sie sei nach Hause gegangen, weil sie noch immer heftige Schmerzen empfunden habe. 20. Juli. Erspare Dir doch Deine langen Episteln, Teuerster, voll von Zweifeln an meiner gerühmten Entsagungskraft und sonstigen Besorgnissen! Die Gefahr, von der Du mich und die junge Frau bedroht siehst, ist im Vorüberziehen. Und zwar hat das Schicksal selbst Deine Rolle übernommen und, immer mächtiger als wir armen Menschenkinder, sich nicht bloß auf Ermahnungen und weise Ratschläge beschränkt, sondern gleich nicht etwa mit rauher, nein, mit liebender Hand eingegriffen. Du erinnerst Dich, daß ich vor zwei Jahren den Sommer im südlichen Böhmen bei unserem gemeinsamen Jugendfreunde Robert zugebracht habe. Wenn Du Dir die Mühe nehmen und meine Briefe aus jener Zeit hervorsuchen willst, so wird Dir daraus das grüne, freundliche Moldautal, die herrliche Birken-und Tannenpracht des Böhmerwaldes entgegentreten und das alte Stammschloß der Rosenberge, auf stolzer Höhe gelegen, mit weit ausblickenden Zinnen vor Dir aufsteigen. Auch eines Mannes wirst Du erwähnt finden, der in diesem einsamen, jetzt dem Fürsten S ... gehörenden Prachtbau der Vergangenheit als Archivar lebt. Ich hatte ihn eines Tages mit der Bitte aufgesucht, mich in dem historisch merkwürdigen Archiv und in der reichhaltigen Bibliothek ein wenig umsehen zu dürfen, und entsinne mich deutlich, daß ich Dir damals geschrieben habe, wie sehr ich ihn um sein stilles, abgeschiedenes Dasein beneide. Als ich aber näher mit ihm bekannt wurde, da merkte ich bald, daß ihm, was mir wünschenswert erschien, Unmut und Unzufriedenheit bereite. Er hatte früher ein öffentliches Lehramt bekleidet; war aber, mißliebiger Anschauungen wegen, von der Regierung entfernt und durch die Not gezwungen worden, diese Stelle anzunehmen, welche seinem lebhaften, auf erfolgreiches Wirken gerichteten Geist ebensowenig zusagen konnte, als sie ihm in ihrer geringen Ansehnlichkeit seiner Kenntnisse und Fähigkeiten würdig erschien. Er gestand mir offen, daß er alles aufbiete, wieder loszukommen; und da ich ihm hingegen meine Neigung zu einem solchen Posten mitteilte, so versprach er mir, mich dem Fürsten vorzuschlagen, sobald er eine passende Lebensstellung würde gefunden haben. Nun bekam ich dieser Tage (ich hatte seiner Zusage längst nicht mehr gedacht) von ihm einen Brief, worin er mir schreibt, daß er endlich einen ehrenvollen Ruf ins Ausland erhalten, und mich fragt, ob ich noch gesonnen wäre, sein Nachfolger zu werden. Er habe mit dem Fürsten bereits gesprochen; dieser sei ganz einverstanden, und so hinge jetzt alles nur von meinem raschen Entschlusse ab. Daß ich mit beiden Händen zugriff, kannst Du Dir denken! Wollte sich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich so lange gesehnt: unbekümmert um literarischen Erwerb in gänzlicher Zurückgezogenheit meiner Kunst leben zu können. Gewisse Leute werden freilich die Köpfe schütteln. »Wie man nur daran denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schlosse zu versauern«, hör' ich sie sagen; »daß der Dichter Anregung brauche –« und was sonst noch an ähnlichen Gemeinplätzen vorzubringen sein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt hätte! An meinen Schläfen schimmern schon die ersten grauen Haare, und ich müßte wirklich unsterblich sein, um auch nur die Hälfte meiner Erfahrungen künstlerisch zu verwerten. Und so will ich nur noch meine Angelegenheiten ordnen, mich von einigen guten und edlen Menschen, denen ich so manches zu danken habe, verabschieden und dann der Residenz Lebewohl sagen. Jetzt aber kann ich Dir auch gestehen: es ist hohe Zeit, daß ich fortkomme. Aus folgendem magst Du es entnehmen. – Seit jenem denkwürdigen Nachmittage war Marianne nicht mehr so oft, wie sonst, und zumeist nur auf kürzere Zeit in den Garten gekommen. Dabei hatte es mir geschienen, als wiche sie einer Begegnung mit mir aus, so daß ich selbst vermied, mit ihr zusammenzutreffen, und wieder häufiger meine Spaziergänge vor dem Linienwall aufnahm. Eines Tages war ich aber doch in dem unbestimmten Drange, die junge Frau wiederzusehen, daheim geblieben. Es wurde Abend, sie erschien nicht. Endlich gesellte ich mich zu meinen Hausgenossen, die ich ziemlich einsilbig in der Laube versammelt fand. Nach einer Weile sagte Heidrich: »Warum doch Marianne gar nicht mehr kommt! Es ist heute schon der vierte Tag, daß wir sie nicht gesehen haben.« »Du weißt doch«, erwiderte seine Frau mit einer gewissen Hast, »daß das Unternehmen Dorners bereits in vollem Gang ist; das macht auch ihr im Hauswesen viel zu schaffen.« »Allerdings; das weiß ich. Aber sie ist auch sonst seltsam verändert.« »Findest du?« warf sie nachlässig hin, während mich ihr Blick unsicher streifte. »Ja; und ich glaube, sie ist nicht glücklich.« »Und warum sollte sie nicht glücklich sein?« fragte Luise scharf und bedeutungsvoll. »Ach, laß das!« entgegnete er, offen und unbefangen wie immer. »Vor unserem Freunde kenn' ich keine Geheimnisse. Er wird sich schon selber seine Gedanken gemacht haben. Ich sage: Dorner ist kein Mann für Marianne.« »Und weshalb nicht?« fuhr sie gereizt fort. »Er ist ein Ehrenmann, wenn auch ein wenig trocken und barsch im Umgange. Aber gerade sein strenger Ernst paßt für sie; denn er hält ihrem doch oft allzu kindischen Wesen das Gleichgewicht.« »Aber ich bin überzeugt, daß sie ihn nicht liebt!« stieß Heidrich hervor. »Ei was!« rief die alte Frau in ihrer resoluten Weise dazwischen. »Ihr Männer habt es beständig nur mit der Liebe! Die entsteht und vergeht. Was den beiden fehlt, ist ein Kind; eine kinderlose Ehe ist keine Ehe!« Ich schwieg; aber was in meinem Innern vorging, kannst Du Dir denken. – Um diese Zeit starb das Knäblein. Heftige, sich rasch wiederholende Krämpfe hatten seinem kurzen Dasein ein Ende gemacht. Man nahm dieses traurige Ereignis im Hause mit stiller Ergebung auf. War es doch längst vorauszusehen, ja bei dem hoffnungslosen Zustande des Kindes herbeizuwünschen gewesen; auch trägt Frau Luise schon ein neues Leben unter dem Herzen. So standen die jungen Eltern zwar bleich, aber ohne Klage an dem Särglein, in welchem der Kleine lag, von seinen Leiden befreit, wie lächelnd im Tode. Desto fassungsloser klang das Schluchzen Mariannens, die sich mit noch anderen Verwandten eingefunden hatte. Ich sah zum ersten Male den Vater der Schwestern, einen bejahrten Mann mit einem scheuen, kummervollen Zug im Antlitz; dann die Stiefmutter, eine stattliche, geputzte Frau im besten Alter. Auch die beiden Liebenden, deren Vermählung nahe bevorstand, waren zugegen. Man merkte, wie sie ihrem Glücke Gewalt antun mußten, um die Trauer der andern mitempfinden zu können. Dorner war nicht erschienen. Als man die Leiche forttrug, folgte ich auch zur Kirche. Nach der Einsegnung stiegen die Eltern mit dem Manne, der den Sarg trug, in einen bereitstehenden Wagen; Marianne, leise in ihr Tuch weinend, setzte sich zu ihnen; die übrigen entfernten sich. Ich aber kehrte wieder nach Hause zurück und schritt einsam im Garten auf und nieder. Ein leichter Strichregen war gefallen, und an den Blättern funkelten helle Tropfen im Strahl der späten Nachmittagssonne. Ein Nelkenbeet duftete scharf; am Himmel standen dunkle, feurig umsäumte Wolken; von Zeit zu Zeit ging ein leises Rauschen durch die Wipfel. Über eine Stunde mochte ich so in wehmütige Empfindungen versunken gewesen sein und hatte mich endlich im Pavillon niedergelassen, als der Wagen am Tore hielt, der die Leidtragenden vom Friedhof brachte. Ich vermutete, sie würden in den Garten kommen; aber sie gingen alle miteinander hinauf. Nach einer Weile jedoch wurde das Gitter geöffnet; Marianne trat ein, Erni an der Hand führend, und bewegte sich mit dem Kinde, das während des Begräbnisses oben bei der alten Frau geblieben war, langsam auf dem mittleren Pfade fort. Sie blickte nicht nach dem Pavillon; aber Erni tat es und hatte mich auch gleich bemerkt. »Tante Marianne, Herr A. ist hier!« rief sie und wiederholte diese Worte, da die junge Frau nicht darauf zu achten schien, sondern mit gesenktem Haupte vorwärtsschritt, mehrere Male nacheinander, so daß mir nichts erübrigte, als hinauszutreten und mich ihnen zu nähern. Das Kind wollte, um mich zu erwarten, stehenbleiben; aber Marianne ließ seine Hand los und ging immer weiter; erst als ich dicht hinter ihr war, hielt sie an und wandte mir ihr Antlitz zu. »Ich habe sie oben allein gelassen«, begann sie langsam; »ich glaube, sie fühlen jetzt das Bedürfnis, sich ungestört auszuweinen.« Sie sah nach einer kleinen Uhr, die sie im Gürtel trug. »Es ist schon spät; mein Mann soll noch kommen. Er war heute Nachmittag sehr beschäftigt.« »Wie ich höre, werden auch Sie jetzt von häuslichen Geschäften sehr in Anspruch genommen, Frau Dorner«, sagte ich, um etwas zu sagen. Sie errötete flüchtig. »Allerdings; und ich kann mich noch nicht ganz zurechtfinden. Aber es ist gut; man vergißt so manches darüber.« Ich schwieg, und so gingen wir eine Zeitlang, ohne zu sprechen, nebeneinander hin. Es war schon dunkel geworden, und durch die Bäume wehte es feucht und kühl. »Welch eine rauhe Abendluft«, sagte sie endlich und zog ihr Tuch fröstelnd um die Schultern. »Man merkt, daß der Herbst im Anzug ist. – Das arme Kind; heute liegt es in der kalten Erde.« »Gönnen Sie dem Kinde die selige Ruhe, Frau Dorner«, sagte ich bewegt. »Sein Tod war seine Erlösung.« Sie schauderte leicht. »Es ist wahr«, sagte sie tonlos, »das Leben ist für die Glücklichen.« Erni war indessen still hinter uns hergegangen; jetzt rief sie: »Tante, du hättest Herrn A. heiraten sollen; dann wärest du auch glücklich geworden.« Ich sah, wie sie erbleichend zusammenzuckte. Aber sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Was doch das törichte Mädchen spricht.« Ich konnte nichts erwidern; es lag mir wie Blei auf der Zunge, auf dem Herzen. So gingen wir wieder schweigend nebeneinander. Als wir uns dem Eingange näherten, erblickten wir Dorner, der über das Gitter sah und ein befremdetes Gesicht machte, als er uns gewahr wurde. Er trat ein, und nachdem wir einige Worte getauscht, begab er sich mit seiner Frau und dem Kinde hinauf. Ich aber blieb zurück in der sinkenden Nacht, allein mit meinen Gefühlen, in welchen sich Schmerz und Seligkeit wunderbar verwoben. Schloß K ... in Böhmen, Mitte September. Warum ich so lange schweige, fragst Du? Und ob ich mich schon an den Ufern der Moldau befände? Ja, Teuerster, seit vier Wochen bin ich hier – doch in welchem Zustande! Ach, Freund, was sind die Entschlüsse der Menschen! Vorübergehen wollt' ich an dem geliebten Weibe, das mir bestimmt schien, zugefallen durch einen holden Ausgleich der Natur – und nun! – Aber ich will mich fassen, will Dir alles niederschreiben und diese Blätter wie ein letztes Vermächtnis in Deine Hände legen. – Der Tag, den ich mir zur Abreise festgesetzt, war immer näher gekommen. Ich hatte es, ohne zu wissen warum, stets hinausgeschoben, meinen Hausgenossen unsere bevorstehende Trennung mitzuteilen, und nun zeigte sich die alte Frau, die mir im Laufe der Jahre eine fast mütterliche Teilnahme und Fürsorge erwiesen, sehr ergriffen. Sie wischte sich die Augen und sagte, sie wolle meine Stube gar nicht weiter vermieten; denn sie würde keinen Fremden darin sehen können. Ihr Sohn bekräftigte dies, indem er mir wiederholt die Hände schüttelte und hinzufügte, sie hätten gehofft, mich nicht früher zu verlieren, als bis ich einmal des Hagestolzenlebens müde und willens geworden sei, einen eigenen Herd zu gründen. Und das sollt' ich auch, denn ich sei ganz der Mann, ein Weib glücklich zu machen. Nur Frau Luise, die gegen mich in letzter Zeit etwas zurückhaltend gewesen, schien wie erleichtert aufzuatmen. Sie ward mit einem Male wieder herzlich und freundlich und ermunterte mich sogar, die Hochzeit Emiliens abzuwarten, zu deren Feier, wie ich nun hörte, der fünfzehnte August bestimmt war. Ich ließ mich bereitfinden, von dem Gedanken verlockt, bei dieser festlichen Gelegenheit mit Mariannen zusammenzutreffen, welche ich seit diesem traurigen Abend nicht wieder gesehen hatte. Denn es war inzwischen trübes, regnerisches Wetter eingefallen, das den Garten verödete; auch hatte ich im Drange meiner Geschäfte und Abschiedsbesuche die meiste Zeit außer Hause zugebracht. Dadurch war sie mir etwas ferner gerückt worden, und wenn ich an sie dachte, geschah es mit einer Art von schmerzlicher Genugtuung und mit dem Gefühl, daß die Erinnerung an sie mein ganzes künftiges Dasein begleiten und verschönen würde. Ihre Zukunft – so eigensüchtig ist das menschliche Herz – erwog ich nicht; vielleicht war es eine geheime Angst, was mich davon abhielt. – Nun aber wollte ich noch einmal den Zauber ihres Wesens ganz und voll in mich aufnehmen und dann scheiden für immer. – Der fünfzehnte August war da, und mit ihm hatte sich der Himmel wieder aufgehellt. In den ersten Stunden des Nachmittags erschien ein Wagen, um mich zur Trauung zu fahren; die andern hatten sich schon früher nach dem Hause der Braut begeben. Als ich vor der Kirche hielt, war diese bereits von vielen Neugierigen belagert, und gleich darauf kam eine lange Reihe offener Wagen in Sicht, die auf raschen Rädern Brautleute und Hochzeitsgäste heranbrachten. Alles strahlte in Freude und Heiterkeit; beim Aussteigen gab es ein helles Gewirr von schimmernden Gewändern, wehenden Schleiern und duftenden Blumen; selbst die eintönige schwarze Tracht der Männer war durch farbige Sträußchen belebt. Das Ganze hatte einen kräftigen, altbürgerlichen Anstrich und mahnte an jene Zeit, wo man noch keine stillen, verschwiegenen Hochzeiten kannte, sondern sein Glück in seligem Übermute offen zur Schau trug. Mein Blick suchte Marianne, die eigentümlich bleich aussah und zu frösteln schien, trotz des kurzen, mit Schwan besetzten Mäntelchens, das sie um die entblößten Schultern geworfen hatte. Sie trug ein Kleid von perlgrauer Seide; ihr Haar war mit weißen Rosen geschmückt; in der Hand hielt sie einen Strauß von denselben Blumen. So schritt sie, meinen Gruß stumm erwidernd, an mir vorüber in die Kirche. Während der Trauung, als der Priester über die Bedeutung und vom Glück der Ehe sprach, arbeitete es heftig in ihrer Brust, und ich sah zwei große Tränen unter ihren Wimpern hervortreten und langsam über die Wangen hinabrollen. Nach beendeter Feierlichkeit stieg alles wieder in die Gefährte, und im Fluge ging es, von den Blicken der Vorübergehenden gefolgt, durch die belebten Straßen nach dem nahen, am Fuße des Kahlenberges gelegenen Grinzing zu. Ich fuhr mit Heidrich und Dorner; im Wagen vor uns saßen die beiden jungen Frauen. Marianne wandte kein einziges Mal den Kopf, nur ihr goldig angehauchtes Haar und die weißen Rosen leuchteten vor meinen Augen. Endlich hatten wir das stattliche Fabrikgebäude erreicht, in welchem, wie es der Vater des Bräutigams gewünscht, das eigentliche Hochzeitsfest stattfinden sollte. Eine fröhliche Arbeiterschar empfing uns, dann traten wir in den großen, mit Laub- und Blumengewinden reich ausgeschmückten Saal, wo uns ein wohlbesetztes Orchester mit einem lebhaften Tusch bewillkommte. Hierauf gingen wir zur Tafel, welche für die zahlreichen Gäste in einem weitläufigen Nebenraume gedeckt war. Ich hatte meinen Platz zwischen zwei jungen Frauenzimmern erhalten, welchen ich mich nun artig erweisen mußte; aber ich sah doch beständig zu Mariannen hinüber, die in sich versunken an der Seite Dorners neben der Braut saß. Sie berührte fast nichts und nippte nur manchmal von dem perlenden Schaumweine, den man kredenzt hatte. Als auf das Wohl der Vermählten ein Toast ausgebracht wurde, fiel sie Emilien konvulsivisch weinend an die Brust, und sie hörte es nicht, daß man nun auch das Ehepaar Dorner leben ließ. Darauf aufmerksam gemacht, schrak sie empor, und es war, als durchbebe sie ein leiser Schauder, als sie ihr Glas mit dem ihres Gatten zusammenklingen ließ. Inzwischen war es bereits ziemlich dunkel geworden. Im Saale wurden die Lichter angezündet, und plötzlich erließ das Orchester mit einigen raschen Takten die Aufforderung zum Tanze. Diese Klänge wirkten elektrisch; Stühle wurden gerückt, Gewänder rauschten – und im Nu tanzte ein Paar nach dem andern in den Saal hinaus, wo schon ein beschwingender Walzer ertönte. Auch Dorner hatte zu meinem Erstaunen den schlanken Leib seiner Frau umfaßt und die halb Widerstrebende mit sich fortgezogen. Ich folgte langsam nach und setzte mich in eine Fensternische. Und wie ich so dasaß, vor mir das bunte, schimmernde Gewühl der Tanzenden, hinter mir die schweigende, dunkelnde Landschaft: da wurde mir eigentümlich traumhaft zumute. Ein Heer von Erinnerungen stieg vor mir auf; die schönen leuchteten immer reiner und verklärter; die bösen vergingen und zerrannen, und die ganze Wehmut des Scheidens zog in mein Herz. Und es war mir, als könnt' ich nun nicht mehr die Stadt verlassen, in der ich gelebt, gestrebt, gerungen mit allen Leiden und Freuden einer Menschenseele; als könnt' ich mich nicht trennen von dem traulichen Garten – und von der jungen Frau, welche dort, schon mit andern Tänzern, zwischen den hin und her wogenden Paaren auftauchte und wieder verschwand. Aber der Würfel war gefallen, und ich mußte fort. Dem Walzer folgten rasch nacheinander neue Tänze. Der süße Taumel des Vergessens, welcher im Tanze liegt und diesen für ihr Geschlecht so verlockend macht, schien dabei Marianne mehr und mehr zu überkommen. Ihre Wangen glühten, ihr Haar hatte sich gelöst, ihre dunkel leuchtenden Augen schienen mich aus der Ferne zu suchen. Endlich trat eine Pause ein, und die Paare machten Arm in Arm plaudernd und scherzend die Runde durch den Saal. Marianne jedoch hatte sich mit allen Zeichen der Ermüdung auf einen Stuhl niedergelassen; vor ihr, sichtlich bemüht, sie für sich einzunehmen, stand ein junger Mann mit lebhaften Blicken und Gebärden, welchen ich mehrmals mit ihr hatte durch den Saal fliegen gesehen. Sie aber achtete nicht auf das, was er sprach, sondern blickte zerstreut vor sich hin und, nein, ich täuschte mich nicht – auch nach der Fensternische, in der ich noch immer saß. Endlich zog sich der eifrige Verehrer zurück. Ich stand auf und trat an sie heran. ›Ich muß noch von Ihnen Abschied nehmen, Frau Dorner‹, sprach ich mit zitternder Stimme. ›Ich verlasse Wien – und reise schon morgen.‹ Sie atmete schwer und brachte, wie um sich zu erquicken, ihren Strauß vors Antlitz: ›Ich weiß es; meine Schwester hat es mir mitgeteilt. – Und Sie kehren nicht wieder?‹ fragte sie nach einer Pause kaum hörbar. ›Nein, Frau Dorner.‹ Sie erwiderte nichts. ›Leben Sie wohl‹, sagte sie endlich und reichte mir langsam die Hand. Im selben Augenblick begann die Musik wieder, aufs neue einen Walzer intonierend. Du weißt, daß ich niemals ein Tänzer war – aber diese Klänge durchzuckten mich seltsam, und ich fühlte mich von einem plötzlichen Verlangen unwiderstehlich ergriffen. ›Frau Marianne‹, sagte ich, ihre bebende Hand festhaltend, ›Frau Marianne, lassen Sie uns, bevor ich scheide, noch miteinander tanzen – zum ersten – und letzten Mal!‹ Sie sah mich wie erschreckt an, dann aber stand sie auf und sank mir in die Arme. – Ach, welche Wonne war es, mit ihr in dem beginnenden Wirbel hinzutreiben, der uns immer rascher, immer stürmischer mit sich fortriß! Wie ein Kind lag sie an meiner Brust: weich, hingebend, die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb durch die gesenkten Wimpern verschleiert. Ihr Herz pochte neben meinem; die Rosen in ihrem Haar umdufteten mein Antlitz. Und es war mir, als müsse es ewig so dauern – ewig! Aber die Musik verstummte. Ich reichte der Schweratmenden den Arm. Sie nahm ihn und lehnte sich innig an mich. ›Marianne!‹ rief ich leise und bebend. Sie verstand mich; denn sie schwieg und blickte zu Boden. Inzwischen hatten mehrere Ungenügsame mit lautem Rufen und Händeklatschen eine Wiederholung verlangt, und das Orchester fiel von neuem ein, indem es die Takte des Walzers zu einem Galopp beschleunigte. ›Noch einmal!‹ flüsterte ich und umfaßte sie. Und als wir uns jetzt bei den rasenden Klängen zum zweitenmal in den Armen lagen, da brach in mir die lang niedergehaltene Leidenschaft gleich einer entfesselten Naturgewalt hervor. Ich zog Marianne an mich; ich beugte mein Haupt zu ihr nieder; mein Mund streifte ihr Haar, ihre Stirn. Sie ließ es geschehen und sah mich lächelnd an. Und fester und fester umschlangen wir uns; unsere Wangen, unsere Lippen berührten sich; unser Odem floß in einen Hauch zusammen. So flogen wir hin, in seliger Trunkenheit, weltentrückt, zwischen Himmel und Erde! – Plötzlich war es mir, als strauchelte sie; mein Arm wollte sie halten; aber ich schwankte selbst und schon sank sie mit nach rückwärts überhangendem Haupte und stierem Blick schwer an mir nieder. Ein jähes Entsetzen riß an meinem Herzen; ich hörte noch, wie man rings aufschrie, wie die Musik mit einem grellen Mißklang abbrach; sah, wie man von allen Seiten auf uns zustürzte – dann drehte sich alles um mich, und meine Sinne vergingen. – – Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich auf einem Sofa in dem matt erhellten Nebenzimmer. Ein alter Herr, die Uhr in der Hand, saß vor mir. ›Sie waren ziemlich lange bewußtlos‹, sagte er. Ich starrte ihn an. ›Ich bin der Arzt des Ortes‹, setzte er leise hinzu. Ich sah um mich wie im Traum. Draußen strahlte der Saal in vollem Lichterglanz; aber es war alles still, ganz still. Er merkte, daß ich mich nicht zurechtfand, und nahm meine Frage vorweg. ›Die Gesellschaft hat sich bereits nach der Stadt begeben. Der Dame, mit der Sie getanzt haben, ist ein schwerer Unfall zugestoßen.‹ Ich wollte aufspringen; aber meine Glieder waren erstarrt, und das Herz lag mir wie Eis in der Brust. Er faßte meinen Arm. ›Sie kommen zu spät. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll – – Die Dame ist –‹ ›Tot‹, sagte ich; denn ich wußte es längst. ›Eine plötzliche Herzlähmung –‹ ›Eine plötzliche Herzlähmung‹, wiederholte ich dumpf und erhob mich. Er trat mir in den Weg. ›Fassen Sie sich, mein Herr. Sie können sich ja keine Schuld beimessen; es war ein beklagenswerter Zufall. Wie ich höre, haben Sie vor, abzureisen; tun Sie es, ohne zu zögern. Ersparen Sie sich und andern –‹ Ich verstand ihn. ›Ich werde reisen‹, sagte ich und wandte mich, um zu gehen. Er zuckte wie ratlos die Achseln und hielt mich nicht länger zurück. Draußen im Saal lag eine weiße Rose auf dem Estrich; ich nahm sie auf, ohne etwas dabei zu denken, aber ich wußte, daß sie von Marianne war. Dann schritt ich hinaus in die Nacht. Der Mond war aufgegangen; über Busch und Wiesen schimmerten feine Nebel; die Gebäude auf dem Kahlen- und Leopoldsberge waren wie taghell beleuchtet. Ich schritt immer weiter, ohne zu wissen wohin, die Rose in der Hand. Der Pfad führte mich an Gärten und dichten Weinpflanzungen vorüber; nach und nach wurde er steiler, und endlich hatte ich ein freies Plateau erreicht, das eine weite Fernsicht über einen Teil des Marchfeldes, über die Auen der Donau und das Häusermeer der Stadt eröffnete. Dort hielt ich an, setzte mich unter einen Baum und blickte, die Brust noch immer leer und stumm, hinaus in die schweigende Unendlichkeit. Unten zog der glitzernde Strom mit leisem Rauschen durch die Nacht; von der Stadt her glänzten und flimmerten unzählige Lichter. Eine Grille zirpte in meiner Nähe; von Zeit zu Zeit schoß am Himmel eine Sternschnuppe vorüber. Die Stunden verrannen; ich merkte es nicht. Der Mond ging unter; die Lichter erloschen allmählich, und eine fahle, trübe Dämmerung hüllte alles ein. Plötzlich ward ich durch einen Schrei aufgeschreckt, den ich selbst ausgestoßen; das volle Bewußtsein des Geschehenen hatte mich angefallen. In wildem Schmerz eilte ich den Abhang hinunter und der Stadt zu. Eine Stunde später fuhr ich hinter der brausenden Lokomotive durch graue Morgennebel ins Land hinein. – Ich bin zu Ende. Du siehst, das Verhängnis hat uns erreicht. Wie ich das meine tragen werde, weiß ich nicht. Leb' wohl! Leb' wohl! Die Steinklopfer 1. I. Wer in früherer Zeit – heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig – die Bahn über den Semmering, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände emporwindet, zum ersten Male befahren hat, der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viadukte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos scheinender Tunnels hineinbrauste, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmählich ebenen Boden erreichend, wieder gefahrlos zwischen lachenden Triften forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halbgeschlossenen Augen hinübergeträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung des Suezkanals und dem Durchstich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnste Betätigung gefunden. An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt werden kann. Von zweien solcher armen Menschen, welche seit jeher, ohne daß ihnen selbst bis jetzt die Segnungen des Fortschritts zuteil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Kulturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Geschichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Los dieser Parias der Gesellschaft, die unsere Dome und Paläste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern, oder darzutun, welche Rolle der sogenannte fünfte Stand dereinst noch im Laufe der Begebenheiten zu spielen berufen sein dürfte: sondern nur, um ein schlichtes Lebensbild aus der großen Masse derjenigen festzuhalten, deren Dasein, von schweren körperlichen Mühen überbürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brot meist unbekannt und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgendeinem dumpfen Winkel der Erde spurlos endet – nur um zu zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und daß sich überall im kleinen abspielt die große Tragödie der Welt. – Die Bahn war hergestellt. Der zyklopische Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengschüsse war verhallt, und das zahl- und rastlose Menschengewirr, das sich aus dem entlegenen Böhmen, den mährisch-ungarischen Niederungen, aus dem steinigen Karst und dem gesegneten Friaul hier zusammengefunden hatte, war weiter südwärts gezogen, um dort sein mühevolles Tagewerk fortzusetzen. Das tief in die Wälder hinein verscheuchte Wild kehrte allmählich wieder zurück und wagte sich, wie neugierig, auf den riesigen Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergessenen Spur menschlicher Tatkraft in dem stillen Frieden des Hochgebirges lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegstunden voneinander entfernt, stand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche die Nomaden der Arbeit in Scharen bewohnt und bei ihrem Aufbruche wieder niedergerissen hatten. Sie beherbergten eine Anzahl von Zurückgebliebenen und späteren Nachzüglern, welche bestimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn noch galt es, an mancher Stelle Schienen zu legen, Geleise zu beschottern, Telegraphenstangen aufzurichten und Wächterhäuschen auszumauern, an deren Gesimse die zierlichen Schwalben, welche sich tagsüber oft in langen Reihen auf den elektrischen Drähten niederließen, bereits ihre Nester geklebt hatten. Eines Nachmittags, es war Sonntag, saß vor einer solchen Hütte, welche sich, etwas abseits von der Bahn, an schroffe Felsen lehnte, eine weibliche Gestalt auf der Schwelle. Sie war barfuß, hatte um das Hinterhaupt ein grobes dunkles Tuch geschlungen, und das Antlitz, das daraus hervorsah, war welk und von jener bräunlich fahlen Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blassen Gesichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirn wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erscheinen ließ, als sie sein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes seltsam hervorhob. Die Sonne stand nicht mehr hoch; über die meisten Abhänge hatten sich bereits dunkle, schweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wiesengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des seitwärts ansteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem sich eine Schar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Einsame jedoch achtete nicht der lieblichen Sonnenpracht, die sich vor ihr ausbreitete, sondern hielt den Blick unverwandt auf eine schadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherstellung sie eifrig beschäftigt war. Diese Arbeit schien ihr recht sauer zu werden; denn ihre rauhe, schwielige Hand, welche die Nadel mühsam und ungelenk führte, hatte wohl sonst nur Haue und Schaufel anzufassen. Jetzt wurde sie durch nahende Schritte aufgestört, und als sie das Haupt hob, gewahrte sie, wie vom Bahngeleise her ein Mann auf die Hütte zuschritt, dessen Erscheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und unansehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerschlissenen Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, seinen Körper wunderlich umschlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene Feldmütze tief über die Stirn herabfiel. Er wankte im Gehen, obgleich er sich auf einen knorrigen Baumast stützte, und der kleine Sack von fadenscheinigem Zwillich, den er über die Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos aussah. So näherte er sich, scheu und verlegen aus matten, farblosen Augen blickend, der Erwartungsvollen. »Ist das die Hütte Nummer sieben?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Ja, das ist sie«, erwiderte die andere in jenem eigentümlichen, hart klingenden Deutsch, wie es im südlichen Böhmen gesprochen wird. »Was willst du?« »Man hat mich zur Arbeit heraufgeschickt.« Und dabei wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt. Sie betrachtete noch immer seinen seltsamen Anzug und sein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert aussah. »Der Aufseher ist nicht zu Hause«, sagte sie endlich: »Er ist mit den andern nach Schottwien hinuntergegangen zum Wein. Setz dich einstweilen dort nieder, wenn du müd bist.« Und mit einem letzten Blick auf sein hinfälliges Wesen nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch wieder Nadel und Faden auf. Der Ankömmling erwiderte nichts, sondern schleppte sich bloß ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend. Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiste mit langgedehntem Schrei ein Geier. Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor. Die Emsige schrak auf. »Jesus, da sind sie schon«, sagte sie halblaut zu sich selbst, »und ich habe die Jacke noch nicht fertig.« Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es dauerte nicht lange, so kam eine Schar verwildert aussehender Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die andern gekleidet, ein Mann von herkulischem Wuchse emporragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedunsenes Gesicht war vom Weine gerötet, und der Strohhut, der ihm tief im Genick saß, ließ graue, verworrene Haare sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den übrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf dem Rücken. »Heda! Tertschka!« rief der Mann mit dem Korbe in heiserem Tone, »mach Licht drinnen, daß wir den Proviant in den Keller schaffen können!« Und da er jetzt vor ihr stand und ihm die Jacke, die sie ängstlich an sich drückte, in die Augen fiel, fragte er barsch: »Nun, ist sie gemacht?« »Noch nicht ganz«, war die zaghafte Antwort. »Was? Nicht?« kreischte er, und sein Gesicht wurde blaurot. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß ich sie morgen brauche?« »Ich hab' mich den ganzen Nachmittag damit geplagt. Aber ich kann's nicht so schnell machen wie eine, die das Nähen gelernt hat.« Der stille Vorwurf, der in diesen Worten lag, schien ihn noch mehr zu reizen. »Du weißt immer etwas zu erwidern!« schrie er. »Aber ich sage dir nur, wenn ich die Jacke morgen früh nicht habe, so gib acht, was dir geschieht!« Und er drang, den Korb auf den Boden stellend, auf die Zurückweichende ein, als wollte er schon jetzt seine Drohung zur Wahrheit werden lassen. Dabei fiel sein Blick auf die Gestalt im Soldatenkittel, die sich inzwischen furchtsam genähert hatte. »Wer ist der da?« fragte der Wütende, indem er die erhobene Hand sinken ließ. »Er ist zur Arbeit hergewiesen«, sagte Tertschka, schwer atmend. Der Aufseher – denn er war es – trat mit der ganzen Wucht seines vierschrötigen Wesens vor den Kleinen hin und musterte ihn von oben bis unten. »Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen stehen!« »Ich hab' einen weiten Weg gemacht«, sagte der andere schüchtern. »Vom Ottertal herüber.« »Das ist auch was!« höhnte der Aufseher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel sah, der ihm mit bebender Hand überreicht wurde. »Huber nennst du dich?« fragte er nach einer Pause, aufblickend. »Ja; Georg Huber.« »Wie kommst du zu dem Soldatengewand?« »Ich bin Urlauber.« »Was? du hast beim Militär gedient?« »Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben sie mich heimgeschickt, weil ich das böse Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.« »So, das Fieber hast du auch? Was die in der Baukanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern sie sich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk dir's, du«, fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, »wenn du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zuwege bringst, so jag ich dich fort! Hier ist kein Spital.« Und damit langte er wieder nach dem Korbe und ging, während die andern folgten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eisen beschlagene Tür aufschloß. Diese führte in eine Höhlung, welche mehrere Stufen tief in den Felsen gesprengt war und als Keller benützt wurde. Tertschka leuchtete mit dem Kienspane, den sie von einem weitläufigen Herde genommen und angezündet hatte, voran, und die Lebensmittel wurden untergebracht. Hierauf schloß der Aufseher die Tür wieder hinter sich ab und zog sich in eine Art Verschlag zurück; die übrigen aber streckten sich, miteinander kauderwelschend und ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seitenwand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin. Georg stand noch immer scheu und verlegen unweit des Einganges; endlich trat Tertschka an ihn heran. »Geh' schlafen«, sagte sie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle des gemeinschaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke; ängstlich bedacht, so wenig Raum als möglich einzunehmen, schob er seinen Quersack unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel gleich einer Decke über sich und schlief mit einem tiefen Seufzer ein. Tertschka aber zündete noch eine kleine Öllampe an und begann, am Herde niedergekauert, wieder emsig zu nähen. Endlich ließ sie die Nadel sinken und unterzog die Jacke einer genauen Prüfung. Dann blies sie, mit der vollbrachten Arbeit zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte sich, angekleidet, wie sie war, in einem Winkel neben dem Herde nieder. – Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dachluke der Hütte herein, in den dunklen, vom Atemgeräusch der Schlafenden durchzogenen Raum sahen die zitternden Sterne. 2. II. Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte lebendig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er sah, wie die Männer nach und nach das dürftige Lager verließen, allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte, und damit aus der Tür gingen. Er hatte sich gleichfalls erhoben, war in seinen Kittel geschlüpft und stand unschlüssig und erwartungsvoll da, als sich Tertschka, einen schweren Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte. »Der Aufseher schläft noch«, sagte sie. »Aber ich weiß, was du zu tun hast. Nimm den Hammer dort; wenn du willst, kannst du mit mir an die Arbeit gehen.« Er tat, wie sie ihn hieß, und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen war es kühl und still; nur hier und dort zwitscherte ein Vogel, und auf der Wiese lag der helle Tau. Sie gingen schweigend an das Bahngeleise und längs desselben noch eine Strecke hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo sich bereits einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die übrigen, mit Karren und Schaufeln ausgerüstet, an der Bahn verteilt waren. Tertschka schritt mit Georg an den Männern vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. »Das ist mein Platz«, sagte sie, indem sie sich mitten unter Bruchsteinen und Geröll auf den Boden niederließ. »Ich bin nicht gern bei denen dort. Sie sind ein wüstes, hämisches Volk. Aber du kannst bei mir bleiben, wenn es dir recht ist.« Er erwiderte nichts und setzte sich still neben sie. »Siehst du, diese Trümmer müssen in kleine Stücke zerschlagen werden. Das dort«, setzte sie hinzu und deutete mit der Hand auf einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, »das hab' ich in dieser Woche zustande gebracht.« Er zog einen größeren Kalkstein zu sich heran und schlug mit dem Hammer darauf. Der Stein blieb ganz. »Stärker!« rief Tertschka und führte nun selbst einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er sah sie verwundert an und erprobte noch einmal seine Kraft. Diesmal mit besserem Erfolg, und so begannen die beiden, ohne mehr ein Wort zu wechseln, ihr Tagewerk. Der Ort, wo sie saßen, erschloß eine prachtvolle Fernsicht über die mächtigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geiernest an einer bewaldeten Felsenzacke; tief unten in einer engen Talschlucht, langgestreckt und mit rötlichen Dächern, lag der Markt Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendstein auf, und von den grünen Matten an seinem Fuße herüber schimmerte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche »Maria Schutz« genannt. Aber die Emsigen hatten kein Auge für das herrliche Bild; sie hämmerten und klopften, in dumpfem Eifer tief zur Erde hinabgebeugt. Höher und höher stieg die Sonne und brannte schon heiß und sengend auf ihre Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer schwächer, immer langsamer; endlich ließ er den Hammer sinken, lüftete die Mütze und trocknete sich den Schweiß ab, der in hellen Tropfen über sein Antlitz rann. Auch Tertschka hielt inne. »Bist du schon müd?« fragte sie, indem sie ihn teilnehmend ansah. »Weiß Gott, das bin ich«, antwortete er mit tonloser Stimme. »jetzt spür ich erst, wie arg mich das Fieber heruntergebracht hat.« »Wie hast du auch da heraufkommen können, krank und hinfällig, wie du bist?« fuhr sie fort. »Was hätt' ich anderes tun sollen? Betteln vielleicht? Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich keins gelernt. Vater und Mutter sind mir früh gestorben, und da hab' ich im Ort die Gänse hüten müssen und später die Kühe – bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück, und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Assentierung war ich doch recht. ›Im zweiten Glied kann er mitlaufen‹, meinten sie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hause geschickt. Eine Zeitlang wurd' ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es, ich solle gehen und Steine klopfen. Na – und jetzt klopf ich sie«, schloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Hammer griff. Sie hatte schweigend das Haupt gesenkt. »Aber du wirst es nicht aushalten«, sagte sie still. »Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu essen habe. Es ist mir recht schlecht gegangen in den letzten Tagen, und seit gestern früh hab' ich nicht einen Bissen über die Lippen gebracht.« Sie antwortete nichts und zog langsam ein Stück schwarzen Brotes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach es in zwei ungleiche Teile und reichte ihm den größeren hin. »Iß«, sagte sie. Er warf einen scheuen Blick auf das Gebotene. »Das ist dein Brot«, erwiderte er leise und ablehnend. »Das tut nichts; ich hab' an dem da genug.« Und da er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, so legte sie es dicht an seiner Seite auf den Boden nieder. »Du wirst auch durstig sein«, fuhr sie fort. »Ich will dir einen Trunk Wasser holen; dort oben fließt eine Quelle.« Und damit stand sie auf, bückte sich nach einem Krüglein, das halb zerscherbt zwischen dem Geröll lag, und stieg bis zum Tannicht oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Wasserstrahl unter dunklem Moose hervorrieselte. Sie füllte das Krüglein, trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brot lag noch immer unberührt neben Georg. Aber das Wasser nahm er. »Ich danke dir«, sagte er innig, nachdem er getrunken hatte. »Weshalb? Ich tu's ja gern. – Aber jetzt iß«, fuhr sie, sich wieder setzend, mit sanftem Drängen fort. »Von mir kannst du's schon nehmen.« Er langte verschämt nach dem Brote. »Du hast gewiß im Leben auch schon viel Not gelitten, weil du so gut bist«, sagte er, indem er, ohne sie anzusehen, ein Stückchen wegbrach. – »Ja, das hab' ich. Und ich spür auch jetzt noch oft genug, wie weh der Hunger tut.« Es war, als blieb ihm der Bissen im Halse stecken. »Auch jetzt noch?« fragte er endlich. »Wird denn die Arbeit gar so schlecht bezahlt?« »Mir wird sie gar nicht bezahlt.« »Was? Du bekommst keinen Tagelohn?« »Nein; den behält der Aufseher.« »Der Aufseher?« »Er ist mein Stiefvater.« »Dein Stiefvater –« wiederholte er, noch immer ganz gedankenlos vor Erstaunen. »Ja; mein rechter Vater ist bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abstürzende Erde hat ihn verschüttet. Dann ist die Mutter bei dem Aufseher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog.« »Also aus Böhmen bist du? Darum redst du auch so fremd und hast einen so seltsamen Namen. Ter – ich kann ihn gar nicht nachsagen.« »Tertschka«, ergänzte sie. »Deutsch heißt es Therese.« »Hierzulande würden sie dich Resi nennen. – Aber«, fuhr er fort, »wenn dein Stiefvater deinen Lohn behält, so muß er dir doch zu essen geben.« »Gerade so viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubst nicht, wie geizig er ist. Sich selber läßt er's freilich wohl geschehen, und es vergeht fast kein Tag, an dem er sich nicht betrinkt. Aber den andern gönnt er das Wasser nicht, wenn sie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt' alles verhungern, eh er aus freien Stücken die Hand auftät'. So muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und dabei behält er, wie gesagt, meinen Lohn und obendrein die vierzig Gulden in Silberstücken, die mir meine Mutter hinterlassen hat. Das wäre jedoch alles das Schlimmste nicht. Aber er ist auch ein boshafter Mensch, der mich oft schlägt. Du hast gestern gesehen, wie er mich wegen der Jacke anließ.« »Ja, das hab' ich gesehen.« »Und so war er auch stets mit meiner Mutter. Ich laß mir's nicht nehmen, daß sie die Schwindsucht, an der sie gestorben ist, von einem Schlage bekam, den er ihr einst im Zorn und Rausch vor die Brust versetzt hat.« Sie schwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich sagte Georg: »Wenn dich dein Stiefvater gar so übel behandelt, warum bleibst du bei ihm?« »Weil ich weiß, daß er mich nicht fortließe«, antwortete sie nach einer Pause. »Er braucht ein so armes, hilfloses Ding um sich, das er ungestraft quälen und martern kann. Denn er ist im Innersten feig, wenn er auch oft grimmig und wütend wird. – Und wohin sollt' ich gehen?« setzte sie mit einem Seufzer hinzu. »Es ist überall nicht gut in der Welt.« Sie hatte bei diesen Worten wieder ihren Hammer ergriffen; Georg, etwas gestärkt, tat desgleichen, und bald waren sie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft. So verrann Stunde um Stunde, und die Mittagshitze lagerte sich glühend über Berg und Tal. Weithin regte sich nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit stimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen, rauhen Gesang an. Plötzlich ertönte der schrille Laut einer Glocke. »Was ist das?« fragte Georg, der sah, daß die andern ihre Werkzeuge hinlegten und auf die Hütte zuschritten. »Der Aufseher hat zum Essen geläutet«, erwiderte Tertschka. »Zum Essen –« wiederholte er matt. »Und was gibt es denn bei euch?« »Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweinefleisch sein; denn das haben sie gestern mitgebracht.« »Es ist schon lange her, daß ich kein Fleisch mehr gegessen habe«, sagte er nachdenklich. »Iß auch heute keins, du hast das Fieber; es könnte dir schaden. Denn der Aufseher hat kein Gewissen und nimmt dem Metzger in Schottwien die schlechte, verdorbene Ware ab, und da er's bei der Bauleitung durchgesetzt hat, daß jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß, so schlägt er alles teuer genug los und hat seinen sündhaften Gewinn dabei. Drum kocht er auch selbst; denn er traut keinem von uns.« »Er kocht?« »Ja. Um die Arbeit kümmert er sich wenig und läßt es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nachsehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meisten mit solchen, die nicht den Mut haben, etwas zu erwidern.« »Seltsam; aber mit dem Fleisch hat es bei mir keine Gefahr«, sagte Georg bitter. »Denn da ich kein Geld habe, kann ich mir auch keines kaufen.« »Je nun, er würde dir schon borgen bis Samstag, wo der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh dir, wenn er dich einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er dir alles doppelt anrechnet, er zwingt dich auch, mit ihm zu zechen und Karten zu spielen, damit er dich ganz in die Klauen bekommt. Dann siehst du von dem Deinigen keinen Kreuzer mehr und bleibst ihm verfallen wie die arme Seele dem Teufel.« Er hatte ängstlich zugehört. »Aber wie stell ich es an, bis Samstag zu leben«, sagte er kleinlaut. »Heut ist erst Mittwoch. Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf, so muß ich verhungern.« Sie hatte sich schon früher am Saume ihres Rockes zu schaffen gemacht und einen kleinen Teil der Naht aufgetrennt. Jetzt zog sie ein zusammengewickeltes Stückchen Papier daraus hervor und entfaltete es langsam. Es war eines jener Banknotenfragmente, welche damals in Österreich unter dem Namen »Viertel« im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze ersetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. »Nimm«, sagte sie; »das langt bis Samstag, wenn du recht sparsam bist. Du kannst es mir allwöchentlich kleinweise von deinem Lohn zurückgeben.« Er blickte sprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in ihrer Hand. Überraschung, Rührung und verschämte Freude malten sich wundersam in seinem Antlitz. Er war wie betäubt und regte sich nicht. »Es ist mein einziges«, fuhr sie treuherzig fort. »Unser Ingenieur hat mir's geschenkt, als er im vorigen Monate hier war. Er hatte seinen Mantel in der nächsten Hütte liegen lassen, und den mußt' ich ihm holen. Aber du tust mir einen Gefallen, wenn du das Geld nimmst. Ich fürcht immer, ich könnt' es verlieren; derhalb hab' ich's auch in meinen Rock eingenäht. Wenn der Aufseher darum wüßte, hätt' er mir's längst abgefordert.« Und damit legte sie es in seine Hand. »Aber jetzt komm und laß uns zum Essen gehen. Vergiß nicht, was ich dir wegen des Fleisches gesagt habe, und begnüg dich mit dem übrigen. Das Mehl ist zwar auch meistens dumpfig; aber gestern haben sie frische Kartoffeln gebracht. Und abends kannst du dir ein Glas Branntwein gönnen; das wird dir gut tun.« Er stand auf und folgte ihr schweigend. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte ihr tief in die sanften braunen Augen. »Wie soll ich dir's vergelten, Tertschka«, sprach er mit zitternder Stimme. »So gut und lieb wie du war noch kein Mensch mit mir.« »Ach was«, erwiderte sie; »man muß sich gegenseitig helfen in der Welt. Und dann – du bist ja auch gut. Das hab' ich dir gleich gestern angesehen, als du kamst.« Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die andern, aus schadhaften Näpfen essend, bereits den Herd, an welchem der Aufseher stand, die Ärmel aufgekrempelt und mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein mächtiges Bratenstück anzuschneiden, dessen brenzlicher Duft den Eintreten den entgegenschlug und Georg einen unwillkürlichen Seufzer entlockte. Auch die übrigen blickten gierig nach dem fetttriefenden Fleische und nahmen der Reihe nach ein Stück davon in Empfang, das sie von der Faust weg verzehrten. Einige legten Geld dafür nieder; bei den meisten jedoch machte der Aufseher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte von Tertschka einen Napf erhalten; damit näherte er sich nun dem Herde. Der Aufseher sah ihn befremdet an. Endlich entsann er sich. »Aha, der Knirps von gestern!« rief er. »Nun, hast du etwas gearbeitet?« »Ja; Steine hab' ich zerschlagen.« »Und nun hast du Lust, zu essen. Was willst du?« »Ich möcht euch um Grütze und Kartoffeln bitten.« Der Aufseher tat ihm das Verlangte in den Napf und nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte. »Du wirst doch auch ein Stück Braten wollen«, sagte er dann. Das war nun eine gewaltige Versuchung für den Armen. Aber er gedachte der Warnung Tertschkas und erwiderte, während der andere schon das Messer ansetzte: »Nein, ich esse kein Fleisch.« »Was? Bist du ein Knicker? Bei deinem verhungerten Aussehen solltest du froh sein, etwas Ordentliches in den Leib zu kriegen.« »Er hat das Fieber; das fette Fleisch könnt' ihm übel bekommen«, sagte Tertschka hinzutretend; denn sie fühlte, daß es dieser barschen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft Georgs zu stützen galt. »Halt dein Maul!« schrie der Mann. »Wer hat dir gesagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!« Und zu Georg gewendet fuhr er fort: »Also willst du, oder willst du nicht? « Diese Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Gericht nicht zurückzuweisen. Aber der Schüchterne nahm all seinen Mut zusammen und erwiderte: »Sie hat recht, ich darf das Fleisch nicht essen.« »Nun, so laß es sein!« schrie der andere giftig, indem er das Messer beiseite warf. »Bitten werd ich dich nicht.« Und da Georg vor ihm stehen blieb, fragte er: »Auf was wartest du noch?« »Ihr sollt mir herausgeben«, antwortete jener stockend. »Ja, ja, ja!« rief der Aufseher. »Glaubst du, ich werde die lumpigen paar Kreuzer behalten?« Und damit warf er ihm den Rest in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit der anderen mühsam die umherrollenden Geldstücke auf; dann setzte er sich in einen Winkel und begann sein karges Mahl zu verzehren, das mittlerweile schon ziemlich kalt geworden war. Er sah dabei, wie der Aufseher eine grünliche Flasche ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu Mund wanderte. Er aber vertröstete sich auf den Abend, den Worten Tertschkas gemäß, welche inzwischen, dürftig genug, ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des Stiefvaters daran ging, das Kochgeschirr zu scheuern. Die andern lagerten sich draußen im Schatten der Hütte, um den Rest der Ruhestunde zu verschlafen. Der Aufseher jedoch nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher sich ein lecker zubereitetes Huhn befand, und stellte sie nebst Teller und Eßzeug und einer Flasche Wein auf den nahen Tisch. Als er sich eben anschicken wollte, behaglich zu schmausen, fiel sein Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwischen den Knien, still überlegte, ob er nicht Tertschka beim Scheuern helfen solle, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen Manne abhielt. »Was sitzt du da und gaffst?« schrie jetzt dieser. »Pack' dich hinaus zu den andern! Ich brauch' hier keinen Spion, der mir den Bissen vom Maul wegguckt!« Georg schrak empor, schlich aus der Hütte und legte sich draußen auf den sonnigen Boden nieder, da er im Schatten keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufseher wieder die Glocke zur Arbeit erschallen; er selbst begab sich in seinen Verschlag, um nun auch Siesta zu halten. Die Männer reckten und dehnten sich und folgten nur zögernd dem Rufe; einige drehten sich sogar auf die andere Seite und schliefen weiter. Georg aber schritt mit Tertschka wieder zum Steinbruch hinan, wo sie, bis der Abend sank, ihrer harten Pflicht oblagen. Und auch in den Tagen, die nun folgten, saßen sie nebeneinander. Denn die Kräfte Georgs hoben sich wirklich; die bitterste Not war ja vorüber, zudem schien der frische Hauch der Gebirgsluft heilend auf seinen fiebersiechen Körper zu wirken. Er schwang den Hammer schon ganz rüstig und erzählte dabei der armen Genossin allerlei aus seinen Militärjahren. Es waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldatenstreiche, was er vorbrachte; bei seinem scheuen und in sich selbst gedrückten Wesen hatte er ja nur die Schattenseiten eines Standes kennengelernt, der so manchem anderen den heitersten Genuß des Daseins eröffnet. So konnte er nur berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die unerbittliche Korporalsfaust zur Hölle gemacht, von langem Schildwachstehen im Schnee, von beschwerlichen Märschen und nächtlichen Kampierungen im Regen und Sturm – und vor allem, wie er bei der Belagerung Venedigs mit seinem Regimente vor dem Fort Malghera gestanden und dort ihrer Hunderte in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera hinweggerafft wurden. Tertschka hörte still zu. Vieles faßte sie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er sprach, hatten ja stets so fernab von ihr gelegen, und vollends von einer Stadt, die mitten im Wasser erbaut sei, konnte sie sich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei dem Worte »Meer« nichts als eine undeutlich schimmernde Wolke vorschwebte. Aber sie fühlte heraus, wie schlecht es Georg all seine Tage ergangen sei, und erzählte hinwieder auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, einförmigen Dasein in der Erinnerung geblieben war. So trösteten sie sich unbewußt gegenseitig, und es tat ihnen wohl, daß sie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum Steinbruch hinanstiegen und die langen sonnigen Tage nebeneinander verbringen konnten, wobei sie oft den Ruf der Glocke überhörten oder darob erschraken, weil er sie aus ihrer wehmütig trauten Einsamkeit in die wüste Gemeinschaft der Hütte zurücktrieb. – Aber nicht lange sollte die Zeit dauern, wo sich die beiden in lang erduldeter Not und still entsagendem Kummer, wie andere in Lust und Fröhlichkeit und drängender Lebensfülle, immer inniger zusammenfanden. Sei es, daß der Aufseher durch die andern Arbeiter von ihrem Einvernehmen übelwollende Kunde erhalten, sei es, daß er es mit dem Instinkte der Bosheit von selbst erraten hatte – genug: er stand eines Tages hinter ihnen. »Was hockt ihr da beieinander wie die Kröten?« schrie er, während sie erschrocken aufsahen. »Marsch, du Hungerleider, zu deinen Kameraden, wo du hingehörst!« Und damit streckte er gebieterisch die Hand gegen den untern Teil des Steinbruches aus. »Und du, heimtückisches Aas«, wandte er sich zu Tertschka, während Georg betroffen und sprachlos dem Befehl Folge leistete, »mir scheint, du hältst es mit dem elenden Krüppel da? Wart', das will ich dir austreiben! Wenn ich euch noch einmal beisammen seh', so ist der Kerl die längste Zeit hier gewesen, und du erblickst mir kein Tageslicht mehr!« – So wurden sie rauh und plötzlich auseinandergerissen. Georg mußte in den nächsten Tagen unten am Bahngeleise arbeiten, und wenn sie um die Mittagsstunde oder nach Sonnenuntergang in der Hütte zusammentrafen, so wagten sie kaum, sich anzusehen, geschweige nur ein Wort miteinander zu reden. Denn der Aufseher behielt sie scharf im Auge, und auch die andern schienen mit stumpfer Schadenfreude über ihnen zu wachen. Eines Abends jedoch – es war Samstag – hatte sich der Aufseher mit einigen Zechgenossen in die Schenke einer nahen Ortschaft begeben, indes die Zurückgebliebenen, wie gewöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Karten wagten, dessen beschmutzte Blätter in ihren Händen die Runde machten. Während es dabei immer wüster und lärmender herging, faßte Georg Mut, sich verstohlen Tertschka zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiste saß, das Haupt auf die Hände gestützt. »Tertschka«, sagte er leise, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der Tasche zog, »hier ist das letzte von dem Gelde, das ich dir schuldig bin.« Und dabei legte er sachte einige Kreuzer in ihren Schoß. »Ach, lass' es«, erwiderte sie; »du wirst es noch brauchen.« »Wozu sollt' ich's brauchen?« fuhr er niedergeschlagen fort. »Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, seit ich nicht mehr mit dir arbeiten kann.« »Ich auch nicht«, sagte sie leise. »Weshalb er uns nur auseinandergejagt hat?« begann er nach einer Weile. »Ihm könnt' es doch eins sein, ob wir beisammen sitzen oder nicht; wenn wir nur unser Tagewerk ordentlich verrichten.« Sie blickte vor sich hin. »Er ist ein böser Mensch«, sagte sie endlich, »der nicht sehen kann, daß es einem anderen wohl ist, und jeden gern um sein Liebstes bringt.« Tertschka war bei diesen Worten aufgestanden, hatte den Deckel der Kiste zurückgeschlagen und holte jetzt langsam eine wollene Jacke, einen Rock aus Kattun und ein Paar schwere Schuhe hervor. Dann noch ein verschossenes rotes Halstuch und einen alten Rosenkranz mit einem Kreuzlein von Messing daran, welche Gegenstände sie samt und sonders auf dem wieder herabgelassenen Deckel der Kiste sorglich zurechtlegte. »Was tust du denn da?« fragte Georg, der ihr zusah. »Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche gehen«, erwiderte sie. » Er kann's freilich nicht leiden, denn er kennt keinen Herrgott und hat schon die Mutter immer gescholten, weil sie sonntags niemals die Messe versäumen wollte und mich immer mit sich nahm. Er weiß mir immer etwas in den Weg zu legen, und ich bin schon zwei Monate nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh' ich; er soll sich anstellen, wie er will. Ich mag nicht das Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur ans Trinken und Kartenspielen denkt.« Georg sah vor sich hin. »Ich bin auch schon lang in keiner Kirche gewesen«, sagte er. »Wie schön wär' es, wenn ich morgen mit dir gehen könnte.« »Ja, es wär' schön; aber es kann nicht sein.« »Je nun«, fuhr er fort, »der Aufseher müßt' es gerade nicht merken. Wir gingen ein jedes für sich allein fort, und wir fänden uns erst unten wo zusammen.« Sie dachte nach. »Du hast recht; so wär' es möglich. Aber du müßtest lange vor mir aufbrechen. Gleich links von der Hütte führt ein schmaler, versteckter Steig ins Tal hinab; unten steht ein hölzernes Kreuz – dort könntest du mich erwarten. Aber jetzt geh«, setzte sie ängstlich drängend hinzu, »damit die andern nicht merken, daß wir miteinander gesprochen haben.« Und so ging er und suchte das harte Lager auf, wo er mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher Erwartung des kommenden Tages sanft einschlief. – Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnenglanze, als Georg den steilen Fußpfad hinabstieg, welchen ihm Tertschka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz im Tale aus und gewahrte bald, wie es morsch und windschief aus jungen Fichtenschößlingen hervorsah. Nun hatte er es erreicht und setzte sich, da es noch früh war, auf den bemoosten Steinblock, der gleichsam als Betschemel davor lag. Tiefes, sonntägliches Schweigen umgab ihn; selbst die Bienen über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erschlossen, schienen nicht zu summen. Georg kam ein unwillkürliches Lauschen an, und wie er so recht in die Stille hineinhorchte, da ward es ihm, als vernehm' er ein leises, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber stellte sich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob sich, schritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen, auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. »Die will ich der Tertschka geben, wenn sie kommt«, sagte er zu sich selbst, indem er auf den unbeabsichtigten Strauß sah, den er in der Hand hielt. Dann brach er noch ein langes Farrenkraut ab und steckte es an seine Mütze, wo es sich, hin und her schwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand, und bald war Tertschka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegengeeilt war. »Da bin ich«, sagte sie rasch atmend. »Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen lassen.« Georg stand vor ihr und sah sie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das schlichte Haar frei gescheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Rot des Halstuches sanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich viel zu weit war, und der helle Kattunrock standen ihr so übel nicht. »Wie schön du heut aussiehst!« sagte er endlich. Sie schlug erglühend die Augen nieder. »Ich hab' das alles noch von meiner seligen Mutter«, erwiderte sie, indem sie den bauschenden Rock zurechtdrückte. »Ich trag es so selten, und da hält es sich.« »Da, hast du Blumen«, fuhr Georg fort; »ich hab' sie unterdessen gepflückt.« Sie nahm den Strauß, den er früher halb hinter sich verborgen hatte, und wollte ihn vor die Brust stecken. Aber er war zu groß, und sie behielt ihn in der Hand, um welche sie den Rosenkranz gewunden hatte. So schritten die beiden durch die grünen Gefilde und an schmalen Äckern vorüber, wo das Korn bereits geschnitten und aufgehäuft lag, bis sie den Markt Schottwien erreicht hatten. Dort trafen sie alles in Bewegung. Denn es war eben Kirchtag, und die lange breite Gasse, aus welcher der Ort besteht, wimmelte von festlich gekleideten Menschen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte man Bretterbuden aufgeschlagen, und dort war eine Menge der verschiedenartigsten Dinge bunt nebeneinander zum Verkauf ausgelegt. Tücher, Tabakspfeifen, Messer, Glasperlen und Wachskorallen; allerlei Kochgeschirr, Pfefferkuchen und Spielzeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all diesen Herrlichkeiten stehen, und Georg bekam Lust, eine Pfeife zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; später, in seinem Elend, hatte er's aufgeben müssen, nun aber, da er sein Brot erwarb und weder trank noch spielte wie die andern, konnte er sich diesen Genuß wohl wieder gönnen. Er teilte seine Absicht Tertschka mit, und diese sprach ihm zu, er möge nur handeleins werden; sie selbst würde unterdessen langsam vorausgehen. »In der Ortskirche sind zu viele Menschen«, sagte sie. »Eine halbe Wegstunde außerhalb des Marktes liegt eine einsame Kirche; in der bin ich schon einmal gewesen und will auch heute wieder hineingehen.« Sie meinte damit »Maria Schutz« am Fuße des Sonnwendsteins. Georg drängte sich durch eine Gruppe von Gaffern und Feilschenden und er stand eine hübsche Porzellanpfeife mit bunten Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie schön sich der am Halse Tertschkas ausnehmen würde. Da der Preis, welchen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, so ließ er sich das Geschmeide in Papier wickeln und steckte es zu sich. Mit den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam, kaufte er in der anstoßenden Bude ein großes Herz aus Pfefferkuchen; dann sprang er noch um ein bißchen Tabak in den nächsten Kramladen und eilte mit seinen Schätzen der Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerst die Pfeife, die ihr wohl gefiel. »Das ist für dich«, sagte er hierauf und gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen geschmückt, das ein zweites kleines Herz vorstellte, von einem Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde faßte das Ganze ein. Sie betrachtete es still und schob es mit dankendem Lächeln zwischen den Strauß und den Rosenkranz ein. »Ich habe noch etwas für dich gekauft«, fuhr er nach einer Weile fort, indem er das kleine Päckchen langsam aus der Tasche zog und die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie warf einen Blick darauf. »Wie kannst du nur soviel Geld für mich ausgeben!« sagte sie; aber ihre Miene strahlte von froher Überraschung und reinster Freude. »Für dich möcht ich alles hingeben«, erwiderte er innig. »Aber nimm es gleich um; es wird dir gut stehen!« Sie reichte ihm, was sie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts festzumachen war, so konnte sie damit nicht recht zustande kommen. »Laß das mich tun!« rief er, gab ihr wieder alles zurück, drückte, nachdem sie sich umgewendet, ihre braunen Haarflechten sanft empor und schob die beiden Teile einer kleinen Schließe ineinander. »So!« sagte er, indem er mit zufrieden prüfendem Blick vor sie hintrat. Dann gingen sie fröhlich weiter und hatten bald die Kirche erreicht, die aus schattigen Wipfeln hervorsah. Sie trafen nur sehr wenige Beter an; ein alter Priester mit grämlichen Gesichtszügen war eben zum Altar getreten und begann gleichgültig die Messe zu lesen. Tertschka kniete in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und das Herz vor sich hin und faltete die Hände. Georg blieb hinter ihr stehen. Es wurde ihm ganz eigentümlich zumute in dem stillen Raume. Durch die hohen schmalen Bogenfenster fiel das Licht sanft und mild herein; er hörte das Gemurmel des Priesters, das Klingen des Ministrantenglöckleins, und Andacht durchschauerte ihn. Aber beten konnte er nicht: er blickte nur unverwandt auf Tertschka, die vor ihm kniete und mit gesenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die Messe war bald zu Ende; der Priester gab den Segen, und die Anwesenden entfernten sich. Nur Tertschka verweilte noch. Endlich bekreuzigte sie sich, stand auf und schritt, während Georg folgte, nach der Tür, wo der Küster bereits ungeduldig die Schlüssel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vormittag, und nicht weit von der Kirche entfernt streckte ein stattliches Wirtshaus einen Busch von Tannenreisern gar einladend aus. »Willst du dich schon auf den Heimweg machen?« sagte Georg, da Tertschka wieder schweigend den Weg nach dem Markte einschlug. »Wohin sollten wir denn?« erwiderte sie und sah empor. »Dort drüben ist ein Wirtshaus. Ich glaube, wir könnten uns heut etwas zugute tun, Tertschka. Wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.« »Nun, wenn du Lust hast«, sagte sie und blieb stehen. »Der Aufseher wird freilich schelten, wenn ich so spät zurückkomme. Aber du hast recht: wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.« Sie schritten also auf das Haus zu, vor welchem sich ein sanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, riesige Buche und breitete ihre Äste über einer Anzahl roh behauener Tische und Bänke aus. Aber niemand saß daran. Es war ganz still und einsam hier; nur drinnen schien sich geschäftiges Leben zu regen. Endlich sah der Wirt aus der Tür, in schneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Samtmützchen auf dem Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäste von der Seite anblickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein in einem großen Henkelglase, Brot und Fleisch. Das setzte er ihnen auf den Tisch, an welchem sie sich niedergelassen hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder ins Haus zurück. Georg schob Tertschka den Teller zu, und diese zerlegte nun das Fleisch in kleine Stücke. Dann brachen sie das Brot und begannen gemeinschaftlich zu essen, wobei sich Tertschka, da der Wirt nur für einen gesorgt hatte, des Messers als Gabel bediente. Auch den Wein genossen sie zusammen, nacheinander das Glas zum Munde führend. Nach beendetem Mahle brannte Georg seine Pfeife an und sah wohlgemut dem Rauche nach, der sich leicht und bläulich in die sonnige Luft hineinkräuselte. »Schau, Tertschka«, sagte er, indem er seine Hand auf die ihre legte, »das hätten wir uns gestern früh nicht träumen lassen, daß wir heute so fröhlich beieinandersitzen würden.« »Ja«, erwiderte sie, »ich hätt' es nicht verhofft.« Inzwischen war der Mittag herangerückt, und mit einemmal ertönten in der Ferne lustige Klänge von Hörnern und Klarinetten. Gleich darauf stürzte der Wirt aus der Tür. »Die Hochzeiter sind da!« rief er dem nachfolgenden Gesinde zu. »Sputet euch! die Tische sollten schon gedeckt sein.« Der Befehl wurde rasch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit; denn schon kam, von der lärmenden Ortsjugend umsprungen, ein stattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippschaft, zahlreiche Hochzeitsgäste und ein Rudel Neugieriger. Im Nu waren die Tische besetzt und umlagert, und nun ging es an ein Schmausen, Trinken und Jubilieren, und die Musikanten, die auch Streichinstrumente mitgebracht hatten, fiedelten und bliesen dazu, daß ihnen fast der Odem ausging. Es waren seltsam wechselnde Empfindungen, die unser Paar inmitten dieser lauten Lustbarkeit überkamen. Zuerst hatten sie erstaunt in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertschka das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die sah auch gar schön aus und mußte eine reiche Bauerstochter gewesen sein. Sie trug ein knappes Mieder von schwarzem Samt, das ihren schlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kettlein von eitel Gold war fünf- oder sechsmal um ihren Hals geschlungen, und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar stand ihr zu dem etwas stolzen und strengen Gesichte wie eine kleine Krone. Auch der Bräutigam war ein stattlicher Junge, dem gegen Bauernsitte ein Bärtchen an der Oberlippe dunkelte und dessen schmuckes, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl imstande war, die Bewunderung Georgs auf sich zu lenken. Nach und nach aber beschlich die beiden ein banges, drückendes Gefühl der Verlassenheit unter den vielen Menschen, davon gar manche sie mit scheelen Blicken musterten, als wollten sie fragen: »Was haben die hier zu schaffen?« Endlich wandte sich Tertschka an Georg. »Komm, laß uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen uns drüben am Waldrand niedersetzen. Dort können wir alles von weitem mit ansehen und der Musik zuhören.« Er war es zufrieden, und so schritten sie dem dunklen Fichtenwald entgegen, dessen Saum die helle Wiese begrenzte. Auf einem kleinen Abhange ließen sie sich nieder und lauschten den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen herüberzogen. Mit einemmal ward es still; sie sahen, wie drüben alles von den Tischen aufstand und einen Halbkreis bildete. Gleich darauf begannen wieder die Geigen zu schwirren. »Die Brautleute tanzen!« rief Tertschka. Und wirklich war es so. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wendungen bewegten sich die hohen schlanken Gestalten auf dem grünen Plan. »Wie lustig sie sich drehn!« fuhr Tertschka fort, indem sie sich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte. »Schau nur!« »Ja, es sind glückliche Leute«, sprach er, ohne hinzusehen, wie im Traum. – »Wenn wir nur auch einmal Hochzeit haben könnten.« »Ach geh«, sagte sie leise und langte nach einer roten Blume, die zu ihren Füßen blühte. »Resi«, fuhr er fort – es war das erstemal, daß er sie so nannte – und legte seinen Arm scheu und bebend um ihren Leib, »Resi – ich hab' dich so lieb!« Sie erwiderte nichts; aber in dem Blick, den sie zu ihm aufschlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und das Brautpaar, durch allseitiges Rufen und Händeklatschen angefeuert, sich im stürmischen Wirbel dahinschwang, da zog er sie fest ans Herz, und ihre Lippen schlossen sich zu einem langen, tiefen Kusse zusammen. – 3. III. Soll ich, der ich diese einfache Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen mir vorgesetzt, nun auch die Seligkeit zu schildern versuchen, welche die beiden von jetzt an überkommen hatte? Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht bloß deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen, das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den überschwenglichen Reichtum des Daseins erschlossen hatte, sondern auch, weil wohl jeder den Zauber der Liebe an sich selbst erfahren hat und so imstande ist, sich das Glück Georgs und Tertschkas nach seinem eigenen Herzen auszumalen. Freilich mußten sie dieses Glück scheu und ängstlich geheimhalten wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte desto schöner in der Tiefe ihres Innern fort, und bei der angebotenen und lang geübten Begnügsamkeit ihres Wesens waren sie zufrieden, wenn sie sich des Morgens, Mittags und Abends verstohlen entgegenlächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck aneinander vorüberstreifen konnten. Auch schien es, als ob der Aufseher immer weniger auf sie achte, daher sich ihre Besorgnis, er könnte vielleicht doch von ihrem gemeinsamen Gange nach Schottwien Kenntnis oder Vermutung haben, mehr und mehr verlor. Ja, Georg wagte sich sogar, wenn er, um Schotter zu holen, mit seinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte, manchmal rasch zu Tertschka hinauf, wo dann den Liebenden in einer kurzen Umarmung die Welt versank. In einem solchen Augenblick jedoch erschallten plötzlich nahende Tritte, und als sie erschrocken auseinanderfuhren, sahen sie den Aufseher, der mit hohn- und wutverzerrtem Antlitz hinter ihnen stand. »Hab' ich euch, ihr Racker!« schrie er. »So befolgt ihr mein Gebot und meint, ich merke euer Treiben nicht! Ich wußte recht gut, daß ihr letzthin den ganzen Sonntag miteinander herumgezogen seid; aber ich wollt' euch auf frischer Tat ertappen, und jetzt sollt ihr mir's büßen!« Und damit ergriff er Georg rückwärts beim Halse und schleuderte ihn ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll aufstob. »Fahr' deinen Schotter hinab, du Galgenstrick, und dann schnürst du deinen Bündel und gehst! Wenn du mir noch einmal unter die Augen kommst, so schlag ich dich krumm und lahm!« Bei diesen Worten stieß er den mühsam sich Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend geschwungener Faust den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er zu Tertschka zurück und betrachtete sie lange mit einem bösen, grausamen Blicke. »Mit dir«, sagte er endlich, »werd' ich später reden.« Und er ging, unverständliche Worte in sich hinein murmelnd. Betäubt, seiner Sinne beraubt, war Georg bei seinen Genossen angelangt. Er hatte mechanisch den Schiebekarren ausgeleert; dann setzte er sich auf einen Stein und blickte gedankenlos ins Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen schon leicht umwölkt gewesen; nun hatte sich ein trüber, grauer Tag zusammengezogen. Herbstlicher Windhauch strich leise durch die Wipfel der Tannen, und ein feiner, kalter Regen fiel auf die Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die scharf in sein Antlitz schlugen. Feurige Funken tanzten vor seinen Augen, und ein heißer Schauer durchrieselte die Leere seiner Brust. Nach und nach jedoch drängte sich das Bewußtsein der erlittenen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und mischte sich mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm und Tertschka zu begehen im Begriffe stand. Fortjagen wollte man ihn, und sie auseinanderreißen, die so tief und innig verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr empörte sich seine sonst so verschüchterte und duldende Seele, und eine hehre Kraft, ein heiliger Mut lohten darin auf, jeder Macht der Erde entgegenzutreten, die sich solcher Gewalttat unterfinge. Seine unscheinbaren Züge nahmen allmählich den Ausdruck fester Entschlossenheit an, und seine fahlen Augen funkelten wundersam. Endlich erhob er sich und schritt, während ihm die andern verwundert nachsahen, zu Tertschka empor. Die saß da und weinte. »Weine nicht, Resi!« sagte er, und seine Stimme klang ernst und tief. Sie antwortete nicht. Er hob ihr sanft das Haupt empor. Sie schluchzte noch lauter. »Weine nicht«, wiederholte er. »Es hat alles so kommen müssen. Aber es ist gut; wir wissen nun, was wir zu tun haben.« Sie sah vor sich hin. »Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen – und du gehst mit mir.« Es war, als hörte sie ihn nicht. »Unten in Krain bauen sie die Eisenbahn weiter«, fuhr er fort. »Dort finden wir Arbeit.« Sie schüttelte langsam das Haupt. »Du willst nicht, Resi? Und sieh, noch eins. Ich hab' einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren, Bahnwächter werden können. Ich laß mir ein Gesuch schreiben; vielleicht glückt es mir, und wir bekommen dann eines von den kleinen Häusern, wie sie unten am Geleise stehen, und können darin leben als Mann und Frau. – Und wenn es damit nichts ist«, setzte er rasch hinzu, da sie noch immer kein Zeichen der Beistimmung gab, sondern nur heftiger weinte, »wenn es damit nichts ist, so muß es auch recht sein. Wir wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und sparen, soviel wir können. – Aber so sprich doch ein Wort, Resi!« »Ach«, jammerte sie, »was du da sagst, ist alles schön und gut; aber du bedenkst eins nicht, daß mich der Aufseher nicht fortläßt.« »Er muß dich fortlassen. Du bist kein Kind mehr. Auch hat er sonst nichts mit dir zu schaffen. Du bist eine Arbeiterin wie jede andere und kannst gehen, wann und wohin du willst.« »Glaub' mir, er läßt mich nicht gehen – und mit dir schon gar nicht! – Ich hab' dir's bis jetzt verschwiegen«, fuhr sie nach einer Pause fort, während sich ihr Antlitz mit dunkler Röte überzog, »aber nun muß ich dir's sagen. Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärtlich mit mir tun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Sommer jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirtshaus zurück und fing wieder an und sagte, er würde mich heiraten. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab' mich seiner erwehrt und hab' ihm gesagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis aufs Blut und rächt sich, wie er kann.« Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und seine Brust rang mühsam nach Atem. »Der Elende!« stieß er endlich hervor. »Und bei dem solltest du bleiben? Jetzt, da ich das weiß, noch weniger! Du ziehst mit mir, und er soll sehen, wie er's verhindern kann.« »Trau' ihm nicht«, rief sie ängstlich. »Er ist imstande, einen zu morden, der schwächer ist als er.« »Ich fürcht' ihn nicht«, erwiderte Georg, und seine kleine Gestalt reckte sich scheinbar weit über ihr Maß hinaus. »Er hat mich früher von hinten angefallen, und ich war nicht darauf gefaßt. Aber er soll mir noch einmal kommen!« »Jesus!« klagte sie und rang die Hände; »ich könnt' es nicht sehen, daß ihr aneinandergerietet.« »Nun, es wird so arg nicht werden«, versetzte er, seine Erregung niederkämpfend. »Wir wollen zu ihm – jetzt gleich – und ihm ruhig und gemessen unseren Entschluß mitteilen. Du wirst sehen, daß er nichts erwidert. Denn so schlecht, so niederträchtig er auch ist, erkennen muß er, daß er kein Recht und keine Macht hat, dich zu halten.« Sie rang noch immer verzweifelt die Hände. »Fasse Mut, Resi«, sagte er ernst. »Willst du mich allein ziehen lassen?« Sie flog ihm an die Brust und klammerte sich an seinem Halse fest. »Nun also«, fuhr er fort und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn, »gehen wir.« Und sie schritten langsam auf die Hütte zu: sie die Brust voll Bangen und Zagen vor den Dingen, die sie kommen sah, er unerschütterliche Kraft und Zuversicht im Herzen. Als sie über die Schwelle traten, saß der Aufseher mit einem Messer in der Hand am Tische und schälte Kartoffeln. Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber seine Überraschung schlug allsogleich in Zorn und Wut um. »Was wollt ihr zwei da?« schrie er, indem er sich halb erhob und den Griff des Messers wie kampfbereit auf den Tisch stützte. »Ihr habt mir die Arbeit gekündigt«, erwiderte Georg in ruhigem Tone. »Ich komme, um meine Sachen zu holen und Euch zu sagen, daß die Tertschka mit mir geht.« Der Aufseher machte eine Bewegung, als wollte er auf ihn zustürzen; jedoch fühlte er sich durch die ernste, sichere Miene, mit welcher Georg vor ihm stand, wider Willen eingeschüchtert. »Darauf geb' ich gar keine Antwort«, knirschte er endlich. »Ihr braucht auch keine zu geben. Tertschka ist frei und ledig und kann tun, was sie will.« Der Aufseher keuchte. »Nimm, was dir gehört, Resi«, fuhr Georg fort, indem er sich wandte, um seinen Quersack zu suchen, »und dann komm«. In der Brust des anderen arbeitete es heftig. Er wußte augenscheinlich nicht, was er beginnen sollte. Aber in dieser Unentschlossenheit warf er einen Blick nach Tertschka, welche ihre Seelenangst nicht verbergen konnte. Und als sie jetzt auf die Kiste zuschritt, sprang er auf sie los und stieß die Entsetzte in den Keller hinunter, dessen Tür halb offen stand. Dann schloß er diese ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. »So, das ist meine Antwort«, stammelte er, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, während er sich wieder am Tische niederließ und mit erzwungener Ruhe seine Beschäftigung fortzusetzen begann. Das war so rasch, so unvermutet geschehen, daß es Georg nicht hatte verhindern können. Er faßte sich jedoch allsogleich, hängte ohne jedes Zeichen von Eile seinen Sack über die Schulter und näherte sich mit langsamen Schritten dem Aufseher. »Laßt die Tertschka heraus«, sagte er ruhig. Der Aufseher schälte Kartoffeln. »Laßt die Tertschka heraus.« Die Hände des Aufsehers zitterten. Und als Georg zum dritten Male, jedoch eindringlicher, seine Forderung wiederholte, sprang er auf und ballte die Faust. »Geh jetzt – geh!« rief er, »sonst – –« »Was – sonst?« erwiderte Georg gelassen. »Ich fürcht Euch nicht, wenn Ihr auch stärker seid. Vorhin hattet Ihr leichtes Spiel mit mir, denn ich war wehrlos, wie jetzt die Tertschka. Aber Aug' in Aug' steh ich Euch!« Das Antlitz des Aufsehers war gräßlich anzusehen. Haß, Rachsucht und lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang nach Luft und seine Hände griffen unsicher vor sich hin. Georg gewahrte das alles, und seine Brust stählte sich mehr und mehr. »Drum rat ich Euch«, fuhr er fort, »gebt gutwillig heraus, was mein ist; sonst nehm ich mir's mit Gewalt.« Während dieser Worte hatten sich einige Männer in der Hütte eingefunden; denn die Mittagsstunde nahte heran. Ihre Anwesenheit wirkte stachelnd auf den Aufseher. Er fühlte sich sicherer, und seine Feigheit, die er selbst mit Wut empfand, bäumte sich aus Furcht, von anderen bemerkt zu werden, zu frecher Verwegenheit empor. »Habt ihr gehört?« rief er, gegen die Männer gewendet, »der Kerl wagt es, mir zu drohen, weil ich das schlechte Weibsbild, die Tertschka, eingesperrt hab, daß sie nicht mit ihm davonläuft.« »Beschimpft uns nicht!« rief Georg, dessen Blut unwillkürlich höher aufwallte. »Wir sind zwei ehrliche Leute. Ihr habt kein Recht, die Tertschka einzusperren, wenn sie auch schlecht wär'.« »Was? kein Recht hätt' ich?! Sie ist mein Stiefkind und bei mir aufgewachsen!« »Leider Gottes! Mehr sag ich nicht; ich will Euch schonen vor diesen da.« Und dabei deutete er nach den Männern, die mit stumpfem Behagen dem wachsenden Streite zusahen. »Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt ihn und werft ihn hinaus!« Die Männer blickten einander an; aber sie regten sich nicht. Hinter der Kellertür war lautes Ächzen vernehmbar. »Seht Ihr?« fuhr Georg in steigender Erregung fort; »es fällt keinem ein, mich anzurühren. Drum sag ich Euch zum letztenmal: gebt die Tertschka frei – oder ich nehm den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Tür geht in Trümmer!« »Was? Die Tür willst du mir einschlagen? Du Räuber! Du Dieb! Hinaus! Sonst laß ich die Gendarmen holen!« »Laßt sie holen« rief Georg flammend. »Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr sie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbteil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehrlosen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!« – Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser Anklagen hatten bei dem Aufseher das Maß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, schäumenden Mundes, die Augen weit vorgequollen – so stürzte er sich mit hochgeschwungenem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfaßt und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte – und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoß, röchelnd zu Boden. Einen Augenblick herrschte lautlose Stille; stummes, ödes Grausen hatte die Anwesenden ergriffen. Georg aber stand da, wie David an der Leiche Goliaths. »Resi! Resi!« rief er jetzt, indem er mit raschen Schlägen das Türschloß aufsprengte, »komm heraus, Resi! Du bist frei; unser Peiniger liegt am Boden!« »Jesus Maria!« schrie sie, hervoreilend, und schlug mit einem Blick auf den Getroffenen die Hände zusammen. »Er ist tot! Georg! Georg! Was hast du getan! Jetzt wird man dich fortführen und als Mörder vors Gericht stellen!« »Das soll man! Ich werde Red' und Antwort geben. Die dort müssen es bezeugen, daß er mir mit dem Messer ans Leben wollte. – Geht hinunter«, wandte er sich an die Männer, »und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den Aufseher erschlagen hat.« Es dauerte lange, bis sich einer dazu entschloß. Georg aber setzte sich mit Tertschka draußen vor der Hütte nieder. Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem Vollgefühle seiner Tat, die ihm ein vollstrecktes Richteramt erschien, streichelte ihr von Zeit zu Zeit sanft tröstend die Wangen. Endlich erschienen zwei Herren von der Bauleitung und ein Gendarm. Sie ließen sich alles erzählen und sprachen dann eifrig miteinander. »Eingeliefert muß er werden«, sagte der Gendarm. »Er ist Urlauber und gehört vor das Militärgericht in Wiener Neustadt.« Da sich Georg willig und fügsam erwies, so wurde ihm mitgeteilt, daß man ihm keine Fesseln anlegen wolle; zu der jammernden Tertschka aber sprach der Gendarm, sie möge sich trösten; nach allem, was er gehört, dürfte es so schlimm nicht werden. Ja, er gestattete ihr sogar, sich mit auf den Vorspannswagen zu setzen, der ihn und Georg später nach Wiener Neustadt brachte – und so fuhren sie in den sinkenden Abend hinein und in die dunkelnde Nacht, während man oben die Leiche fortschaffte und ein endloser Regen vom Himmel niederströmte. 4. IV. Ein Garnisons-Stockhaus ist ein Gefängnis wie jedes andere, nur mit dem Unterschiede, daß diejenigen, welche sich darin befinden, alte, schadhafte Uniformen auf dem Leibe tragen. Man findet dort Soldaten von allen Farben und Abzeichen, und da sie sich samt und sonders als Glieder eines Standes fühlen, so herrscht unter ihnen mehr Eintracht, als dies anderswo der Fall zu sein pflegt; wie denn auch bei dem Völklein eine gewisse, durch Aufrechterhaltung der verschiedenen Rangunterschiede bedingte Zucht und Ordnung nicht zu verkennen ist. Trotzdem bleibt ein solches Stockhaus immerhin ein gar wüster, trübseliger Ort, und es darf uns nicht wundernehmen, daß es Georg in jenem zu Wiener Neustadt nicht allzu wohl ums Herz ward. Ein mürrischer Profos, von einer Wache begleitet, hatte ihn bei später Nacht in den dunklen, stark bevölkerten Raum eingeschlossen, wo er sich, da für ihn noch kein Strohsack in Bereitschaft war, neben geräuschvoll atmenden Schläfern auf das blanke Holzlager hinstreckte. Aber schlafen konnte er nicht. Der gehobene Mut, die beschwingende Zuversicht, welche ihn erfüllt hatten, waren schon während der langen, traurigen Fahrt einigermaßen ins Sinken geraten; nun schlichen bange Zweifel und scheue Vorwürfe an ihn heran. Und als endlich ein bleicher Lichtschein durch die verschalten Fenster dämmerte, nach und nach die kahlen, schmutzigen Wände und die unerfreulichen Gesichter seiner Mitgefangenen beleuchtend, da fiel ihm die Erkenntnis seiner Lage immer deutlicher, immer schwerer auf die Seele. Nicht, daß er etwa die Folgen seiner Tat allzusehr gefürchtet hätte; war er doch angegriffen worden und hatte sich seines Lebens wehren müssen; aber er sah im Geiste das Bild des Erschlagenen vor sich, sah ihn bleich und regungslos im Blute liegen, und in seinem weichen, wohlempfindenden Gemüte mischten sich jetzt mit dem schaudernden Bewußtsein, einen Menschen getötet zu haben, Reue und Mitleid und ließen ihn tief beklagen, daß alles so habe kommen müssen. Dieser unfreie und gedankenvolle Zustand wurde noch dadurch gesteigert, daß Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen, ohne daß man Georg ins Verhör genommen oder sonst sich um ihn gekümmert hätte. Denn nun stellte sich auch die Sorge ein, wie sich die nächste Zukunft gestalten würde, und quälte ihn um so mehr, als er über das Schicksal Tertschkas, nach welcher er eine schmerzliche Sehnsucht empfand, in völliger Ungewißheit war. Das arme Geschöpf hatte wohl durch Vermittlung des Gendarmen ein Nachtlager und gleich in den nächsten Tagen beim Neubau eines Hauses Arbeit gefunden, aber in ihrem Inneren sah es trostlos aus. Keiner von denen, die an dem Baugerüste vorübergingen und zufällig bemerkten, wie sie Backsteine oder mit Mörtel gefüllte Kübel hinanschleppte, hätte gedacht, mit welch tiefem Gram und Herzeleid sie das alles verrichtete. Abends jedoch, wenn die Arbeit eingestellt wurde, und an Sonn- und Feiertagen umkreiste sie scheu die Kaserne, in welcher sich das Stockhaus befand, und spähte zu jedem vergitterten und geblendeten Fenster empor, ob sie nicht irgendwo das Antlitz Georgs entdecken könnte, so zwar, daß sie mehrmals von den Schildwachen hart angelassen und fortgescheucht wurde. In ihrer Not wandte sie sich endlich an die Soldaten der Torwache und bat sie, ihr zu sagen, wo sich der Gefangene Georg Huber befände; sie möchte gern mit ihm reden. Da bekam sie denn freilich nur rohes Gelächter und unziemliche Späße zu hören, bis sich endlich ein gutmütig aussehender Unteroffizier ihrer erbarmte, indem er sich bereit erklärte, besagten Gefangenen ausfindig zu machen und demselben ihre Grüße zu bestellen; ihn zu sehen und mit ihm zu reden, könne ihr jedoch nicht verstattet werden, es wäre denn, daß sie vom Auditor hierzu die Erlaubnis bekäme. Den solle sie aufsuchen; aber sie müsse schon am Morgen zu ihm gehen, denn tagsüber sei der Herr selten zu Hause anzutreffen. So suchte sie denn früh am nächsten Sonntage ihre wollene Jacke und den Kattunrock hervor und begab sich damit angetan nach dem Hause, welches ihr der Unteroffizier bezeichnet hatte. Dort mußte sie eine lange Zeit im Flur warten; denn sie erhielt den Bescheid, der Herr Auditor schlafe noch. Endlich trat dieser, bereits völlig angekleidet, aus der Tür und fragte sehr eilig, was sie wolle. Er ließ sie nicht ausreden und sagte, die Erlaubnis, mit den Arrestanten zu sprechen, könne nur in den seltensten Fällen erteilt werden; sie solle sich übrigens beruhigen, denn die ganze Angelegenheit würde in Bälde ausgetragen sein. Wenig getröstet ging sie wieder; und wirklich verstrich abermals Woche um Woche, ohne daß über Georg irgendeine Entscheidung erfolgt wäre. Denn, um es nur zu sagen, der Auditor war ein lebenslustiger junger Mann, dem die Schönen der Stadt näher am Herzen lagen als seine Gerichtsakten; zumal Verhandlungen, welche beurlaubte Soldaten betrafen und also in dienstlicher Hinsicht nicht so dringend waren, schob er gerne auf die lange Bank. In ihrer nunmehr gesteigerten Sorge trachtete Tertschka wieder ihren Vertrauten aufzufinden, und dieser meinte, daß ihr nichts anderes übrigbliebe, als sich an den Obersten des Platzkommandos zu wenden. Der sei zwar ein etwas strenger Herr; aber er habe schon vielen Menschen geholfen. Sie entschloß sich also auch dazu und mußte, ehe sie vorkam, wieder lange warten, jedoch diesmal nicht im Flur, sondern in einem warmen Vorgemach, was ihr um so wohler tat, als der Winter bereits ins Land gerückt war. Endlich hörte sie ein Geklirr von Säbeln; einige Offiziere traten aus den Gemächern des Obersten und gingen, wie es schien, etwas niedergeschlagen fort. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür; ein stattlicher Mann mit leicht ergrautem Schnurrbart blickte heraus und fragte ziemlich barsch nach ihrem Begehren. Da sie aber gleich zu weinen anfing, wurde sein Antlitz milder; er hieß sie eintreten und hörte, nachdem er sich gesetzt hatte, schweigend an, was sie vorbrachte. Dann stellte er einige Fragen an sie und forderte sie endlich auf, den ganzen Hergang zu erzählen. Das tat sie nun; freilich gar schlicht und unbeholfen, aber mit einem solchen Ausdruck von Wahrheit, daß der Oberst, der dabei öfter seinen Schnurrbart leicht emporstrich, sichtlich ergriffen wurde. Nachdem sie geendet hatte, stand er auf, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte, sie möge getrost von hinnen gehen. Er gäbe ihr sein Wort, daß nunmehr die ganze Angelegenheit in kürzester Frist und, wie er hoffe, zu Georgs Gunsten erledigt sein werde. Freien und gehobenen Herzens entfernte sie sich; der Oberst jedoch ging noch eine Weile sinnend im Gemache auf und nieder, wobei er von Zeit zu Zeit die Sporen leise aneinanderschlug. Endlich ließ er durch eine Ordonnanz den Auditor zu sich bescheiden. Er mußte ziemlich lange warten, bis der junge Mann ganz erhitzt mit einer raschen Verbeugung hereintrat. »Herr Auditor«, begann der Oberst, »es ist vor ungefähr vier Monaten ein Urlauber namens Georg Huber behufs kriegsrechtlicher Untersuchung hier eingeliefert worden.« Der Auditor fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Stirn. »Georg Huber – ja, ja, ganz recht. Es handelt sich, wie ich glaube, um einen Totschlag –« »Allerdings; darum handelt es sich. Und ich wünschte, die Untersuchung beendet zu sehen.« »O nichts leichter als das«, fuhr der andere aufatmend fort. »Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte, wie sie unter solchen Leuten nur zu oft vorkommt. Man läßt den Mann ein paarmal durch die Gasse laufen, und die Sache ist abgetan.« »Nicht doch, Verehrtester«, erwiderte der Oberst. »Das wäre ein höchst oberflächliches, gewaltsames Verfahren. Es liegt mir im Gegenteile daran, daß diese Angelegenheit, wenngleich möglichst rasch, so doch ohne jede Überstürzung mit größter Umsicht und Sorgfalt geprüft und verhandelt werde. Denn ich erlaube mir, ohne damit Ihrer richterlichen Einsicht vorgreifen zu wollen, die Bemerkung, daß hier, wie ich mich überzeugt habe, sehr eigentümliche Verhältnisse mit im Spiele sind.« Der Oberst hatte bei diesen Worten die Brauen zusammengezogen; der Auditor wußte, was das zu bedeuten habe, machte eine stramme Verbeugung und ging. Dann eilte er geraden Weges in seine Kanzlei, und da es ihm keineswegs an Scharfblick und Fertigkeit gebrach, so dauerte es wirklich nicht allzulange, daß Georg und die Zeugen, unter welch letzteren sich auch Tertschka befand, vernommen waren und von dem versammelten Kriegsgerichte folgendes Urteil geschöpft wurde: »Georg Huber, Urlauber des zwölften Regiments, sei des verübten Totschlages schuldig erkannt und zu einem Jahr schweren Kerkers verurteilt. In Erwägung des Umstandes jedoch, daß er sich teilweise im Falle der Notwehr befunden, sowie anderer erheblicher Milderungsgründe und mit Hinblick auf seine tadellose Dienstzeit sei ihm die ausgestandene längere Untersuchungshaft als Strafe anzurechnen.« Der Auditor errötete ein wenig vor sich selbst, als er diese letzten Zeilen niederschrieb; aber weit höher färbte sich sein Antlitz am nächsten Tage, als er dem Obersten das Urteil zur Bestätigung überbracht hatte, und dieser, nachdem er das Blatt gelesen, ihm lächelnd auf die Achsel klopfte und sagte: »Da sieht man, daß eine kleine Saumseligkeit im Dienste auch hin und wieder ihr Gutes haben kann.« Aber er reichte ihm die Hand und verabschiedete ihn freundlich. Zwei Tage darauf ließ der Oberst Georg und Tertschka zu sich rufen. Er betrachtete sie lange und schweigend; dann fragte er nach diesem und jenem und schloß damit, daß er ihnen den Rat erteilte, vorderhand in der Stadt zu bleiben. Für ihren Unterhalt durch angemessene Arbeit wolle er Sorge tragen, und sie würden noch später von ihm hören. Nachdem die beiden mit scheuen Dankesworten das Zimmer verlassen hatten, ging der Oberst wieder mit leisem Sporengeklirr auf und ab. Es waren seltsame Gedanken, die ihn bewegten. Er hatte vor vielen Jahren ein schlankes blondes Fräulein geliebt und war sehr unglücklich gewesen. Nicht etwa, daß die Schöne seine Neigung zurückgewiesen hätte; darüber würde sich seine stolze, kräftige Jünglingsseele wohl bald getröstet haben, aber er war in seinen reinsten Empfindungen betrogen und mißbraucht worden, und das hatte ihn mit dauernder Bitterkeit und einer krankhaften Verachtung des weiblichen Geschlechtes erfüllt, die er gern offen zur Schau trug, wie er denn auch das Wesen der Liebe überhaupt angriff und behauptete, diese wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden. Und nun, nachdem er diese Meinung, einem leisen Widerspruche seines Innern zu Trotz, so lange und leidenschaftlich vor sich selbst und anderen aufrechterhalten hatte: nun war ihm mit einem Male in diesem armen, verkümmerten Menschenpaare die Liebe mit all ihrer Tiefe, Hingebung, Treue und Zärtlichkeit, in ihrer ganzen heiligen Kraft entgegengetreten – und stille Beschämung und unsägliche Rührung zogen in seine Brust. Auch ein klein wenig Neid mischte sich mit hinein: aber er beschloß, soweit dies von ihm abhinge, die beiden glücklich zu machen fürs ganze Leben. – – * * * Dort, wo die schwärzlichen Schienen längs der rauschenden Mur, an grünen Wiesen und anmutigen Auen vorüber, sich hinziehen, im Umkreise des Schlosses Ehrenhausen, das von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen Namens hinabschaut, steht ein einsames Bahnwächterhaus. Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüse bepflanzt, liegt dahinter, und vor der Tür, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen rötliche Malven und großhäuptige Sonnenblumen. In diesem kleinen Anwesen, das den Vorüberfahrenden gar still und friedlich anmutet, leben, wie sie es einst kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertschka seit mehr als fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der Oberst dazu verholfen hatte. Man merkt kaum, daß sie älter geworden, und sie verrichten gemeinsam den Dienst, der ihnen bei Tag und Nacht schwere Verantwortlichkeit auferlegt. Aber sie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegenheit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege samt einigen gackernden Hühnern zu halten und zwei flachshaarige Kinder aufzuziehen, die sich als willkommene Spätlinge eingestellt haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachsen. Auch trauliche Abendstunden sind ihnen vergönnt, wo sie Hand in Hand vor der Türe sitzen, der untergehenden Sonne nachschauen und noch immer den Tag preisen, an welchem sie sich zum ersten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet. Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freuden an ihnen vorüber – bis zu jenem Augenblicke, wo das Verhängnis schwer und furchtbar über sie hereingebrochen war – und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in die Helle ihrer Brust ein trüber, dunkler Schatten fallen will, dann rufen sie schnell die Kleinen heran, die sich liebkosend in die Arme der Eltern schmiegen und mit den großen Kinderaugen so harmlos in die Welt hineinblicken, als lebten sie nicht den wechselvollen Schicksalen entgegen, die sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht, solange noch Menschen atmen auf der alternden Erde. Die Geigerin Ich bin ein Freund der Vergangenheit. Nicht daß ich etwa romantische Neigungen hätte und für das Ritter-und Minnewesen schwärmte – oder für die sogenannte gute alte Zeit, die es niemals gegeben hat, nur jene Vergangenheit will ich gemeint wissen, die mit ihren Ausläufern in die Gegenwart hineinreicht und welcher ich, da der Mensch nun einmal seine Jugendeindrücke nicht loswerden kann, noch dem Herzen nach angehöre. So fühl' ich mich stets zu Leuten hingezogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage fällt und die sich nicht mehr in neue Verhältnisse zu schicken wissen. Ich rede gern mit Handwerkern und Kaufleuten, welche der Gewerbefreiheit und dem hastenden Wettkampfe der Industrie zum Opfer gefallen; mit Beamten und Militärs, die unter den Trümmern gestürzter Systeme begraben wurden; mit Aristokraten, welche, kümmerlich genug, von dem letzten Schimmer eines erlauchten Namens zehren: lauter typische Persönlichkeiten, denen ich eine gewisse Teilnahme nicht versagen kann. Denn alles das, was sie zurückwünschen oder mühsam aufrechterhalten wollen, hat doch einmal bestanden und war eine Macht des Lebens, wie so manches, das heutzutage besteht, wirkt und trägt. Daher habe ich auch eine Vorliebe für die alten Plätze, die alten Gassen und Häuser meiner Vaterstadt und bin noch zuweilen in jenen öffentlichen Gärten zu finden, die infolge neuerer Anlagen ihr Publikum verloren haben und verblühten Gouvernanten, brotlosen Schreibern oder ähnlichen Jammergestalten in lichtscheuer Kleidung tagsüber gewissermaßen als Versteck dienen. Selbst mein Mittagsmahl pflege ich zumeist in Speiselokalen einzunehmen, die sich einst eines besonderen Rufes erfreuten, jetzt aber durch moderne Restaurants in den Schatten gestellt und nur mehr von einer kleinen Schar treuer Anhänger besucht wurden. – In einem solchen Speisehause der inneren Stadt pflegte ich mich vor mehreren Jahren regelmäßig, und zwar ziemlich spät einzufinden. Denn ich wollte es still um mich haben und über dem Essen meinen Gedanken nachhängen. Fast jedesmal aber traf ich mit einem Gaste zusammen, der ein gleiches Bedürfnis zu empfinden schien. Es war ein Mann in mittleren Jahren und von stattlichem Wuchse. Leicht zu körperlicher Überfülle neigend, das Haar über der hohen, schimmernden Stirn bereits gelichtet, saß er in einer Ecke des Zimmers am Tische, aß und blickte dann, nachdem er mechanisch ein Zeitungsblatt zur Hand genommen, sinnend dem Rauche seiner Zigarre nach, wobei seine grauen Augen oft wundersam aufleuchteten, während um den fein geschnittenen Mund ein erhabenes und doch schmerzliches Lächeln spielte. Wochen um Wochen hatten wir uns so in einiger Entfernung schweigend gegenübergesessen und nur beim Kommen und Gehen den üblichen kurzen Gruß getauscht. Eines Tages jedoch waren wir plötzlich in ein Gespräch verwickelt, ohne daß einer von uns hätte bestimmen können, wer eigentlich den ersten Anstoß dazu gegeben. Nun wurden wir rasch miteinander bekannt, und es zeigte sich, daß er mir eigentlich nicht mehr ganz fremd gewesen. Es waren nämlich damals, unter offenbar fingiertem Namen, in einem der ersten Blätter mehrere Aufsätze erschienen, die mich durch die philosophische Tiefe ihres Inhaltes sehr überraschten. Ein reifer, außerordentlicher Geist hatte es hier unternommen, politische und soziale Verhältnisse in einer Weise zu beleuchten, welche mit den allgemeinen Anschauungen in direktem Widerspruche standen, und hatte Perspektiven in die Zukunft eröffnet, deren paradoxe Fassung das Befremden, ja den Unwillen der meisten Leser erregen mußte, so zwar, daß ich mich wunderte, wie ein den augenblicklichen Tagesinteressen dienendes Organ derlei in seine Spalten habe aufnehmen können. In der Tat brachen auch jene Artikel plötzlich ab, tauchten noch hin und wieder in anderen Journalen auf, bis sie endlich ganz verschwanden. Nun ging hervor, daß er der Verfasser sei, und ich fand durch ihn selbst meine Vermutung bestätigt, daß sich die Zeitungen nicht länger mit ihm hatten kompromittieren wollen. »Ich bin übrigens froh«, setzte er hinzu, »daß man mich der Mühe des Schreibens überhoben hat. Denn es bleibt doch immer eine Qual, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Und wozu den Leuten Wahrheiten sagen, die sie doch nicht hören wollen und an welchen sich dereinst ihre Enkel die Stirne blutig stoßen werden.« Ich erfuhr auch, daß er seinerzeit eine nicht unbedeutende öffentliche Stellung innegehabt. Leitende Persönlichkeiten waren auf seine Kenntnisse und Fähigkeiten aufmerksam geworden und hatten dieselben in der redlichsten Absicht für ihre Zwecke ausnützen wollen. Aber es erwies sich gar bald, daß diese eigentümliche Natur nicht geschaffen war, sich fremden Absichten unterzuordnen, und man ließ es sich gerne fallen, daß er, nachgerade erst selbst zu dieser Erkenntnis gelangend, seine Entlassung nahm. In der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er hatte sich in den hervorragendsten Kreisen bewegt, wo er eine Zeitlang als liebenswürdiger Sonderling gesucht und wohl aufgenommen war; endlich aber, da sich weder innere noch äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, übersah man, daß er wegblieb. Nun war er ganz in sich selbst zurückgesunken und hatte erreicht, was sein tiefinnerstes Wesen verlangte: Freiheit und Muße zu einsamen Studien und beschaulichem Denken, eine Bestimmung, welcher er sich um so getroster hingeben konnte, als ihm eine kleine Rente bescheidene Unabhängigkeit sicherte. Und wie so ganz, wie erhaben erfüllte er diese Bestimmung! Scheinbar untätig, war er vom Morgen bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und Werdende in sich aufzunehmen. Kein Zweig der Wissenschaft, der Kunst und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; allüberall suchte und fand er Material zu einem großen Werke, dessen Vorarbeiten ihn, wie er mir gestand, schon seit Jahren in Anspruch nahmen und dessen Ausführung er den Rest seines Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne, eine Geschichte der Menschheit vom Standpunkte der Ethik aus zu schreiben, welche gewissermaßen die Kehrseite oder eigentlich eine Berichtigung des berühmten Buches von Thomas Buckle werden sollte. Von einer glühenden Wahrheitsliebe beseelt, mit einem Blicke begabt, welcher bis zum geheimsten Inersten der Menschen und zum tiefsten Kernpunkte alles Bestehenden drang, haßte er nichts so sehr wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er konnte sich in dieser Hinsicht über Personen und Dinge mit einer zerschmetternden Rückhaltslosigkeit äußern, welche selbst jene, die im allgemeinen seine Ansicht teilten, befremden mußte und mit der man sich nur versöhnen konnte, wenn man vernahm, mit welcher Begeisterung er von allem Echten, Guten und Schönen sprach und wie so ganz ohne Schonung er gegen seine eigenen Fehler und Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein Kind, nur fähig, in der Idee zu hassen und zu verfolgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menschlichen Verirrung gegenüber keinen einsichtsvolleren Beurteiler, keinen milderen Richter geben als ihn. Am deutlichsten trat diese Eigentümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geschlecht zu sprechen kam, von dem er behauptete, daß ihm dereinst die Zukunft gehören würde, wenn er sich auch, wie er hinzusetzte, von dieser Zukunft keine rechte Vorstellung machen könne. Ich habe niemanden gekannt, der die weibliche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge besaß, das für die feinsten Reize und Abstufungen der Schönheit empfänglich war, so entging ihm auch nicht der verborgenste Zug des Herzens und der Seele, und wenn er sich auch hin und wieder über die Frauen im allgemeinen zu einem Worte hinreißen ließ, das an die Aussprüche des Frankfurter Weltweisen erinnerte, so war er hinterher doch gleich bemüht, alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die soziale Stellung zu schieben, welche sie infolge der Verhältnisse seit jeher eingenommen. Wahrlich, wenn man ihn so von ihren Vorzügen und Tugenden, von ihren Kräften und Fähigkeiten reden hörte, man hätte glauben sollen, daß ihm die Herzen aller zufliegen müßten. Aber seltsam: er war, wie er mit schmerzlichem Humor gestand, niemals geliebt worden, obgleich er selbst oft und tief geliebt und seinerzeit viel mit Frauen verkehrt hatte. »Um diese, soweit dies überhaupt möglich ist, kennenzulernen«, pflegte er zu sagen, »darf man von ihnen nicht geliebt werden, denn man ist dann leicht geneigt, ihre Gunst als etwas Selbstverständliches hinzunehmen und infolgedessen geringer anzuschlagen. Man muß vielmehr durch sie schmerzlich gelitten und gesehen haben, welchen Schatz von Treue, Hingebung und Opferwilligkeit sie anderen Männern, ja sogar solchen, die wir tief unter uns erblicken, entgegenbringen, um zu erkennen, welch ein Geschenk des Himmels es sei, das Herz eines Weibes ganz und voll zu besitzen.« – Trotz diese lebhaften und unumwundenen Austausches von Gedanken und Empfindungen kam es zwischen mir und Walberg – wie ich den eigentümlichen Mann, dessen Name in Wirklichkeit viel weniger stolz und anspruchsvoll klang, hier nennen will – zu keiner Freundschaft im eigentliche Sinne des Wortes. Wir hatten hierzu beide bereits die Geschmeidigkeit und Spannkraft der Jugend verloren, welche allein imstande ist, solche Bündnisse fürs Leben zu schließen. Unser Verkehr beschränkte sich auf anregende Tischgespräche und auf kürzere oder längere Besuche, die wir uns hin und wieder abstatteten. Zuweilen machten wir auch einen kleinen Ausflug ins Freie, wo ihm dann, von der Natur angeregt, das Herz vollends aufging und sein Geist geradezu Offenbarungen ausstrahlte. – So hatten wir auch einmal nach Tisch einen Gang in den Prater unternommen. Es war ein milder, sonniger Oktobertag, und in der endlosen Hauptallee mit ihren alten, sich eben leise entblätternden Kastanienbäumen wogte ein mächtiger Menschenstrom. Eine Zeitlang schlenderten wir so im Gewühle hin und ließen die schönen, stolzen Frauen zu Roß und Wagen an uns vorüberfliegen. Nach und nach aber fühlten wir uns beengt und gedrückt und schlugen, quer über die Wiesen schreitend, den Weg nach den einsameren Partien der stimmungsvollen Aulandschaft ein. Man hatte damals bereits begonnen, hier und dort einige jener herrlichen Baumgruppen zu fällen, welche in der nächsten Nähe einer Residenz ihresgleichen suchen durften, und hatte so den Anfang zu den Verwüstungen gemacht, die später zur Zeit der Weltausstellung so große Ausdehnung gewannen. Vor zwei riesigen Buchen, welche mit ihren herbstlich gefärbten Wipfeln auf dem Boden lagen, blieben wir stehen. »Wie schade um die prachtvollen Bäume!« sagte ich. »Eine wahre Sünde«, erwiderte er, »das frische, blühende Leben zu verwüsten, um irgendeine geschmacklose Anlage an die Stelle zu setzen. Ich sehe schon im Geiste die ganze liebliche Wildnis vernichtet, das letzte Stückchen Grün vertilgt und auf der trostlosen Ebene eine Masse nüchterner Häuser stehen, zwischen welchen ein qualmender Eisenbahnzug dahinbraust. – Aber«, fuhr er nach einer Weile fort, »das ist im Grunde doch nur Sentimentalität. Alles vollzieht sich nach dem eisernen Gesetze der Notwendigkeit. Der Prater wird so lange erhalten bleiben, als er ein Bedürfnis ist. Eine Reit- und Fahrbahn wird sich überall finden lassen, und das Volk kann sich auch anderswo beim Biere vergnügen!« Wir waren wieder schweigend weitergeschritten. Ringsum herrschte tiefe Stille; nur ein kühler Windhauch schauerte leise durch die Zeitlosen, mit welchen der Grund wie übersät war. Endlich standen wir vor einem weitläufigen Sumpfe, aus dessen Schilf, von unseren Schritten aufgeschreckt, ein später Reiher in die Dämmerung emporrauschte. Wir machten uns auf den Heimweg. Als wir die Brücke über den Donaukanal betraten, gewahrte ich, wie unter den Jochen hervor ein dunkler Gegenstand auf den Fluten trieb, in welchem ich die Umrisse einer weiblichen Gestalt zu erkennen glaubte. Gleichzeitig mit mir mußten ihn andere bemerkt haben; es entstand ein Zusammenlauf am Geländer; Rufe nach Rettung wurden laut, und wirklich stieß in einiger Entfernung ein Kahn ab, dessen Bemannung die Verunglückte mittels langer Enterhaken ans Ufer zog und am Fuße eines Gaskandelabers niederlegte. Dorthin strömte jetzt eine zahlreiche Menschenmenge und mein Begleiter wurden unwillkürlich mit fortgerissen. Kaum aber hatte Walberg einen Blick in das bleiche Antlitz des Weibes getan, als er mich mit einem unterdrückten Aufschrei beim Arm ergriff und fortziehen wollte. Er faßte sich aber gleich wieder, trat auf die Sicherheitswache, die sich eingefunden hatte, und wechselte mit dem Manne einige Worte. Mittlerweile hatte man Vorkehrungen getroffen, die, wie es schien, bereits Entseelte in die nächste Rettungsanstalt zu bringen. Wir schlossen uns dem traurigen Zuge an und traten, indes die Menge draußen zurückgehalten wurde, bei dem Wundarzte ein. Während dieser mit seinem Gehilfen im Nebenzimmer Belebungsversuche anstellte, sank Walberg erschöpft in einen Stuhl und schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, welches er aus seinem Notizbuche losgetrennt hatte. Der Arzt erschien bald erklärte achselzuckend, daß alles vergebens und das Frauenzimmer tot sei. Walberg erhob sich und trat, während ich folgte, noch einmal an die Leiche, welche im grellen Lichte einer von der Decke niederhängenden Lampe auf dem Sofa des Zimmers lag. Es war eine schlanke Gestalt; bereits über die eigentliche Jugend hinaus, aber selbst noch im Tode von jener Anmut umflossen, welche nie altert. Die nassen, an den Formen klebenden Gewänder erschienen ziemlich abgetragen, und auch die Handschuhe sowie die knappen Stiefelchen wiesen leicht erkennbare Schäden auf. Der Arzt hatte das Hütchen, welches noch unter dem Kinn der Toten festgeknüpft war, entfernt und so hing ihr lichtbraunes Haar, in feuchten Locken und Strähnen gelöst, über die Schultern hinab. Die bläulichen Lippen waren weit geöffnet, und große, dunkle Augen starrten gebrochen unter den Wimpern hervor. Der Anblick war zu ergreifend, als daß wir ihn hätten ertragen können. »Die Unselige!« murmelte Walberg, indem er sich, gleich mir, schaudernd abwandte; »so weit ist es mit ihr gekommen.« Dann übergab er dem Wachmanne das beschriebene Blatt, und wir traten auf die Gasse hinaus, wo wir stumm nebeneinanderher gingen. Walberg schien ein Vorhaben zu überlegen; endlich winkte er einen Mietwagen heran und ersuchte mich, ihn zu begleiten. Wir fuhren in eine der nächsten und belebtesten Vorstädte. Bei einem stattlichen, hell erleuchteten Kaufmannsladen ließ er halten und trat hinein. Geraume Zeit verstrich, bis er zurückkam. »Es ist alles so, wie ich es mir gedacht habe«, sagte er beim Einsteigen mehr zu sich selbst, nachdem er dem Kutscher seine Wohnung bezeichnet hatte. Wir legten eine schweigsame Fahrt zurück, und als der Wagen hielt, schrak Walberg aus trüben Sinnen empor. – »Kommen Sie mit mir hinauf«, bat er; »ich will jetzt nicht allein sein.« In seinem einfachen Zimmer machte er Licht, zündete die Spirituslampe unter dem Teekessel an und reichte mir schweigend ein Kistchen mit Zigarren. Dann setzte er sich in einen Lehnstuhl und blickte nachdenklich vor sich hin. Es war mir, als hätte ich eine Mitteilung zu erwarten; aber ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher zur Hand, die überall umherlagen. Es wurde ganz still im Gemache; nur das Wasser im Kessel begann leise zu summen. Endlich wandte sich Walberg zu mir: »Soll ich Ihnen die Geschichte des armen Weibes erzählen, das sich heute in den Wellen der Donau den Tod gegeben?« Und meine Zustimmung vorwegnehmend, fuhr er fort: »Es ist eine traurige, ja vielleicht eine häßliche Geschichte. Es kommt auf den Gesichtspunkt an, von welchem aus man sie betrachtet. Sie kennen meine Art und Weise, die Dinge aufzufassen; sie stimmt mit der Ihrigen überein, und so bin ich überzeugt, daß Sie dem unglücklichen Geschöpfe, trotz allem, was Ihnen jetzt zu hören bevorsteht, eine stille Träne in Ihrem Herzen nicht werden versagen können.« Er war aufgestanden, hatte mir eine Tasse gefüllt und sich dann wieder gesetzt. »Sie wissen«, begann er, »wie zurückgezogen, wie einförmig ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freuden und Vergnügungen, welche Männern in unserem Alter, in unseren Verhältnissen natürlich und angemessen sind. Ich sage absichtlich, daß ich verzichte; denn von Natur bin ich eigentlich vollebig und eher zur Ausschreitung als zur Beschränkung geneigt. Aber das geistige Bewußtsein ist in mir doch zu vorherrschend, als daß ich diesen Hang nicht als etwas Störendes, ja geradezu Feindseliges empfinden und nicht in jeder Weise bemüht sein sollte, ihn abzulenken und zu ersticken. Und so kann ich mich mit weit mehr Recht einen Asketen nennen als die meisten, welche vor der Welt die Abzeichen der Entsagung zur Schau tragen. Von Zeit zu Zeit jedoch bricht dieses niedergehaltene Element plötzlich mit aller Macht hervor, und ich werde dann, wie ich überhaupt zu Extremen neige, unaufhaltsam getrieben, mich aus meiner stillen Einsamkeit heraus in den vollsten Strom, ja vielleicht auch ein wenig in den Pfuhl des Lebens zu stürzen, freilich nur, um alsogleich wieder ernüchtert und vor mir selbst beschämt, in den reinen Äther meiner Arbeiten zurückzukehren. So geschah es auch einmal im Karneval. Ich hatte mich an einigen halbwahren Büchern, die eben großes Aufsehen erregten, müd und ärgerlich gelesen. Ich war geistig verstimmt und sehnte mich ordentlich nach Menschen, die nichts Höheres ins Auge fassen und, nur auf das nächste beschränkt, gedankenlos in den Tag hineinleben. Es waren damals gerade die Maskenbälle bei uns in Schwung gekommen, und ich hatte manches von dem tollen Treiben gehört, das dabei herrsche. Namentlich sollten jene, die in einem großen, außerhalb der Linie gelegenen Vergnügungslokale stattfanden, in dieser Hinsicht alles Dagewesene überbieten. Dorthin wollte ich nun, wollte mich unter die ausgelassene Menge mischen und, wenn es sich fügte, auch ein bißchen ausgelassen sein. In einer sternhellen Februarnacht machte ich mich auf den Weg. Kaum aber hatte ich die erleuchteten Säle einige Male durchschnitten, als ich mich vollständig enttäuscht fühlte. Sprudelnde, entfesselte Lebensfreudigkeit hatte ich erwartet und fand nichts als öde Stumpfheit, die sich zur Aufmunterung bisweilen selbst mit den Fäusten der Gemeinheit in die Rippen stieß. Nicht einmal die Straußschen Walzer waren imstande, die Tanzenden zu befeuern, deren größtenteils plumpe und ungelenke Bewegungen Lächeln und Mitleid erregten. Reizlose Weiber in verschossenen Maskenanzügen zwangen sich zu lahmen Späßen, und wenn hier und dort ein feinerer Wuchs, ein geschmackvolleres Kostüm im Gewühl auftauchte, so gehörten sie Frauen an, die sich, in männlicher Begleitung, mehr zusehend als teilnehmen verhielten. Zudem war es unerträglich heiß, und so suchte ich bald jene Nebenräume auf, welche teils als Speisezimmer, teils als Schauplätze für kleine dramatische Vorstellungen und sonstige Erlustigungen benützt wurden. In einem derselben ließ sich vor nicht sehr zahlreichem, abe gewählterem Publikum ohne Maske ein sogenanntes Damentrio hören. Ich setzte mich an einen der Tische, die vor der niederen Bühne angebracht waren, bestellte eine Erfrischung und ließ mich, mißmutig, wie ich war, von den Klängen umrauschen, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Nach und nach aber wurde ich unwillkürlich gefesselt. Es waren Musikstücke edlerer Art, die hier mit so viel Ausdruck und Präzision vorgetragen wurden, daß sich der allgemeine Beifall oft und laut kundgab. Auch die Spielenden waren ganz geeignet, die Blicke auf sich zu ziehen. Sie trugen alle drei weiße Kleider mit Gürteln und Achselbändern von schwarzem Taft, welche einfache Tracht ihre jugendlichen Erscheinungen anmutig hervorhob. Obgleich sie einander gar nicht ähnlich sahen, so konnte man sich doch des Eindruckes nicht erwehren, man habe drei Schwestern vor sich. Die jüngste, welche am Klavier saß, war fast noch ein Kind. Aber die Kraft und Sicherheit, mit welcher sie trotz der zuckenden Unruhe ihres schmächtigen, halbwüchsigen Körpers spielte, die herausfordernde Art und Weise, wie sie, die krausen blonden Locken schüttelnd, ihr mehr reizendes als schönes Gesicht dem Publikum zukehrte, gab ihr etwas Frühreifes und Bewußtes, was gleichzeitig anzog und abstieß. Die mittlere mit dem Cello war ihr gerader Gegensatz. In voll entwickelter Jugendblüte, die Wangen rosig, das glänzende schwarze Haar schlicht aus der Stirn gestrichen, saß sie gelassen da und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem ungelenken Instrumente zu, das sie handhabte. Einen wunderbaren Anblick aber bot die Älteste dar, welche mit der Geige im Vordergrund der Bühne stand. Sie mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählen und war bereits von jenem schwermütigen Reiz des Verblühens umhaucht, welcher manche Frauen so anziehend macht. Die zarte Wange leicht an das bräunliche Holz geschmiegt, das matt schimmernde Haar nachlässig gelockt und mit dem schlanken, biegsamen Leibe den Bogenstrichen folgend, glich sie einer Kamöne. Es entging mir nicht, daß sie bei ausdrucksvollen Stellen, zarten sowohl als leidenschaftlichen, ihre großen, etwas umschatteten Augen auf einen jungen Mann heftete, der in einiger Entfernung von mir saß und den ich nicht beachtet hatte. Von hohem und schlankem Wuchse, sorgfältig, aber ohne Ziererei gekleidet, war er in seinen Stuhl zurückgesunken und schien die Aufmerksamkeit, welche ihm die Geigerin schenkte, gänzlich zu übersehen. Seine Blicke schweiften vielmehr, während er langsam ein Glas Punsch trank, nach dem Kinde am Klavier hin, welches ihm auch von Zeit zu Zeit wie verstohlen zulächelte. Sein Antlitz wies ein kühn geschnittenes fremdländisches Profil, und die hohe, gerade Stirn leuchtete aus dunklen Haaren hervor; eine längliche Narbe auf der rechten Wange zierte ihn mehr, als sie ihn entstellte. Er war im eigentlichen Sinne des Wortes schön zu nennen. Das Geistige herrschte in seinen Zügen nicht vor; aber alles war voll Leben und Ausdruck, und die hellen braunen Augen blickten stolz und einnehmend zugleich, wie die des Hirsches. Die Geigerin hatte inzwischen begonnen, ein Solo vorzutragen, das nur hin und wieder von dem Klavier begleitet wurde. Sie spielte mit so zartem Schmelze, mit so hinreißendem Feuer, daß, als sie geendet hatte, stürmischer Beifall losbrach. Sie verneigte sich leicht, aber ihr Blick ruhte, während die Töne noch immer in ihr nachzuzittern schienen, auf dem jungen Manne, der nun auch, wie aus einem Traume aufgeschreckt, durch leichtes Kopfnicken seine Anerkennung kundgab. Es schien jetzt ein längere Pause eintreten zu wollen; denn die Spielenden verließen ihre Plätze und zogen sich in den Hintergrund der Bühne zurück. Mein Nachbar war gleichfalls aufgestanden und begab sich mit vertraulichen Gebärden zu den Frauen. Die Geigerin ging ihm mit erwartungsvollem Lächeln entgegen; er aber sah zerstreut über sie hinweg und reichte dem Kinde die Hand, welches, wiederum das Haar schüttelnd, auf ihn zusprang. Ich sah das alles und fühlte mein Herz von einem seltsamen Schmerze zusammengepreßt. Ich besitze die unglückselige Gabe, ohne es eigentlich zu wollen, aus geringfügigen Anzeichen, aus einem Blicke, einem Worte ganze Verhältnisse zu erraten und sie mir näher zurechtzulegen. So brachte ich denn gleich auch diese vier Personen in eine eigentümliche Stellung zueinander, die mich bedrückte. Ich verlor alle Lust, länger zu verweilen, und entfernte mich, während die Cellistin langsam die Noten zu einem neuen Stücke auflegte. Zu Hause angekommen, lag ich noch eine Zeitlang wach im Bette; endlich schlief ich ein, und die drei Gestalten in weißen Kleidern und der junge Mann mit der Narbe auf der Wange zogen, wirr und phantastisch verschlungen, durch meine Träume. Auch in den folgenden Tagen wirkten diese Eindrücke nach, dann aber war alles vergessen. – So kam der Frühling heran. An einem herrlichen Aprilmorgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier besucht und mich dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, stieg ich in einen Stellwagen und – befand mich der Geigerin gegenüber. Ich hatte sie auf den ersten Blick wiedererkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm. Eine etwas fahle Gesichtsfarbe und leichte Fältchen um den blassen Mund traten deutlich hervor, aber sie sah noch immer schön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen von weißem Mull, das frisch wie der gefallene Schnee von der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abstach, stand ihr reizend zu Gesicht. Mit aufrechtem Oberkörper saß sie da und hatte die schmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt, das in ihrem Schoße lag. Zuweilen rückte sie unruhig auf ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als dauerte ihr Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der Stadt angelangt waren, ließ sie halten und sprang aus dem Wagen. Ich tat unwillkürlich dasselbe, aber ich konnte ihr nicht folgen; denn sie ging so rasch, daß ich, um nicht aufzufallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt bog sie in die Gasse ein, in welcher sich die öffentliche Pfandleihanstalt befindet, und als ich meinen Schritt beschleunigte, konnte ich noch gewahren, wie sie in dem Tore dieses Gebäudes verschwand. Ein tiefes Weh fiel mir aufs Herz. Sollte auch sie mit der Not des Lebens, die mir hier wieder einmal als unzertrennliche Begleiterin der Kunst erschien, zu kämpfen haben? Ja, die Ärmste mußte vielleicht irgendein teures Andenken, einen liebgewordenen Schmuck pfänden, um nicht unterzugehen! In solch trübe Gedanken versunken, war ich halb unbewußt vor der Anstalt eingetroffen, als sie plötzlich, das Päckchen krampfhaft umklammernd, mit dem Ausdrucke tiefster Verzweiflung im Antlitz, wieder unter dem Tore erschien. Sie war offenbar zu spät gekommen, oder man hatte sie auf morgen vertröstet; und nun stand sie da und blickte stumpfsinnig in das goldene Sonnenlicht hinein, das die gegenüberliegenden Häuser umfunkelte. Fröhliche Menschen schritten an ihr vorüber; ein kleines Mädchen bot ihr Veilchen zum Kaufe, aber sie bemerkte es nicht. Endlich ging sie und irrte, wie ohne Wahl und Ziel, in den nächsten Gassen umher. Ich konnte es nicht länger mit ansehen und trat an ihre Seite. ›Erlauben Sie, mein Fräulein‹, sagte ich, indem ich höflich den Hut abzog. Sie sah mich ausdruckslos an und eilte weiter. Ich hielt mich neben ihr. ›Bemühen Sie sich nicht, mein Herr‹, sagte sie endlich. ›Ich wünsche keine Begleitung – ich muß Sie bitten –‹ ›Halten Sie mich für keinen Unverschämten, keinen Zudringlichen‹, erwiderte ich fest. ›Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.‹ Sie zuckte zusammen. ›Eine wichtige Mitteilung‹, wiederholte sie tonlos und mußte sich, um nicht zu sinken, an die nächste Mauer lehnen. Ich war aufs äußerste bestürzt. ›Erschrecken Sie nicht‹, fuhr ich fort, ›es handelt sich um etwas sehr Angenehmes – sehr Erfreuliches.‹ Sie atmete auf. ›Und was könnte das sein?‹ fragte sie ungläubig. ›Folgen Sie mir in jenes Durchhaus, wir können dort ungestörter sprechen.‹ Sie betrachtete mich zögernd und mißtrauisch; aber sie folgte mir. ›Mein Fräulein‹, begann ich, ›Sie befinden sich in diesem Augenblicke in einer höchst peinlichen Verlegenheit.‹ ›Woher wissen Sie –?‹ stammelte sie überrascht. ›Ich sah Sie vorhin – doch das tut jetzt nichts zur Sache; genug, daß ich es weiß.‹ Sie blickte zu Boden und kämpfte sichtlich einen harten Kampf, in welchem zuletzt das Vertrauen siegte. ›Es ist wahr‹, sagte sie und fuhr mit zitternder Hand über die Stirn, ›ich bin in der größten Verzweiflung. Es gilt, eine mir sehr werte und nahestehende Persönlichkeit aus einer drohenden Gefahr zu retten. Seit gestern müh' ich mich in jeder Weise, zu diesem Zwecke ein Darlehn aufzutreiben. Endlich habe ich von einer ehemaligen Freundin nach vielem Bitten und Flehen – nach vielfachen Erniedrigungen diese Diamanten erhalten, aber nur gegen das heilige Versprechen, dieselben bloß in der öffentlichen Anstalt, um keinen Preis jedoch in einem jener Winkelämter zu verpfänden, die nicht genug Sicherheit bieten. Und nun –‹ ›Kamen Sie nicht mehr zur rechten Zeit –‹ ›Kam um fünf Minuten zu spät! Das Bureau wird erst morgen wieder geöffnet – und wenn bis drei Uhr das Geld nicht beschafft wird, so ist alles verloren!‹ ›Beruhigen Sie sich. Es soll alles gut werden. Ich bin bereit, Ihnen das Nötige vorzustrecken.‹ ›O, mein Herr‹, sagte sie, schwankend zwischen Freude und Scham, ›wie kann ich – wie darf ich – von einem ganz Unbekannten –‹ ›Hier ist meine Karte. Und wenn auch ich Ihnen unbekannt bin – Sie sind es mir nicht. Ich habe Sie spielen hören.‹ Und während sie errötend auf die Karte niedersah, fuhr ich dringend fort: ›Besinnen Sie sich nicht länger! Weisen Sie die Hilfe nicht zurück, die ich Ihnen aus vollem Herzen anbiete. Nennen Sie mir den Betrag –‹ ›Oh‹, sagte sie wieder hoffnungslos, ›es ist viel Geld.‹ Und sie nannte eine Summe, über deren Höhe ich allerdings erschrak. Aber ich besaß diese Summe und konnte nicht zurück. ›Sie begreifen‹, sagte ich, ›daß ich sie nicht bei mir trage. Erwarten Sie mich in zehn Minuten vor dem Stephansdome; ich werde Ihnen das Gewünschte einhändigen.‹ Und nach einem raschen Gruße eilte ich in meine Wohnung, das Geld zu holen. Als ich mich später am bezeichneten Orte einfand, ging sie unruhig auf und nieder. Sie mußte schwere Zweifel in die Wahrheit meiner Versprechung gesetzt haben; denn bei meinem Anblick schien es ihr wie eine Last von der Seele zu fallen. Ich lenkte sie in die dunkle, menschenleere Kirche hinein und überreichte ihr die erforderliche Summe. Sie zögerte noch einen Augenblick, sie entgegenzunehmen. Dann aber drückte sie mit ihren beiden Händen warm die meine. ›O, mein Herr‹, sagte sie, ›wie soll ich Ihnen danken! Sie wissen nicht, welchen Dienst Sie mir erweisen. Sie sollen alsbald wieder im Besitze des Ihrigen sein – gleich morgen will ich den Schmuck verpfänden.‹ ›Tun Sie das nicht‹, sagte ich. ›Sie haben mir ja gestanden, daß Sie ihn nur gegen schwere Demütigungen erhalten. Sie kämen vielleicht in eine unwürdige, abhängige Stellung zu der Person, die Ihnen den Schmuck anvertraut. Geben Sie die Juwelen gleich wieder zurück. Mit meinem Gelde hat es keine Eile. Ich will zufrieden sein, wenn ich infolge dieses Darlehens das Glück habe, Sie einmal wiederzusehen.‹ Sie war durch diese letzten Worte offenbar peinlich berührt worden und hatte Mühe, eine ablehnende Gebärde zu unterdrücken. Aber wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, sagte sie rasch: ›Allerdings, es wird mich unendlich freuen, meinen Retter näher kennenzulernen. Hier ist meine Adresse, damit Sie mich zu finden wissen. Sie sollen übrigens schon in den nächsten Tagen von mir hören.‹ Und da ich sie nun selbst aufforderte, sich auf den Weg zu machen, so eilte sie, flüchtig wie ein Vogel, von dannen und verschwand im Menschengewühle. Ich hatte ihr eine Weile nachgesehen; dann senkte ich den Blick auf die Adresse und las: Ludovica Mensfeld. Und wie ich jetzt so dastand, das kleine Kärtchen in der Hand, fühlte ich mich fremd und kühl berührt. Es war mir, als hätt' ich eine Torheit begangen. Ich hatte mich nahezu von allem entblößt, was ich augenblicklich besaß, und war nun selbst für die nächste Zukunft der Sorge preisgegeben. Und für wen hatte ich das Opfer gebracht? Für ein Weib, das mir fernestand. Und nicht einmal für sie selbst; sie wollte ja mit dem Gelde einen anderen retten, und dieser andere, darüber konnte kein Zweifel sein, war der junge Mann, den ich damals in ihrer Nähe gesehen – und den sie liebte! Aber kümmerte mich das? War es nicht ein beglückendes, erhebendes Gefühl, eine arme, zitternde Menschenseele aus der Nacht der Verzweiflung zu befreien? Hatte ich nicht Hilfsquellen genug? Konnte ich nicht arbeiten? – So trat ich meinen Egoismus siegreich mit Füßen, und bald stand es bei mir fest, daß ich recht getan und keine weiteren Ansprüche mehr erheben würde; selbst der Wunsch, die Geigerin wiederzusehen, war erloschen. So ging ich, mit mir selbst im reinen, freien und fröhlichen Herzens zu Tische. Nach kurzer Zeit erhielt ich durch die Post einen Brief mit gefälligen, etwas flüchtigen Schriftzügen. Er lautete: ›Verehrter Herr! Wenn Sie morgen Abend nichts besseres vorhaben, so schenken Sie uns das Vergnügen Ihres Besuches. Sie werden bloß in einem Familienkreise sein. Ihre dankschuldigste Ludovica.‹ Ich legte das Schreiben ruhig beiseite, denn ich dachte gar nicht daran, der Einladung nachzukommen. Am andern Morgen jedoch fiel mir ein, daß es doch geradezu unartig wäre, sie ganz und gar zu ignorieren. Ich mußte mich mit einigen Zeilen entschuldigen und setzte mich an den Schreibtisch. Wie ich nun so nach einer landläufigen Ausflucht suchte, kam mir meine Wahrheitsliebe in die Quere, die es mir selbst in unbedeutenden Dingen schwermacht, eine Lüge zu ersinnen, und ich entschloß mich kurz und gut, hinzugehen. So suchte ich denn gegen Abend den Stadtteil auf, in dem die Geigerin wohnte. Im dritten Stockwerk eines dichtbevölkerten Hauses schellte ich an der bezeichneten Türe. Eine Magd öffnete und wies mich nach dem Empfangszimmer, wo mir Ludovica in schwarzem Seidenkleide, eine dunkelrote Blume ins Haar steckt, mit graziösem Anstand entgegenkam und mich der versammelten Gesellschaft bekannt machte. Ich sah die zwei anderen Spielerinnen und fand meine Vermutung von damals bestätigt; denn Ludovica sagte: ›Meine Schwestern Anna und Mimi.‹ Dann vor einem jungen Manne mit klugen, offenen Gesichtszügen: ›Herr Berger, Kaufmann.‹ Zuletzt warf sie einen Blick auf den, den ich hier zu finden gewiß war, und fügte etwas undeutlich hinzu: ›Herr Alexis.‹ Dieser hatte sich bei meinem Eintritt vom Sitze erhoben und kam jetzt, während er mir die Hand entgegenstreckte, mit großer Freundlichkeit auf mich zu, wobei er jedoch eine gewisse Befangenheit nicht verbergen konnte. Man wies mir neben ihm einen Platz auf dem Sofa an, und ich blickte nun, wie man dies an fremden Orten unwillkürlich zu tun pflegt, im Gemache umher. Es sah ziemlich kahl aus, und in der Einrichtung gab sich eine gewisse Sorglosigkeit kund. Ein älteres, aber wohlgebautes Klavier, auf welchem die Geigen Ludovicas ruhten, fiel zuerst in die Augen, und an den Wänden hingen die Bildnisse Mozarts und Beethovens sowie verschiedener anderer Tonkünstler und Virtuosen. In einem kleinen Nebenzimmer jedoch, dessen Tür offenstand, schien eine bürgerliche, arbeitsame Hand zu walten, und den größten Raum nahm ein ausgedehnter Tisch ein, der mit angefangenen weiblichen Kleidungsstücken bedeckt war. Mimi, die, wie ich bemerkte, meinen Blicken folgte, rief lachend: ›Der Herr verwundert sich über Annas Zimmer. Es sieht auch darin aus wie in einer Schneiderwerkstätte.‹ Anna errötete. ›Nicht doch‹, sagte ich, ›es ist ein ansprechendes Bild häuslichen Fleißes.‹ ›Ja, fleißig ist sie, das muß man ihr lassen‹, fuhr Mimi fort. ›Sie ist unsere Mama, besorgt den Haushalt, fertigt uns Kleider und Hüte an –‹ ›Und ihr dankt es mir nicht‹, sagte Anna ernst. ›Nicht böse werden!‹ lachte die Kleine, indem sie aufsprang und die Schwester mehr mutwillig als herzlich umfing. ›Du Grausame verlässest uns ohnehin bald – um Herrn Berger zu heiraten.‹ Anna und der junge Kaufmann erröteten jetzt gemeinsam. ›Nun, schämt euch nicht! Ich gebe euch meinen Segen!‹ rief Mimi mit komischem Pathos und ausgebreiteten Armen. ›Aber bedenkt, was wir und das Damentrio verlieren.‹ ›Ich bedenke nur, was ich gewinne‹, sagte Berger, indem er die etwas große Hand seiner Verlobten zart an die Lippen führte. Das Gespräch nahm nun eine allgemeinere Wendung und gab Alexis Gelegenheit, sich als gebildeten und geistvollen Mann darzustellen. Obgleich er kaum über dreißig Jahre zählen konnte, schien er bereits doch so manche Lebenserfahrung hinter sich zu haben und viel in der Welt herumgekommen zu sein. Wie aus seinen Reden hervorging, hatte er sich in den verschiedenartigsten Berufszweigen, zuletzt auch in der Kunst, versucht, und somit würde man ganz angenehm mit ihm haben verkehren können, wenn nicht einige zynische Bemerkungen, die er hin und wieder tat, auf eine gewisse sittliche Verwilderung seines Charakters gedeutet hätten, die neben den übrigen glänzenden Eigenschaften doppelt bedauerlich erschien. Man zog natürlich auch die Tonkunst ins Gespräch, und ich ließ die Hoffnung auf einen musikalischen Genuß durchblicken. ›Ich bin mit Vergnügen bereit, zu spielen‹, sagte Ludovica zuvorkommend, indem sie aufstand und sich ihren Geigen näherte. ›Mimi wird mich begleiten.‹ ›Ludovica kann sich später hören lassen‹, sagte Alexis abwehrend. ›Jetzt soll uns Mimi ein paar ihrer reizenden Lieder zum besten geben. – Sie glauben gar nicht, mein Herr,‹ wandte er sich an mich, ›welch ein Genie in der kleinen Person steckt! Sie dichtet und komponiert allerliebste Strophen, wie man sie sonst nur in Paris zu hören bekommt. Laß dich nicht bitten, Mimchen, und singe‹, fuhr er fort, indem er ihre beiden Hände ergriff. Die Kleine warf einen lauernden Blick auf Ludovica. Diese war etwas bleich geworden, aber sie streichelte die Wange der Schwester und sagte: ›Singe nur, mein Engel; du machst Alexis eine Freude – und gewiß auch Herrn Walberg.‹ Mimi hatte sich, wie gewöhnlich die Locken schüttelnd, an das Klavier gesetzt und begann, indem sie dazu leicht die Tasten berührte, mit biegsamer Stimme eine Reihe kleiner Couplets zu singen, die zwar nichts Anstößiges enthielten, aber doch mit ihrem parodierenden Inhalt und sarkastischen Witz in dem Munde eines so jungen Geschöpfes um so befremdender klangen, als sie nebenher von allerlei vielsagenden Kopf- und Körperbewegungen begleitet waren. Alexis schwamm in Entzücken. ›Herrlich! Göttlich!‹ rief er ein über das andere Mal. ›Nun, was sagen Sie, mein Herr? Hatt' ich nicht recht?‹ Durch diesen Beifall angefeuert, gebärdete sich die Kleine immer toller und begann endlich, ihren Gesang abbrechend, einen Walzer zu spielen, so rauschend, so mächtig, mit einer solchen Fülle von Tönen, daß man ein ganzes Orchester zu hören glaubte und selbst mir Tanzlust in die Glieder schoß. Der junge Kaufmann aber konnte sich nicht halten. Er umfaßte seine Braut und walzte mit ihr durch das Zimmer. ›Wie schade, daß man nicht zugleich spielen und tanzen kann!‹ rief Mimi aus dem Gewoge heraus. ›Das geht allerdings nicht‹, sagte Alexis, indem er aufsprang. ›Aber nicht wahr‹ – und er legte dabei seine Hand schmeichelnd auf die Schulter Ludovicas –, ›deine Schwester wird für dich spielen? Und ich will mit dir tanzen.‹ Ludovica zuckte zusammen; aber sie setzte sich an den Platz Mimis. Ihr Spiel klang nach dem früheren lahm und farblos. ›Schneller! Stärker!‹ schrie Alexis, der mit der Kleinen wie rasend im Zimmer umherflog. Ludovica preßte die Lippen zusammen und schlug mit aller Macht in die Tasten. Plötzlich jedoch hielt sie inne und drückte, in ein lautes Schluchzen ausbrechend, die Hände vor das Antlitz. Alexis stampfte den Boden und blickte mit schlecht verhehltem Ärger nach ihr hin. Die Kleine zog die Brauen empor; Anna ging hinaus. Es war ein peinlicher, häßlicher Moment, und ich hätte am liebsten nach meinem Hute gegriffen und mich still entfernt. Ludovica schien es zu bemerken. Sie stand auf und trat mir entgegen. ›Stoßen Sie sich nicht daran, ich bitte‹, sagte sie. ›Es ist nichts; ein plötzlicher Weinkrampf. Das Geigenspielen greift die Nerven fürchterlich an. Ich habe oft solche Zufälle.‹ Inzwischen war unter der Obsorge Annas ein einfaches Mahl aufgetragen worden, an das wir verstimmt und einsilbig gingen. Berger und Alexis versuchten hin und wieder ein scherzhaftes Wort, aber es schlug nicht durch. Endlich war es Zeit, mich zu empfehlen. Ludovica zeigte sich beim Abschied zurückhaltend und zerstreut; Alexis jedoch überbot sich an Höflichkeit. ›Es freut mich außerordentlich, Sie kennengelernt zu haben‹, sagte er. ›Ich hoffe‹, fuhr er mit einem raschen Blick auf Ludovica fort, ›Sie recht oft hier zu treffen.‹ Unten am Tore atmete ich auf und trank in langen Zügen die klare Frühlingsnachtluft. Es stand bei mir fest, diese Schwelle nie mehr zu betreten. Aber der Mensch ist ein seltsames Geschöpf. Nachdem eine gewisse Zeit verflossen war, erschien es mir unwürdig, so geradezu wegzubleiben. Mußte Ludovica nicht denken, ich sei verletzt, beleidigt oder es geschähe infolge jener Szene, bei welcher sie eine so ergreifende Rolle gespielt? War es nun wirklich diese Rücksicht oder ein geheimes Verlangen, sie wiederzusehen – genug: ich ging an einem Vormittage zu ihr. Ich traf sie eben im Begriffe auszugehen, das Hütchen auf dem Kopfe. – ›Ah, Sie, mein Herr?‹ sagte sie, sichtlich überrascht und befremdet. ›Gut, daß Sie kommen. Ich habe soeben einen Brief für Sie zur Post geben wollen. Nehmen Sie Platz! Ich bin nämlich‹, fuhr sie fort, ›in der angenehmen Lage, Ihnen jene Summe, die Sie mir so großmütig vorgestreckt, zurückzuerstatten. Hier ist sie.‹ Und sie öffnete eine Lade und reichte mir die bereits eingesiegelten Banknoten. Ich nahm das Päckchen und steckte es in die Tasche. ›Sehen Sie doch nach‹, sagte sie. ›O, ich bin überzeugt. Aber‹, setzte ich hinzu, da ich sah, daß sie sich unruhig hin und her bewegte, ›ich störe vielleicht. Sie waren eben im Begriffe, das Haus zu verlassen.‹ ›Allerdings, ein wichtiger Gang – allein –‹ ›Ich bitte‹, sagte ich und stand auf. ›Nun denn‹, erwiderte sie, ›so leben Sie wohl. Noch einmal meinen innigsten Dank!‹ Aber es klang wie ein ungeduldiges Drängen. Kein Wort, keine Andeutung, ich möchte wiederkommen. Mein Herz zog sich zusammen: ich war entlohnt. Als ich diesmal beim Tor anlangte, durchschauerte es mich heiß und schmerzlich; ich glaube sogar, daß meine Augen feucht geworden waren.« Er schwieg, in Erinnerungen verloren. Nach einer Weile fuhr er fort: »Fast ein halbes Jahr war darüber hingegangen, und alle diese Erlebnisse lagen bereits vergessen hinter mir. Nur zuweilen dämmerte noch wie im Traum die schlanke Gestalt der Geigerin vor mir auf, um alsbald wieder in nichts zu zerfließen. Da wurde eines Tages ziemlich früh die Klingel meines Vorzimmers gezogen. Ich halte keinen Bedienten, und so mußte ich selbst öffnen gehen. Nachdem ich es getan, stand Ludovica vor mir. Ich war über ihren Anblick derart betroffen, daß ich alle Geistesgegenwart einbüßte und die Verlegene eine Zeitlang zwischen Tür und Angel stehenließ. Endlich hatte ich mich gefaßt und führte sie rasch herein – nach jenem Sofa, auf welchem Sie jetzt sitzen. ›Verzeihen Sie‹, sagte sie mit einiger Anstrengung, ›daß ich Sie störe. Sie haben mir einst einen solchen Beweis von Teilnahme gegeben, daß ich den Mut finde, noch einmal um Ihre Hilfe zu bitten.‹ ›Verfügen Sie ganz über mich‹, entgegnete ich erwartungsvoll. ›Es handelt sich diesmal um etwas ganz anderes‹, fuhr sie rasch fort. ›Es ist eine Angelegenheit, bei der mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht.‹ ›Sie erschrecken mich –‹ ›Um Ihnen meine Bitte vorzutragen, bin ich gezwungen, weiter auszuholen, und ersuche Sie um freundliches Gehör.‹ Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ihr gegenüber. Sie tat einen langen Atemzug, dann begann sie: ›Wir sind die hinterlassenen Töchter eines Musiklehrers, der sich seinerzeit eines besonderen Rufes erfreute und eine große Anzahl von Schülern aus den besten Kreisen bei sich versammelte. Unter diesen befand sich auch ein junger Mann, namens Alexis, der eine tiefe, wohlklingende Stimme besaß und zu seinem Vergnügen Unterricht im Singen nahm. Seine Familie, eigentlich russischen Ursprungs und in den Donaufürstentümern zu Reichtum und Ansehen gelangt, war schon in der zweiten Generation hier ansässig, wo sie eine der bedeutendsten Großhandlungsfirmen vertrat. Als Jüngling nach Paris geschickt, um sich dort unter der Aufsicht eines Geschäftsfreundes dem Handelsstande zu widmen, war er vor kurzem zurückberufen worden; denn es hatte sich herausgestellt, daß er zu jenem Berufe durchaus keine Neigung besaß und sich vielmehr sorglos den Vergnügungen der Weltstadt überlassen habe. Es sollte ihm nun eine andere Bahn eröffnet werden – und in dieser Zwischenzeit kam er in unser Haus. Ich zählte damals kaum sechzehn Jahre; meine Schwester Anna war bedeutend jünger; Mimi noch ganz klein. Seine außerordentliche Schönheit, sein stolzes und doch geschmeidiges Wesen, das Feuer seiner Blicke und Worte, mit denen er mir alsbald eine lebhafte Neigung verriet, nahmen mein eben aufkeimendes Herz derart gefangen, daß ich in kürzester Zeit mit Leib und Seele sein eigen war. Weit entfernt, das Verderbliche eines solchen Verhältnisses damals auch nur zu ahnen, konnte ich mich um so mehr ganz diesem süßen Rausche überlassen, als unsere Mutter früh gestorben war und mein Vater, welcher in solchen Dingen, wie ich jetzt erkenne, eine unglaubliche Kurzsichtigkeit besaß, mich gar nicht überwachte. Eines Tages erschien Alexis plötzlich in glänzender Uniform und teilte mir mit, daß ihn seine Eltern bestimmt hätten, in den Militärstand zu treten. Er habe denn auch gleich eine Offiziersstelle in der Kavallerie erhalten und müsse nun zu seinem Regimente nach Ungarn abgehen. Das war unsere erste Trennung. Da wir aber täglich Briefe wechselten und mein Geliebter, so oft es anging, hierherkam, so empfand ich diese Trennung keineswegs schmerzlich; ja sie erhöhte vielleicht noch den Reiz unserer Liebe. Sogar als die Briefe, die ich von Alexis erhielt, kürzer und seltener wurden und er selbst nicht mehr so oft erschien, wurde das Gleichgewicht meiner Seele nicht erschüttert. Ich war gewiß, daß nur äußere Umstände daran Schuld trügen, und erwartete ruhig den Tag, an welchem er wieder bei uns eintreten würde. Und das geschah auch. Er war in bürgerlicher Kleidung gekommen und sagte, er sei des Militärdienstes satt und nunmehr gesonnen, sich der Künstlerlaufbahn zu widmen. Der wirkliche Sachverhalt war, daß er bei seinem Hange zur Verschwendung, den ich wohl an ihm bemerkt, aber auch nicht zu tadeln gefunden, eine Schuldenlast aufgehäuft hatte, welche seine Entlassung nach sich zog. Ich wußte das nicht; aber wenn ich es auch gewußt hätte: es würde doch nichts an meiner Neigung zu ihm geändert haben. In der Tat bildete er sich nun unter der Leitung meines Vaters, welchem gegenüber er sich ohne weiteres als mein Verlobter benahm, für die Oper aus. Es gelang ihm bald, an einer kleinen Bühne Engagement zu finden, nach und nach auch in bedeutenderen Städten mit Glück aufzutreten; ja er wurde sogar einmal nach London berufen. Inzwischen hatte ich von mehreren Seiten Winke erhalten, mein Verhältnis zu Alexis abzubrechen. Er sei ein leichtsinniger, gewissenloser Mensch, hieß es, der seine Familie an den Bettelstab bringe, an jedem Orte Beziehungen zu Mädchen und Frauen unterhalte und überhaupt ein Leben führe, das für seine Zukunft das Schlimmste befürchten lasse. Ich erkannte in all diesen Warnungen bloße Verleumdungen und niedrige Umtriebe einiger Bewerber um meine Hand, die ich zwar nicht übermütig, aber mit ruhigem Stolze abgewiesen hatte. Ich war von der Liebe des Entfernten, welcher zuweilen selbst in scherzhaften Briefen seiner Erfolge beim weiblichen Geschlechte erwähnte, um so mehr überzeugt, als er stets durchblicken ließ, wie er nur den Zeitpunkt einer sicheren und dauernden Stellung erwarte, um mich zu sich zu rufen. Da trat er, nachdem ich lange nichts von ihm gehört, plötzlich bei uns ein. Aber in welchem Zustande! Krank, gebrochen, herabgekommen – ein Bild männlichen Elends. Er hatte seine Stimme verloren, Gläubiger verfolgten ihn, und da seine Eltern, die ihm ihr ganzes Vermögen zum Opfer gebracht, gestorben waren, wußte er nicht, wohin er sein Haupt legen sollte. Ich liebte ihn und liebe ihn so‹, setzte sie mit zitternder Stimme hinzu, ›daß ich auf all das kein Gewicht legte und selig war, ihn wieder bei mir zu haben. Auch mein Vater hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet und jeder von uns einiges hinterlassen. So wenig es war, mein Teil genügte, ihn von den drückendsten Sorgen zu befreien. Er bezog eine Wohnung in unserer Nähe; ich pflegte ihn, ich sorgte für seine Bedürfnisse und legte auf seine abenteuerlichen Pläne, sich eine neue Existenz zu gründen, gar kein Gewicht. Durch meine Kunst, die ich nun mit den Schwestern öffentlich auszuüben begann, erschlossen sich mir neue Einnahmequellen, und somit wäre alles gut gewesen, wenn nicht, nachdem er genesen war, sein unvertilgbarer Leichtsinn wieder die Oberhand gewonnen hätte. Er stürzte sich neuerdings in Schulden, die er mir anfänglich geheimhielt, welche ich aber im entscheidenden Augenblick so lange bezahlte, bis ich es nicht mehr imstande und er auf dem Punkte war, vor Gericht gezogen zu werden. In diesen entsetzlichen Tagen‹, schloß sie aufatmend, ›waren es Sie, mein Herr, der ihn gerettet.‹ Es entstand eine Pause; dann fuhr sie in schmerzlich gedämpftem Tone fort: ›Schon früher glaubte ich zu bemerken, daß sich zwischen Alexis und meiner jüngsten Schwester eine Neigung entspinne. Aber ich wollte es mir nicht eingestehen, und in meiner Selbstverblendung begünstigte ich diese Umwandlung noch insofern, als ich vieles absichtlich übersah, um dem Vorwurf törichter Eifersucht zu entgehen. Es wäre auch vielleicht nicht zum Äußersten gekommen, wenn sich Alexis' Verhältnisse nicht plötzlich mit einem Schlage geändert hätten. Er war nämlich infolge früherer Bekanntschaften wieder in die Gesellschaft vornehmer junger Leute geraten, die ihn nun als Vermittler hoher Darlehen zu benützen suchten. Da er mit der Zahlungsfähigkeit jedes einzelnen so ziemlich vertraut war, fiel es ihm nicht schwer, Geldspekulanten zu finden, die sich gegen riesigen Gewinn auf derlei Unternehmungen einließen. Einige solcher Geschäfte hatten sich bald glänzend abgewickelt – und seit dieser Zeit ist Alexis ein von beiden Seiten gesuchter Mann. Sein Zimmer wird nicht leer von Besuchern, die zu Roß und Wagen vor dem Hause anlangen; überraschend hohe Summen fliegen ihm zu, und wenn sein Hang zur Verschwendung nicht wäre, so müßte er sich bereits jetzt einiges Vermögen erworben haben. Das erste, was er tat, war jedoch, sich in einem vornehmen Stadtviertel einzumieten, im Interesse seiner Wirksamkeit, wie er sagte. Dabei vernachlässigte er mich auffallend, zog aber im geheimen Mimi, mit der ich nun, da meine andere Schwester mittlerweile geheiratet hatte, allein lebte, mehr und mehr an sich. Eines Tages erklärte sie mir, sie werde mich verlassen; Alexis habe die Sorge für ihren Unterhalt übernommen. Vernichtet, außer mir vor Schmerz und Verzweiflung, eile ich zu ihm. Er empfängt mich kalt und gemessen, erklärt mir, daß er mich nicht mehr liebe, mich längst nicht mehr geliebt habe und daß von einem innigeren Verhältnisse zwischen uns beiden keine Rede mehr sein könne. Mein Freund wolle er bleiben und alles für mich tun, was ich sonst von ihm verlangen würde. Und als ich mich, gelöst in Schmerz und Tränen, ihm zu Füßen werfe, seine Knie umklammere und ihn beschwöre, mir sein Herz wieder zuzuwenden und jenen schmählichen Erwerb, der ihn unfehlbar ins Verderben führen müsse, aufzugeben: – stößt er mich rauh von sich und droht endlich, mir die Tür weisen zu lassen!‹ Sie brach in ein fast schreiendes Weinen aus und sank in das Sofa zurück. ›Das ist sehr traurig‹, sagte ich nach einer Pause. ›Aber was soll – was kann ich dabei tun?‹ ›O, alles!‹ rief sie, indem sie sich mit ihrem Tuche hastig Augen und Wangen trocknete, ›alles, wenn Sie nur wollen!‹ Und da ich ungläubig vor mich hin blickte, fuhr sie warm fort: ›Sehen Sie, trotz seiner scheinbaren Härte ist er doch eine weiche, lenksame Natur; trotz seines Leichtsinnes, seiner Verirrungen einer edleren Regung fähig, und ich bin überzeugt, daß ihn nur das Berauschende seiner neuen Lage und‹ – fügte sie leiser hinzu – ›die Verführungskünste meiner Schwester so weit gebracht haben. Wenn sich ein Mann findet, den er achtet, auf dessen Stimme er Gewicht legt, und dieser ihm das Unwürdige seiner Stellung, das Grausame seines Handelns vorhält, so zweifle ich nicht, daß er in sich geht und zu mir zurückkehrt.‹ ›Glauben Sie? – Und wenn dem so wäre, woraus schließen Sie, daß ich der Mann sei, der so viel Gewalt über ihn hätte?‹ ›O, ich weiß es! Ich habe ihn noch von niemand mit so viel Wärme, Anerkennung – ja Bewunderung reden hören wie von Ihnen. Er hat‹, fuhr sie errötend fort, ›bei Ihnen sogleich Eigenschaften wahrgenommen, die ich damals in der Verwirrung meiner Seele nicht zu erkennen – nicht völlig zu würdigen imstande war. – Und jetzt bin ich gezwungen, Ihnen ein Bekenntnis abzulegen, das für mich beschämend ist, das ich aber in diesem Augenblicke nicht zurückhalten kann. Sie werden sich erinnern, daß ich damals, als Sie – ich will nicht sagen den Wunsch, so doch die Andeutung aussprachen, mich wiedersehen zu wollen, einigermaßen betroffen war. Ich durfte keine Hoffnungen erregen, die ich nicht erfüllen konnte. Aber im selben Momente zuckte in mir der Gedanke auf, Alexis durch Sie meinen Wert fühlen zu lassen, ihn – um es geradeheraus zu sagen – eifersüchtig zu machen. Als ich aber erkannte, daß gerade das Gegenteil eintrat, verwünschte ich im tiefsten Herzen diesen Winkelzug und faßte eine Art Abneigung gegen Sie, die um so stärker wurde, je aufrichtiger, je unberechneter seine Verehrung für Sie hervorbrach.‹ Sie hatte, innehaltend, Haupt und Blick gesenkt, als erwartete sie das Urteil eines Richters. Ich schwieg. ›Sie verachten mich jetzt‹, sagte sie kaum hörbar. ›Nein‹, erwiderte ich. ›Im Gegenteil, ich achte Sie höher, als ich je vermocht.‹ Es war keine bloße Phrase, was ich da aussprach. Man ist bei den Frauen im allgemeinen so wenig Aufrichtigkeit zu finden gewohnt, daß ich mich durch die Wahrheit ihres Geständnisses, so unerfreulich dieses für meine Person war, im tiefsten überrascht und ergriffen fühlte. ›Ja, Ludovica‹, fuhr ich fort, ›ich achte Sie hoch, und damit ich es Ihnen beweise, will ich mit Alexis reden.‹ Sie machte eine Bewegung, als wolle sie mir dankend zu Füßen fallen. Ich sprang auf. ›Erwarten Sie nicht zuviel! Sie begreifen, daß ich mich nicht ohne weiteres in fremde Verhältnisse einmischen, daß ich nicht den Liebesvermittler spielen kann. Aber nach dem, was Sie mir gesagt haben, wird es mir möglich, Alexis als ernster Mahner und Warner zu nahen. Und das will ich tun.‹ ›O, jetzt ist alles gut!‹ rief sie in überquellender Freude, ›jetzt bin ich gerettet! Aber noch eins. Ich sagte vorhin, daß Alexis den Verführungskünsten meiner Schwester erlegen sei. Wenn ich gewiß wäre, daß sie ihn liebt, ihn treu, wahr und aufrichtig liebt – vielleicht – aber auch nur vielleicht – wäre ich imstande, zurückzutreten. Ich sage Ihnen jedoch: sie liebt ihn nicht!‹ ›Ich glaub' es‹, erwiderte ich. ›Es wird mir schwer, es auszusprechen – aber so jung sie ist – so gefallsüchtig und herzlos, so falsch und heimtückisch ist sie auch. Sie wird ihn unglücklich machen, wird ihn auf der gefährlichen Bahn weiter und weiter treiben –‹ ›Ich bin davon überzeugt. Aber wird er sich überzeugen lassen?‹ ›Ich hab' es versucht; doch es hat ihn noch mehr gegen mich gereizt.‹ ›Das war unklug von Ihnen, und deshalb darf ich diesen Punkt nur mit äußerster Vorsicht berühren.‹ ›Reden Sie, handeln Sie, wie es Ihnen gut dünkt. Ich weiß, Sie werden alles zum besten lenken. Und – nicht wahr – Sie gehen gleich morgen zu ihm? Nicht zu spät, daß Sie ihn sicher zu Hause treffen – und dann geben Sie mir sogleich Nachricht.‹ Sie hatte sich bei diesen Worten erhoben. ›Ich werde es; aber noch einmal: erwarten Sie nicht zuviel!‹ Und damit geleitete ich sie hinaus. Als ich wieder allein war, trat allmählich die Reaktion bei mir ein. Ich sah mich da in einen Handel verstrickt, bei dem ich möglicherweise in zweideutigem Lichte erscheinen konnte und welcher, das erkannte ich mehr und mehr, zu keinem guten Ende zu bringen war. Angenommen selbst, daß die früheren Verhältnisse wieder hergestellt wurden: wie lange konnten sie zwischen diesen Menschen vorhalten? – Aber ich hatte dem armen, verzweifelten Weibe meine Hilfe zugesagt und ging am nächsten Morgen zu Alexis. Ich traf ihn, nachdem mich ein Diener angekündigt hatte, eben am Frühstückstische, eine türkische Pfeife mit langem Rohr in der Hand. Er sprang auf und kam mir' flammend vor Verlegenheit, entgegen. ›Ah, mein Herr‹, rief er, ›was verschafft mir das Vergnügen, die besondere Ehre Ihres Besuches? – Sie sehen mich noch beim Frühstück – kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder Tee – Schokolade –‹ Ich dankte. ›Also doch wenigstens eine Zigarre‹, und er öffnete eine prächtige Lederkassette. ›Direkter Bezug von Havanna‹, fuhr er fort, mehr aus Fassungslosigkeit, als um zu prahlen. Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm von dem kostbaren Kraute, während er mir dienstbeflissen Feuer reichte. ›Mein Herr‹, begann ich, nachdem wir uns beide gesetzt hatten, ›ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Sie über den Grund meines Erscheinens so ziemlich im klaren sind.‹ ›Nun – allerdings‹, erwiderte er unruhig. ›Ich vermute, Sie kommen als Abgesandter –‹ ›Ja denn, wenn Sie es so nennen wollen. Doch besser gesagt: ich komme über Ersuchen des Fräuleins Ludovica Mensfeld. Sie ist sehr unglücklich.‹ ›Durch ihre eigene Schuld‹, fuhr er auf. ›Ich habe ihr alles ruhig auseinandergesetzt, habe ihr die vernünftigsten Vorschläge gemacht. Aber sie will nichts hören, will nicht begreifen, daß Gefühle vergänglich sind, daß neue Eindrücke ebenfalls ihre Rechte fordern –‹ ›Mein Herr‹, warf ich ein, ›Sie gehen zu weit. Einem liebenden Weibe zumuten, daß es natürlich und begreiflich finden soll, was Ihnen und vielleicht auch mir so erscheint, heißt Übermenschliches verlangen. Und Ludovica liebt Sie.‹ ›Ja, ja‹, sagte er unwillig, ›sie liebt mich, ich weiß es und ich habe sie auch geliebt, heiß und glühend geliebt. Oh‹, fuhr er, in Erinnerungen versinkend, fort, ›Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön, wie bezaubernd sie war. Ihre Augen, ihr Wuchs, ihre Hände und Füße – und sie ist jetzt noch schön und dabei ein gutes, vortreffliches Wesen – keine ihrer Schwestern kann eigentlich nur im entferntesten mit ihr verglichen werden –‹ ›Nun also –‹, sagte ich. ›Und dennoch – dennoch liebe ich sie nicht mehr, kann sie nicht mehr lieben! Sie ist immer dieselbe; immer die gleiche Hingebung, die gleiche Zärtlichkeit – immer die nämlichen sanften Ansprüche. Diese Monotonie wirkt nachgerade erdrückend. Sehen Sie, da ist ihre Schwester Mimi – ein launenhaftes, bizarres Geschöpf. Aber voll Geist, voll Witz, voll Leben – ein reizender kleiner Teufel.‹ ›Diese Bezeichnung ist vielleicht nicht übel gewählt‹, erwiderte ich ruhig. – ›Aber gibt Ihnen das ein Recht, ein Weib zu verlassen, das mit inniger Liebe und Treue an Ihnen hängt – das Ihnen alles geopfert?‹ Er schnellte, wie an einer Wunde berührt, vom Sitze empor. ›Ja‹, rief er, im Zimmer auf und ab eilend, ›ja, sie hat mir viel, hat mir alles geopfert. Ich weiß, was Sie meinen. Aber warum tat sie es?! Ich hab' es nicht gefordert. Sie hätte mich meinem Schicksale überlassen sollen. Und dann – ich habe alles geordnet, alles beglichen, was sie von jener Zeit her noch bedrücken, noch beunruhigen könnte. Ich habe ihr die glänzendsten Anerbietungen gemacht. Aber sie weist alles zurück und zieht es vor, von Musikstunden zu leben. Was sie fordert, ist Liebe und wieder Liebe – und die kann ich ihr nicht geben.‹ ›Nun, dann wäre es Ihre Pflicht, Ludovica zart und schonungsvoll nach und nach mit ihrer Lage vertraut zu machen, in der sie sich, von Schmerz und Leidenschaft verwirrt, nicht alsogleich zurechtfinden kann. Keineswegs aber durften Sie die Ärmste ungeduldig und grausam von sich stoßen und ihr aufs unwürdigste drohen.‹ ›Das tat ich, weil sie nach unwürdigen Mitteln griff, mich wieder zu gewinnen. Sie hat ihre Schwester vor mir herabgesetzt, hat den Verdacht in mir erwecken wollen, daß mich Mimi nicht liebt.‹ ›Und wenn sie recht hätte‹, sagte ich ernst. Er zuckte zusammen und blieb stehen. ›Sie sprechen in Ludovicas Interesse!‹ rief er. ›Mein Herr‹, sagte ich, indem ich mich jetzt gleichfalls erhob und auf ihn zutrat, ›es mag sein, daß der Schritt, den ich unternommen, Sie einigermaßen berechtigt, Zweifel in die völlige Aufrichtigkeit meiner Worte zu setzen. Allein, wenn Sie in meiner Seele lesen könnten, so würden Sie die Überzeugung gewinnen, wie ehrlich, wie wahr ich es nicht bloß mit Ludovica, sondern auch mit Ihnen meine. Ich wiederhole es: Marie Mensfeld liebt Sie nicht.‹ Und da er schmerzlich betroffen zu Boden sah, fuhr ich rasch fort: ›Nicht Sie – und auch keinen anderen. Mimi gehört zu den Frauen, die erst dann lieben, wenn sie selbst nicht mehr fähig sind, Liebe zu erwecken.‹ Er schritt langsam zu seinem Stuhl und setzte sich wieder. Schweigend, mit gesenktem Haupte schien er einem geheimnisvollen Echo zu lauschen, das meine Worte in seinem Innern wachgerufen. Er mußte bereits selbst schwer und oft gezweifelt haben und kämpfte jetzt mit seinen Gedanken. ›Ich bin nicht in der Absicht hierhergekommen‹, fuhr ich, mich ihm nähernd, fort, ›Gluten anzufachen, die erloschen sind, das vermag keine Macht der Erde. Aber lassen Sie uns offen miteinander reden. Was Sie an Mimi fesselt, ist die Macht ihrer jugendlichen Reize. Sie finden bei ihr Freuden und Genüsse, die Ihnen Ludovica nicht mehr zu bieten vermag. Allein bedenken Sie, daß das Dasein nicht bloß im Genießen besteht, daß wir auch zu entbehren und so manches Opfer uns selbst und anderen zu bringen haben. Bedenken Sie, daß es Pflichten gibt, die, sofern sie nicht mit unserem besseren Ich im Widerspruche stehen, unter allen Umständen erfüllt werden müssen. Erkennen Sie, daß man eine Vergangenheit nicht so leicht abschüttelt wie ein Kleid, das man wechselt. Und welchen Tausch wollen Sie treffen? Hier ein Weib, sanft und zärtlich, voll Hingebung und Treue, zufrieden, mit Ihnen eine und dieselbe Luft atmen zu können; dort ein Geschöpf, mehr stachelnd als anziehend, zwar voll Witz und Beweglichkeit, aber auch ohne Herz und Seele. Ein Geschöpf, das nur zur Mätresse geschaffen ist und Sie mit kaltem Blute verlassen wird, wenn Sie nicht mehr imstande sind, jede ihrer Launen zu befriedigen. Wie lange aber – und um welchen Preis wird Ihnen dies möglich sein? Es steht mir vielleicht nicht zu, Sie auf das zum mindesten Unpassende Ihrer gegenwärtigen Verhältnisse aufmerksam zu machen, und ich maße mir nicht an, mit unerbetenen Ratschlägen in Ihr Leben eingreifen zu wollen – aber sagen Sie selbst, wohin soll das führen?‹ Er hatte den Blick gesenkt; er war beschämt, aber auch bewegt und ergriffen. ›Ja, es ist wahr‹, rief er aus und faßte meine Hand, ›Sie haben recht! Allein was soll ich tun? Der Ertrinkende greift nach allem, was sich ihm darbietet. Mein Leben ist nun einmal ein verfehltes –‹ ›Nicht doch! Sie stehen in der Blüte Ihrer Jahre. Einem Manne von Ihren Anlagen und Fähigkeiten wird und muß es bei redlichem Wollen gelingen, sich eine gesicherte, wohlanständige Stellung zu schaffen. Und gerade hierzu bietet Ihnen eine Vereinigung mit Ludovica die beste Aussicht. Sie selbst hat bereits erwerben gelernt; Sie werden sich gegenseitig stützen und fördern – und nach allen Stürmen und Kämpfen in einer bescheidenen Häuslichkeit die höchsten Güter der Erde, Ruhe und Zufriedenheit, finden.‹ Er blickte vor sich hin. Rührung und Unentschlossenheit malten sich in seinen Zügen; es war, als wollte sich in seiner Brust ein Umschwung vorbereiten. ›Und was sollte mit Mimi geschehen?‹ fragte er dumpf. ›Überlassen Sie sie ihrem Schicksale! Sie wird ihren Weg zu finden wissen.‹ Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als draußen heftig an der Klingel gerissen wurde und fast gleichzeitig, mit Samt und Seide angetan, ein schmuckes Federhütlein unternehmend auf die krausen Locken gestülpt, Mimi zur Tür hereinrauschte. Sie stand bei meinem Anblick betroffen still, und ihre Oberlippe zog sich gehässig empor. Ihr Äußeres hatte sich, seitdem ich sie nicht mehr gesehen, bedeutend verändert. Sie war mächtig aufgeschossen, und ihre Gesichtszüge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen. Alexis flog ihr wie verwandelt entgegen, und ich erkannte, daß nun alles verloren sei. ›Du siehst, mein Engel‹, stammelte er, ›ich habe Besuch; tritt einstweilen ins Nebenzimmer.‹ Er geleitete sie, und ich vernahm, wie sie drinnen miteinander flüsterten. Nach einer Weile kam er zurück. ›Sie verzeihen‹, sagte er mit einiger Verlegenheit, ›daß ich nicht länger das Vergnügen haben kann – eine wichtige Angelegenheit –‹ Und während ich nach meinem Hute griff, fuhr er fort: ›Seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bemerkungen, Ihre Ratschläge zu würdigen weiß – daß ich sie auch zum Teil vollkommen anerkenne und Ihnen gewiß dankbar bin – es läßt sich jedoch in dieser Hinsicht so rasch kein Entschluß fassen. Was nun Ludovica betrifft, so bitte ich, ihr zu sagen, daß ich schon früher alles wohl erwogen und überlegt habe, daß ich begreife, wie schmerzlich es für sie sein muß – aber ich kann nichts an den Beziehungen ändern, in welchen wir gegenwärtig zueinander stehen. Durchaus nichts!‹ fügte er, die verletzende Hartnäckigkeit schwacher Naturen hervorkehrend, hinzu. Ich betrachtete ihn schweigend. ›Ich werde es ihr sagen‹, sprach ich endlich und ging. Ich begab mich geraden Weges zu Ludovica, die, seit sie von ihren Schwestern getrennt lebte, eine einfache Mietstube bewohnte und mir in höchster Spannung entgegenkam. ›Nun, nun?‹ fragte sie mit erwartungsvollen Blicken. ›Es ist gekommen, wie ich es vorhergesehen.‹ Und ich erzählte ihr alles. Mir blutete das Herz, wie sie so vor mir saß und atemlos an meinem Munde hing, während jedes Wort wie geschmolzenes Blei in ihre Seele fiel. Wie sie schmerzlich aufzuckte, wie sie nach Fassung rang, wie sich allmählich Rührung, Freude und Hoffnung in ihren Zügen malten – bis sie endlich enttäuscht und verzweifelt unter einem Strome von Tränen zusammenbrach. Und doch, wenn es ein Mittel gab, sie aus diesen Wirrsalen zu befreien, ihr den Frieden der Seele wiederzugeben, so konnte es nur geschehen, indem man sie zum klaren Bewußtsein ihrer Lage und zur Überzeugung brachte, daß sie nichts mehr erwarten, nichts mehr hoffen dürfe. Aber sie hoffte noch. Denn nachdem sie eine Zeitlang, von ihren wogenden Gedanken und Gefühlen umbraust, geschwiegen hatte, versuchte sie es instinktmäßig, sich an den erfreulicheren Teil meiner Mitteilungen zu klammern. ›Also er hat doch lieb und gut von mir gesprochen‹, begann sie leise. ›Sie sahen ihn gerührt, ergriffen. Er war auf dem Punkte –‹ ›Sich aus einer Schwachheit in die andere zu stürzen!‹ fiel ich ihr ins Wort. ›Er war auf dem Punkte, einen Entschluß zu fassen, den er morgen oder übermorgen wieder bereut und rückgängig gemacht hätte. Er ist nicht der Mann, nach Grundsätzen zu handeln, und ich habe gesehen, wie das bloße Erscheinen Ihrer Schwester auf ihn gewirkt hat. Mit einem Worte: Er liebt Sie nicht mehr und ist für Sie verloren!‹ ›Oh! oh!‹ jammerte sie und rang die Hände. ›Fassen Sie sich, Ludovica‹, fuhr ich fort. ›Blicken Sie den Ereignissen fest und klar ins Auge und vergessen Sie einen Menschen, der nicht würdig ist, von Ihnen geliebt zu werden.‹ ›Nie! Nie!‹ rief sie, sich verzweifelt hin und her werfend. ›Ich kann – ich will ihn nicht vergessen; ich kann und will ihn nicht verlieren. Er ist mir alles!‹ ›Alles?! Haben Sie nicht sich selbst? Haben Sie nicht Ihre Kunst?‹ ›O, sprechen Sie mir nicht von meiner Kunst! Dort liegen meine Geigen verstimmt und bestäubt; seit Monden spiel' ich nicht mehr. Ja früher – da gab es keine größere Seligkeit für mich, als die stille Sehnsucht, die jubelnde Freude, die süßen Schmerzen meiner Brust in den mitempfindenden Saiten austönen zu lassen. Aber jetzt hass' ich sie, und nur manchmal überkommt es mich, darin zu wüten, daß sie zerspringen wie mein Herz!‹ ›Freveln Sie nicht‹, sagte ich ernst und streng. ›Werfen Sie nicht töricht das göttliche Geschenk von sich, womit Sie das Schicksal vor Tausenden begnadet hat! Erwägen Sie, wie viele Menschen um Sie her unter der Last des Elends, des Kummers und der Verzweiflung seufzen und nichts besitzen, woran sie sich aufrecht halten, woran sie sich in eine freiere Atmosphäre emporringen könnten. Erwägen Sie, wie viele berechtigte Hoffnungen in diesem Leben scheitern, und verzichten Sie auf das, was Sie verloren haben.‹ ›O, Sie sind ein Mann!‹ rief sie, ›und wissen nicht, was dem Weibe die Liebe ist!‹ ›Ich weiß es. Die Liebe ist der Lebensinhalt des Weibes. Allein die ewigen Ideen, der Fortschritt im ganzen und großen, die Sorge für das allgemeine Wohl sind und waren bis jetzt der Lebensinhalt des Mannes. Und wie oft muß er das, woran er den Schweiß und die ganze Kraft seines Daseins gewandt, über Nacht zusammenbrechen und sich mit Undank, Hohn und Spott, mit der öffentlichen Verachtung belohnt sehen. Und in dieser Welt der Enttäuschung und des Schmerzes, in dieser Welt, wo nichts Bestand hat, will das Weib allein sein Glück dauernd und ungefährdet erhalten wissen?!‹ Und da sie nachdenklich vor sich hin sah, fuhr ich fort: ›Und ist denn auch Ihr Los ein so entsetzliches? Haben Sie nicht geliebt? Sind Sie nicht wieder geliebt worden? Können Sie nicht sagen: ich habe gelebt und genossen, während andere Frauen niemals die Knospe ihres Herzens sprengen durften und mit verhaltenen Gluten zu Grabe gingen!‹ Sie war in ein sanftes Weinen ausgebrochen. Ich erhob mich und trat vor sie hin. ›Ludovica, lassen Sie mich Ihr Freund sein!‹ Und da sie wie abwehrend die Hände vorstreckte, sagte ich eindringlich: ›Mißverstehen Sie mich nicht! Ich bin nicht der Mann, Ihnen in diesem Augenblicke mit Liebesanträgen zu nahen. – Noch einmal: lassen Sie mich Ihr Freund sein! Ich bin es gewohnt, den einsamen Pfad der Entsagung zu schreiten. Ich will Sie stützen, führen und lenken; ich will über Ihnen wachen, wie über einem kranken Kinde – bis Sie endlich, mit Ihrem Geschicke und Ihrer Kunst wieder versöhnt, jene Höhe des Daseins erreicht haben, von der aus Sie lächelnd auf die Vergangenheit zurück – und vielleicht einer schöneren Zukunft entgegenblicken können.‹ Sie schien die Macht meiner Worte in tiefster Seele zu empfinden und darüber nachzusinnen. Plötzlich aber schauderte sie auf und rief, die Hände vor das Antlitz schlagend: ›Nein! Nein! Ich kann ihm nicht entsagen! Und wenn er mich auch nicht mehr liebt – ich lasse ihn nicht! Seine Leidenschaft für Mimi kann nicht dauern: er wird und muß wieder zu mir zurückkehren. Ich will alles dulden, alles ertragen. Er soll mich schelten, soll mir drohen, soll mich von sich stoßen: ich will selig sein, von seinen Füßen getreten zu werden, denn ich kann nicht leben ohne ihn!‹ Ich trat einen Schritt zurück. Dieser wilde, rasende Ausbruch, dieser blinde Drang, auf dem kein Strahl der Erkenntnis haften wollte, erkältete mich bis ins Herz hinein. ›Nun denn‹, sagte ich endlich, ›so leben Sie wohl! Der Himmel sei Ihnen allen gnädig!‹ – Was nun die Ereignisse später mit sich brachten, kann ich Ihnen rasch und kurz erzählen. Ich habe es erfahren, wie man nachgerade alles über Menschen erfährt, die man kennt. – Alexis' glänzende Verhältnisse waren, wie vorauszusehen, unhaltbar. Nach kurzer Zeit schon stockten einige bedeutende Zahlungen. Die Spekulanten wurden mißtrauisch und schwierig und forderten die unglaublichsten Erstreckungssummen. Neue Termine wurden nicht eingehalten, Wucheranzeigen erstattet, und so kam das ganze Unternehmen, bei dem sich auch einige arge Unredlichkeiten nachweisen ließen, ins Schwanken und Stürzen und brach endlich zusammen. Nur der Umstand, daß selbst Persönlichkeiten höchsten Ranges mit verwickelt waren, rettete Alexis, der nun wieder ins tiefste Elend zurücksank, vor gerichtlicher Verfolgung. In der Aufregung dieser Tage – Mimi war inzwischen mit einem Attaché der französischen Gesandtschaft nach Paris gereist – zog sich der Unglückliche eine rasche Krankheit zu, die ihn aufs Totenbett warf. Ludovica hat ihn in ihrer ärmlichen Stube gepflegt und mit dem Erlöse ihrer letzten Habseligkeiten begraben lassen. Er ist in ihren Armen gestorben.« – Es war wieder ganz still im Gemache; nur von der Straße herauf klang das dumpfe Rollen eines verspäteten Wagens. »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte ich. »Nein; aber was jetzt folgt, ist nur ein kurzes Nachspiel oder vielmehr ein häßliches Seitenstück zu dem, was Sie bis jetzt gehört haben. Es müßte unbegreiflich erscheinen, wenn nicht gerade das Unbegreifliche die Natur des Weibes wäre. Und dennoch werden Sie darin das unerbittlich und gleichmäßig waltende Geschick erkennen, das Ludovica dem Abgrunde zutrieb. – Drei Jahre waren vergangen, und ich hatte sie nicht wiedergesehen. Da begegnete ich ihr eines Tages auf der Straße, wo sie am Arme eines Mannes einher schritt. Es war wohl nur gegenseitige Fassungslosigkeit, daß wir mit einem Gruße voreinander stehenblieben. Wir stammelten einige Worte, die freudig klingen sollten; endlich wies sie auf ihren Begleiter und sagte: ›Mein Mann, Baron –‹ Sie nannte einen Namen, der nichts zur Sache tut. Ich warf, während er sich nachlässig verbeugte, einen Blick auf ihn. Er war nicht mehr jung, von hohem Wuchse und wohlbeleibt. Sein Antlitz mußte einst schön gewesen sein, jetzt aber zeigte es sich aufgedunsen, und der Ausdruck niedriger Leidenschaften lag darin. Sein Anzug war eine Mischung von Sorgfalt und Verlotterung; auch Ludovica sah in ihrem Äußern ziemlich herabgekommen aus. Ich schützte Eile vor und empfahl mich. ›Freut mich sehr, einen alten Freund meiner Frau kennengelernt zu haben‹, sagte der Baron in einem singenden mitteldeutschen Dialekte, ›machen Sie uns einmal das Vergnügen – wir wohnen –‹ Das Weitere vernahm ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht enthalten, in einiger Entfernung stehenzubleiben und dem Paare nachzublicken. Ein eigentümliches Gefühl überkam mich, als ich das Weib, das ich zwar nicht geliebt hatte, das ich aber, wie ich noch jetzt fühlte, unsäglich hätte lieben können, mit diesem Manne vereint, dahingehen sah. – Nach Verlauf einiger Wochen trat ich abends in ein Kaffeehaus, um die Zeitungen zu durchblättern. Da gewahrte ich den Baron, der in einer Fensternische saß und mich offenbar nicht wiedererkannte. Er hatte ein geleertes Likörglas vor sich stehen und blickte von Zeit zu Zeit, wie jemanden erwartend, durch die Scheiben auf die Straße. Endlich zeigten sich vor dem Fenster die Umrisse einer weiblichen Gestalt. Der Baron erhob sich rasch, warf kleine Münzen auf die Untertasse und eilte hinaus. Es trieb mich, ihm zu folgen, und ich konnte noch gewahren, wie ihm Ludovica – denn sie war es – etwas überreichte, womit er nicht zufrieden zu sein schien. Er gestikulierte heftig und seine Stimme klang laut und drohend. Endlich mußte sie ihn beschwichtigt haben, denn er gab ihr den Arm. Zuletzt bogen sie in eine Seitengasse ein, wo ich sie aus den Augen verlor. – Ich habe Ludovica erst heute wiedergesehen. Ich ahnte sogleich, wie alles gekommen sei; denn seit jenem Abend hegte ich die traurigsten Vorstellungen. Aber ich wollte Gewißheit und fuhr mit Ihnen nach dem Laden des Kaufmanns Berger. Dort wurde mir alles bestätigt. Sie hatte, weiß Gott wie und wo, den Baron kennengelernt, der sich unter dem Vorwande, einen Erbschaftsprozeß durchzuführen, hier herumtrieb. Wie sie dazu kam, ihn zu heiraten, läßt sich nicht feststellen. Vielleicht tat sie's aus Neigung; wahrscheinlicher aber ist es, daß sie nur von jenem beklagenswerten Drange geleitet wurde, der endlich fast jedes Weib überkommt, wohl oder übel einem Manne dauernd anzugehören. Sie unterhielt einstweilen sich – und ihn durch Musiklektionen, deren sie viele hatte; an die Ausübung ihrer Kunst dachte sie nicht mehr. Aber die Erbschaftshoffnungen zerflossen in nichts, und der Baron, der dem Laster des Trunkes und des Spieles ergeben ist, brauchte Geld. Ludovica mußte es schaffen: durch Darlehen, die sie auftrieb, durch Geschenke, die sie erbettelte, und als es ihr nicht immer gelingen wollte, mißhandelte er sie – ja ging in seiner Niederträchtigkeit so weit, sie zwingen zu wollen, die letzten Reste ihrer Schönheit zu verkaufen. Das ertrug sie nicht. Heute morgen hatte er sie wieder fortgeschickt, eine Summe herbeizuschaffen – eine verschwindend kleine Summe: aber selbst ihre Schwester und ihr Schwager, welche der Unglücklichen bis jetzt, zwar ungern und mit Vorwürfen aller Art, aber dennoch in den äußersten Fällen stets geholfen hatten – verweigerten sie ihr diesmal. Sie mußte sich nicht nach Hause gewagt haben, mußte lange umhergeirrt sein – das übrige wissen Sie.« Wir schwiegen beide. »Und nun sagen Sie mir«, fuhr er fort, »wie es kam, daß dieses holde Geschöpf, ausgestattet mit allen Vorzügen ihres Geschlechtes, welche andere so vortrefflich zu verwerten wissen, sich an Unwürdige weggeworfen; wie es kam, daß sie in törichter Umkehrung der Verhältnisse für diejenigen zu sorgen bemüht war, welche für sie zu sorgen die Verpflichtung hatten – is sie, noch in jungen Jahren, ein so trauriges Ende nahm? Warum war sie nicht so klug und brav wie ihre Schwester Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter ist? Warum war sie nicht so klug und schlecht wie ihre Schwester Mimi, die gegenwärtig als Chansonettensängerin die Welt durchreist und mit Gold und Diamanten überschüttet wird? Warum ! Das ist die große Frage, auf welche weder unsere Philosophen und Moralisten noch die stelzbeinigen Theaterfiguren unserer modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wissen – und die selbst dann nicht gelöst sein wird, wenn die Physiologen jeden Gedanken, jedes Wort, jede Tat auf die entsprechende Faser des Gehirns, auf diesen oder jenen zuckenden Nerv und auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines bestimmten Organs zurückzuführen imstande sein werden. Dann aber, wenn man erkennen wird, daß der Mensch nichts anderes ist als eine Mischung geheimnisvoll wirkender Atome, die ihm schon im Keime sein Schicksal vorausbestimmen: dann wird man, glaube ich, auch dahintergekommen sein, daß es, trotz aller geistigen Errungenschaften, besser ist, nicht zu leben!« – Er war bei diesen Worten aufgestanden und reichte mir jetzt die Hand zum Abschied. Ich ging. Draußen schwieg die ausgedehnte Residenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren schon zur Hälfte ausgelöscht; düstere Schatten umhüllten die Häuser, und nur hier und dort schimmerte durch die Fenster mattes Licht. Wie viele Herzen mochten in dieser Stille voll Kummer und Verzweiflung schlagen! Wieviel Elend lag unter der flüchtigen Hülle des Schlummers verborgen! Ich schauderte. Das ganze Weh der Erde stieg vor mir empor; es wogte wie ein dunkles Meer, und obenauf schwamm mit blassem Antlitz und feuchten Locken die Leiche der Geigerin. – Das Haus Reichegg Das allgemeine Krankenhaus der Stadt G .... ist wie die meisten älteren Anstalten dieser Art ein düsteres, schwerfälliges Gebäude, das sich auf einem öden, entlegenen Platze befindet, wo eine Kirche, eine Kaserne und eine altertümliche Fronfeste seine nächste Umgebung bilden. An dem kahlen Mauergeviert ziehen sich lange Reihen halb erblindeter Fenster hin, und wenn man durch das wuchtige, gelb angestrichene Tor tritt, so gelangt man in einen mäßig großen, mit Bäumen und spärlichem Rasen bepflanzten Hof, wo bei günstiger Jahreszeit Kranke und Genesende, in lange Spittelröcke gehüllt, an der Luft sitzen oder gruppenweise mit kaum hörbaren Schritten und leisen Gesprächen auf und nieder wandeln. Der Anblick der hinfälligen, bresthaften Gestalten, das dämmerige Halbdunkel der Treppen und Korridore, die eigentümlich bewegte Stille, die aus den Krankensälen dringt – dies alles fällt dem Besucher mit ergreifender Wehmut aufs Herz und läßt ihn, ernster als sonst, über die Gebrechlichkeit des menschlichen Daseins nachsinnen, der auch er unterworfen ist. – Diesen traurigen, die Seele beklemmenden Ort hatte ich im Sommer des Jahres 187* häufig aufgesucht, um eine schmerzliche Pflicht zu erfüllen. Einer meiner ältesten und vertrautesten Freunde, welcher, angezogen von den landschaftlichen Reizen der Umgegend, in G ... seinen wissenschaftlichen Bestrebungen lebte, war nämlich von einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich nicht beachtet, immer heftiger und gefahrdrohender hervortrat. Häuslicher Pflege und Fürsorge entbehrend, sah er sich endlich gezwungen, in der öffentlichen Heilanstalt Aufnahme zu suchen, wo man ihm ein abgesondertes, für ähnliche Fälle bereitgehaltenes Zimmer zur Verfügung stellte. Auf die Nachricht hiervon war ich also herbeigeeilt, um dem Einsamen tröstend, vielleicht auch hilfreich in diesen schweren Tagen zur Seite zu stehen, die bei seinen eigentümlichen Lebensschicksalen um so ernster und bedeutungsvoller erschienen. In seiner Jugend zu einem anderen Berufe bestimmt, hatte er später auf seiner Laufbahn, eine lange Reihe von Jahren hindurch, unzählige Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Und nun, da er endlich das Ziel seiner Bestrebungen erreicht, die langersehnte Anerkennung und Geltung gefunden: nun sollte der Vielgeprüfte an sich selbst erfahren, wie grausam oft das Geschick mit denjenigen spielt, die sich durch eigene Kraft emporgerungen. Denn schon während einer Reise durch Italien, die er, gehoben und begeistert von seinen ersten Erfolgen, mit mir gemeinsam unternommen hatte, waren ihm die ersten Anzeichen jener tückischen Krankheit fühlbar geworden, welche seine Kraft lähmen – und vielleicht für immer vernichten sollte. – So brachte ich denn jetzt den größten Teil des Tages bei ihm in der düstern Krankenstube zu, in die nur selten ein freundlicher Sonnenstrahl fiel, und deren einziges Fenster auf einen kleinen, von hohen Mauern umschlossenen Nebenhof hinausging, wo ein bemooster Steinbrunnen melancholisch plätscherte. Außer mir kamen nur wenige Besuche. Desto häufiger aber fand sich der Arzt ein, der meinen Freund mit großer Sorgfalt behandelte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeselle. Seine vollen Wangen zeigten das Rot der Gesundheit, und um die Lippen spielte ein feinsinnlicher Zug; aber seine Stirn war frei und hoch, und seine Augen strahlten von Geist und Erkenntnis. Auf der Höhe des heutigen Wissens stehend und in seinem Fache ein leidenschaftlicher Forscher, hatte er sich doch jene tieferen Gemütslaute bewahrt, die auf den Patienten so wohltuend wirken und der neueren ärztlichen Schule mehr und mehr abhanden kommen. Vor allem aber war es sein köstlicher Humor, der ein Gespräch mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch mein armer Freund in seiner Gegenwart fast ganz des quälenden Leidens vergaß und gleichsam neubelebt aufatmete. Eines Morgens hatte ich wieder Himmel und Sonnenschein draußen zurückgelassen und die Anstalt betreten. Vor dem Tore war mir eine schwerfällige Kutsche samt einem alten, schwarzgekleideten Diener, der am Schlag lehnte, ins Auge gefallen, und als ich die Treppe hinanstieg, konnte ich im Hause ein außergewöhnliches feierliches Treiben wahrnehmen. In dem bekannten Zimmer angelangt, fand ich den Doktor am Bette, aber eben im Begriffe, sich zu verabschieden. »So eilig, Bester?« fragte mein Freund. »Bleiben Sie doch noch ein wenig bei uns!« »Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin der Schwestern, die hier den Dienst der Krankenpflege versehen. Aber erschrecken Sie nur nicht! Hierher wird sie sich wohl schwerlich verirren, obgleich ich Ihnen beiden wünschen möchte, sie kennen zu lernen. Eine ganz merkwürdige Persönlichkeit. Die Tochter des ehemaligen Staatsrates Reichegg. Auf sie ist jedoch das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von jener finsteren Bigotterie und starren Unduldsamkeit, durch welche sich ihr Vater einst eine so traurige Berühmtheit erworben. Sie ist vielmehr eine echte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe – und jener Frömmigkeit, die einen bedauern läßt, daß man sie selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben« – er deutete mit dem Finger nach der Stirn – »sieht es ganz respektabel aus; es ist mir jedesmal ein Vergnügen, sie durch die Krankensäle geleiten zu können. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es ließe sich zwar annehmen, daß sie der Alte bei seiner demütigen Hinneigung zur Kirche von Kind auf dazu erzogen – aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber ins Kloster gehen, steckt immer eine unglückliche Herzensgeschichte dahinter. Falls es Sie interessiert, sie zu sehen« – wandte er sich an mich – »so finden Sie sich in etwa einer Stunde unten im großen Hofe ein. Dort muß sie, wenn sie die Anstalt verläßt, an Ihnen vorüberkommen. Es wird Sie nicht reuen; solche Erscheinungen werden in unserer Zeit immer seltener.« Damit ging er und ließ mich allein bei dem Kranken zurück, der eine üble Nacht gehabt zu haben schien und müde die Augen schloß. Ich aber setzte mich ans Fenster und blickte vor mich hin. Die Worte des Doktors hatten in mir Erinnerungen geweckt – nähere und entferntere, und wie sie sich jetzt wechselseitig belebten und ergänzten, zog folgendes im Geist an mir vorüber. 1. I. Es war um die Mitte der fünfziger Jahre, im Hochsommer, als ich, damals noch in Militärdiensten stehend, mit einer Abteilung meines Regiments in ein kleines mährisches Landstädtchen einrückte. Wir waren schon vor Tag aufgebrochen, hatten, während die Sonne immer heißer niederbrannte, über vier Meilen auf der staubigen Heerstraße zurückgelegt, und so begrüßten wir den freundlichen Ort, wo uns nach mehrtägigen Eilmärschen ein Ruhetag gestattet war, aufs freudigste. Ein Teil der Einwohnerschaft war uns ein gutes Stück entgegengekommen und schritt uns jetzt bei den lustigen Klängen unserer Musik voran. Reinlich und einladend lagen die Gassen da, viele Häuser von Bäumen beschattet oder mit netten Vorgärtchen versehen. Hier und dort lugte, halb versteckt, ein rosiges Mädchenantlitz hinter weißen Fenstergardinen hervor, und auf dem Marktplatze, wo wir hielten, zeigten sich stattliche Gastwirtschaften, unseren ermatteten Leibern und verlechzten Kehlen Stärkung und Erquickung verheißend. Ich fühlte mich daher nicht sehr angenehm überrascht, als ich bedeutet wurde, daß mir und meiner Mannschaft zur Unterkunft ein Dorf angewiesen sei, welches noch eine Wegstunde entfernt lag. Selbst der Beisatz, der verheißend klingen sollte: daß ich für meine Person in einem gräflichen Schlosse Aufnahme finden würde, hatte eben nichts Tröstliches. War ich doch gewohnt, die Marschtage als ein willkommenes Aufatmen aus der Zwangsjacke des Garnisonsdienstes zu betrachten, um mich in fröhlicher Ungebundenheit meinen Neigungen überlassen zu können – und nun drohte mir eine vornehme Gastfreundschaft, die mich vielleicht zu einem steifen gesellschaftlichen Verkehr mit unbekannten, mir gänzlich ferne stehenden Menschen verpflichtete. Indessen galt es, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und so befahl ich meine Leute, die gleich mir verdrossen vor sich hinsahen, zum Abmarsch, indem ich die Trommel rühren ließ. Eine ziemlich breite Seitenstraße führte uns anfänglich in einen scharf abgegrenzten Fichtenbestand, und nachdem wir diesen bald durchschritten hatten, zog sie sich in mehrfachen Krümmungen zwischen weit ausgebreiteten Kornfeldern hin. Still brütete die Mittagshitze über der schnittreifen Frucht, und am Ende der sonnigen Fläche ragte aus verfallenen Strohdächern der Kirchturm des Dorfes empor, während uns das Schloß, auf einer mäßigen, dicht bewaldeten Höhe gelegen, hell und glänzend entgegenschimmerte. Endlich hatten wir das Dorf erreicht, und ich war eben daran, einige letzte Befehle zu erteilen und die Mannschaft in ihre Quartiere zu entlassen, als ein wohlgekleideter, behäbig aussehender Mann auf mich zukam. Er gab sich, höflich grüßend, als Verwalter des Schlosses zu erkennen und hatte ein leichtes, mit kräftigen Braunen bespanntes Gefährt mitgebracht, das ich auf seine Einladung mit ihm und meinem Diener bestieg. Während er nun, an meiner Seite sitzend, den Pferden die Zügel schießen ließ, und wir auf einem bequemen Parkwege die Höhe hinanrollten, fragte ich ihn, wer denn eigentlich der Eigentümer des Schlosses sei. »Seine Exzellenz, der Herr Graf von Reichegg«, antwortete er mit einer gewissen bescheidenen Wichtigkeit. »Wie? Der Staatsrat Reichegg?« fuhr ich überrascht und betroffen fort. »Allerdings. Seine Exzellenz sind auch gegenwärtig mit Gemahlin und Tochter hier anwesend.« Nun versank ich in ein nachdenkliches Schweigen; auf eine solche Begegnung war ich nicht vorbereitet gewesen. Der Graf gehörte zu den hervorragendsten Persönlichkeiten jener Zeit. Im Staatsdienste und in der Schule Metternichs ergraut, stand er an der Spitze aller rückläufigen Bewegungen, die in Österreich nach dem Jahre Achtundvierzig wieder Platz gegriffen hatten. Seine feudalen und klerikalen Gesinnungen waren sprichwörtlich geworden, und man bezeichnete ihn allgemein als einen der Haupturheber des Konkordats, das man soeben mit dem päpstlichen Stuhle abgeschlossen hatte. So konnte mir, obgleich ich mich damals um derlei Dinge nur sehr wenig kümmerte, weder sein Name, noch die hohe Stellung, die er im Staate einnahm, fremd sein. Überdies hatte ich ihn selbst bereits mehrmals in Wien gesehen, zumeist bei gewissen öffentlichen Feierlichkeiten, wo mir sein stolzes, finsteres Wesen, das er wie absichtlich zur Schau trug, stets sehr unangenehm aufgefallen war. Auch seine Gemahlin war mir nicht unbekannt; denn sie zählte zu den glänzendsten Frauengestalten der Residenz. Einem alten Fürstengeschlecht entstammend und von einer Schönheit, die infolge höchst eigentümlicher Verschmelzung des Hoheitsvollen mit dem Reizenden geradezu einzig genannt werden konnte, stand sie in dem Ruf, eine Art Messalina zu sein. Das Tagesgespräch wurde nicht müde, von ihren Abenteuern das Unglaublichste in Umlauf zu bringen; ja man bezeichnete sogar die Männer, welche sich, allen Schichten der Gesellschaft angehörend, ihrer Gunst sollten erfreut haben. Trotzdem war sie nicht etwa der Gegenstand sittlicher Entrüstung; sie wurde vielmehr allgemein bewundert. Wenn sie, und zwar in der Regel allein, oder doch nur an der Seite ihres Gatten, der sich mit seinen weißen Haaren und den harten, unfreundlichen Zügen seltsam genug neben ihr ausnahm, im offenen Wagen durch die Alleen des Praters fuhr: da bildeten die Fußgänger, wie gebannt, nur eine dichtgedrängte Reihe, um sich an dem unvergleichlichen Adel und Liebreiz ihrer Erscheinung, an ihrer ebenso geschmackvollen als kostbaren Kleiderpracht, die auf das hohe Modetribunal des zweiten Kaiserreiches hinwies, zu entzücken, und vorwiegend war es gerade das weibliche Geschlecht, das mit ihr einen fast schwärmerischen Kultus trieb. Auch in der Oper und im Schauspiel waren aller Augen auf sie gerichtet, und ein deutlich vernehmbares Ah! befriedigter Erwartung ging durch das Haus, wenn sie, nachdem ihre Loge länger als sonst leer geblieben war, plötzlich an der Brüstung erschien. – Und dieser Frau, diesem Manne sollte ich nun als junger, kaum flügge gewordener Offizier, der sich niemals in der großen Welt bewegt hatte, entgegentreten! Es war ein in jeder Hinsicht beklemmender Gedanke, und ich schöpfte noch einigen Trost aus der naheliegenden Annahme, daß man mich vielleicht bloß der Sorge des Schloßverwalters überantworten und gar nicht an sich heranziehen würde. – Inzwischen hatten wir die Avenue erreicht, wo ein mächtiger Springbrunnen im Sonnenschein stäubte und glitzerte. Der Verwalter lenkte den Wagen rückwärts um das Schloß herum, hielt vor einem niederen Seitentore und geleitete mich über eine vereinsamte Treppe in den Halbstock empor. Dort schloß er ein kühles, weitläufiges Gemach auf, wo ich schon alles zu meinem Empfange vorgerichtet fand. »Ich bitte, es sich hier bequem zu machen«, sagte er. »Wenn etwas fehlen sollte – diese Klingelschnur geht nach meiner Wohnung. Um fünf Uhr wird gespeist. Die Herrschaften erwarten Sie zu Tische. Dürfte ich einstweilen um Ihre Karte bitten, um dieselbe Seiner Exzellenz überbringen zu lassen.« Ich war also dem Geschicke verfallen. Widerstandslos übergab ich dem Manne die Karte und schritt, nachdem er sich entfernt hatte, im Zimmer auf und nieder, wobei ich gedankenlos die Landschafts- und Schlachtenbilder in der Art Salvator Rosas betrachtete, die an den Wänden hingen. Dann trat ich ans nächste Fenster. Es ging auf das wohlgepflegte Parterre des Schloßparkes hinaus, in dessen Mitte ein hochstämmiger Rosenflor seine duftige Pracht entfaltete. Nachdem ich eine Zeitlang in das funkelnde Farbengemisch von Blumen und Rasen, von Himmel und Baumwipfeln hineingeblickt hatte, nahm ich etwas von den bereitstehenden Erfrischungen und streckte mich endlich auf ein bequemes Sofa hin, zuvor noch meinem Diener auftragend, sich in einer Stunde wieder bei mir einzufinden. Ich gedachte, ein wenig zu schlummern; aber war es nun Übermüdung oder innere Erregung – es wollte mir nicht gelingen. Während ich mich so eine Weile unruhig hin und her bewegte, vernahm ich, wie über mir ein Flügel angeschlagen wurde. Nach einem kurzen, ernsten Präludium begann eine klangvolle Altstimme ein Lied zu singen, in dem ich alsbald, der Melodie und dem deutlich vernehmbaren lateinischen Texte nach, ein geistliches erkannte. Mit jener tiefen, leidenschaftlichen Inbrunst, welche die katholische Kirchenmusik kennzeichnet, drangen die Töne in den Park hinaus und verzitterten mit leisem Widerhall in der lautlosen Luft des Nachmittags. Das Lied war zu Ende; noch einige Akkorde auf dem Klavier, dann wie ein nachzuckendes Gefühl die Wiederholung des Schlusses – und es herrschte wieder die frühere Ruhe. Seltsam ergriffen lag ich da und lauschte noch immer. Endlich sah ich nach der Uhr; die Stunde war fast abgelaufen. Ich sprang auf, und als ich einen Blick durch das Fenster tat, gewahrte ich, wie unten eine hochgewachsene, schlanke Mädchengestalt langsam den kleinen Rosenwald umschritt. Sie trug ein weißes Kleid, dem ein dunkles Band als Gürtel diente; ihre Gesichtszüge konnte ich nicht ausnehmen; aber ihr blondes Haar schimmerte mir wie helles Gold entgegen. Jetzt blieb sie vor einem Bäumchen mit weißen Rosen stehen, und nachdem sie eine davon gepflückt hatte, schlug sie langsam, das Haupt zur Blume in ihrer Hand niederneigend, einen Seitenpfad ein, der sie bald meinen Blicken entzog. Während sie verschwand, war es mir, als hätte sie die Rose an die Lippen gedrückt. – Mittlerweile hatte sich mein Diener eingefunden, und da bereits die vierte Stunde heranrückte, so galt es, mit raschem Entschlusse den Dingen entgegenzugehen, die da kommen sollten. Ich kleidete mich um und ließ anfragen, ob mich Seine Exzellenz empfangen wolle. Eine bejahende Antwort erfolgte bald durch einen Diener des Hauses, der mich in das obere Stockwerk und über einen langen, mit Jagdtrophäen gezierten Gang nach dem Zimmer des Grafen geleitete. Dieser erhob sich bei meinem Eintritt am Schreibtische, wo er eben gearbeitet zu haben schien, und trat mir in aufrechter Haltung einen Schritt, aber nicht mehr, entgegen. »Es freut mich stets,« sagte er mit fester, etwas bedeckter Stimme, nachdem ich einige passende Worte gesprochen und mich auf einen Wink von ihm niedergelassen hatte, »wenn ich einen kaiserlichen Offizier in meinem Schlosse beherbergen kann. Um so mehr aber heute, als mir« – er warf einen Blick auf meine Karte, die neben zerstreuten Papieren auf dem Tische lag – »der Name, den Sie führen, seit langem bekannt ist. Ich entsinne mich nämlich«, fuhr er fort, indem er mich aufmerksam und forschend ansah, »aus der Zeit, da ich als junger Mann unter der Regierung des Kaisers Franz in Staatsdienste trat, mit Vergnügen eines höheren Vorgesetzten gleichen Namens.« »Das dürfte mein Großvater gewesen sein.« »Gewiß; und ich gebe mich wohl keiner Täuschung hin, wenn ich in Ihren Zügen eine gewisse Ähnlichkeit mit den seinen zu erblicken glaube. Der lebhafte alte Herr steht mir noch ganz deutlich vor Augen. Ein wahres Muster eines loyalen, pflichtgetreuen Staatsdieners, wenn auch sein Wirken über ein bloß bureaukratisches nicht weit hinausging. Es war damals«, setzte er nach kurzem Schweigen nachdenklich hinzu, »eine Zeit voll unerhörter, erschütternder Bewegungen. Die französische Revolution hatte die ganze Weltordnung umzukehren gedroht, und nun machte der Korse Europa zittern. Vor allem war es Österreich, auf dessen Erniedrigung, auf dessen Untergang er es abgesehen hatte. Aber im Rate der Vorsehung war es anders beschlossen. Dynastie und Staat sind aus all diesen äußeren Gefahren nicht minder siegreich und glänzend hervorgegangen, als aus den fluchwürdigen Umsturzbestrebungen, die man jüngster Zeit in allen Teilen der Monarchie zu bekämpfen und – zu vernichten hatte. Und so wird sich der Spruch bewahrheiten: Austria erit in orbe ultima – durch den Schutz des Allmächtigen, seiner heiligen Kirche – und kraft unserer ruhmvollen Armee.« Mir wurde ganz unheimlich zumute. In das eherne Antlitz des Grafen war bei diesen Worten ein erschreckend finsterer und grausamer Zug getreten, und es schien, als wollte er jetzt und jetzt seine hagere, aber kräftig gebaute Gestalt, wie einem unsichtbaren Feinde gegenüber, zum Angriffe emporrichten. Unwillkürlich kehrte sich mein Blick von ihm ab und der zwar schlichten, aber bezeichnenden Ausstattung des Gemaches zu. Zwischen zahlreichen Bücherschränken stand ein einfacher Betschemel mit einem kleinen Kruzifix aus Ebenholz. An den Wänden sah man, sorgfältig gruppiert, in Lithographien die Bildnisse des Herrscherpaares, der Marschälle Windisch-Grätz und Radetzky, dann der Fürsten Metternich und Schwarzenberg, sowie anderer hervorragender weltlicher und geistlicher Würdenträger. Auf dem Schreibtische jedoch, seltsam genug, hatte der Graf neben einem Miniaturporträt seiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines hellockigen Kindes den Büsten Schillers und Goethes einen Platz eingeräumt. Er bemerkte, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundschau das Auge auf ihnen haften ließ, und sagte etwas milder: »Das waren zwei große, gewaltige Geister, und ich bin stets in Gesellschaft ihrer Werke.« Dabei wies er auf einen der Bücherschränke, die ihm zunächst standen. »Aber man darf sich von ihren Ideen nicht fortreißen lassen; denn Phantasie und Wirklichkeit sind zweierlei.« Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als sich leise eine Seitentür öffnete und jene hohe Mädchengestalt, die ich früher vom Fenster aus gesehen, auf der Schwelle erschien. Sie blieb, als sie meiner ansichtig ward, einen Augenblick betroffen stehen, faßte sich jedoch allsogleich und schritt mit würdiger Haltung auf den Grafen zu, dessen Antlitz sich plötzlich wundersam erhellte und den Ausdruck tiefster Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. »Meine Tochter Raphaela«, sagte der Graf, indem er mit seiner vertrockneten Hand kosend über das Haar der Eingetretenen strich, das jetzt in seiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernsten, fast schroffen Gesichtszügen abstach. Sie sah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieselbe eckige Stirn, dieselbe weit und scharf geschwungene Nase; auch ihr Kinn war stark vorgeschoben. Nur der Mund erschien voller und weicher, und die Augen strahlten im reinsten Blau des Himmels. »Wo ist Mama, mein Kind?« fuhr der Graf schmeichelnd fort. »Ich glaube, sie ist mit Egon im Salon«, antwortete sie mit tiefer wohlklingender Stimme, die mich überzeugte, daß ich auch die Sängerin des Liedes vor mir hatte. Die Brauen des Grafen zogen sich leicht zusammen. Dann wandte er sich an mich und sagte förmlich: »Wenn es Ihnen gefällig ist, will ich Sie jetzt meiner Gemahlin vorstellen.« Er öffnete eine zweite Seitentür, und während seine Tochter voranging, durchschritten wir eine Flucht von reichausgestatteten Gemächern, bis wir endlich in den Salon gelangten. Mein Atem stockte ein wenig, als ich den weiten, dämmerigen Raum betrat, hinter dessen herabgelassenen Portieren der Altan des Schlosses lag. Auf einer niederen Ottomane, weit zurückgelehnt, sah die Dame des Hauses in leichten, schimmernden Gewändern; neben ihr, in einem Fauteuil, ein junger Mann, der eine bequeme Halbuniform trug und, da er sich bei unserem Eintritt erhob, durch seinen auffallend hohen Wuchs überraschte. Die Gräfin empfing mich, ohne ihre Lage zu verändern, freundlich vornehm und half mir sogleich mit einigen aufmunternden Worten über die erste Befangenheit hinweg. Dann wies sie flüchtig auf den jungen Mann und sagte: »Unser Vetter, Baron Rödern.« »Rittmeister außer Dienst – und Attaché ohne Attachement«, setzte der Graf, während der Erwähnte und ich uns gegenseitig verneigten, wie scherzend hinzu; aber seine Stimme klang scharf. »Desto besser!« lachte der Baron, indem er einen prächtigen Reitstock, den er in der Hand hielt, nachlässig hin und her schwenkte. »Man kommt noch immer früh genug ins Joch – und ich liebe die Ungebundenheit.« Die Gräfin warf einen raschen Blick auf ihn; dann zog sie mich angelegentlich in ein Gespräch, dieses und jenes, das eben nahelag, ergreifend und eine Zeitlang festhaltend. Dabei hatte ich nun Gelegenheit, mich mehr und mehr in den Zauber ihrer Schönheit zu versenken. Was ich schon einst aus der Ferne an ihr hatte bewundern können: der volle und doch geschmeidige Wuchs, das lichte, von dunklen Haaren, wie von einer nächtigen Wolke umflossene Antlitz, die großen, langbewimperten Samtaugen – das alles trat mir jetzt in seiner ganzen Pracht entgegen, während zugleich die feinsten und individuellsten Reize sichtbar wurden. Um den zarten, rosigen Mund spielte, während sie sprach, ein entzückendes Lächeln, und dabei zitterten und zuckten ihre weiten Nasenflügel manchmal ganz eigentümlich, was ihren Zügen bei aller Weichheit einen höchst energischen Ausdruck verlieh. Wie sie so in nachlässiger Haltung vor mir saß und mit der perlmutterartig schimmernden Hand den Fächer gegen den wogenden Schnee ihrer Brust bewegte, da fühlte ich, welche bestrickende, verführerische Macht in dem Wesen dieser Frau lag, die über die eigentliche Jugend längst hinaus war und, wie ich bemerken konnte, schon zu allerlei kleinen Verschönerungskünsten griff. Im Vergleich mit ihrer von farbigster Lebensfülle gesättigten und durchleuchteten Erscheinung, wie sie nur Rubens und Murillo vereint hätten darstellen können, erschien die aufgeschossene, schmalschultrige Raphaela mit ihrem herben, eintönigen Antlitz wie eine Gestalt von Lukas Cranach. Diese aber war inzwischen an ihren Vetter herangetreten und stand jetzt mit ihm in leiser Unterhaltung begriffen, wobei sich jedoch der junge Mann sehr zerstreut und innerlich abwesend zeigte. Endlich überreichte sie ihm mit einem vollen, innigen Blick die Rose, die sie im Parke gepflückt und später im Gürtel getragen hatte. Er nahm die weiße Blume gleichgültig in Empfang, beroch sie flüchtig und befestigte sie dann an der Brustseite seines Rockes. Ein Kammerdiener trat leisen Schrittes ein und meldete, daß das Diner serviert sei. Ich bot der Gräfin den Arm; Rödern führte Raphaela, und wir gingen zu Tische, wo auch eine französische Gouvernante mit blutlosen Zügen und gesenkten Augen erschien. Das Mahl ging rasch vonstatten. Rödern war sehr heiter und gesprächig, fast ausgelassen. Er neigte sich oft und höchst vertraulich zur Gräfin, scherzte in ungezwungener, gleichsam überlegener Weise mit ihrem Gatten, der dabei auffallend an sich hielt und nur manchmal die Brauen runzelte, wenn der junge Mann mit leichtfertiger Ironie öffentliche Persönlichkeiten oder politische Ereignisse besprach. Selbst an die Gouvernante richtete Egon in nicht allzu reinem Französisch einige Stichelreden, die mit leicht abwehrendem Schweigen hingenommen wurden. Nur Raphaela beachtete er wenig, obgleich ihm diese ihre volle Aufmerksamkeit zuwandte und sogar zweimal sein Glas mit Bordeaux füllte, davon er reichlich und mit Behagen trank, so zwar, daß sich sein hübsches, fast mädchenhaftes Gesicht höher und höher färbte. Die Tafel war aufgehoben; die Französin hatte sich lautlos entfernt, und man nahm nun den Kaffee auf dem Altane, wo sich eine prachtvolle Fernsicht über die weite Ebene bis zu den duftverschwommenen Höhen der Sudeten auftat. Nach einer Weile sagte Rödern, man solle doch jetzt einen Gang durch den Park unternehmen. Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall; wir schritten also die breite Freitreppe hinunter und immer tiefer in die stillen, wechselvollen Anlagen hinein. Die Sonne war bereits im Sinken. Goldig lagen ihre letzten Streiflichter über den Wipfeln; große Amseln flogen vor uns auf, und durch die Luft quoll der süße Geruch des Jasmins. Nach und nach wurden die Pfade steiler, und endlich standen wir vor einem großen Teiche, hinter dem schweigend und dunkel der Wald aufragte. Zahllose Wasserpflanzen schwammen auf der blaugrünen Fläche; zwei Schwäne zogen dazwischen ihre stillen Kreise; am Ufer war ein wohlgebauter Kahn befestigt. »Wer hat Lust, mit mir auf dem Teiche zu fahren?« rief Rödern, der mit der Gräfin Arm in Arm vorausgegangen war. »Ich nicht«, sagte diese, indem sie sich von ihm losmachte. »Sie treiben es zu toll, mein Lieber. Es hat das letztenmal wenig gefehlt, so wären wir beide ins Wasser gefallen.« »Kann ich nicht schwimmen?« erwiderte er übermütig. »Ich hätte Sie auf meinen Armen ans Land getragen.« »Schön; aber ich pflege um diese Zeit nicht zu baden.« Inzwischen hatte sich ihm Raphaela leise genähert. »Wenn es dir recht ist, Egon,« sagte sie, »so will ich mit dir fahren; ich werde dir zeigen, wie ich rudern kann.« »Was? Du?« rief er halb erstaunt, halb spöttisch, während die Gräfin ihre Tochter mit eigentümlichen Blicken ansah. »Ja«, entgegnete Raphaela ernst. »Du hast letzthin gesagt, daß wir Frauen es niemals würden erlernen können, und so übe ich mich seit einer Woche jeden Morgen darin – wenn ihr noch alle zu Bett seid.« »So!« lachte er. »Ich dachte, du säßest da über dem Thomas a Kempis. Nun, wir wollen sehen; zeige deine Kunst!« »Wenn Raphaela rudert,« warf die Gräfin hastig ein, »dann bin ich auch dabei. Aber Sie müssen vernünftig sein, Egon.« So begaben sich die drei in das zierliche Fahrzeug, und wirklich stieß Raphaela, nachdem sie die Ruder mit fester Hand ergriffen hatte, leicht und sicher vom Ufer. »Bravo! Sehr gut«, rief Rödern. »An dir ist ja ein Gondolier verloren.« »Da sehen Sie unsere ländlichen Vergnügungen«, sagte der Graf, mit dem ich jetzt langsam am Rande hinging. »Wir führen hier ein sehr zurückgezogenes, gleichförmiges Dasein; Baron Rödern allein bringt etwas Leben und Bewegung in unseren kleinen Kreis. Denn meine Tochter ist trotz ihrer Jugend sehr ernst und still und sitzt am liebsten bei ihren Büchern oder am Klavier.« Ich bemerkte hierauf, daß ich, allem Anscheine nach, die Komtesse kurz nach meinem Eintreffen habe singen gehört. »Haben Sie?« erwiderte er mit väterlichem Stolz. »Nicht wahr, eine prachtvolle Stimme, wenn auch noch nicht völlig entwickelt. – Sie ist überhaupt ein einziges Kind!« fuhr er fort, indem er mit jenem Ausdruck tiefster Zärtlichkeit, der mich früher so überrascht hatte, nach dem Kahn blickte. »Der Himmel hat mir einen Sohn versagt, aber mit dieser Tochter reichen Ersatz gewährt. Sie war bis jetzt«, wandte er sich mit herablassender Vertraulichkeit an mich, »in dem Erziehungsinstitute für adelige Fräulein in L .... Eine ausgezeichnete Anstalt, die sie als vorzüglichste Schülerin verlassen hat. Es ist erstaunlich, welche ausgebreiteten Kenntnisse sie besitzt; offen gestanden, ich fühle mich ihr gegenüber oft unwissend. Freilich verdankt sie vieles, ja das meiste nur sich selbst und ihrem unermüdlichen Fleiße. Und dabei – welch ein Gemüt! Die Hingebung und Zärtlichkeit, die Güte und Frömmigkeit selbst! Wie gesagt, ein einziges Kind! Möge sie glücklich werden!« fügte er, vor sich hinblickend, mit einem leisen Seufzer bei. Doch so als hätte er mich zu tief in sein Herz blicken lassen, rückte er sich plötzlich in seiner stolzen Haltung zurecht, und der gewöhnliche harte, finstere Zug trat allmählich wieder in sein Antlitz. Inzwischen aber hatte es Rödern nicht über sich gebracht, »vernünftig« zu bleiben. Nachdem er sich eine Zeitlang ruhig verhalten, pflückte er eine Wasserlilie, steckte sie der Gräfin ins dunkle Haar und nahm dann den Platz Raphaelas ein, worauf er sogleich anfing, allerlei gewagte Ruderkünste zu versuchen. Dabei geriet das Schifflein in ein höchst bedenkliches Schwanken, und als er endlich, seine Ausgelassenheit mehr und mehr entfesselnd, trotz der Bitten und Abmahnungen Raphaelas, trotz der Angstrufe ihrer Mutter, in raschen, immer engeren Wendungen einen Schwan verfolgte, der mit zornigen Flügelschlägen fauchend vor dem Kiele herschoß, da war es in der Tat Zeit, daß sich der Graf ins Mittel legte und mit herrischem Tone befahl, ans Land zu stoßen. So erreichte man zuletzt doch wohlbehalten das Ufer und trat nun vereint, jedoch ziemlich einsilbig, beim rötlichen Scheine des Abends den Rückweg an. Vor dem Schlosse kehrte sich der Graf zu mir und sagte gemessen: »Sie dürften sich ermüdet fühlen und es vielleicht vorziehen, den Tee auf Ihrem Zimmer zu nehmen. Wir wollen Sie nicht länger halten.« Ich verneigte mich schweigend. Dann nahm ich von den übrigen Abschied und zog mich zurück. Obgleich ich in der Tat der Ruhe bedürftig war und auch alsbald zu Bette ging, hielten mich doch, indem ich unwillkürlich den Eindrücken des Tages nachhing, fragende Gedanken und leise Schauer der Seele noch lange wach. Endlich schlief ich ein. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich erwachte. Frisch und würzig drang der Duft des Morgens mit dem Gezwitscher der Vögel durch die geöffneten Fenster herein, und ich machte mich fertig, meinen dienstlichen Verpflichtungen im Dorfe nachzukommen. Über diesen ging ein Teil des Vormittags hin; nunmehr aber sollte ich mich nach dem Städtchen begeben, wo ich weitere Befehle und Anordnungen für morgen entgegenzunehmen hatte. Da ich voraussah, daß man mich dort an den Offizierstisch ziehen und so bald nicht wieder loslassen würde, so erschien es mir geraten, mich schon jetzt bei dem Herrn des Schlosses zu verabschieden. Ich fand ihn diesmal sichtlich zerstreut und verstimmt; vielleicht durch den Inhalt mehrerer Briefe, die eben mit der Post gekommen zu sein schienen und erbrochen auf dem Schreibtische lagen. »Ich bedauere,« sagte er obenhin, »daß Sie heute nicht mehr unser Gast sein können. Setzen Sie Ihren Marsch glücklich und wohlbehalten fort! – Es wird auch den andern leid tun, Sie nicht mehr zu sehen. Meine Frau ist ausgeritten – und meine Tochter weilt jetzt bei ihren Studien.« Dabei machte er eine leichte Bewegung, als wollte er sagen: Sie sind entlassen. Aber nach kurzem Bedenken blickte er mich freundlicher an und fuhr mit einer gewissen Wärme fort: »Es war mir in der Tat eine Freude, Sie kennen gelernt zu haben. Leben Sie wohl!« Und er reichte mir die Hand, die ich, unwillkürlich zögernd, mit der meinen berührte. Ich empfand es wie eine Erleichterung, als ich die Tür hinter mir hatte, und wohlgemut wanderte ich dem Städtchen zu, wo ich alles in fröhlicher Bewegung fand. Denn man hatte uns zu Ehren die Anstalten zu einem Feste getroffen, das schon früh am Nachmittage mit einem lärmenden Preisschießen begann und später in einen ländlichen Ball überging. Auch ich hatte daran teilgenommen, hatte mich länger, als ich beabsichtigte, verweilt, und so war bereits die Nacht schwül und dunkel auf die Gefilde herabgesunken, als ich den Saal der Schießstätte verließ und mit pochenden Schläfen den Rückweg antrat. Kein Laut regte sich in den Fichten; schwer und betäubend schlug mir der Duft des Kornes entgegen, das jetzt die aufgesogene Glut des Tages ausstrahlte; am Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fahles Wetterleuchten. Schweigend, in nächtlicher Ruhe lag endlich das Schloß vor mir; nur einige wenige Fenster waren noch erleuchtet. Ich fand das kleine Tor unverschlossen und begab mich in mein Zimmer. Da der Abmarsch um drei Uhr morgens stattfinden sollte, so warf ich mich nur halb entkleidet auf das Sofa, wo ich mich einem leichten Schlummer überließ. Plötzlich erwachte ich; es war wie taghell im Zimmer. Erschreckt richtete ich mich empor, ich glaubte schon weit in den Morgen hinein geschlafen zu haben. Aber es war nur der Mond, der sich inzwischen am Himmel erhoben hatte und mit seinem milden Lichte das Gemach durchflutete. Ich blickte nach der Uhr; sie wies eine Stunde nach Mitternacht. Was sollte ich nun beginnen? An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu denken; ich beschloß daher, die Zeit bis zum Aufbruche im Parke zu verbringen, dessen mondbeglänzte Wipfel mich wundersam anlockten. Rasch kleidete ich mich völlig an, warf einen leichten Mantel über – und bald knisterte der feine Kies der Wege unter meinen Tritten. Kein Blatt regte sich; in hellem Tau schimmerte der Rasen, und geisterhaft leuchteten die Blumen hinter den Laubgängen auf, die mich immer tiefer in ihre Windungen zogen, bis mir endlich der Teich glitzernd und flimmernd entgegensah. Mit weitgeöffneten Kelchen lagen die Wasserlilien im feuchten Glanze, kaum unterscheidbar von dem Gefieder der Schwäne, die auf einer kleinen Insel schliefen und träumerisch die Flügel regten, während hin und wieder aus der Tiefe kurze geheimnisvolle Laute heraufdrangen. Nachdem ich das schlummernde Wasserreich langsam umschritten hatte, trat ich in ein nahes Boskett, in welchem ich eine Bank vermutete und auch wirklich zwischen zwei hohen Platanen am Sockel einer Najade aus Sandstein antraf. Und als ich jetzt unter den schweigenden Wipfeln saß und dem leisen Weben der Nacht lauschte, da wurden die Bilder der letzten zwei Tage wieder in meinem Geiste lebendig. Ich sah die Gestalten der Schloßbewohner vor mir bis auf den kleinsten, feinsten Zug: den stolzen, finsteren Grafen, das schöne, blühende Weib mit den dunklen Samtaugen, das ernste blonde Mädchen – und den jungen Mann, der so ausgelassen den Kahn auf der stillen Wasserfläche gelenkt hatte .... Da glaubte ich mit einem Mal ferne Tritte zu hören. Ich hatte mich nicht getäuscht; sie kamen näher und näher – und schon klangen bekannte Stimmen an mein Ohr, zwar gedämpft, doch deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht. »Ich sage dir nur, daß sie dich liebt!« »Wenn auch. Meine Schuld ist es nicht; du weißt, mit welcher Gleichgültigkeit ich ihr stets begegne.« »Das ist wahr; aber mich dauert das arme Kind. Sie hat viel von ihrem Vater, nimmt alles ernst und schwer, selbst kleine, unbedeutende Dinge. Sie kann nicht vergessen; ich fürchte, dieser Eindruck wird ihr fürs Leben bleiben.« »Ah pah! Mädchenträume! Sie wird sich schon zurechtfinden; ihr Sinn ist ohnedies mehr aufs Überirdische gerichtet. Ich jedoch halte mich an die volle, blühende Wirklichkeit!« »Du liebst mich also?« Und die Stimme der Gräfin klang weich und zärtlich. Es erfolgte keine Antwort; aber eine Stille trat ein, durchweht von den stürmischen Hauchen und Küssen einer langen, leidenschaftlichen Umarmung. Zitternden Herzens preßte ich die Lippen zusammen. Ich hatte den günstigen Augenblick, mich zu entfernen, versäumt – und nun stand die Gräfin mit Rödern in der Nähe des Bosketts; die leiseste Bewegung, ein Odemzug mußte meine Anwesenheit verraten. »Und wie lange wirst du mich lieben, Flattersinn?« klang es endlich. »So lange ich atme!« klang es berauscht entgegen. »Gedenke deiner Worte!« stieß jetzt die Gräfin mit wildem, fast unheimlichen Flüstern hervor. »Ich lasse dich auch nicht mehr: du bist mir verfallen mit Leib und Seele!« Es war zu vernehmen, wie sie ihn umschlang; dann setzten sich die Schritte der beiden wieder in Bewegung. Ich erstarrte. Wenn sie jetzt in das silberberieselte Dunkel traten – die Folgen waren undenkbar! Aber sie lenkten unter zärtlichem Geflüster rechts ab und kehrten in einem Bogen nach dem Schlosse zurück. Je ferner, je schwächer ihre Tritte klangen, desto leichter, desto freier fühlte ich mich; als es jedoch wieder ganz still geworden war, da griff mir ein scharfes, eisiges Weh ans Herz. Ich war damals noch jung und kannte die Untiefen des Lebens bloß vom Hörensagen; sie waren für mich bis jetzt wesen- und bedeutungslos geblieben, wie die Gerüchte, welche ich früher über die Gräfin vernommen. Nun aber, wo das, was ich, ohne es mir selbst einzugestehen, schon halb erraten hatte, plötzlich greifbar enthüllt vor mir lag, da war es mir, als hätt' ich in einen Abgrund geblickt. Die Begriffe von Gatten- und Mutterliebe, von Recht und Pflicht, von Treue und Gewissen – alle diese Stützen, die bisher das Dasein so wohlgefügt und harmonisch vor meinen unbefangenen Blicken aufrecht erhalten hatten, brachen mit einem Male zusammen, und nur ein ekler Sumpf, ein grauenvolles Chaos blieb zurück. – Endlich entriß ich mich der Stelle, suchte meinen schlafenden Diener auf und begab mich in das Dorf hinunter, wo ich noch vor der Zeit Reveille schlagen ließ. Und fort zog ich in den grauenden Tag hinein, das Schloß, seine Menschen und ihre Schicksale hinter mir zurücklassend. 2. II. Jahre waren dahingegangen. Das Leben, immer ernster und vielgestaltiger mit strengen Forderungen an mich herantretend, hatte sich mir in seiner wahren Bedeutung enthüllt, und ich dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schlosse Reichegg. Aus den öffentlichen Blättern hatte ich zwar entnommen, daß der Graf mit dem Tode abgegangen sei. Durch die Zeitereignisse gestürzt, den Untergang alles dessen erlebend, was er begründen half, war ihm bei dem großen Wandel der Dinge nichts übriggeblieben, als zu sterben. Auch hatte ich nach dem Feldzuge des Jahres sechsundsechzig in den Verlustlisten einen Major Egon Baron Rödern als tot verzeichnet gefunden. Von der Gräfin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr. Neue Verhältnisse hatten neue Erscheinungen in den Vordergrund gestellt; die schöne, einst so gefeierte Frau war vergessen und blieb mit ihrer Tochter verschollen – für diejenigen wenigstens, die mit ihren Kreisen nicht in Berührung kamen. – – Da traf es sich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in der Lagunenstadt vor einem Kaffeehause des Markusplatzes saß. Es war noch ziemlich früh am Tage, und nur wenige Menschen beschritten die prächtigen Quadern, auf welche die Sonne hell und glänzend niederschien. Plötzlich zeigte sich, von der Stadtseite kommend, unter den Arkaden ein vornehm aussehendes Paar in Reisekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einhergingen. In dem ersteren erkannte ich sofort einen aus der Mode gekommenen Wiener Tonkünstler, der einst als Virtuose glänzende Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte und von den Frauen sehr gefeiert worden war. Auch die Dame mutete mich nicht völlig fremd an; diesem hohen Wuchse, diesen stolzen und doch geschmeidigen Gliederbewegungen mußte ich schon irgendwo begegnet sein. Als mir die beiden näher gekommen waren, trat ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf sie zu. Die Dame blieb stehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeischreiten wollte, am Arme fest – und nun zuckte ich zusammen: ich hatte mit einer dem Erschrecken verwandten Empfindung die Gräfin erkannt! Ihr Antlitz konnte zwar, trotz der weißen Schminke, die darüber lag, noch immer schön genannt werden, aber alles Milde und Liebliche, das früher so sehr entzückte, war daraus verschwunden, und ein herrschsüchtiger, rücksichtsloser, durch das herannahende Alter gereizter und erbitterter Wille hatte sich mit verletzender Schärfe in jedem einzelnen Teile ausgeprägt. Einen noch traurigeren Anblick bot der Mann an ihrer Seite dar. Er war auffallend rasch gealtert, seine Haltung erschien nachlässig und gebückt, während in seinen nicht unedlen Zügen ein unsäglich öder, trostloser Ausdruck von stummer Duldung und verbissenen Qualen lag, der zu seinem früheren selbstbewußten Auftreten in peinlichem Widerspruche stand und die traurigsten Vermutungen wachrief. Mit scheuer, verdrossener Lüsternheit blickte er von der Seite nach dem jungen, großäugigen Geschöpfe, das, ein dünnes Korallenschnürchen um den bräunlichen Hals, vor der Gräfin stand. Er schien froh zu sein, als diese endlich eine Anzahl kleiner Sträuße ausgewählt und mit unangenehmen Lächeln mehrere Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte. – Ich konnte mich nicht enthalten, den beiden in einiger Entfernung bis auf die Riva zu folgen, wo sie eine Gondel heranwinkten. Sie stiegen ein und ließen sich hinausrudern in die blaue, schimmernde Wasserfläche, wie von einem dunklen Sarge umschlossen. Es waren zwei Tote. – – Langsam kehrte ich über die Piazetta wieder zurück. Düster und schweigend lagen die alten Paläste da und wehten mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Vergänglichkeit an. – Wie lange war es her, da umflatterte noch das schwarzgelbe Banner Österreichs den weitausblickenden Turm, und unter den mächtigen Säulenhallen wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrschaft auf und nieder. Nun war Venedig frei – aber auch stiller, einsamer, öder geworden. Und wie hatte sich dieser Wandel vollzogen! Langsam, schrittweise, doch unaufhaltsam, trotz aller Gegenbestrebungen. Erschien es doch wie tragische Ironie, als man zuletzt ratlos die Erfüllung in die Hand des Mannes legte, der damals an der Seine über das Los der Völker entschied! Unwillkürlich mußte ich des toten Grafen und seiner stolzen Überzeugungen gedenken; es war mir, als ginge sein Schatten neben mir her, scheu und finster. – Und seine Tochter? Wo weilte sie? Hatte sie sich, wie Rödern damals vorausgesetzt, zurechtgefunden , oder war sie ein einsamer Fremdling geblieben in dieser Welt voll Irrtum und Schuld; in dieser Welt, wo nichts Bestand hat, als der Schmerz, und selbst das Höchste, Bedeutsamste allmählich vergeht und verweht, als wäre es nie gewesen? – – – Und nun hatte mir die Zeit , die alles enthüllt und selbst das Getrennteste nach und nach zusammenführt, auch diese Frage beantwortet .... * * * »Du bist heute sehr schweigsam«, sagte der Kranke, der inzwischen wieder die Augen aufgeschlagen hatte. »Was hast du?« »Nichts – ich werde es dir später mitteilen. Jetzt will ich mir die Oberin ansehen, von der uns der Doktor erzählt hat.« Damit verließ ich das Zimmer und begab mich in den Hof hinunter, wo sich bereits eine Schar von Kranken beiderlei Geschlechtes, wohl in gleicher Absicht, eingefunden hatte. Wir mußten uns lange gedulden. Endlich kam sie, von einer jüngeren Ordensschwester, dem Direktor der Anstalt und den Ärzten begleitet, die Treppe herunter. Ruhig und würdevoll, die ernsten blauen Augen vor sich hingerichtet, durchschritt sie die Reihen der Harrenden, mit leisem Senken des Hauptes dargebrachte Grüße erwidernd. Die Flucht der Jahre hatte ihrem Antlitz bis auf einige Fältchen um den Mund keinerlei Spuren eingedrückt, vielmehr erschien sie jetzt in erhabener, vergeistigter Schönheit, mit welcher die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder und das goldene Kreuz vor der Brust in ergreifendem Einklange standen. Draußen wurde der Kutschenschlag geöffnet – und die Oberin fuhr durch das Menschengewühl belebter Gassen ihrem Kloster zu, das, wie ich später sehen konnte, am äußersten Ende der Stadt auf einer sanften, wipfelbeschatteten Anhöhe lag. Zweiter Teil Vae victis! In der Wohnung des Generals Ludwig Baron Brandenberg war die Dienerschaft mit vollem Eifer tätig, den Salon und die anstoßenden Gemächer zum Empfang einer großen Gesellschaft, welche sich heute abends hier versammeln sollte, instand zu setzen. Inmitten dieser Vorbereitungen bewegte sich die Hausfrau, eine junge Dame von auffallender Schönheit, das dichte, hellblonde Haar mit einem weißen Morgenhäubchen leicht bedeckt, lenkend und anordnend hin und her, und die kurzen Weisungen, die sie mit lauter Stimme erteilte, zeigten, daß sie des Befehlens gewohnt war. In der Tat sprach sich in ihren etwas scharf geschnittenen Zügen ein fester, unbeugsamer Wille aus, und in der Lippenbildung des rosigen Mundes lag eine gewisse Härte, während die dunklen Augen ebenso bereit erschienen, in eisiger Verachtung zu blicken wie rasche Zornblitze zu schleudern. Es waren, das fühlte man, vernichtende Augen für alle diejenigen, welche von ihnen nicht gerne gesehen wurden, wenn sie vielleicht auch sonst das süßeste Feuer leidenschaftlicher Zärtlichkeit auszustrahlen vermochten. Endlich hatten die Leute ihr Werk vollbracht. Alles war aufs zweckmäßigste geordnet, aufs schönste und geschmackvollste entfaltet; nichts fehlte als die Dunkelheit, um die Lichter anzünden zu können. Als Zierde des Ganzen jedoch erschien ein kleiner, reizender Wintergarten, den man hinter dem Speisezimmer improvisiert hatte und in welchem jetzt die schöne Frau mit ihren schmalen Händen noch hier und dort ein Blatt zurechtbog oder geschädigte Blüten entfernte. Sichtlich befriedigt durchschritt sie hierauf die übrigen Räume, trat im Salon an ein Fenster und lehnte die weiße glatte Stirn gegen die Scheiben. Das Haus, dessen zweites Stockwerk sie mit ihrem Gatten bewohnte, lag am Rande des ehemaligen Josefstädter Glacis und ging mit seiner Vorderseite auf jene geräumige Fläche hinaus, woselbst sich nunmehr, inmitten wohlgepflegter Anlagen, die bedeutendsten öffentlichen Gebäude Neu-Wiens erheben. Damals jedoch gewahrte man dort bloß eine steppenartige, von vielfachen Fußpfaden durchkreuzte Wiese, auf welcher vormittags die Truppen der Garnison ihre Übungen vornahmen, nachmittags aber bis in den späten Abend hinein ein Heer von Kindern sein fröhliches Wesen trieb. Dahinter erhoben sich mit einem Bruchstücke der alten Bastei die düsteren Häusermassen und ragenden Turmspitzen der Stadt; nach rechts hin zeigten bereits zahlreiche Baugerüste die werdende Ringstraße an, und links kamen, über die ersten Anfänge der Votivkirche und die Dächer der Alservorstadt hinweg, die anmutigen Höhenzüge des Wienerwaldes zum Vorschein. Es war in der zweiten Hälfte des März, und der Tag hatte sich herrlich angelassen. Die Menschen waren am Morgen von funkelnden Sonnenstrahlen geweckt und, als sie aus den Häusern traten, von lauen, nach Veilchen duftenden Lüften geküßt worden; nun aber hatte sich plötzlich ein rauher Nordwind erhoben und trieb schweres, düsteres Gewölk vor sich hin, aus dem alsbald dichter Schneeregen auf die Stadt niederwirbelte. Die junge Frau am Fenster schien es jedoch nicht zu bemerken; sie blickte vielmehr in das unfreundliche Gestöber mit stillem Lächeln und leuchtenden Augen wie in eine goldige Zukunftswolke hinein. Von der ziemlich stillen Straße herauf wurde jetzt der Hufschlag von Pferden vernehmbar; ein Zeichen, daß der General, welcher mit seiner Brigade schon früh am Tage zu einem außergewöhnlichen Feldmanöver aufgebrochen war, in Begleitung seines Adjutanten nach Hause zurückkehre. Seine Gemahlin jedoch schien ihn nicht allzu sehnsüchtig erwartet zu haben. Denn diese trat jetzt, indem sich ihr Antlitz verfinsterte, rasch vom Fenster zurück und begab sich nach ihrem Zimmer, wo sie sich in einen Fauteuil warf und ein Buch zur Hand nahm. Inzwischen hatte sich der General unten am Tore von dem jungen Offizier verabschiedet, der hierauf sein Pferd in einen raschen Trab setzte, während der Chef langsam in den Hof ritt, wo er abstieg, die Zügel dem nachfolgenden Reitknechte zuwarf und dann, die zerrinnenden Schneeflocken von sich schüttelnd, nachdenklich die Treppe hinanschritt. Er mochte in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stehen. Seine Haare waren bereits leicht ergraut; aber sein hoher, schlanker Wuchs hatte noch etwas Jugendliches, und das schmale, längliche Gesicht schimmerte edel unter dem betreßten, vom grünen Federbusch umwallten Hute hervor. In der Wohnung angelangt, blieb er im Eintrittszimmer, das nach links die Flucht der festlichen Gemächer eröffnete, stehen und ließ, wie um seine Ankunft kundzugeben, den Säbel leicht an die Sporen klingen. Da alles still blieb, wandte er sich nach rechts, durchschritt ein kleineres Zimmer und stand nun vor jenem seiner Frau. Er horchte eine Zeitlang, wobei sich in seinen Zügen ängstliche Spannung ausdrückte; dann klopfte er an die Tür. Drinnen regte sich nichts. Unschlüssig bewegte er sich hin und her, und schon war es, als wolle er sich nach einem Kampfe mit sich selbst wieder zurückziehen, als er ein scharfes »Nun?« vernahm. So wenig freundlich und einladend auch dieses Nun erklang: für den General mußte es ein erlösendes Wort gewesen sein. Denn aufatmend trat er mit raschen Schritten und vorgestreckter Rechten in das Zimmer. »Guten Morgen, Corona«, sagte er herzlich – »oder guten Tag, wie du willst. Ich habe heute schon so zeitig das Haus verlassen, daß ich dich noch gar nicht begrüßen konnte.« Und dabei wollte er den Arm sanft um ihre Schultern legen und seine Lippen dem blassen Gold ihrer Haare nähern. Sie sprang auf, und hätte er den Arm nicht sogleich wieder sinken lassen, sie würde ihn, das sah man, von sich gestoßen haben. »Laß mich – ich bitte dich«, sagte sie mit zornfunkelnden Augen. »Du weißt, daß ich derlei Zärtlichkeiten nicht liebe.« Er war erbleichend einen Schritt zurückgetreten. »Zärtlichkeiten« – wiederholte er tonlos. »Darf ich dich nicht einmal mehr auf die Stirn küssen?« Sie erwiderte nichts; aber ihre Oberlippe zog sich verächtlich empor, so daß die schimmernden Zähne zum Vorschein kamen. »Sprechen wir nicht davon«, sagte sie endlich, und in einen gewöhnlichen Ton übergehend, setzte sie hinzu: »Wir werden heute früher als sonst zu Tisch gehen, damit die Leute freie Hand bekommen.« Er hatte sich gewaltsam gefaßt. »Natürlich; sie haben ja heute wieder vollauf zu tun. Aber mir kann es recht sein«, fuhr er mit erzwungener Gleichgültigkeit fort, »ich habe acht Stunden im Sattel zugebracht und bin hungrig geworden.« Draußen im Vorzimmer ertönte die Klingel; gleich darauf erschien eine Zofe mit der Meldung, die Modistin sei gekommen. »Ah – das ist wichtig!« rief der General, indem er vor dem Mädchen eine scherzhafte Miene annahm. »Da darf ich nicht stören. Auf Wiedersehen bei Tisch!« Und mit einer Gebärde, die leichtfertig erscheinen sollte, verließ er das Gemach. Kaum aber hatte er dieses hinter sich, als ein unsäglich schmerzlicher Zug in seinem Antlitz zum Vorschein kam, und mit gesenktem Haupte schritt er durch eine Tapetentür und einen schmalen Korridor nach seinem Zimmer, das sich am anderen Ende der Wohnung befand. Dort legte er Hut und Säbel ab und starrte wie gedankenlos in die weißen Flocken hinein, die noch immer an den Scheiben vorüberwirbelten. Die Tritte eines Dieners, der ihn zu Tisch rief, weckten ihn aus seiner Betäubung. Es war heute in einem kleinen entlegenen Zimmer gedeckt worden, das man in der Regel wenig benützte; daher nahm sich alles ungewohnt und wenig behaglich aus. Das erste Gericht stand schon bereit; Corona jedoch war nicht zugegen. Endlich erschien sie. Ihre rechte Wange war bis in die Schläfe hinein, nach welcher die junge Frau unwillkürlich mit der Hand griff, von einer flammenden Röte überzogen. Der Gatte mochte aus Erfahrung wissen, was das zu bedeuten habe, denn er fragte mit gedämpfter Stimme teilnehmend: »Ist etwas vorgefallen?« Ihr Auge blitzte ihn wild an; man wußte nicht, geschah es aus Zorn über die Frage, oder wirkte noch eine frühere Gemütsbewegung in ihr nach. »Ach, es ist um krank zu werden vor Ärger!« rief sie jetzt, indem sie sich am Tische niederließ. »Schon zweimal habe ich mein Kleid für heute abends zur Umänderung zurückgegeben, und noch immer taugt es nicht. Ich werde zu einem bereits getragenen meine Zuflucht nehmen müssen.« »Nun, das tut nichts«, erwiderte er mit einem innigen Blick, »du wirst unter allen Umständen schön sein.« Corona warf den Kopf zurück, und ihr feines weißes Gebiß zeigte sich wieder. Sie gehörte zu den stolzen Frauen, die es nicht ertragen, daß man ihre Eigenschaften preist. Tadel verachten sie; aber jedes Lob halten sie sofort für beabsichtigte Schmeichelei, die sie als Zumutung weiblicher Schwäche im tiefsten empört. »Gib dir keine Mühe«, sagte sie geringschätzend, »es nützt dir nichts.« Das Antlitz Brandenbergs verfinsterte sich, und seine hellblauen Augen schossen nun auch einen dunklen, zornigen Blick. »Das ist unwürdig, Corona«, versetzte er mit harter Stimme. »Sosehr du überzeugt sein kannst, daß ich alles anwenden möchte, deine Zuneigung zu erringen: eine solche Jämmerlichkeit mir zuzumuten, habe ich dir niemals Veranlassung gegeben. Ich war seit jeher gewohnt, zu reden, wie es mir ums Herz ist, und diesem Zuge meines Wesens folgend, habe ich gesagt, was alle Welt sagt, und wiederhole jetzt, daß du schön bist, ganz unbekümmert darum, ob es dir recht ist oder nicht. Verhehle ich doch ebensowenig, wie unerfreulich mir heute wieder die große Gesellschaft ist, die bei uns stattfindet.« Corona schwieg einen Augenblick; sie mochte fühlen, daß sie zu weit gegangen sei. Aber es war auch nur die Empfindung, sich eine Blöße gegeben zu haben, und keineswegs eingeschüchtert, griff sie jetzt um so eifriger nach der Gelegenheit, den Kampf fortzusetzen. »Und warum ist dir die Gesellschaft unerfreulich?« begann sie. »Ich habe auf dich die möglichste Rücksicht genommen, habe alle deine Freunde und Waffengefährten geladen. Daß die meisten absagen ließen, ist nicht meine Schuld.« »Aber es war vorauszusehen.« »Natürlich. Sie hassen und fliehen alles, was ihnen an Geist und Bildung überlegen ist.« »Das ist nicht wahr«, entgegnete er, ruhiger geworden, in ernstem und festem Tone. »Schnödes Junkertum war in der Armee stets nur als seltenster Ausnahmefall anzutreffen. Und wenn man bis jetzt, nur zum eigenen Nachteile, geistige Bestrebungen und wissenschaftliche Verdienste nicht hoch genug anschlug, so geschah es doch nur, weil man dafür andere Vorzüge in die Waagschale zu werfen hatte. Was übrigens meine Freunde betrifft, so würden sie alle schon im Hinblick auf mich erscheinen, wenn sie nicht die Gewißheit hätten, in meinem Hause mit einem Manne zusammenzutreffen –« er hielt inne. »Nun? Nun? Sprich es doch aus!« drängte sie mit weit geöffneten Augen. »In meinem Hause mit einem Manne zusammenzutreffen, der unlängst so rücksichtslos den Stand bloßgestellt, dem sie, gleich mir, seit ihrer Jugend angehören.« Sie lachte laut auf. »Rücksichtslos! Ihr wollt immer gehätschelt sein und fürchtet die Hand, die an die Krebsschäden eures Standes greift.« »Wir fürchten sie nicht«, sagte er, indem er das Haupt erhob. »Aber es muß eine kundige, nicht bloß verletzende Hand sein. Wir selbst sind die ersten, die fühlen, daß Reformen not tun; allein diese müssen von innen heraus vorgenommen werden. Was uns fehlt, sind Männer wie Scharnhorst und Gneisenau – und dein vielbewunderter Parlamentsredner ist noch lange kein Freiherr von Stein. Mit bloßen Budgetabstrichen ist hier nichts getan.« »Sie sind aber das wirksamste Mittel, euch vorläufig zur Besinnung zu bringen. Zudem ist in der Geldfrage jede andere enthalten.« »In der Tat, du sprichst wie ein Leitartikel.« »Die du in der Regel überschlägst. Ich aber lese sie und folge mit Bewunderung dem kühnen Vorgehen des Mannes, vor dessen Genius ihr zittert. Und je mehr ihr bemüht seid, ihn herabzuziehen, desto erhabener erscheint er in meinen Augen. Ganz abgesehen von seiner geistigen Begabung, besitzt er auch jene Eigenschaften des Charakters, welche allein den Mann machen: Entschlossenheit und Ausdauer. Seine Arbeitskraft ist unermüdlich; keine Stunde erscheint ihm zu früh, keine zu spät, wenn es seine Tätigkeit gilt. Ihr alle seid, mit ihm verglichen, Weichlinge. Hätte er sich dem Militär gewidmet, er wäre ein bedeutender Feldherr geworden und würde Österreich vor der Schmach von Magenta und Solferino bewahrt haben. Indes, sein Beruf ist ein anderer, und er geht einer großen Zukunft entgegen. Ihr aber habt samt und sonders keine mehr.« Der General hatte seine Frau mehrmals in dem leidenschaftlichen Flusse ihrer Rede unterbrechen wollen; jetzt aber zuckte er erbleichend zusammen. Das Wort erstarb auf seinen Lippen, und seine Augen senkten sich unwillkürlich. Corona fühlte, daß sie ihn tödlich getroffen. Sie schwieg jetzt gleichfalls und blickte ihn mit unverhohlener Grausamkeit triumphierend von der Seite an. Ja, sie ging sogar mit einem gewissen Behagen daran, etwas zu sich zu nehmen, was sie früher, während der Diener ab und zu ging und stellenweise das Gespräch unterbrach, kaum versucht hatte. Als der Kaffee gebracht wurde, rückte sie geräuschvoll ihren Stuhl und sagte, indem sie wieder an die Schläfe griff: »Ich habe Migräne und muß mich auf eine Stunde zur Ruhe begeben.« Damit ging sie. Ihr Gatte aber blieb noch eine Weile regungslos am Tische sitzen. Dann begab er sich, mechanisch eine Zigarre anbrennend, in sein Zimmer, wo er, wie im Innersten gebrochen, auf das Sofa sank und stumm dem Rauche nachsah, der sich leise gegen das Fenster hinzog. Draußen war es inzwischen wieder hell und freundlich geworden. Rötliche Wolken standen am blauen Himmel; die Turmknäufe blitzten und funkelten im Strahl der Nachmittagssonne; auf den Fenstersims kamen zwei Sperlinge geflogen und hüpften dort lustig zwitschernd auf und nieder. »Sie hat recht«, sagte er endlich tonlos, »ich habe keine Zukunft mehr ...........« Brandenberg hatte seit jeher zu den beliebtesten und hervorragendsten Offizieren der Armee gehört, und sein Dasein konnte bis vor nicht allzulanger Zeit ein äußerst glückliches genannt werden; denn schon vom Anbeginn fügte sich alles derart, daß er rasch und leicht der hohen Stellung entgegengeführt wurde, die er, verhältnismäßig noch jung an Jahren, einnahm. Als Sohn eines Hauptmanns, der in den Kriegen gegen Napoleon invalid geworden und ursprünglich Brandtner hieß, später aber das Adelsprädikat »von Brandenberg« annahm, hatte er seine Ausbildung in einer Militärakademie erhalten. Nachdem er diese als vorzüglicher Schüler verlassen, wurde er sogleich als Offizier in die Linie eingeteilt – und schon im Jahre achtundvierzig kämpfte er als Hauptmann unter den Fahnen Radetzkys in Italien, woselbst er sich durch eine glänzende und entscheidende Waffentat derart verdient machte, daß er mit der höchsten kriegerischen Auszeichnung, dem Theresienkreuze, belohnt wurde, das seinen Besitzer in den Freiherrnstand erhebt. Nunmehr drängte ihn das Glück rastlos vorwärts. Sobald er von der schweren Verwundung, die er zur selben Zeit erlitten, wiederhergestellt war, sah er sich als Major dem Generalstabe des Marschalls eingeteilt, fand dort noch mehrfach Gelegenheit, sich hervorzutun, und verließ ihn erst beim Eintritt völlig friedlicher Verhältnisse, um, mittlerweile zum Obersten vorgerückt, in Wien das Kommando eines Regiments zu übernehmen. Es war damals eine Zeit, wo der Militärstand sich des höchsten Ansehens erfreute. Alles übrige konnte sich nur bedingt und nebenher geltend machen; selbst die Bureaukratie, einst so mächtig im Staate, war dem Schwerte untergeordnet. Kein Wunder also, daß der Oberst Baron Brandenberg zu jenen Persönlichkeiten der Residenz gehörte, die am meisten ins Auge fielen. Um diese Zeit war es auch, daß ihm ein höherer Staatsbeamter ganz unumwunden den Antrag stellte, er möge seine Tochter zur Frau nehmen. Der Vater erklärte ohne Rückhalt, daß er für die junge Dame, die von mütterlicher Seite ein namhaftes Vermögen ererbt und ein nicht minder bedeutendes von einer dermalen in Paris lebenden Tante noch zu erwarten habe, nur deshalb eine passende Partie suche, weil er, als Witwer, sich selbst neuerdings zu verehelichen gedenke und in dieser Hinsicht bei dem sehr ausgeprägten und etwas hochfahrenden Charakter seiner Tochter häusliche Mißhelligkeiten befürchte. Niemand aber könne ihm als Eidam willkommener sein als der ritterliche Oberst, der in der Blüte seiner Jahre stehe und somit noch eine fast unbegrenzte Laufbahn vor sich habe. Brandenberg, der bereits selbst hin und wieder daran gedacht hatte, eine standesgemäße Ehe zu schließen, ergriff die sich darbietende Gelegenheit um so freudiger, als er beim ersten Anblick der schönen Corona geradezu bezaubert war und auch diese nach kurzer Bedenkzeit erklärte, sie sei bereit, ihm ihre Hand zu reichen. So fand denn die Verlobung und bald darauf die Trauung statt. Die Augustinerkirche bot fast nicht Raum genug, um die Scharen der Geladenen und Neugierigen in sich aufzunehmen, und man wurde nicht müde, das entzückende Aussehen der Braut, die vornehme Erscheinung des Bräutigams zu bewundern; ja selbst der Neid, obgleich er den bestehenden Altersunterschied keineswegs übersah, konnte nicht umhin, dem ausgezeichneten Paare eine glückliche Zukunft zu weissagen. Dessen ungeachtet ließ sich diese Ehe, die in der Folge kinderlos blieb, schon in der ersten Zeit nicht allzu erfreulich an. Es war, als könne sich die junge Frau in dem neuen Leben und den ungewohnten Verhältnissen nicht zurechtfinden. Das soldatische Wesen, das damals für die meisten ihrer Altersgenossinnen so viel Anziehendes hatte, schien sie in nächster Berührung mehr und mehr abzustoßen, so zwar, daß sie zuletzt immer schwerer zu bewegen war, Offiziere des Regiments, das Brandenberg befehligte, bei sich zu empfangen. Sie nannte die älteren, die sich gern als behagliche Lebemänner zeigten, roh und ungebildet, die jüngeren eitel und geckenhaft; wie sie denn überhaupt eine entschiedene Abneigung gegen alle Männer kundgab, die auf ihre äußere Erscheinung einiges Gewicht zu legen schienen. Dabei traten auch sonst immer schärfere Kanten und Ecken ihrer Natur zutage, besonders aber ein starrer, mit schroffem Widerspruchsgeiste gepaarter Eigenwille – und nebenher eine stets zunehmende, nachgerade verletzende Kälte gegen ihren Gatten, welch letztere diesen um so mehr befremden und verstimmen mußte, als er seit jeher gewohnt war, von den Frauen besonders ausgezeichnet zu werden. Dabei aber verliebte er sich, wie dies unter solchen Umständen der Fall zu sein pflegt, immer leidenschaftlicher in Corona, ohne es jedoch zu zeigen, ja sogar, ohne es sich selbst eingestehen zu wollen. So lebte das Paar unfroh und in wenig behaglicher Häuslichkeit dahin, als im Frühling des Jahres neunundfünfzig die Kriegserklärung an Piemont erfolgte. Brandenberg erhielt unter gleichzeitiger Beförderung zum General das Kommando einer Brigade und rückte nach Italien ab, während Corona auf die Dauer des Feldzuges in das väterliche Haus zurückkehrte, nachdem man sie nur mit Mühe hatte überzeugen können, daß es in diesem Augenblicke, wo Frankreich dem Feinde Österreichs zur Seite stand, für sie sehr unpassend sei, sich nach Paris zu begeben, was ihre ursprüngliche Absicht gewesen war. Der Ausbruch des Krieges, welcher bei der Bevölkerung ahnungsvolle Besorgnis wachrief, wurde von der Armee nach einem zehnjährigen Frieden mit Jubel begrüßt. Indem man sich an den früheren Erfolgen auf den italienischen Schlachtfeldern entzündete, gab man sich den ungemessensten Siegeshoffnungen hin, und leichten Mutes, als ginge es zu einem Übungsmanöver, zog man über die Alpen. Auch Brandenberg wurde von diesem allgemeinen Taumel mit fortgerissen, obgleich er eigentlich von Natur überlegend und bedachtsam war und überdies von den Fähigkeiten des Mannes, den man zum obersten Feldherrn ernannt hatte, keine allzu hohe Meinung hegte. Um so eindringlicher machte sich bei ihm die Enttäuschung geltend, die nun folgte, und nur das Bewußtsein, inmitten ratloser Operationen mit seinen Truppen das möglichste geleistet zu haben, ließ ihn die rasche und gänzliche Niederlage mit einiger Standhaftigkeit ertragen. Dennoch fühlte er, daß nach dem Friedensschlusse von Villafranca etwas in seinem Inneren gebrochen und vernichtet war, wie er denn auch in diesen Tagen die ersten grauen Haare an sich wahrnahm; und mit jener Gedrücktheit, welche ein wohlangelegtes Gemüt stets bei einer allgemeinen Verschuldung empfindet, kehrte er, nachdem er inzwischen an verschiedenen Orten kantoniert hatte, im Spätherbste nach Wien zurück, nicht ohne ein Gefühl von Beschämung, seiner Frau unter solchen Umständen vor Augen treten zu müssen. Denn Corona hatte gleich anfangs in ihrer gewohnten absprechenden Art die stolzen Siegeshoffnungen sehr in Zweifel gezogen, wie sie denn auch später in einem Briefe von Ischl aus, wo sie den Sommer zubrachte, von der eingetretenen Katastrophe wie von einer Tatsache sprach, die sich notwendigerweise habe vollziehen müssen. So war es ihm jetzt in gewissem Sinne nur erwünscht, daß sie das Vorgefallene mit geringschätzigem Schweigen überging; aber die Anstalten, die sie dabei in dem erneuten Hauswesen traf, zeigten ihm, wie sehr sich die Kluft, welche stets zwischen ihnen gelegen, während seiner Abwesenheit erweitert hatte. Corona war nämlich in Ischl mit einigen jener reichen jüdischen Familien bekannt geworden, welche, im Laufe der Zeit zu immer größerem Ansehen gelangend, in ihren glänzenden Wiener Salons alles um sich zu versammeln pflegten, was in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben Geltung besaß oder anstrebte. Auf das zuvorkommendste empfangen, berauscht von der Atmosphäre vornehmster Bildung, die ihr hier zum ersten Male entgegenwehte, fühlte Corona, wie sich ihr in dem reizend gelegenen Alpenbade ein ganz neuer Gesichtskreis erschloß, der sie um so mehr entzückte, als der in jenen Kreisen herrschende, zu geistvoll ätzendem Spotte verfeinerte Ton des Widerspruchs ihrem kalten, zu scharfer Kritik geneigten Verstande besonders zusagte. Bei diesem anregenden, durch neu hinzutretende Erscheinungen immer belebteren Verkehr schwanden der jungen Frau die Wochen und Monde wie ein schöner Traum dahin, und als endlich die Rückkehr nach der Hauptstadt bevorstand, war sie entschlossen, diese neuen Beziehungen nicht bloß festzuhalten, sondern auch, indem sie ihr Haus gleichfalls zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkte umzuschaffen gedachte, nach Möglichkeit zu erweitern. Sie hatte daher in dieser Hinsicht das Eintreffen ihres Gatten mit einiger Ungeduld abgewartet und schritt nun sogleich ans Werk, natürlich ohne ihn um seine Zustimmung zu fragen, die er, nachgiebig, wie er bereits geworden war, um so weniger würde verweigert haben, als er weltmännische Eigenschaften genug besaß, um auch seinerseits an einem solchen Verkehre Gefallen zu finden. Da er aber bald zu bemerken glaubte, daß er fast von allen, die jetzt seine Schwelle betraten, mit einer Art geringschätzenden Wohlwollens bloß als Mann seiner Frau betrachtet wurde, von dessen Bedeutung man schon von vorneherein keine allzu große Meinung zu hegen brauchte, so kehrte er – was sonst nicht in seinem Wesen lag – ziemlich unklug dem geistigen Hochmut den Hochmut seines Standes entgegen und blieb, wenn seine Gegenwart nicht zu einer unumgänglichen gesellschaftlichen Pflicht wurde, auf seinem Zimmer oder ging ins Kasino, wobei ihn jedoch mehr und mehr ein bitteres Gefühl der Vereinsamung beschlich. Trotzdem konnte die Ehe noch immer keine geradezu unglückliche genannt werden. Denn obwohl Corona ihr kaltes und zurückhaltendes Benehmen aufrecht erhielt, so gab sie ihrem Gatten doch keinen Grund zu wirklicher Eifersucht. Es wurde ihr zwar von vielen Seiten entschieden gehuldigt; aber sie war von den selbstgeschaffenen neuen Verhältnissen derart befriedigt, daß sie es gar nicht zu bemerken schien, und ihre Liebenswürdigkeit – sie konnte, wenn sie wollte, sehr liebenswürdig sein – blieb eine allgemeine, dergestalt, daß sich niemand besonderer Auszeichnung, geschweige denn eines Entgegenkommens hätte rühmen können. Diese für Brandenberg ziemlich beruhigende Sachlage schlug aber mit einemmal in ihr Gegenteil um, als sich im Laufe des nächsten Jahres der Gesellschaftskreis seiner Frau um einen Mann bereicherte, der zu den hervorragendsten Erscheinungen jener Tage gehörte. Die mittlerweile ins Leben getretene Verfassung hatte nämlich die allgemeine Aufmerksamkeit den beiden Häusern des Reichsrates, namentlich aber dem Hause der Abgeordneten zugelenkt. Unter den Stimmführern, die sich in letzterem besonders bemerkbar machten, war auch ein Doktor der Rechte, der sich, nachdem er schon als ganz junger Mann im Jahre achtundvierzig eine gewisse Rolle gespielt, als Advokat niedergelassen hatte, wobei er jedoch hinter seinen Prozeßakten den Gang der Ereignisse mit leidenschaftlicher Spannung verfolgte und ungeduldig den Augenblick vorausberechnete, der einen Umschlag herbeiführen und ihm vergönnen würde, in ein neues Staatswesen tätig mit einzugreifen. Dies war nun geschehen, und mit unerbittlicher, sarkastischer Logik legte er die Schäden des früheren Systems bloß, das er bis auf die letzten Spuren vernichtet wissen wollte. Daher waren auch die Galerien überfüllt, sobald man erfuhr, daß der berühmte Doktor, der so scharf ins Zeug ging, heute sprechen werde. Und in der Tat war es von hinreißender Wirkung, wenn sich der breitschulterige Mann mit dem mächtigen Haupte von seinem Sitz erhob und mit weithin tönender Stimme hastig seine Auseinandersetzungen begann, bis endlich, während seine großen, etwas hervorstehenden Augen wundersam zu leuchten begannen, die Rede in einen wahren Sturmwind überging, der alle Einwürfe der Minister wie Spreu aufwirbelte und mit sich fortriß. In einem solchen Moment hatte ihn Corona, die mit einigen befreundeten Damen das Haus besuchte, zum ersten Male gesehen. Der Eindruck war ein so mächtiger gewesen, wie sie noch keinen im Leben empfangen, und sogleich stand in ihr der Vorsatz fest, mit diesem Manne näher bekannt zu werden. Das aber schien mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Denn auf ihre Nachfrage erhielt sie die Mitteilung, daß der Vielbeschäftigte nur sehr ungern neue gesellige Beziehungen anknüpfte. Indes fügte es der Zufall, daß sie mit ihm bald darauf an einem dritten Orte zusammentraf, und der Doktor, der unverehelicht war, schien von den begeisterten Huldigungen, die sie ihm darbrachte, derart bezaubert zu werden, daß er nicht bloß ihre Einladung annahm, sondern auch mit der schönen Frau, an der er ein so lebhaftes Interesse für öffentliche Angelegenheiten wahrnahm, in regen Verkehr trat. Er ergriff mit freudigem Stolz die Gelegenheit, ihr geistiger Führer und Lenker zu sein, versorgte sie mit einschlägigen Büchern und brachte bald fast jede Stunde des Tages, die er sich abringen konnte, bei ihr zu, ignorierte aber ihren Gatten, mit welchem er allerdings selten genug zusammentraf, fast gänzlich. Ein gleiches Verhalten beobachtete Brandenberg aus Stolz ihm gegenüber, obwohl er seit einer öffentlichen Debatte über den Militäretat, bei der der Doktor nicht bloß die Verwaltung der Armee, sondern auch diese selbst in ihren höheren Vertretern auf das schneidendste angegriffen hatte, seiner nicht mehr ganz mächtig war und um so mehr unter den Qualen gewaltsam verhehlter Eifersucht litt, als Corona jetzt kaum mehr gestatten wollte, daß er auch nur ihre Hand berühre. Dennoch würde er sich vielleicht in irgendeiner Weise aus diesem unwürdigen und aufreibenden Zustande befreit haben, wenn nicht auch nach anderer Seite hin der Boden unter seinen Füßen schwankend geworden wäre. Es hatte sich nämlich bereits in der Armee selbst ein hastiger, unruhiger Drang, zu verbessern und umzugestalten, bemerkbar gemacht, und einige Ehrsüchtige nahmen die Gelegenheit wahr, sich mit Neuerungsvorschlägen in Gunst und Ansehen zu bringen, wobei sie alles zu entfernen trachteten, was ihren Bestrebungen im Wege stand oder möglicherweise zu stehen schien. So war es gekommen, daß in letzter Zeit viele höhere und durch namhafte Verdienste ausgezeichnete Offiziere über Nacht in den Ruhestand versetzt wurden, nur weil man annahm, daß sie sich in der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr würden zurechtfinden können. Brandenberg, der infolge seines menschenfreundlichen Wesens bei Untergebenen sehr beliebt war und auch nach obenhin nur wenige Feinde besaß, war bis jetzt von diesen gewaltsamen Eingriffen verschont geblieben. Aber er konnte doch allmählich gewahr werden, daß sich um ihn her eine Veränderung vollziehe. Mancher von den Emporstrebenden fing an, ihn mit scheelem Auge zu betrachten, und da auch hin und wieder solche, die mit ihm näher befreundet waren, ein gleiches Schicksal fürchtend, sich leise von ihm zurückzogen, so konnte er daraus schließen, daß sein Ansehen in Abnahme begriffen und auch er maßgebenden Ortes nachgerade zu einer persona ingrata geworden war. Hatte doch heute beim Manöver der Höchstkommandierende selbst die Dispositionen des Brigadiers nicht entsprechend gefunden und seiner Unzufriedenheit in sehr scharfen, fast beleidigenden Worten des Tadels Ausdruck verliehen .......... Das war es, was Brandenberg in voller Tragweite vor die Seele trat, als er tonlos vor sich hin sprach: »Sie hat recht, ich habe keine Zukunft mehr.« Die Zigarre war erloschen. Eine tiefe, unsägliche Müdigkeit überkam ihn, der er wider Willen nachgab. Seine Augen schlossen sich – und bald hatte der Schlaf mit sanftem Nahen die drückende Gedankenlast von ihm genommen. Als er erwachte, war es bereits dunkel geworden. Er machte Licht und sah nach der Uhr; die Stunde, um welche man die Geladenen erwarten konnte, rückte heran. Mit einem schweren Seufzer erhob er sich und begann, während ihn wieder das Vollbewußtsein seiner Lage überfiel, sich langsam umzukleiden. Ein bitteres Lächeln umzuckte seine Lippen, als ihm der herbeigerufene Diener die glänzende Uniform hinreichte, deren linke Brustseite eine Reihe von Orden aufwies. Welch ein Kontrast zwischen den trostlosen Empfindungen, die er im Inneren barg – und diesen prunkenden äußeren Ehrenzeichen! Mit rascher Hand löste er sie alle ab, bis auf das kleine weiße Kreuz an rotem Bande, das er mit seinem Blut erkauft hatte. O, warum hatte die Kugel, die ihm damals die Schulter zerschmetterte, nicht sein Herz durchbohrt! Ihm wäre jetzt wohl! Gestorben wäre er den ehrlichen Soldatentod, läge tief und still gebettet an den Ufern des Po – und wüßte von nichts .......... Endlich begab er sich durch den dunkelnden Gang in den Salon, der bereits erwartungsvoll im Lichterglanz strahlte. Unwillkürlich nahm jetzt der General die gewohnte militärische Haltung an, und wer ihn so würde gesehen haben, wie er mit seiner hohen Gestalt, den feinen Schnurrbart leicht nach aufwärts gestrichen, über das glatte Parkett schritt, der hätte nimmermehr den Bruch seiner Seele geahnt und ihn vielmehr für einen Glücklichen auf den Gipfeln des Daseins gehalten. Er selbst erschrak, als er zufällig in einen Spiegel blickte, vor seinem eigenen Bilde wie vor etwas Fremdem. Hinter ihm rauschte es. Er wandte sich um und gewahrte seine Frau, die in einem Kleide von rotem Sammet wundervoll aussah. Mit ihren dunklen Augen und den lichten, schimmernden Haaren, die sie heute nahezu gelöst trug, glich sie jenen entzückenden Gestalten, welche einst der ältere Palma gemalt. Und diese blendende Fülle von Reizen, dieser wonnige Leib, nach dem er verschmachtete, war sein – sein vor Gott und der Welt – und doch ihm verwehrt, verwehrt für immer! Es war ein Bewußtsein, um lautlos darüber zu sterben – oder auszubrechen in ein Gelächter des Wahnsinns .......... Aber er bezwang sich, und so gingen die beiden Gatten schweigend in verschiedenen Richtungen auf und nieder, wobei Corona lange weiße Handschuhe an den herrlichen Armen hinaufzog und dann zuweilen, wie in nervöser Ungeduld, ihr funkelndes Geschmeide zurechtschob. Jetzt klirrte es im Vorzimmer von Säbeln, und eine kleine Schar junger Offiziere trat ein, fast durchweg schlanke, wohlgebildete Erscheinungen, mit einem angenehmen Zug von Offenheit und Herzensgüte im Antlitz. Sie gehörten auch zu denjenigen, die Corona aus Rücksicht für ihren Gatten geladen hatte, und verbeugten sich, indem sie die Fersen aneinanderschlugen, wie auf Kommando vor dem General, der sie mit freundlichem Lächeln und einigen herzlichen Worten empfing, während sich seine Gemahlin mit einem stolzen Kopfnicken begnügte. Sie zogen sich auch alsbald in eine Ecke des Salons zurück, wo sie eine erwartungsvolle Gruppe bildeten, nicht ohne selbstzufriedene Blicke nach rechts und links in die Spiegel zu werfen. Denn vermöge ihrer noch geringen Welterfahrung hielten sie dafür, daß sorgfältig gescheiteltes Haar und zierliche Lackstiefel untrügliche Mittel seien, jedes Frauenherz zu gewinnen. Die Glücklichen! Sie ahnten noch nicht die Abgrundtiefe weiblicher Empfindung, nicht den furchtbaren Ernst jener dunklen Naturgewalt, die im Leben unter so unfaßbaren Widersprüchen zutage tritt und von den Menschen Liebe genannt wird .......... Nach und nach fanden sich nun auch die übrigen Geladenen ein: Gelehrte und Professoren mit ihren Frauen und Töchtern, jüngere Doktoren aller Fakultäten, Künstler und Schriftsteller. Dazwischen, zahlreiche Orden vor der Brust, einige hohe Militärs, Diplomaten und Staatsbeamte – unter den letzteren auch der Vater Coronas, ein hagerer, vertrockneter Herr mit mühsam verkämmter Glatze; und endlich, ziemlich zahlreich, hervorragende Vertreter der Geldaristokratie mit ihren Familien. Die Söhne, ernst und klug blickende junge Männer von feinem, zurückhaltendem Wesen, denen man ansah, daß sie zum größten Teil bereits dem Gotte Merkur abgeschworen und sich der helläugigen Athene geweiht hatten; die Frauen und Mädchen in kostbarer Kleiderpracht, strahlend von Diamanten und Perlen. Einige mit scharf geschwungenen Nasen, tiefdunklen Haaren und Augen, echt biblische Schönheiten, während sich bei anderen die Rassemerkmale schon ziemlich verwischt hatten und erst bei näherer Betrachtung in reizenden Spielarten von braun und blond zutage traten. So entwickelte sich denn allgemach, indem sich die Anwesenden nach allen Seiten hin in sitzende und stehende Gruppen verteilten, jene eigentümliche, duftig schwüle und von verworrenem Stimmengeräusch durchzogene Atmosphäre, die etwas Aufregendes und Abspannendes zugleich hat; so zwar, daß man sich oft mitten im Gespräch nicht erwehren kann, durch die Nasenflügel zu gähnen. Corona bewegte sich als Hausfrau in liebenswürdigster Weise bald hierhin, bald dorthin. Aber man konnte bemerken, wie sie dabei stets nach der Tür blickte, um den Mann eintreten zu sehen, den sie vor allen anderen herbeigewünscht hatte. Indes war es nur selbstverständlich, daß der so sehr in Anspruch Genommene auf sich warten ließ. War doch heute abends, das wußte Corona, wieder Klubsitzung; der Vorlagen und Einläufe gar nicht zu gedenken, die sich, wie er sagte, auf seinem Schreibtische täglich zu kleinen Bergen aufsammelten und welche alle erledigt sein wollten. Endlich – endlich trat er ein. Man sah, daß er unmittelbar von der Arbeit weg in den Frack geschlüpft sein mußte. Sein Haar war verworren, seine Wäsche zerknittert, und die Beschuhung wies den Staub des Tages auf. Aber man beachtete dies alles gar nicht, als er jetzt in seiner imposanten Männlichkeit auf Corona zuschritt, ihr kräftig die Hand schüttelte und dann, mit raschen Blicken die Versammelten überfliegend, an ihrer Seite durch den Salon ging, um sich mit seiner Begleiterin in einem Kreise von Herren und Damen niederzulassen. Auch Brandenberg hatte dem Erscheinen des Doktors in unruhiger Spannung entgegengesehen und sich darauf vorzubereiten gesucht. Dennoch konnte er, eben im Gespräch mit einigen Stabsoffizieren begriffen, an welchen er heute eine eigentümlich verlegene Zurückhaltung zu bemerken glaubte, kaum seine äußere Fassung bewahren. Er fühlte, wie er sich entfärbt hatte, als auch er dem Eintretenden anstandshalber ein paar Schritte entgegengetan. In diesem Augenblicke näherte sich ihm eine ältere Dame, die ein unmodisches violettes Seidenkleid und einen turbanähnlichen Kopfputz von gleicher Farbe trug. Diese Dame, die Gattin eines Hofrates, stand in dem Ruf großer Gelehrsamkeit, obgleich sie es im allgemeinen liebte, vor der Welt eine gewisse hausmütterliche Einfalt zur Schau zu tragen und ihr Licht mehr auf Umwegen, dann aber um so überraschender und eindringlicher aufleuchten zu lassen. Ein solches Verfahren beobachtete sie auch Brandenberg gegenüber, den sie in besondere Affektion genommen zu haben schien; sei es nun, daß sie ihn für die geringe Aufmerksamkeit, die ihm von den übrigen zuteil wurde, zu entschädigen gedachte oder weil sie ihn ihre Überlegenheit sozusagen hinterrücks wollte fühlen lassen. So hatte sie schon mehrmals die Gespräche, in welche sie ihn zog, auf historisch denkwürdige Kriegsereignisse gelenkt und ihn hierüber, indem sie die Miene weiblicher Verständnislosigkeit in solchen Dingen vornahm, um Aufklärung gebeten, wobei sich jedoch am Schlusse stets herausstellte, daß sie in der Kriegsgeschichte, von Alexander bis auf Napoleon, eigentlich besser bewandert sei als er selbst. Heute nun trat sie, gewissermaßen ängstlich zurückhaltend, mit der Frage an ihn heran, was denn eigentlich unter der sogenannten »Stoßtaktik« zu verstehen sei, die nunmehr, wie sie in den Zeitungen gelesen, bei der Armee eingeführt werden sollte. Brandenberg, den jetzt begreiflicherweise ganz andere Dinge beschäftigten, versuchte gleichwohl eine Erklärung; die Dame jedoch hörte nur mit halbem Ohre zu und sprach sich alsbald dahin aus, wie lehrreich es sei, den Wechsel zu verfolgen, der sich in der Art der Kriegsführung und Bewaffnung im Laufe der Jahrhunderte vollzogen. Und indem sie von der Phalanx der alten Griechen, von den Ballisten und Katapulten der Römer ausging, gelangte sie mit einer ebenso kühnen wie prachtvollen Wendung auf die Schlacht von Valmy, welche bekanntlich nur in einer unausgesetzten, von dem großen Goethe in ihren Wirkungen selbst beobachteten Kanonade bestanden habe. Und da sie, nun einmal im Zuge, den Namen Goethe genannt hatte, so erging sie sich über Werther und Faust, über Egmont und Tasso – und verweilte endlich bei den Wahlverwandtschaften, welche der General, wie sie etwas zweifelhaft betonte, wohl werde gelesen haben. Und als Brandenberg, einigermaßen betroffen, dies bejahte, so fragte sie ihn, indem sie die Augen niederschlug, ob denn auch er diesen Roman für so unsittlich halte, wie er im allgemeinen gelte. Was nun ihre Person beträfe, so habe sie ihn wohl in früheren Jahren nicht ohne leises Mißbehagen und geheimen Widerspruch ihres Herzens zu lesen vermocht; seit sie aber älter geworden und – sie seufzte dabei – tiefere Blicke ins Leben getan, sei ihr leider klargeworden, daß in einer Ehe, die nicht auf so vollkommen harmonischer Übereinstimmung beruhe wie diejenige, in der sie selbst mit ihrem Gatten lebe, derlei Wandlungen und Konflikte recht wohl Platz greifen könnten. Diese Bemerkung, die möglicherweise ganz ohne Hintergedanken ausgesprochen wurde, traf Brandenberg ins Innerste. Sie erschien ihm wie eine versteckte und boshafte Anspielung auf seine eigenen Eheverhältnisse, und was er jetzt erwiderte, mochte wohl derart gewesen sein, daß die Frau Hofrätin einigen Grund hatte, ihn erstaunt anzusehen. Zum Glück entstand jetzt eine Bewegung im Salon. Ein junger, fremdländischer Tonkünstler, dessen späterer Ruhm damals eben im ersten Aufgange stand, war an den Flügel getreten, ein Zeichen, daß er die Absicht habe, einiges vorzutragen. Während des allgemeinen Stuhlrückens, Platzwechselns und – suchens, das nun erfolgte, gelang es Brandenberg, sich von der Dame zu trennen und unbemerkt in das anstoßende Zimmer zu entkommen, wo einige ältere Herren beim Whist saßen. Er sah ein paar Augenblicke mit geheuchelter Teilnahme dem Spiele zu; dann begab er sich durch das Speisezimmer, wo man bereits für das Souper gedeckt hatte, in den Wintergarten. Dort war es still und einsam; dort konnte er, indem er sich in ein künstliches Gebüsch von hochstämmigen Kamelien und Azaleen zurückzog, ungestört in die Qual seiner Empfindungen versinken. Inzwischen hatte der Virtuose mit einer Sonate Beethovens begonnen, die er mit solcher Meisterschaft vortrug, daß am Schlusse stürmischer Beifall losbrach. Dieser Lärm weckte Brandenberg, an dem das herrliche Tonstück ungehört vorübergerauscht war, aus seiner Erstarrung, und schon wollte er in den Salon zurückkehren, als plötzlich wieder erwartungsvolle Stille eintrat. Selbst die Herren, welche bei den Karten saßen, erhoben sich leise und schritten auf den Fußspitzen in den Salon, um den Spielenden von Angesicht sehen zu können, der sich nun selbst als Komponist zu zeigen gedachte. Er begann mit Variationen eines russischen Volksliedes, dem er einst in seiner Heimat gelauscht haben mochte, und von den Klängen, die jetzt herüberquollen, fühlte sich Brandenberg mit einem Male gefesselt. Sie huben eintönig an, tief klagend, zum Sterben traurig. Dann zuckten wilde Blitze des Schmerzes auf, zuerst vereinzelt, doch immer rascher, immer heftiger, bis sie endlich gleichsam in sich selbst erstickten und die Melodie nach dumpfem Grollen wieder in öde Trauer zurücksank. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm. Ja, so sah es in seiner eigenen Brust aus! So empfand, litt, stritt und verzweifelte er seit Wochen und Monden! Wehmütig lauschend saß er da, regungslos wie die fremdartige Blütenpracht des Wintergartens, die ihn geheimnisvoll umschwieg. Plötzlich vernahm er gedämpfte Tritte, geflüsterte Worte, und erkannte die allmählich lauter werdende Stimme seiner Frau. »Es bleibt dabei«, sagte Corona, indem sie mit dem Doktor hereintrat; »ich reise für einige Zeit nach Paris. So wird jedes Aufsehen vermieden. Auch ist es mir nicht länger möglich, mit ihm unter einem Dache zu leben.« »Und wenn er Einwendungen erhebt?« fragte der Doktor leichthin. »Er wird es nicht, denn er besitzt den Stolz der Schwäche. Hat er es doch sogar bis jetzt verschmäht, meinen Vater ins Vertrauen zu ziehen. Und ich wüßte nicht, wer mich zwingen könnte, an seiner Seite zu verbleiben.« »Allerdings. Aber die gerichtliche Scheidung, auf die es doch eigentlich ankommt, könnte durch Ihre Abwesenheit erschwert und verzögert werden. Übrigens bin ich in der Lage, Ihnen mitteilen zu können, daß er schon in den nächsten Tagen außer Dienst gesetzt werden wird. Ich habe es heute zufälligerweise im Kriegsministerium erfahren.« »Das ist gut; ich habe nur darauf gewartet. Nun ist es aus mit ihm, und er soll sehen, wie er sich zurechtfindet.« »Er kann es auch leicht. Sein Ruhegehalt sichert ihm ein behagliches Dasein. Wenn es nach meinem Sinn ginge, so müßten derlei Leute, die es durch glückliche Zufälle zu hohen Stellungen gebracht haben, ohne denselben gewachsen zu sein, Wolle spinnen, statt sich aus dem Staatssäckel reichlich füttern zu lassen. Aber das soll und wird sich jedenfalls ändern mit vielem anderen, teuerste Corona – auch mit den Ehegesetzen. Freilich nicht so rasch, wie es in unseren Wünschen liegt.« »Je nun, wir lieben uns; das Weitere wird sich finden. Und was auch geschehen möge, Sie wissen, daß ich die Ihre bin – die Ihre für ewig!« Sie schlang die weißen Arme leidenschaftlich um seinen breiten Nacken und küßte ihn. »Aber jetzt kommen Sie«, fuhr sie fort, da drinnen wieder Applaus ertönte, »man könnte uns sonst vermissen.« Während dieses Gespräches war Brandenberg mit stockendem Atem in seiner früheren Regungslosigkeit verblieben. Mehr als einmal zwar hatte er aufspringen und den beiden entgegentreten wollen. Aber die entsetzliche Unmittelbarkeit der Verachtung, mit der sie sich über ihn ausließen, brachte, wie das Haupt der Gorgo, eine versteinernde Wirkung hervor; zudem fühlte er instinktmäßig, daß sein Erscheinen einen Eklat hervorrufen müßte, der ihn nur noch mehr bloßstellen würde. Mit dem Trieb der Selbsterhaltung suchte er daher für jetzt das Gehörte in sich zu übertäuben, indem er sich zwang, in den Salon zurückzukehren und dort eine stolze, unbeirrte Haltung anzunehmen. Aber die ungeheure Schmach fraß an seinem Innern fort und raubte ihm fast das Bewußtsein. Wie hinter Schleiern bewegten sich die Gestalten um ihn her, und er sah und hörte es kaum, daß jetzt ein junges Mädchen, schön wie Esther, an das Klavier trat und mit entzückender Stimme Lieder von Schubert und Mendelssohn sang. Dem Nachtwandler gleich, der mit verschlossenen Sinnen Handlungen des wachen Zustandes verrichtet, gab er, als man zum Souper ging, einer Dame, die er als Hausherr voranführen mußte, den Arm und hatte keine Empfindung von dem, was er tat oder sprach, als er an ihrer Seite den Wirt machte, während in der Runde Schüsseln und Teller klirrten und der durchsichtige Wein in den Gläsern perlte. Und als sich hierauf ein Teil der Gesellschaft, fröhlich angeregt, in den Wintergarten begab, da schien ihm der aufrechte, schlanke Mann in Generalsuniform, der den Herren Zigarren anbot und später die nach und nach sich entfernenden Gäste zur Tür geleitete, sein Doppelgänger zu sein – bis er sich endlich, wie aus einem Traume erwachend, ganz allein in dem stillen, dunklen, verödeten Salon sitzen fand. Ein Diener, der die letzte Lampe forttrug, sah ihn fragend an. Er folgte ihm und ließ sich auf sein Zimmer leuchten. Dort sagte er, daß er nichts weiter benötige und sich allein auskleiden werde. Nachdem er eine Zeitlang auf und nieder gegangen war, trat er vor ein Kästchen aus Ebenholz hin, das auf seinem Schreibtische stand. Er schlug den Deckel zurück und ließ den Blick nachdenklich auf zwei zierlich gearbeiteten Pistolen ruhen, die in dem Kästchen lagen und welche er schon seit vielen Jahren besaß. Dann nahm er eine davon heraus, untersuchte die Ladung und legte die kleine Waffe auf den Tisch. Schon mehrmals in der letzten Zeit waren Selbstmordgedanken an ihn herangeschlichen. Immer wieder jedoch hatte er sie mit der dem Menschen natürlichen Scheu vor diesem letzten Mittel zurückgewiesen. Nun war die Überzeugung da, daß er dieses Mittel anwenden müsse. Es war ja, wie Corona gesagt hatte: »aus mit ihm«. Und in der Tat: wer das erlebt hatte, was ihm heute widerfahren, der konnte, der durfte nicht länger atmen – durfte das Licht des neuen Tages nicht mehr schauen! Und doch – warum nicht!? Mußte gerade er von hinnen gehen und denjenigen, die ihn so unsäglich elend gemacht, noch die Pfade ebnen? Konnte er denn nicht – wie es jeder andere an seiner Stelle täte – den Doktor zur Rechenschaft ziehen und ihn zum Zweikampfe fordern auf Leben und Tod? – Nein, dieser Gedanke war töricht, knabenhaft, nur gut für das Schlußkapitel eines seichten Romans. Er sah es ja im Geiste voraus, wie der Mann, der ihn so geringschätzte, eigentümlich lächeln und die Herausforderung, als mit seinen Anschauungen nicht im Einklange stehend, ablehnen würde – oder wenn er sie annahm, so streckte er auch – das stand fest – den Gegner beim ersten Schusse mit verächtlicher Gebärde in den Sand! Warum also dem verhaßten Feinde noch das Gefühl der Überlegenheit verdoppeln? Nur eines gäbe es – eines ! Ihn ohne jede Erklärung wortlos niederzuschießen. Aber was dann? Die kurzsichtige, flach urteilende Welt würde den General als feigen Mörder verdammen – und das Andenken des Doktors mit der Aureole des Martyriums umgeben .......... Immer tiefer empfand Brandenberg das vernichtende Bewußtsein seiner Ohnmacht. Ja, es war aus mit ihm – ganz aus! Nichts blieb ihm übrig, als zu sterben – und das sogleich, ehe noch jemand eine Ahnung hatte, warum! Rasch ging er daran, seine Papiere zu vernichten, die nur für ihn selbst einigen Wert hatten und die er nicht gleichgültiger Einsicht oder entweihender Verachtung zurücklassen wollte. Nachdem er zu diesem Behufe die Fächer des Schreibtisches, eines nach dem andern, entleert und den Inhalt vor sich aufgehäuft hatte, stand er vor dem letzten, geräumigsten unwillkürlich still. Es enthielt ältere, zum Teil bedeutsame Schriftstücke, wie sie fast jeder sein Leben lang mit sich zu führen pflegt, obgleich das Auge nur selten, oft gar nicht mehr zu ihnen zurückkehrt. Auch Brandenberg hatte diese Blätter, die jetzt vor ihm lagen, schon lange nicht mehr entfaltet. Ein stechendes Weh durchfuhr seine Brust, als er so manches stolze, so manches rührende Merkzeichen seiner Vergangenheit ans Licht zog und mit widerstrebendem Auge betrachtete. Ja, wie reich, wie schön, wie glücklich war sein Leben gewesen – und jetzt! – – Je tiefer er griff, desto vergilbter wurden die Blätter, desto verblaßter die Schriftzüge. Er stieß auf das Offizierspatent, das ihm einst seine Zukunft erschlossen und ihn damals in einen Freudentaumel versetzt hatte; auf die Fortschrittszeugnisse, die er in der Militärakademie erhalten; auf Anerkennungs- und Belobungsschreiben aus seinen ersten Dienstjahren – auf Briefe, die mit farbigen Bändern in Päckchen gebunden waren und noch jetzt einen leisen Duft von sich gaben, wie die vertrockneten Blumen, welche dazwischen zum Vorschein kamen. Auch Briefe seiner längst verstorbenen Eltern fanden sich vor; häusliche Aufzeichnungen seiner Mutter und eine Reihe von Familienpapieren, denen sein eigener Taufschein beigelegt war. Ganz unten aber kamen verschiedene vom Alter gebräunte Dokumente mit brüchigen Bügen und seltsam verschnörkelten Schriftzügen in Sicht, die immer weiter in den Lauf der Zeiten zurückführten und Zeugnis gaben von dem rüstigen, unentwegten Lebensgange seiner Vorvorderen. Ja, alle diese Menschen, deren letzte Daseinsspuren er nun, eigentümlich durchschauert, in den Händen hielt, sie waren, trotz mancher harten Kämpfe und Schicksale, geehrt und von den Ihren geliebt worden bis an ihr seliges Ende. Er aber, der Nachgeborene, hatte sich selbst überlebt und stand nun da, einsam, ungeliebt, verachtet – und sollte eigentlich von Rechts wegen Wolle spinnen! Hastig raffte er so viele Papiere, als er mit einem Male konnte, zusammen und schob sie in den Ofen, in dem noch von der letzten Feuerung einige Glutstückchen unter der Asche glimmten. Aber sie hatten nicht mehr die Kraft, den dichtgedrängten Wust zu entzünden, und Brandenberg mußte ein Reibholz zu Hilfe nehmen. Dennoch dauerte es lange, bis das Feuer um sich greifen wollte. Endlich schlug die Flamme gewaltsam empor, wobei zäher, weißlicher Rauch herausdrang und sich im Zimmer verbreitete. Brandenberg trat an ein Fenster und öffnete. Draußen war alles still und regungslos; nur eine scharfe Luft strich über das Glacis hin, und die Morgendämmerung durchwob schon geheimnisvoll die Nacht. Brandenberg schauderte leicht zusammen. Er schloß das Fenster, nahm den Rest der Papiere auf, stieß ihn ins Feuer und harrte, indem er ab und zu von dem Schüreisen Gebrauch machte, bis der letzte Funke verglostet war .......... Bald darauf erschütterte ein kurzer, scharfer Knall das Zimmer, der aber im Hause, wo alles im tiefen Schlafe lag, nicht vernommen wurde. Als der Diener am Morgen hereintrat, fand er seinen Herrn leblos auf dem Sofa sitzen, das Haupt zur Brust herabgesunken. Er hatte sich mit geübter, sicherer Hand eine Kugel ins Herz geschossen. * * * Ein Jahr später fand die Vermählung der verwitweten Freifrau von Brandenberg mit dem Manne statt, den sie liebte. Dieser hatte inzwischen wieder bedeutende Schritte nach vorwärts getan, und sein Ansehen wuchs auch ferner von Jahr zu Jahr. Nicht allein, daß er im Parlament immer mehr Boden gewann, auch alle volkswirtschaftlichen Vereine und Institute, die um jene Zeit so rasch und zahlreich ins Leben traten, stritten sich um den Vorzug, den gefeierten und umsichtigen Mann als Beirat oder geistigen Lenker zu gewinnen, so zwar, daß sein Einfluß, nach jeder Richtung hin, geradezu ins Unermeßliche stieg. Und als die Zeitereignisse neuerdings einen Umschlag herbeiführten, da saß er auf der Ministerbank, gegen welche er stets so stürmische Philippiken losgelassen. Doch seltsam, als er jetzt die berechtigten Hoffnungen, die man auf ihn setzte, erfüllen sollte, da schien der Geist des Gelingens, der ihn bis nun so unaufhaltsam emporgetragen, plötzlich von ihm gewichen zu sein. Nicht etwa, daß bei ihm, nachdem er das höchste seiner Ziele erreicht hatte, eine Abspannung eingetreten wäre oder daß er, wie mancher seiner Vorgänger, den vielgestaltigen Versuchungen, denen auch er in seiner jetzigen Stellung gewiß ausgesetzt war, erlegen und, ohne es eigentlich zu wollen, seinen Überzeugungen untreu geworden wäre. Er hielt vielmehr mit herbem Trotz und einer brüsken Entschiedenheit daran fest; da aber seine Entwürfe zum größten Teil fehlschlugen oder doch wenigstens im Sande verliefen, so verletzte er nach oben, während er nach unten enttäuschte, und sah sich eines Tages mit bitterer Erkenntnis von der Wandelbarkeit des Glückes ganz geräuschlos in das Privatleben zurückversetzt. Nebenher jedoch war er ein reicher Mann geworden. Er hatte palastähnliche Häuser in allen neuen Stadtteilen bauen lassen; er besaß Fabriken, Landgüter und Villen; auch war ihm eine kleine Schar von Anhängern geblieben, die nach wie vor auf ihn schworen und behaupteten, seine eigentliche Zeit müsse erst kommen. Aber dies alles konnte die Wunden nicht heilen, die sein Ehrgeiz davongetragen, und als man ihm, mit sehr zweideutigen Nebenbemerkungen, auch noch die erworbenen Millionen zum Vorwurf gemacht hatte, war er von einer grimmigen Erbitterung erfüllt worden, die an seinem Marke zehrte und sich auch in seinem Äußeren erkennen ließ. Es erweckte eigentümliche Gedanken und Empfindungen, wenn man dem zwar noch immer aufrechten, aber doch sichtlich im Inneren geschädigten Manne während der letzten Jahre im Straßengewühl begegnete. Auffallend sorglos gekleidet, ging er meistens allein, blickte mit seinen scharfen Augen unruhig umher und stieß dabei mit einem starken Rohre gegen das Pflaster, als wollte er neue Verhältnisse aus dem Boden stampfen, die ihn wieder ans Ruder bringen könnten. Corona ist noch lange eine schöne Frau geblieben, wenn auch die Jahre vorzeitige Fältchen in ihr Antlitz gekerbt hatten und um ihren Mund, wenn sie sich selbst überlassen war, ein schmerzlicher Zug zum Vorschein kam. Das konnte nicht anders sein. Hatte sie doch alle diese Wandlungen mit durchlebt und den glanzlosen Fall ihres Gatten, dem sie mit der ganzen Kraft ihrer unerschütterlichen Seele zugetan blieb, um so schmerzlicher nachempfunden, als sie fühlte und erkannte, wie wenig Ersatz gerade einem solchen Manne die Hand der Liebe zu bieten vermochte. Vielleicht waren ihr auch dunkle, vorwurfsvolle Stunden beschieden, wo ihr das edle, milde Antlitz des Generals wie strafend entgegenblickte. Aber auch nur vielleicht, denn starke Naturen haben in der Regel kein Gewissen. Jedenfalls hielt sie der Welt gegenüber eine stolze, ungebrochene Haltung aufrecht, und niemand hat auch nur den Hauch einer Klage über ihre Lippen kommen hören. Sie widmete sich ganz den beiden Kindern, die ihrer zweiten Ehe entsprossen waren und mittlerweile in fröhlicher Unbefangenheit herangewachsen sind. Der Sohn hat das schöne, scharfgeschnittene Antlitz, die dunklen Augen der Mutter, die Tochter, ein Jahr jünger, die kräftigen, etwas verquollenen Züge, den hellen, einst so leuchtenden Blick des Vaters. Die inneren Eigenschaften der Eltern aber haben sich auf beide gemeinsam vererbt, und so darf man nicht fürchten, daß sie zu jenen gehören, die da zu kurz kommen im Kampfe ums Dasein. Der »Exzellenzherr« Gegen Ende der Sechziger Jahre hatte ich meine Wohnung in Wien aufgegeben und mich in einem der nächsten Vororte niedergelassen, wo mir die Annehmlichkeiten des Stadt- und Landlebens vereint geboten waren. Durch eine stattliche, belebte Hauptstraße mit der Residenz zusammenhängend, zeigte die ausgedehnte Ortschaft an dieser Stelle schon damals ziemlich großstädtisches Aussehen und Treiben, während in den zahlreichen Neben- und Seitengassen, wo anmutige, von weitläufigen Gärten umblühte Landhäuser mit niederen Hütten und hölzernen Scheunen abwechselten, noch vollständige idyllische Ruhe herrschte. Auch das Haus, in dem ich mich eingemietet hatte, besaß gewissermaßen diesen Doppelcharakter. Zwei Stockwerke hoch, in einer langen, mit Bäumen bepflanzten Gasse aufragend, hielt es die Mitte zwischen Villa und Zinsbaute und blickte dabei mit seinen Fenstern auf ein wahres Wipfelmeer von Gärten, auf die weithin gedehnte Stadt, auf die grünen Auen der Donau – bis in das goldene Marchfeld hinein. Zudem hätte ich keine erwünschtere Nachbarschaft finden können, als die Menschen, mit denen ich unter einem Dache lebte. Die rechte Seite des Erdgeschosses nahm ein Stabsoffizier außer Dienst ein, der nach Art alter Hagestolzen seinen Ruhegehalt mit bequemlicher Regelmäßigkeit verzehrte; links von ihm betrauerte eine kinderlose Witwe von zweifelhafter Jugend und eben solcher Schönheit den frühen Tod des Gatten, wobei sie jedoch, wenn auch in aller Stille und in allen Ehren, bereits nach einer neuen zweiten Hälfte auszublicken schien. Das erste Stockwerk war ausschließlich von den Hauseigentümern, einem hochbetagten Ehepaare ohne Nachkommenschaft, in Besitz genommen, das, mit allerlei körperlichen Gebrechen behaftet, in langsamem Absterben begriffen war. Eine Treppe höher befanden sich meine Zimmer, und neben mir hauste, in würdiger Zurückgezogenheit, ein alleinstehendes Schwesternpaar, zwei ältere Damen von vornehmer Abkunft, die ihre Tage so ruhig und gleichmäßig verbrachten, daß ich ihres Daseins kaum würde inne geworden sein, wenn mich nicht eine von ihnen hin und wieder durch meisterhaftes Klavierspiel erquickt hätte. So wurde mir denn das stille Haus mit seiner reizvollen Fernsicht, das in der ganzen Gasse gemeinhin das »Kloster« genannt wurde, von Jahr zu Jahr lieber, und so oft ich eine Reise unternommen hatte, kehrte ich immer wieder mit wahrem Behagen in die schlichten, mir so innig vertrauten Räume meiner Wohnung zurück. Als dies im Spätsommer des Jahres 187* zum letzten Male der Fall war, fand ich nach längerer Abwesenheit manches im Hause verändert. Die Eigentümer waren gestorben; die einsame Witwe hatte sich wieder verheiratet. Die kleine Wohnung der letzteren stand leer; in das erste Stockwerk aber war – so teilte mir meine Aufwärterin mit – ein sehr vornehmer Herr eingezogen, ein »Exzellenzherr«, wie der Volksmund diejenigen bezeichnet, welche den Ehrentitel »Exzellenz« führen. Die Frau nannte auch mit einiger Anstrengung des Gedächtnisses einen Namen, der mir nicht unbekannt klang. Denn ich entsann mich, daß ein ehemaliger Landespräsident so geheißen habe, den man bei seiner plötzlichen Versetzung in den Ruhestand mit der Würde eines Geheimen Rates ausgezeichnet hatte. Seither war er im öffentlichen Leben verschollen und vergessen – wie so mancher andere, der dem Staate mehr oder minder bedeutende Kräfte zur Verfügung gestellt. Ich legte also auch kein besonderes Gewicht auf diesen neuen Mietsmann, konnte mich jedoch eines gewissen Eindruckes nicht erwehren, als ich am nächsten Morgen vom Fenster aus eine hohe, würdevolle Gestalt in leicht gebückter Haltung und auf einen Stock gestützt langsam durch den Hof in den bereits herbstlich gelichteten Garten schreiten sah. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch eine bald darauf erfolgte zufällige Begegnung, wobei ich in ein blasses, einnehmendes Gesicht blickte, das den Stempel körperlichen Leidens trug, und aus welchem mir klare, braune Augen wohlwollend entgegenleuchteten. So war es mir eigentlich nicht unwillkommen, auf Umwegen zu erfahren, daß der Exzellenzherr, der ganz einsam lebte – er hatte nur einen Kammerdiener bei sich – mich näher kennen zu lernen wünsche. Es hieß, er habe schon die Absicht gehabt, mich zu besuchen, sei jedoch davon zurückgekommen, weil er mich zu stören oder zu belästigen fürchte. Ich beschloß also, ihm nun selbst meine Aufwartung zu machen. Schon am nächsten Vormittage kleidete ich mich sorgfältiger an und begab mich hinunter. Der Kammerdiener ließ mich ohne jede Anmeldung sogleich mit zuvorkommender Hast in ein großes Zimmer mit drei Fenstern treten, wo sein Herr lesend in einem bequemen Lehnstuhle saß und sich von diesem bei meinem Eintritt, wie es schien, nicht ohne Anstrengung erhob. »O das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, indem er mit flüchtigem Erröten auf mich zukam. »Aber Sie machen mir da, wie ich sehe, eine offizielle Visite. Solche anspruchsvolle Erwartungen zu hegen, kam mir nicht in den Sinn. Ich habe nur recht sehr gewünscht, daß Sie mir, da wir unter dem Schutze der gleichen Laren leben, manchmal das Vergnügen Ihres Umganges möchten zuteil werden lassen.« »O Exzellenz –« warf ich ein, während ich seiner Aufforderung nachkam und mich setzte. »Ich bitte, lassen Sie diese Bezeichnung beiseite«, sagte er ruhig. »Sie paßt durchaus nicht zu meinem Wesen – zu meiner Umgebung.« Dabei machte er mich mit einer bezeichnenden Gebärde auf die Ausstattung des Zimmers aufmerksam, welche in der Tat sehr einfach, ja nach heutigen Begriffen fast ärmlich zu nennen war. Nur ein paar Ölbilder in schweren Goldrahmen – die meisten augenscheinlich Familienporträts – und ein massiver, schön gearbeiteter Schreibtisch zeugten von Vornehmheit. »Ich liebe es in der Tat nicht,« fuhr er fort, »wenn man mir diesen Titel gibt, der mich – ich sage das vollkommen aufrichtig – bei den geringfügigen Diensten, welche dem Staate zu leisten mir vergönnt gewesen, eigentlich nur beschämen kann. Da wir aber noch nicht so vertraut miteinander sind, um uns schlichtweg beim Namen zu nennen, und es also durchaus getitelt sein muß, so sagen Sie einstweilen Herr Präsident zu mir. Das kann, das darf ich mit einigem Fug und Recht annehmen – obgleich ich jetzt nichts anderem mehr präsidiere als meinen Büchern.« Er wies bei diesen Worten nach einer ziemlich umfangreichen Bibliothek, die sich auf einfachen Holzgestellen an der Wand hinzog. »Es sind zumeist ältere Werke,« sagte er nach einer Pause; »namentlich was die schöne Literatur betrifft. Denn offen gestanden, mir stehen die neuen Hervorbringungen auf diesem Felde mit wenigen Ausnahmen ziemlich fremdartig gegenüber. Man wird eben alt und vermag sich in der modernen Empfindungsweise nicht mehr zurechtzufinden. Lernen aber kann – oder soll wenigstens der Mensch jederzeit, und so trachte ich, auf anderen geistigen Gebieten nicht zurückzubleiben. Noch vor einigen Jahren habe ich mich leidenschaftlich für die Naturwissenschaften interessiert. Aber nachdem ich den Tiefenpunkt erreicht hatte und also keine Aufschlüsse mehr erhielt, erkaltete meine Teilnahme, denn die Breite der Einzelheiten ist doch nur für den Fachgelehrten von Wert. Jetzt, da mein öffentliches Leben abgeschlossen hinter mir liegt, sind es historische Schriften, die mich am meisten anziehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welchen eigentümlichen Genuß es mir bereitet, mich an dem Faden der geschichtlichen Ereignisse in die Vergangenheit zurückzulenken, wobei mir einerseits die unabwendbare Notwendigkeit alles Geschehenen und Geschehenden, sowie andererseits die Nichtigkeit und das Traumartige des menschlichen Daseins so recht zum Bewußtsein kommt.« Dieses einleitende Gespräch samt der darauffolgenden Unterhaltung, die sich über verschiedenartige Gegenstände erstreckte, zeigte mir, daß ich mich einer edlen und bedeutenden Persönlichkeit gegenüber befand, welche, wie ich bei fortgesetztem Verkehr immer deutlicher erkannte, von seiten der öffentlichen Meinung weit unter Gebühr geschätzt wurde. Es war hier wieder einmal zu sehen, wie höhere Eigenschaften von der Welt unbemerkt bleiben können, sei es nun, daß dem Besitzer jenes vordringliche Etwas fehlt, das notwendig ist, diese Eigenschaften durchzusetzen und geltend zu machen, sei es, weil sie mit der gerade herrschenden Zeitströmung im Widerspruch stehen und daher mit der ganzen Individualität verkannt oder doch sozusagen instinktiv bis zur völligen Vereinsamung beiseite liegen gelassen werden. So schien auch der Präsident kaum Bekannte im gewöhnlichen Sinne, noch weniger aber Freunde zu haben. Ab und zu kam wohl einmal ein Wagen gefahren, dem irgend ein Würdenträger entstieg, um sich in die stille Wohnung hinauf zu begeben. Aber diese Besuche waren stets sehr kurz und sichtlich nur ganz konventionell abgestattet; auch schienen sie dem Empfänger nicht sehr erwünscht und angenehm zu sein. Dies alles aber erhöhte nur meine bescheidene Zuneigung zu dem einsamen Manne, der sich übrigens auch bald menschlicher Teilnahme bedürftig erwies. Denn er war, wie ich gleich beim ersten Anblick erkannt hatte, körperlich leidend; und zwar an einer mit der Zeit langsam vorgeschrittenen Krankheit, welche sich, in ihren Anfängen wohl nicht genug beachtet, bei Beginn des Winters mit einem Male sehr empfindlich geltend machte. Wenn sie den Präsidenten auch nicht an das Bett fesselte, so wirkte sie doch sehr entkräftend, verhinderte ihn, die gewohnten längeren Spaziergänge zu unternehmen, und machte ihm endlich sogar anhaltendes Lesen und Denken zur Unmöglichkeit, was den Gemütszustand des Leidenden, der das fünfzigste Lebensjahr noch nicht lange überschritten hatte, sehr verdüsterte. Der behandelnde Arzt erklärte, daß sich im ganzen wenig tun ließe, verordnete eine zweckmäßige Diät und vertröstete im übrigen auf die Wirkungen einer Badekur, die bei Eintritt des nächsten Frühjahrs sofort unternommen werden sollte. Als ich in jener trüben und bänglichen Zeit eines Abends bei dem Präsidenten eintrat, fand ich ihn zu meiner Verwunderung im Dunklen sitzen. Denn er mochte sonst die Dämmerung im Zimmer nicht und konnte es überhaupt nie hell genug um sich haben. Nachdem die beiden großen und bequemen Lampen, deren er sich stets bediente, angezündet waren, nahm er ein Papier vom Schreibtische und hielt es mir zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. Es war ein etwa handgroßer, vergilbter Zettel, mit wenigen Worten beschrieben. »Ist es nicht eigentümlich?« sagte er. »Dieses Stück Papier hatte ich vor Jahren verlegt und habe späterhin alle meine Mappen, meine Schriften und Briefe – ja meine ganze Bibliothek durchstöbert, ohne es finden zu können, so daß ich es für verloren hielt. Und heute entdecke ich es zufällig in jenem kleinen alten Sekretär, woselbst es zwischen einem der vielen Schubfächer und der Hinterwand eingeklemmt gesteckt hatte.« »Und welche Bewandtnis hat es mit diesem Zettel?« »Er schien einst bestimmt gewesen zu sein, in meinem Leben einen Wendepunkt herbeizuführen – hat es aber nicht vermocht. Ich will Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben, die Geschichte, die sich daran knüpft, heute erzählen. Spannen Sie jedoch Ihre Erwartungen nicht zu hoch; was Sie hören werden, ist eigentlich nur für den Erzähler von Wert und Bedeutung. Da ich jedoch weiß, daß Sie mir eine ungewöhnliche Teilnahme schenken, so kann ich es immerhin wagen. Übrigens wird sich aus diesen Mitteilungen so ziemlich mein ganzes Wesen vor Ihnen entwickeln – und dabei manches Streiflicht auf die Zeit fallen, in der ich gelebt und gewirkt. Ich kann also in dieser Hinsicht vielleicht auch Ihr objektives Interesse in Anspruch nehmen: ist doch das Leben jedes Einzelnen ein Stück Weltgeschichte.« Der Kammerdiener brachte den Tee; bald darauf lehnte sich der Präsident im Sofa zurück und begann: * * * »Es war vor sechzehn Jahren, daß ich meine Vaterstadt Wien, von der mich der Staatsdienst längere Zeit hindurch fast ununterbrochen ferne gehalten, auf die Dauer wiedersah. Meine ersten Dienstjahre hatte ich in einer kleineren Provinzstadt zugebracht; späterhin wurde ich – mit bereits ziemlich hohem Range – in Ungarn verwendet. Als dort ein Umschwung eintrat, erwuchs eine große Überzahl an deutschen Beamten, die man einstweilen auf Wartegebühr setzte. Dieses Los traf auch mich. Obgleich ich nun niemals zu den Ehrgeizigen und Vielgeschäftigen, auch nicht zu jenen gehört habe, die da meinen, daß von ihrem Eingreifen das Heil der Welt abhänge, so kam es mir doch sehr unerwünscht, in diesem Augenblicke sozusagen kaltgestellt zu werden. Denn eben jetzt, wo ein neuer staatlicher Frühling anzubrechen schien, hatte ich hoffen dürfen, eine freiere und ersprießlichere Tätigkeit, als bisher, entfalten zu können. Aber zuletzt ergab ich mich doch leichten Herzens in die Umstände; denn ich war noch jung und konnte mich gedulden. Zudem erkannte ich, daß jedem, wer er auch sei, ein paar Jahre ruhiger Sammlung und Einkehr in sich selbst nur zu wünschen seien – und daß gerade mir ein besonderer Vorteil daraus erwachsen könne. Ich war als Knabe und Jüngling kein besonders fleißiger Schüler gewesen. Unstät und träumerisch, hatte ich in die Welt wie in ein bewegtes Bild hineingeblickt, wobei ich mir zwar sehr früh über Menschen und Dinge ein selbständiges Urteil bildete, aber auch in den meisten Lehrgegenständen zurückblieb, und wenn ich dennoch die vorgeschriebenen Prüfungen bestand, so hatte ich dies den geringen Anforderungen zu danken, die man damals stellte. Es mußte mir daher bei reisender Einsicht immer deutlicher werden, wie unwissend ich in mancher Hinsicht geblieben war, und schon seit einigen Jahren hatte ich mit leidenschaftlichem Eifer fast jede freie Stunde benützt, Versäumtes nachzuholen und Neues in mich aufzunehmen. Das Werk meiner Bildung, soweit es überhaupt anging, zu Ende zu führen, war mir nun Muße und Gelegenheit die Fülle geboten; denn auch sonstige äußere Umstände fügten sich günstig. Meine Eltern, deren einziger Sohn ich war, hatten mir einiges Vermögen hinterlassen; dazu kam noch, daß mir, gerade in jener Zeit, von einer Verwandten mütterlicher Seite ein kleines Landhaus vererbt wurde – und zwar ein Landhaus in demselben Orte, in welchem wir beide jetzt leben. Es ist später in den Besitz eines reichen Börsenmannes übergegangen, der es sofort niederreißen und an der Stelle jene prächtige Villa hinbauen ließ, die man heute am äußersten Ende der nächsten Straße aufragen sieht. Das Haus war, wie gesagt, klein; es bestand nur aus einem Erdgeschosse mit vier bis fünf Zimmern und nahm sich auch sonst sehr unscheinbar aus. Aber dahinter erstreckte sich ein großer, echt ländlicher Garten mit zahllosen Obstbäumen und einem altmodischen, aber höchst bequemen und wetterfesten Pavillon. Ein grauköpfiger Gärtner und sein Weib, wahre Philemon-und Baucisgestalten, betreuten das Ganze, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wohltuend es mich anheimelte, als ich die schlichten, im Geschmack des Empire möblierten Räume bezog, welche mich lebhaft an meine Knabenjahre erinnerten. Denn ich hatte damals sehr oft mit meiner Mutter die gute Tante Susanne besucht, die hier mit ihrem Gatten in glücklicher, aber kinderloser Ehe lebte und mir stets die schönsten, frisch vom Baume gepflückten Kirschen und Aprikosen vorsetzte. Ich umgab mich nun mit einem Wall von Büchern, ging äußerst selten nach der Stadt und verbrachte so, vom herrlichsten Wetter begünstigt, in köstlicher Einsamkeit den Frühling und einen Teil des Sommers. Es waren Tage voll hoher, geistiger Freude, vielleicht die glücklichsten meines Lebens – und doch auch nicht ganz glückliche. Das aber hing mit der eigentümlichen Stellung zusammen, die ich der Welt – vor allem jedoch dem anderen Geschlechte gegenüber einnahm. Um mich in dieser Hinsicht verständlich zu machen, muß ich jetzt hier abbrechen und wieder um Jahre zurückgreifen.« »Ich war seit jeher äußerst empfänglich für den Reiz weiblicher Schönheit und entsinne mich, gewissermaßen schon als Knabe in ein hübsches, aufgewecktes kleines Mädchen verliebt gewesen zu sein, das mit seiner Mutter zuweilen in unser Haus kam. Später, als ich in einer höheren Klasse des Gymnasiums saß, faßte ich eine ausgesprochene Neigung zu der Schwester eines Mitschülers, den ich damals fast jeden Abend besuchte. Das Mädchen, ein Jahr jünger als ich und eben in leise knospender Entwickelung begriffen, kam dieser Neigung entgegen – und es entspann sich eines jener unaussprechlich zarten, reinen und duftigen Verhältnisse, wie sie eigentlich nur Dichter zu schildern vermögen, und wie auch wirklich Friedrich Hebbel ein solches in seinem Liederzyklus ›Ein frühes Liebeleben‹ so einzig geschildert hat. Aber man kam im Hause dahinter; die Eltern überschütteten das Kind mit heftigen, grausamen Vorwürfen und schickten es zu Verwandten aufs Land, wohin sie später selbst und zwar für immer nachfolgten. Ich empfand bei dieser gewaltsamen Trennung ein herzzerreißendes Weh; aber es verklärte sich bald zu einem schönen, elegischen Schmerz, den ich nach Art schwärmerischer Jünglinge hegte und pflegte, und der das Gute hatte, daß er meine Natur vor frühzeitigen Ausschreitungen bewahrte. Aber der Dämon, der in mir schlummerte, wurde dennoch früh genug geweckt. Und zwar geschah dies durch höchst leidenschaftliche Beziehungen, in welche ich während meines Aufenthalts in der erwähnten Provinzstadt verwickelt wurde. Ich hatte nämlich auf einem Balle die Tochter eines dortigen Finanzbeamten kennen gelernt; ein außerordentlich schönes, aber leichtsinniges und früh verderbtes Mädchen, in welches ich mich jedoch derart verliebte, daß ich nahe daran war, es zu heiraten. Nur dem Umstande, daß man mir plötzlich einen Abenteuerer vorzog, der die Rolle eines russischen Fürsten spielte und später den Gerichten übergeben wurde, hatte ich es zu danken, daß ich diese Tollheit nicht beging. Was ich aber damals litt, können Sie sich vorstellen. Es war eben eine erste wirkliche Leidenschaft, die ich durchzukämpfen hatte, und wer weiß, ob und wie ich es vermocht hätte, wenn nicht gerade in jener Zeit ein trauriges Ereignis eingetreten wäre, das mir gewissermaßen zu Hilfe kam: ich wurde nämlich an das Sterbelager meines Vaters nach Wien berufen. Diese Erschütterung wirkte derart, daß alles andere wie ein wüster Traum zerfloß, und ich weit früher Herr meiner selbst wurde, als dies wohl sonst der Fall gewesen wäre. Dennoch blieb ein Stachel in mir zurück. Ich hatte im Verkehr mit Theodora – dies war der Name meiner treulosen Schönen – Freuden der Liebe kennen gelernt, die ich nicht mehr zu entbehren vermochte, und so geriet ich auf Abwege, die zu seelenlosem Genusse führten, wie ihn große Städte uns Männern nur allzu leicht und willig darbieten. Daß mir dabei nicht wohl zumute war, werden Sie mir glauben. Ich empfand vielmehr die Vereinsamung meines Herzens immer schmerzlicher und sehnte mich inmitten frivoler Beziehungen, die mich innerlich oft aufs tiefste beschämten, nach reinen und edlen Lebensverhältnissen. Dabei schwebte mir als Ideal ein stilles eheliches Glück an der Seite eines schlichten, treuherzigen Geschöpfes vor, wie es meine frühe Jugendgeliebte gewesen, und dessen Eigenschaften in geradem Gegensatze zu jenen einer Weltdame hätten stehen müssen. Vor solchen hatte ich seit jeher eine geheime Scheu empfunden, wie ich mich denn überhaupt in der ehrgeizigen und anspruchsvollen Vornehmheit höherer Kreise niemals habe zurechtfinden können. Stammte ich doch selbst aus einer bürgerlichen Familie. Mein Vater hatte sich zwar im Staatsdienste den Adel erworben; aber aller Schein, alles prunkende Wesen war ihm zeitlebens verhaßt geblieben, eine Eigenschaft, die sich in mir fortgeerbt hatte und mich gewissermaßen in Widerspruch mit meiner äußeren Stellung brachte. Dies alles erfüllte mich mit einer quälenden Unzufriedenheit, mit einem drückenden Gefühl des Entbehrens, das auch dann noch leise sein Recht geltend machte, wenn ich mich, wie in jenen glücklichen Tagen, von denen ich Ihnen gesprochen, ganz und gar in Studien und Arbeiten versenkt hatte.« »Kehren wir also in mein Landhaus zurück, woselbst ich eines Morgens ziemlich abgespannt erwachte. Ich hatte mich während der letzten Wochen müde gearbeitet, war dabei über meinen Garten nicht hinausgekommen – und dachte daran, mich wieder einmal in der Welt umzusehen, daher ich denn auch im Laufe des Vormittags das Haus verließ. Es war Sonntag. Die hellste Junisonne funkelte vom blauen Himmel nieder, die Gassen waren leer und still, leise Orgelklänge zitterten in der Luft. Unwillkürlich ging ich diesen Klängen nach und stand bald auf dem nahen Kirchenplatze. Dort war keine Seele zu erblicken; aber von drinnen heraus brauste nun die Orgel mächtig und erscholl der vielstimmige Gesang des Hochamtes. Ich hatte diese Kirche noch niemals betreten und fühlte mich angezogen, hineinzugehen. Der Raum war überfüllt, so zwar, daß ich nur mit einiger Anstrengung nach vorne gelangen konnte. Die Andächtigen bestanden zum größten Teile aus der halbbäuerlichen Ortsbevölkerung; die vornehmere Einwohnerschaft war eigentlich bloß durch das weibliche Geschlecht vertreten, das in mehr oder minder stattlichem Putz die vorderen Kirchenbänke einnahm. Ich konnte bemerken, daß mein Erscheinen dort nach und nach Aufmerksamkeit erregte. Manches schüchterne Auge sah mich verstohlen von der Seite an, während dreistere einen raschen Vollblick wagten. Plötzlich aber wurde meine eigene Aufmerksamkeit gefesselt. Ganz in meiner Nähe, am äußersten Ende eines Betstuhles, saß nämlich ein junges Mädchen, das ich nicht sogleich bemerkt hatte. Schlicht, aber höchst anmutig gekleidet, das feine Gesichtchen von glänzenden braunen Haaren umrahmt, war sie das lieblichste Geschöpf, das man sehen konnte. Alles an ihr erschien wie gemeißelt: von der sanft gewölbten Stirn und dem zierlichen Näschen bis zu den zarten Schultern hinab, die weiß unter weißem Tüll hervorschimmerten. Sie mußte jedenfalls meiner bereits ansichtig geworden sein, und aus einer gewissen Unruhe, die sie kundgab, konnte ich erkennen, daß sie, ohne mich anzusehen, meinen Blick fühlte. Ihre Wangen, die wie der Untergrund der schön gezeichneten Brauen rosig gefärbt waren, nahmen allmählich eine brennende Korallenröte an, und das kleine Gebetbuch, das sie in den schmalen Händen hielt, begann leise zu beben. Ich wandte mich nun von ihr ab und den kirchlichen Funktionen am Altare zu. Mein innerer Sinn jedoch hielt die holde Erscheinung fest, während sich vor mir die Priester in pomphaften Meßgewändern hin und her bewegten, Weihrauch die funkelnde Monstranz umqualmte und oben auf dem Chor ein leidenschaftliches Hosianna erklang. Ein sanfter Schauer durchrieselte mich, und ich hatte nur den einen Wunsch, daß dieses Hochamt kein Ende nehmen möchte. Aber schon war das ›ite, missa est!‹ erklungen – und alles drängte dem Ausgang zu. Auch die junge Schöne verließ ihren Platz, wobei sich zum erstenmal unsere Blicke begegneten. In Begleitung zweier anderer Mädchen, welche ihr zur Seite gesessen hatten, überschritt sie den Platz vor der Kirche; dann schlugen die drei schlanken Gestalten, indes ich in einiger Entfernung folgte, lebhaften Gespräches den Weg nach jener Gasse ein, welche heute nebst der Hauptstraße als die vornehmste gilt. Damals aber war sie erst im Entstehen begriffen und wurde eigentlich nur von weitläufigen Einplankungen wüster Baugründe gebildet, die sich zwischen einigen vereinzelten Neubauten hinzogen. Vor einem dieser stattlichen Häuser verabschiedeten sich die zwei anderen Mädchen und traten in das Tor; die Alleingebliebene jedoch überschritt, den Saum ihres Kleides anmutig emporhebend, die hochbestäubte Straße, ging jenseits rasch noch eine Strecke fort und bog dann in eine Art Seitenweg ein, der ins Freie zu führen schien. Ich bewegte mich nun auch schneller und konnte noch gewahren, wie sie einem mäßig großen Landhause, das ganz einsam im Grünen lag, zueilte, die Torklinke ergriff und, mit einer Wendung des Kopfes nach mir zurückblickend, verschwand. Ich war unschlüssig stehen geblieben, schlug aber jetzt, ohne es eigentlich zu wollen, dieselbe Richtung ein. Tiefe, sommerliche Stille empfing mich. Versengend brütete die Mittagshitze über ausgedehnten Gemüsepflanzungen, die mit einigen hohen Ziehbrunnen nach links hin zum Vorschein kamen; auf der anderen Seite erglänzten regungslos die Baumwipfel eines großen, wohlgepflegten Gartens, der sich dem Hause entgegenzog. Dieses selbst erschien mit geschlossenen Jalousien wie ausgestorben; nur einen Augenblick war es mir gewesen, als hätte sich oben am äußersten Fenster eine Sprosse bewegt. Als ich jetzt an den weißen Mauern vorüberging, schrak ich plötzlich zusammen. Denn aus einem offenen Fenster des Erdgeschosses sah ein weibliches Antlitz, das mich wie das Haupt der Meduse anstarrte. In der Tat ringelten sich die dunklen Haare über die blassen Schläfen hinweg nach rückwärts wie Schlangen zusammen, und in den finsteren Augen lag trotz der eisigen Gleichgültigkeit, mit der sie blickten, etwas so tief Feindseliges, daß ich unwillkürlich meine Schritte beschleunigte. Auf einem Umwege nach Hause zurückkehrend, traf ich die alte Gärtnerfrau am Tore stehen und fragte sie, indem ich ihr Lage und Aussehen der einsamen Villa beschrieb, ob sie wisse, wem dieselbe gehöre. ›Ach ja,‹ sagte sie nach kurzem Nachsinnen, ›Sie meinen das Haus des Herrn Ott.‹ ›Und wer ist dieser Herr Ott?‹ ›Vorsteher einer großen Fabriksniederlage in der Stadt. Er lebt jedoch mit seiner Familie Sommer und Winter hier. Denn er ist ein mürrischer und leutescheuer Mann, der nur ein Vergnügen kennt: die Obst- und Blumenzucht, mit der er uns ins Handwerk pfuscht.‹ ›Und besitzt er eine zahlreiche Familie?‹ ›Freilich. Er ist zum zweiten Male verheiratet. Aus erster Ehe hat er nur eine Tochter. Von der jetzigen aber gibt's Kinder der Reihe nach, wie die Orgelpfeifen.‹ ›Wie alt mag die Tochter aus erster Ehe sein?‹ ›Wie alt? Nun so über die Zwanzig. Die ist dem Vater nach geraten; man bekommt kein freundliches Gesicht von ihr zu sehen. Aber die Älteste der zweiten Frau, die Hermine – das ist ein wahrer Schatz!‹ ›Hermine heißt sie –?‹ ›Ja. Haben Sie das Fräulein vielleicht schon gesehen? Wie Milch und Blut, frisch und heiter – die gute Stunde selbst. Und auch brav und tüchtig ist sie. Ihre Mutter war in der letzten Zeit recht schwer krank; da hatte sie das Hauswesen ganz allein geführt, trotz ihrer siebzehn Jahre. Denn die andere dünkt sich zu gut für derlei. Die sitzt den ganzen Tag in ihrem Zimmer und studiert, gerade wie Sie, gnädiger Herr. Man sagt sogar, daß sie Bücher schreibt.‹ Ich wußte genug und ging, um die Alte nicht merken zu lassen, welche Freude ihre Mitteilungen in mir hervorgerufen. Als ich mich aber allein befand, jubelte ich auf. Da hatte ich ja plötzlich gefunden, wonach ich jahrelang gesucht! Und je reiflicher ich alle Umstände erwog, desto überzeugender empfand ich es. Stand ich doch noch in der Blüte meiner männlichen Jahre: der innerste Kern meiner Natur war frisch und unversehrt; ich konnte also recht wohl der Gatte eines jungen Mädchens werden, das gewissermaßen in ländlicher Abgeschiedenheit herangewachsen war und nebst einem heiteren, unbefangenen Gemüte regen häuslichen Sinn bekundete. Ich konnte ja – woran ich in letzter Zeit ohnehin mehrmals gedacht hatte – den Staatsdienst ganz und gar aufgeben, konnte ein Landgut erwerben und, sozusagen, meinen Kohl selbst bauen. Dabei auch eine gesunde volkswirtschaftliche Tätigkeit entfalten, mich späterhin in den Reichsrat wählen lassen, um meine Kenntnisse und geistigen Fähigkeiten auf diese Art zum allgemeinen Besten zu verwerten. So spann ich bereits goldene Träume. Daß zuletzt alles von der Zustimmung meiner rasch Erwählten abhing, daran dachte ich gar nicht; so sicher, so frei von jedem Zweifel fühlte ich mich in dieser Hinsicht. Eine andere Frage war freilich, wie und wo ich einen Anknüpfungspunkt finden sollte. Mich nur geradezu als Freiwerber in das Haus des Herrn Ott zu begeben, ging doch nicht an; zudem widersprach ein solches Vorgehen ganz und gar meinem Wesen, in welchem damals noch ein gutes Stück jugendlicher Romantik stak. Es mußte also eine Gelegenheit abgewartet oder herbeigeführt werden, um mich dem Mädchen selbst nähern zu können. Über solchen Erwägungen verstrichen die nächsten zwei Tage, wobei ich jedoch wiederholte Gänge durch den Ort unternahm, in der Hoffnung auf eine zufällige Begegnung. Da sich aber diese Hoffnung nicht erfüllte, näherte ich mich immer mehr dem weißen Hause und ging endlich vorüber, wobei ich einen ängstlichen Blick nach dem Fenster der Meduse tat, welche ich diesmal zum Glück nicht gewahrte. Aber auch im oberen Stockwerke war niemand zu sehen; als ich jedoch vorsichtig über die Gartenplanke spähte, saß Hermine, von mir abgewendet, an der Seite einer älteren Frau im Schatten einer Platane. Da dicht vor mir üppig wucherndes Hollundergebüsch aufragte, glaubte ich mich gedeckt und blieb stehen; allein zwei muntere Knaben, die sich auf einem Rasenplatze tummelten, bemerkten mich bald, und so setzte ich rasch meinen Weg fort, überzeugt, daß ich hier, ohne sofort jedermann aufzufallen, nicht mehr vorübergehen könne. Ich vertröstete mich also auf den nächsten Sonntag, an welchem ich mich schon ziemlich früh vor der Kirche einfand; denn ich wollte Hermine herankommen sehen. Immer zahlreicher gingen die Kirchenbesucher an mir vorüber; die Turmglocke hatte bereits ihre letzten Schwingungen getan; einzelne Nachzügler überschritten den Platz – aber die Erwartete war noch immer nicht erschienen. Schon begann ich zu verzweifeln – als ich sie endlich in der Ferne erblickte. Eiligen Schrittes kam sie mit den zwei Freundinnen näher; diesmal ganz weiß gekleidet; selbst das leichte Strohhütchen hatte nur ein weißes Band zum Schmuck. Sie sah entzückend aus, wie sie jetzt, überrascht und doch sichtlich befriedigt, mit gesenkten Wimpern an mir vorüberging, während mich eines der beiden anderen Mädchen schalkhaft von der Seite ansah. In der Kirche selbst hatte ich die Genugtuung, wahrzunehmen, wie sie sich zur Andacht zwang und doch nicht verhindern konnte, daß ihre Augen stets den meinen begegneten. Daß ich ihr später wieder folgte, ist selbstverständlich, und es spielte sich alles so ab, wie am verflossenen Sonntage, nur mit dem Unterschiede, daß sie, bevor sie in das Haus trat, ein wenig länger nach mir zurückblickte. Nun fühlte ich aber, daß es zu handeln galt. In meine Wohnung zurückgekehrt, setzte ich mich sofort an den Schreibtisch. Fest überzeugt, daß man meine Empfindungen bereits erkannt habe und auch bis zu einem gewissen Grade teile, brachte ich rasch einige Zeilen zu Papier, worin ich mit warmen, ungeschminkten Worten um eine Zusammenkunft ohne Zeugen bat, beifügend, daß ich eine bestimmende Antwort durch die Post erwarte. Nachdem ich den Brief geschlossen und die Adresse geschrieben hatte, ließ ich die Gärtnerfrau zu mir bescheiden. ›Wäre es möglich,‹ fragte ich, als die Alte eingetreten war und wie gewöhnlich in demütig wohlwollender Haltung vor mir stand, ›wäre es möglich, diesen Brief dem Fräulein Hermine Ott zukommen zu lassen, ohne daß es jemand bemerkt?‹ Die Alte sah mich zuerst überrascht, dann höchst einfältig an. Endlich lächelte sie, aber gleich darauf verfinsterte sich ihr von zahlreichen Fältchen durchfurchtes Gesicht. ›Es könnte wohl gehen,‹ erwiderte sie zögernd; ›man müßte Mittel und Wege finden – aber ....‹ ›Ich weiß, was Sie sagen wollen, meine Liebe. Sie können jedoch ganz ruhig sein. Der Brief enthält durchaus nichts Verfängliches, wenn ich auch Gründe habe, zu wünschen, daß er in solcher Weise bestellt werde.‹ Ich hatte dies unwillkürlich in sehr ernstem und strengem Tone gesprochen, so daß das gute Weib ganz bestürzt und ängstlich wurde. ›Mein Gott!‹ rief sie und faltete die Hände. ›Ich habe ja an nichts Böses gedacht; ich weiß ja, daß Euer Gnaden – – Ich meinte nur – und wenn Sie wirklich eine ernste Absicht hätten –‹ ›Das ist meine Sache, beste Frau.‹ ›Gewiß, gewiß, gnädiger Herr. Und damit Sie nicht glauben, daß ich etwa – – so geben Sie mir den Brief. Fräulein Hermine soll ihn von mir selbst bekommen – gleich morgen soll sie ihn haben. Ich weiß schon, wie ich es anstelle. Verlassen Sie sich darauf!‹ Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als mich auch schon Reue erfaßte. Was hatte ich da getan? Töricht und unbesonnen das Geheimnis meines Herzens fremden Wissen, fremden Händen anvertraut! Und nicht nur mich selbst hatte ich bloßgestellt, nein, noch weit mehr das holde Geschöpf, das ja vielleicht noch keine Ahnung hatte von dem, was ihm bevorstand! Dennoch nahm ich den Brief nicht zurück. Denn schon sagte ich mir, daß man nicht jederzeit und unter allen Umständen ganz korrekt vorgehen könne. Und was war es denn auch weiter? Ich hatte mich einer treuen, redlichen Seele eröffnet, der jeder Mißbrauch, jeder Verrat gänzlich ferne lag. Nahm Hermine den Brief – und es fiel mir jetzt wieder nicht ein, daran zu zweifeln – so hatte sie ihr Schicksal in der Hand. Wies sie ihn ab, dann fiel alles Unangenehme, alles Peinliche auf mich allein zurück, und ich mußte es eben zu tragen wissen. So ließ ich denn die Sache ihren Lauf nehmen. Schon am nächsten Vormittag kam die Alte mit strahlendem Gesicht und brachte mir die Nachricht, daß es ihr gelungen sei, den Brief zu übergeben, und zwar bei Gelegenheit einiger Einkäufe, die das Fräulein, wie ihr bekannt war, jeden Morgen in der Hauptstraße zu besorgen pflegte. Man sei anfangs erschrocken gewesen, habe sich geweigert – endlich aber doch den Brief rasch an sich genommen. Geradeso hatt' ich es erwartet, dankte der Botin und sah getrost einer Antwort entgegen. Diese Antwort aber ließ auf sich warten. Es verging ein Tag, ein zweiter, ein dritter – und der Briefträger brachte nur Gleichgültiges. Als ich am Donnerstage nichts erhielt, sank mir die Zuversicht. Ich begann zu zweifeln und dabei noch mit einer Art Aberglauben zu wünschen, daß der Brief nur nicht morgen, daß heißt an einem Freitag, eintreffen möge. Er blieb in der Tat aus, auch am Samstage – und, worauf ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte: auch am Sonntagsmorgen. Nun gab ich alles verloren; aber ich fand mich doch wieder vor der Kirche ein, denn ich wollte Klarheit um jeden Preis. Meine Herzensangst wurde jedoch vernichtende Gewißheit, als ich die Mädchen herankommen sah. Alle drei zeigten heute ein sehr ernstes, zurückhaltendes Wesen, und in der Kirche blieben die Augen Herminens hartnäckig auf das kleine Gebetbuch gerichtet. Ja, es konnte kein Zweifel mehr sein: sie fühlte sich beleidigt, verletzt, der Traum war zerronnen. So würde ich es diesmal auch nicht mehr gewagt haben, ihr zu folgen, wenn nicht ein rascher Blick, den sie plötzlich, wie auffordernd, nach mir zurückwarf, meinen erloschenen Mut hätte aufflackern lassen. Wer aber beschreibt meine Überraschung, mein Entzücken, als sie, nachdem sie sich von ihren Freundinnen getrennt hatte, ein zusammengebogenes Papier fallen ließ, das ich, vorsichtig umherspähend, vom Boden aufnahm, und welches in sorgfältiger, noch sehr kindlicher Handschrift die Worte enthielt: ›Morgen um zwei Uhr im Liechtensteinschen Garten.‹ Dieser Garten wird Ihnen nicht unbekannt sein; sei es auch nur mit Hinblick auf die herrliche Gemäldesammlung, die sich in dem alten fürstlichen Palais befindet. Für mich aber war bereits damals so manche Erinnerung an ihn geknüpft. Denn da ich als Knabe mit meinen Eltern in dem nächstgelegenen Stadtteile wohnte, so hatte ich manchen schulfreien Sommertag, und zwar meistens allein, dort zugebracht. Am liebsten hielt ich mich im rückwärtigen Teil auf, wo nach englischem Geschmack Felsenpartien, Grotten und Wasserfälle angebracht waren. Für den heutigen Blick freilich alles kleinlich und unbedeutend genug; aber mein kindliches Gemüt empfand alle geheimnisvollen Schauer der Einsamkeit, wenn ich in dieser Schattenkühle saß und mich in die ›deutschen Volksbücher‹ oder in die Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹ versenkte. Schon damals war es mir nicht entgangen, daß der Garten um die Mittagszeit, wo er am wenigsten besucht war, als Zusammenkunftsort für Personen verschiedenen Geschlechts diente, und mehr als einmal hatte ich lauschige Grottensitze instinktiv geräumt, wenn ich ein einsames Pärchen langsam heranwandeln sah. Wie viele Menschenschicksale mochten sich von Generation zu Generation in diesem Garten schon verknüpft haben, seit er, als eine der ältesten Oasen in dem Häuserqualm und Straßenstaub der Großstadt, mit jedem Frühling aufs neue grünt und blüht! Und nun sollte auch mir dort die Stunde des Glückes schlagen! So dachte ich, während ich selig in meiner Zimmerflucht auf und nieder schritt. Das unsägliche, reine Entzücken der Liebe, der ganze schwärmerische Seelenjubel eines Jünglings war in mich eingezogen, so daß ich endlich über mich selbst lächeln mußte und, um diesem Taumel Einhalt zu tun, meinen Gedanken eine andere Richtung aufnötigte. Ich fuhr nach der Stadt, stattete einige schon längst beabsichtigte Visiten ab, speiste mit gleichgültigen Bekannten in einem Hotel und ging dann in die Oper, wo man die Zauberflöte gab. Die Saison näherte sich bereits dem Schlusse; das Haus war sommerlich leer, die Darstellung ungenügend, und ich fuhr nach dem ersten Akt wieder nach Hause, wo ich die Nacht in einer Art Halbschlummer zubrachte. Der nächste Vormittag wurde mir unerträglich lang; ich machte mich daher schon vor zwölf Uhr auf den Weg, um durch Besichtigung der Galerie, die ich schon lange nicht mehr in Augenschein genommen hatte, meine Ungeduld zu übertäuben. Aber was konnten mir heute Tizian, Rembrandt und Rubens sein? Ich sah nur schattenhafte Umrisse, die farbig vor meinen Blicken tanzten. Der Galeriediener war sehr verwundert und nahm es sichtlich übel, daß ich so rasch und teilnahmslos durch die Säle schritt; ein ansehnliches Trinkgeld aber, das ich ihm später ausfolgte, stellte mich in seiner Achtung wieder her. Da es noch immer kaum ein Uhr war, so durchwandelte ich den Garten, wobei ich diesen zu meiner Freude fast gänzlich unbesucht fand. In der Nähe des Teiches saß eine ärmlich gekleidete alte Frau und verzehrte, während sie den Schwänen Krume zuwarf, ihr Mittagsessen, das, wie ich bemerken konnte, aus einer Semmel und etwas Käse bestand. Die Ärmste erschrak, als sie meiner ansichtig ward, und suchte verschämt das dürftige Mahl hinter einem Tuche zu verbergen. Weiter nach rückwärts, im Schatten eines Gebüsches und mit einem fragwürdigen Hütlein auf wirrem Haargelock, war eine jüngere Dame in Lektüre versunken; im Dunkel der Felsenpartien verschlief eine männliche Jammergestalt aus der ungezählten Schar der Beschäftigungslosen mit überhangendem Haupte die Mittagszeit. So war ich bald wieder beim Eingang angelangt und ließ mich auf eine halbwegs vor der Sonne geschützte Bank des Parterres nieder, wo ich jeden Eintretenden sofort gewahr werden mußte. Der Tag war glühend heiß. Weiße, leuchtende Wolkenmassen standen dicht geballt am Himmel; aus einer nahe gelegenen Schmiede tönte hastiges Gehämmer in die Stille des Gartens, von Zeit zu Zeit auch das Rollen eines Wagens und der Schlag zweier Turmuhren, die den trägen Gang der Stunden anzeigten. Ich blickte vor mich hin und konnte keinen anderen Gedanken fassen als den, daß sie nun kommen sollte. Alles andere verschwamm in goldenem Duft wie die Wipfel um mich her ..... Endlich schlug es in langsamer Wiederholung zwei Uhr. Ich fühlte, wie mein Herz still stand, um gleich darauf desto heftiger zu pochen. So verharrte ich in atemloser Spannung. Jetzt zuckte ich zusammen. Ein Sonnenschirm! Sie ist es! Doch halt – noch ein Sonnenschirm. Wie ärgerlich, daß gerade jetzt noch andere Leute erscheinen müssen! So dachte ich, während zwei weibliche Gestalten durch das Gittertor traten, und sank enttäuscht in die Bank zurück, von der ich mich schon halb erhoben hatte. Aber ist das nicht ihr Gang? Ihr zierlicher Wuchs? Beim Himmel, sie ist es – doch nicht allein! Und nun fühlte ich mich wie vom Blitz getroffen: ich hatte in der Begleiterin die Meduse erkannt. Endlich stand ich doch auf; denn ich bemerkte, daß diese sich von ihrer Schwester trennte und einen Seitenpfad einschlug, während Hermine mit raschen Schritten geraden Weges auf mich zukam. Über ihrem Antlitz lag eine emailartige Blässe, von der die großen, dunklen Augen auffallend ernst und finster abstachen. ›Ich habe Sie, da ich mit meiner Schwester einiges in der Stadt besorgen muß, hieher gebeten,‹ begann sie, ohne eine Anrede von meiner Seite abzuwarten, ›um Sie zu fragen, was Sie eigentlich mit Ihrem Briefe beabsichtigten?‹ Diese Worte, welche trotz eines leichten Zitterns der Stimme, in einem scharfen und schneidenden Tone gesprochen wurden, standen in solchem Widerspruche mit meinen Erwartungen und überraschten mich derart, daß ich eine Zeitlang gar nichts entgegnen konnte. ›Was ich beabsichtigte?‹ brachte ich endlich mühsam hervor. ›Nun, wenn Sie das nicht selbst fühlen –‹ ›Ich fühle gar nichts, mein Herr, und kann Ihnen nur sagen, daß Sie sich in mir geirrt haben.‹ Der verächtliche Blick, den sie dabei auf mich warf, brachte mich zur Besinnung. Meine ganze männliche Überlegenheit war plötzlich in mir erwacht, während sich eine kalte Ruhe meines Inneren bemächtigte. ›Ich glaube jetzt selbst, daß ich mich in Ihnen geirrt habe, mein Fräulein‹, sagte ich nach einer Pause. ›Gewiß!‹ bekräftigte sie und warf das Haupt empor. ›Ich bin nicht gewohnt, leichtfertige Beziehungen anzuknüpfen.‹ Ich war nahe daran, aufzulachen. Diese Äußerung erschien mir in ihrer Banalität weit eher eine Behauptung des Gegenteils; ich hielt sie daher gar keiner Auseinandersetzung wert und sagte bloß ironisch: ›Es fällt mir durchaus nicht bei, Ihre löblichen Grundsätze erschüttern zu wollen.‹ Sie hatte offenbar eine andere Sprache erwartet, denn sie schrak leicht zusammen und preßte ihr Taschentuch an die Lippen. Aber sie fuhr auch sogleich in sehr bestimmtem Tone fort: ›Ich muß Sie daher bitten, mich fernerhin in keiner Weise zu belästigen.‹ ›Sie können sich dessen versichert halten.‹ ›Und vor allem nicht mehr in die Kirche zu kommen, die ich in letzter Zeit nur deswegen ohne meine Mutter besucht habe, weil sie krank war.‹ Sie schien bei diesen Worten allmählich ihre Haltung zu verlieren. Ihr Blick, ihr Gang wurden unsicher, während sie merklich nach Atem rang. Aber mein Herz hatte sich bereits derart verhärtet, daß ich das alles mit einer Art grausamer Schadenfreude wahrnahm und in gemessenem Tone erwiderte: ›Sie werden mich nicht mehr sehen, es wäre denn infolge eines Zufalls, für welchen ich keine Verantwortung übernehme.‹ Hierbei machte ich, den Hut lüftend, eine übertrieben höfliche Verbeugung, um mich zu verabschieden. Sie stand unschlüssig da. Es war, als wollte sie noch etwas sagen, und ihr zarter Busen hob und senkte sich rasch. Dann aber zog sie zu einem stolzen, flüchtigen Gruß das Kinn an und eilte fort. Mit hoffärtiger Genugtuung blickte ich ihr nach, bis sie mit der Meduse, die ihr auf halbem Wege entgegenkam, draußen verschwunden war. Dann schalt ich mich ob meiner Torheit, die mir einen solchen Streich gespielt und schritt, während sich jetzt der Garten allmählich mit Menschen zu beleben begann, eine Zeitlang auf und nieder, wobei ich in meinem Ärger eine heitere Melodie vor mich hinsummte. Dann verließ ich den Ort meiner Enttäuschung. In der nächsten Straße kam eben ein leerer Fiaker vorüber, ich warf mich hinein und fuhr nach Hause.« »Dieses unerquickliche, peinliche Erlebnis,« fuhr der Präsident nach einer Pause fort, »verleidete mir meine Studien und war die Veranlassung, daß ich mich, um jede quälende Erinnerung zu übertäuben, kopfüber in Zerstreuungen stürzte, wozu Wien auch noch im Sommer Gelegenheit genug bietet. Ich fuhr nun fast jeden Tag nach der Stadt, nahm vernachlässigte Bekanntschaften auf, knüpfte neue an, griff dabei nach allem, was sich an Vergnügungen und Genüssen eben darbot, und kehrte erst bei später Nacht in meine ländliche Behausung zurück. So vergingen die nächsten Wochen, und schon war ich im Begriffe, eine Sommerfrische in Tirol oder im Salzkammergut aufzusuchen, als ich plötzlich wieder zum Dienst einberufen wurde. Man war an leitender Stelle, ich weiß nicht wie, auf mich aufmerksam geworden und versetzte mich in ein Ministerium, wo mir ein nicht unwichtiges Referat anvertraut wurde. Ich begrüßte diese neue Tätigkeit mit großer Freude. Denn obgleich ich, wie schon gesagt, niemals zu den Vielgeschäftigen gehört habe, so war mir doch eigentlicher Müßiggang seit jeher gründlich verhaßt. Aber diese Rückkehr zu meinem alten Berufe zog manche Veränderung nach sich. Vor allem konnte ich nicht länger hier außen wohnen bleiben und mietete mich daher in der Stadt ein. Bald darauf drang ein reicher Mann, dem die Lage meines Landhauses gefiel, sehr hartnäckig in mich, es ihm zu verkaufen. Da es mir nun einmal samt seiner Umgebung doch schon verleidet war, so widerstand ich schließlich dem äußerst glänzenden Angebote um so weniger, als sich mir gerade in jener Zeit ein ziemlich dringendes Bedürfnis nach erhöhten Einnahmen im allgemeinen sowohl, wie auch im besonderen fühlbar gemacht hatte. Ich war nämlich, wie denn der Zufall solche unbewachte Augenblicke stets wahrzunehmen pflegt, inzwischen in die Netze eines außerordentlich schönen Weibes geraten, das mir sehr viele Auslagen verursachte, und welchem ich später, um ganz und gar unmöglich gewordene Beziehungen endgültig zu lösen, fast mein ganzes Vermögen zum Opfer bringen mußte. Aber nicht des Geldverlustes wegen – nebenbei bemerkt, ist der Rest des Kaufschillings, der aus Papieren bestand, in den Abgrund des späteren großen Börsensturzes gesunken – bereue ich es jetzt, mein kleines Besitztum dahingegeben zu haben, sondern nur, weil es mir in der Erinnerung wieder lieb und teuer geworden und ich gern meine Tage in diesen nun für immer verschwundenen Räumen beschlossen hätte. – Zu jener Zeit, wo mein Verkehr mit dem erwähnten schönen Weibe noch in seiner ersten reizenden Blüte stand, hatten wir, ich und sie, an einem wundervollen Herbsttage – ich glaube, es war schon im Oktober – einen kleinen Ausflug unternommen. Wir waren nach Dornbach gefahren, dort ausgestiegen und gingen dann der sogenannten Sophienalpe zu, um später ein kleines Diner einzunehmen, das wir im Gasthause zur ›Rohrhütte‹ bestellt hatten. Unser Gang durch die gelb und rot gefärbten Buchenwälder war herrlich. Eine sanfte, tiefe Ruhe war rings umher ausgegossen, und keine Menschenseele begegnete uns. Ebenso lautlos war es bei unserer Rückkehr im Gasthause, wo wir uns einen der im Freien angebrachten Tische decken ließen. Aber wir saßen noch nicht lange, als sich von einem nahen Waldwege her lauter Gesang, Männer- und Frauenstimmen gemischt, vernehmen ließ, und auch bald darauf ein bunter Schwarm fröhlicher Menschen in Sicht kam. Es war eine echte Landpartiegesellschaft. Die Männer, ihre Hüte im Nacken und mit Reisern geschmückt, trugen Überröcke und Plaids über die Schultern geworfen, die Frauen und Mädchen, Taschen und Körbchen am Arm, schritten in hochgeschürzten Kleidern fröhlich einher, während erhitzte und bestäubte Kinder lärmend voraus und auf das Gasthaus zusprangen. Obgleich uns die zahlreichen Ankömmlinge nicht eben erwünscht waren, so blickten wir doch mit einem gewissen Vergnügen nach den Leuten, die nun, indem sie rasch einige Tische aneinander rücken ließen, mit lauten Rufen und verworrenen Befehlen Trank und Speise verlangten. Ich hatte aber kaum etwas näher hingesehen, als ich auch schon unter den weiblichen Gästen Hermine erkannte, welche mir, eben im Begriff, sich an der Seite eines jungen Mannes niederzulassen, in demselben Moment gleichfalls den Blick zuwandte. Ich konnte deutlich bemerken, wie sie, gleichsam erstarrt, in ihrer Bewegung innehielt und sich, ganz blaß, an den Rand des Tisches lehnte, so zwar, daß die ihr zunächst Befindlichen sie überrascht und besorgt ansahen. Sie schien einige beruhigende Worte zu sagen und setzte sich dann, leicht mit der Hand über Stirn und Wange streichend, worauf sie sich sogleich mit sichtlich erzwungener Lebhaftigkeit in die Unterhaltung mischte. Meine Begleiterin gewahrte von dem allen nichts, oder wenn auch, so legte sie doch kein Gewicht darauf. Selbst der Umstand, daß Hermine sie später, zu uns herüberblickend, gleichsam mit den Augen verschlang, befremdete sie nicht; denn sie war es gewohnt, sich von jedermann und nicht zum mindesten von ihrem eigenen Geschlechte bestaunt zu sehen. Ich aber befand mich sehr begreiflicherweise in einem eigentümlichen Gemütszustande. Beim Anblick Herminens hatte es mich durchzuckt; nun tauchten die niedergehaltenen Erinnerungen in mir auf. Einerseits empfand ich eine Art von Beschämung, daß sich meine Gedanken mit diesem Mädchen, welches ich jetzt inmitten der lauten, sich in platter Behäbigkeit und in nicht allzufeinen Scherzen gefallenden Gesellschaft sitzen sah, jemals ernsthaft hatten beschäftigen können – und doch durchzitterte mich leise Wehmut, und doch war es ein vorwurfsvoller Schmerz, was sich in meiner Brust zu regen begann. Ich wurde immer ernster und stiller, so daß es endlich meiner Dame auffiel, die mich fragte, warum ich so schweigsam sei. Ich wies, gleichsam ungehalten, auf die Tafelrunde vor uns, die sich bei frisch gefüllten Gläsern immer ungezwungener benahm, und schlug vor, nach Hause zu fahren, da es ohnehin schon anfange, kühl zu werden. Die erste Zeit der Fahrt blieb ich in mich gekehrt; als wir uns aber der Stadt näherten und endlich die Räder auf dem Pflaster der abendlich durchwogten Straßen dahinrollten, hatt' ich es überwunden. Ich küßte die weiße Hand, die in der meinen ruhte – und das Bild Herminens versank wieder. Jahre gingen dahin. Schwere Schicksale waren inzwischen über unser Vaterland hereingebrochen – und man rang, wie schon so oft, nach einem Halt. Ich war dabei in meiner amtlichen Stellung sehr rasch befördert worden, und als jetzt die Zeit ratloser Versuche begann, stellte mich ein Ministerium, das man über Nacht gebildet hatte, an die Spitze einer Provinz, die infolge nationaler Sonderbestrebungen in sich gespalten war. Ich spreche nicht gern von meinem dortigen, nicht allzu langen Wirken. Es hat in der öffentlichen Meinung eine harte Beurteilung erfahren; ich selbst kann nur sagen, daß ich meine Pflicht getan. Verhältnismäßig war meine Stellung eine viel zu bedeutungslose, als daß ich eine historische Rechtfertigung erwarten dürfte; aber spätere Geschlechter werden jedenfalls erkennen, wie schwer, wie unmöglich es uns überhaupt gemacht war, ersprießliche und dauernde Zustände zu schaffen. Wer Kraft entwickeln will, muß festen Boden unter den Füßen haben; auf schwankender Grundlage hat man die äußersten Anstrengungen nötig, um sich nur aufrecht zu halten. Und in dieser Lage waren und sind unsere Staatsmänner – war und ist Österreich seit langem. Das muß man erkennen, um nicht an sich selbst und anderen irre zu werden. Damals jedoch nahm ich mir die Sache zu Herzen. Ich war nicht verbittert, aber von jener Mutlosigkeit befallen, die der Vernichtung mit einer Art elegischer Freude entgegenblickt. Das dauerte jedoch nicht lange. Ich fühlte den Drang, mich aufzuraffen, und wollte fürs erste fremde, allgemein gepriesene Zustände in der Nähe besehen, wollte Vergleiche anstellen und Zusammenhänge ergründen. Ich beschloß daher eine Reise durch das eben gewordene Deutsche Reich anzutreten, um mich später nach England zu wenden, welche Absicht ich jedoch in weiterem Verlauf aufgab, indem ich es vorzog, einen stillen Winter inmitten der Kunstschätze Italiens zuzubringen. In den Tagen, wo ich die Vorbereitungen zu dieser längeren Reise traf, hatte ich in Wien noch allerlei Geschäfte zu besorgen und zahlreiche Abschiedsbesuche zu machen; Gott weiß, wie viele Treppen ich damals hinangestiegen bin. So hatte ich mich denn auch – es war an einem linden Februartage, die Dächer funkelten in der Sonne, und an allen Straßenecken standen Veilchenverkäuferinnen – zu kurzem Besuche in eines jener Häuser begeben, die mit einem Durchgang von der Kärntnerstraße in die Seilergasse münden, und in welchen viele kaufmännische Etablissements untergebracht sind. Als ich vom dritten Stockwerke wieder hinabstieg, kam mir von unten eine schlanke Frauengestalt entgegen, die trotz des milden Wetters noch sehr winterlich umhüllt war. Auf dem nächsten Treppenabsatze trafen wir zusammen und wollten rasch aneinander vorüber – als wir auch schon beide, wie plötzlich festgewurzelt, stehen blieben. Es war Hermine, die jetzt nach Fassung rang und sich dabei mit der Hand an das Geländer hielt. So befanden wir uns eine Zeitlang sprachlos gegenüber. Endlich nahm ich unwillkürlich das Wort: ›Sie kennen mich also noch?‹ fragte ich. ›Wie sollte ich nicht?‹ erwiderte sie mit gepreßter Stimme. ›Es ist freilich schon lange her, daß wir – – Aber Sie haben sich nicht verändert – fast gar nicht,‹ fuhr sie fort, indem sie mich mit scheuer Aufmerksamkeit betrachtete. ›Ich jedoch –‹ sie hielt inne und wandte das Haupt ab. Sie sah in der Tat verändert, sehr verändert aus. Sie war größer, aber auch hagerer geworden, und ein herber, scharfer Zug war in ihr Antlitz gekommen. Die Stirn trat kantig hervor, und auf den leicht eingesunkenen Wangen brannte eine hektische Röte. Und doch war aus diesen verfallenen Zügen der frühere Zauber nicht ganz entschwunden, so daß ich keine Unwahrheit sprach, als ich jetzt bewegt und leise sagte: ›O, Sie sind noch immer schön‹ Ein bitteres Lächeln zuckte um ihren Mund. ›Nein, nein,‹ sagte sie abwehrend; ›ich weiß es. Ich bin sehr krank gewesen und kann mich nicht wieder erholen.‹ ›Und leben Sie jetzt in der Stadt?‹ fragte ich beklommen. ›Ja; aber nicht in diesem Hause. Ich suche hier nur meinen Bruder auf, der oben in einem Comptoir beschäftigt ist. Es ist manches über uns gekommen – und nach des Vaters Tode wurde das Haus draußen verkauft. Jetzt lebt die Mutter mit den jüngeren Geschwistern bei mir.‹ ›Bei Ihnen? Sie sind also –‹ ich sprach das Wort nicht aus. ›Ja, ich bin verheiratet,‹ sagte sie, aber so schmerzlich tonlos, daß ich unwillkürlich fortfuhr: ›Und Sie sind nicht glücklich?‹ Sie erwiderte nichts, brach jedoch, trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, in ein heftiges Weinen aus. Im Hause war es ganz still; nur die Tritte der Menschen, die unten den Durchgang durchschritten, klangen herauf. Ich faßte ihre Hand: ›O warum hat alles so kommen müssen, Hermine!‹ ›Warum?‹ entgegnete sie mit Heftigkeit, während sie hastig Augen und Wangen trocknete. ›Weil ich unwahr gewesen bin – unwahr zum erstenmal im Leben. Sehen Sie,‹ fuhr sie mit leiserer Stimme fort, ›schon als Kind habe ich mich niemals verstellen können, und noch heute – obgleich ich es leider jetzt selbst tun muß – vermag ich es eigentlich nicht zu fassen, daß es Menschen geben kann, die anders reden, als sie denken, und anders handeln, als sie empfinden. Ihr Brief hatte mich in Verwirrung gebracht. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte und wagte nicht, mich irgend jemand anzuvertrauen. Nach langem Kampfe mit mir selbst entschloß ich mich endlich, Sie in den Garten zu bescheiden. Sie sollten erfahren, daß auch ich – – Aber bis zur Stunde des Zusammentreffens lag noch ein Tag dazwischen. Meine Unruhe steigerte sich, und nach einer schlaflosen Nacht konnte ich nicht umhin, mich meiner Stiefschwester zu eröffnen, die jetzt Lehrerin an einer Mädchenschule geworden ist. Sie erschrak aufs heftigste über meine Mitteilung und beschwor mich, von einem Schritte abzustehen, der das Unglück meines Lebens zur Folge haben könne. War sie doch selbst, wie ich recht wohl wußte, von dem Manne, den sie in ihrer Jugend geliebt, getäuscht und verlassen worden. Und da ich dennoch meinen Entschluß ausführen wollte, so bestand sie darauf, mich wenigstens zu begleiten. Denn wenn ich allein erschiene, so würden Sie eine noch üblere Meinung von mir fassen, als Sie vielleicht ohnehin schon von mir hätten. Daher band sie mir auf die Seele, mich so zurückhaltend, so abwehrend wie möglich zu benehmen, wenn ich die Aufrichtigkeit Ihrer Gesinnungen und Gefühle erproben wolle. Das tat ich denn auch ungeschickt genug – und alles war vorüber.‹ Ich blickte schweigend zu Boden. Diese Auseinandersetzung traf mich wie eine Anklage, die mein Gewissen aufs tiefste empfand. Dennoch sagte ich: ›Hätte ich das ahnen können –‹ ›Sie haben es geahnt‹, erwiderte sie ernst. ›Aber Sie waren zu stolz, um es sich einzugestehen. Und Sie hatten ja nur recht. Weiß ich doch, wer Sie waren – wer Sie sind. Wie hätten Sie und ich jemals – – Und so ist es gut, daß alles kam, wie es gekommen – und daß mich mein eigener Stolz abhielt, Ihnen – wozu es mich drängte – eine schriftliche Erklärung zugehen zu lassen. Ich hoffte auf die Zeit – auf den Zufall, der uns wieder zusammenführen würde, hoffte so lange, bis ich Sie mit –‹ sie unterbrach sich – ›bis ich Sie in Dornbach sah. Damals, noch an demselben Abend, habe ich meinem Gatten das Jawort gegeben.‹ Ich schwieg. ›Es war mir bestimmt‹, fuhr sie düster fort. ›Aber ich werde mein Los nicht mehr lange zu tragen haben.‹ ›Sprechen Sie nicht so –‹ ›Ich weiß es – ich fühl' es und bin froh, Sie noch einmal gesehen und Ihnen alles gesagt zu haben. Leben Sie wohl!‹ Sie reichte mir die Hand. ›Was soll ich Ihnen erwidern, Hermine? Nur dies eine: auch ich bin nicht glücklich.‹ Dabei zog ich sie sanft an mich und küßte ihre blasse Stirn. Sie schauderte zusammen und umschlang mich dann plötzlich in leidenschaftlicher Selbstvergessenheit. In demselben Augenblicke hörten wir, wie jemand die Treppe emporstieg. Sie riß sich los. ›Leben Sie wohl!‹ hauchte sie – und eilte hinauf .....« * * * »Und Sie haben sie nicht wieder gesehen?« fragte ich, da der Präsident schwieg. »Nein; ich habe sie nicht wieder gesehen. Nachdem ich aber aus Italien zurückgekehrt war, habe ich Nachforschungen angestellt und erfahren, daß sie in der Tat nicht mehr lange gelebt hat. Sie starb an einem Brustübel. Ihr Gatte, ein lebensfroher junger Mann, hat sie sehr bald vergessen.« Eine nachdenkliche Stille trat ein. »Es ist im Grunde eine ganz müßige Frage,« fuhr der Präsident nach einer Weile fort, »wie sich unser beider Leben würde gestaltet haben, wenn sich meine Absichten von damals erfüllt hätten. Wenn ich aber – und ich kann mich dessen nicht erwehren – zuweilen darüber nachsinne, so ist es mir, als hätte ich mich wirklich einer Schuld anzuklagen, und oft habe ich die Empfindung, daß zwischen der Toten und mir noch ein gewisser Zusammenhang bestehe. In dieser Hinsicht erschien es mir fast wie ein memento mori, als ich heute so plötzlich und unerwartet den Zettel fand.« Dies mochte dahingestellt bleiben. Gewiß aber ist, daß auch der Präsident nicht lange mehr lebte. Er starb in einer stürmischen Märznacht, nachdem die Krankheit plötzlich zu ihren heftigsten Erscheinungen sich gesteigert und ihm das Bewußtsein geraubt hatte. Das Leichenbegängnis des »Exzellenzherrn« war ein sehr einfaches; er selbst hatte sich letztwillig jeden Pomp verbeten. Die Wagenreihe, welche dem Sarg folgte, war kurz und die Kirche fast leer; nur in den vordersten Bänken sah man ein paar Reihen dunkel gekleideter Gestalten, die mit gleichmütigem Ernst vor sich hinblickten. Da es ein sehr unfreundlicher Tag war und von Zeit zu Zeit heftige Regengüsse niedergingen, so fuhren die meisten Anwesenden gleich von der Kirche weg nach der Stadt zurück. Nur einige wenige gaben das Geleite bis zum Friedhof und umstanden das offene Grab. Von diesen wenigen war ich einer der letzten, die weihende Schollen in die Tiefe warfen. Tambi 1. I. Vor Jahren hatte ich mich entschlossen, einen Winter auf dem Lande zu verleben, und zwar deshalb, weil ich in meinen Arbeiten zurückgeblieben war und Ruhe und Sammlung benötigte. Ich begab mich also im Spätherbst auf ein herrschaftliches Gut, dessen Besitzer mir seit Jahren befreundet. Er selbst war von dort, wo er einen Teil des Sommers zugebracht, mit seiner Familie nach Italien abgegangen; ich aber bezog ein kleines Nebengebäude des Schlosses, wo ich mich sehr bald wohnlich eingerichtet hatte. Meine Fenster gingen nach zwei Seiten hin. Auf der einen blickte ich in den Park, auf der anderen lag die Landschaft mit einem Teil des Dorfes vor mir. Eine echt mährische Gegend. Unübersehbare Felder, auf welchen noch hin und wieder Rüben und Kartoffeln standen; sanft ansteigende Hügel, dunkle Nadelholzwälder – und das Ganze von einem Eisenbahndamme und einem kleinen, trägen Flüßchen durchschnitten und durchschlängelt. Während der ersten Zeit meines Aufenthaltes war ich viel im Freien. Ich ließ mir einen alten Gaul satteln, der im Stalle der Wirtschaft den Gnadenhafer genoß, und ritt im sanften Strahle der letzten Oktobersonne nach den umliegenden Höfen und Ortschaften; oder ich durchstreifte, die Jagdflinte über die Schulter gehängt, die lautlosen Wälder, bis sie endlich von Novembernebeln zu triefen anfingen – und ich mit einem leidenschaftlichen Rucke meine Tätigkeit aufnahm. Nun verließ ich, mit Ausnahme regelmäßiger Morgenspaziergänge, das Haus nicht mehr – und als der Weihnachtsschnee auf den Feldern lag, da war ich auch mit einer Arbeit zu Ende gekommen, die mir schon lange das Herz beschwert hatte und auf deren glückliches Vollbrachtsein ich am Silvesterabend ein Glas selbstgebrauten Punsches leeren konnte. Auch den Neujahrstag wollte ich in meiner Weise festlich begehen. Es war in jenem Jahre ein äußerst strenger, aber prachtvoller Winter, und gerade damals gab es das köstlichste Wetter. Der Himmel war durchsichtig blau, und soweit das Auge reichte, glitzerten die weißen Kristalle. Ich beschloß, nach einem alten, verfallenen Bergschlosse zu wandern, das etwa zwei Wegstunden entfernt lag und eine herrliche Rundsicht über das Land eröffnete. Ich hatte diese Rundsicht schon mehrmals im Sommer genossen, wollte aber nun auch ihre winterlichen Reize kennenlernen. Nachdem dies geschehen war und ich genug der reinen, aber auch schneidenden Luft, die dort oben wehte, eingeatmet hatte, machte ich mich wieder auf den Heimweg. Mittag war schon vorüber; müde und hungrig geworden, fiel ich in die nächste Dorfschenke ein, die sich mir darbot. Es war ein elendes Wirtshaus, nur durch einige Hobelspäne gekennzeichnet, die nach Landessitte über dem Tore hingen. In der Gaststube saßen einige Bauern bei trübem Bier; auch drei Wandermusikanten waren da, die ihre Blechinstrumente vor sich liegen hatten und vielleicht später zum Tanze aufspielen sollten. Der Wirt aber, bei dem ich ein notdürftiges Mahl bestellte, wies mich zuvorkommend über den Flur in ein kleines Nebenzimmer, in welchem nur ein einziger, länglicher Tisch stand. An diesem Tische, mit dem Rücken gegen die Wand, saß ein städtisch gekleideter Mann und schien zu schlummern; wenigstens hatte er das Haupt auf die Arme gelegt, die verschränkt auf der Tischplatte ruhten. Neben ihm auf der Bank lag ein brauner Hund, der bei meinem Eintritt kurz anschlug. Der Mann hob den Kopf, faßte mich ins Auge – und starrte mich an, so wie ich ihn. Dieses runde, blaß aufgeschwemmte Gesicht, das jetzt allmählich von einer fahlen Röte überzogen wurde, kam mir so bekannt vor, daß ich unwillkürlich ausrief: »Wie? Sie sind es, Herr – Herr –« Ich rang vergeblich nach einem Namen, der mir entfallen war. Der andere zögerte sichtlich, diesen Namen auszusprechen. Endlich sagte er mit leiser, stockender Stimme: »Bacher, wenn ich bitten darf – Johann Bacher.« »Richtig – Herr Bacher! Das nenne ich ein überraschendes Zusammentreffen!« Dabei setzte ich mich ihm gegenüber und deutete kurz die Gründe an, die mich für diesen Winter hierher geführt. »Aber wie kommen Sie in diese Gegend?« fuhr ich fort. »Sie ist ja eigentlich meine Heimat«, erwiderte er, noch immer sehr verlegen; »denn ich habe in der nächsten Kreisstadt, wo mein Vater ein kleines Amt bekleidete, das Licht der Welt erblickt. Seitdem bin ich freilich auch an anderen Orten herumgekommen. Gegenwärtig aber bin ich Kanzlist bei dem Notar in ...« Er nannte einen größeren Marktflecken, der, noch zu dem Rayon der Herrschaft gehörend, eine starke Wegstunde von meiner Behausung entfernt an der Landstraße lag. Doch eh' ich hier fortfahre, muß ich vorerst weiter zurückgreifen. * * * Vor ungefähr einem Dezennium hatte man wieder einmal ein dichterisches Genie, einen modernen Shakespeare entdeckt, von welchem man erwartete, daß er die Wiedergeburt des deutschen Dramas einleiten werde. Ein bisher gänzlich unbekannter, in Wien lebender Autor hatte nämlich eine Tragödie erscheinen lassen, die das Bedeutendste sein sollte, was seit vielen Jahren in dieser Richtung geschaffen wurde; ja ein gewisser Ästhetiker, der sonst fast alle Erscheinungen der neueren Literatur mit Stillschweigen zu übergehen liebte, verstieg sich in einem plötzlichen Anfall von Begeisterung zu dem Ausspruche: das Werk könne – wenn überhaupt – nur mit dem Macbeth oder dem Lear verglichen werden. Was nun mich selbst betraf so legte ich auf dies alles kein besonderes Gewicht. Ich hatte schon damals lange genug gelebt, um zu wissen, wie wenig in der Regel hinter einem solchen pausbäckigen Lobe zu suchen sei. Ich hielt das Ganze für eine mehr oder minder glänzende Seifenblase, wie ich deren schon manche hatte aufsteigen und platzen gesehen. So trug ich denn auch gar kein Verlangen, das in Rede stehende Drama kennenzulernen, bis mich endlich das dringende Ersuchen einer mir befreundeten Dame, welche aufstrebende Talente mit schönem Eifer und auch nicht ohne ein gewisses Verständnis zu fördern pflegte, dazu vermochte. Mit Mißtrauen und Mißbehagen nahm ich das Buch zur Hand – mit großem Interesse und stellenweisem wirklichen Genusse las ich es zu Ende. Hier hatte sich in der Tat eine nicht gewöhnliche Begabung und, was noch mehr sagen wollte, ein selbständiger Geist ausgesprochen, der sich allerdings an dem großen Briten herangebildet, aber – einige geringfügige Formanklänge abgerechnet – keineswegs in Nachahmung verfallen war. Nicht so glücklich stand es mit der Komposition des Stückes. Denn diese erwies sich sehr unzulänglich, gleichsam als Nebensache behandelt. In einzelnen Szenen kam allerdings lebendige und auch gewandte dramatische Kraft zur Geltung; allein gerade dort, wo sie sich zeigen sollte und mußte, fiel sie aus oder schlug vielmehr mitten in der Steigerung in eine weichliche Schwäche um, die mir mit der Natur des Dichters selbst im Zusammenhange zu stehen schien. Alles in allem: ein mangelhafter, aber berechtigter dramatischer Versuch. Ich teilte meine Ansicht der Dame mit und fügte schließlich hinzu, daß der Verfasser unter allen Umständen aufmunternde Teilnahme verdiene; wie hoch jedoch seine Begabung anzuschlagen und wie weit diese entwicklungsfähig sei, das könne erst die Zukunft lehren. Ich sah, daß meine Meinung keine vereinzelte blieb. Denn man begann schon allmählich von verschiedenen Seiten sich in ähnlicher Weise, wenn auch nicht ganz so wohlwollend, zu äußern. Ein damals allmächtiger, auch in literarischen Dingen tonangebender Theaterdirektor hatte überdies das Werk von der Bühne zurückgewiesen, und zwar mit der Bemerkung, die er ähnlichen Erzeugnissen gegenüber stets auszusprechen liebte: er führe das Stück im Interesse des Autors nicht auf; der solle ihm nur ein neues und besseres schreiben. Dieses aber ließ auf sich warten; ja es tauchte sogar die Behauptung auf, daß Hans Bacher – so nannte sich oder so hieß vielmehr der Dichter – nie wieder ein Stück zustande bringen werde. Dasjenige, womit es ihm gelungen war, einiges Aufsehen zu erregen, habe er schon vor vielen Jahren verfaßt, und seit dieser Zeit trage er sich mit einem zwar großartigen, aber völlig undramatischen Stoffe, an welchem er sich sozusagen geistig aufzehre. Dabei kamen auch nach und nach, wie das so zu gehen pflegt, mißgünstige Urteile über die Persönlichkeit des Autors selbst zum Vorschein. Er sei ein Autodidakt, hieß es, und über das bildungsfähige Alter längst hinaus; dabei sei er träge und hochmütig – und vor allem tadelte man, daß er eine zwar unbedeutende, aber immerhin das Leben sichernde Beamtenstelle aufgegeben, um sich ganz der Dichtkunst zu widmen, wobei er, wie so manches andere halbe, sich selbst überschätzende Talent vor und nach ihm, unfehlbar seinen Untergang finden müsse. Es fügte sich in jener Zeit, daß ich mich bei dem erwähnten Theaterdirektor an einem seiner gewöhnlichen Empfangsabende einfand, wo man stets mit einer Anzahl von Künstlern und Schöngeistern beiderlei Geschlechtes zusammentraf. Es waren diesmal gerade sehr viele Leute zugegen, so daß sich der nicht allzugroße Salon überfüllt zeigte. Nachdem ich mit dem Hausherrn, der in einer Runde von Herren und Damen saß, den üblichen kurzen Gruß ausgetauscht hatte, zog ich mich mit einem zufällig anwesenden näheren Bekannten in eine Fensternische zurück. Bald darauf trat ein Herr ein, der mir ganz fremd war. »Das ist der Dichter Bacher«, sagte mein Nachbar. Da mich der Mann interessierte, so betrachtete ich ihn genau. Er war etwa vierzig Jahre alt, klein, ziemlich beleibt und trug einen fadenscheinigen schwarzen Rock, dessen Ärmel so unzulänglich waren, daß sie selbst die auffallend kurzen Arme, die darin staken, nur zur Not verhüllten. Auffallend war mir auch die scheue, demütige Unterwürfigkeit, mit welcher sich der Ankömmling vor dem Direktor und noch einigen Anwesenden, die ihm bekannt sein mochten, verneigte; denn allzuviele Zeremonien waren hier nicht Sitte, auch schien dieses Benehmen mit dem Vorwurf des Hochmutes, den man gegen ihn erhoben hatte, sehr im Widerspruch zu stehen. Endlich ließ er sich auf einen eben frei gewordenen Stuhl in dem Kreise um den Direktor nieder, und zwar an der Seite einer älteren Dame, welche, selbst Schriftstellerin, ihn sogleich angelegentlich in ein Gespräch zog. Er aber schien sich dabei sehr unfrei zu fühlen, rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her und griff beständig, wie um seine Gedanken zu sammeln, nach der Stirn. Diese wies sich samt der Nase stark entwickelt; der untere Teil des Gesichtes aber trat schwächlich zurück. Die Augen konnte ich nicht beurteilen; denn sie waren von schwer herabfallenden Lidern zur Hälfte verhüllt. Seine Unterredung mit der Dame hatte noch nicht lange gedauert, als der Direktor plötzlich den Kopf gegen ihn drehte und mit der ihm eigentümlichen lauten und barschen Stimme rief: »Nun, Herr Bacher, wie steht es mit Ihrem neuen Stück? Ist es fertig?« Der Gefragte zuckte zusammen, und seine Augen schlossen sich fast gänzlich. »Nein, noch nicht«, erwiderte er mit sichtlicher Anstrengung, während er sich verlegen hin und her wand. »Was? Noch immer nicht!« schrie der andere, sich weit im Fauteuil zurücklehnend. »Dann wird es auch niemals fertig werden; denn allem Anschein nach sind Sie selbst fertig!« Diese rücksichtslose Äußerung in Gegenwart so vieler Personen schleuderte den armen Dichter fast vom Stuhle hinab. Er wurde fahl wie der Tod; dann begann er in stummer Scham immer stärker aufzuglühen. Zum Glück waren die meisten Anwesenden an ähnliche Impromptus von seiten des Hausherrn, der sogleich wieder mit dem ihm zunächst Sitzenden von etwas ganz anderem zu sprechen anfing, seit langem gewohnt und beachteten die Sache weiter gar nicht. Nur einige wenige sahen den Getroffenen mit Befremden und, wie es mir scheinen wollte, zum Teil auch mit schadenfroher Genugtuung an. Ich aber konnte nicht an mich halten, und da gerade jetzt, indem sich einige Damen zum Fortgehen anschickten, eine Bewegung im Salon entstand, so trat ich auf den noch immer mit Scham und Verlegenheit Kämpfenden zu, stellte mich ihm vor, sagte, daß ich mich sehr freue, ihn kennenzulernen, denn ich hätte sein Drama mit großem Interesse gelesen – und was ich sonst noch zu einiger Linderung vorbringen konnte. Er schien meine Worte anfänglich gar nicht zu vernehmen; nach und nach jedoch wurde er aufmerksam und sein Antlitz erhellte sich, das bei näherer Betrachtung den Stempel großer Gutmütigkeit trug. Er war offenbar froh, einer wohlwollenden Seele gegenüberzustehen, und dankte mir in ziemlich mühsam gewählter Rede, die aber immer fließender und natürlicher wurde. Er erwähnte auch seines neuen Stückes, auf welches er, wie er sagte, sehr große Hoffnungen setzte, klagte jedoch, daß es trotz aller darauf verwendeten Mühe nicht recht gedeihen wolle. Ein paar Andeutungen über den Stoff, die er fallen ließ, zeigten mir freilich, daß diejenigen, welche die Wahl eine verfehlte nannten, nicht geradezu im Unrecht waren. Aber ich hütete mich, dies irgendwie merken zu lassen; denn ich wußte, daß man durch derlei Bedenken und Einwendungen wohl beirren und verwirren, niemals aber überzeugen könne. Ich tröstete ihn vielmehr, indem ich hervorhob, daß ich ähnliche qualvolle Stockungen aus eigener Erfahrung kenne, und bestärkte ihn in seiner Absicht, sich für einige Zeit gänzlich von dem ungewohnten und zerstreuenden gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen, in welches er, seinem Ausspruche nach, ganz wider Willen hineingeraten war. Endlich hielt ich es für angemessen, mich zu empfehlen, und er benützte diese Gelegenheit, um sich unbemerkt gleichfalls zu entfernen. Wir gingen zusammen die Treppe hinunter; vor dem Tore verabschiedeten wir uns, und jeder schlug seinen Weg ein. Bald darauf trat ich eine Reise an, die mich weit länger fern hielt, als es meine ursprüngliche Absicht gewesen war. Während dieser Zeit dachte ich immer seltener an den guten Hans Bacher – und hatte ihn endlich ganz und gar vergessen. Da ich auch nach meiner Rückkehr seiner nicht mehr ansichtig wurde, so blieb es dabei. Erst als man plötzlich wieder ein anderes Genie, einen Epiker, entdeckt hatte, der ein moderner Dante zu werden versprach, wurde ich an den verschollenen Dramatiker gemahnt. Aber ich konnte über ihn keine Auskunft erhalten. Niemand wußte, wo er sich aufhalte; man zuckte die Achseln und meinte, er würde wohl irgendwo zugrunde gegangen sein .......... * * * Und nun saß er vor mir, sichtlich gealtert, mit schlaffen, verfallenen Zügen, das gelichtete Haar grau und wüst um die Schläfen, und bewegte, noch immer fassungslos, die kurzen Arme auf dem Tisch. »Also Sie sind jetzt bei einem Notar beschäftigt«, sagte ich mechanisch. »Und wie ist es –« mit Ihren dichterischen Arbeiten? wollte ich fragen, hielt aber unwillkürlich inne. Er verstand, was ich meinte, und machte eine abwehrende Bewegung. »O, damit ist es aus – ganz aus. Ich denke nicht mehr daran und habe jede Hoffnung in dieser Hinsicht aufgegeben.« »Und warum?« warf ich ein. »Doch nicht deshalb, weil Sie jenes Stück, das Sie damals im Geiste trugen, nicht zu bewältigen vermochten? Oder haben Sie es etwa doch beendet?« »Ich habe es nicht beendet.« »Nun, vielleicht widerstrebte der Stoff ganz und gar der dramatischen Form. Jeder von uns hat in seinem Schaffen ähnliche Mißgriffe zu verzeichnen. Vielleicht hatten Sie sich überhaupt in Ihren Plänen übernommen.« »Das tat ich! Das tat ich! O, ich war von einem wahnwitzigen Hochmute besessen. Das Größte wollte ich leisten – das noch nie Dagewesene! Parturiunt montes – und nicht einmal eine Maus wurde geboren nicht einmal eine lächerliche Maus!« »Das können Sie nicht sagen«, erwiderte ich ernst. »Das Werk, mit welchem Sie in die Öffentlichkeit getreten sind, ist aller Ehren wert – ist ein sehr schätzbares Zeugnis Ihres Geistes.« »Schätzbar!« rief er fast unwillig. »Wer schätzt es? Sie vielleicht, mein verehrter Herr, und noch ein paar andere Menschen, die wohlwollend sind, gleich Ihnen. Sonst aber hat es mir nur Verachtung – oder doch wenigstens Mißachtung eingetragen. Und sagen Sie selbst: was soll auch diese rudimentäre Arbeit, diese zerstückte Talentprobe in der Literatur bedeuten? Nichts! Gar nichts!« Ich schwieg. Einer so scharfen und im Grunde auch richtigen Selbstkritik gegenüber ließ sich nicht sogleich etwas vorbringen. »Nun wohl«, sagte ich endlich, »eigentlich haben Sie recht. Aber wer kann heutzutage auf wirkliche Geltung, auf unanfechtbare Bedeutung Anspruch erheben? Das Wort Goethes: ›Weh dir, daß du ein Enkel bist‹ gilt vor allem in der Kunst. Und zuletzt ist jede Größe doch nur eine relative. Die Zeit rüttelt an allem und jedem – selbst an den Säulen, die uns bis jetzt in den Himmel zu ragen scheinen. Jedenfalls aber hätten Sie nicht in Kleinmut verfallen, sondern sich weiter versuchen sollen.« »Als ob ich mich nicht versucht hätte!« rief er. »Glauben Sie denn, daß ich mich wirklich nur mit diesem einen Stoffe getragen habe – wie freilich von vielen Seiten ausgestreut wurde? Nein, Verehrter! Da drinnen« – er schlug sich mit der Hand vor die Stirn »da drinnen lebte und webte es! Eine Fülle von Gestalten drängte sich in mir – aber wie ich sie fassen, wie ich sie von mir loslösen wollte, zerflossen sie – um mir wieder und wieder als daseinfordernde Schatten zu nahen. Und als ich endlich, meine Unmacht erkennend und auf hohen Ruhm verzichtend, mich von ihnen ab und den gewöhnlichsten, ausgetretensten Pfaden der Literatur zuwandte, versagte mir mein Geist auch dort. O, der Direktor hatte damals recht! Ich war fertig – längst fertig; ich wollte es mir nur nicht eingestehen!« »Aber wie ist das möglich!« rief ich aus. »Ja, wie ist das möglich! So fragte ich mich selbst in öden, stumpfsinnigen Tagen, in schlaflosen, qualdurchtobten Nächten. Wie ist das möglich! stöhnte ich verzweifelt, wenn ich in mein erstes gedrucktes Werk hineinsah, während das aufgelegte Blatt Papier leer blieb und die Tinte im Schreibzeug vertrocknete. Und doch war es so. Vielleicht liegt der Grund in einer erschlafften Faser des Gehirns oder in einer widerstrebenden Blutwelle. Aber da stehen wir im Dunkeln, und da wird man schuldig – schuldig in den Augen der Welt, wird verachtet, verspottet, und die Schmerzen, die solch ein Unglücklicher durchzukämpfen hat – die Nacht des Wahnsinns, die vor ihm aufzusteigen beginnt, ahnt kein Mensch! O, was habe ich gelitten!« Er verhüllte sein Antlitz mit den Händen und brach in Tränen aus, die er gewaltsam zurückdrängen wollte. Aber es gelang ihm nicht: unaufhaltsam, in heißem Gusse strömten sie hin. Ergriffen saß ich da und ließ ihn weinen. Der Hund, eine Art Dächser, der bis jetzt in sich zusammengerollt an seiner Seite geschlafen hatte, richtete sich empor und legte winselnd die Vorderpfoten auf die Schulter seines Herrn. Plötzlich erschallten wüste, ohrenzerreißende Klänge: die Bläser in der Wirtsstube hatten ihr Spiel eröffnet. Bacher fuhr auf, begütigte mit der einen Hand das Tier, das laut zu heulen angefangen hatte; mit der anderen zog er ein zerknülltes farbiges Taschentuch hervor und trocknete sich hastig Augen und Wangen. »Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen so gezeigt habe«, sagte er dann. »Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Sie sind gut und verständnisvoll und werden mich nicht verachten.« »Gewiß nicht!« Und ich reichte ihm die Hand. »Ich bin auch nicht immer so schwach«, fuhr er fort. »Ich habe mich ja längst resigniert. Nur jetzt wurden die alten Wunden wieder aufgerissen.« Ich drückte mein Bedauern aus, daß ich, ohne es zu wollen, die Veranlassung gewesen. »Machen Sie sich deshalb keine Sorge«, erwiderte er. »Die Tränen haben mir wohlgetan. Wenn ich mit mir allein bin, kann ich nicht weinen, und da ich jetzt einem Manne, den ich hoch halte, mein Herz ausgeschüttet, werde ich um so leichter mein unbeachtetes Dasein weiterleben.« »Sie sind also mit Ihren äußeren Verhältnissen nicht gänzlich unzufrieden?« »Keineswegs; im Gegenteile. Was ich mir bei dem Notar verdiene, ist freilich nicht viel; aber es läßt sich damit auskommen.« »Es freut mich, dies zu hören. Aber – entschuldigen Sie, daß ich mich gewissermaßen als unbefugter Ratgeber eindränge – wäre es denn einem Manne von Ihrer Begabung nicht möglich, sich eine vorteilhaftere Stellung zu gründen? Es ließe sich gewiß etwas Passendes für Sie finden, und wenn Sie mir erlauben wollten, daß ich in Wien –« Er zuckte erschreckend zusammen und streckte mir die Arme in heftiger Abwehr entgegen. »Nein! Nein!« rief er, »um keinen Preis – nicht um das Gehalt eines Ministers! Wie sollte ich den Leuten dort unter die Augen treten! Und dann – Sie überschätzen meine Fähigkeiten. Ich besitze nur sehr geringe Kenntnisse; denn ich habe meine Studien leider nicht beenden können. Mein Vater starb, als ich noch ein Knabe war, und meine Mutter blieb arm, sehr arm zurück. Daher mußte ich die Schule vorzeitig verlassen und in ein Amt eintreten, bei welchem es mehr auf die Praxis als auf die Theorie ankam. Es war im Zollwesen. Die erste Zeit, da ich in sehr untergeordneter Stellung beschäftigt war, ging die Sache leidlich. Als ich aber später selbständig eingreifen sollte, da zeigte sich sofort der Mangel meiner Natur. Der direkte Verkehr mit den Parteien verwirrte mich; ich konnte keinen raschen Überblick über die Tätigkeit der mir unterstehenden Handlanger gewinnen, und so kamen Verstöße vor, die mich bei meinen Vorgesetzten in den Ruf eines leichtsinnigen und sorglosen Beamten brachten, während ich doch nur ein ängstlicher und schwerfälliger war, der sich selbst das kleinste Vergehen tief zu Herzen nahm. Und als man endlich erfuhr, daß ich ›dichte‹, war es auch um mich geschehen. Man wurde mir aufsässig, bereitete mir absichtliche Schwierigkeiten und Verlegenheiten, überging mich bei einer mir zustehenden Beförderung – und ich sah den Tag herannahen, an welchem man mich schlechthin entlassen würde. Daher gab ich auch sofort selbst meine Stelle auf, als ich einen literarischen Erfolg errungen hatte. Also nicht aus Hochmut oder gar aus Trägheit, wie mir späterhin in die Schuhe geschoben wurde. Hochmütig, wie ich Ihnen schon gestanden, war ich wohl, aber nur in jener einen Hinsicht; im übrigen aber kann es keinen Menschen geben, der anspruchsloser wäre als ich. Und ohne Tätigkeit – das habe ich während meines qualvollen unfreiwilligen Müßigganges zutiefst empfunden – könnte ich gar nicht leben. Aber es muß eine ruhige, gleichmäßige, mehr mechanische Tätigkeit, wie die des bloßen Abschreibens sein. Bei allem anderen, das mir gewissermaßen eine über mich selbst hinausgehende Verantwortlichkeit auferlegt, verliere ich den Kopf. Es ist eigentümlich«, fuhr er nach einer Pause, da die Musik inzwischen wieder aufgehört hatte, mit leiserer Stimme fort, »es ist eigentümlich, daß ich das schon als Knabe vorempfunden hatte. Wenn meine Mitschüler ihre Pläne und Absichten für die Zukunft kundgaben, und der eine Soldat, der andere Kaufmann, Arzt – oder noch Höheres werden wollte, so schwebte mir hingegen stets das stille, gleichmäßige Dasein eines einfachen Schreibers vor. Ich hatte dabei die drei Kanzlisten des Advokaten meiner kleinen Vaterstadt im Auge. Seine Kanzlei befand sich im Erdgeschosse des Hauses, wo wir selbst wohnten, und wenn ich die drei Kumpane, die in den verschiedensten Lebensaltern standen, mit dem Schlage der Uhr erscheinen, dann in der Nähe der Fenster behaglich schreiben – und mit dem Schlage der Uhr wieder weggehen sah, da hielt ich ihr Los – Träume von Dichterruhm hatte ich ja damals noch nicht! – für den Gipfel alles Glückes. Nun, dieses Glück hätte ich bald genug mein eigen nennen können – aber es war mir bestimmt, erst auf weiten, sehr weiten Umwegen dazu zu gelangen. Doch nun bin ich auch damit zufrieden und möchte meine bescheidene Stelle mit keiner anderen in der Welt vertauschen – schon deswegen nicht, weil ich, wie gesagt, keiner anderen gewachsen wäre. Von acht bis sechs Uhr schreibe ich, mit kurzer Unterbrechung während der Mittagszeit, meine Bogen voll; die Abende und die Sonn- und Feiertage aber gehören mir und meinem Hunde.« Er zog dabei das Tier auf seinen Schoß und liebkoste es, als wär' es ein Kind. Auf diese entschiedene Auseinandersetzung war füglich nichts mehr zu erwidern. Ich ließ daher den Faden des Gespräches fallen und wandte mich nun auch dem Hunde zu, der mit seinen gelben Pfoten und ebensolchen Flecken über klugen braunen Augen in der Tat ganz artig aussah. »Ein hübscher Hund«, sagte ich beifällig. »Wie heißt er?« »Tambi. Ich habe ihn, da er noch ganz klein war, von einem Heger gekauft, der ihm den abgeschmackten Namen ›Tambourl‹ gegeben hatte.« »Ein häufiger Name bei Dachshunden.« »Da er nun doch schon daran gewöhnt war, so habe ich wenigstens die erste Silbe beibehalten.« Ich wollte Tambi an mich locken. Er sah mich freundlich an und wedelte; aber er kam nicht. »O, er geht niemandem zu!« rief Bacher. »Er ist die Anhänglichkeit selbst und von meiner Seite gar nicht wegzubringen.« »Eine vortreffliche Eigenschaft. Schade, daß sich in ihm die Rasse nicht rein erhalten hat. Er ist viel zu hochläufig; auch trägt er, wie ich sehe, die Rute aufgerollt, ein sicheres Zeichen, daß eine Kreuzung stattgefunden.« »Das sagte schon der Heger, der ihn auch deshalb dem Hause und den Kindern überlassen hatte. Von diesen wurde das arme Tier in argloser Grausamkeit sehr gequält. Zudem zeigte sich eine böse Krankheit in den Ohren. Aber das heilte bald – und nun sind wir beide glücklich!« Er herzte das Tier wieder, das sich schmeichelnd in seinen Armen wand. »Sehen Sie nur, wie verständig er mich anblickt; er weiß, daß von ihm gesprochen wird. Ein ganz einziger Hund! Still, sanftmütig – und doch sehr wachsam. Dabei keine Spur von Gier oder Gefräßigkeit; man muß ihn förmlich bitten, sein bißchen Futter anzunehmen. Er kennt nur eine Leidenschaft: die Jagd.« »Sind Sie Jäger?« »Ich? O nein – wie käme ich dazu? Er jagt ganz für sich allein. Und da sollten Sie sehen, welches Leben, welches Feuer in dem sonst so ruhigen Tiere zum Vorschein kommt! Mit welcher Spannung er in den Ackerfurchen hinläuft, wie er die Spur verfolgt, wie er dem aufgestöberten Hasen mit hellem Gekläff nachsetzt ....« »Und das lassen Sie ihm hingehen?« »Warum nicht? Er verursacht ja keinen Schaden. Freund Lampe ist doch stets weit schneller, und so kehrt Tambi nach einer Weile keuchend und schäumend wieder zu mir zurück.« »Das geschieht, weil er sichtlich noch jung ist. Aber lassen Sie ihn erst völlig ausgewachsen sein, so werden Sie erfahren, daß er von der Fährte nicht mehr abläßt. Denn was Sie da gesagt haben, beweist mir, daß trotz allem die wilde Natur der Dächser in ihm steckt, und wenn es ihm einmal gelingt, einen Hasen anzuschneiden, so ist auch in ihm ein nicht mehr zu bezähmender Blutdurst wachgerufen.« Die Worte berührten Bacher offenbar höchst peinlich und machten ihn nachdenklich. »Also meinen Sie wirklich –« sagte er kleinlaut. »Ganz gewiß. Und auf alle Fälle müssen Sie darauf gefaßt sein, daß man Ihnen den Hund heute oder morgen erschießt; denn die Jagdgesetze werden hierzulande sehr streng gehandhabt.« Er erbleichte. »Das hat mir unser Förster auch gesagt. Aber ich dachte, er wolle mir bloß Angst machen und den Hund verleiden. Die Menschen können ja nicht mit ansehen, daß einer an etwas seine Freude hat; wie denn auch alle im Anfang über das Tier lachten und spotteten – und jetzt erscheint es ihnen mit einem Male gefährlich. Der Förster meinte zwar, er selbst und sein Gehilfe würden Tambi nichts anhaben; wenn dieser aber einmal an jemand geriete, der ihn nicht kennt, oder in ein fremdes Revier –« »So ist es auch um ihn geschehen, denn nur wirkliche Jagdhunde genießen das Recht der Schonung. Und überdies besitzen alle Forstleute den eigentümlichen Hang, gerade solchen Vierfüßlern auf den Pelz zu brennen.« Er rückte wie in Verzweiflung auf seinem Sitze hin und her. »Aber, mein Gott, was soll ich denn tun? Ich kann doch den Hund nicht in meiner Stube eingeschlossen halten. Und im Freien stößt man hier bei jedem Tritte auf Wild!« »Sie müssen ihn an die Leine nehmen.« »An die Leine!« rief er empört. »Ein Geschöpf, das zu unbehindertem Lauf geschaffen ist, dessen Natur und Instinkt es antreiben, Wald und Flur zu durchstreifen, an die Leine! Bedenken Sie, Verehrter, was das sagen will! Hin und wieder möchte es wohl angehen, und im Walde selbst, wo Tambi auf Rehe stoßen und sie beunruhigen oder verscheuchen könnte, pflege ich es ohnehin zu tun. Aber sonst und stets! Bei jedem Schritte mit ansehen zu müssen, daß er vor-und seitwärts springen möchte – fühlen zu müssen, wie er fast bis zur Selbsterdrosselung an der kettenden Schnur zerrt – Nein! Nein!« »Nun, dann gilt es, eine Dressur zu versuchen, damit er lernt, Ihrem Rufe unter allen Umständen Folge zu leisten.« »Aber er hört ja, wenn er auf einer Fährte ist, in seiner Aufregung meinen Ruf gar nicht.« »Er wird ihn schon hören, wenn er erst einige Male ausgiebig gezüchtigt worden ist.« »Gezüchtigt!? Sie meinen, ich solle ihn schlagen? Das kann ich nicht – eher mich selbst!« »Entschuldigen Sie, das ist eine Schwäche ....« »Mag sein, aber es ist mir nun einmal nicht möglich. Und dann – ich hasse alle und jede Dressur! Ich habe es zu tief an mir selbst erfahren, was es heißt, dem innersten Drange seines Wesens nicht folgen zu können – gebunden zu sein; ob innerlich oder äußerlich bleibt sich ja gleich. Eh ich den Hund zwänge, seiner Natur zu entsagen – eher sollte er .....« Er erschrak vor der Schlußfolgerung, die er aussprechen wollte, und brach plötzlich ab. »Aber es muß irgendein anderes Mittel – einen Ausweg geben«, fuhr er nach einer Pause fort, »ich habe schon öfter darüber nachgesonnen ......« Und er versank, die Stirn in die Hand legend, in Gedanken. Es wurde ganz still in dem kleinen Zimmer, das sich bereits allmählich verdunkelt hatte. Tambi saß aufrecht auf der Bank und blickte von einem zum an deren. Drüben begann die Musik wieder. Es war früher nur eine Introduktion gewesen; jetzt aber schien der Tanz seinen Anfang zu nehmen. Bacher blickte auf. »Es ist schon spät«, sagte er; »ich muß an den Heimweg denken.« Da auch mich nichts länger zurückhielt, so bezahlten wir unsere geringfügige Zeche und entfernten uns, nachdem wir noch einen Blick in die Wirtsstube getan, wo sich wirklich die aufgebauschten Röcke mehrerer Dirnen im Kreise drehten. Draußen brach eben die Dämmerung herein. Rosige Abendlichter lagen noch auf den weißen Gipfeln ferner Höhenzüge; über uns aber, im Azur des Himmels, zitterten bereits die ersten Sterne. Schweigend schritten wir durch das Schweigen der Natur, während Tambi schnobernd an einem nahen Waldrande hinlief. Nach einer starken halben Stunde hatten wir die Landstraße erreicht, wo sich unsere Wege trennten. »Leben Sie wohl«, sagte ich, »und behalten Sie unsere Begegnung in guter Erinnerung. Vielleicht lassen Sie sich einmal bei mir sehen; Ihr Besuch wird mich jederzeit sehr erfreuen.« »Ich werde mir jedenfalls die Freiheit nehmen; erlaube mir jedoch, zu bemerken, daß meine Zeit derart gemessen ist, daß ich vielleicht nicht so bald ...« »Ich bitte Sie, sich keinerlei Verpflichtung aufzuerlegen. Wir sind ziemlich nahe Nachbarn, und so können wir es getrost dem Zufall überlassen, daß er uns wieder zusammenführt.« Ich reichte ihm die Hand, die er mit der ihm eigentümlichen Unterwürfigkeit ergriff. Dann ging er. Inzwischen war es Nacht geworden, und die Mondessichel, die hinter einem Hügel hervortauchte, warf ihr zauberisches Licht über die Landschaft. Plötzlich ertönte in der Ferne hinter mir lebhaftes, nach und nach verhallendes Gebell. Tambi hatte offenbar einen Hasen aufgejagt. 2. II. Was ich vorausgesehen, traf ein: Bacher zeigte sich nicht bei mir. Da ich ihn eben auch nicht vermißte, so vergaß ich ihn wieder mehr und mehr. Zudem war ich bald neuerdings in Arbeit vertieft; denn ich hatte mir nun einmal vorgesetzt, den Winter in meinem Buen Retiro gehörig auszunutzen. Darüber waren etwa vier Wochen hingegangen, und man konnte allmählich bemerken, daß der Frühling im Anzuge sei. Tauwetter war zwar noch nicht eingetreten; aber die Kälte hatte sich bei bedecktem Himmel gebrochen, und eine feuchte Luft zersetzte bereits langsam den Schnee auf Feldern und Wiesen. Bei solch trübem Wetter hatte ich eines Morgens wie gewöhnlich das Haus verlassen und einen Fußpfad eingeschlagen, der zwischen dem Flusse und dem Eisenbahndamme hinlief. Ich pflegte sonst von diesem Fußpfade, einer starken Krümmung des Flusses folgend, abzubiegen und längs des Ufers fortzugehen. Auf diese Art gelangte ich zu einer Brücke, die ich überschritt, um auf der jenseits befindlichen, ziemlich hochgelegenen Landstraße, gewissermaßen im Rundgange, wieder nach Hause zurückzukehren. Heute aber hielt ich, in Nachsinnen verloren, an dem Fußpfade fest, ohne es eigentlich zu wissen und daran zu denken, daß er durch die Niederung dem Marktflecken entgegenführte, den mir Bacher als seinen Aufenthaltsort bezeichnet hatte. Es war Sonntag, und ringsum herrschte tiefe Stille; die Kirchenglocken hatten noch nicht zu läuten begonnen. Auf den Feldern saßen Dohlen, die hin und wieder träg aufflogen; von Zeit zu Zeit fiel ein leichter Regen mit kleinen wehenden Schneeflocken gemischt. In solcher Weise hatte ich mich bereits auf mehr als halbem Wege dem Orte genähert, als ich auf einer vor mir liegenden, sehr großen Wiese plötzlich Tambi gewahrte, welcher dort, die Nase am Boden und mit der Rute hin- und herschlagend, lustig brackierte. Ich blickte umher – und da ging auch Herr Bacher, der den Lauf seines Hundes mit vergnügten Augen verfolgte und mich nicht früher bemerkte, als bis wir aufeinanderstießen. Er war so überrascht oder vielmehr so betroffen, daß er fast ganz vergaß, meinen freundlichen Morgengruß zu erwidern. »Ah – Sie, Verehrter –« sagte er, sich sammelnd. »Kommen Sie auch einmal in unsere Gegend? Nicht wahr«, fuhr er rasch und errötend fort, »Sie verzeihen, daß ich Ihrer gütigen Aufforderung bis jetzt noch nicht nachgekommen bin, aber .....« »Keine Entschuldigung, bester Freund! Sie haben eine solche mir gegenüber nicht notwendig. Ich freue mich, Sie auf meinem Wege getroffen zu haben und zu sehen, daß es Ihnen und Ihrem Liebling wohl geht.« »Ja, wir befinden uns beide wohl – und ich und er haben allen Grund, Ihnen dankbar, sehr dankbar zu sein, Sie werden sich erinnern«, fuhr er nach einer Pause fort, »welchen Eindruck Ihre Worte von neulich auf mich gemacht haben und wie ich dabei ganz tiefsinnig geworden bin. Die Sache war ja in der Tat eine Lebensfrage für mich und den Hund, welchen ich doch, das müssen Sie zugeben, nicht beständig, nicht jahrelang mit mir an der Leine herumführen kann; und ihn zu dressieren, etwa wie Förster und ähnliche Leute mit Gewaltmitteln vorgehen, dazu bin ich nun einmal nicht fähig. Es galt also, aus diesem Dilemma herauszukommen. Und es ist mir gelungen. Ich habe nämlich für Tambi einen gewissermaßen neutralen Boden, eine Art Domäne ausfindig gemacht, wo er gehörig ausgreifen und dabei einem ganz unschuldigen Jagdvergnügen nachhängen kann, ohne Schaden zu nehmen. Sehen Sie sich einmal diese Wiese an. Sie werden bemerken, daß sie sehr groß und rings vom Wasser eingeschlossen ist. Hinter uns grenzt der Fluß das Terrain ab; vor uns, die ganze Wiese entlang, fließt der Mühlbach, welcher dort oben bei dem Wehr in den Fluß mündet. Tambi kann also nirgends ausbrechen; denn er scheut sich, ins Wasser zu gehen.« »Das ist ganz gut«, sagte ich. »Aber Sie vergessen die Brücke, die sich weiter oben befindet, und dann wird wohl auch über den Mühlgraben irgendwo ein Steg gelegt sein.« »Keiner, keiner«, versicherte er nachdrücklich. »Ich habe mich davon überzeugt. Nur ganz dicht vor der Mühle kann man hinüber gelangen. Im übrigen scheinen sich bloß Rebhühner hier aufzuhalten; ich habe wenigstens bis jetzt noch kein anderes Wild –« Er konnte den Satz nicht beenden. Denn eben jetzt stand vor Tambi, der im Kreise herumjagte, ein Hase auf und floh in gerader Richtung auf uns zu. Als er uns erblickte, stutzte er und bog nach rechts ab. Der Hund, der hinter ihm herlief, ebenfalls; der Hase machte abermals eine Wendung nach rechts und eilte dann gegen die Mitte des Mühlgrabens zu. Dies alles war so rasch wie der Blitz geschehen, und sei es nun, daß beide Tiere den nicht allzubreiten Graben übersprungen oder ihn durchschwommen hatten – genug: schon kamen sie jenseits zum Vorschein, überflogen den nahen Eisenbahndamm, schossen eine abgeholzte Hügellehne hinan und verschwanden, während das helle Gekläff Tambis noch in den Lüften schallte. »Da haben Sie es!« sagte ich zu Bacher, der wie versteinert dastand und erst jetzt aus Leibeskräften zu rufen und zu pfeifen begann. Plötzlich fielen rasch nacheinander zwei Schüsse. Bacher erblaßte und fing heftig zu zittern an. »Man hat nach dem Hunde geschossen!« rief ich unwillkürlich. »Glauben Sie?« stammelte er. »Vielleicht nach dem Hasen ....« »Immerhin möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es ist jetzt keine Schußzeit. Wollen Sie, daß ich nachsehe?« »Bitte! Bitte!« rief er und faltete die Hände. Ich eilte über die Wiese der Mühle zu, von dort über den Damm und stieg den ziemlich schneefreien Abhang empor, von welchem eben ein junger Mann in Jägertracht mit übergehängtem Doppelgewehr herabkam. Ich sah ihn an, er mich gleichfalls, dann lüftete er leicht den Hut. »Haben Sie nach einem Hunde geschossen?« fragte ich ihn. »Allerdings!« antwortete er, stehenbleibend. »Er hat einen Hasen in die Remise hinein verfolgt.« »Und ist er tot?« »Ja. Gehörte er Ihnen?« »Nicht mir, aber einem Bekannten, mit welchem ich eben dort unten auf der Wiese im Gespräche stand.« Er errötete. »Das tut mir leid. Aber ich habe die Herren nicht gesehen und den Hund nicht gekannt; ich bin erst seit acht Tagen hier als Adjunkt angestellt. Übrigens«, fügte er, sich in die Brust werfend, mit leichtem Trotze hinzu, »habe ich nur meine Pflicht getan.« »Ganz gewiß. Aber vielleicht hätten Sie doch nicht sofort – es war ja doch eigentlich ein Jagdhund ...« »Ein Jagdhund?« entgegnete er verächtlich. »Ein Bastard war es, ein Köter. Dort oben bei der Remise liegt er.« Damit lüftete er wieder den Hut und ging. Ich aber eilte zur Remise empor. An ihrem Rande, unter einem Fichtenbusche, lag Tambi, die vier gelben Pfoten von sich gestreckt, mit blutender Weiche, die von einer vollen Schrotladung getroffen und zerrissen war. Eine Schar von Dohlen hatte sich schon um ihn versammelt, die bei meinem Nahen krächzend aufflogen, sich aber gleich wieder in kurzer Entfernung niederließen. Mit wehmütigem Schauder betrachtete ich die Leiche des Tieres, das seinem Instinkte zum Opfer gefallen war und dessen Augen jetzt weit aufgerissen und verglast gegen den Himmel zu starren schienen. Armer Tambi! Armer Bacher! Ihm mußte ich nun die vernichtende Kunde bringen. Schon am Fuße des Abhanges kam er mir, den Damm überschreitend, entgegen, ein Bild trostloser Seelenangst. »Nun? Nun?« fragte er tonlos. Ich machte ein Zeichen mit der Hand. »Tot!« rief er, »tot!?« Ich bejahte stumm. »Mein Gott! Mein Gott!« Und er blickte um sich, wie ins Leere. »Wollen Sie ihn sehen?« fragte ich nach einer Pause. »Sehen? Ich weiß nicht, ob ich den Anblick ertragen kann. Aber ist er denn wirklich – ist keine Rettung mehr möglich? Vielleicht, daß doch noch –« »Es ist aus«, sagte ich, »und alles umsonst. Es wird am besten sein, wenn wir ihn gleich dort oben begraben. Sind Sie einverstanden?« Er erwiderte nichts; aber ich sah, daß er es zufrieden war, wenn ich für ihn dachte und handelte. Ich begab mich daher in die Mühle und forderte einen Burschen auf, einen Spaten zu nehmen und uns zu folgen. Bacher konnte sich kaum auf den Füßen halten; ich mußte ihn unter dem Arm fassen. Oben angelangt, blieben wir stehen, und ich deutete nach der Remise. Bacher warf zuerst einen scheuen, furchtsamen Blick nach der Stelle, wo Tambi lag; hierauf tat er mit starren Augen rasch ein paar Schritte nach vorwärts – und wandte sich dann schaudernd ab. »Setzen Sie sich einstweilen auf diesen Baumstrunk«, sagte ich, »ich werde alles Weitere besorgen.« Er tat es mechanisch und verhüllte sein Antlitz. Das kleine Grab war bald aufgeworfen und wieder mit Rasen und Moos bedeckt. Wir hatten es unter einer jungen, freistehenden Föhre angebracht, und zum Schlusse türmte ich noch ein kleines Mal aus herumliegenden bunten Syenitstücken darauf. Dann entlohnte ich den Burschen, welchen ich gehen hieß, näherte mich Bachern und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schrak auf, wendete sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf das Grab zu .......... Ich fühlte, daß er jetzt das Bedürfnis habe, allein zu sein, und entfernte mich. 3. III. Seitdem waren acht Tage vergangen, ohne daß ich von Bacher etwas vernommen hätte. Obgleich nun eigentlich keine Verpflichtung vorlag, so war es mir doch, als sollte ich nachsehen, wie er sich seit dem Verluste seines Hundes befinde. Ich machte mich daher eines Nachmittags auf den Weg nach dem Marktflecken, wo ich auch alsbald die Kanzlei des Notars ausgekundschaftet hatte. Bei meinem Eintritte war ein junger Mann mit struppigen gelben Haaren anwesend, der sehr eifrig an einem Pulte schrieb und mir auf meine Frage mitteilte, daß Bacher bereits seit drei Tagen nicht mehr in der Kanzlei erschienen sei. »Ist er denn krank?« »Das eben nicht«, erwiderte der Schreiber mit eigentümlichem Lächeln, »aber –« »Nun, dann treffe ich ihn vielleicht zu Hause. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?« »Zu Hause ist er keinesfalls. Aber Sie dürften ihn wohl bei Herrn Wassertrilling finden.« »Wer ist Herr Wassertrilling?« »Der Kaufmann dort drüben – am äußersten Ende des Platzes.« Ich empfahl mich und suchte sofort den bezeichneten Laden auf, an dessen Eingang ein halbwüchsiges Judenmädchen lehnte und mich mit großen schwarzen Augen ansah. Es war offenbar die Tochter des Kaufmanns, der drinnen hinter einem unordentlich vollgehäuften Ladentische stand und einigen verkommen aussehenden Männern Branntwein in kleine Gläser goß. Als er meiner ansichtig wurde, stürzte er mit dienstfertigen Bücklingen hervor und auf mich zu. »Befindet sich Herr Bacher hier?« fragte ich äußerst zweifelhaft. »Jawohl! Jawohl! Der Herr Doktor sind da drinnen in der Weinstube.« Dabei riß er die Tür eines Seitenverschlages auf, der mit blauem Zuckerpapier austapeziert war und aus welchem mir ein starker Fuselgeruch entgegenströmte. In diesem Raume, der mit allerlei Fässern, Gebünden und Ballen angefüllt war, saß Bacher an einem Tischchen hinter einer Flasche Wein. In dem Halbdunkel, das hier herrschte, erkannte er mich nicht sogleich; als dies aber geschah, malte sich in seinem Gesichte keine sehr angenehme Überraschung, weit eher ein peinlicher Unmut. Dennoch kam er mir unterwürfig wie immer entgegen. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier überfalle«, sagte ich. »Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht.« »O, Sie sind sehr gütig. Mir geht es schlecht – sehr schlecht – aber bitte, setzen Sie sich –« Herr Wassertrilling, der hinter mir hereingekommen war, zog aus einem Winkel den erforderlichen zweiten Stuhl hervor und fragte, ob er mir Rotwein vorsetzen dürfe, was ich geschehen ließ. »Ich werde auch sofort Licht bringen lassen!« rief enteilend der Besitzer der Weinstube. Das schien in der Tat notwendig. Es war finster wie in einem Keller, da nur durch eine kleine, in der Tür angebrachte und halb erblindete Scheibe ein matter Schimmer hereinfiel. Nach einer Weile erschien das junge Mädchen mit einer rauchenden Petroleumlampe, stellte diese auf das wackelige Tischchen und ging dann, sich langsam in den Hüften wiegend, wieder ab. Bacher hatte sich mittlerweile gesammelt. Er ergriff meine Hand und sagte mit einem tiefen, schweren Seufzer: »Es geht mir in der Tat sehr schlecht – schlechter, als Sie es sich vorzustellen vermögen. Ich kann ohne meinen Hund nicht leben!« »O! O!« warf ich ein. »Es ist so! Es ist so! Sie werden mich vielleicht verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich mit ihm alles verloren. Er allein hielt mich noch aufrecht, denn er war das einzige Wesen, das mich auf Erden geliebt hat.« »Jedenfalls eine starke Behauptung.« »Nichtsdestoweniger eine richtige. Doch ich will nicht ungerecht sein und eine Person ausnehmen: meine arme Mutter. Ja, meine Mutter hat mich geliebt«, fuhr er nachdenklich fort, »aber in ihrer Weise. Sie wollte mich immer anders haben, als ich nun einmal war, wollte immer an mir modeln, ändern und umgestalten. Freilich nicht mit Härte und Strenge, wie mein Vater, dessen ich mich nur noch dunkel entsinne – oder mit Spott und Hohn, wie die Welt: nein, mit jener zweifelnden Angst und Vorsicht, mit jener schmerzlichen Zärtlichkeit, die der verschwiegenste und doch lauteste Vorwurf ist. Ich glaube, sie ist rein aus Kummer über mein Wesen, das sie nun einmal so und nicht anders zur Welt gebracht, gestorben; Gott habe sie selig! Und sehen Sie – das ist es: ich war nie im Leben jemandem recht. Jeder wollte mich als einen anderen sehen; jeder wollte mir raten, mich auf neue Bahnen zu lenken, und da es nicht anging, so haßten mich zuletzt alle. O, ich hatte im Laufe der Jahre so manchen Freund – und ich habe sie alle von Herzen geliebt, trotz ihrer Fehler, Mängel und Schwächen – ja sogar trotz mancher schlechten Streiche, die mir der eine oder der andere spielte. Ich nahm sie, wie sie eben waren, zufrieden mit ihren guten Seiten und Eigenschaften, die sie, wie jeder Mensch die seinigen, nebenher aufwiesen. Aber sie hielten es nicht so. Sie nörgelten an mir herum, quälten und hänselten mich und predigten gegen meine Fehler – am lautesten gegen diejenigen, welche sie selbst in erhöhtem Maße besaßen, bis es mir endlich zu toll wurde und der Bruch herbeigeführt war. Und dann die Frauen .... o die Frauen! Nie, niemals im Leben ist es mir gelungen, ein weibliches Herz zu gewinnen. Es war, als hätte das ganze Geschlecht für mich keinen Blick gehabt – als den nachträglichen der Verachtung. Und wenn es mir hin und wieder scheinen wollte, daß ich Aufmerksamkeit und wohlwollende Teilnahme errege –: in kürzester Frist, fast jedesmal schon nach dem ersten Gespräch, war es aus, wie verflogen. Eine einzige – sie ist längst tot – schien ein tieferes Gefühl für mich zu haben – aber auch sie gab mich auf und sah mich dabei mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen: nein, es geht nicht! Und so war es auch mit meinem dichterischen Erfolg, der eigentlich schon vorüber war, eh er noch begonnen hatte; so war es in meinem Amte – mit allem und jedem – bis zu den Hunden hinab! Ja, Verehrter, bis zu den Hunden! Seit jeher habe ich diese Tiere sehr geliebt, und seit jeher ist es mein sehnlichster Wunsch gewesen, mir ein solches anhänglich zu machen. Aber vergebens! Wie viele Hunde ich auch im Laufe der Zeit zu mir nahm: keiner wollte sich an mich gewöhnen, trotz aller Zärtlichkeit, die ich aufwandte – und als ich es mit Strenge versuchen wollte, da murrten sie und bissen nach mir. Sie liefen alle fort, der eine früher, der andere später. Und nur mein Tambi war der erste, der einzige, der mich als seinen Herrn anerkannte, der nicht von meiner Seite wich – der mich liebte! O mein Tambi! Mein Tambi!« Der Schmerz übermannte ihn, und er brach, wie damals in der Dorfschenke, in Tränen aus. Ich ließ ihn weinen. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, sagte ich: »Nun sehen Sie, Ihre Sehnsucht nach einem treuen, anhänglichen Hunde ist also doch noch befriedigt worden. Wer weiß, ob Ihnen nicht auch noch das Glück zuteil wird, einen Menschen zu finden, der Ihnen alle jene Liebe entgegenbringt, welche Sie bis jetzt in Ihrem Leben so schmerzlich vermißt und entbehrt haben.« Er fuhr auf. »Einen Menschen!« rief er hohnlachend. »Das wäre zu spät, ich könnte eine solche Liebe nicht mehr vergelten. Um einem Menschen wirklich etwas zu sein, muß man ihm die Empfindung einflößen können, daß auch er uns wirklich etwas zu sein vermag. Und das bin ich nicht mehr imstande. Denn die Menschen sind mir längst völlig fremd und wertlos geworden – bloße Larven und Phantome!« Er fühlte gar nicht, wieviel Verletzendes für mich selbst in dieser Äußerung lag, und fuhr, rasch wieder seinen Schmerz heranziehend, fort: »Hätte ich den Hund in anderer Weise verloren, wäre er mir gestohlen worden, wäre er an einer Krankheit verendet, ich würde es vielleicht in Ergebung hinnehmen und ertragen, wie ich so manches andere hingenommen und ertragen habe. Daß ich es aber selbst war, der sich um sein Liebstes gebracht, dieser Gedanke treibt mich zum Wahnsinn. Mir ist zumute wie einem Mörder. Und bin ich es nicht? Sagen Sie selbst, wer hat ihn getötet, der Adjunkt, dem er fremd war, und der ihn nur im Gefühl seiner Pflicht zu Boden streckte – oder ich, der in törichter Schwäche, in sträflichem Eigensinn die Warnung des Försters und Ihre gütigen Ermahnungen in den Wind schlug? Hätte ich Ihren Rat befolgt und den Hund an der Leine geführt – er lebte noch!« »Nun wohl. Aber gerade in diesem Punkte liegt auch bei näherer Betrachtung eine Quelle des Trostes. Denn was Sie mir damals eingewendet, das muß ich heute in vollem Umfang anerkennen. Sie konnten Tambi in der Tat nicht beständig und zu jeder Zeit an der Leine führen. Ein einziger unbewachter Augenblick hätte monatelange Vorsicht zunichte machen und das Unglück herbeiführen können. Zudem kann der bestdressierte Hund hin und wieder bei besonderen Gelegenheiten in seinen Instinkt zurückfallen. Also überspannen Sie Ihre Selbstanklage nicht. Der Übelstand lag in den Verhältnissen selbst. Denn hier, wo das Wild gehegt und gepflegt wird, ist es jedermann, der nicht selbst Förster oder Jäger ist, auf die Dauer unmöglich, einen Hund zu halten, der nur den geringsten Jagdtrieb besitzt. In einer Stadt hätten Sie sich ruhig Ihres Besitzes freuen können; in dieser Gegend ging es nicht an. Dies müssen Sie ins Auge fassen, müssen die Notwendigkeit des Geschehenen erkennen, dann wird sich Ihr Schmerz mehr und mehr beruhigen – und zuletzt werden Sie auch vergessen.« »Vergessen? Niemals! Da müßte ich fort von hier – weit fort! Und wie kann ich das? O, ich weiß ohnehin nicht mehr, wie ich hier leben soll, wo mich alles, alles an meinen Verlust mahnt, wo ich nicht einen Odemzug tun kann, ohne die Erinnerung mit einzuatmen. Wenn ich des Morgens aus wüstem Halbschlummer erwache, dann fällt mein Blick sofort auf den Stuhl, der an meinem Bette steht und wo Tambi zu schlafen pflegte. In der Kanzlei kann ich nicht drei Zeilen schreiben, ohne unter den Tisch zu sehen; denn dort lag stets Tambi lautlos an meine Füße geschmiegt. Geh ich ins Freie, so sehe ich ihn auf jeder Wiese, auf jedem Acker laufen, hinter jedem Busche hervorspringen. Ich kann nicht essen, ohne an das bescheidene Teil zu denken, das für ihn abfiel, und so bleibt mir der Bissen im Halse stecken. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Gastwirtschaften, sowie alle anderen Orte meide, wo ich einmal mit ihm gewesen bin – und nur in dieser Spelunke kann ich es aushalten, denn ich habe sie früher niemals betreten. Hier verbringe ich nun meine Tage – und suche meinen Schmerz in elendem Wein zu ertränken!« Er leerte hastig ein Glas von der trüben roten Flüssigkeit, die noch eine weit schärfere Verurteilung verdiente. Es war ein wahrer Gifttrank; die reinste Mischung von Spiritus und Fuchsin. »Und dann nachts! nachts!« fuhr er fort. »O, Sie glauben nicht, was ich da erdulde! Ich hätte ihn nicht ansehen sollen, wie er in seinem Blute lag. Nun kann ich das entsetzliche Bild in der dunklen, unheimlichen Stille nicht mehr vor den Augen wegbringen. Ich leide an einer förmlichen Gespensterfurcht. Und doch wäre es wieder mein heißester Wunsch, daß er mir erschiene – und an meinem Bette hinaufspränge ......« Ich gestehe, daß mir bei dem allem höchst peinlich zumute wurde. Das war kein entlastendes Sich-Aussprechen wie damals: ich befand mich einem Menschen gegenüber, der sich, durch meine Gegenwart angestachelt, immer tiefer in seine Verstörung hineinarbeitete. Ich sagte daher. »Lieber Freund, ich sehe mit Bedauern, daß ich Ihnen bei aller Teilnahme weder Trost noch Hilfe bringen kann. Ihr Zustand ist ein krankhaft überreizter, für den es nur einen Arzt gibt: Ihren eigenen festen Willen, sich um jeden Preis aus dieser qualvollen und verderblichen Gemütsverfassung zu befreien. Dies gebe ich Ihnen zu bedenken. Sie haben schon so vieles überwunden – seien Sie noch einmal stark!« Er schwieg und schien einen Augenblick freier aufzuatmen; aber er versank sofort wieder in sich. »Eben weil ich schon so vieles überwunden habe, kann ich es jetzt nicht mehr«, sagte er dumpf. Ich hatte inzwischen nach der Uhr gesehen. »Sie wollen schon fort?« fragte er in einem Tone, der mir bewies, daß er nichts dagegen habe. »Jawohl; es ist Zeit.« »Wenn Sie erlauben, werde ich Sie ein Stück begleiten«, sagte er, indem er mir Hut und Stock reichte. »Das wird mir sehr angenehm sein.« Draußen im Laden bezahlte ich Herrn Wassertrilling den ungenossenen Rotwein; dann gingen wir durch den Ort und bogen in die Landstraße ein. Der Himmel war finster. Ein leichter Wind strich durch die entlaubten Wipfel der hohen Pappeln, die sich rechts und links hinzogen; aus der Ferne schimmerten uns vereinzelte trübe Lichter entgegen. Bei einer Martersäule, die mit ihrem weißen Anstrich aus dem Dunkel hervorleuchtete, blieb Bacher stehen. »Hier kehre ich um«, sagte er. »Leben Sie wohl – und gedenken Sie meiner Worte.« Er erwiderte nichts und zuckte seufzend mit den Achseln. Bald war er hinter mir verschwunden, und ich schritt allein durch die Nacht. 4. IV. Frühlingsstürme brausten ins Land. Wie vor Feuers Glut schmolzen die weißen Schichten, die noch auf den Höhen lagen, und ringsumher begann ein Tropfen, Rieseln und Rauschen, während das sonst so träge Flüßchen, in welches alle freigewordenen Wasser mündeten, hohen Schwalles dahinschoß. Inzwischen hatte es auch heftig und andauernd zu regnen begonnen, so daß die Gefahr eines Hochwassers in Aussicht kam und manche Anstalt getroffen wurde, die Ufergegenden nach Möglichkeit zu sichern. In dieser Zeit fuhr bei meiner Behausung ein Wagen vor, dem ein bejahrter Herr entstieg. Es war der Notar aus dem Marktflecken. Er sagte, daß er sich erlaube, im Interesse Bachers zu erscheinen, der sich in dem bedauerlichsten Gemütszustande befinde. Er erscheine nicht mehr in der Kanzlei, bringe halbe Tage bei dem Grabe seines Hundes, die übrige Zeit aber in der sogenannten Weinstube des Kaufmanns Wassertrilling zu, wo er sich mehr und mehr dem Genusse geistiger Getränke ergebe. »Wohin soll das führen?« schloß der Notar. »Schon jetzt fristet er, soviel ich weiß, sein Dasein vom Verpfänden und Verkaufen seiner wenigen Habseligkeiten, und wenn dies noch eine Zeitlang so fortgeht, ist ihm auch ein entsetzliches Ende gewiß.« Ich erschrak über diese Mitteilungen; aber ich wurde davon nicht überrascht. Ich sagte dies auch ganz offen dem Notar, indem ich auf das Resultat meines letzten Zusammenseins mit Bacher hinwies. »Ja, ich weiß«, erwiderte der Notar, »daß Sie ihn vor einiger Zeit aufgesucht; ich war damals gerade in einer amtlichen Funktion abwesend. Aber ich möchte Sie dennoch bitten, mit mir zu fahren und noch eine letzte Anstrengung zu machen. Auf meine Worte gibt er, wie ich gesehen habe, nichts. Sie jedoch gelten sehr viel bei ihm, und vielleicht hat es doch einigen Erfolg, wenn Sie ihm tüchtig ins Gewissen reden.« »Nun, ich will es tun, obgleich ich fürchten muß, daß ihn mein Anblick nur noch tiefer in seinen Jammer hineintreibt. Denn ich bin ja, wie Ihnen bekannt sein dürfte, gewissermaßen selbst mit dem Schicksale verflochten, das ihn getroffen.« »Er hat mir davon erzählt, und in der Tat ist es ein eigentümliches Schicksal«, fuhr der Notar nachdenklich fort. »Er war seit jeher ein unglücklicher Mensch, der sich und andern vielen Kummer bereitet hat. Den meisten wohl seiner Mutter, die ich gekannt habe und welche eine vortreffliche Frau war. Aber ihrem Sohne gegenüber erwies sie sich äußerst schwach und mochte den eigenwilligen Jungen wohl über Gebühr verhätschelt haben. Als Bacher mit seinen dichterischen Hoffnungen gescheitert war, traf ich ihn zufällig in der nächsten Kreisstadt, wo er seine Kindheit verbracht hatte, und da er nicht wußte, was er nunmehr mit sich anfangen sollte, so nahm ich ihn in meine Kanzlei – und behielt ihn auch, obwohl er kein sehr emsiger und verläßlicher Arbeiter war. Auch glaubte ich schon damals zu bemerken, daß er trinke, und zwar, wie ich annahm, um schmerzliche Erinnerungen zu betäuben. Nachdem er aber den Hund zu sich genommen hatte, ging mit ihm eine merkwürdige Veränderung vor. Er wurde sparsam und nüchtern, bekam Lust und Liebe zu seiner Beschäftigung, und da er ja ein begabter Kopf ist, so zeigte er auch plötzlich eine höchst glückliche Auffassung in Dingen meines eigenen Berufes, so zwar, daß ich für ihn die besten Hoffnungen faßte und schon daran dachte, ihn mit der Zeit zu meinem Konzipienten machen zu können. Da wird ihm sein Hund erschossen, und alles ist aus – und nun treibt er dem Untergange entgegen. Aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, wir müssen ihn um jeden Preis zu retten suchen. Kommen Sie! Wir haben jetzt gerade die Zeit vor uns, um welche wir ihn im Laden des Kaufmanns treffen.« Wir stiegen in den Wagen und fuhren, während uns auf der Landstraße Wind und Regen von der Seite anfielen, nach dem Marktflecken, wo wir vor dem Laden des Herrn Wassertrilling hielten. Dort wurde uns je doch die Mitteilung, daß Bacher nicht anwesend sei. Er würde aber ganz gewiß noch kommen, denn bis jetzt sei er keinen Tag ausgeblieben. Wir hinterließen den Auftrag, uns sofort von seinem Erscheinen zu benachrichtigen, und begaben uns in ein nahegelegenes Gasthaus, wo sich die Honoratioren des Ortes gewöhnlich abends einzufinden pflegten. Nachdem wir dort fast zwei Stunden fruchtlos gewartet hatten, begaben wir uns noch einmal nach dem Laden. Es hieß, Bacher sei noch immer nicht erschienen. »Da wollen wir denn doch in seiner Wohnung nachsehen«, sagte der Notar. Es war mittlerweile dunkel geworden, und wir lenkten unsere Schritte nach einem engen Seitengäßchen, das nur aus hüttenähnlichen kleinen Häusern bestand und ins freie Feld hinausführte. Vor einem der letzten Häuser stand der Notar still und klopfte an ein matt erleuchtetes Fenster. Ein Teil des Vorhanges lüftete sich; der Notar rief einige Worte in slawischer Sprache hinein, worauf die Tür geöffnet wurde und ein Weib auf der Schwelle erschien, das meinem Begleiter eine mir nicht verständliche Mitteilung machte. »Er ist heute schon mit dem frühesten fort«, sagte jetzt der Notar zu mir, »und nicht wieder nach Hause gekommen. Zudem soll er gestern eine sehr üble Nacht gehabt und in einem fort gestöhnt und gejammert haben.« Ich schwieg; eine düstere Ahnung stieg in mir auf. Der Notar schien diese zu teilen. »Wenn er nur nicht etwa –« »Ich fürchte es fast.« Wir fragten noch einmal im Laden nach und kehrten dann in das Gasthaus zurück, wo eben die Kunde angelangt war, daß der Fluß ausgetreten sei und die nächste Brücke weggerissen habe. Ich sah den Notar an und sagte: »Vielleicht wurde ihm dadurch der Heimweg abgeschnitten?« »Wohl möglich, wenn er sich am andern Ufer befand.« »Dort ist das Grab des Hundes, und Sie sagten ja ....« »Allerdings. Wir müssen eben abwarten, was der morgige Tag bringt. Ich bedaure nur, daß Sie jetzt unverrichteter Dinge wieder zurückfahren sollen. Hätte ich nicht Verwandte als Gäste bei mir, so würde ich mir erlauben, Ihnen ein Nachtlager anzubieten.« »Sie sind sehr freundlich. Aber wissen Sie was? Ich werde jedenfalls die Nacht hier zubringen, um morgen sofort zur Hand zu sein. Wir dürfen Bacher, wenn er zurückkehrt – und ich will es noch hoffen – nicht mehr entschlüpfen lassen. Es wird wohl in diesem Gasthause ein Zimmer zu haben sein?« »Gewiß, aber wie es aussehen wird ....« »Gleichviel; für einmal wird es hinzunehmen sein.« Wir mischten uns nun in das Gespräch der übrigen Gäste, die sich hier sehr lebhaft vom Hochwasser unterhielten, welches, da alle menschlichen Ansiedelungen in gesicherter Entfernung lagen, durchaus nichts Schreckhaftes hatte und nur den mehr oder weniger ausgesetzten Kulturen einigen Schaden zufügen konnte. Dabei wurde es endlich zehn Uhr, und die Anwesenden entfernten sich nach und nach, zuletzt auch der Notar, indem er versprach, morgen früh bei mir zu erscheinen. Ich blieb noch allein sitzen; dann ließ ich mich nach meinem Zimmer führen, das man mittlerweile geheizt hatte. Es war in der Tat sehr primitiv eingerichtet, aber ziemlich sauber gehalten. Da der kleine Raum wahrscheinlich den ganzen Winter hindurch nicht bewohnt gewesen, so herrschte hier trotz des Feuers, das in einem kleinen eisernen Ofen pustete, eine empfindliche Kälte, und ich bestellte heißen Grog, den ich nach längerem Warten erhielt. Dann brannte ich eine Zigarre an und ging auf und nieder. Von Zeit zu Zeit blieb ich beim Fenster stehen und blickte in die Nacht hinaus, die sich mit undurchdringlichem Dunkel ausbreitete. Der Regen hatte aufgehört; ringsum war tiefe Stille; nur wenn ich tief und anhaltend lauschte, vernahm ich in der Ferne ein dumpfes, unheimliches Brausen. Meine Phantasie beschäftigte sich natürlich mit Bacher, und es war mir, als säh' ich ihn in der Finsternis beim Grabe seines Hundes – und dann wieder am Rande der ausgetretenen Wasser hin und her irren. Die Flammen im Ofen waren längst erloschen und die Lichter herabgebrannt. Fröstelnd warf ich mich angekleidet aufs Bett und versuchte einzuschlafen, was mir auch endlich gelang. Es war etwa sieben Uhr morgens, als ich von hereinfallendem Sonnenschein geweckt wurde. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und im Hause, sowie unten auf dem Platze regte sich das Leben des Tages. Nach einiger Zeit kam der Notar. »Er ist noch nicht nach Hause gekommen«, sagte er. »Nun, es ist ja noch früh«, erwiderte ich. »Wenn er irgendwo in der Umgebung die Nacht zugebracht hat, so kann er auch füglich noch nicht zurück sein. Ich denke, wir gedulden uns bis Nachmittag, bevor wir das Schlimmste annehmen.« Der Notar leistete mir beim Frühstück Gesellschaft; dann begaben wir uns auf eine nahe Anhöhe, von welcher aus wir die Überschwemmung in Augenschein nehmen konnten. Die Niederung war zum Teil in einen See verwandelt. Ein frischer Wind kräuselte die schimmernde Wasserfläche und bewegte die Wipfel der Bäume, die aus der Flut hervorragten. Auch die Wiese, auf der Tambi zum letzten Male gejagt hatte, stand unter Wasser; die Mühle nahm sich wie die Arche Noahs aus. Unwillkürlich faßte ich die Höhe ins Auge, wo der tödliche Schuß gefallen war. Ich wies auch den Notar darauf hin und sagte: »Wie wär' es, wenn wir dort drüben nachsehen?« »Da müßten wir einen ziemlichen Umweg nehmen. Wenn Sie wollen, lasse ich einspannen. Jedenfalls bringen wir den Vormittag damit hin, und wenn Bacher bis zu unserer Rückkehr nicht eingetroffen ist, so werde ich den Postenkommandanten der Gendarmerie ins Vertrauen ziehen.« Wir fuhren also etwa eine halbe Stunde die Landstraße hinauf bis zum nächsten Orte, wo wir bequem übersetzen konnten. Dann stiegen wir zum Walde empor, an dessen Rande wir jenseits zurückkehrten. Unter anderen Umständen wäre dieser Gang ein entzückender gewesen. Eine würzig feuchte Luft wogte uns aus den sausenden Wipfeln an; lieblich erschallten frühe Vogelstimmen, und über dem Lande lag der erste Schimmer des Lenzes. Aber unsere Stimmung war ernst und gedrückt, und so schritten wir nachdenklich auf dem moosigen Pfade weiter. Endlich sahen wir das Plateau mit der Remise vor uns, deren helles Grün im Sonnenschein funkelte. Der Platz war leer und still, und einsam und verlassen ragte das kleine Grab unter der Föhre auf. Wir gingen darauf zu. »Da liegt ein Hut!« rief ich. Zwischen kahlem Gestrüpp in der Nähe des Baumes kam er zum Vorschein. Der Notar hob die abgegriffene und durchnäßte Kopfbedeckung mit seinem Stock empor. »Das ist der Hut Bachers.« Wir riefen mit lauter Stimme seinen Namen. Aber niemand antwortete; nur ein leises, klagendes Echo schien aus dem Walde zurückzutönen. Nun stand in uns die Überzeugung fest, daß der Ärmste den Tod gesucht und gefunden habe. Die Möglichkeit einer Überraschung durch das Hochwasser bei der Heimkehr im Dunkeln blieb allerdings nicht völlig ausgeschlossen; aber der zurückgelassene Hut schien gegen diese Annahme zu sprechen. Wie es sich damit auch mochte verhalten haben, Tatsache war es, daß man noch am selben Tage seinen Leichnam bei der Schleuse eines nahen Hammerwerkes angeschwemmt fand. Dritter Teil Leutnant Burda 1. I. Bei dem Regiment, in welchem ich meine Militärzeit verbracht hatte, befand sich auch ein Leutnant namens Joseph Burda. In Anbetracht seiner Charge erschien er nicht mehr allzu jung; denn er mochte sich bereits den Dreißigern nähern. Dieser Umstand würde schon an und für sich genügt haben, ihm bei seinen unmittelbaren Kameraden, die fast durchweg flaumige Gelbschnäbel waren, ein gewisses Ansehen zu verleihen; aber er besaß noch andere Eigenschaften, die ihn besonders auszeichneten. Denn er war nicht bloß ein sehr tüchtiger, verwendbarer Offizier, er hatte sich auch durch allerlei Lektüre eine Art höherer Bildung erworben, die er sehr vorteilhaft mit feinen, weltmännischen Manieren zu verbinden wußte. Als Vorgesetzter galt er für streng, aber gerecht; Höheren gegenüber trug er eine zwar bescheidene, aber durchaus sichere Haltung zur Schau; im kameradschaftlichen Verkehr zeigte er ein etwas gemessenes und zurückhaltendes Benehmen, war jedoch stets bereit, jedem einzelnen mit Rat und Tat getreulich beizustehen. Niemand wachte strenger als er über den sogenannten Korpsgeist, und in allem, was den Ehrenpunkt betraf, erwies er sich von peinlichster Empfindlichkeit, so zwar, daß er in dieser Hinsicht, ohne auch nur im geringsten Händelsucher zu sein, mehr als einmal in ernste Konflikte geraten war und diese mit dem Säbel in der Faust hatte austragen müssen. Infolgedessen wurde er ein wenig gefürchtet, aber auch um so mehr geachtet, ohne daß er dadurch anmaßend oder hochfahrend geworden wäre, wenn es gleichwohl dazu beitrug, die etwas melancholische Würde seines Wesens zu erhöhen. Dem allem hatte er es zu danken, daß man auf eine große persönliche Schwäche, die ihm anhaftete, kein Gewicht legte – oder besser gesagt, sie wie auf Verabredung einmütig übersah. Er war nämlich ungemein eitel auf seine äußere Erscheinung, die auch in der Tat eine höchst einnehmende genannt werden mußte. Von hoher und schlanker Gestalt, hatte er ein wohlgebildetes Antlitz, dessen leicht schimmernde Blässe durch einen dunklen, fein gekräuselten Schnurrbart noch mehr hervorgehoben wurde, und auffallend schöne graue Augen, die von langen Wimpern eigentümlich beschattet waren. Es fehlte zwar nicht an Krittlern, welche behaupteten, daß er eigentlich schief gewachsen sei, und wirklich pflegte er beim Gehen die rechte Schulter etwas emporzuziehen. Aber gerade das verlieh seiner Haltung jene vornehme Nachlässigkeit, die mit der Art, wie er sich kleidete, in sehr gutem Einklange stand. Denn obgleich sein Uniformrock stets von untadelhafter Weiße und Frische war, so zeigte er doch niemals jenes gleißende Funkeln, welches das unmittelbare Hervorgehen aus der Schneiderwerkstätte bekundet hätte, und wiewohl Burda gar sehr auf » taille « hielt, so saß doch, bis zur eleganten Beschuhung hinab (von der man wußte, daß sie stets nach einem eigenen Leisten hergestellt wurde), an ihm alles so leicht und bequem, als wäre es nur so obenhin zugeschnitten und angepaßt worden. In dieser Weise erschien das, was ein Ergebnis sorgfältiger Berechnung war, nur als der natürliche gute Geschmack eines vollendeten Gentleman, dessen Taschentücher, wenn sie entfaltet wurden, einen kaum merkbaren Wohlgeruch von sich gaben, und wenn man auch im stillen seine Glossen machte, daß sich Burda von seinem Burschen – der ein kurzes Privatissimum bei einem Haarkünstler hatte nehmen müssen – täglich frisieren ließ, so trachtete doch mancher, es ihm in seiner Weise gleichzutun, ohne jedoch das Original auch nur im entferntesten zu erreichen. Daß diese raffinierte und gewissermaßen verborgene Sorgfalt, die er auf sein Äußeres verwendete, im letzten Grunde mit dem Bestreben zusammenhing, bei dem anderen Geschlechte den günstigsten Eindruck hervorzubringen, braucht wohl nicht erst ausdrücklich gesagt zu werden, und ebenso selbstverständlich ist es, daß sich Burda nach dieser Richtung hin für unwiderstehlich hielt. Nicht daß er etwa dieses Bewußtsein irgendwie zur Schau getragen oder gar, wie es wohl einige von uns pflegten, mit Herzenseroberungen geprahlt hätte; er beobachtete vielmehr in solchen Dingen die äußerste Zurückhaltung, und nur aus manchen Symptomen konnten Schlüsse gezogen werden. Da waren es denn entweder zarte Damenringe, die er am kleinen Finger seiner wohlgepflegten Hand trug, oder ein aus Haaren geflochtenes Armband, das zufällig unter seiner Manschette zum Vorschein kam – sowie plötzliches geheimnisvolles Verschwinden zu gewissen Stunden, was zu allerlei Vermutungen Anlaß gab, denen er zwar nicht geradezu widersprach, aber deren weitere Erörterung er sofort mit ernstem Stirngerunzel abschnitt. Überhaupt nahm er nur selten an Gesprächen teil, welche die Liebe und somit auch die Frauen zum Gegenstand hatten, welch letztere er von einem ganz eigentümlichen Standpunkt aus betrachtete. Wie nämlich für einen mehr berüchtigten als berühmten Feldherrn der Mensch erst beim Baron anfing, so begann für Burda das weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse. Den einfachen Geburtsadel einer jungen Dame ließ er nur dann gelten, wenn der betreffende Vater General oder Präsident irgendeiner hohen Landesstelle war; auf gewöhnliche Hofratstöchter pflegte er mit einer Art von Mitleid herabzusehen; Damen der Plutokratie verachtete er gründlich. Alles andere existierte für ihn einfach gar nicht, und er gab jedesmal seiner Verwunderung Ausdruck, wenn er erfuhr, daß ein Offizier irgendeine wohlhabende Bürgerstochter geheiratet hatte (was er eine Mesalliance nannte); im schärfsten Tone aber tadelte er es, wenn jemand zu einer Dame von zweifelhaftem Rufe in mehr als ganz vorübergehende Beziehung getreten war. Diese hochstrebenden Neigungen konnten um so seltsamer erscheinen, als Burda selbst sehr bescheidener Herkunft war. Als Sohn eines kleinen Rechnungsbeamten hatte er eine nur dürftige Erziehung erhalten, anfänglich das Gymnasium besucht, aber sich bald als Eleve in das Amt seines Vaters aufnehmen lassen, um diesem weiterhin nicht mehr zur Last fallen zu müssen. Später, als die Zeitläufte günstige Aussichten bei der Armee eröffneten, war er als Kadett in unser Regiment getreten. In jene Zeit schienen auch seine ersten Erfolge bei den Frauen gefallen zu sein. Denn wie die Sage ging, hatte sich damals die Tochter eines höheren Generals, in dessen Adjutantur er, seiner schönen Handschrift wegen, verwendet wurde, schwärmerisch in ihn verliebt. Diesem Roman hatte jedoch der General, nachdem er einem geheimen Briefwechsel auf die Spur gekommen, sofort damit ein Ende bereitet, daß er den Helden nach Verona versetzen ließ, wo sich der Werbebezirk des Regimentes – das ein italienisches war – befand. Dort, unter südlichem Himmel, in der Vaterstadt Romeos und Julias, hatte auch unverzüglich eine dunkellockige Marchesa ihr Auge auf den schmucken Krieger geworfen und mit ihm – einem eifersüchtigen, der österreichischen Fremdherrschaft äußerst abholden Gemahl zu Trotz – ein höchst leidenschaftliches Verhältnis begonnen, bei welchem es an nächtlichen Zusammenkünften mittels Strickleiter, blutigen Überfällen von seiten des Marchese usw. nicht gefehlt haben sollte. Kein Wunder also, daß Burda, einmal Offizier geworden, nicht tiefer mehr herabsteigen konnte und seine Netze bloß in den oberen Regionen aufrichtete. So glaubte man auch jetzt trotz seiner Zurückhaltung zu wissen, daß er in der ansehnlichen Provinzstadt, wo diese Geschichte zu handeln beginnt, die besondere Gunst einer Stiftsdame erworben habe, die, obgleich nicht mehr ganz jung, als vollendete Schönheit galt. Nebenher wurde freilich auch behauptet, das Ganze bestehe darin, daß Burda sehr häufig unter den Fenstern des Stiftsgebäudes vorüberwandle und in der daranstoßenden Kirche jeden Sonntag die Messe höre; ein unschuldiges Vergnügen, das eigentlich jedermann geboten wäre. Wie dem aber mochte gewesen sein: die meisten von uns, von einem ähnlichen romantischen Hange beseelt, hielten an der Überzeugung fest, daß Burda infolge seiner Vorzüge ein Auserwählter sei, und fuhren fort, mit einer Art sehnsüchtiger Bewunderung nach ihm emporzublicken. Indessen sollte doch einmal seinem Ansehen ein gelinder Stoß versetzt werden. Es war nämlich unter den jüngeren Offizieren die Gepflogenheit entstanden, schriftliche Meldungen und sonstige Eingaben mit absichtlicher Flüchtigkeit zu unterzeichnen (was genial aussehen sollte) oder dabei die Buchstaben so grillenhaft zu verschnörkeln, daß die betreffenden Namen in der Tat oft nicht zu entziffern waren. Unser Oberst, eine schwarzgallige, pedantische Natur, nahm somit die stets erwünschte Gelegenheit wahr, dem jungen Volk am Zeuge flicken zu können, und ließ die hervorragendsten Übeltäter, darunter auch meine Wenigkeit, vor sich bescheiden. Wir hatten schon vorher von der Sache Wind bekommen und waren nicht wenig erstaunt, auch Burda, dessen Unterschrift an kalligraphischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ, unter den Vorgeladenen zu erblicken. Nachdem uns der Oberst mit sarkastischem Behagen die Corpora delicti vor Augen gehalten und mit näselnder Stimme jeden einzelnen gefragt hatte, wie er denn eigentlich heiße – und was dies und was jenes zu bedeuten habe, schloß er mit einem sehr scharfen Verweise, für die Zukunft exemplarische Strafen in Aussicht stellend. Dann wandte er sich in etwas gemäßigtem Tone an Burda: »Und auch Sie, Herr Leutnant, habe ich kommen lassen, um eine Frage an Sie zu richten. Seit wann sind Sie denn Graf geworden?« Burda zuckte leicht zusammen. Dann erwiderte er, allmählich bis unter die Stirnhaare errötend, mit fester, fast herausfordernder Stimme: »Graf? In welcher Hinsicht meinen dies der Herr Oberst?« Der Oberst trat einen Schritt zurück und kniff, wie es in Erregung seine Gewohnheit war, das rechte Auge zu. »In welcher Hinsicht? Mit Hinsicht auf Ihren letzten Wache-Rapport. Derselbe ist« – er hielt ihm das Schriftstück entgegen – »mit Gf Burda unterzeichnet. Dieses Gf ist, wie ich aus den Unterschriften des Herrn Majors Grafen N ... und des Herrn Hauptmanns Grafen K ... entnehme, eine beliebte Abkürzung des Wortes Graf. Was haben Sie darauf zu erwidern?« »Ich erlaube mir zu bemerken«, sagte Burda in strammster Haltung, »daß dieses Gf keineswegs das Wort Graf bedeuten soll. Es ist die Abkürzung meines Namens Gottfried.« »Gottfried? Sie heißen ja Joseph!« »Allerdings. Aber es dürfte dem Herrn Oberst bekannt sein, daß man bei der Taufe in der Regel den Namen des Vaters mit empfängt. Mein Vater führte den Namen Gottfried; somit heiße ich Joseph Gottfried.« Der Oberst trat noch einen Schritt zurück und zwinkerte krampfhaft mit dem rechten Auge. »Dann muß ich Sie bitten, Ihren Taufschein aktenmäßig vorzulegen, damit die Regimentslisten, in welchen, soviel ich weiß, bloß der Name Joseph eingetragen erscheint, richtiggestellt werden können. Aber trotzdem werden Sie künftighin weniger zweideutige Abkürzungen zu wählen haben.« Er machte eine kurze Verbeugung, und wir waren entlassen. Als wir die Tür hinter uns hatten und nun insgesamt die Treppe hinabschritten, herrschte peinliches Schweigen. Das Komische des ganzen Auftrittes hätte eigentlich zu allgemeiner Heiterkeit angeregt; aber die Gegenwart Burdas, der die Sache sichtlich ernst nahm und überdies nicht ganz ohne Verlegenheit schien, drängte die Äußerung einer solchen Stimmung zurück. Wir verabschiedeten uns von ihm mit einigen oberflächlichen Worten, und auch in der nächsten Zeit blieb uns diese Befangenheit ihm gegenüber; es war, als hätte etwas Fremdes, Unerwartetes seine leuchtende Erscheinung getrübt. Er selbst aber legte noch am selben Tage seinen Taufschein, der wirklich beide Namen enthielt, auf dienstlichem Wege vor und unterzeichnete von nun an mit augenfälliger Absichtlichkeit und ohne jede Abkürzung: Joseph Gottfried Burda. 2. II. Dieser unliebsame Zwischenfall wurde übrigens wie alles, das keine bemerkenswerten Folgen nach sich zieht, um so eher wieder vergessen, als bald darauf ein Ereignis eintrat, welches die Gemüter in leicht begreifliche Aufregung versetzte. Das Regiment erhielt nämlich eines Tages ganz plötzlich den Befehl, in die Wiener Garnison einzurücken, was man damals als besondere Auszeichnung zu betrachten pflegte. Aber auch aus sonstigen Gründen wurde diese Anordnung von den Offizieren mit großer Freude begrüßt. Denn viele von uns waren gebürtige Wiener und konnten nunmehr ihre Angehörigen auf längere Zeit wiedersehen, während den übrigen Gelegenheit geboten wurde, das mehr oder minder fremde Leben der Hauptstadt kennen und genießenzulernen. Nebenbei galt es, das Regiment in der kurzen Spanne Zeit, die hierzu noch vergönnt war, in den allerbesten Stand zu setzen, was jedem einzelnen rastlose Tätigkeit auferlegte – bis endlich der große Tag erschien, an welchem wir die Waggons bestiegen und, im Wiener Nordbahnhofe angelangt, mit klingendem Spiele der Kaserne entgegenzogen, die uns in einer der nächsten Vorstädte angewiesen war. Wien selbst trug damals noch ganz seinen früheren Charakter zur Schau. Die alten Tore mit den unbeweglichen Brücken über dem Stadtgraben bestanden noch; die Kastanien- und Lindenalleen auf dem Glacis führten nach den Vorstädten, und wenn heutzutage die innere Stadt von der Ringstraße wie von einem blendenden Juwelengürtel umspannt erscheint, so glich sie damals, von den Ringmauern der Bastei eingeschlossen, einem Schatzkästlein, in welchem die meisten Kostbarkeiten zusammengedrängt lagen. Auch der öffentliche Verkehr war einfacher, gleichsam intimer, als jetzt. Die verschiedenen amtlichen Berufszweige gingen räumlich nicht allzuweit auseinander, ebenso die mannigfaltigen Objekte des Vergnügens und des Genusses – und so hatte sich denn auch jeder von uns bald mit den Verhältnissen vertraut gemacht und in seiner Weise eingelebt. Diejenigen, welche zur Bequemlichkeit neigten und außerdienstlichen Begegnungen mit hohen und höchsten Vorgesetzten gern aus dem Wege gingen, vermieden es nach Möglichkeit, die Straßen und Plätze der Stadt zu betreten, und verbrachten ihre freie Zeit in der Nähe der Kaserne. Andere hingegen – zumeist ältere Hauptleute mit stark entwickelten gastronomischen Neigungen – liebten die Weinstuben und Restaurants aufzusuchen, die sich eines besonderen Rufes erfreuten, woselbst sie auch meistens bis tief in die Nacht hinein hängenblieben und dann in heiterster Stimmung nach Hause zurückzukehren. Schließlich aber gab es einzelne, die kein höheres Vergnügen kannten, als, aufs sorgfältigste angetan, das Pflaster des Grabens und Kohlmarktes zu beschreiten und solche Orte aufzusuchen, wo sie, um zu sehen und gesehen zu werden, ohne besonderen Kostenaufwand mit der vornehmen Welt zusammentreffen konnten. Daß zu diesen wenigen auch Burda gehörte, versteht sich von selbst, und es war in der Tat bewunderungswürdig, wie vollendet er sich in dieser Hinsicht benahm. Wenn er so in nachlässiger Haltung vor dem weltberühmten Café Daum stand und die Vorübergehenden mit kühlen Blicken betrachtete oder mit gemessenem Schritte seinen Rundgang auf der Bastei antrat, war er geradezu das Muster eines eleganten Offiziers. Niemand vermochte im Wintersalon des Volksgartens, während die Kapelle der Gebrüder Strauß ernste und heitere Weisen zu hören gab, mit vollendeterem Anstande Platz zu nehmen, und im Stehparterre der beiden Hoftheater wußte er stets einen Pfeiler zu erobern, an welchen gelehnt, er seine Blicke nach den Logen, das heißt nach den weiblichen Insassen schweifen ließ. In dieser Zeit war ich Burda, der mich bis dahin nur wenig beachtete, nähergetreten. Den Anlaß hierzu hatte eine ökonomische Frage gegeben. Es mangelte nämlich in den Kasernen an einer ausreichenden Zahl von Offizierswohnungen, infolgedessen mehrere von uns entsprechende Geldentschädigungen erhielten. Da war es denn nun Sitte, daß die Besitzer von sogenannten »Naturalquartieren« einen oder auch mehrere Kameraden bei sich aufnahmen, damit jedem einzelnen die entsprechende Zinsquote zur Aufbesserung der schmal bemessenen Gage dienen könne. Auch Burda, der eine Wohnung in der Kaserne hatte, mußte daran denken, einen Mieter zu suchen – oder, wie dies in seiner Art lag, sich einen solchen zu erwählen. Daß die Wahl auf mich fiel, mochte in erster Linie wohl damit zusammenhängen, daß ich zu der Kompagnie versetzt worden war, bei welcher er selbst stand; aber ich hatte immerhin Grund, seine Aufforderung als Auszeichnung zu betrachten und sie um so lieber anzunehmen, als sich ein besonderer, mir sehr erwünschter Vorteil daranknüpfte. Denn ich hatte schon damals literarischen Neigungen nachgegeben und wünschte im Laufe des Tages einige ruhige, völlig ungestörte Stunden zu haben, aber wie wäre dies in einer kameradschaftlichen Wirtschaft, wo es in der Regel ziemlich wüst herging, zu erreichen gewesen! Burda jedoch, der die Rücksicht in Person war und überdies stets seine eigenen Wege ging, bot mir in dieser Hinsicht alle Sicherheit. Ich kündigte sofort in dem Privathause, wo ich mich bereits eingemietet hatte, und zog in seine Wohnung, welche eigentlich nur aus zwei Zimmern bestand; diese aber waren sehr geräumig, und jedes hatte seinen eigenen Eingang. Die Verbindungstür wurde abgesperrt, von beiden Seiten ein Kasten davorgerückt – und die Sache war in Ordnung gebracht. Anfänglich hielten wir uns beide ziemlich fern voneinander; er aus gewohnter Zurückhaltung – ich aus Furcht, ihm lästig zu fallen; es war eben, als wohnte jeder für sich allein. Im übrigen befand sich Burda während des Tages nur selten zu Hause; war dies aber der Fall, so lag er gewöhnlich auf einer niederen Ottomane, die er aus zwei übereinander geschichteten Strohsäcken und einem Überwurf aus grell gemustertem Sitz höchst sinnreich hergestellt hatte, und las, was er sehr gerne tat, französische Romane. Fast niemals drang ein störender Laut zu mir herüber, und ich konnte deutlich nachfühlen, wie er beim Kommen und Gehen den Schall seiner Schritte sorglich abdämpfte. Nur seine häufigen Waschungen vernahm ich und bisweilen auch ein leises Geräusch, welches er dadurch hervorbrachte, daß er seine neueste Uniform stets eigenhändig bürstete; ein heikles, wichtiges Geschäft, das er selbst seinem außerordentlich geschulten Diener nicht anvertrauen mochte. So trafen wir denn außer Dienst nicht allzuoft zusammen, am häufigsten noch im Burgtheater, das ich, begreiflicherweise, sooft es nur anging, besuchte, während Burda jeden zweiten Tag mit der Oper abwechselte. Fanden wir uns nach der Vorstellung zufällig im Foyer, so pflegten wir gemeinschaftlich nach Hause zu gehen, denn nach dem Theater zu soupieren, gestatteten unsere Mittel nicht. Hingegen lud er mich zuweilen in huldvoller Stimmung ein, bei ihm den Tee zu nehmen, was allerdings im eigentlichsten Wortsinne zu verstehen war, da in der Regel Rum und Sahne fehlten und höchstens etwas abgelegenes Weißbrot als Beigabe erschien. Eines Tages hatte ich mich eben an den Schreibtisch gesetzt, um den zweiten Gesang eines größeren Gedichtes in Angriff zu nehmen, zu dem ich mich unter dem Eindruck von Ernst Schulzes »Bezauberter Rose« hatte verleiten lassen, als ich an der Verbindungstür ein leises, immer eindringlicher werdendes Klopfen und zuletzt die Stimme Burdas vernahm: »Störe ich, wenn ich einen Augenblick hinüberkomme?« Obgleich mir nun diese Unterbrechung nicht sehr gelegen kam, so war es doch selbstverständlich, daß ich entgegenrief: »O, nicht im geringsten! Es wird mich sehr freuen, dich bei mir zu sehen.« Und damit eilte ich an den Eingang, um Burda zu empfangen, der auch alsbald, ein zusammengefaltetes Papier in der Hand, bei mir eintrat. Nachdem ich ihn gebeten hatte, auf einem der beiden braun gestrichenen Stühle Platz zu nehmen, die einen großen Teil meiner Zimmereinrichtung bildeten, fragte ich, was ihn zu mir führe. »Ich habe hier«, sagte er, »ein paar Verse niedergeschrieben, und da ich weiß, daß du dich mit Poesie beschäftigst, so wollte ich dich bitten, das Gedichtchen durchzusehen, ob sich nicht etwa Verstöße gegen das Metrum oder sonstige Fehler eingeschlichen haben. Willst du mir diese Gefälligkeit erweisen?« »Mit größtem Vergnügen«, erwiderte ich, indem ich das Blatt entgegennahm. Es enthielt zehn bis fünfzehn Verse, die im ganzen ziemlich steif, aber vollständig korrekt waren und beiläufig mit folgenden Reimen schlossen: »Soll mir der Stern der Hoffnung nicht erbleichen, So gib, erhab'ner Engel, mir ein Zeichen!« »Es ist nichts daran auszusetzen«, sagte ich, das Papier zurückgebend. »Ich dachte es wohl«, entgegnete er ernst. »Aber ich wollte ganz sichergehen.« Jeden anderen würde ich möglicherweise jetzt gefragt haben, an wen eigentlich die Verse gerichtet seien; allein Burda gegenüber war das nicht zu wagen. Auch interessierte es mich nicht gerade übermäßig. Diesmal aber war es mir, als wollte er gefragt sein. Denn er blieb mit gekreuzten Beinen sitzen und blickte, die rechte Fußspitze hin und her bewegend, wie erwartungsvoll vor sich hin. Ich unterbrach endlich das Schweigen, indem ich, wenngleich noch immer etwas zaghaft, begann: »Und darf man vielleicht wissen – –?« Er wandte rasch das Haupt und streckte mir die Hand entgegen: »Lieber Freund, du hast in der Zeit unseres Zusammenwohnens nicht bloß meine Zuneigung, sondern auch meine Achtung in hohem Grade erworben. Ich kann und darf dich daher auch vollständig in alles einweihen – umsomehr, als es mir, offen gestanden, ein Bedürfnis ist, diesmal einen Vertrauten zu haben. So höre denn: die Verse sind an die jüngste der Prinzessinnen L ... gerichtet.« Nun hatte ich allerdings nichts Geringes zu hören erwartet; dennoch erstarrte ich fast vor Erstaunen. Daß Burda seine Blicke so hoch erheben könne, überstieg all und jede Voraussetzung, wenn ich auch nicht umhinkonnte, seinen sublimen Geschmack zu bewundern. Die Prinzessinnen L ... gehörten zu den blendendsten Erscheinungen der aristokratischen Frauenwelt, welche damals an Schönheiten so auffallend reich war. Von mütterlicher Seite verwaist, dem Alter noch kaum um je ein Jahr voneinander verschieden, trugen sie alle drei mit ihren kühn und doch zart geschwungenen Nasen die ausgesprochenste Familienähnlichkeit zur Schau, und wenn sie, in der Regel gleich gekleidet, in der Loge saßen oder in den Prater fuhren, so mochte dieser Anblick wohl viele Herzen höher schlagen gemacht haben. Daß aber irgendein Erdensohn, wenn er jenen Kreisen nicht angehörte, es wagen sollte, der Tochter eines Fürsten aus souveränem Geschlechte, welcher am Hofe eine der ersten Stellungen einnahm, in solcher Weise, mit solchen Erwartungen zu nahen, war unfaßbar. Ich blieb sprachlos. Burda schien sich an meinem Erstaunen zu weiden. »Nun«, sagte er endlich lächelnd, »siehst du darin etwas so ganz Unmögliches?« Nun galt es wieder, ihn nicht zu verletzen. »O nein – durchaus nicht – – ich habe nur nachgedacht. Auf welche Art willst du denn der Prinzessin das Gedicht zukommen lassen?« »Auf welche Art? Ganz einfach durch die Post.« »Durch die Post?« »Natürlich. Du weißt, daß ich mich ein wenig auf Kalligraphie verstehe. Ich bringe also die Verse ohne Unterschrift und ohne meine Hand zu verraten, aufs zierlichste zu Papier. Auf der Adresse ahme ich eine Damenschrift nach, und um die Empfängerin sofort wissen zu lassen, von wem der Brief kommt, siegle ich mit feinem, blaßgelbem Lack – mit der Farbe unserer Aufschläge«, setzte Burda erklärend und bereits etwas ärgerlich hinzu, da er in meiner Miene noch immer keine verständnisvolle Zustimmung bemerken mochte. »Das ist alles ganz gut«, warf ich jetzt ein. »Aber wie, wenn der Brief in unrechte Hände fällt?« »Burda sah mich mit mitleidsvoller Überlegenheit an. An unrechte Hände? Glaubst du denn, daß man in fürstlichen Häusern den Töchtern die Briefe öffnet, wie dies wohl in bürgerlichen Kreisen von seiten mißtrauischer Väter und Mütter geschehen mag?« »Vom Öffnen ist nicht die Rede. Aber der Brief kann in Gegenwart anderer Personen überbracht werden. Und wenn dann hinsichtlich seiner an die Empfängerin eine Frage gerichtet wird – was soll sie erwidern?« Burda rückte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. »Lieber Freund«, sagte er gereizt, »man sieht doch gleich, daß du keine Ahnung hast, was in der Aristokratie Sitte und Gepflogenheit ist. In solchen Familien hat jedermann seine eigenen Appartements, seine eigene Dienerschaft – und man empfängt eben seine Briefe für sich allein. Indessen hast du in gewissem Sinne recht«, fuhr er nach einer Pause einlenkend fort; »ich selbst verkenne ja das Bedenkliche meines Unternehmens nicht. Aber du wirst zugeben, daß meinerseits etwas gewagt werden muß; denn die Prinzessin kann doch nicht den ersten Schritt tun. Im übrigen habe ich alles wohl erwogen und reiflich überlegt. Die Sache steht einfach so: entweder erwartet man – und ich habe Gründe, dies aufs bestimmteste vorauszusetzen – von mir eine Kundgebung, dann begreifst du wohl, daß es mit dem Briefe keine Gefahr hat. Denn selbst angenommen, daß er der Gegenstand irgendeiner Frage würde, so besitzt man gewiß auch den nötigen weiblichen Scharfsinn, um sich aus der Affäre zu ziehen. Oder: ich habe mich bis jetzt vollkommen getäuscht – nun, dann wird man die Verse einfach beiseite werfen – und alles ist aus.« Diese ruhige Auseinandersetzung wirkte. Mir selbst kam jetzt das Ganze weniger befremdlich vor. Ich hätte freilich noch einwenden können, daß in dem Schritte, den er unternahm, etwas Verletzendes für die junge Dame selbst liege; aber ich unterdrückte diese Bemerkung und sagte bloß: »Ich sehe, du hast alle Umstände aufs genaueste in Betracht gezogen, und so kann ich dich nur bitten, mir zu verzeihen, daß ich mir gestattet habe – –« »Du bist vollkommen entschuldigt«, sagte er herablassend, indem er sich erhob. »Es war ja deine Pflicht, mich auf mögliche Zwischenfälle aufmerksam zu machen – und ich danke dir dafür. Damit du jedoch siehst, wie grundlos deine Einwürfe waren, so fordere ich dich auf, Zeuge meines Erfolges zu sein.« Er stand einen Augenblick nachsinnend. »Heute ist der Zwölfte – morgen sende ich das Gedicht ab – am Vierzehnten erhält es die Prinzessin – und am Fünfzehnten hat man die Loge im Burgtheater, denn es ist ein ungerader Tag. Ich ersuche dich also, am Fünfzehnten mit mir gemeinsam das Burgtheater zu besuchen und während der Vorstellung an meiner Seite zu bleiben. Das Weitere wirst du sehen.« Damit reichte er mir die Hand und begab sich, von mir auf den Gang hinausgeleitet, in sein Zimmer. Als ich wieder allein war, wirbelte es mir im Kopfe. Sollte es möglich sein! rief ich aus. Sollte die Prinzessin wirklich .... Warum nicht? Es waren ja doch schon ähnliche Fälle vorgekommen! Burdas Zuversicht hatte etwas Ansteckendes; sie schien sich jetzt auch mir mitteilen zu wollen. Aber nein, nein! Es ist ganz und gar undenkbar! sprach endlich die gesunde Vernunft und behielt das letzte Wort. Dabei vergaß ich freilich, daß ich vorhin selbst darangegangen war, in dem zweiten Gesange meiner Dichtung mit glühenden Farben ein geheimes Stelldichein zu schildern, welches zwischen einer Königstochter und einem Knappen (der sich allerdings am Schlusse als Königssohn würde entpuppt haben) stattfinden sollte. 3. III. Der Tag, oder besser gesagt der Abend, an welchem Burda von dem »erhabenen Engel« ein Zeichen erwartete, war da. Wir begaben uns also – und zwar ziemlich früh – in die noch dämmerhaften Räume des Burgtheaters, um uns einen guten, vollkommene Umschau gewährenden Platz zu sichern. Diese Vorsicht erwies sich übrigens als überflüssig. Denn man gab Minna von Barnhelm, welches Stück bei den meisten von uns in dem Rufe stand, langweilig zu sein, und obgleich sein zweiter Titel für das Militär sehr anziehend hätte klingen sollen, so blieb doch diesmal das Parterre, wo es sonst von Uniformen wimmelte, um so spärlicher besucht, als im Kärntnertor-Theater der »Prophet« aufgeführt wurde, welche Oper damals mit Ander als Johann von Leyden noch immer eine sehr starke Zugkraft ausübte. Burda aber wollte in der Minna von Barnhelm ein besonders günstiges Vorzeichen erblicken; ja er warf sogar hin, daß man das Stück vielleicht auf ausdrücklichen Wunsch der Prinzessin angesetzt habe. Ich fand diese Voraussetzung ziemlich gewagt, was er auch zugab; indes blieb er dabei, es sei jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen der Umstände. Inzwischen hatte sich der lichtspendende Kronleuchter von oben herabgesenkt; das Haus belebte sich, das Niederklappen der Sperrsitze wurde vernehmbar und mischte sich mit einzelnen Klagelauten der Instrumente, die man im Orchester zu stimmen begann. Endlich war die Ouvertüre in gewohntem Mißklange verhallt – und die Vorstellung begann. Jetzt konnte man ganz deutlich wahrnehmen, wie spärlich das Theater überhaupt besucht war. Die Logen- und Sitzreihen wiesen klaffende Lücken auf, ein Beweis, daß die vornehme Welt das klassische Lustspiel ebenfalls nicht besonders zu schätzen wisse. Nur die Galerien erschienen stark besetzt. Auch die fürstlich L ... sche Loge zeigte sich zu sichtlicher Bestürzung Burdas leer. Schon hatte sich die erste Szene zwischen Just und dem Wirt – von Laroche und Beckmann aufs köstlichste dargestellt – abgespielt; schon hatte Major Tellheim seinen Edelmut, Ludwig Löwe als Werner den unverwüstlichen Zauber seines Naturells zu entfalten begonnen, der Vorhang fiel – und noch immer gähnte die Loge wie ein dunkler Abgrund, in den die Hoffnungen Burdas zu versinken drohten. Da – als das Orchester eben mit einer jammernden Zwischenmusik anhob, konnte man in dem nicht allzu geräumigen Viereck ein leichtes Schimmern und Wehen bemerken; Stühle wurden gerückt – und die drei Schwestern setzten sich, während Burda vor Aufregung zitterte, an die Brüstung. Der zweite Akt begann. Luise Neumann, als Franziska, schlug ihre schalkhaftesten und dabei innigsten Laute an, die Aktion verwickelte sich – und nun nahm das Stück einen immer lebhafteren Fortgang, bis es am Schlusse des dritten Aktes zu stürmischem Beifalle hinriß. Ich betrachtete Burda. Er hatte die ganze Zeit über regungslos an seinen Pfeiler gelehnt dagestanden. Eine stille, wonnige Verklärung war über seinem Antlitz ausgebreitet, und seine Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Was nun die jungen Damen in der Loge betraf, so konnte ich durchaus nicht bemerken, daß man Burda irgendwelche Beachtung schenke. Die Prinzessinnen hatten anfänglich etwas zerstreut nach der Bühne geblickt; bald aber war ihre Aufmerksamkeit gefesselt worden, und jetzt, nachdem sich der Vorhang wieder herabgesenkt, sprachen sie leise miteinander. Dabei sahen sie wohl im Hause umher, und ihre Blicke schweiften auch über das Parterre; ob aber die jüngste Burda besonders ins Auge gefaßt habe, ließ sich nicht ermitteln. Dieser verließ jetzt seinen Standort und winkte mir mit den Augen, ihm in den kleinen, niederen Seitengang zu folgen, welcher als Verlängerung des Parterres benützt wurde und, obgleich man von dort aus kaum die Bühne sehen konnte, in der Regel ebenfalls überfüllt war. Heute aber zeigte er sich leer und vereinsamt, und Burda setzte sich auf die schmale, hartgepolsterte Bank, die an der Wand hinlief. Nachdem ich mich neben ihm niedergelassen hatte, flüsterte er mir zu: »Nun, hast du bemerkt?« »Bemerkt? Was denn?« »Daß sie ganz, in Gelb gekleidet ist.« »Das ist mir nicht aufgefallen.« »Weil du nicht darauf geachtet hast. Tritt hinaus und überzeuge dich, daß sie unsere – das heißt meine Farbe trägt.« Als ich mich nun wieder an meinen früheren Platz begab, hatte der vierte Akt bereits begonnen. Ich blickte nach der Loge – und in der Tat, es war so, wie Burda gesagt hatte. Das tief in den Schultern ausgeschnittene Kleid war von mattem Gelb; im dunklen Haar wiesen sich gelbe Rosen – und vor allem leuchtete mir ein großer Fächer von hellem Goldgelb in die Augen, den die Prinzessin nachlässig auf und nieder bewegte. Ich begriff nicht, wie ich dies alles hatte übersehen können, da es doch um so auffallender war, als die beiden älteren Schwestern heute anders, und zwar in zartes Blau gekleidet waren. Es sah wirklich wie Absicht aus. Das Stück näherte sich dem Ende. Burda war inzwischen wieder an meiner Seite erschienen, und als jetzt der Vorhang fiel, raunte er mir zu: »Komm, wir wollen sie noch in den Wagen steigen sehen.« Wir eilten in die Garderobe, nahmen unsere Mäntel und stellten uns in der Einfahrt auf. Das Haus leerte sich diesmal rasch, es dauerte daher nicht lange, so erschienen die Prinzessinnen, in weiße, mit Schwan besetzte Theatermäntel gehüllt. Ihr Vater, der gegen Ende der Vorstellung im Hintergrunde der Loge sichtbar geworden, folgte ihnen auf dem Fuße, während zwei Wagen vorfuhren. Man sonderte sich paarweise; der Fürst mit der jüngsten Tochter stieg in den ersten Wagen, die beiden anderen in den zweiten und die schmucken Gefährte rollten von hinnen. Wir sahen ihnen noch eine Weile nach, und ich glaubte zu bemerken, daß sie, auf dem Michaelerplatz angelangt, sich trennten und jedes eine andere Richtung nahm. Nun entfernten wir uns, und Burda schlug, ohne ein Wort zu sagen, den Heimweg ein, doch nicht wie gewöhnlich durch die Stadt, sondern über das verödete Glacis vor dem Burgtor. Es war im Dezember. Der Tag hatte sich frostig angelassen, jetzt aber war es milder geworden. Feiner weißer Nebel lag wie ein matt durchleuchteter Schleier über der Stadt; dabei fing es in weichen, dichten Flocken zu schneien an. Da Burda in seinem Schweigen verharrte, so schritten wir eine Zeitlang stumm nebeneinander hin. Aber ich fühlte, daß er erwartete, ich würde das Gespräch eröffnen, und begann daher endlich: »Nun, hast du eine weitere Kundgebung erhalten?« Er warf mir einen Blick von der Seite zu. »Eine weitere Kundgebung?« erwiderte er scharf. »Genügt denn nicht diese eine, daß sie, wie schon erwähnt, meine Farbe trug? Hätte sie mir vielleicht noch Zeichen machen – oder vor dem Theater in die Arme fallen sollen?« Ich sah, wie sehr ich ihn mit meiner Frage gereizt hatte. »Keineswegs«, erwiderte ich, »ich meinte ja nur – – Und wenn du wirklich überzeugt bist, daß die Wahl der Farbe eine absichtliche war –« »Überzeugt?« rief er noch mehr aufgebracht. »Als ob da ein Zweifel sein könnte!« Und sich gewaltsam mäßigend, fuhr er fort: »Ich vergesse, lieber Freund, daß du das Recht hast, mich vor möglichen Selbsttäuschungen zu warnen. Aber wie soll ich dir meine Überzeugung beibringen? Das bleibt doch immer nur Sache des Gefühls.« »Gewiß«, bekräftigte ich, um einem unersprießlichen Streite vorzubeugen. »Und dein Gefühl wird jedenfalls das richtige sein – wenn ich auch nicht absehe, was sich aus dem allem entwickeln soll.« Er blieb stehen und blickte mir bei dem Schein einer nahen Gasflamme ernst ins Gesicht. »Entwickeln! Entwickeln!« wiederholte er verächtlich. »Mich wundert nur, daß gerade du so fragen kannst. Du bist doch Poet – oder willst es wenigstens sein, und so solltest du auch begreifen, daß es Verhältnisse gibt, die keine weitere Entwicklung zulassen, weil sie an sich schon der Gipfel alles Glückes sind. Oder ist es nicht das höchste Glück, zu wissen, daß man die Gedanken, die Phantasie eines solchen Wesens beschäftigt? Daß man in einem solchen Herzen die ersten Empfindungen wachgerufen hat? Was kann, was darf ich mehr erwarten?« Ich gestehe, daß ich mich beschämt fühlte. Das Zarte, Vergeistigte seiner Auffassung imponierte mir; es war, als hätte ich ihm ein Unrecht abzubitten. »Verehrter Freund«, sagte ich mit aufrichtiger Wärme, »ich ersuche dich, vor allem zu glauben, daß ich mich sehr wohl in deinen Seelenzustand versetzen kann. Aber ich gestehe dir auch offen, daß ich dich, trotz deines idealen Sinnes, den ich stets bewundert, doch für einen Mann gehalten habe, dem ein solch traumhaftes Glück auf die Dauer nicht zu genügen vermag.« Er sah mich eigentümlich an. »Vielleicht hast du recht«, erwiderte er nach einer Pause, indem er sich wieder in Bewegung setzte. »Und damit du siehst, wie weit mein Vertrauen zu dir geht, will ich dich auch noch in eine andere Angelegenheit einweihen. Sie ist zwar bis jetzt nicht viel mehr als ein Luftgebilde; sie kann aber im Laufe der Zeit festere Umrisse annehmen – und dann Aussichten auf Möglichkeiten eröffnen, die gegenwärtig ganz undenkbar sind. Wenn du bei mir eine Tasse Tee trinken willst, so werde ich dir alles darauf Bezügliche auseinandersetzen.« Wir schritten nun rascher aus, und so waren wir bald zu Hause angelangt, wo uns der Diener Burdas zeremoniell die Mäntel abnahm. Dann servierte er auf einer blank gescheuerten, wie Silber aussehenden Zinnplatte den Tee, welchem heute, wie zu voraussichtlicher Feier des erfolgreichen Abends, etwas kalte Küche beigegeben war, schob auf einen Wink seines Herrn noch einige Kohlen in den Ofen und verschwand. Nachdem wir den Tee genommen und Zigarren angezündet hatten, stellte Burda die Lampe auf eine Konsole, die neben der Ottomane stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, dort Platz zu nehmen. Hierauf schloß er ein versperrtes Schiebfach seines Schreibtisches auf und zog ein Pack vergilbter und brüchiger Papiere hervor, die er, indem er sich jetzt gleichfalls setzte, zwischen uns beiden niederlegte. »Du entsinnst dich vielleicht noch«, begann er nach kurzem Schweigen, »jenes ärgerlichen Auftrittes beim Regimentsrapport, als wir noch in Brünn waren?« Nun entsann ich mich dessen sehr wohl, wollte es aber nicht sofort merken lassen. »Ach ja«, sagte ich nach einer Weile, »du meinst die Geschichte wegen der Unterschriften?« »Allerdings. Und ich kann dir jetzt gestehen, daß der Oberst mir gegenüber nicht ganz im Unrechte war – denn ich hatte mit jenem f in der Tat einen Doppelsinn verbunden.« Er legte die rechte Hand auf die Papiere und fuhr fort: »Ich habe nämlich Grund anzunehmen, daß ich aus einem alten adeligen Geschlechte stamme. Und zwar aus einem Grafengeschlechte, das seinen Sitz in Böhmen hatte, nach der Schlacht am Weißen Berge jedoch, in welcher es an der Seite des sogenannten Winterkönigs gekämpft, von Ferdinand dem Zweiten seiner Güter entsetzt und gezwungen worden war, das Land zu verlassen. Gewissen Traditionen zufolge waren es zwei Brüder, welche dieses Los getroffen. Der eine von ihnen hat sich, wie man glaubt, nach Sachsen gewendet, wo noch heute ein adeliges Geschlecht meines Namens blüht. Der zweite blieb verschollen. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts aber soll ein direkter Nachkomme von ihm – allerdings als bloßer Bürgerlicher – wieder in Österreich eingewandert sein, der sich auch wirklich Burda geschrieben hat. Schon mein Großvater war auf die mutmaßliche Deszendenz unserer Familie von diesem Manne aufmerksam gemacht und ermuntert worden, Nachforschungen einzuleiten. Dies geschah, und die hier liegenden Schriftstücke sind das Resultat jener Bemühungen. Sie stellen auch den fraglichen Zusammenhang so ziemlich klar – allein über den Hauptpunkt: ob nämlich der erwähnte Einwanderer wirklich ein Nachkomme der verschollenen Grafen Burda gewesen ist, konnte leider nichts Bestimmtes ermittelt werden. Mein Großvater ließ also die Sache, welche mit nicht unbeträchtlichen Kosten verknüpft war, um so eher auf sich beruhen, als ja im besten Falle wohl der Grafentitel, keineswegs aber die Wiedererlangung der konfiszierten Güter erzielt werden konnte, welche in den Besitz anderer, zu jener Zeit treu gebliebener Adelsfamilien übergegangen waren. Mein Vater war nun schon gar nicht der Mann, eine solche Angelegenheit wieder aufzunehmen, und ich muß es als wahres Wunder betrachten, daß sich diese Papiere in seinem Nachlasse noch vorgefunden haben. Ich selbst legte sehr lange Zeit hindurch kein Gewicht darauf; erst nach und nach habe ich ihre Bedeutung kennengelernt – und jetzt, da sie mir unter den dir bekannten Umständen unschätzbar geworden, ist mein Entschluß zur Reife gediehen. Schon morgen sende ich das Ganze an einen jungen Historiographen ab, den ich in Brünn kennengelernt und welcher gegenwärtig am dortigen Landesarchiv in Verwendung steht. Ich hatte ihm schon damals einige Andeutungen gemacht, infolge deren er sich bereit erklärte, mir mit Hilfe seiner gelehrten Verbindungen an die Hand zu gehen. Vor allem, meinte er, wäre es geboten, mit den von Burda in Sachsen Fühlung zu nehmen und ein Einverständnis zu erzielen. Dann könnte es vielleicht unseren gemeinschaftlichen Bestrebungen gelingen, durch einen Gnadenakt der betreffenden Souveräne für beide Linien den Grafentitel, der mir ja selbstverständlich vollkommen genügen würde, zu erreichen.« Ich war diesen Auseinandersetzungen mit wachsendem Erstaunen gefolgt und wußte fürs erste nicht, was ich erwidern sollte. Einerseits lag die Sache nicht geradezu außerhalb all und jeder Möglichkeit; allein die Durchführung erschien mir mit Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten ganz und gar illusorisch. Ich überlegte eben, wie ich dies in zartester Weise andeuten sollte, als mir Burda zuvorkam. »Ich verkenne nicht«, fuhr er fort, »welche fast unübersteiglichen Hindernisse sich in den Weg stellen. Denn ganz abgesehen davon, daß sich der erwähnte Hauptpunkt wohl niemals ganz ins klare wird setzen lassen, so ist es auch gewiß, daß man von seiten jener Familien, in deren Reihen die Grafen Burda neuerdings aufzutauchen hätten, alles anwenden wird, um solche, wenn auch berechtigte Eindringlinge fernzuhalten. Und sie werden um so leichteres Spiel haben, als sich der betreffende Stammbaum leider nicht rein erhalten hat. Hingegen könnte freilich der Umstand, daß ich zu einigen, gegenwärtig sehr hervorragenden Adelsgeschlechtern – zum Beispiel mit den Y ... und den Z ... – infolge von Ehebündnissen, die vor Jahrhunderten geschlossen wurden, sogar in verwandtschaftliche Beziehungen treten würde – gerade dieser Umstand, sage ich, könnte vielleicht dazu beitragen, daß man von seiten anderer hoher Persönlichkeiten, die du erraten wirst, fördernd in die Angelegenheit eingriffe und sie dem erfreulichsten Resultat zuführte.« Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. Ich hütete mich aber sehr, ihn darin zu bestärken, und sagte bloß: »Das wirft allerdings ein neues Licht auf die Sache, und wie immer auch der Erfolg sich gestalten möge, meiner besten Wünsche, meiner aufrichtigen Teilnahme kannst du gewiß sein.« »Das bin ich«, antwortete er, mir herzlich die Hand drückend, »so wie deines unverbrüchlichen Schweigens.« Er war aufgestanden, um die Papiere wieder zu versorgen; ich aber, da es mittlerweile spät geworden, empfahl mich und ging auf mein Zimmer. Im Bette liegend, dachte ich unwillkürlich über alle diese Mitteilungen nach und verfolgte die Fäden, die sich hier zu einem so wunderlichen luftigen Gewebe ineinanderschlangen. Als ich endlich einschlief, hatte ich verworrene Träume, in welchen die Gestalten Burdas und der Prinzessin aufs seltsamste mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflossen, das ich übrigens seither nicht wieder aufgenommen hatte. 4. IV. Weihnachten und Neujahr waren herangekommen. Ich hatte diese festliche Zeit fast ausschließlich im Kreise meiner nächsten Verwandten zugebracht, war daher mit Burda, der jetzt mehr als je seine eigenen Wege verfolgte, nur wenig zusammengetroffen. Erst der beginnende Karneval brachte uns einander wieder näher. Burda forderte mich nämlich eines Tages auf, mit ihm den Hofball zu besuchen, der demnächst stattfinden sollte und an welchem jeder Offizier teilnehmen konnte. »Du kannst dir wohl denken«, sagte er, »was mich dazu bestimmt. Die Prinzessin erscheint jedenfalls auch, und somit ist die erste, vorderhand einzig mögliche Gelegenheit zu persönlicher Annäherung geboten. Man wird es herbeizuführen wissen, daß ich vorgestellt werde – das Weitere findet sich dann. Im übrigen ist es jedenfalls interessant, ein solches Fest in Augenschein zu nehmen.« Ich pflichtete bei, und wir trafen die nötigen Verabredungen. Es war ein eisig kalter, dunkler Januarabend, als Burda und ich – wir hatten einen Fiaker genommen – in der Hofburg vorfuhren und die hell erleuchtete Treppe hinanstiegen. Der Eintrittssaal war noch ziemlich leer; nur diensttuende Hofchargen, einige höhere Militärs – darunter auch der Adjutant des Fürsten L ..., ein noch sehr junger, etwas stutzerhaft aussehender Major – und mehrere Staatsbeamte, welche Ordensritter waren, standen in kleine Gruppen verteilt. Nach und nach aber bewegte es sich immer zahlreicher durch die hohen, weit geöffneten Flügeltüren herein. Es glänzte und flimmerte von gold- und silbergestickten Uniformen, von Ordensbändern und Sternen; die Großwürdenträger des Reiches erschienen, darunter ungarische und polnische Magnaten in reicher, malerischer Nationaltracht. Endlich die Damen: ein blendendes Gewoge von Spitzen, Samt und Seide, von Blumen und Federn, von Diamanten und Perlen. Entblößte Nacken und Arme schimmerten; stolze, ausdrucksvolle Frauenköpfe tauchten auf, helle und dunkle Augen leuchteten, rosige Lippen lächelten Grüße zu. All das bewegte und drängte sich mehr oder minder rasch dem großen Saal entgegen, der erwartungsvoll die Zuströmenden aufnahm. Die Prinzessinnen L ... waren noch nicht erschienen, und schon begann das Antlitz Burdas, mit dem ich mich nahe am Eingang hielt, sich zu verfinstern – als sie in Begleitung einer älteren Dame von auffallender Hoheit in Gestalt und Blick hereintraten. Heute alle drei in duftiges, mit kleinen Silberflittern übersäetes Weiß gekleidet, Maiglöckchen im Haar – ein entzückendes Bild jugendlicher Anmut und Frische. Diesmal konnte ich deutlich wahrnehmen, daß Burda sofort bemerkt wurde. Um die Lippen der beiden Älteren zuckte es eigentümlich, während die Jüngste – ich glaubte mich nicht zu täuschen – wie unmutig das Haupt abwandte und mit einer gewissen Hast dem Saale zustrebte. Als nun auch wir ihn betraten, standen wir vor einer dichten Menge, die keinen Überblick gestattete, während der Schall der verworrenen Stimmen wie fernes Meeresbrausen an unser Ohr schlug. Plötzlich trat tiefe Stille ein, und die Massen teilten sich. Eine Tür hatte sich geöffnet, auf deren Schwelle der Zeremonienmeister erschien, das Nahen des Hofes ankündigend. Gleich darauf zeigte sich der jugendliche Monarch, der damals seine hohe Braut noch nicht heimgeführt hatte, eine Erzherzogin am Arm. Hinter ihnen die männlichen und weiblichen Familienmitglieder – dann der gesamte Hofstaat, mit dem Fürsten L ... an der Spitze. Der Kaiser geleitete seine Dame nach der Balustrade, woselbst sie im Kreise der übrigen Platz nahm. Gleich darauf erhob sich der Taktierstab des Kapellmeisters – und der Ball begann. Sofort vollzog sich eine Bewegung im Saale. Die älteren Herren verließen ihn oder zogen sich in entfernte Ecken zurück, während die Tanzlustigen, so gut es anging, in der Nähe der Damen blieben, welche längs der Wände zu sitzen kamen. Ich selbst hatte mich von Burda zurückgezogen und war mit mehreren andern in eine offene Verbindungstür getreten; von dort aus konnte ich den ganzen Saal überblicken, wo der Tanz bereits begonnen hatte. Bald fiel mir auch unter den walzenden Paaren die Prinzessin ins Auge, die mit einem blutjungen Dragoneroffizier von kleiner, aber zierlicher Gestalt lustig dahinflog. Ich spähte nach Burda und fand ihn an einem Pfeiler stehen, den er auch hier, hart an einem Spiegel, zu behaupten gewußt hatte. Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hin blickte, kam mir seine Erscheinung weit weniger vornehm und anziehend vor als sonst; er wurde offenbar von der ganzen Umgebung in den Schatten gestellt. Auch fiel mir jetzt zum erstenmal auf, daß seine Gesichtszüge eigentlich unbedeutend waren und daß er eine sehr kleine, gedrückte Stirn hatte. Während ich so meine Betrachtungen anstellte, fühlte ich mich leicht an der Schulter berührt. Ich wendete mich um – und stand dem Adjutanten des Fürsten gegenüber. »Dürfte ich Sie bitten«, sagte der Major sehr freundlich mit leiser Stimme, »mir einen Augenblick zu schenken, Herr Leutnant? Ich hätte ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen.« Er faßte mich zuvorkommend unter dem Arm und führte mich in ein kleineres Nebengemach, wo ein vereinsamtes Büfett stand. Dort lud er mich zum Sitzen ein und begann, indem er mir vertraulich näher rückte: »Vor allem möchte ich Sie fragen, wie der große, schlanke Offizier heißt, welcher im Saale an einem Spiegelpfeiler steht. Sie werden wohl wissen, wen ich meine, da Sie, wenn ich nicht irre, in seiner Gesellschaft hier erschienen sind.« Ich war begreiflicherweise gleich anfangs sehr betreten gewesen; nun aber suchte ich mich zu fassen und nannte mit möglichster Unbefangenheit den Namen Burdas. »Und darf ich mir erlauben, weiter zu fragen, ob Sie mit diesem Herrn näher bekannt sind – das heißt, ob Sie mit ihm auf vertrautem Fuße stehen?« Ich erwiderte, daß Burda mein Freund sei. »Das ist mir lieb«, sagte der Major, indem er seine Hand leicht auf die meine legte. »Denn Sie können Ihrem Freunde auch einen wahren Freundschaftsdienst erweisen. Wollen Sie das?« Diese Worte klangen höchst einschmeichelnd; aber mir ahnte nichts Gutes. »Gewiß bin ich bereit – und wenn Sie mir erklären wollen – –« Er lehnte sich zurück und hustete leicht. »Nun«, begann er, »das Ganze ist von nicht allzu großer Bedeutung – aber immerhin eine delikate Angelegenheit. Ihrem Freunde hat es nämlich beliebt, an der jüngsten Tochter meines Chefs Wohlgefallen zu finden. Nun steht dies allerdings jedermann frei, besonders einem in jeder Hinsicht ausgezeichneten Offizier, wie dies Ihr Freund ohne Zweifel ist. Nur mit den Kundgebungen seines Wohlgefallens sollte er, in richtiger Erwägung der Umstände, etwas vorsichtiger sein. Daß er im Theater beständig nach der fürstlichen Loge blickt, möchte noch hingehen. Allein die Prinzessin kann seit einiger Zeit kaum mehr ans Fenster treten, ohne den Herrn Leutnant zu gewahren, der vor dem Palais auf und nieder schreitet; sie kann keinen Spaziergang unternehmen, ohne von ihm, wie von ihrem Schatten, gefolgt zu werden – ja selbst, wenn sie ausfährt, weiß es Ihr Freund so einzurichten, daß er beim Ein- und Aussteigen stets in der Nähe ist. Unlängst ist es sogar vorgekommen, daß, als der Wagen eine Zeitlang vor einem Juwelierladen hielt, eine Rose durch das offene Coupéfenster geworfen wurde. Im Anfang«, fuhr der Major mit ironischem Lächeln fort, »hat man die Sache nicht allzu übel aufgenommen. Sie wissen ja, junge Damen sind – wie soll ich nur sagen? – unter allen Umständen nicht ganz frei von einer gewissen Koketterie. Bald aber mokierte man sich – und jetzt, da bereits zum zweiten Male mit der Post anonyme Verse eingetroffen sind, in welchen die licentia poetica bis zum äußersten getrieben wurde – jetzt fängt man an, diese fortgesetzten Huldigungen unerträglich zu finden, und hat sich bemüßigt gesehen, den durchlauchtigsten Papa ins Vertrauen zu ziehen. Dieser hat wieder mich beauftragt, die Sache in unauffälligster, schonendster Weise beizulegen, und ich selbst glaube am besten zu tun, wenn ich Sie jetzt herzlich bitte, Ihren Freund auf das Unstatthafte seines Benehmens aufmerksam zu machen.« Da hatte ich nun, was ich vorausgesehen, und befand mich in größter Verlegenheit. »Sie werden nicht verkennen, Herr Major«, sagte ich nach einer Pause, »welch peinlichen Auftrag Sie mir da erteilen. Es fällt immer ein schiefes Licht auf denjenigen, der sich in fremde Angelegenheiten mischt, und oft wird gerade der wohlmeinendste Rat zur Beleidigung. Das aber habe ich meinem Freunde gegenüber zu befürchten, der in jeder Hinsicht von äußerster Empfindlichkeit ist. Da ich jedoch erkenne, daß ihm jedenfalls ein Wink gegeben werden muß, so werde ich es trotzdem versuchen, wenn ich auch – und ich bitte dies wohl zu beachten – für den Erfolg nicht einstehen kann.« »Gewiß, das können Sie nicht«, sagte der Major, indem er aufstand. »Aber ich lege Ihnen die Sache noch einmal ans Herz; denn ich würde es aufrichtig bedauern, wenn ich gezwungen wäre, andere Wege einzuschlagen.« Er hatte bei diesen Worten eine etwas strenge Miene angenommen und reichte mir die Hand zum Abschied. Den unerquicklichsten Gedanken und Empfindungen überlassen, ging ich noch eine Weile auf dem glatten Fußgetäfel des stillen Raumes auf und nieder, in welchen die Tanzmusik, leicht gedämpft, herüberdrang. Da war denn der leuchtende Traum Burdas zerflossen und hatte einer höchst unangenehmen Wirklichkeit Platz gemacht! Was sollte ich nun tun? Wie dem Verblendeten die Augen öffnen, um ihn vor dem Fluch der Lächerlichkeit – und vielleicht vor noch Schlimmerem zu bewahren? Ich trat an das Büfett und trank ein Glas Limonade, ohne den Süßigkeiten Beachtung zu schenken, die vor mir in allen Formen und Farben aufgehäuft waren. Dann machte ich mich wieder auf den Weg nach dem Saale, wo eben eine Française zu Ende ging. Wie ich bemerken konnte, hatte die Prinzessin auch diese mit dem jungen Dragoneroffizier getanzt, dessen zartes, fast mädchenhaftes Gesicht sehr erhitzt aussah. Als sich jetzt die Reihen lösten und die Paare Arm in Arm nach rechts und links auseinanderbogen, verließ eine Schar von Zusehern den Saal, darunter auch Burda, der kreidebleich war und mich kaum erkannte, als ich jetzt auf ihn zuging. »Ah, du bist's!« sagte er endlich. »Wo hast du denn gesteckt?« »Ich war in einem Nebenzimmer, wo ich mich nach einigen Erfrischungen umgesehen hatte.« »Und sonst – wie unterhältst du dich?« fragte er zerstreut. »So ziemlich. Und du?« »O gut, ganz gut! Aber ich gehe jetzt.« »Schon jetzt?« »Ja; ich habe Kopfschmerzen – mir war den ganzen Tag nicht recht wohl – –« »Nun, dann gehe ich gleich mit. Ich habe hier auch nichts mehr zu suchen.« Ich konnte bemerken, daß ihm meine Begleitung sehr unangenehm war. Aber ich kehrte mich diesmal nicht daran. Er hatte sich offenbar in seinen Erwartungen getäuscht gesehen, war tief verstimmt – und so nahm ich mir vor, an seiner Seite zu bleiben und das Eisen zu schmieden, so lange es noch glühte. Auf der Straße angelangt, schlug er den Kragen seines Mantels hinauf und eilte so rasch über den Josefsplatz, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen. »Warum läufst du denn so?« rief ich ihm zu. »Du hast doch gehört, daß ich Kopfschmerzen habe«, erwiderte er zornig, ohne mich anzusehen. »Ich will bald zu Hause sein.« »Du bist übler Laune«, sagte ich. »Dir ist etwas Unangenehmes begegnet.« »Mir? Wieso? Warum?« »Ich weiß es«, erwiderte ich fest. »Man hat sich auf dem Balle nicht umsonst deinetwegen an mich gewendet.« Er blieb wie versteinert stehen. »An dich? Meinetwegen? Was willst du damit sagen?« fragte er mit bebender Stimme. Und nun teilte ich ihm, während wir weiterschritten, das Gespräch mit dem Major mit. Um ihn fürs erste möglichst zu schonen, streifte ich den heikelsten Punkt, närnlich den Unwillen der Prinzessin, nur flüchtig und legte das Hauptgewicht auf den Fürsten und auf den Auftrag, den dieser seinem Adjutanten erteilt hatte. Aber der Erfolg war ein ganz anderer, als ich vorausgesetzt. Bei jedem Worte, das ich sprach, schien er freier und leichter aufzuatmen; sein Antlitz erhellte sich – und plötzlich rief er mit triumphierendem Lachen: »Also das ist es? Das! « Ich sah ihn verwundert an. »Also deswegen«, fuhr er fort, »hat sie mich heute wie absichtlich keines Blickes gewürdigt? Deshalb hat sie in einem fort mit diesem jungen Laffen, dem Prinzen A ..., getanzt?! O, lieber Freund, ich könnte dich für deine Mitteilung umarmen!« Und damit schritt er, sich froh in die Brust werfend, dahin. »Aber lieber Freund, bedenke doch –«, sagte ich ernst. »Nein! Nein! Kein Wort mehr, ich weiß genug. Es kann sein, daß ich mich in letzter Zeit etwas unvorsichtig benommen; vielleicht hat sich die Prinzessin selbst unklugerweise irgendwie verraten – und nun, da man merkt, wie es steht, will man mich ins Bockshorn jagen. O, ich kenne das!« Ich war äußerst unzufrieden mit mir und verwünschte es, daß ich so rücksichtsvoll vorgegangen. Ich hätte alles geradezu heraussagen sollen; denn nun hatte ich ihn gewissermaßen selbst zu dieser irrigen Auffassung verleitet. Diesen Fehler suchte ich wieder gutzumachen, indem ich sagte: »Du bist im Irrtum und sollst daher rundweg erfahren, daß sich die Prinzessin bei ihrem Vater über dein Vorgehen beschwert hat.« Er lachte laut auf. »Das ist die rechte Höhe! Verzeih, lieber Freund, du bist in der Tat ein höchst naiver Mensch. Begreifst du denn nicht, daß man jetzt vor allem trachten muß, mich ihr gegenüber zu entmutigen? Nein, nein, mein Teurer! Bemühe dich nicht! Wie gesagt: ich weiß genug. Das Weitere wird meine Sache sein. Aber nun fühle ich das Bedürfnis, allein zu bleiben. Du wirst mich entschuldigen. Adieu! Schlaf wohl!« Und er ließ mich an der Ecke der Singerstraße, wo wir eben angelangt waren, stehen und bewegte sich raschen Ganges mit stolz erhobenem Haupte dem Stephansplatze zu. Ich ging langsam nach Hause. Je länger ich über das Vorgefallene nachdachte, desto mehr kam ich zur Einsicht, daß ich ein solches Ergebnis hätte erwarten können. Er hatte sich in seine fixen Ideen dermaßen verrannt, daß nur der allerunsanfteste Zusammenstoß mit der Wirklichkeit ihn zur Besinnung bringen konnte. Mochte dieser Zusammenstoß erfolgen! Ich hatte das Meinige getan, und Burda mußte sich die Folgen selbst zuschreiben, wenn er meine Ermahnungen in den Wind schlug. – – * * * Seitdem waren kaum zwei Tage verstrichen, als er, der mir inzwischen sichtlich ausgewichen war, nach flüchtigem Pochen an die Tür in mein Zimmer stürzte. »Nun, was sagst du dazu?« rief er, indem er ein kleines bedrucktes Blättchen vor mich hin auf den Tisch schnellte. »Lies!« Es war ein Zeitungsausschnitt, der ein Inserat enthielt. Es lautete: » Tellheim. Wir werden beobachtet. Äußerste Vorsicht geboten. Hoffe und vertraue! Unveränderlich F.« »Nun«, drängte er, »verstehst du? Begreifst du?« »Was soll ich denn verstehen?« fragte ich, ihn zweifelhaft anblickend. »Nun, so will ich denn deiner Fassungskraft zu Hilfe kommen. Tellheim – damit bin ich gemeint. Wir werden beobachtet – geht dir noch immer kein Licht auf? Äußerste Vorsicht geboten – werde ich mir nicht zweimal sagen lassen. Hoffe und vertraue! Unveränderlich F. – Fanny. Du weißt doch, daß die Prinzessin Fanny heißt?« »Also du glaubst ...?« rief ich, außer mir vor Erstaunen über diese neue Phase seines Wahnes. »Aus welcher Zeitung ist das?« »Aus dem Fremdenblatt.« Dieses Journal wurde damals in den weitesten Kreisen gelesen und war so ziemlich das erste, das sich mit derlei Einrückungen befaßte. »Du setzest wirklich voraus, daß die Prinzessin sich an das Ankündigungsbureau des Fremdenblattes –« »Warum nicht?« unterbrach er mich rauh. »Es gibt doch vertraute Zofen, die man mit derlei beauftragen kann.« »Je nun – in Romanen. Aber selbst angenommen, daß man sich einer solchen Vermittlerin bedient, so wäre es doch weit einfacher – und auch weit besser gewesen, wenn man dir geschrieben hätte.« Er stutzte. »Vielleicht«, erwiderte er verwirrt. »Und sie würde mir auch gewiß geschrieben haben«, setzte er, froh eine Ausflucht vor sich selbst zu finden, rasch hinzu, »wenn sie meinen Namen wüßte.« »An deiner Stelle würde ich es sehr sonderbar finden, daß dies noch nicht der Fall ist. Es wäre doch sehr leicht gewesen, deinen Namen zu erfahren.« »Allerdings«, bekräftigte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn in diese Klemme gebracht. Aber schon zeigte er sich von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet. »Und man wird ihn auch wissen. Aber Geschriebenes bleibt nun einmal Geschriebenes und kann sich unter Umständen zu einem gefährlichen, weil verräterischen Dokumente gestalten, während ein solches Inserat immer und ewig nur dem Eingeweihten verständlich bleibt. Ich sehe übrigens«, fuhr er mit zusammengezogenen Brauen kühl und gemessen fort, »daß du dich, um mir nicht zustimmen zu müssen, gewaltsam gegen diese sprechende Tatsache verstockst. Ich finde dies, nachdem dich der Major ins Vertrauen gezogen, auch sehr begreiflich. Du kannst übrigens in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt sein. Denn insoweit kennst du mich wohl, daß ich der Mann bin, der nunmehr, nach allem, was da vorgefallen, die äußerste Zurückhaltung beobachten wird. Daher auch diese ganze Angelegenheit zwischen uns beiden von heute an nicht mehr zur Sprache kommen soll.« Er verbeugte sich sehr förmlich und ging aus dem Zimmer. Mochte er gehen! Wenn er nunmehr vollkommene Zurückhaltung bewahrte, so war dies gut für ihn, erwünscht für diejenigen, die seinen Kundgebungen ausgesetzt gewesen. Der Zweck meiner Mission war erfüllt. Im übrigen konnte die Sache auf sich beruhen. 5. V. Seit jenem Tage war zwischen mir und Burda eine Entfremdung eingetreten; wir trafen nur bei unvermeidlichen Anlässen zusammen und sprachen dann über gleichgültige Dinge. Dazu kam noch, daß ich zu einer dienstlichen Verwendung bestimmt wurde, die mich eine Zeitlang von Wien fernehielt, und so war bereits der Frühling im Anzug, als ich wieder dorthin zurückkehrte. Nicht ohne Unbehagen hatte ich meinem ersten Zusammentreffen mit Burda entgegengesehen und war daher nicht wenig erstaunt, als er mich bei dem Besuche, den ich ihm doch abstatten mußte, sehr herzlich empfing. »Lieber Freund«, sagte er mit einer gewissen Wehmut, indem er die Arme ausbreitete, »ich freue mich unendlich, dich wiederzusehen. Offen gestanden, ich habe mich während deiner Abwesenheit sehr vereinsamt gefühlt. Allerdings«, fuhr er leicht errötend fort, »durch eigene Schuld. Wir hätten ja wenigstens in brieflichem Verkehr bleiben können, wenn ich nicht damals durch mein schroffes Benehmen – – Nun, Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen, und ich kann dich nur bitten, zu vergeben und zu vergessen.« Ich versicherte, daß dies längst der Fall sei. »Ich weiß, ich weiß, du bist ein guter, vortrefflicher Mensch – der einzige, dem ich mich anvertrauen konnte und noch anvertrauen kann. Daher habe ich auch dein Eintreffen mit Sehnsucht erwartet. Denn du bist jetzt in der Lage, mir einen außerordentlichen Freundschaftsdienst zu erweisen. Ich habe nämlich«, fuhr er etwas kleinlaut fort, »die Dame, die ich dir ja nicht erst zu nennen brauche, schon lange – schon sehr lange nicht mehr gesehen. Du kannst dir meine Bestürzung vorstellen, als sie aufhörte, im Theater zu erscheinen. Da sich aber endlich auch ihre Schwestern nicht mehr in der Loge zeigten, so schloß ich auf irgendeinen besonderen Umstand – und hatte auch das Richtige getroffen. Denn wie ich durch einen günstigen Zufall – nachzuforschen wagte ich ja nicht – in Erfahrung gebracht, waren im fürstlichen Hause die Masern ausgebrochen, an welchen sämtliche Töchter daniederlagen. Nun aber sind die beiden älteren längst wieder gesund, und man erblickt sie nach wie vor im Theater – nur die jüngste bleibt unsichtbar. Meine Besorgnis ist also um so mehr zum äußersten gediehen, als ich bei der Vorsicht, die mir, wie du weißt, zur Pflicht gemacht wurde, für meine Person keinerlei Erkundigungen einziehen kann. Du aber hast hier in bürgerlichen Kreisen Freunde, Verwandte und Bekannte, und es dürfte nicht auffallen, wenn einer beim Portier Nachfrage hielte.« Da dies leicht zu bewerkstelligen war, so sagte ich zu und konnte ihm auch schon binnen kurzem mitteilen, daß die Prinzessin noch immer an einem Folgeübel der Masern leide, aber baldiger Genesung entgegensehe, eine Nachricht, die Burda mit melancholischer Freude aufnahm. Inzwischen war es wirklich Frühling geworden. Die Bäume auf dem Glacis hatten Knospen und Blätter getrieben, der Rasen schimmerte in zartem Grün, und die Feierlichkeiten, welche zu jener Zeit anläßlich der kaiserlichen Vermählung stattfanden, waren von herrlichstem Wetter begünstigt. Aber nebenher war auch die orientalische Frage wieder einmal eine brennende geworden, und schon hatten sich die diplomatischen Fäden jener europäischen Verwickelungen angesponnen, welche später mit dem Krimfeldzuge und durch die Einnahme von Sebastopol einen vorläufigen Abschluß finden sollten. Auch Österreich mußte inmitten der allgemeinen Rüstungen Stellung nehmen und schob Observationstruppen an die nördlichen und südöstlichen Grenzen des Reiches vor. Infolgedessen wurden einige Regimenter auf den Kriegsstand gesetzt, so auch unseres, indem es gleichzeitig Marschbereitschaft erhielt, um, wie der Befehl lautete, vorläufig in Böhmen Standquartiere zu nehmen. Diese kriegerischen Aussichten wurden von den Offizieren mit begeistertem Jubel begrüßt, und auch Burda würde mit eingestimmt haben, wenn ihn nebstbei nicht der Gedanke betrübt und gequält hätte, daß er jetzt die Prinzessin kaum mehr würde sehen können – und daß er sie, wie er sich ausdrückte, in einer doppelt ungewissen und schmerzlichen Lage zurücklasse. Der Tag des Abmarsches kam heran. Am Abend vorher bat mich Burda, noch einmal mit ihm ins Burgtheater zu gehen. »Du wirst sehen«, sagte er, »sie kommt heute. Etwas in meinem Inneren deutet darauf hin. Sie wird unter allen Umständen erfahren haben, daß das Regiment morgen marschiert – und wird das möglichste daransetzen, mir wenigstens einen Scheideblick spenden zu können.« Ich hatte mich schon gewöhnt, auf derlei Reden kein Gewicht mehr zu legen. Ich bestärkte ihn weder in seinen Voraussetzungen, noch entmutigte ich ihn; ich hörte mit einem gewissen teilnahmsvollen Schweigen zu, das er sich auslegen mochte, wie er wollte. Übrigens hatte er selbst seine frühere Empfindlichkeit und Reizbarkeit verloren; er war weich und hingebend geworden. Es war ihm offenbar nur mehr darum zu tun, jemanden zu haben, dem er seine Gedanken und Gefühle aussprechen konnte, unbekümmert, ob man zustimme oder nicht. Es wurden drei kleine Stücke gegeben. Während des ersten blieb die Loge leer; bei Beginn des zweiten aber – ich traute kaum meinen Augen – erschien wirklich die Prinzessin. Und zwar ganz schwarz gekleidet – und allein. Das heißt, so gut wie allein. Denn die Dame, welche neben ihr Platz nahm, war ohne Zweifel ein Gesellschaftsfräulein oder ähnliches. Burda stieß mich leicht an; denn sagen konnte er nichts in dem Gedränge, das uns umgab. Ich blickte nach der Prinzessin. Sie sah auffallend bleich und angegriffen aus. In der Hand hielt sie einen kleinen Veilchenstrauß, welchen sie von Zeit zu Zeit, den Duft einatmend, nahe vor das Antlitz brachte. Nachdem das Stück zu Ende gegangen war, erhob sie sich mit allen Zeichen der Ermüdung und verschwand samt ihrer Begleiterin. Da jetzt in der Zwischenpause um uns her einige Bewegung entstand, flüsterte mir Burda zu: »Ich glaube, man ist fort. Wir wollen noch den Beginn des letzten Stückes abwarten, dann gehen wir auch.« Wir schoben uns, um später keine Störung zu verursachen, näher dem Ausgange zu, und da die Loge wirklich leer blieb, entfernten wir uns schon nach den ersten Szenen, die nun auf der Bühne folgten. Nachdem wir unsere Mäntel genommen hatten, blieb Burda im leeren Foyer stehen. »Nun, habe ich richtig geahnt?« Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte. »Man sah, wie leidend sie noch immer ist«, fuhr er fort. »Welche Überwindung muß es ihr gekostet haben, das Theater zu besuchen. Und was sagst du dazu, daß sie in Trauer erschienen ist?« »Das kann ein Zufall sein«, sagte ich, fast zornig gegen eine Annahme kämpfend, die, ich muß es gestehen, unwillkürlich in mir selbst aufgetaucht war. »Vielleicht ein entfernter Todesfall in der Familie – oder eine Hoftrauer, deren Ansage uns nicht mehr zugekommen ist.« »Möglich«, warf er leicht hin, meiner Meinung sorgfältig ausweichend. »Aber was ist das?« fuhr er fort, indem er mit der Hand seine linke Brustseite betastete. Dann knöpfte er rasch seinen Mantel auf und zog aus der inwendig angebrachten Tasche einen Veilchenstrauß hervor, den er anfänglich selbst mit ungläubiger Überraschung betrachtete. Endlich aber richtete er sich hoch empor und sagte, indem er mir die Blumen entgegenhielt, sehr ernst: »Lieber Freund, ich rede jetzt nichts mehr. Du hast, dessen bin ich sicher, diese Veilchen in der Hand der Prinzessin gesehen – und nun finde ich sie in meiner Brusttasche. Leb' wohl! Ich darf dich nicht länger deinen Angehörigen, von welchen du wohl noch Abschied wirst nehmen wollen, entziehen und danke dir für deine Begleitung.« Damit reichte er mir die Hand und ging. Ich war betroffen und verwirrt. Sollten diese Veilchen wirklich ...? Doch nein! Es war ein Strauß wie jeder andere von den vielen hunderten, welche um diese Jahreszeit an allen Straßenecken feilgeboten wurden. Mußte es also gerade derjenige sein, den die Prinzessin .... Dem will ich auf den Grund kommen, sagte ich zu mir selbst und kehrte nach einigen Schritten, die ich schon auf die Straße hinausgetan, wieder um, um mich in die Garderobe zu begeben. Der eine von den beiden Wärtern, ein schmächtiges, grauhaariges Männchen, das gewöhnlich die Offiziere zu bedienen pflegte, war eben auf seinem Stuhl sanft eingenickt. Bei meinem Erscheinen fuhr er empor. Ich trat vertraulich auf ihn zu und fragte: »Erinnern Sie sich des Offiziers, der gerade vorhin mit mir wegging?« Der Alte sah mich immer noch etwas schlaftrunken an; dann rief er: »O gewiß! Wie sollt' ich nicht? Der große Herr Leutnant, den kenn' ich sehr gut.« Ich hatte dies erwartet. Denn Burda, wenn auch im allgemeinen sehr haushälterisch, liebte es doch, sich solchen Leuten gegenüber äußerst freigebig zu erweisen. »Nun also, dann können Sie mir vielleicht auch sagen, auf welche Art ein Veilchenbukett in die Manteltasche des Herrn Leutnant gekommen ist?« »Veilchenbukett? In die Tasche des Herrn Leutnant!?« rief der Alte und schlug fast die Hände über den Kopf zusammen. Dann wühlte er verzweifelt in den Militärmänteln, welche dicht übereinander an der Wand des schmalen Raumes hingen. »Richtig! Richtig!« stöhnte er; »da hab' ich eine schöne Konfusion gemacht!« »Wieso?« »Nun sehen Sie: das Bukett war von einer Dame im zweiten Parterre – nicht mehr jung – aber interessant, sehr interessant. Sie hatte mich gebeten, es einem Hauptmann vom Regiment Alexander – Sie kennen ihn vielleicht – den mit dem ungeheuren Schnurrbart – in die Tasche zu praktizieren. Nun hat er auch solche Aufschläge – wenn auch mehr orangegelb – aber so bei Nacht – und der Mantel des Herrn Leutnant hing gleich neben dem seinen – und da – –« Er vollendete nicht und machte nur bezeichnende Gebärden des Verwechselns. »Nun, nun«, sagte ich, »nehmen Sie die Sache nicht so tragisch! Es braucht ja weder der Hauptmann noch die interessante Dame davon zu erfahren. Und sollte man Sie wirklich zur Rede stellen, so können Sie Ihr Versehen ruhig eingestehen; es war ja kein Verbrechen. Nehmen Sie dies zu einstweiligem Trost.« Er empfing das Gereichte mit einem devoten Knicks, zeigte aber nichtsdestoweniger immer noch große Unruhe. Das also war herausgebracht. Aber wie stand es mit der schwarzen Kleidung? Gewiß ebenso wie damals mit der gelben Toilette, die man offenbar ganz zufällig gewählt, da man sich in der Absicht, nach dem Theater mit dem Fürsten eine Gesellschaft zu besuchen, anders gekleidet hatte als die Schwestern. So dachte ich, als ich mich wieder auf der Straße befand. Da durchzuckte es mich. Die Prinzessin hatte das Burgtheater besucht – wie nun, wenn die beiden andern sich in der Oper befänden, wo eben italienische Stagione war und die Medori ihre Triumphe feierte? Da müßte sich zeigen, was es mit der Trauer auf sich habe! Es war noch nicht allzuspät, und so eilte ich in das andere Theater hinüber. Man gab Verdis Ernani. Das Haus war überfüllt; die Türen des Parterres standen zu beiden Seiten offen, um auf dem Gange für diejenigen Raum zu schaffen, welche, um wenigstens zu hören, auf das Sehen verzichteten. Ich versuchte mich durchzudrängen, unbekümmert darum, daß meine Rücksichtslosigkeit Zeichen der Mißbilligung hervorrief. Indes konnte ich nicht weit gelangen. Die Bühne sowie die rechte Seite des Theaters blieben mir durchaus verschlossen, nur die linke konnte ich ins Auge fassen. Dort aber, in einer kleinen Proszeniumsloge, saßen auch die zwei Prinzessinnen in Gesellschaft jener älteren Dame, die mit ihnen auf dem Hofball gewesen – und zwar alle schwarz gekleidet. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht: eine Familientrauer, wenn auch um kein nahes Mitglied, sonst würde man wohl das Theater gar nicht besucht haben. Ich war zufriedengestellt und entfernte mich, ohne auf den Todesgesang Ernanis zu achten, der jetzt hinter meinem Rücken stürmischen Applaus entfesselte. Also auch hierüber befand ich mich nun im klaren und dachte nur noch, während ich meines Weges ging, darüber nach, was die Prinzessin ins Burgtheater geführt haben mochte? Ganz einfach der Umstand, daß für sie in jener Proszeniumsloge kein Platz gewesen. Oder noch wahrscheinlicher: sie wollte nach längerer Krankheit zum erstenmal wieder das Theater besuchen und hatte ein kleines, heiteres Stück, das sie vielleicht besonders gerne sah, einer lärmenden Oper vorgezogen. Der letzte Faden von Burdas Hirngespinst zerflatterte. Und dennoch konnte ich diesmal nicht über ihn lächeln. Vielmehr überkam mich eine tiefernste, fast traurige Stimmung. Mußte ich mir doch sagen, daß, von seinem Standpunkt aus betrachtet, in allen diesen Zufällen ein Schein der Absichtlichkeit lag; ich selbst war ja einen Augenblick wieder an meinen Überzeugungen irre geworden. Es sah fast aus, als hätte sich das Schicksal vorgesetzt, mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. – – Am folgenden Tage, morgens acht Uhr, marschierten wir ab. Als wir die Franzensbrücke überschritten hatten und uns dem Bahnhofe näherten, stauten sich am Ende der Jägerzeile einige Wagen, von der vorüberziehenden Truppe aufgehalten. Jetzt rollte auch ein Fiaker heran, der rasch seine Pferde zum Stehen brachte. Soviel man bemerken konnte – auf einer Seite war der Vorhang zur Hälfte herabgelassen –, saß in dem eleganten Coupé eine dunkel gekleidete Dame. Ich sah, wie Burda, der nicht weit vor mir in den Reihen dahinschritt, plötzlich zusammenzuckte, dann gegen alle Vorschrift heraustrat und sich gegen den Fiaker umwendete. Wie? Sollte er am Ende glauben, daß die Prinzessin hierhergefahren kam, um ihn noch einmal zu sehen? Gewiß, das war seine Meinung. Immerhin! Mochte er sich noch an dieser Täuschung erfreuen, es ist ohnehin die letzte. Aber es war anders beschlossen. 6. VI. Das Regiment hatte die Kantonierungs-Stationen in Böhmen bezogen. Der Stab befand sich mit einem Bataillon in einer ansehnlichen Kreisstadt, alles übrige war in größeren oder kleineren Ortschaften verteilt. Die Kompanie, bei welcher Burda – der mittlerweile zum Oberleutnant vorgerückt war – und ich standen, hatte einen Marktflecken in der Nähe einer Bahnstation zugewiesen erhalten. Die Gegend war nicht ohne Anmut. Wohlbebaute Felder, saftige Wiesen wechselten mit sanften, schön bewaldeten Höhen ab. Auch war ein großes, gut gehaltenes Wirtshaus vorhanden, wo wir beide – den Hauptmann hatte der Bürgermeister in Quartier genommen – ein ganz behagliches Unterkommen fanden. Am äußersten Ende des Fleckens führte, nach der Seite abzweigend, eine stattliche Lindenallee zu einem kleinen Schlosse empor, das ganz wie ein mittelalterliches Kastell aussah. Die Ringmauer und der runde, aus mächtigen Quadern aufgeführte Turm, der in einer weiten Plattform endigte, stammten gewiß aus jener Zeit und waren mit sichtlicher Sorgfalt wohl erhalten worden; auch alles später Hinzugebaute zeigte sich den Resten der Vergangenheit möglichst angepaßt. Dieses Schloß gehörte der reich begüterten gräflichen Familie M ... und wurde früher nur bei herbstlichen Jagdausflügen benützt; jetzt aber war es von einem jungen Paare bewohnt. Ein jüngerer Sohn des Hauses hatte sich nämlich im Laufe des Winters vermählt und es einer Hochzeitsreise vorgezogen, mit seiner Gattin die Honigmonde in dieser ländlichen Zurückgezogenheit zu verbringen. Man erzählte allerlei von dem abgeschlossenen, menschenscheuen Leben der Neuvermählten. In der ersten Zeit habe man sie gar nicht zu Gesicht bekommen; erst jetzt, da besseres Wetter eingetreten, könne man sie hin und wieder zu Pferd oder zu Wagen sehen, jedoch immer vereint, wie unzertrennlich, und es wurde sogar behauptet, daß die junge Gräfin, amazonenhaft geschürzt, ihren Gatten auf jedem seiner Birschgänge begleite. An uns selbst waren die beiden, als eben eine Kompagnieübung stattfand, in einem leichten Jagdwagen, der mit vier kleinen, von der Gräfin selbst gelenkten Schecken bespannt war, vorübergefahren. Burda hatte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung hingeworfen, daß es eigentlich der Anstand erfordere, im Schlosse eine Visite abzustatten – und zwar in corpore . Unser Hauptmann aber, eine etwas derbe Natur, hatte darauf erwidert, das würde so aussehen, als wolle man sich aufdrängen. Man dürfe sich um diese Aristokraten nicht eher kümmern, als bis sie selbst von den kaiserlichen Offizieren, die wir seien, Notiz genommen. Auf Burda jedoch übte das Schloß immer stärkere Anziehungskraft aus. Er umschritt es bei jedem unserer gemeinsamen Spaziergänge in immer engeren Kreisen und liebte es, von einer nahen Anhöhe herab auf die geheimnisvollen Baumwipfel des Parkes zu blicken, der sich, nicht allzu ausgedehnt, dem Walde entgegenzog. »Ach!« rief er eines Abends, als eben die Sonne versank und ihr letztes Gold am Horizont aufflammen ließ, »ach, welch ein Glück, mit der Königin seines Herzens in so stolzer Abgeschiedenheit hausen zu können!« Dann nach einer Pause und mit dem Arme einen Kreis in der Luft beschreibend: »Wer weiß, ob nicht einer meiner Vorfahren einst über diesen Boden geherrscht hat? Aber was nützt es mir?« schloß er achselzuckend mit einem leichten Seufzer. Ein Schweigen trat ein. »Aber weißt du«, sagte er plötzlich, indem er wieder das Schloß ins Auge faßte, »daß eines Tages die Prinzessin hierherkommen könnte?« Ich sah ihn so überrascht an, daß es ihn, wäre er noch der frühere gewesen, tief würde verletzt haben. Aber nun achtete er kaum darauf und fuhr gewissermaßen im Selbstgespräch fort: »Wenn ich nicht irre, so sind die M ... mit den L ... irgendwie verschwägert. Und da wäre es denn auch – sobald man meinen Aufenthaltsort erfahren hat – nicht allzu schwer, einen Besuch ins Werk zu setzen. Jedenfalls leichter, als damals allein in der Loge zu erscheinen und sich morgens darauf an der Nordbahn zu zeigen.« Ich hatte mich inzwischen gefaßt und erinnert, daß ich über nichts mehr zu staunen habe. »Je nun«, sagte ich, »es ist immerhin möglich.« Am folgenden Nachmittag saßen wir auf der Bank vor dem Wirtshause, rauchten unsere Tschibuke und blickten dabei, ziemlich gelangweilt, auf eine große, teichähnliche Pfütze, die sich auf dem Marktplätze ausbreitete, und an deren Rande sich eine Schar schneeweißer Gänse ruhig sonnte. Plötzlich vernahm man das Geräusch nahender Wagen, und bald darauf kamen zwei Gefährte in Sicht. In dem ersten, einem geräumigen Landauer, saß das gräfliche Paar tief zurückgelehnt, während die leichte Kalesche, die knapp dahinter fuhr, sich leer zeigte. Man jagte so rasch vorbei, daß das harmlose Geflügel, wild aufgescheucht, mit lautem Kreischen und Schnattern in die Pfütze hinein flüchtete. »Da wird jemand von der Bahn geholt«, sagte Burda, seine Uhr hervorziehend. »Es ist jetzt halb drei, in einer Viertelstunde kommt der Zug. Ich bin neugierig, wer da eintreffen wird.« Wir blieben sitzen. Nach einer Weile vernahmen wir den fernen Signalpfiff, das Näherbrausen des Zuges – und es dauerte nicht lange, so kamen die bei den Wagen wieder zurückgefahren. Neben der Gräfin saß jetzt eine junge Dame, in welcher, obgleich sie das Antlitz mit einem blauen Reiseschleier verhüllt hatte, sofort die Prinzessin zu erkennen war. Der Graf nahm mit einer anderen Dame – derjenigen, welche damals mit in der Loge erschienen war – den Vordersitz ein. In der Kalesche hatte eine hübsche Zofe Platz genommen, die, von Koffern und Schachteln umgeben, mit lebhaften Augen ziemlich herausfordernd um sich blickte. Burda hatte den ausgebrannten Tschibuk sinken lassen. Jetzt erhob er sich und ging, ohne ein Wort zu sagen, in sein Zimmer hinauf. Ich war darüber sehr froh, denn daß die Prinzessin nun in der Tat erschienen, hatte mich derart aus der Fassung gebracht, daß ich in Verlegenheit gewesen wäre, irgendeine Meinung zu äußern. »Das ist denn doch höchst merkwürdig!« sagte ich zu mir selbst, als ich jetzt allein war und mich anschickte, einer mir obliegenden dienstlichen Verrichtung nachzukommen. Dabei ging mir dieser neue Zufall – denn was anderes konnte es sein? – beständig im Kopfe herum. Die Sache bekam nunmehr, ganz objektiv betrachtet, ein eigentümliches Interesse, und ich war neugierig, was aus dieser unvermuteten Komplikation entstehen würde. Als ich später wieder dem Wirtshause zuschritt, sah ich, wie eben ein wohlgenährter Lakai mit glattrasiertem Doppelkinn und einer leichten Mütze auf dem Kopfe sich näherte. Er kam offenbar aus dem Schlosse und trat jetzt in die Schankstube, deren Fenster offenstanden, so daß ich vernehmen konnte, wie er von einigen Gästen, die drinnen beim Bier saßen, laut begrüßt wurde. »Ah, Herr Georg!« rief einer. »Lassen Sie sich auch wieder einmal sehen!« Ich konnte nicht verstehen, was der also Empfangene erwiderte. Ich vernahm eigentlich nur ein hastiges Schlucken und Gurgeln, dann wurde ein Glas auf den Schenktisch gestoßen. »Sie haben ja Besuch bekommen!« hieß es weiter. Nunmehr hörte ich, wie der Lakai sagte: »Freilich. Die Prinzessin L ..., die beste Freundin unserer Gräfin. Schon vor sechs Wochen hätte sie kommen sollen, um dann später mit uns nach Italien zu reisen. Statt dessen ist sie krank geworden. Wer weiß, ob jetzt noch etwas aus der Reise wird. Ein Glück wär's, denn es ist nicht mehr auszuhalten in dem Nest!« Nach diesem für die Eingeborenen nicht sehr schmeichelhaften Ausspruch stürzte er, wie ich, ein wenig durchs Fenster blickend, bemerken konnte, ein zweites Glas hinunter und suchte nach kleiner Münze, um seine Zeche zu bezahlen. »Sie wollen schon wieder fort!?« »Ich muß zur Bahn laufen und telegraphieren lassen. Es ist eine Schachtel im Coupé vergessen worden. So geht's, wenn man keine männliche Dienerschaft mitnimmt!« Und ohne Gruß eilte er hinaus. So also standen die Dinge. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, welche Genugtuung Burda beim Anblick der Prinzessin mußte empfunden haben, welche Hoffnungen und Erwartungen er nunmehr an ihren hiesigen Aufenthalt knüpfte ... Aber diese Hoffnungen und Erwartungen, die der Zufall wachgerufen, sollten von diesem selbst sofort wieder vernichtet werden. Denn die unentschiedene, ratlose Haltung, welche die Regierung den fortschreitenden Ereignissen gegenüber noch immer bekundete, hatte einen beständigen Wechsel der militärischen Dispositionen zur Folge – und so bekam auch unser Regiment noch am selben Abend den Befehl, die Standquartiere sofort zu verlassen und nach Prag in Garnison abzurücken. Burda, nachdem er diese Neuigkeit vernommen, lachte bitter auf. »Fatales Geschick!« rief er aus. »Jetzt, nachdem die Prinzessin auch diesen Effort unternommen – jetzt muß – – es ist wirklich unglaublich! Wie würde sich jetzt alles entwickelt haben! Wir hätten Einladungen nach dem Schlosse erhalten, sei es nun zu einer Jagd, zu einem Diner – oder was weiß ich! – Übrigens«, setzte er nach einigem Nachsinnen hinzu, »Prag ist so übel nicht – und der Verlust nicht allzu groß; denn ich bin überzeugt, daß auch sie in einiger Zeit dort erscheinen wird.« Dieser Behauptung zeigte ich mich doch noch nicht gewachsen; es war mir, als befände ich mich einem Wahnsinnigen gegenüber. Er bemerkte nicht, wie ich zusammenzuckte, und fuhr fort: »Prag ist der Sitz des ganzen böhmischen Adels. Man macht also eben wieder irgendeinen Besuch. Überdies wird es mir jetzt immer deutlicher, daß die Prinzessin bereits in Kenntnis von der Angelegenheit ist, die ich, wie du weißt, verfolge; sie würde sonst nicht so geradeaus vorgehen.« Nach diesen Worten rief er seinen Burschen und befahl ihm zu packen, welches Geschäft er mit verschränkten Armen gebieterisch überwachte. Es war ein heller, taufrischer Maimorgen, als wir abzogen und Burda einen letzten Blick nach den Fenstern des Schlosses emporsendete, wo noch alles in tiefem Schlafe zu liegen schien. 7. VII. Prag war zu jener Zeit ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die nationalen Sonderbestrebungen waren noch nicht zu ausgesprochenen Konflikten gediehen; sie gärten und zuckten, dem unbefangenen Blicke verborgen, noch unter der Oberfläche, und wenn auch die Stadt, infolge des slawischen Grundelementes ihrer Bevölkerung, keine deutsche genannt werden konnte, so war sie doch im besten Sinne des Wortes international. Zwischen Wien und Dresden die Mitte haltend, wurde sie, zumal im Sommer, wo ein großer Zug nach den böhmischen Bädern stattfand, ob ihrer prachtvollen Lage und ihrer alten Baudenkmale von vielen Fremden besucht, wozu gute Hotels, ein sehr annehmbares Theater und sonstige Ressourcen wesentlich beitrugen. Kurz, man konnte in Prag wie in einer Großstadt leben, und doch waren alle Bedingungen einfacher und weniger kostspielig als anderswo. Dieser Umstand kam Burda bei unserem Eintreffen sehr zustatten. Mit großer Befriedigung hatte er vernommen, daß die Offiziere nicht in der Kaserne untergebracht würden, daher es seine erste Sorge war, eine passende Wohnung zu suchen, die er auch bald gefunden hatte und welche er nunmehr allein bezog. Denn, sagte er zu mir, es ist jetzt vor allem geboten, ein anständiges » Home « zu besitzen. Es könne sich mancherlei ereignen, und jedenfalls müsse er, wie die Dinge nun stünden, gewärtig sein, daß eines Tages irgendein vertrauter Sendbote eintreffe, welchem gegenüber man sich in jeder Hinsicht » comme il faut « zu erweisen habe. So trat er denn auch sofort mit einem Möbelverleiher in Verbindung, der ihn mit allem Nötigen versah; außerdem ließ er für seinen Burschen eine Livree anfertigen, welche der eines Leibjägers gleichkam. Sich derart einrichtend, widerstrebte es ihm auch, seine Mahlzeiten in einer jener unscheinbaren Gastwirtschaften einzunehmen, auf welche wir anderen mehr oder minder angewiesen waren, und zog es vor, zwischen fünf und sechs Uhr im »Englischen Hof« zu dinieren, was er sich insofern schon erlauben konnte, als er sodann auf ein Abendessen verzichtete. Dabei zog er sich mehr und mehr vom kameradschaftlichen Verkehre zurück, was zwar anfangs nicht besonders auffiel, da man von seiner Seite ein gewisses Sich-Abschließen von jeher gewohnt war. Nach und nach aber wurde man stutzig und fühlte sich um so mehr befremdet, als Burda nebstbei ein sehr hochmütiges Benehmen zu entfalten begann, was früher nicht seine Art war. Mich selbst behandelte er jetzt mit einer gewissen Herablassung, und ich empfand, daß er mich wie jeden anderen würde übersehen haben, wenn es ihm nicht ein Bedürfnis gewesen wäre, mich bei seinem Ideengange an der Seite zu behalten. Auch brauchte er jemanden, der für ihn, wenn er dienstlich verhindert war, ins Theater ging, um nachzusehen, ob die Prinzessin, deren Eintreffen er von Tag zu Tag erwartete, nicht in einer Loge auftauche. Diese unerschütterliche Erwartung erfüllte sich selbstverständlich nicht; dafür aber geschah es, daß eine hochgestellte militärische Persönlichkeit, der Generaladjutant des Kaisers, in Prag eintraf und daselbst einen Tag verweilte. Es fügte sich, daß wir ihm, ohne noch von seiner Ankunft zu wissen, vor dem Hotel, in welchem er abgestiegen war, begegneten, wobei er unseren militärischen Gruß freundlichst erwiderte. »Das war Graf G ...!« sagte Burda, als wir den General hinter uns hatten, ganz aufgeregt. »Was ihn wohl hierhergeführt haben mag?« »Wer kann das wissen? Vielleicht geht er nach Karlsbad; er leidet ja bekanntlich an der Leber.« »Möglich. Aber hast du bemerkt, wie eindringlich er mich ins Auge gefaßt hat?« »Das habe ich nicht wahrgenommen.« »Aber ich«, sagte Burda kurz und verabschiedete sich, da wir eben bei der Gasse angelangt waren, in der er wohnte. Am Abend besuchte der Generaladjutant das Theater, wo wir ihn mit dem Landeskommandierenden in dessen Loge sitzen sahen. Man gab die Oper Martha, die der Graf wohl oft genug gehört haben mochte. Er schenkte auch der Vorstellung nur wenig Aufmerksamkeit, sprach eifrig mit dem Kommandierenden und blickte dabei manchmal durch das Opernglas nach den Offizieren im Parterre; eine Art von Musterung, welche durchaus in der Natur der Sache lag. Beim Nachhausegehen sagte Burda: »Gib acht, es scheint etwas im Zuge zu sein. Er ist offenbar nicht ohne besondere Absicht nach Prag gekommen. Und daß man Martha gegeben hat, ist ebenfalls sehr bezeichnend.« »Wieso?« fragte ich. »Denke nur ein wenig über das Sujet nach, und du wirst dahintergelangen.« Nun ließ sich, wenn man auf die Hirngespinste Burdas einging, allerdings eine gewisse Ähnlichkeit seiner Lage mit der Lionels herausfinden – daß er aber in der Vorführung der Oper geheimnisvolle Absichtlichkeit vermutete, machte mir den beklemmendsten Eindruck: ich begann ernstlich für seinen Verstand zu fürchten. Dabei befand ich mich in der ratlosen Lage eines Menschen, der einen zweiten auf dem besten Wege sieht, irrsinnig zu werden, und doch niemanden davon in Kenntnis setzen darf. Denn wie hätte ich den Seelenzustand Burdas samt allen Einzelheiten, die ihn hervorgerufen, ohne die zwingendste Notwendigkeit preisgeben können? Ich überlegte schon, ob ich nicht diesen Anlaß benützen und ihm eindringliche Vorstellungen machen sollte, aber wir waren bereits in der Nähe seiner Wohnung angelangt, und so trennten wir uns schweigend. Zwei Wochen waren seitdem vergangen, als eines Tages mittels Regimentsbefehls verlautbart wurde, Seine Majestät habe mit allerhöchster Entschließung die Errichtung eines Adjutantenkorps angeordnet. Dies war dahin zu verstehen, daß sämtliche Offiziere, welche bei hohen Persönlichkeiten oder bei Generalaten in Verwendung standen, einen Körper für sich zu bilden haben und eine besondere Adjustierung erhalten sollten. Am Schlusse erging eine Aufforderung, sich zu melden, an diejenigen, welche, bei nachzuweisender Befähigung, die Absicht hätten, in dieses Korps zu treten. »Nun?«, fragte Burda, mit welchem ich im Kompagniedienstzimmer gemeinschaftlich den Befehl gelesen hatte. »Das kümmert mich wenig«, erwiderte ich. »Denn ich habe durchaus nicht die Absicht, mich zum Eintritt zu melden. Auch bin ich nicht in der Lage, mir ein Pferd zu halten.« »Darum handelt es sich nicht«, entgegnete er scharf. »Ich frage dich, ob es dir nun klar ist, weshalb der Generaladjutant hier erschienen ist?« Ich sah ihn an. »Er ist gekommen«, fuhr er im Tone vollster Überzeugung fort, »um Erkundigungen über meine Person einzuziehen, mich in Augenschein zu nehmen – und dann zu veranlassen, was nunmehr erfolgt ist. Man hat offenbar die Absicht, mich in unauffälliger Weise nach Wien und in die nächste Nähe hoher und höchster Persönlichkeiten zu bringen.« »Wie?« rief ich aus. »Du glaubst, daß man deiner Person wegen ein eigenes Korps ins Leben gerufen habe –« »Nun, wenn auch nicht gerade das«, erwiderte er, zum Glück noch das Ungeheuerliche seiner Voraussetzung fühlend, »aber die Aufforderung wurde ganz gewiß mit Hinsicht auf mich erlassen.« »Wozu hätte es einer bedurft? Man könnte dich ja ohne weiteres sofort an eine solche Stelle berufen!« »Allerdings. Aber ich habe dir schon gesagt, daß man jeden in die Augen fallenden Schritt vermeiden will, was auch der einzige Grund ist, der die Prinzessin – welche offenbar ihren Vater bereits gewonnen hat – von Prag fernhält. Denke dir nur, welches Aufsehen es erregen müßte, wenn man mich so Knall und Fall nach Wien beriefe.« Das war zu viel! Ich konnte nicht länger an mich halten und beschwor ihn, sich keinen so weitgehenden Täuschungen hinzugeben, wobei ich mich freilich, um nicht das Kind mit dem Bade zu verschütten, bloß an den vorliegenden Fall hielt. Aber meine Vorstellungen blieben fruchtlos – ja noch mehr: er wurde mir ob meiner Einwürfe nicht einmal böse. Und schon am nächsten Tage, nachdem er sein Gesuch an den Mann gebracht, begab er sich zu dem hervorragendsten Militärschneider Prags und erkundigte sich, ob bereits ein Schema der Uniformierung für das neue Korps vorliege. Und als man ihm in der Tat ein solches zeigte, war es nur die Furcht, eine Indiskretion zu begehen, was ihn abhielt, sofort Maß nehmen und die betreffenden Kleidungsstücke herstellen zu lassen. 8. VIII. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die Herbstmanöver standen in Aussicht. Burda meinte, er würde diese wohl hier nicht mehr mitmachen, da bis dahin seine Einteilung in das neue Korps erfolgt sein müsse. Es wären ohnehin schon sechs Wochen seit dem Tage der Aufforderung verflossen, und er könne sich nur wundern, daß noch keine Entscheidung herabgelangt sei. Er zeigte sich daher äußerst betroffen, als nach einiger Zeit verlautbart wurde, daß der Oberleutnant von H ..., welcher der Sohn eines Feldmarschall-Leutnants und der einzige Offizier des Regiments war, der sich außer Burda gemeldet hatte, in das Korps berufen worden sei, und zwar mit dienstlicher Verwendung beim Generalkommando in Lemberg. Aber er übertäubte diese Betroffenheit sofort vor sich selbst, indem er ausrief: »Nun ja, nach Lemberg! Mich hat man für Wien ins Auge gefaßt, und es wird sich dort bis jetzt keine offene Stelle ergeben haben.« Aber noch am selben Tage wurde ihm, als wir gerade mit einigen anderen Offizieren im Kasernenhofe standen, von einer Ordonnanz ein Dienstschreiben überbracht, das er, beiseite tretend, hastig aufriß, erbleichend las und dann zu sich steckte. Sobald wir allein waren, sagte er mit heftiger, aber tonloser Stimme: »Mein Gesuch ist abschlägig beschieden.« Das war vorauszusehen gewesen. Denn es mochten im ganzen doch viele Gesuche eingereicht worden sein, und da hatten wohl wie gewöhnlich Nepotismus und Protektion den Ausschlag gegeben. »Dahinter steckt eine Intrige!« fuhr Burda fort. »Eine Intrige?« »Gewiß. Hatte ich doch gleich Unheil geahnt, als ich den Generaladjutanten in der Loge mit dem Kommandierenden verhandeln sah!« »Wieso?« »Ist der Kommandierende nicht ein Graf Z ...? Und gehören die Z ... nicht zu jenen Familien, welche, wie ich dir sagte, gewissermaßen in die Rechte der ehemaligen Grafen Burda getreten sind? Was Wunder also, daß man, da der Generaladjutant vertrauliche Mitteilungen gemacht haben wird, später alle möglichen Machinationen ins Werk gesetzt hat? Aber ich werde dem Generaladjutanten schreiben!« »Um Gottes willen!« rief ich aus. »Bedenke doch, was du tun willst! Wie kannst du denn nur mit völliger Gewißheit annehmen, daß sich auch alles so verhält, wie es dir erscheint? Hast du denn überhaupt hinsichtlich jener Angelegenheit schon etwas erfahren?« »Nein, noch immer nicht. Und erst jetzt fällt es mir auf, daß bereits sieben Monate verstrichen sind, seit ich die Papiere nach Brünn gesendet habe. Ich werde sofort urgieren.« »Das tu«, sagte ich, froh, einen Weg zur Ablenkung gefunden zu haben. »Und versprich mir, daß du nichts unternimmst, bis du Antwort erhalten hast. Und wenn sich dann zeigt, daß dein Verdacht gegründet ist – –« Er sann einen Augenblick nach. »Du hast recht; ich muß meiner Sache vollkommen gewiß sein. Aber das sage ich dir, lange warte ich nicht. Ich werde auf sofortige Antwort dringen, und wenn diese nach Ablauf einer Woche nicht erfolgt ist, so schreibe ich dem Grafen G ... – und möglicherweise auch dem Fürsten. Denn wer weiß, was man diesem alles über mich hinterbracht hat – und wie würde ich dann in ihren Augen erscheinen, wenn ich es an mir haften ließe.« Damit ging er und überantwortete mich völliger Ratlosigkeit. Denn nunmehr schien es zum Äußersten kommen zu wollen. Wenn er sich zu einem tollen Schritt hinreißen ließ – war er verloren! Schon in einigen Tagen kam er zu mir in die Wohnung gestürzt. »Da hast du den Beweis«, sagte er und hielt mir einen Brief entgegen. »Schon aus dem insolenten Tone dieses Schreibens wirst du erkennen, wie sehr ich berechtigt war, Verdacht zu schöpfen.« Ich entfaltete den Brief und las ihn. Am Eingang entschuldigte sich der Schreiber, daß er zu seinem Bedauern nicht in der Lage sei, Günstiges berichten zu können. Vor allem hätten sich jene Anhaltspunkte, die er bei den »von Burda« in Sachsen zu finden gehofft, durchaus hinfällig erwiesen. Denn diese angebliche »erste Linie« leite ihren Stammbaum nicht allzu weit zurück – und zwar bis zu einem sicheren Daniel Burda, der zu Anfang dieses Jahrhunderts als kurfürstlicher Sattelknecht aufgeführt erscheine. Nun müsse dies allerdings eine Hofcharge gewesen sein; allein wie es sich herausgestellt habe, sei besagter Daniel Burda, der Sohn eines einfachen Posthalters auf dem platten Lande, erst infolge jener Eigenschaft in den Adelsstand erhoben worden. Und was nun die »zweite Linie« beträfe, so wisse der Herr Oberleutnant am besten selbst, daß bereits das möglichste versucht worden sei, den allein maßgebenden Punkt aufzuhellen. Dies würde aber für alle Zeit um so schwieriger bleiben, als in Österreich, vornehmlich aber in Galizien, Böhmen und Mähren, eine ganz unübersehbare Anzahl von Personen existiere, welche den Namen »Burda« führen und dabei in den untergeordnetsten Lebensstellungen sich befänden (Handwerker, Fuhrleute und dergleichen). Schreiber könne also nur mit bestem Wissen und Gewissen den Rat erteilen, diese ganz und gar in der Luft schwebende Angelegenheit endgültig fallenzulassen. »Dieser Mensch ist offenbar bestochen!« schrie Burda, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. »Aber ich werde das nicht so hinnehmen!« »Was willst du denn tun?« »Ich werde dem Kommandierenden eine Herausforderung zugehen lassen!« »Bist du wahnsinnig?« rief ich aus. »Oder fühlst du wenigstens nicht, daß dich ein solches Beginnen aller Welt gegenüber in den Verdacht des Wahnsinns bringen müßte? Und womit könntest du die Herausforderung begründen – angenommen selbst, daß dieser Brief von seiten des Kommandierenden inspiriert worden wäre? Wird er es zugestehen? Wird er überhaupt eine Herausforderung annehmen?« »Er muß! Er ist Offizier wie ich und du!« »Allerdings. Aber es ist dir doch bekannt, daß hohe Vorgesetzte derlei Zumutungen als schwere Subordinationsvergehen behandeln – und bestrafen lassen. Es könnte dir deine Charge kosten!« »Oho!« kreischte er. »Das möcht' ich denn doch sehen! – Aber du kannst recht haben«, fuhr er nachdenklich fort. »Man darf ihm immerhin zumuten, daß er sich hinter seine Stellung verschanzt. Da muß man ihm denn indirekt zu Leibe gehen und sich an seinen Neffen halten.« »An seinen Neffen?« »Nun ja! Du kennst doch den knabenhaften Ulanenrittmeister mit dem Molkengesicht, dessen Schwadron seit einigen Wochen auf Feuerpikett hier ist?« »Allerdings – vom Sehen –« »Dann wirst du auch bemerkt haben, wie arrogant der Bursche ist. Er dankt kaum, wenn man ihn grüßt.« »Ich glaube, du tust ihm unrecht«, erwiderte ich. »Ich halte ihn für einen ganz harmlosen Menschen. Seine Unart scheint mehr einer gewissen Verlegenheit zu entspringen.« »Ach was!« entgegnete Burda gereizt. »Ich weiß das besser. Und jetzt wird mir auch klar, weshalb man sich seit einiger Zeit im Englischen Hof am Kavalleristentische sehr sonderbar benimmt.« Daran war etwas Wahres, und ich selbst hatte davon gehört. Denn im Regiment, woselbst man an Burda seit dessen Bestreben, in das Adjutantenkorps aufgenommen zu werden, eine immer schärfere Kritik übte, wurde teils mit Entrüstung, teils mit Schadenfreude behauptet, er sei auf dem besten Wege, sich öffentlich bloßzustellen. So hätten sich die Kavallerieoffiziere, welche im Englischen Hof sehr opulent zu dinieren pflegten, bereits über die Grandezza lustig gemacht, mit der er im Hotel erscheine und ein Kuvert zu mäßigem Preise samt einer kleinen Flasche Rotwein bestelle. Infolgedessen habe man ihm dort (natürlich ganz harmlos und ohne zu ahnen, welche besondere Anzüglichkeit damit verbunden war) auch den Stichelnamen »der verwunschene Prinz« beigelegt. Ich sagte daher jetzt nicht ohne Verlegenheit: »Das solltest du gar nicht beachten. Man weiß ja, daß die Herren ›auf stolzen Rossen‹ uns bescheidene Fußgänger immer ein wenig von oben herab ansehen.« »Nein, nein, das ist es nicht allein. Der Rittmeister hat offenbar durch seinen Onkel Wind bekommen – und bei Tisch allerlei über mich vorgebracht.« »Das sind Einbildungen, lieber Freund.« »Durchaus nicht. Ich weiß es jetzt bestimmt. Und du sollst dich selbst überzeugen; ich lade dich ein, heute mit mir zu speisen.« Diese Einladung war mir natürlich sehr unerwünscht; da er aber darauf bestand und ich überdies befürchten mußte, daß er sich in der Stimmung, in der er war, ohne meine Begleitung zu einem aufsehenerregenden Schritt könnte hinreißen lassen, so sagte ich schließlich zu. Der Speisesaal im Hotel zum Englischen Hof wurde am späteren Nachmittag wenig besucht. Um ein Uhr mittags und sieben Uhr abends fand dort Wirtstafel statt, an welcher eine gemischte, zumeist aus Fremden bestehende Gesellschaft teilnahm, in den übrigen Stunden kamen nur selten Gäste. Regelmäßig aber zwischen vier und fünf Uhr speisten an einem langen, eigens für sie bereitgehaltenen Tische die Offiziere des Feuerpiketts samt anderen Kavalleristen, die sich in Prag aufhielten. Unter den letzteren befand sich auch ein reckenhafter Kürassierleutnant namens Schorff, welcher dem Generalstabe des Kommandierenden zugeteilt war, eigentlich jedoch nur bei gewissen Gelegenheiten als Galopin verwendet wurde, eine militärische Sinekure, die er sich, weiß Gott wie, mochte zu erobern gewußt haben. Man hieß ihn allgemein den »Amerikaner«, obgleich er in Deutschland geboren war; sein Vater aber sollte sich seinerzeit in den Minen Kaliforniens ein fabelhaftes Vermögen erworben haben. Andere behaupteten, dieser sei Spielpächter in Homburg gewesen. Gleichviel, der junge Baron Schorff – auch so wurde er, ohne es zu sein, genannt – erhielt von Hause wahre Unsummen Geldes, die er in auffallendster Weise verausgabte. Er hatte die schönsten und stärksten Reitpferde, einen prachtvollen Viererzug, hielt eine Loge im Theater, mehrere Mätressen und so weiter. Dabei war er ein Spieler und Raufbold ärgster Sorte, dem jedermann gern aus dem Wege ging; selbst die Frauen, die doch sonst von derlei Erscheinungen angezogen werden, wichen ihm mit einer Art von Entsetzen aus. Es war etwas über fünf, als Burda und ich im Englischen Hof erschienen. Am Kavalleristentische hatte man bereits abgespeist; Kaffee und Likör wurden soeben serviert. Aber die Gesellschaft schien nicht Lust zu haben, ein fröhliches Gelage, das offenbar stattfand, deshalb abzubrechen. Man hatte noch Champagnergläser vor sich, welche von neuem gefüllt wurden. Dabei herrschte eine laute, ausgelassene Heiterkeit, dergestalt, daß unser Eintreten sowie der Gruß, den wir darbrachten, nicht bemerkt – oder doch übersehen wurde. Burda warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann näherte er sich dem Tische und rief: »Meine Herren, wir haben gegrüßt, und ich ersuche Sie, unseren Gruß in geziemender Weise zu erwidern.« Die Gesellschaft hob die Köpfe und sah ihn überrascht an. Schorff aber, der mit dabei war, sprang auf, schnellte das Monokel, das er beständig im Auge trug, mit einem kunstvollen Ruck weit von sich und verbeugte sich in überaus grotesker Weise vor Burda, indem er in seiner rheinländischen Aussprache sagte: »Wir haben die Ehre, dem Herrn Oberleutnant unsere Reverenz zu machen.« »Ich verbitte mir derlei Scherze, Herr Leutnant«, entgegnete Burda mit absichtlicher Umgehung des kameradschaftlichen Du, »und mahne Sie an die Achtung, welche Sie Ihrem Vorgesetzten schuldig sind.« »Was? Was ist das?« rief Schorff, dessen breites, bartloses Gesicht sich purpurrot färbte, während er mit wieder eingeklemmtem Glase Burda herausfordernd ansah. »Herr Rittmeister«, sagte dieser, sich an den jungen Grafen Z ... wendend, der obenan saß, »ich fordere Sie auf, Ihr Ansehen zu gebrauchen und dem Leutnant Schorff das Unziemliche seines Benehmens vorzuhalten.« Der Rittmeister nahm eine säuerlich lächelnde Miene an und zupfte verlegen an den dünnen Härchen auf seiner Oberlippe. Schorff aber kehrte sich gegen ihn und sagte: »Haben Sie gehört, Graf? Sie sollen mir einen Verweis erteilen – aber sagen Sie lieber dem verwunschenen Prinzen, daß er sich in acht nehmen möge, ich könnte ihm sonst an die Hüfte greifen.« Diese Worte erregten trotz der peinlichen Situation eine gewisse Heiterkeit; einige lachten sogar laut auf. Burda war leichenfahl geworden. »Das ist infam!« kreischte er jetzt. »Sie benehmen sich samt und sonders wie Buben!« Nun folgte eine unbeschreibliche Szene. Die Kavalleristen waren aufgesprungen, um sich auf Burda zu stürzen, der an seinen Säbel griff. Schorff langte mit verkehrter Hand nach einer Champagnerflasche, die im Eiskübel steckte – die ärgsten Tätlichkeiten, ein blutiges Gemetzel standen bevor. Aber in diesem Augenblicke hatte ich auch die nötige Geistesgegenwart gefunden und trat dazwischen. »Meine Herren«, rief ich, »ich bitte zu bedenken, wo wir uns befinden! Man wird bereits aufmerksam.« Es war so. Ein Kellner, der eben hatte eintreten wollen, war mit offenem Munde in der Tür stehengeblieben. Hinter ihm erschien ein zweiter, ein dritter; auch vor den offenen Fenstern des ebenerdig gelegenen Saales hatten sich auf der Straße einige Neugierige angesammelt, um nach der Ursache des Lärmes zu forschen. Das wirkte. Die Kavalleristen nahmen, wenn auch unwillig, ihre Plätze wieder ein. »Jeder von uns weiß nunmehr, was zu geschehen hat«, fuhr ich fort und legte eine Karte auf den Tisch. Burda, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, tat desgleichen; hierauf ließen wir uns in einer entfernten Ecke des Saales nieder und befahlen unser Diner. Drüben war finsteres Schweigen eingetreten, nur Schorff wollte sich noch immer nicht zufriedengeben und konnte in seinen wiederholten halblauten Wutausbrüchen nur mit Mühe beschwichtigt werden. Endlich erhob man sich und ging, ohne uns anzusehen. »Das ist eine schöne Bescherung«, sagte ich nach einer Pause. »Fürchtest du dich vielleicht?« entgegnete Burda in scharfem Tone. Er war bereits vollkommen ruhig geworden, und eine eigentümliche Befriedigung leuchtete aus seinen grauen Augen. »Ich fürchte für dich«, sagte ich ernst. »Du wirst dich nun mehrere Male hintereinander zu schlagen haben.« »Je öfter, je besser! Das ist es gerade, was ich beabsichtigte!« Ich konnte nicht umhin, ihn mit einiger Bewunderung anzublicken. Was er da sprach, war keineswegs Prahlerei. Es entsprang, das fühlte ich, wirklichem Mute, wenn auch vielleicht dem Mute des Don Quichotte, der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm. »Ja«, fuhr Burda fort, indem er sich mit sehr gutem Appetit an das Gericht machte, das man uns eben vorgesetzt, »ja, es soll Aufsehen machen – es soll und wird eine cause célèbre werden!« Ich verstand ihn. Er erwog, welchen Eindruck diese cause célèbre auf die Prinzessin machen würde – und da war er denn wieder glücklich auf dem alten Wege. »Daran solltest du jetzt gar nicht denken«, warf ich ernüchtert ein. Und von einem plötzlichen Gedanken befallen, setzte ich hinzu: »Wer weiß übrigens, ob alles wirklich so kommt, wie wir voraussetzen.« »Wieso? Wieso?« fragte er hastig. »Je nun, vielleicht beliebt es allen diesen Herren, sich hinter Schorff zu verschanzen – und ihn allein die ganze Sache austragen zu lassen.« »Oho! Da habe ich auch ein Wort mitzusprechen!« »Allerdings. Aber du wirst es nicht verhindern können, daß Schorff den Anfang macht.« Er hob den Kopf und sah mich stirnrunzelnd an. »Was willst du damit sagen?« Ich schwieg denn ich wagte nicht, auszusprechen, daß Schorff ein sehr gefährlicher Gegner sei. »Je nun, er ist ein bekannter Raufbold«, warf ich endlich leicht hin. »Das mag er sein. Auch wir führen unsere Klinge. Fatal ist es allerdings, daß sich gerade dieser freche, aufgeblasene Plebejer hat vordrängen müssen. Aber wenn es nicht zu ändern ist, immerhin! Der Herr Rittmeister wird mir nicht entgehen.« Wir waren beim Dessert angelangt, und nachdem wir den Kaffee genommen hatten, forderte mich Burda auf, mit ihm den Abend auf der Sophieninsel zuzubringen, wo heute vor einem gewählten Publikum Konzert im Freien stattfand. 9. IX. Schon am nächsten Vormittage fand sich ein Hauptmann des Generalstabes in Begleitung eines Artillerieoffiziers in meiner Wohnung ein. Sie kämen, sagten die Herren, hinsichtlich des bedauerlichen Vorfalles, der gestern im Englischen Hof stattgefunden und welcher bereits zur Kenntnis der Militärbehörden gelangt sei. Man wünsche hohen Ortes, daß die Angelegenheit so rasch und einfach wie möglich beigelegt werde. Demnach wären sie infolge eines von seiten sämtlicher Beleidigten getroffenen Übereinkommens als Kartellträger des Herrn Leutnant Schorff ermächtigt, zu erklären, daß dieser im Namen aller übrigen die Sache zum Austrag bringen wolle. Es kam also, wie ich es vorausgesehen, und obgleich sich bei ruhiger Betrachtung dieses Vorgehen auch wirklich als das vernünftigste erwies, so lag darin für Burda doch eine Art Geringschätzung, die ich wider Willen mitempfand. »Ich glaube nicht, daß der Herr Oberleutnant Burda auf diese Proposition eingehen wird«, sagte ich. »Er wird sich doch nicht mit jedem einzelnen schlagen wollen?« rief der Hauptmann, indem er, um seine Verwunderung auszudrücken, die Augen weit aufriß. »Je nachdem.« »Du mein Gott!« erwiderte er, die Achsel zuckend. »Indes, das wird sich ja ergeben. Fürs erste müssen wir aber an unserem Auftrage um so mehr festhalten, als Leutnant Schorff doch jedenfalls der Hauptbeleidigte ist.« Dagegen ließ sich nichts einwenden, und der Artillerist stellte zu dem Duell einen Fechtsaal zur Verfügung, welcher, wie er ankündigte, mit seiner Dienstwohnung auf dem Hradschin in Verbindung stehe und zu derlei Zwecken besonders geeignet sei. – »Du hast ihnen sehr gut geantwortet«, sagte Burda, als ich ihm diese Unterredung mitteilte. »Ich danke dir. Was mich selbst betrifft, so werde ich die Sache jedenfalls zum Äußersten treiben. Allerdings laufe ich dabei Gefahr, zum Krüppel gehauen zu werden. Aber ich vertraue meinem Stern.« Pistolenduelle waren damals in der Armee nicht üblich; man schlug sich fast durchgehends mit Säbeln, eine Kampfweise, welche die Tötung des Gegners in der Regel zwar ausschloß, aber immerhin einen sehr bedauerlichen Ausgang herbeiführen konnte. Dies erwog man jetzt auch im Regiment, woselbst die üble Stimmung gegen Burda plötzlich in rege Teilnahme umgeschlagen war. Sein mannhaftes Auftreten gegen die Kavalleristen, das eine Art gemeinsamen Stolzes wachrief, imponierte den meisten, und es fehlte nicht an Zeichen der Anerkennung, die Burda mit ernster Zurückhaltung entgegennahm. Man wünschte aufrichtig, daß er den Strauß siegreich bestehe, wobei man sich freilich nicht verhehlte, wie schwer dies einem Schorff gegenüber sein möchte. Am nächsten Morgen – es war an einem Sonntage – fuhr ich mit Burda nach dem Hradschin, wohin sich der zweite Sekundant mit dem Wundarzte schon früher auf den Weg gemacht hatte. Wir wurden von dem Artillerieoffizier empfangen und in ein geräumiges Zimmer geführt, an dessen Wänden Papiere, Schläger, Masken und Plastrons hingen. In einer Ecke hatte man für alle Fälle ein niederes Feldbett aufgestellt; Eisbecken und Verbandzeug befanden sich in der Nähe. Der Hauptmann des Generalstabes war bereits anwesend; er prüfte, als wir eintraten, eben die beiden Duellsäbel, die auf einem Tische lagen. Auch ein zweiter Wundarzt war zugegen. Es dauerte nicht lange, so hörte man den Viererzug Schorffs heranrollen, und bald darauf erschien dieser in aufrechter Haltung und mit kurzem Gruß in unserer Mitte. Dann reichte er seinen beiden Sekundanten die Hand und begann sich zu entkleiden. Als er sein buntgestreiftes Wollhemd ablegte, staunte ich über die Kraft und Fülle seiner Muskeln, die in auffallender Entwicklung hervortraten. Mit seinem breiten Nacken und dem gedrungenen Halse, auf welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß, hatte er etwas vom farnesischen Herkules, während Burda, der nun gleichfalls den Oberkörper entblößte, mit seiner zarten weißen Haut, seinen geschmeidigen, etwas weichlichen Formen an die Büste des Antinous mahnte. Eigentümlich war es zu sehen, wie jetzt die Gegner einander gegenübertraten und den üblichen Gruß austauschten. In den Mienen und Gebärden Schorffs lag Impertinenz, in jenen Burdas ritterliche Herablassung. Wir gaben das Zeichen – und der Kampf begann. Schorff, sein Glas im Auge, schien die Sache leichtzunehmen; er glaubte offenbar, daß jeder seiner Hiebe, die er nur so obenhin führte, sofort sitzen müsse. Aber hierin irrte er. Burda verteidigte sich mit großer Ruhe und Sicherheit, die Schorff offenbar überraschte, aber auch reizte, und als er jetzt, vom Säbel seines Gegners gestreift, leicht am Ohre zu bluten begann, geriet er in Wut. Mit einem wahren Hagel von gewaltigen Streichen drang er auf Burda ein, so zwar, daß dieser Mühe hatte, standzuhalten, und bereits schwer zu atmen begann. Jetzt markierte Schorff eine Prim, führte aber in der Tat eine Terz, welche so mächtig traf, daß sofort auf der Brust Burdas ein langer, bluttriefender Spalt zum Vorschein kam. »Halt! Halt!« schrien die Sekundanten und warfen sich dazwischen. Aber zu spät. Denn schon war ein gewaltiger Kopfhieb gefolgt. Burda taumelte, sein Säbel klirrte zu Boden – und gleich darauf folgte er selbst mit blutüberströmtem Antlitze nach. »Das ist Mord!« rief ich aus. Selbst der Hauptmann war ganz bleich geworden und stammelte: »Aber Schorff, was haben Sie getan?« Dieser drehte sich auf den Hacken um und stieß durch die zusammengepreßten Zähne hervor: » Il l'a voulu !« Dann wusch er eine geringe Blutspur von der Wange, kleidete sich an, grüßte und ging. Inzwischen hatte man den Schwergetroffenen auf das Feldbett geschafft. Dort lag er bewußtlos und stöhnte leise, während man die Wunden untersuchte. Sie schienen derart gefährlich, daß beide Ärzte, die um Burda beschäftigt waren, den Kopf verloren und erklärten, es sei das Schlimmste zu befürchten und sie könnten keine weitere Verantwortung auf sich nehmen. Der Herr Oberleutnant müsse sofort in das Militärspital gebracht werden. Der eine fuhr auch gleich mit dem Wagen, in welchem wir gekommen waren, dorthin voraus, um Vorbereitungen treffen zu lassen, während von seiten der Artillerie (in deren Kaserne wir uns befanden) eine Bahre samt Trägern beigestellt wurde. Es war eine traurige Rückkehr, die wir jetzt, der öffentlichen Aufmerksamkeit möglichst ausweichend, nach der sonntäglich ruhigen Stadt antraten. Im Spitale hatte man ein kleines, abgesondertes Zimmer ermittelt, wohin man nun Burda brachte. Nach der ersten raschen Untersuchung erklärte der Chefarzt, mit der Brustwunde habe es nicht viel auf sich, aber die Schädeldecke sei schwer verletzt. Ob und wie tief der Hieb in das Gehirn eingedrungen, müsse noch genauer erforscht werden, jedenfalls stehe eine höchst gefährliche Entzündung in Aussicht. Dies teilte er auch dem Regimentsadjutanten mit, der im Auftrage des Obersten und in Begleitung anderer Offiziere erschienen war, um Erkundigungen einzuziehen. Auch von seiten der übrigen Garnison, in der sich die Kunde von dem unglücklichen Ausgange des Duells rasch verbreitet hatte, zeigte sich lebhafte Teilnahme. Der Doktor aber bat, man möge jetzt, um jedes Aufsehen zu vermeiden, Nachfragen und Besuche einstellen; es würden zur rechten Zeit Nachrichten übermittelt werden. Da ich zu bemerken glaubte, daß ihm auch meine Gegenwart nicht sehr erwünscht sei, entfernte ich mich gleichfalls, nachdem ich als besonderer Freund des Verwundeten die Erlaubnis erbeten hatte, gegen Abend wiederkommen zu dürfen. Als ich am späten Nachmittag das schmale, längliche Gemach betrat, in welchem Burda lag, herrschte dort melancholisches Düster. Schon im Inspektionszimmer hatte ich erfahren, daß es schlecht stehe. Er habe zwar wiederholt die Augen aufgeschlagen und zu sprechen versucht, aber immer wieder sei er in Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Nun sah ich ihn auf dem dürftigen Bette, Brust und Haupt mit Eiskompressen bedeckt, die Augen geschlossen. Ihm zur Seite befand sich ein Wärter, der durch mein Erscheinen aus jener stumpfsinnigen Langeweile aufgeschreckt wurde, die ein solcher Dienst mit sich zu bringen pflegt. Er machte mir Zeichen des Bedauerns, wechselte die Umschläge und sagte dann mit leiser Stimme, er wolle jetzt frisches Eis holen – und auch, mit meiner Erlaubnis, sein Abendbrot einnehmen, das eben jetzt zur Verteilung kommen werde. Ich war froh, fürs erste ungestört zu sein, und hieß ihn gehen. Dann setzte ich mich in einiger Entfernung von dem Bette nieder und betrachtete meinen armen Freund, der in der Tat schon wie ein Sterbender, wie ein Toter aussah. Tiefer Schmerz überkam mich, und dazu gesellte sich etwas wie ein Gefühl von Schuld. Hätte ich nicht verhindern können, daß es so weit gekommen? Hätte ich nicht schon längst alles anwenden sollen, um ihn, koste es, was es wolle, von seinen Täuschungen zurückzubringen? Aber hätt' ich es, nach allem, was ich an ihm erfahren – mit ihm erlebt, auch wirklich vermocht? Wäre es überhaupt möglich gewesen, ihn von seinem Wahne zu heilen? Nein, es war nicht möglich! Es mußte alles so kommen, wie es kam: er war, wie jeder, dem unerbittlichen Schicksale seiner Natur verfallen. Und doch – trotz seiner Schwächen und Mängel, trotz seiner Irrtümer – welch ein vortrefflicher Mensch war er! Welche vornehme Seele! Welch tapferes Herz! Er hatte ein besseres Los verdient ... Da schien es mir plötzlich, als rege er sich. Und in der Tat, es war so. Mit leichtem Stöhnen schlug er die Augen auf. Ich trat leise an das Bett und beugte mich über ihn. »Wer ist – wer ist da?« hauchte er. Ich hatte alle Mühe, mich zu erkennen zu geben. »Ach du – du!« brachte er mühsam hervor, während ein Strahl der Freude seine bleichen Züge umflog. »Ich glaube, ich bin verwundet«, fuhr er fort und machte einen schwachen Versuch, die Hand nach seinem Kopfe zu bewegen. »Leider«, erwiderte ich, »und zwar nicht ganz unerheblich. Indessen – –« »Aber wo bin ich denn?« fuhr er fort, die Augen mühsam hin und her bewegend. »Das ist ja nicht mein Zimmer –« »Allerdings nicht; du bist – du bist im Spital – –« »Im Spital!« wollte er aufschreien, vermochte es aber nicht und ächzte nur: »Im Spital – im Spital – und wenn jetzt – –« Er konnte nicht vollenden; sein Kinn sank zur Brust herab, und er verstummte. Ich aber wußte, was er meinte. Mit der Besinnung war auch jener unselige Wahn wiedergekehrt. Er hatte sagen wollen: Und wenn jetzt die Prinzessin von meiner Verwundung erfährt – und hierhereilt – »Wo sind meine Kleider?« fragte er mit einemmal hastig, meinen Gedankengang unterbrechend. »Deine Kleider? Die werden wohl in jenem Schrank sein. – – Da sind sie.« »Bitte – sieh in meinem Rocke nach – ob sich ein kleines Etui – darin findet –« »Hier ist es!« »Gib! Gib!« drängte er. Ich reichte es ihm. Er war aber nicht imstande, es zu öffnen, und ich mußte es für ihn tun. Ein vertrocknetes Veilchenbukett lag darin. Er nahm es in die bleiche, kraftlose Hand, senkte das Haupt und betrachtete es lange. Dann sagte er mit überraschend leichter und freier Stimme: »Lieber Freund du hast mir sehr oft mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben – daß ich in einer argen Täuschung befangen gewesen.« Er seufzte tief auf. »Mein Gott! Wenn es sich wirklich so verhielte – wenn alles nur Traum – Einbildung –« Er verstummte wieder und atmete unruhig. Es war zu viel! Dieser Strahl von Erkenntnis, der in dieser bangen Stunde plötzlich in ihm aufleuchtete, war von erschütternder Wirkung. Ich mußte an mich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. »Nein! Nein!« rief er jetzt, all seine Kraft zusammennehmend, »es kann nicht sein! Diese Veilchen – das mußt du selbst zugestehen – denn du weißt es – diese Veilchen sind von ihr !« Wer wäre so grausam gewesen, es zu bestreiten? »Ja, ja«, sagte ich, »ich weiß es, sie sind von ihr.« Er brachte mit letzter Anstrengung den Strauß vor das Antlitz und küßte ihn. »Er sollte mir ein Talisman sein – aber er hat mich nicht beschützt.« Seine Hände sanken herab – er war wieder bewußtlos. Gleich darauf trat auch der Wärter ein; ich schickte ihn um den diensttuenden Arzt. Dieser, ein noch sehr junger Mann mit intelligentem, aber etwas barschem Gesichte, erschien sofort. »Nun?« fragte er mit einem Blick auf Burda. »Er war zu sich gekommen«, sagte ich. »Hat er mit Ihnen gesprochen?« »Ja.« »Vernünftig?« »Ganz vernünftig«, erwiderte ich nicht ohne Verlegenheit. »Und jetzt ist er wieder bewußtlos?« Er trat an das Bett, langte nach dem Arme Burdas und fühlte den Puls. »Heftiges Fieber. Das ist der Anfang vom Ende. Übrigens, wer weiß – vielleicht –« Dieses »vielleicht« bestätigte sich nicht. Noch in derselben Nacht verstärkte sich das Fieber, Delirien traten ein; am nächsten Tage folgten Paroxismen – und als ich das Krankenzimmer wieder betrat, war Burda eine Leiche. Bei den letzten traurigen Vorbereitungen, die man in meiner Anwesenheit traf, suchte ich überall nach dem Veilchenstrauße – doch umsonst: niemand wollte ihn gesehen haben. Man hatte ihn offenbar in den Kehricht geworfen. Zum Schlusse machte sich der Zufall, der im Leben Burdas eine so große Rolle gespielt, noch einmal geltend. Fast am selben Tage, an welchem drei Ehrensalven über das Grab des Verblichenen hinwegdonnerten, war in den Zeitungen die Nachricht zu lesen, daß sich Prinzessin Fanny L ... mit dem Prinzen A ... verlobt habe. Gegen Schorff aber kehrte sich jetzt allgemeiner Unmut, und man trachtete sogar, eine ehrengerichtliche Untersuchung des Falles wider ihn durchzusetzen. Da jedoch der junge Graf Z .... in die Angelegenheit mit verwickelt erschien, so wurde alles weitere niedergeschlagen und Schorff bloß nach Ungarn zu seinem Regiment versetzt. Einige Jahre später war er aus den Listen der Armee verschwunden. Was aus ihm geworden, habe ich nicht in Erfahrung gebracht. Seligmann Hirsch 1. I. Die Saison in dem kleinen Kurorte, wo ich auf Anraten des Arztes das »kalte Wasser« gebraucht hatte, ging zu Ende. Die defekten Menschenexemplare, welche sich hoffnungs- und vertrauensselig hier zusammengefunden: ältere Standespersonen mit eingewurzelten Übeln, jüngere Lebemänner mit verdorbenen Säften, blutarme, an den Nerven leidende Damen – und endlich solche, die in dem anmutigen Tale bloß die Sommerfrische samt allerlei geselligen Zerstreuungen genießen wollten, waren nach und nach abgezogen. Selbst die letzten Kurgäste, die außer mir, der ziemlich spät eingetroffen war, noch am längsten ausgehalten: ein mürrischer Finanzrat, der von heftigen Kongestionen geplagt wurde und beständig ohne Kopfbedeckung, zu gewissen Stunden auch ohne Fußbekleidung umherging; eine etwas zweifelhafte Dame aus Wien, die mit einer höchst auffallenden Toilette die Reste einstmaliger Schönheit zur Schau trug; ein alter Geck und Bade-Habitué, der ihr den Hof machte – und last, not least ein interessanter, am Rückenmarke leidender Schöngeist, welcher in seinem Rollwägelchen der Gegenstand des allgemeinen weiblichen Mitleids gewesen war, mich aber durch unausgesetzte literarische Gespräche zur Verzweiflung gebracht hatte: auch diese vier Standhaften ergriffen jetzt infolge des plötzlich eingetretenen rauhen Herbstwetters, dem sich sogar ein tüchtiger Schneefall beigesellte, einhellig die Flucht – und ich blieb allein zurück. Zwar wurde mir nunmehr das Kurhaus sozusagen vor der Nase gesperrt, denn der ärztliche Leiter der Anstalt hatte schon längst alle Vorbereitungen getroffen, um seine winterliche Praxis in der Landeshauptstadt wieder aufzunehmen. Aber das kümmerte mich wenig. Ich hatte genug »Abreibungen« und »Einpackungen« genossen, infolge deren ich mich, um die Wahrheit zu bekennen, auch sehr wohl fühlte, und da mir die Gegend gefiel, so beschloß ich, noch einige Zeit zu verweilen, – ein Vorhaben, das von dem Besitzer des Gasthofes zu den »Drei Monarchen«, wo ich untergebracht war, mit großer Anerkennung begrüßt wurde; blieb ihm doch jetzt wenigstens ein Mensch erhalten, dem er die Rechnung nach dem üblichen Badetarif stellen konnte. Zudem war, wie ich vorausgesehen, den verfrühten Vorboten des Winters das herrlichste Wetter, ein wahrer Nachsommer, gefolgt. Klar und blau spannte sich der Himmel aus, die Bergeshäupter schimmerten im milden Sonnenglanze, und linde Wärme breitete sich über Flur und Wald, welch letzterer in seinem bunten Schmuck an die Worte des Dichters erinnerte: »Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln, Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln!« Welch ein Genuß war es jetzt, in sicherer Einsamkeit zwischen den hohen Buchen und Fichten dahin zu wandeln! Wie lohnend, eine Anhöhe zu ersteigen, auf den malerisch gelegenen Ort hinab- und in die weite Gebirgsferne hineinzublicken, ohne durch Ausbrüche landläufigen Entzückens gestört zu werden! Wie angenehm, auf der Terrasse des Gasthofes zu frühstücken und statt nachbarlichen Tassen- und Löffelgeklappers samt obligatem Badeklatsch bloß das Rauschen des Flusses zu vernehmen, der sich unten silberhell durch grüne Triften schlängelte! Es war eben, als trete erst jetzt die ganze Landschaft in voller, ungetrübter Schönheit hervor. Selbst mein Zimmer, das mir früher wie die Abteilung eines Taubenschlages vorgekommen, heimelte mich, seit das Haus leer geworden, ganz wohnlich an. Um es recht bequem zu haben, mietete ich noch ein anstoßendes kleineres dazu – und so befand ich mich endlich wieder in dem behaglichen Zustande tätigen Alleinseins, der mir im Leben stets der erwünschteste gewesen ist. Eines späten Nachmittags – ich pflegte um diese Zeit zu essen – saß ich, bei Kaffee und Zigarre angelangt, im Speisezimmer des Gasthofes und vertiefte mich in die Zeitungen, welche eben mit der Post eingetroffen waren. Die Hängelampe über dem Billard, das in der Mitte des Raumes stand, war bereits angezündet, und eine trauliche Stille herrschte, die nur hin und wieder unterbrochen wurde, wenn draußen in der Schankstube, wo einige harmlose Kleinbürger in ziemlich schweigsamer Geselligkeit beisammen saßen, ein frisches Glas begehrt und gefüllt wurde. Plötzlich waren von dort her Schritte eines Eintretenden zu vernehmen – und gleich darauf eine überlaute, schnarrende Stimme. »Ha! Ha! Noch immer die alte Gesellschaft beisammen! Grüß Gott, Herr Schreinermeister! Und auch Sie, Herr Lederermeister! Willkommen, Herr Gamilschegg! (Das war der Krämer des Ortes.) Freut mich, Sie alle wieder zu sehen!« Der Sprecher schien kein Gewicht darauf zu legen, daß diese Begrüßung offenbar sehr kleinlaut erwidert wurde, und fuhr fort: »Auch die hübsche Cilli noch hier! (Das galt dem Schenkmädchen, welches nebenbei die Dienste einer Kellnerin verrichtete.) Also noch immer nicht verheiratet? Und auch an Kurmachern wird es mangeln, seit die Kurgäste fort sind. (Er belachte das Wortspiel sehr laut und selbstgefällig.) Am Ende werd' ich alter Knabe doch noch aushelfen müssen! Oder sollte gar Ihre Frau Ursache zur Eifersucht haben, Herr Matzenoër? (Damit war der Hotelwirt gemeint, der eigentlich Matzenauer hieß; aber der Ankömmling schien den Diphthong an bisweilen wie o auszusprechen.) Ich will nicht hoffen! – Und wie sieht es denn da drinnen aus? Gewiß auch noch alles auf demselben Fleck!« Schwere, schlurfende Tritte näherten sich der offenen Tür, die in das Speisezimmer führte, und die robuste, breitschulterige Gestalt eines Mannes zeigte sich, der auf der Schwelle stehen blieb und weit vor sich hin ausspuckte. Er mochte ungefähr sechzig Jahre zählen. Sein fleischiges, gerötetes Gesicht, das buschige Brauen, stark entwickelte Backenknochen und eine plump geschwungene Nase aufwies, war von einem teilweise ergrauten Barte, einem sogenannten collier grec eingerahmt. Auf dem Kopfe saß ihm, schief und zerknüllt, eine phantastische Reisemütze; ein langer Überwurf mit Pelzkragen stand vorne offen und ließ abgetragene, nicht allzu reinlich gehaltene Unterkleider, aber auch eine große Busennadel aus Brillanten und eine massive goldene Uhrkette sehen. In der kurzfingerigen, mit Ringen überladenen Hand hielt er eine ungeheure Zigarrenspitze aus Bernstein, an welcher er pustend sog, die Füße steckten in weiten Stiefeln mit Tuchbesatz. Die ganze Erscheinung hatte etwas Groteskes und dabei Fremdartiges; der Mann sah aus wie ein Armenier oder Bulgare. Er räusperte sich und spuckte noch einmal, dann trat er ein. Als er jetzt meiner ansichtig wurde – ich saß ziemlich abseits – stutzte er, grüßte jedoch nicht, obgleich er mich, während er langsam das Billard umschritt, mit einem lauernden Seitenblick im Auge behielt. Dann ließ er sich in einiger Entfernung von mir auf einen Stuhl nieder und starrte mich an. Diese Musterung wurde mir unangenehm; ich kehrte mich zur Seite. Nunmehr erhob er sich wieder, langte ein illustriertes Journal herab, das im Halter an der Wand hing, und begann, nachdem er einen Nasenklemmer aufgesetzt, mit dem Rücken an das Billard gelehnt, die Bilder zu betrachten. Nach und nach vertiefte er sich auch in den Text. Er bewegte dabei nach Art mancher alten Leute die Lippen, gleichsam jedes Wort im stillen nachsprechend. Allmählich aber gab er auch ein Geräusch von sich. Zuerst war es ein dumpfes Gemurmel, dann ein vernehmbares Buchstabieren – endlich fing er, gewissermaßen in Fluß kommend, mit lauter Stimme zu lesen an. Erst jetzt erkannte ich an der eigentümlich singenden und gezogenen Aussprache den Juden. Seiner Redeweise mit anderen, die im ganzen etwas Weitläufiges hatte, konnte dies nicht entnommen werden; nun aber, da er sich selbst überlassen war, traten die spezifischen Merkmale hervor. Dabei hatte seine Stimme, obwohl sie eines gewissen sonoren Klanges nicht entbehrte, doch etwas so unangenehm Lautes und Eindringendes, daß es mir durch Mark und Bein ging und alle Nerven in Aufregung brachte. Ich konnte nicht länger an mich halten und rief: »Mein Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie nicht allein sind!« Er schrak zusammen und blickte mich mit offenem Munde an. Dann lüftete er mit demütiger Gebärde Mütze und stammelte: »Entschuldigen Sie.« Aber gleich darauf nahm er eine vornehme Haltung an und sagte herablassend: »Ist Ihnen vielleicht die Zeitung gefällig?« »Danke. Ich habe das Blatt schon gelesen.« Damit drehte ich ihm den Rücken. Ich vernahm, wie er das Journal beiseite legte, ein paarmal, wie unschlüssig, am Billard hin und her ging – dann einen Seufzer ausstieß und behutsam aus dem Zimmer schlich, so zwar, daß es mich schon gereute, ihn derart angelassen zu haben. Aber draußen in der Schankstube stimmte er sofort wieder seinen lautesten, jovialsten Ton an. »Nun, Herr Matzenoër, wie steht's mit dem Abendessen? Gibt es Forellen?« »Leider nicht, Herr von Hirsch. Wie sollte ich jetzt –« »Verstehe! Verstehe! Keine Nachfrage in dieser Zeit! Keine Gäste! Aber ein Huhn wird mir die Frau Gemahlin doch einfangen können? Was?« »Gewiß, Herr von Hirsch.« »Also ein Huhn! Mit Salat! Es wird wohl auch eine Weile dauern – ich gehe indessen hinauf. Adieu, meine Herren! Auf Wiedersehen!« Diese letzten Worte galten jedenfalls der Tischgesellschaft, die sich aber ganz schweigend verhielt. Als er sich entfernt hatte, pochte ich an ein Glas, worauf sofort Herr Matzenauer erschien, der als echt ländlicher Hotelier seine Gäste, soweit es anging, selbst bediente. »Sagen Sie mir doch, wer war denn das?« rief ich ihm zu. »Ein Herr Hirsch aus Wien«, erwiderte er mit seinem gewohnten, verschmitzt offenherzigen Lächeln. »Kennen Sie ihn nicht?« »Den Teufel auch. Wer soll alle Hirsche kennen! Aber was macht er denn hier?« »Er erwartet seinen Sohn, der gegenwärtig mit Familie in Italien ist. Sie wollen hier zusammentreffen, um dann gemeinschaftlich nach Wien zurückzureisen.« »Und wann wird das sein?« »Ja, das weiß ich nicht. Etwa in acht Tagen.« »Wo haben Sie ihn denn untergebracht?« »Auf Nummer 5.« »Was? So nahe bei mir?« »Es war ohnehin meine Absicht, ihn auf Nummer 12 zu geben; aber er wollte durchaus sein früheres Zimmer haben.« »Sein früheres Zimmer?« »Er ist ja ein alter Bekannter. Vor zwei Monaten hat er hier die Kur gebraucht; gerade als Sie eintrafen, zog er ab. Wo er sich inzwischen aufgehalten, ist mir nicht bekannt. Wahrscheinlich in Graz. Wenigstens ist er jetzt von dort gekommen. Aber entschuldigen Sie, ich muß nach der Küche sehen.« Damit ging Herr Matzenauer lächelnd ab und ließ mich in recht übler Laune zurück. Denn dieser unvermutete Gast legte mir unter allem Umständen einen gewissen nachbarlichen Verkehr auf, der mich um so mehr aus meiner glücklichen Ruhe und Stimmung zu bringen drohte, als der neue Ankömmling eben sein besonders angenehmer Mann war. Endlich erhob ich mich und ging auf mein Zimmer. Dort zündete ich die Lampe an und nahm ein Buch zur Hand. Aber mit dem Lesen ging es nicht; meine Gedanken schweiften beständig zu diesem Herrn Hirsch hinüber, den ich auch ganz deutlich in seinem Zimmer rumoren hörte; wahrscheinlich packte er seine Koffer aus. Und dabei erkannte ich neuerdings, wie dünn die Wände waren und erinnerte mich, was ich schon früher unter den verschiedenartigen Geräuschen gelitten hatte, die von allen Seiten zu mir herübergedrungen waren. In gelinder Verzweiflung trat ich ans Fenster und blickte hin aus, um zu sehen, ob nicht wenigstens für heute ein abendlicher Spaziergang möglich sei. Pfadlose Dunkelheit lag über der Gegend; ich war also ein Gefangener. Da fiel mir ein, daß ich einige notwendige Briefe zu schreiben habe, ein Geschäft, das ich schon ungebührlich lange hinausgeschoben. Zu derlei kann man sich zwingen – und ich zwang mich. Als ich mich an den Schreibtisch setzte, verließ mein Nachbar das Zimmer und stapfte die Treppe hinunter. Nun hatte ich Luft – und bald war ich derart in meinen Gegenstand vertieft, daß ich mich erst wieder auf die Umstände besinnen mußte, als nach etwa zwei Stunden Herr Hirsch, von unserem Wirte geleitet, zurückkehrte. »Also gute Nacht, Herr Matzenoër!« rief er. »Eigentlich wär' es die Pflicht der Cilli gewesen, mir heraufzuleuchten – aber Sie sind ein vorsichtiger Mann!« Dabei gab er eine dröhnende Lachsalve von sich. Herr Matzenauer empfahl sich. Herr Hirsch aber schritt im Zimmer auf und ab, wobei er polternd einige Gegenstände zurecht schob. Hierauf begann er eine Arie aus Norma zu pfeifen und in allen Tonarten zu singen. Endlich trat einige Ruhe ein, und ich glaubte zu erkennen, daß er anfing, sich zu entkleiden; wirklich fielen nach einer Weile seine schweren Stiefel mit dumpfem Schall zu Boden. Bald nachher folgte ein lautes, langgedehntes »Ah!« des Behagens, ein Zeichen, daß er sich im Bett ausgestreckt habe. Rasch entschlossen, bereitete auch ich mich zur Nachtruhe, schlüpfte unter die Decke und blies das Licht, aus. Schon lag ich in halbem Schlafe, als ich plötzlich durch ein entsetzliches Röcheln aufgeschreckt wurde; es war, als würde nebenan jemand erdrosselt. Sollte dem alten Mann etwas zugestoßen sein? – und schon wollte ich aus dem Bette springen. Aber meine Angst war grundlos. Denn ich hatte bald erkannt, daß jenes Röcheln nur das Präludium eines so kräftigen Schnarchens gewesen, wie ich es im Leben niemals vernommen. In allen Modulationen erklang es: bald wie der ruckweise, gleichmäßige Gang einer Sägemühle, bald in zitternden, gequetschten Gurgel- und Nasenlauten – bald mit so furchtbarem, langgezogenem Gerassel, als wollte es das stille, nachtschlafende Haus in seinen Grundfesten erschüttern. 2. II. Am Morgen stand es bei mir fest: mit diesem Manne konnte ich nicht unter einem Dache bleiben. Die Frage war nur, was beginnen? Aber hatte ich mir denn nicht schon längst vorgenommen, einmal nach Graz zu fahren? Ich mußte mich ja mit manchem Notwendigen, vor allem mit gewissen Büchern, versorgen, die ich in jener Stadt aufzutreiben hoffte. Auch fiel mir jetzt ein, daß dort einer meiner Verwandten lebe, den aus solcher Nähe aufzusuchen, eigentlich meine Pflicht war. Ich konnte mich ja mehrere Tage, konnte mich eine Woche ferne halten – und bis dahin würde Herr Hirsch wohl abgereist oder doch wenigstens nicht lange mehr hier sein. Also nach Graz! Ich beeilte mich, diesen rettenden Gedanken mit Benützung des nächsten Bahnzuges zur Tat zu machen, kleidete mich, während mein Nachbar noch hörbare Schlummertöne von sich gab, rasch an und begab mich zum Frühstück hinunter, wobei ich meinen Entschluß Herrn Matzenauer ankündigte. »Was?« rief dieser betreten. »Sie wollen fort? Doch nicht etwa wegen des Herrn Hirsch?« »Allerdings.« »Das sollten Sie nicht. Lernen Sie ihn nur erst näher kennen. Er hat zwar seine Eigenheiten – ist aber ein ganz gemütlicher alter Mann.« »Er schnarcht wie ein Bär.« »Daran würden Sie sich bald gewöhnen. Auch könnten Sie ja ein anderes Zimmer nehmen.« »Das ist mir zu umständlich«, sagte ich kurz abweisend. »Nun, ich meinte ja nur. Sie begreifen, wie leid es mir tut, Sie zu verlieren; ich hatte gehofft, daß Sie über Neujahr bleiben würden. Wenn Sie übrigens wirklich wieder kommen – –« »Gewiß komme ich wieder. Ich lasse ja meine Sachen zurück und nehme nur das Notwendigste mit. Ich hätte mich jedenfalls auf kurze Zeit nach Graz begeben, denn ich habe dort zu tun. Erwähnen Sie daher Herrn Hirsch gegenüber nichts; ich möchte nicht gerne jemanden verletzen.« Nach einer halben Stunde fuhr ich mit Plaid und Handkoffer ab. * * * Als ich wieder eintraf war meine erste Frage: »Nun, ist er fort?« »Noch immer nicht«, erwiderte Herr Matzenauer verlegen und überdies sichtlich verstimmt. »Er hat einen Brief von seinem Sohn erhalten, worin dieser mitteilt, daß er sich noch einige Tage in Venedig auf zuhalten gedenke.« »Das war vorauszusehen!« rief ich ärgerlich. »Aber was haben Sie denn? Sie machen ja ein ganz saueres Gesicht.« Herr Matzenauer kratzte sich leicht am Hinterhaupte. »Ich will Ihnen nur gestehen,« sagte er, »daß es mir jetzt auch schon zu viel wird.« »Wieso?« »Nun sehen Sie: ich bin Hotelbesitzer, und als solcher muß ich auf Gewinn bedacht sein. Daher war mir auch das Erscheinen eines neuen Gastes sehr angenehm. Herr Hirsch ist ein reicher Mann – oder vielmehr sein Sohn ist es – und der Alte läßt viel aufgehen. Aber er macht auch die unglaublichsten Ansprüche. Alle erdenklichen Möbel will er in seinem Zimmer haben; kein Stuhl ist ihm weich, kein Bett lang und breit genug, fast täglich muß irgend ein Umtausch getroffen werden. Und jederzeit sollen Leckerbissen da sein. Die sind aber auf dem Lande – und nun gar für eine Person – schwer zu beschaffen; in erster Linie kosten sie Geld. Infolgedessen findet Herr Hirsch, der bei allem Wohlleben mit dem Kreuzer knickert, die Rechnung immer zu hoch beziffert. Meine Frau will schon gar nicht mehr für ihn kochen, weil ihm kaum eine Speise recht zubereitet ist; ich muß mich rein aufs Bitten verlegen.« »Hm –« »So anspruchsvoll war er doch im Sommer nicht. Freilich hatte er da eine gewisse Diät zu befolgen – auch mußte er sich der anderen Gäste wegen Zwang auferlegen; denn er hatte noch das Kurhaus in frischer Erinnerung.« »Das Kurhaus?« Herr Matzenauer errötete leicht. »Ich Hab' es Ihnen früher verschwiegen – aber jetzt sollen Sie's wissen. Er hatte sich bei der ganzen Badegesellschaft unleidlich gemacht. Jedermann wich ihm aus, besonders die Damen – und schließlich wollte man ihn nicht einmal mehr am Kurhaustische dulden. Da hat er sich zu mir geflüchtet, damit er doch etwas zu essen bekommt.« »Sehen Sie wohl! Aber was hilft's?« fuhr ich resigniert fort. »Man muß Geduld haben. Er wird doch nicht ewig hier bleiben.« »Das hoff' ich auch. Wenn er mir nur nicht die paar Stammgäste aus der Schankstube vertreibt. Ich muß sie jetzt im Winter doppelt schätzen. Es sind stille, ernsthafte Leute, und seit die Abende länger geworden, machen sie gern unter sich eine Tarockpartie. Herr Hirsch aber, der sich zu Tod langweilt und überdies aufs Spiel versessen ist, wie der Teufel, möchte immer mithalten. Die anderen wollen jedoch durchaus nicht; man hat hier zu Lande noch immer eine gewisse Antipathie gegen die – Sie verstehen mich. Und überhaupt wollen sie mit keinem Fremden spielen. Das aber können sie ihm doch nicht verwehren, daß er sich zu ihnen setzt und dem Spiel zusieht. Und wenn er sich ruhig verhielte, möcht' es immerhin sein. Aber er macht in einem fort Bemerkungen und Ausstellungen; dabei werden die Leute konfus und ärgern sich. Erst vorgestern sagte der Tischler, der nicht gerade der Feinste ist, zu mir: Sie, Herr Matzenauer, wenn Sie uns den alten Juden nicht vom Tisch halten, so wandern wir in die Sonne aus. – Denken Sie nur, in die elende Kneipe am untersten Ende des Platzes! Hierauf hab' ich dem Hirsch die Sache sehr deutlich zu verstehen gegeben – aber am nächsten Tage saß er schon wieder dort. Am Ende kommt es noch zu einem Skandal.« Mit diesem Ausruf schloß Herr Matzenauer seine Auseinandersetzungen und entfernte sich eilig, da draußen nach ihm verlangt wurde. Ich aber blieb bei dem Glase Bier sitzen, das ich mir bei meiner Ankunft in das Speisezimmer hatte bringen lassen. Der Tag neigte sich dem Abend zu. Die letzten Strahlen der Novembersonne fielen schräg durch die Scheiben auf den Fußboden des Gemaches; im Ofen flackerte, der Jahreszeit angemessen, ein leichtes Feuerchen; aus der Schankstube herein tönte das Ticken der Schwarzwälderuhr – und hin und wie der ein Wort, ein Ausruf, welcher samt leisem Kartengeräusch anzeigte, daß die Winterstammgäste bereits mit einer nachdenklichen Tarockpartie begonnen hatten. Dies alles heimelte mich wieder ganz traulich an, und nur das Bewußtsein, daß Herr Hirsch noch immer im Hause sei, ließ kein volles Behagen in mir aufkommen. Da vernahm ich, wie er draußen eintrat. »Aha! Die Spielratten schon beisammen! Glück auf, Herr Gamilschegg! Sie haben gestern Pech gehabt. Aber Sie haben auch miserabel gespielt. Warten Sie, heute setz' ich mich zu Ihnen. Da wird es gleich besser gehen!« Der Ortskaufherr murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Herr Hirsch aber rückte sehr hörbar einen Stuhl heran, während das Spiel seinen Fortgang nahm. Und es dauerte nicht lange, so begann er Kritik zu üben. »Aber warum denn eine Farbe, Herr Gamilschegg? Tarock hätten Sie bringen sollen. Also jetzt Tarock! Nicht so nieder – höher! höher!« »Sie machen mich ja ganz irre, Herr von Hirsch – –« »Nichts da! Nur fort so – Tarock und wieder Tarock!« »Sie haben leicht raten, Herr Hirsch«, warf eine brummige Stimme ein, die offenbar dem Tischler an gehörte. »Sie sehen ja in alle Karten!« »Wie heißt sehen?« rief Hirsch, bei dem sich im Eifer spezifische Anklänge geltend machten. »Nichts seh' ich! Gar nichts! – So, Herr Gamilschegg! Und jetzt den Scüs drauf! Gewonnen! Was hab' ich gesagt?« Die Karten wurden gemischt und von neuem umgegeben. Aber Herr Gamilschegg schien wieder nicht zur Zufriedenheit seines Mentors zu spielen; denn dieser erschöpfte sich in Verweisen und Ratschlägen. Das dauerte noch eine Weile; endlich schien es den anderen zu viel zu werden. Karten wurden auf den Tisch geworfen, und gleich darauf erdröhnte die vorige Stimme: »Entweder Sie halten Ihr Maul – oder wir hören zu spielen auf!« Einen Augenblick war es still. Auf solche Worte zeigte sich Herr Hirsch zweifelsohne nicht vorbereitet. Endlich stammelte er: »Seien Sie doch nicht so grob, Herr Schreinermeister.« »Grob oder nicht. Wir brauchen niemand, der uns beständig dreinred't!« »Dreinreden? Ich rede ja gar nicht darein!« »Gewiß, Sie stören das Spiel, Herr von Hirsch«, warf der Krämer sehr artig, gleichsam als Entschuldigung ein. »Ich meinte es ja gut! Ich habe Ihnen helfen wollen – –« »Das ist nicht notwendig!« donnerte der Tischler. »Der Herr Gamilschegg weiß selbst, wie er zu spielen hat. Und kurz und gut: Schauen Sie, daß Sie weiter kommen, sonst zeigen wir Ihnen, wo die Tür ist.« Auf diese Tathandlung wollte es der so roh Zurechtgewiesene jedenfalls nicht ankommen lassen, denn er erschien sofort im Speisezimmer, bleich, mit schlotternden Knien. Er wankte mühsam bis zu einem Stuhl, der in der Nähe des Fensters stand, sank darauf nieder und bedeckte sein Antlitz mit den beringten Händen. »Gott, du Gerechter! Nirgends will man mich dulden – überall stößt man mich weg – was soll ich tun, was soll ich beginnen, ich armer, geschlagener Mann!« Dieser halblaute Ausbruch eines tiefen, verzweiflungsvollen Schmerzes hatte etwas Ergreifendes. Ich war, um es offen zu bekennen, der dramatischen Szene, die sich nebenan abgespielt, nicht ganz ohne Schadenfreude gefolgt; nun aber schlug diese sofort in Mitleid um. Ich machte eine Bewegung. Jetzt erst gewahrte er mich und sah mich lange mit steigender Aufmerksamkeit an; er wollte offenbar Erinnerungen sammeln, was ihm aber nicht zu gelingen schien. Endlich stand er auf, näherte sich mir und sagte ohne jegliches Zeichen der Beschämung oder Verlegenheit, nur im Tone einer vorwurfsvollen Anklage: »Haben Sie gehört, wie man mich da draußen behandelt hat?« »Leider hab' ich es hören müssen. Aber nehmen Sie die Sache nicht zu schwer. Sie hätten sich mit diesen Leuten gar nicht einlassen sollen.« »Da haben Sie recht! Es ist gemeines Volk. Aber ich bin nun einmal ein vorurteilsloser Mann und kenne keine Standesunterschiede – obgleich ich allen Grund hätte, solche zu machen. Denn ich habe im Leben mit den höchsten Persönlichkeiten verkehrt – und erst unlängst bei einer Whistpartie assistiert, an welcher ein General und zwei Hofräte teilgenommen.« »Desto vorsichtiger hätten Sie sein sollen.« »Richtig! Ganz richtig! Vorsichtig hätte ich sein sollen! Leider, leider bin ich es nie gewesen! – Aber mit wem habe ich eigentlich die Ehre, zu sprechen?« fuhr er fort, indem er plötzlich eine stolze Haltung annahm. Ich nannte meinen Namen. Er sah nachdenklich in die Luft und schüttelte dann den Kopf, um anzudeuten, daß er diesen Namen niemals gehört habe. »Und sind Sie von hier?« »Nein.« »Und von wo, wenn ich fragen darf?« »Aus Wien.« »Aus Wien!« rief er laut und breitete die Arme aus, als wollte er mich ans Herz drücken. »Aus Wien! Da kennen Sie gewiß meinen Sohn!« »Ich habe nicht die Ehre.« »Was? Sie kennen den Hirsch nicht? Den Ritter von Hirsch? Großhändler – Direktor der *Bank? – Aber Sie sind wohl nicht von der Geschäftswelt?« »Nein, ich bin nicht von der Geschäftswelt.« »Und was sonst, wenn ich mir erlauben darf?« »Ich privatisiere.« Diese Antwort hatte ich schon ganz anderen Leuten, als Herrn Hirsch, erteilt. »Ah so! Ah so! Und was machen Sie denn hier?« »Ein Landaufenthalt – –« »Ein Landaufenthalt? Um diese Zeit? Bei beginnendem Winter? Seltsamer Geschmack! Wenn ich mit meinem Sohn, der gegenwärtig in Venedig ist, nicht hier ein Rendezvous hätte, würde mich dieses Nest nicht mehr zu Gesichte bekommen haben.« Und dann ganz plötzlich: »Spielen Sie Karten?« »Niemals!« »Was? Ein Wiener – und nicht Karten spielen? Schämen Sie sich! Aber doch Billard? Wie?« »Nun ja, hin und wieder – wenn sich's gerade trifft – –« »Schön! Da können wir uns gleich unterhalten!« Und er rannte auf das Billard los. Ich wollte Einwendungen erheben. »Nein! Nein! Sie dürfen es mir nicht abschlagen! Sie müssen mit mir spielen!« Und da ich immer noch keine rechte Bereitwilligkeit zeigte, fuhr er in flehendem Tone fort: »Ich bitte, spielen Sie mit mir!« »In Gottes Namen! Fünf Partien.« »Bravo! Fünf Partien! Aber wir müssen Licht haben – es wird schon ganz dunkel. Herr Matzenoër! Herr Matzennoër!« Und als dieser in dienstfertiger Eile erschien: »Zünden Sie die Lampe an! Ich werde mit diesem Herrn Billard spielen!« Er war offenbar in gehobenster Stimmung und hatte den unangenehmen Vorfall bereits vollständig vergessen. Herr Matzenauer sah mich erstaunt an, machte Licht und begab sich in die Schankstube zurück, aus der sich die Gäste inzwischen entfernt zu haben schienen. »So, nun können wir beginnen«, rief Herr Hirsch, einen Kugelstab aus der Lade ziehend. »Wählen Sie nur eine gute Queue – das ist die Hauptsache. Ich gebe Acquit. Und nun zeigen Sie, was Sie können.« »Da werden Sie nicht viel sehen. Ich bin ganz aus der Übung.« »Bescheidenheit! Pure Bescheidenheit! Ich bin überzeugt, daß Sie vortrefflich spielen. Aber an mir sollen Sie Ihren Meister finden.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte ich, den ersten Stoß vollführend. »Ausgezeichnet! Sehen Sie, wie Sie es treffen! Aber geben Sie acht, nun komme ich!« Damit legte sich Herr Hirsch mit der ganzen Wucht auf das Billard und zielte lange. Da er aber zu tief ansetzte und übermäßig stark zustieß, so sprang der Ball in die Höhe und über den Rand hinaus. »Oho! Nicht geschmiert! Wo ist die Kreide? Wer schlecht schmiert, fährt schlecht!« Er lachte laut über den abgedroschenen Witz. Die Partie nahm ihren Fortgang. Herr Hirsch lobte mein Spiel überschwenglich, suchte mich aber stets durch prahlerisch angekündigte »Kunststöße« zu überbieten. Da jedoch diese fast durchgehends mißlangen, so kam es, daß ich zuletzt Sieger blieb. Als ich jetzt die Queue aus der Hande legen wollte, gab dies mein Gegner nicht zu. Er könne sich nicht überwunden geben, sagte er, und es müßten noch fünf Partien gespielt werden. Ich machte gute Miene, da ich mich aber bereits entsetzlich langweilte und infolgedessen sehr unaufmerksam spielte, so gewann diesmal Herr Hirsch. »Und jetzt die Meisterpartie!« rief er. »Was?« »Gewiß! Nunmehr stehen wir gleich; eine letzte Partie muß den Ausschlag geben.« Es kam mir nicht mehr darauf an, und um wirklich ein Ende zu machen, ließ ich ihn gewinnen. »Sehen Sie,« rief er strahlend vor Triumph, »ich hab' es Ihnen vorausgesagt! – Aber nun wollen wir soupieren! Sie werden wohl auch zu Abend essen und mir erlauben, daß ich mich an Ihren Tisch setze.« Ich konnte nichts dagegen haben und ließ es geschehen, daß er den Wirt herbeirief. »Herr Matzenoër, ich werde mit diesem Herrn soupieren! Was Sie mir zu bringen haben, wissen Sie. Auch eine kleine Flasche Bordeaux!« Da ich in Graz sehr früh zu Mittag gegessen hatte, bestellte auch ich etwas. Als wir an dem frischgedeckten Tisch saßen, füllte Herr Hirsch sein Spitzglas und hob es, mir zutrinkend, empor. »Auf unsere Bekanntschaft!« sagte er mit Emphase. Plötzlich aber hielt er inne und blickte mich starr an. »Seltsam! Ich muß Sie doch schon irgendwo gesehen haben.« »Gewiß«, erwiderte ich lächelnd. »Vor acht Tagen auf demselben Platze.« Im Antlitz des Herrn Hirsch vollzog sich eine unbeschreibliche Veränderung; es ging sozusagen aus den Fugen. »Das waren Sie?« stammelte er. Dann verstummte er, und seine Unterlippe sank herab. Mit einemmal aber lachte er laut auf, stemmte die Hände in die Seiten und rief: »Was haben Sie damals von mir gedacht?« Ich zuckte ausweichend die Achseln. »Nein, nein! Nur heraus damit! Sie haben sich gedacht: dieser Mann hat keine Lebensart.« »Nun – wenn Sie selbst – –« »Nicht wahr, ich hab' es getroffen? O, ich weiß, ich weiß! Man glaubt das allgemein von mir. Aber ich sage Ihnen, ich habe Lebensart – ich muß Lebensart haben, denn ich bewege mich in Wien in der feinsten Gesellschaft. Auf dem Lande freilich, in der Fremde, laß ich mich gehen.« Wie um diese Behauptung zu erhärten, fuhr er mit dem Messer in einen kleinen Berg von Kaviar, den man ihm auf einem Schüsselchen vorgesetzt hatte, und führte die Spitze zum Munde. »Ausgezeichnet! Echter Astrachan! Davon müssen Sie kosten! Ich habe ihn eigens für mich kommen lassen. Aber so versuchen Sie doch!« Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm ein bißchen von dem großkörnigen Roggen, der in der Tat vortrefflich war. »Sie sind ein Feinschmecker«, sagte ich. »Ja, das ist meine Schwäche – meine einzige Schwäche. Wenn Sie so lange leben, wie ich, werden Sie gleichfalls dahinter kommen, daß ein guter Bissen der reellste Genuß ist. Und ich kann's vertragen. Meine Verdauung läßt nichts zu wünschen übrig. Für wie alt halten Sie mich?« »Etwa sechzig –« »Fehlgeschossen! Weit fehlgeschossen! Siebzig, sage ich Ihnen, siebzig! Zweiundsiebzig! Ja, man sieht es mir nicht an. Ein wenig Gicht in den Beinen – im übrigen bin ich vollkommen gesund und nehme es noch mit manchem Jungen auf. – Aber nun raten Sie, was ich mir nach dem Kaviar bestellt habe?« »Nun, was denn?« »Wildschwein! Köstliches Wildschwein, das ein benachbarter Förster in die Küche geliefert hat. Es ist jetzt gerade die Zeit. Sie sehen mich an? Sie lachen? Sie wundern sich, daß ich als Jude derlei esse.« »Daran habe ich gar nicht gedacht.« »Sie haben! Sie haben! Aber Sie sehen keinen Orthodoxen vor sich – obgleich ich in Galizien unter solchen aufgewachsen bin. Ich war seit jeher ein Freidenker, ein Aufgeklärter, und habe deswegen in früherer Zeit – jetzt ist es freilich ganz anders – manches Ärgernis erregt. Und nun gar bei meiner Frau! Die war – Gott lasse sie ruhen – in solchen Dingen von einer Strenge – eine wahre Chassidim! Etwas zu genießen, was gegen die Speisegesetze verstieß, erschien ihr als das größte Verbrechen. Seligmann, sagte sie oft zu mir, wenn ich in dieser Hinsicht gesündigt hatte, Seligmann – so heiße ich nämlich – du bist ein Abtrünniger! Und erst am Sabbat! Da hatt' ich meine Not. Keine Pfeife durfte ich mir anzünden – damals rauchte man noch aus Pfeifen –, keinen Brief durfte ich schreiben – nicht einmal lesen. Aber dabei war sie eine prächtige Frau, wie man heutzutage keine mehr findet. Und von einer Schönheit! Geweint hab' ich, geweint wie ein Kind, als man ihr am Hochzeitstag die tiefschwarzen Haare abschnitt. Welch ein Unsinn! Aber damals ging es nicht anders. Ja, das war eine Frau, meine Gittel!« Er versank in sich und seine Augen wurden feucht. Jetzt erschien der Eberbraten. Herr Hirsch blickte empor. »Nun? Sieht das nicht appetitlich aus? Nehmen Sie doch auch ein Stückchen!« Und trotz meiner Einwendungen legte er mir eine Schnitte auf den Teller und fuhr, während er behaglich zu schmausen anfing, fort: »Es ist seltsam, wie sich manchmal die Dinge fügen. Ich habe eine eingefleischte Jüdin zur Frau gehabt, obgleich ich selbst, wie schon gesagt, niemals ein besonders guter Jude gewesen bin. Mein Sohn ist es viel mehr als ich – und sehen Sie, der hat wieder eine Frau, die sich ihres Judentums schämt. Sie stammt aus sehr feinem, vornehmem Hause – und gebildet ist sie – gebildet! Alle Sprachen spricht sie – und Bücher liest sie, von denen wir beide keine Ahnung haben. Aber sie ist auch eitel, sehr eitel! Alles, was in Wien irgendwie hervorragt, soll sich in ihrem Hause versammeln: Staatsmänner, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller. Und die meisten kommen auch – obgleich man noch immer sehr gegen uns eingenommen ist – und diejenigen, die es nicht merken lassen wollen, sind es am meisten. Alle diese Leute erscheinen wohl im Salon, setzen sich auch nicht ungern an die Tafel – sobald sie aber wieder draußen sind, schütten sie sich schon auf der Treppe gegen die Juden aus. Ich weiß das. Und auch meine Schwiegertochter weiß es, obwohl sie es sich nicht eingestehen will. Daher fühlt sie sich im geheimen verstimmt, gedemütigt. Und mein Sohn liebt sie. Fabelhaft ist es, wie er sie liebt. Zehn Jahre sind sie schon verheiratet – und noch immer ist er so feurig, so voll Anbetung, wie am ersten Tage. Und sie ist nichts weniger als schön. Geist hat sie freilich – Geist und Energie. Sie wird es dahin bringen, daß sich mein Sohn taufen läßt – oder wenigstens die Kinder, damit sie nicht mehr als Hebräer in der Welt herumlaufen.« »Und wäre Ihnen dies sehr unerwünscht?« »Unerwünscht? Mir? Mein Gott, Sie wissen ja, daß ich kein Fanatiker bin, und schon vor Jahren hab' ich es zum Entsetzen der Gemeinde ausgesprochen, daß uns allen schließlich nichts anderes übrig bleiben wird. – Und selbst wenn es mir nicht recht wäre, was könnt' ich dagegen tun? Man muß seine Kinder gewähren lassen.« Er seufzte und schob nachdenklich den Teller beiseite. »Haben Sie mehrere Kinder?« fragte ich nach einer Pause. »Gehabt! Gehabt! Im ganzen waren es vier; zwei davon sind schon in früher Jugend gestorben. Nur dieser Sohn ist mir geblieben – und eine Tochter.« Er schwieg eine Zeitlang, dann fragte er plötzlich: »Kennen Sie den König Lear von Shakespeare?« (Er sprach Liar und Schikispir aus.) »Ja – ich kenne das Stück.« »Nun also, ich bin auch so ein König Liar! Doch nein,« fuhr er mit hastiger Einschränkung fort, »Sie dürfen nicht glauben, daß meine Tochter eine Recha oder Gonowril ist – aber sie ist auch keine Ophelia. Ich will Ihnen die Sache erklären.« Er lehnte sich weit zurück und fuhr nach einer Pause fort: »Wie Sie mich da vor sich sehen, bin ich ein armer Mann. Das heißt, wie man's nimmt – ich habe, was ich brauche. Aber ich bin einst ein reicher, sehr reicher Mann gewesen. Und das zweimal. Das erstemal in Polen. Ich stand dort mit dem ganzen Adel in Verbindung, der meine Hilfe in Anspruch nahm, wenn er sich in Verlegenheit befand. Und da war ich zu gutmütig; ich konnte nichts abschlagen – und so verlor ich fast mein ganzes Vermögen. Mit dem Rest ging ich samt den Kindern – meine Frau war inzwischen gestorben – nach Wien. Sie können sich keinen Begriff machen, wie schwer es damals für unsereinen war, dort Fuß zu fassen. Aber es gelang mir. Ich knüpfte nach und nach Geschäftsverbindungen an – und wurde wieder der reiche Hirsch. Mit der Zeit war meine Sarah – das ist die Tochter – mannbar geworden. Eine Schönheit, sag' ich Ihnen! Freilich ganz anders als die Mutter – aber eine Schönheit. Die heutigen Maler, die immer nur Weiber mit roten Haaren malen, würden sich um sie gerissen haben. Gefärbtes Haar kommt jetzt sehr häufig vor; aber das ihre war von Natur rotes Gold, und aufgelöst, fiel es wie eine Schleppe zu Boden. Nun besaß ich einen Geschäftsfreund, der hieß Mandel – ein sehr wohlhabender Mann, wohlhabender als ich. Der hatte einen Sohn, und dieser verliebte sich natürlich sofort in die Sarah. Eines Tages kommt der alte Mandel zu mir und sagt: ›Hören Sie, Hirsch, geben Sie Ihre Tochter meinem Sohn. Ich werde ihm kaufen ein Gut in Ungarn – das war schon nach dem Jahre Achtundvierzig – und Ihre Sarah kann werden eine Schloßfrau.‹ Ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein. Die Partie war gut, sehr gut – aber der junge Mandel gefiel mir nicht. Er war mir zu unansehnlich, zu häßlich – mit Respekt zu melden, eine wahre Vogelscheuche. Ich rief mir also die Sarah und sagte: ›Sarah, sagt' ich, der junge Mandel hat um dich geworben. Ich rede dir nicht zu. Nimmst du ihn, so nimmst du ihn, wenn nicht, nicht.‹ Nun hatte ich erwartet, daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und aus dem Zimmer laufen würde. Aber nichts da! Sie erwiderte ganz ruhig: ›Warum soll ich den jungen Mandel nicht nehmen, Vater? Ich nehm' ihn.‹ Bald darauf war Hochzeit, eine glänzende Hochzeit. Ich aber drückte mich dabei in ein Nebenzimmer, denn ich schämte mich, daß meine Tochter einen solchen Untham zum Mann genommen, während die andern glaubten, ich hätte mich zurückgezogen, um im stillen Freudentränen zu vergießen wegen der reichen Heirat. Und so haben mich die Menschen niemals verstanden – niemals!« Er riß bei diesen Worten mit heftiger Armbewegung eine Zigarrendose aus der Brusttasche und schickte sich zu rauchen an. Nachdem er einige mächtige Wolken von sich geblasen, fuhr er fort: »Mit dieser Hochzeit begann wieder mein Unglück. Denn bald darauf erlitt ich Verluste – ungeheure Verluste. Die Börse! Die Börse! Was sollte ich beginnen? Ich war ein Bettler und schämte mich, auf die Straße zu gehen. Mein Sohn, der nun für sich selbst sorgen mußte, trat, obgleich er eben die Jura absolviert hatte, in ein Wollgeschäft – und ich, – nun, ich begab mich zu meiner Tochter nach Ungarn. Empfangen haben sie mich dort sehr anständig – sehr, das muß ich sagen. Aber es dauerte nicht lange, so nahm die Sache eine schiefe Wendung. Ich bin seit jeher ein tätiger Mann gewesen und kann nirgends so ganz müßig zusehen. Ich wollte daher meinem Schwiegersohne bei Verwaltung des Gutes an die Hand gehen; denn ich hatte in Polen allerlei Einblicke in die Landwirtschaft bekommen. Meine Tochter aber legte sich sofort ins Mittel. ›Reden Sie doch‹ – damals sagten die Kinder noch Sie zu mir – ›reden Sie doch dem Aladar‹ – eigentlich heißt er Aron – ›nicht darein, lieber Vater; Sie sind ein Schlemihl.‹ Das tat mir weh – von meinem eigenen Fleisch und Blut. Aber recht hatte sie! Ich war ein Schlemihl. Also schwieg ich und kümmerte mich um nichts mehr. Doch was sollte ich den ganzen geschlagenen Tag in dem öden Schlosse auf der ungarischen Pußta? Ich suchte zuweilen ein nahe gelegenes Städtchen auf, wo sich die Landedelleute aus der Umgebung in einem Kaffeehause zusammenzufinden pflegten. Dort wurde, besonders an Markttagen, stark gespielt. Ich war nicht ganz ohne Mittel, denn mein Sohn verdiente bereits und schickte mir von Zeit zu Zeit, was er entbehren konnte – und so hielt ich mit. Aber das Unglück verfolgte mich nun einmal – ich verlor – bis ich endlich eine Spielschuld auf mir sitzen hatte. Nicht allzu hoch, aber zahlen könnt' ich sie nicht und mußte mich, wenn auch ungern, in meiner Verlegenheit an Sarah wenden. Sie hatte zwar von mir eine ansehnliche Mitgift erhalten; aber ich wußte, daß sie seit jeher geizig war, sehr geizig. ›Wozu brauchen Sie zu spielen, Vater? Diesmal will ich Ihnen das Geld geben, aber spielen dürfen Sie nicht mehr; Sie sind jetzt ein armer Mann.‹ Das war das Zweite. Aber recht hatte sie: ich war ein armer Mann. Rührte also keine Karte mehr an. Doch dabei blieb's nicht. Es kam zum Vorschein, daß ich zu wählerisch im Essen und Trinken sei, und als ich eines Tages zufällig ein wenig hustete, hieß es: ›Sie rauchen zu viel, Vater. Warum rauchen Sie so viel? Es wird Ihnen schaden.‹ Ich verstand den Wink – und der riß den Faden entzwei. Denn wer mir meine Zigarre nimmt, der nimmt mir mein Leben. Ich erwiderte nichts, obgleich mir das Herz zerspringen wollte; am nächsten Tage aber reiste ich ab und ließ Sarah mit ihrem Aladar allein. Denn Kinder haben sie nicht.« Er war bei dieser Erzählung in Aufregung geraten und als er jetzt schwieg, atmete er heftig. Die geliebte Zigarre war ihm ausgegangen, aber er machte keinen Versuch, sie wieder anzuzünden, und blickte starr vor sich hin. »Fast könnte man sagen,« fuhr er nach einer Weile mit tonloser Stimme fort, »auf diese Weise straft sie Gott. Denn auch meine Tochter ist eine echte Jüdin: sie kränkt sich, daß sie unfruchtbar geblieben.« Ich wollte ihn ermuntern und sagte: »Dafür erleben Sie ja, wie es scheint, an ihrem Sohne um so größere Freude.« Er sah betroffen empor. »An meinem Sohne? O ja! Gewiß! Mein Sohn ist ein edler Mensch – von dem kann ich haben, was ich will. Aber« – er warf sich dabei in die Brust – »er ist mir auch Dank schuldig. Ich habe an seiner Erziehung nichts gespart und ihm sogar einen Hofmeister gehalten. Wie schon gesagt, er ist Jurist und hätte, wie mancher andere, in Staatsdienste treten – hätte Karriere machen können. Im vorigen Jahre wollte man ihn um jeden Preis in den Reichsrat wählen. Aber er hat es vorgezogen, ganz und gar Kaufmann zu bleiben. Und als solcher ist er einzig. Seine Kombinationen, seine Unternehmungen gehen ins Großartige. Er ist bereits Millionär.« »Ich gratuliere. Und Sie leben bei ihm in Wien?« »Natürlich! Natürlich! Das heißt, ich habe bei ihm gelebt. Aber da war wieder die Schwiegertochter der Stein des Anstoßes. Sie begreifen: die doppelte Eifersucht der Gattin und Mutter. Die Frau weiß, welche Stücke mein Sohn auf mich hält – und dann die Enkel! Ach, wenn Sie meine Enkel kennen würden!« fuhr er mit aufleuchtenden Augen fort. »Ein Knabe und ein Mädchen. Wahre Engel! Besonders die Kleine, die Jenny – sieben Jahre ist sie alt. Reizend, sage ich Ihnen, reizend! Und ihren alten Großvater lieben sie abgöttisch! Da gab es denn immer Neid und Zwistigkeiten im Hause – so daß ich es endlich vorzog, für mich allein zu wohnen. Aber ganz in der Nähe, ganz in der Nähe; ich kann jeden Augenblick –« Er brach plötzlich ab, als fehle es ihm an Atem, und rückte, in Gedanken versinkend, unruhig auf seinem Sitze hin und her. Ich erwiderte nichts, und so trat längeres Schweigen ein. Er schien ganz und gar um seine mitteilsame Stimmung gebracht und beachtete mich kaum mehr. Sein Blick hatte etwas Erloschenes, Verglastes bekommen, seine Wangen waren eingesunken, seine Züge schlaff geworden – er sah mit einem Male wirklich sehr alt aus. Jetzt stand er ganz unvermittelt auf und sagte: »Ich gehe zu Bett. Wohnen Sie auch hier?« Und ohne meine Antwort abzuwarten oder gute Nacht zu sagen, hatte er sich entfernt. Ich blieb nachdenklich sitzen. Ich hatte den Alten ohne Zweifel an einer sehr empfindlichen Stelle berührt, und bei einigem Nachsinnen konnte ich leicht herausbringen, wie das zusammenhing. Trotz seiner Unformen und Schwächen flößte er mir jetzt Teilnahme ein; denn ich empfand, daß er ein unglücklicher Mann war. Als nunmehr Herr Matzenauer erschien und mich, während er den Tisch abräumte, mit einiger Ironie fragte, wie ich mich mit Herrn Hirsch unterhalten habe, gab ich gar keine Antwort. Bald darauf in meinem Zimmer angelangt, hörte ich meinen Nachbar bereits schnarchen. Aber nicht so entsetzlich wie damals. Oder schien es mir nur so? 3. III. Als ich am nächsten Tage von meinem gewohnten Morgenspaziergange nach Hause zurückkehrte, stand Herr Hirsch unten am Tore. Er sah wieder ganz frisch und munter aus und hatte einen von Neuheit funkelnden Zylinderhut unternehmend auf dem rechten Ohre sitzen; in der Hand hielt er eine kleine Reisetasche. Er schien mich kaum wiederzuerkennen und erwiderte meinen Gruß fast wie den eines Fremden. »Nun, wie haben Sie geschlafen?« fragte ich in meiner Betroffenheit. »Vortrefflich!« entgegnete er herablassend. »Und jetzt fahre ich nach M ... Es ist zwar ein wenig frostig heute; aber das tut nichts. Kennen Sie den Ort?« Ich verneinte. »Ein ganz stattlicher Marktflecken, wo jeden Tag herrschaftliche Beamte zusammenkommen. Sie haben eine Art Kasino errichtet, und da geht es ganz lustig zu. Ich bin in diesem Sommer öfter dort gewesen und begreife gar nicht, daß ich diese Gesellschaft nicht schon längst wieder einmal aufgesucht habe, statt mich hier wie ein Mops zu langweilen. Kommen Sie vielleicht mit? Die Züge gehen ganz bequem; um zehn Uhr abends sind wir wieder zurück.« Ich lehnte dankend ab. »Nun dann Adieu!« Er legte einen Finger an die Hutkrämpe und schlug den Weg nach dem Bahnhofe ein, der, außerhalb des Ortes liegend, mit einem kurzen Gange zu erreichen war. So also benahm sich heute der Mann, der mir gestern sein ganzes Herz ausgeschüttet! Sein Entschluß aber, nach M ... zu fahren, konnte mir nur angenehm sein. Denn trotz der Teilnahme, die ich für ihn zu hegen begonnen, hatte ich doch mit einem gewissen Bangen einer erneuten Einladung zum Billardspiel und sonstigen geselligen Anforderungen entgegengesehen. Als er nachts zurückkehrte, saß ich in meinem Zimmer und las. »Famos hab' ich mich unterhalten – famos!« rief er jemandem, wahrscheinlich Herrn Matzenauer, im Flur so laut zu, daß ich es bis herauf hörte. »Das sind ganz andere Leute, als die hiesigen. Gleich morgen fahre ich wieder hin!« In der Tat war Herr Hirsch am nächsten Tage nicht zu sehen, auch nicht am nächstfolgenden – und am dritten blieb er sogar über Nacht weg. »Herr Hirsch wird Ihnen ja ganz und gar untreu«, sagte ich beim Frühstück zu unserem Wirte. »In Gottes Namen!« entgegnete dieser ärgerlich. Es schien ihm doch nicht recht zu sein, daß der anspruchsvolle Gast sein Geld anderswohin trage. »Aber wissen Sie, was er in M ... macht? Er spielt – und das ziemlich hoch. Denn dort ist eine richtige Bande beisammen. Der Verwalter und der sogenannte Forstmeister eines freiherrlichen Gutes, beide so verschuldet wie der Besitzer selbst, und ein verlotterter Winkelschreiber, der früher einmal in der Gegend Amtmann gewesen, die drei rupfen den alten Vogel, was das Zeug hält. Gestern mußte er von mir schon hundert Gulden borgen, und in der Hitze des Gefechts hat er sicherlich den Zug versäumt. Wenn er nur bis Mittag heimkommt. Es liegt oben ein Telegramm für ihn – wahrscheinlich von seinem Sohn.« Wirklich traf Herr Hirsch um zwölf Uhr ein. »Ein Telegramm!? Ein Telegramm!?« schrie er, während er die Treppe hinauf in sein Zimmer polterte. »Wo ist das Telegramm?« Dann nach einer Pause: »Mein Sohn kommt! Mein Sohn! Also jetzt gilt's, Herr Matzenoër! Machen Sie Ihrem Hotel Ehre! Das andere Zimmer ist doch, wie ich befohlen, in den letzten Tagen geheizt worden? Und dann einen Wagen! Einen Wagen auf sechs! Mein Sohn kommt zwar leider allein – nicht mit Familie, wie ich gehofft – aber zu Fuß kann er nicht gehen. Zu Fuß nicht! Und sagen Sie Ihrer Frau, daß sie sich zusammennehmen soll. Das Essen muß exquisit sein. Ein Diner! Ein Diner! Mein Sohn wird Appetit haben; denn ich weiß, daß er während der Fahrt nie etwas zu sich nimmt.« Als er sich jetzt allein befand, rannte er bald in seinem, bald in dem für seinen Sohn bestimmten Nebenzimmer hin und her. Ich dachte, er würde vielleicht, erregt, wie er war, zu mir herüberkommen, um mich von dem großen Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Aber es geschah nicht; er hatte mich offenbar bereits ganz vergessen. Nun war ich aber denn doch ein wenig neugierig auf Herrn Hirsch junior, und da meine Essensstunde mit der betreffenden Bahnzeit zusammenfiel, so konnte ich voraussetzen, daß ich ihn im Speisezimmer würde sehen können. Ich hatte auch eben mein Mahl beendet, als der Wagen angefahren kam und gleich darauf Vater und Sohn eintraten; der letztere eine distinguierte, aber keineswegs anspruchsvolle Erscheinung. Kleiner und viel zarter gebaut als sein Vater, wies er mit diesem überhaupt keinerlei Ähnlichkeit auf. Er hatte ein ausgesprochen jüdisches, scharf geschnittenes Profil; seine hohe und breite Stirn erschien infolge einer frühen Glatze noch ausdrucksvoller und bedeutender; die Augen blickten etwas müde durch eine feine Stahlbrille. Er nahm geräuschlos an dem Tische Platz, den Herr Matzenauer mit großer Sorgfalt gedeckt hatte und auf welchem vier Kerzen in einer silberplattierten Girandole brannten. »Da siehst du das Speisezimmer!« rief Herr Hirsch senior pathetisch. »Zwar nicht elegant, aber gemütlich. Laß dir nur gleich ein Glas Bier geben; ich weiß, du trinkst es gern. Es ist auch ganz ausgezeichnet – eigentlich das einzige Gute, das man hier haben kann. – Aber den Richard hättest du doch mitbringen können!« »Ich habe dir schon gesagt, lieber Vater,« erwiderte der andere mit gedämpfter Stimme, »daß beide Kinder stark erkältet sind. Man mußte also trachten, sie so rasch wie nur möglich nach Hause zu bringen.« »Nun ja, nun ja – aber an der Bahn hätt' ich sie doch sehen können.« »Dann hätte man auch den langsamen Postzug benützen müssen – und das ist überhaupt unangenehm für Frauen und Kinder. Der Eilzug hält ja hier nur während der Badesaison.« »Es ist wahr, es ist wahr – – Nun, ich werde ja die lieben Engel morgen in Wien ans Herz drücken!« Der Sohn erwiderte nichts. Er schien nachdenklich und kostete zerstreut von dem Biere, das man ihm gebracht. Ich aber wollte nicht länger Zeuge dieses Familiengespräches sein, das der Alte in seiner gewohnten Ungebundenheit mit lautester Stimme führte, stand auf und entfernte mich. Draußen war es mondhell. Ich ging, meine Zigarre zu Ende rauchend, eine Zeitlang auf dem verödeten Platze des Ortes auf und nieder; dann zog ich mich in mein Zimmer zurück. Nach Ablauf einer Stunde kamen auch die beiden anderen die Treppe hinangestiegen und traten gleich von außen in das Gemach, welches für den Angekommenen in Bereitschaft stand. Dort begann nun eine Unterredung, die immer lebhafter wurde, so daß der Ton der Stimmen mehr und mehr zu mir herüberdrang. Plötzlich hörte ich den Alten ausrufen: »Nach Venedig?! Was soll ich in Venedig?« Er war dabei in sein Zimmer getreten und durchmaß es mit heftigen Schritten. Sein Sohn, der offenbar keine Ahnung hatte, daß außer ihnen noch irgend jemand hier oben wohne, war ihm nachgefolgt und sagte jetzt begütigend: »Aber lieber Vater, du hast doch schon oft den Wunsch ausgesprochen, Venedig zu sehen.« »Ja, mit euch! Mit euch wollt' ich es sehen – mit euch wollte ich reisen. Aber allein! Was soll ich alter Mann allein in Venedig? Ich kann kein Wort Italienisch.« »Das ist auch gar nicht notwendig. In dieser Familie wirst du dich wie zu Hause fühlen. Man wird in jeder Hinsicht für dich sorgen – und auf diese Art wirst du nach und nach ganz bequem das eigentümliche Leben der Stadt kennen lernen.« »Ich will es aber nicht kennen lernen! Was kümmert mich das Leben von Venedig? Ich habe an mei nem eigenen genug. Und bei diesen Schnorrern will ich schon gar nicht sein!« »Es sind keine Schnorrer. Der Mann hat einen sehr ansehnlichen Posten bei einem dortigen Bankhause.« »Durch wen aber hat er ihn erhalten? Durch dich! Durch dich! Ich sehe schon, unter Aufsicht soll ich stehen. Überwachen soll man jeden meiner Schritte!« »Das bildest du dir ein.« »Nichts bild' ich mir ein! Nichts! Ihr verschwört euch hinter meinem Rücken! Ihr verbannt mich! O, ich weiß, ich weiß! Schon diesen Sommer sollte ich nicht bei euch in Hietzing zubringen – die Villa wäre doch groß genug – und so ist es geschehen, daß mir der Arzt eine Kaltwasserkur und längeren Aufenthalt im Gebirge verordnet hat. Mir fehlt gar nichts! Ich bin ganz gesund!« »Gott sei Dank, daß du es bist, lieber Vater. Desto mehr wirst du in Venedig genießen können.« »Wenn ich aber nicht will und nicht mag! Und wenn ich auch möchte, wie könnt' ich's – ferne von euch! Bernhard!« fuhr er flehentlich fort, »lieber Bernhard, verstoße mich nicht! Ich weiß, der Vorschlag kommt nicht aus deinem Herzen, die Frau will mich weg haben!« »Du irrst. Die Stellung, welche ich gegenwärtig anstrebe, die Verbindungen, die ich infolgedessen unterhalten muß – mit einem Wort, die Verhältnisse ma chen es durchaus notwendig, daß du diesen Winter nicht in Wien zubringst.« »Ich werde auch nicht dort sein – für keinen Menschen werde ich dort sein! Einmieten will ich mich in irgend einer Vorstadt – kein Auge soll mich erblicken! Nur alle acht Tage laßt mich kommen auf eine Viertelstunde, daß ich dich sehen kann – und umarmen die Enkelchen!« »Wie oft hast du das schon gesagt! Derlei unwürdige und unnatürliche Abmachungen wären ja auch gar nicht notwendig, wenn du nur ein wenig Vernunft annehmen wolltest. Aber darin liegt es. Wenn du nicht den ganzen Tag im Hause sein kannst, wenn du nicht zu jedem Diner, zu jeder Gesellschaft mitgeladen wirst, so fühlst du dich aufs tiefste gekränkt, machst uns die heftigsten Vorwürfe, die unerquicklichsten Szenen. Und dann – so weh es mir tut, es dir neuerdings sagen zu müssen –« Er verstummte; denn ich hatte mich jetzt sehr nachdrucksvoll geräuspert. Die unfreiwillige Lauscherrolle, die ich spielte, war mir bereits höchst peinlich geworden. Man zog sich drüben sofort in das anstoßende Zimmer zurück und schloß die Verbindungstür. Nun war es still. Aber nicht lange. Der Auftritt setzte sich drei Zimmer weit von mir fort. Allerdings verstand ich jetzt nicht mehr, was gesprochen wurde; aber die Stimme des Alten drang von Zeit zu Zeit an mein Ohr: bald klagend, bald drohend, bald flehend. Endlich ein dumpfer Aufschrei – dann trat vollständige Ruhe ein. Bald darauf kam Herr Hirsch in sein Zimmer geschlichen und legte sich zu Bett. Aber das gewöhnliche Schnarchen erfolgte nicht. Ich hörte ihn seufzen, leise stöhnen – und, wie ich glaubte, auch leise weinen – bis ich einschlief. * * * Am nächsten Morgen war der Angekommene bereits wieder abgereist. Sein Vater hatte ihn zur Bahn begleitet und kam jetzt im Wagen zurückgefahren. Er trat in das Speisezimmer, wo ich soeben gefrühstückt, und sah sehr bleich und angegriffen aus. Als er meiner ansichtig wurde, machte er eine Anstrengung, sich zu ermuntern, und schüttelte mit erkünstelter Lustigkeit seinen Hut aufs rechte Ohr. »Aha, Sie hier? Guten Morgen! Guten Morgen! Haben Sie meinen Sohn gesehen? Der ist schon wieder fort – denn er muß noch heute abend in Wien sein. Und wissen Sie, wohin ich zur Abwechslung gehe? Nach Venedig! Was sagen Sie! Nach Venedig! Es ist schon lange mein Wunsch gewesen – und mein Sohn hat es mir möglich gemacht, den Winter dort zuzubringen. Ich werde bei einer sehr feinen Familie wohnen und mir nichts entgehen lassen, was die wunderbare Stadt bietet. Ich freue mich schon auf die Gondelfahrten. Schade, daß ich nicht jünger bin – denn die Venezianerinnen sollen einzig sein!« Er versuchte ein frivoles Gelächter aufzuschlagen, verstummte aber plötzlich; man sah, daß ihm das Weinen nahe war. Ich wünschte ihm glückliche Reise und ließ ihn allein. * * * Noch am selben Tage zog Herr Hirsch ohne weitere Verabschiedung von dannen. Ich aber verblieb, während nun der Winter mit aller Macht hereinbrach, in dem Gasthause zu den »Drei Monarchen«. 4. IV. In den Sälen des Wiener Musikvereins fand einer großer Ball statt. Es war eines jener glänzenden Wohltätigkeitsfeste, wie sie jetzt infolge der steigenden Not – aber auch der zunehmenden Eitelkeit – immer häufiger veranstaltet werden. Seit einer Reihe von Jahren hatte ich an derlei Vergnügungen nicht mehr teilgenommen; hauptsächlich schon deshalb, weil ich oft und lange von Wien ferne gewesen. Heute aber hatte ich mich eingefunden, um wieder einmal die »große Welt« auf mich wirken zu lassen und sie in ihren neuen und neuesten Erscheinungen zu beobachten. Diese letzteren waren in der vorwiegenden Mehrzahl, und so kam es, daß ich mich bald in dem bunten Gewühl, das die strahlenden Räume durchwogte, fremd und vereinsamt fühlte. Selbst ältere Bekannte hatten einige Mühe, sich meiner zu entsinnen, und reichten mir dann bloß mit einem flüchtigen: »Ah, Sie sind wieder da!« im Vorübergehen die Hand. Etwas nachhaltiger, wenn auch mit ähnlichen Worten, wurde ich von einem stattlich und vornehm aussehenden Herrn begrüßt, der, als ich mich jetzt eben in eine Ecke zurückziehen wollte, auf mich zugeschritten kam. Dieser Mann war eine stadtbekannte Persönlichkeit und nahm in der Gesellschaft eine eigentümliche Stellung ein. Aus einer sehr angesehenen jüdischen Familie stammend, hatte er von seinen Vätern zwar Reichtum, jedoch nicht die Gabe ererbt, ihn zu vermehren oder auch nur zu bewahren. Früh auf Reisen gegangen, hatte er längere Zeit in Paris gelebt – und war dann später in Wien durch allerlei noble Passionen mit seinem Vermögen glücklich zu Rande gekommen. Da er aber fast mit der gesamten Geldaristokratie in verwandtschaftlichen und sonstigen Beziehungen stand, so konnte man ihn von jener Seite nicht fallen lassen und verschaffte dem Ärmsten allerlei geschäftliche Sinekuren, die ihm keine andere Verpflichtung auferlegten, als zu gewissen Terminen gewisse Dividenden einzustreichen. Infolgedessen konnte er mit einiger Einschränkung seinen bisherigen Gewohnheiten treu bleiben und war in der Lebewelt, männlichen sowohl, wie weiblichen, daher auch in Künstlerkreisen, ob seines beweglichen Geistes und schlagfertigen Witzes sehr beliebt; im übrigen aber wurde er nicht besonders geachtet. Da er dies, je länger, je tiefer empfand, so überkam ihn bei zunehmenden Jahren das Bedürfnis sich zu rächen, und zwar damit, daß er die ätzende Lauge seines Spottes über alles und jedes – und nicht am wenigsten über seine eigenen Stammesgenossen ausgoß. Kein eingefleischter Antisemit konnte gegen das jüdische Wesen ärger losziehen, als dies Herr X bei jeder Gelegenheit mit dem breitesten Behagen zu tun liebte. »Also wo haben Sie denn wieder so lange gesteckt?« fragte er. »Auf dem Lande? Sie werden noch ganz und gar verbauern. – Aber was sagen Sie zu der heutigen Crême der Gesellschaft? Zu unseren modernen Größen? Unseren modernen Schönheiten? Schwindel! Pofel! Glänzender Pofel – nichts weiter! Und finden Sie nicht das nationale Element (damit meinte er das jüdische) sehr in den Vordergrund gerückt? Ich möchte wetten, daß zwei Drittel der verehrten Anwesenden mosaischer Konfession sind – wie man sich in meiner Jugend euphemistisch auszudrücken pflegte. Und auch die Ball-Patronessen sind zur Hälfte Jüdinnen.« Er wies dabei auf eine Gruppe von Damen, die nicht allzuweit von uns im Gespräche beisammen standen. »Betrachten Sie nur gefälligst diese Nasen! Diese runden Rücken! Die gute Baronin Hirtburg ist auch dabei. Zehn Jahre lang war es ihr kühnster Traum, mit der Fürstin M ... als Patronesse zu figurieren – nun hat sie's erreicht. Was ihr an Haltung abgeht, hat sie durch Schmuck ersetzt. Dort – die dicke Person meine ich, die eben mit der Fürstin spricht. Sieht sie nicht aus wie in Brillanten gefaßt?« Ich blickte nach der bezeichneten Dame, die in der Tat eine geradezu fabelhafte Kleider- und Diamantenpracht entfaltet hatte. »Auch ihr Gemahl ist, wie gewöhnlich, in der Nähe«, fuhr X mit einem Seitenblicke fort. »Ein höchst bemerkenswerter Mann. Man schätzt ihn bereits auf zwanzig Millionen. Und er kann's noch weiter bringen, wenn sich die Herren Anarchisten nicht ins Mittel legen. Denn er ist ein außergewöhnlich feiner Kopf – eine Art Geschäftsgenie. Aber kein Lotos ohne Stengel. Das heißt, jeder Mensch hat seine besondere Dummheit. So auch er. Er liebt nämlich seine Frau bis zum Exzeß. Beachten Sie nur, wie er dasteht und in ihrem Anblick schwelgt. Wie ein Verzückter!« Ich hatte mich nach der angegebenen Richtung hin gewendet und den Herrn ins Auge gefaßt. Je länger ich ihn betrachtete, desto bekannter kam er mir vor. »Wie haben Sie vorhin die Dame geannt? Baronin Hirtburg? Heißt denn jener Herr nicht Hirsch?« Mein Cicerone lachte laut auf. »Man sieht, daß Sie weiß Gott wo leben. Hirsch hieß er – Hirtburg heißt er. Er hat sich diesen Namen mit dem Baronat erworben – oder sagen wir gekauft. Auch der Taufe war er schon nahe. Aber er würde sich damit um allen Kredit gebracht haben; denn Israel setzt gegenwärtig wieder mehr denn je seinen Stolz darein, dem Wasser auszuweichen.« »Und wissen Sie vielleicht, was mit seinem Vater geschehen ist? Lebt er noch??« »Der alte Seligmann? Haben Sie den gekannt?« »Ganz oberflächlich. Ich bin vor Jahren irgendwo mit ihm zusammengetroffen.« »Seien Sie froh, daß Sie ihn nicht näher kennen gelernt. Ein ganz unmögliches Individuum. Wissen Sie wirklich nicht, wie er geendet hat?« »Nein.« »Dann will ich's Ihnen sagen. Selbst wenn Sie ihn nur einmal gesehen haben, werden Sie begreifen, daß man einen solchen Vater nicht im Hause haben kann. Das hätte sich übrigens in irgend einer Weise arrangieren lassen. Aber der alte Jobber, der selbst einmal ein ganz hübsches Vermögen besessen, konnte das Börsenspiel nicht lassen. Wie oft sein Sohn die Differenzen für ihn gezahlt haben mag, weiß ich nicht. Endlich aber wurde es diesem doch zu viel. Da griff denn der Herr Papa, um seine Leidenschaft befriedigen zu können, zu allerlei seltsamen Ressourcen – zuletzt verlegte er sich gar wieder auf unsaubere Wachergeschäfte, mit welchen er einst seine Laufbahn begonnen hatte, und die ihn schließlich noch mit den Gerichten in Konflikt zu bringen drohten. Wie kompromittierend für das zukünftige freiherrliche Haus! Also mußte er um jeden Preis aus Wien entfernt werden. Man schickte ihn fürs erste in kleine Bäder – dann internierte man ihn in Venedig. Nun denken Sie sich den alten Hirsch in Venedig! Ein Rhinozeros in einem Aquarium! Aber Scherz beiseite. Der alte schwachsinnige Mann, der gleich allen Juden an seiner Familie hing, wie das Eiweiß am Dotter, ist darüber verrückt geworden, ohne daß es die Leute, die ihn in jeder Hinsicht überwachen sollten, gleich bemerkt hätten. Eines schönen Morgens, als er sich seiner Gewohnheit nach am Kinn eigenhändig den Bart abnahm, hat er das Messer um einen Zoll zu tief angesetzt und sich einen ganz kleinen Schnitt am Halse beigebracht. Und dieser Schnitt, sehen Sie, ist der wunde Fleck im Hause Hirtburg. Was sag' ich Fleck! Ein Abgrund ist's, den der Herr Baron gern mit ein paar Millionen ausfüllen möchte, wenn es ginge – denn er hat – auch das ist unbegreiflich! – seinen Vater außerordentlich geliebt. Aber sieh' da: Hirtburg, der Jüngste!« Er deutete mit den Augen nach einem jungen Manne, der eben auf den Baron zuschritt. »Was sagen Sie zu diesem Exemplar? Ist er nicht ganz sein Großvater in nuce? Seit Darwin kennt man die Sache. Ein solcher Sohn könnte mir gestohlen werden. Dafür aber ist die Tochter desto reizender. Geradezu bezaubernd. Woher sie's hat, weiß ich nicht. Eine der wenigen jüdischen Schönheiten, die ich gelten lasse. Kommen Sie, ich werde sie Ihnen zeigen«, setzte er, sich auf den Fußspitzen erhebend, hinzu. »Wenn ich nicht irre, tanzt sie dort eben wieder mit einem jungen Diplomaten, einem Marquis der république française. Der scheint es auf ihre goldene Hand abgesehen zu haben.« Er hatte mich unter dem Arme gefaßt, und wir drängten uns durch den Kreis von Zusehern, der sich um die Tanzenden gebildet. »Sehen Sie dort die hohe, schlanke Gestalt mit den Teerosen auf dem Kleide? Nun, was sagen Sie? Ist das ein Wuchs? Sind das Bewegungen? Die Grazie selbst. Und dieses Profil! Diese Augen – diese Haare –« »In der Tat, ein wunderbares Geschöpf!« » Voilà: die Enkelin von weiland Seligmann Hirsch.« Die Troglodytin »Ja, es ist eine Zeit her, daß ich die Geschichte erlebt,« sagte der Forstmeister Pernett, indem er sich nachdenklich den angegrauten Bart strich, »und doch ergreift mich noch heute die Erinnerung daran ganz eigentümlich. Aber hören Sie: 1. I. Man schrieb das Jahr 65, und ich befand mich als Adjunkt im Dienste des Grafen W .... auf einem seiner Güter in Mähren. Der Revierförster, dem ich zugeteilt wurde, war ein ausgezeichneter Forstmann, aber schon ziemlich bejahrt und überdies mit einem bösen Gichtleiden behaftet, daher fast der ganze eigentliche Dienst auf meinen Schultern lastete. Doch jung und kräftig, meinem Berufe leidenschaftlich ergeben, ließ ich es mich nicht verdrießen, zu leisten, was eben zu leisten war – und manchmal auch noch mehr. Ich kam also, außer bei dienstlichen Gängen nach der im Schlosse befindlichen Forstkanzlei, nur sehr selten aus dem Wald heraus, was ich übrigens gar nicht bedauerte. Denn ich war kein Wirtshausgeher, kein Freund des Kegelschiebens und sonstiger Unterhaltungen, auf welche in der Regel der Sinn junger Leute gerichtet ist. Eines aber entbehrte ich schwer: den Umgang mit angenehmen Frauenzimmern, zu denen ich, offen gestanden, Zeit meines Lebens große Neigung empfunden. Und gerade in dieser Hinsicht sah es im Forsthause sehr traurig aus. Die alten Leute hatten zwar zwei Töchter – ein Sohn war ihnen versagt geblieben –, aber die eine war schon verheiratet, als ich kam, und die andere folgte bald diesem Beispiele, indem sie die Frau eines fürstlichen Schloßgärtners in der Nachbarschaft wurde; ich blieb also in unserem Heim auf den Anblick der wohlbeleibten, schwerfälligen Försterin und einer alternden Magd beschränkt. Im übrigen freilich hatte ich nur allzuoft mit jungen Weibsleuten zu tun, die nicht ganz ungefährlicher Art waren. Die zahlreichen und ausgebreiteten herrschaftlichen Industrien hatten nämlich eine Arbeiterbevölkerung, gewissermaßen ein ländliches Proletariat geschaffen, das die Gegend in weitem Umkreise bewohnte und von der Hand in den Mund lebte; bäuerliche Ansassen gab es nur wenige. Die Weiber und Töchter dieser Leute verdingten sich denn auch als Tagelöhnerinnen bei der Feld- und Forstwirtschaft, und so kam es, daß ich oft eine Schar von Mädchen beim Aussetzen der Kulturen zu verwenden und zu beaufsichtigen hatte; außerdem erschienen sie an bestimmten Tagen im Walde, um Klaubholz zu sammeln. Sie hatten durchaus nichts Plumpes und Ungeschlachtes an sich, vielmehr waren die meisten schlanke, zierliche Gestalten mit wohlgeformten Händen und Füßen, und was man auch gegen die Gesichter einwenden konnte, schöne Augen hatten sie fast alle und wußten davon auch ausgiebigen Gebrauch zu machen. Dabei waren sie träg und nachlässig, naschhaft und diebisch – und auch sonst zu jedem Unfug aufgelegt. Weh' dem, der sich mit einer von ihnen leichtfertig eingelassen hätte; er wäre unrettbar in die Verlotterung mit hineingezogen worden. Wie oft scherzte ich mit dem Wirtschaftsadjunkten, der ein junger Mann von gutem Hause und mancherlei Kenntnissen war, über unser gemeinsames Schicksal, das uns, während wir doch über mehr willfährige Sklavinnen hätten verfügen können als der Großtürke, zu einem trostlosen Zölibat verurteilte und uns obendrein noch zwang, dem verführerischen Völklein gegenüber grimmige und bärbeißige Mienen aufzusetzen, die freilich auch nicht besonders wirksam waren: sie hatten im besten Falle vorwurfsvoll schmachtende – in der Regel aber nur übermütig herausfordernde Blicke und spöttisches Gelächter hinter unserem Rücken zur Folge. Dennoch hielten wir uns wacker, und was mich selbst betraf, so kann ich heute noch sagen, daß ich mich von all den hübschen Teufelinnen vollkommen frei bewahrt habe. Einmal aber war doch die Versuchung auf ganz merkwürdige Art an mich herangetreten. Der Ort, in dessen nächster Nähe sich das Schloß befand, war ein ausgedehnter, von einem Flusse durchströmter Marktflecken, dessen Einwohnerschaft aus ziemlich wohlhabenden Bürgern und Grundbesitzern bestand; auch das Gericht des Bezirkes hatte dort seinen Sitz. Außerhalb des Ortes, in gleicher Linie mit der nach den gräflichen Hütten- und Eisenwerken führenden Chaussee, lief eine langgestreckte Gasse hin, die aus gleichmäßig erbauten und mit kleinen Gärten versehenen Häusern bestand. Es war eine Arbeiterkolonie, die schon ein Vorfahr des Grafen nach englischem Muster ins Leben gerufen, und in welcher Sauberkeit und verhältnismäßiger Wohlstand herrschten, da die Inwohner, zumeist Maschinenschlosser und Modelltischler, gut bezahlte, intelligente Leute waren, deren Mehrzahl bereits anfing, sich mit allerlei sozialistischen Problemen zu beschäftigen. Im Rücken des Ortes selbst hingegen, an den zerklüfteten Ufern eines weitläufigen Baches, hatte eine andere Ansiedelung Platz gegriffen, die sich wüst und unfreundlich genug ausnahm. Denn dort hausten niedrige Löhner und Handlanger, die, mit ihren zahlreichen Familien in schlecht gemauerten Hütten bunt zusammengepfercht, ein von Not und Kümmernis bedrängtes Dasein fristeten. Unter ihnen befand sich auch ein heruntergekommener Mensch, namens Kratochwil. Er hatte einst bessere Tage gesehen und war vor einiger Zeit noch Eigentümer der Kaluppe gewesen, in welcher er jetzt mit seinem Weibe und fünf Kindern eine jämmerliche Räumlichkeit innehatte, ab und zu bei den Hochöfen und Ziegeleien beschäftigt. Da er aber infolge des Branntweintrinkens, dem er ergeben war, auch körperlich immer mehr verfiel, so konnte er kaum mehr zu irgend einer Arbeit verwendet werden und wurde schließlich, rückständiger Miete halber, eines Tages mit den Seinen erbarmungslos vor die Tür gesetzt. Noch gelang es den Leuten, die sich in ihrem Elend zu den unsaubersten Hantierungen herbeiließen, bei dem Abdecker des Ortes in einem notdürftig schützenden Verschlag unterzukriechen; sie hatten sich jedoch kaum dort eingenistet, als auch schon der Flecktyphus unter ihnen ausbrach und das Weib samt zwei Kindern in das Notspital der Gemeinde geschafft werden mußte. Die Kinder starben, die Mutter genas und kehrte zu den Ihren zurück, die nunmehr, da sie ihren Schlupfwinkel sofort hatten verlassen müssen, unter freiem Himmel kampierten. Da es Sommer war, so ging diese Lebensweise mit Zuhilfenahme von Betteln und allerlei Felddiebstählen eine Weile hin, als aber endlich die rauhe Jahreszeit hereinbrach, schienen die Obdachlosen dem völligen Untergange preisgegeben. Es wäre zwar Pflicht der Gemeinde gewesen, für die Leute, welche als Eingeborene nicht ›abgeschoben‹ werden konnten, in irgend einer Weise Sorge zu tragen, und wirklich kam auch die Sache im Rate zur Verhandlung. Da sich jedoch nicht absehen ließ, wie diesem von Gott verlassenen Menschenknäuel Hilfe zu bringen wäre, und es doch nicht anging, eine aus fünf Köpfen bestehende Familie schlankweg aus dem Gemeindesäckel zu ernähren, so kam man zu keinem Beschlusse und ließ einstweilen die Dinge ihren Lauf nehmen. Da fügte es der Zufall, daß die Landplage der wandernden Zigeuner auch wieder einmal über den Ort kam. Man mußte diesen Nomaden eine mehrtägige Lagerung außerhalb des Weichbildes gestatten und stellte ihnen eine versandete Hutweide am linken Ufer des Flusses zur Verfügung, wo auch alsbald eine Reihe löcheriger Zelte aufgeschlagen war. Nach ihrem Abzuge zeigte sich eine geräumige Erdvertiefung, welche die Bewohner eines weitläufigen Zeltes zu besserem Wetterschutz mochten gegraben haben; auch eine Anzahl brüchiger Zeltstangen war zurückgeblieben. Auf diese Überreste einer annähernd menschlichen Behausung stürzten sich die Kratochwil, die das braune Volk die ganze Zeit über mit scheeläugiger Neugierde umlauert hatten, wie Habichte und nahmen sofort davon Besitz. Die Schütte faulen Strohes, die sie samt einigen schlechten Lumpen in der Grube vorfanden, diente ihnen fürs erste zu willkommener Lagerstätte, und nachdem ihr stumpfer Sinn einmal angeregt war, ergab sich das Weitere von selbst. Mit Benutzung der Zeltstangen, mit zusammengerafftem alten Lattenwerk und frischem Tannenreisig wußten sie eine schützende Bedachung herzustellen, unter der sie sich, so gut es anging, häuslich einrichteten. Sie gruben die eine Hälfte des Geviertes noch um einiges tiefer und erlangten dadurch zwei Wohnräume, wo sie Moos und trockenes Laub aufschütteten. Sie sorgten für eine gesicherte Feuerstelle, sie legten eine unterirdische Vorratskammer an, in der sie erbeutete Lebensmittel verwahrten, und da man ihnen gestattet hatte, im Walde Holz zu sammeln, so war auch bald ein ganz stattlicher Vorrat an Brennmaterial in der Nähe des Einganges aufgeschichtet; ja, als der Frühling ins Land zog, versuchten sie sogar auf ihrem Territorium Kartoffeln und andere leicht wuchernde Gemüse zu pflanzen. Mit höhnischer Verwunderung blickte man nach dem seltsamen Anwesen, das sich, von zwei jungen Silberpappeln überragt, eigentlich ganz malerisch ausnahm. Einige Spaßvögel hießen es bereits ›Villa Kratochwil‹; der Wirtschaftsadjunkt aber hatte die Inwohner einmal gesprächsweise die Troglodyten genannt, und diese, wenn auch nicht ganz zutreffende Bezeichnung war ihnen seither im Munde vieler geblieben. Um ihr sonstiges Tun und Treiben kümmerte sich niemand. Die Kinder wuchsen selbstverständlich ohne Schulunterricht in äußerster Verwahrlosung heran. Der ältere Junge, ein blutleerer, lendenlahmer Gesell, schien noch die besten Anlagen zu besitzen, denn er wurde des Herumlungerns müde und verdingte sich als Knecht bei einem Fuhrmann, der allerdings selbst herabgekommen war und nur noch ein paar abgetriebene Mähren im Stall hatte. Die beiden Jüngsten aber, ein Mädchen und ein Knabe, zeigten seit ihrer frühesten Kindheit die schlimmsten Eigenschaften. Nicht allein, daß sie aufs Zudringlichste bettelten, sie stahlen auch wie die Elstern; besonders war das Mädchen in dieser Hinsicht berüchtigt und gefürchtet. Das kleine Ding wußte sich des Abends in die Häuser einzuschleichen, wo sie in irgend einem Versteck die Nacht zubrachte, um am frühen Morgen mit leicht erhaschter Beute zu entweichen. So wurde sie einmal sogar unter dem ehelichen Lager eines Gutsbeamten entdeckt, dingfest gemacht und dem Gerichte überantwortet. Da sie aber noch nicht in dem Alter gesetzlicher Verantwortlichkeit stand, mußte sie wieder frei und der häuslichen Züchtigung anheimgegeben werden. Was es mit der letzteren auf sich hatte, konnte man sich mit Hinblick auf die Eltern vorstellen, welche wohl in ihrer Sucht nach Branntwein wenigstens indirekt die Mitschuld der Anstiftung mochten getragen haben. Endlich aber war die Dirne doch schon mehr als halbwüchsig, als sie im Verein mit ihrem jüngeren Bruder bei Nacht in eine verrammelte Bodenkammer drang und dort allerlei entwendete. Sie wurde also wegen Einbruchsdiebstahls auf ein Jahr ins Zuchthaus gesteckt, während der Bursche mit einer leichten Gefängnisstrafe im Orte selbst davonkam. In dieser Verfassung befand sich die Familie Kratochwil, deren bisherige Schicksale mir bloß vom Hörensagen bekannt waren, während meines ersten Dienstjahres, und auch ich konnte nicht umhin, ihrer freien Siedelung Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich daran vorüberkam, und das war bei meinen Dienstgängen, einer erwünschten Wegkürzung halber, meistens der Fall. Auch drängte sich bei der kleinen Nebenbrücke, die dort über den Fluß führte, stets der Bursche auf, der jeden anbettelte, von dem er möglicherweise noch eine Gabe zu erlangen hoffte. Er wies dabei den widerlich aussehenden Stumpf seiner rechten Hand vor, die er sich, als man ihn einmal zur Feldarbeit zwingen wollte, aus Ungeschick oder, wie behauptet wurde, vorsätzlich mit einer Sichel verstümmelt hatte. Im übrigen jedoch war er ein kräftiger, von Gesundheit strotzender Junge, dessen tadellosen Körperbau man bewundern mußte, wenn er, halb nackt, fischend oder krebsend im Wasser stand. Auch sein Gesicht war bei aller Rohheit nicht unschön, und seine lebhaften, olivengrünen Augen stachen eigentümlich von einer dichten Fülle kupferfarbener Haare ab, die senkrecht über seiner Stirn emporstanden. Zudem hatte er bei aller Frechheit etwas Gutmütiges und Drolliges, so daß man oft nicht umhin konnte, ihm wider bessere Einsicht kleine Münze oder einen Zigarrenstummel zuzuwerfen, an welchem er auch sofort unter tollen Freudensprüngen mit den wunderlichsten Grimassen zu saugen begann. Eines Tages – es war im Mai, der sich nach einem rauhen, fast winterlichen April herrlich anließ – hatte ich wieder in der Forstkanzlei zu tun. Als ich mich der Brücke näherte, gewahrte ich unten, hart an der Uferböschung, eine weibliche Gestalt liegen, die sich im warmen Flußsande träg und behaglich sonnte. Sie war nur mit einem dünnen, farblosen Fähnchen bekleidet, das ihr, vielfach zerschlissen, kaum über die Kniee zu reichen schien. Das verwaschene bunte Kopftuch war in den Nacken hinabgesunken und ließ krauses dunkles Haar sehen; der Blick starrte gedankenlos gen Himmel. Da jetzt meine Schritte auf den Balken erdröhnten, wandte sie mir mechanisch das Haupt zu, unter welches sie beide Arme geschoben hatte, und sah mich mit großen, dunkelgrünen Augen an. Diese Augen und auch sonst eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Strolche brachten mich sofort zur Überzeugung, daß es die Kratochwilsche Tochter sei, die wohl in letzter Zeit aus der Strafanstalt zu den Ihren zurückgekehrt war. Meine Geschäfte nahmen diesmal längere Zeit in Anspruch, so daß etwa zwei Stunden vergangen waren, als ich mich wieder auf den Heimweg machte. Das Mädchen lag noch immer regungslos auf derselben Stelle. Meiner ansichtig geworden, dehnte und reckte sie langsam die Glieder, hob sich gähnend mit halbem Leibe empor und folgte mir eindringlich mit den Augen. Im Forsthause erzählte ich bei Tisch von meiner Begegnung. Der Förster, im Grunde des Herzens ein gutmütiger Mann, aber barsch und oft grausam in Worten, wenn ihm etwas wider den Strich ging, zeigte sich sehr aufgebracht. Er behauptete, das nichtsnutzige Ding würde im Zuchthause gewiß nur noch schlechter geworden sein, und dabei kam er auf die ganze Familie zu sprechen, die ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. ›Dieses Gezücht‹, rief er aus, ›verschändet den ganzen Ort. Es ist ein wahrer Skandal, daß sich die Gemeinde nicht endlich ins Mittel legt!‹ Und da saß er wieder einmal auf seinem Steckenpferde. Unter der Feudalherrschaft emporgekommen, war er ein Feind der autonomen Gemeinde, mit der es des öfteren Grenzstreitigkeiten gab, die auch den Wald berührten. Am meisten aber haßte er den Bürgermeister, weil dieser, ein wohlhabender Grundbesitzer, auch als das Haupt der slawischen Partei galt, die in ihrer natürlichen Mehrzahl nach und nach eine gewisse Machtstellung erlangt hatte. Der Förster jedoch, obgleich selbst von slawischer Abstammung, hielt sich infolge seiner ganzen Erziehung und seines langjährigen dienstlichen Verhältnisses leidenschaftlich zu den Deutschen des Ortes. Mich selbst kümmerte dieser Zwiespalt damals noch wenig, und ich warf ein, daß die Gemeinde den Kratochwils gegenüber sich in einer sehr schwierigen Lage befände. ›Ach was!‹ unterbrach er mich heftig. ›Reden Sie diesem Volk nicht auch noch das Wort! Indolenz ist es, sträfliche Indolenz! Und obendrein ein Verbrechen, die Leute so dicht beisammen in ihrer verpesteten Erdhöhle zu belassen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man die Lumpeneltern nicht zu Paaren treiben und die Kinder irgendwo zu redlichem Erwerb unterbringen könnte.‹ ›Um die Kinder ist es zu schade‹, bemerkte die Försterin. ›Die beiden jüngsten sind mir immer als ganz hübsch aufgefallen; besonders das Mädchen.‹ ›Die kann's noch weit bringen! Aber freilich, was kümmert das die Väter der Gemeinde? Hat doch der Herr Bürgermeister seinen einzigen Sohn aufwachsen lassen wie das liebe Vieh.‹ ›Der Junge soll ja seit jeher schwachsinnig gewesen sein‹, sagte die Frau, immer zum Begütigen bereit. ›Mag sein; aber keineswegs derart, daß ihm ein ordentlicher Unterricht nicht hätte beikommen können. Der Vater war in der Lage gewesen, einen Lehrer zu halten, oder auch zwei, wenn es schon mit dem Knaben in der Schule nicht vorwärts ging. Er dachte wohl, es sei nicht notwendig. Denn trotz seines Geldes und seiner städtischen Kleidung ist und bleibt er ein Bauer, dessen ganze Weisheit darin besteht, das Kalb vor den Pflug zu spannen. Nun, das ist seine Sache. Was jedoch die Kratochwilschen betrifft, so bin ich überzeugt, daß dieses Gesindel über kurz oder lang irgend ein Unheil anrichtet.‹ Beim Abendessen kam der Alte wieder auf dieses Thema und gab infolgedessen zum Schlusse allerlei Schauergeschichten aus seinem Leben zum besten. Er erzählte von einem verzweifelten Kampfe, den er als junger Mann mit Wildschützen bestanden, von gelegten Waldbränden, von verfolgten Verbrechern, die sich in das Revier geflüchtet, und dergleichen mehr. Als wir zu Bette gegangen waren, konnte ich lange nicht einschlafen; dann aber träumte mir allerlei verworrenes und schreckhaftes Zeug, wobei die Troglodytenfamilie am Flusse in allen Gestalten die Hauptrollen spielte. 2. II. Am nächsten Morgen hängte ich mein Gewehr über die Schulter, pfiff meinem Hunde und ging in den Wald. Denn es war einer der Tage, an welchen Klaubholz gesammelt wurde, und da hieß es, ein wachsames Auge haben. Kannten doch die Leute, so diese Vergünstigung genossen, keine Schonung dessen, was, wie sie meinten, eben der freien Natur angehörte. Sie zertraten aufs rücksichtsloseste die jungen Kulturpflanzen, brachen mit ihren Stangen, daran starke Haken befestigt waren, samt den dürren Zweigen auch gesunde nieder und legten nicht selten feine Schlingen ins Buschwerk, auf daß sich Hühner und junge Hasen verfängen. So durchstreifte ich denn jenen Teil des Reviers, der sich mehr gegen die Niederung hinzog; auf dem höher gelegenen, wo Rotwild wechselte, hatte es weniger Gefahr, denn die meisten vermieden in der Regel den beschwerlichen Aufstieg; auch waltete dort seines Amtes der oben wohnende Heger. Es ging diesmal sehr lebhaft zu, da man die erste schöne Zeit benützte, um sich für länger hinaus zu versorgen; es wimmelte nur so von Weibern und halbwüchsigen Kindern. Indessen war die Sonne immer höher gestiegen, und der Forst begann allmählich wieder zu vereinsamen, als ich, bereits an die Heimkehr denkend, die Mutter Kratochwil gewahrte, wie sie eine ziemlich steile Lehne mühsam herunterhumpelte. Das ausgemergelte, hinfällige Weib hatte sich eine ungeheuere Last von Reisig und dürrem Laub auf den Rücken gebürdet; sie keuchte, und der Schweiß rann über ihr knochiges, bläulichrotes Gesicht, während ein paar Schritte hinter ihr die Tochter ganz frei und unbelastet hinabtänzelte, nur die dünne Brechstange gleichsam zum Spiel nach sich schleifend. Seht die Zuchthausprinzessin, dachte ich, indes mir die Alte mit heiserer Stimme einen demütigen Gruß zurief, seht die Troglodytin, sie läßt die Mutter sich zu Tode schleppen, ohne auch nur ein Zweiglein aufzunehmen! Dennoch konnte ich nicht umhin, der kräftig schlanken Gestalt nachzublicken, wie sie jetzt auf ebenem Boden trotz ihrer Lumpen wirklich wie eine Prinzessin einherschritt und sich dabei anmutig in den Hüften wiegte. Sie war ohne Gruß und Seitenblick an mir vorübergegangen; aber bei einer Pfadbiegung angelangt, blieb sie plötzlich stehen und blickte rasch mit einem flüchtigen Lächeln nach mir zurück. Ich ärgerte mich, daß sie nun bemerkt hatte, wie ich ihr nachstaunte, und ging geraden Weges nach Hause, wo ich aber von dieser neuerlichen Begegnung schwieg, um den Förster nicht wieder in Harnisch zu bringen. Tags darauf hatte ich in der Baumschule zu tun, die, dem Waldrande schon ziemlich nahe, in einer anmutigen windgeschützten Schlucht lag. Als ich mich der Umfriedung näherte, sah ich unweit davon das Mädchen auf einem bemoosten Steine sitzen, als erwarte sie jemanden. Sie hatte im Schoße eine Menge von Vergißmeinnichten liegen, die sie am Rande eines hinter ihr vorüberrieselnden Baches gepflückt haben mochte, und auf welche sie jetzt errötend niederblickte. Eine eigentümliche Empfindung durchzuckte mich; aber ich ging, ohne sie anzusehen, an ihr vorüber und trat in die Baumschule. Während ich dort musterte und hantierte, blickte ich unwillkürlich zwischen den Latten durch und gewahrte, wie sie jetzt mit ungeschickten Fingern bemüht war, die kleinen blauen Blumen zum Strauß zu einen. Mir wurde immer seltsamer und peinlicher zu Mut, und um nicht wieder an ihr vorbeizukommen, zwängte ich mich nach der anderen Seite hin durch den an mehreren Stellen brüchig gewordenen Zaun und trachtete das Dickicht zu gewinnen, indem ich in einen schmalen Pfad einbog. Ich war noch nicht lange gegangen, als es in der Nähe raschelte und mein Hund leicht anschlug. Ich dachte, es wäre ein Reh, statt dessen aber brach das Mädchen hervor und huschte, während sie den Strauß fallen ließ, dicht an mir vorbei, sofort jenseits wieder verschwindend. Ich ließ die plump aussehende Gabe liegen und ging meines Weges. Nach einger Zeit erschien sie wieder – und bald darauf ein drittes Mal. Diese zudringliche Verfolgung begann mich zu ärgern; rasch entschlossen, bog ich sofort nach rechts ab und schritt quer durchs Holz auf der kürzesten Linie dem Forsthause zu. Als ich mich der Schwelle näherte, hörte ich in der Entfernung hinter mir ein kurzes, helles Lachen erklingen, wie das einer Spottdrossel. Am nächsten Tage trat sie mich wieder an – und auch an dem nächstfolgenden; sie mußte offenbar irgendwo auf der Lauer liegen, um zu erforschen, welche Richtung ich nahm, wenn ich das Haus verließ, sonst hätte sie nicht stets neben mir her sein können. Als ich am dritten Tage zurückkehrte, sagte der Förster: ›Sie, Pernett, ist Ihnen nicht die junge Kratochwil begegnet? Ich habe die verdammte Dirne heute früh am Hause vorbeischleichen sehen wie eine Katze. Sie treibt sich gewiß im Revier herum.‹ Ich weiß nicht, was mich abhielt, die volle Wahrheit zu sagen, und erwiderte bloß, daß ich das Mädchen allerdings von weitem wahrgenommen. ›Sie hätten sie anrufen und abschaffen sollen. Ich bitte mir aus, daß es das nächste Mal sofort geschieht. Und wenn sie Ihnen keine Folge leistet, so hetzen Sie den Hund auf sie – oder brennen ihr eins hinauf!‹ ›Ja, wenn das nur so ginge!‹ erwiderte ich mit gezwungenem Lachen. ›Leider geht's nicht. Und das weiß auch das Gesindel und nimmt sich daher alles und jedes heraus. Diese Kanaille aber darf um keinen Preis geduldet werden. Drohen Sie nur, daß man den Eltern das Klaubrecht entzieht, das wird schon wirken.‹ Ich fühlte mich während dieser Unterredung um so befangener, als ich mir bewußt war, bei der ersten Frage meines Vorgesetzten errötet zu sein. Aber er hatte recht: der Sache mußte ein Ende gemacht werden. Ich nahm mir also vor, das Mädchen bei der ersten Wiederbegegnung scharf anzulassen. Am nächsten Morgen war trübes, regnerisches Wetter eingefallen, und ich dachte daher, daß sie sich heute wohl nicht zeigen würde; aber es dauerte nicht lange, so sah ich sie im nassen Gestrüpp einer abgeholzten Lehne auftauchen. ›He! du!‹ rief ich sie an. Sie stand still und blickte mir, unter dem triefenden Kopftuche über und über erglühend, entgegen. ›Was streichst du denn da im Wald herum?‹ fuhr ich barsch fort, indem ich auf sie zutrat. Sie schien eine andere Sprache erwartet zu haben, denn ihr Gesicht verfinsterte sich und ihre Augen nahmen einen bösen Ausdruck an. ›Nun,‹ fragte sie mit rauher Stimme, ›darf ich's vielleicht nicht?‹ ›Nein!‹ ›Warum nicht? In den Wald kann jeder gehen.‹ ›Meinst du? Im Revier darf sich niemand aufhalten – und du am wenigsten.‹ ›Wer wird mich hindern?‹ ›Ich.‹ ›Ihr? Geht!‹ Sie sah mich dabei mit zusammengezogenen Brauen verächtlich – und doch mit ungläubiger Zärtlichkeit an. Ich fühlte, wie mir dieser Blick ins Innere drang; dennoch nahm ich eine gleichgültige Miene an. ›Was mich betrifft, so sollt' es mich wenig kümmern, ob du da bist oder nicht; du wirst die Bäume nicht forttragen. Aber der Förster duldet's nicht und hat mir befohlen, dich abzuschaffen.‹ ›Und wie wollt Ihr das anfangen?‹ fragte sie höhnisch. Mein Stop hatte sich mittlerweile zwischen uns beide gestellt und fing jetzt an, sie vorsichtig zu beschnuppern. ›Wollt Ihr mir vielleicht gar mit dem Hund zu Leibe?‹ fuhr sie lachend fort. ›Der würd' Euch nicht gehorchen.‹ Sie hatte bei diesen Worten einen Brocken schwarzen Brotes aus der Tasche gezogen, nach welchem Stop, gefräßig wie alle Jagdhunde, gierig schnappte und dann, nach mehr verlangend, wedelnd zu ihr emporsah. ›Seht Ihr! Er ist klüger, als sein Herr; er nimmt, was man ihm gibt.‹ Ihre Unverschämtheit verdroß und empörte mich jetzt wirklich. ›Weißt du,‹ sagte ich, ›ich werde mich mit dir in kein Hinund Herreden einlassen, und erkläre dir nur, daß ich dich nicht mehr hier treffen will. Gewalt kann ich allerdings nicht anwenden, aber es gibt noch andere Mittel, dir den Kopf zurechtzusetzen. Fürs erste dürfen deine Eltern nicht mehr Holz sammeln, wenn du mir noch einmal in den Weg kommst. Das merk' dir!‹ Damit ließ ich sie, dem Hunde pfeifend, kurzweg im Gestrüpp stehen. Ich empfand deutlich, wie sie mir mit zornig funkelnden Augen nachblickte, und nach einer Weile vernahm ich ein wildes, weithin schallendes Hohngelächter. Aber meine Worte, sowie mein ganzes Benehmen schienen doch die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt zu haben; denn das zudringliche Geschöpf blieb von diesem Tag an dem Walde fern; wenigstens bekam ich es nicht zu Gesicht. Aber seltsam: obgleich ich mit dem Erfolg zufrieden sein mußte und es auch wirklich war, so fehlte mir doch etwas bei meinen Gängen. Es war mir, als könnte ich noch immer nicht daran glauben, daß sie meinem Befehl gefolgt sei, und so oft ich es irgendwo in den Zweigen rascheln hörte, glaubte ich auch ihre Gestalt hervorbrechen zu sehen, gewissermaßen enttäuscht, wenn ich nun in der Tat irgend ein Getier erblickte. Inzwischen war es vollends Sommer geworden und draußen auf den weitgedehnten, sonnenbeglänzten Feldern begann allmählich das Korn zu reifen. Um diese Zeit hatte ich mich einmal in der Frühe zu dem Heger hinauf begeben und mit ihm den oberen Teil des Reviers begangen; als ich mich zum Abstieg anschickte, war es bereits nahe an Mittag und die Hitze, schon am Morgen höchst empfindlich, hatte sich inzwischen bis zum Unerträglichen gesteigert. Aus dem Nadelholz rings herum drang eine betäubende Glut und schien jeden Laut zu ersticken; nicht einmal das Hämmern des Spechtes klang durch die Stille. Ich hatte meinen Rock ausgezogen und lechzte wie mein Hund, der mit heraushängender Zunge dicht hinter mir herschritt. Aber alle Bäche und Wasserrisse waren eingetrocknet, und die kurze Wegstunde, die ich noch bis zum Forsthause zurückzulegen hatte, schien mir gerade Zeit genug, um zu verdursten. Da fiel mir ein, daß ich mich in der Nähe eines Erdbruches befinden müsse, woselbst ich im vorigen Sommer während der größten Dürre eine Quelle angetroffen hatte, die mühselig zwischen Moos und Baumwurzeln hervorsickerte. Ihr spärliches Wassergeriesel sammelte sich in einem kleinen, von Zeit zu Zeit überfließenden Tümpel, wodurch der Ort selbst beständig feucht gehalten und der Wuchs hoher Ulmen begünstigt wurde, die in der Runde kühle, düstere Schatten verbreiteten. Ich trachtete sofort, die kürzeste Richtung zu gewinnen, indem ich mich ohne weiteres durchs Dickicht schlug. Bald empfand ich auch, wie mir ein erquickender Hauch entgegenwehte; jetzt vernahm ich schon deutlich, wie es in der Tiefe rieselte und plätscherte. Noch ein paar Schritte – und unter mir lag der klare, umschattete Tümpel. Aber gleichzeitig benahm es mir den Atem, und ich mußte mich taumelnd am nächsten Ast festhalten. Denn dem kleinen Bassin, an dessen Rand sich weibliche Kleidungsstücke verstreut zeigten, entstieg eben mit blinkendem Leibe das Mädchen. Stolp war vorausgeeilt; sie schrak zusammen und wandte mir das Antlitz zu. Ihre erste Regung war, sich in instinktmäßiger Scham die Hände vor die Augen zu schlagen; sofort aber zuckte es eigentümlich um ihren Mund, und indem sie die erhobenen Arme sinken ließ, nahm sie die bekannte Venusstellung an, die sie nie im Leben vor Augen gehabt. Ich wendete mich ab und floh den Pfad zurück, den ich mir gebrochen. Wie ein Trunkener taumelte ich vorwärts; das Herz schlug mir bis an den Hals hinauf; Hitze und Trockenheit in der Kehle drohten mich zu ersticken, während mich mein Hund, der sich inzwischen satt getrunken, mit noch triefender Schnauze lustig umsprang. Wie ich damals nach Hause gekommen, weiß ich heute nicht mehr; ich kann nur sagen, daß ich das Bild nicht vor den Augen wegbrachte, daß mich marternde Sehnsucht verzehrte, daß ich mit dem Entschlusse kämpfte, das Mädchen aufzusuchen – und was derlei Ausgeburten einer erhitzten Phantasie mehr waren. Vernunft und Ehrgefühl halfen mir freilich über all diese Erschütterungen hinweg; aber mir war und blieb in den nächsten Tagen elend zumut. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen und schritt im Walde wie ein Schatten umher. So mochte fast eine Woche vergangen sein, und ich mußte wieder einmal nach der Baumschule sehen, die ich seither vermieden hatte, obgleich mich eine geheimnisvolle Macht hinzuziehen schien. Schon aus einiger Entfernung konnte ich bemerken, daß das Mädchen, wie damals, in der Nähe des Zaunes saß. Ich fühlte einen heftigen Ruck am ganzen Körper, und unwillkürlich wendete ich mich zur Umkehr. Doch schon schämte ich mich auch dieser unwürdigen Feigheit und beschloß, der Gefahr, wenn es denn wirklich eine sein sollte, mutig zu begegnen; schritt also jetzt an der Sitzenden, ohne ihr einen Blick zu schenken, vorüber. Stop aber hielt an und wedelte ihr wie einer guten Bekannten entgegen. Sie lockte ihn an sich heran. Ich pfiff; doch da sie ihm den Kopf kraute, folgte er nicht gleich. Das ärgerte mich. ›Laß den Hund in Ruhe!‹ herrschte ich ihr zu, mit einer halben Wendung stehen bleibend. ›Kann ich dafür, daß er mich kennt?‹ antwortete sie ruhig, ohne aufzusehen. ›Er weiß sich nicht zu verstellen, wie Ihr.‹ ›Was willst du damit sagen?‹ erwiderte ich barsch. ›Warum tut Ihr, als sähet Ihr mich nicht?‹ ›Sei froh, wenn ich dich nicht sehe‹, sagte ich bedeutungsvoll. ›Ach geht!‹ sagte sie, indem sie sich von dem Stein erhob und langsam auf mich zukam. ›Ich habe ja doch Tag für Tag hier auf Euch gewartet.‹ ›Auf mich? Weshalb?‹ Sie erwiderte nichts, sah mich aber mit einem Blick an, der mir das Blut sieden machte – und mich doch gleichzeitig derart empörte, daß ich mit ungeheuchelter Entrüstung ausrief: ›Du bist ein schamloses Ding! Schau, daß du fortkommst – und das sogleich!‹ Sie blickte mich halb erschreckt, halb ungläubig an, während ein blödes Lächeln um ihre roten, halb geöffneten Lippen spielte. ›Hast du gehört? Hinweg! sag' ich!‹ Damit trat ich, den Arm gebieterisch ausgestreckt, so drohend auf sie zu, daß Stop trotz seiner freundlichen Gesinnung bedenklich zu knurren anfing. Sie bebte zusammen; gleich darauf aber kam ein tückischer, herausfordernder Trotz in ihrem Antlitz zum Vorschein; es war, als wollte sie sich zur Wehr setzen. Dann aber nahmen ihre Züge plötzlich den Ausdruck vollständiger Gleichgültigkeit an. ›Nun ja; tut nicht so böse und schreit nicht. Ich gehe schon. Aber schenkt mir wenigstens etwas. Ich habe Hunger. Und seht, das Kleid geht schon ganz in Fetzen – auch habe ich keine Schuhe –‹ ›Du brauchst Schuhe – du Strauchdiebin!‹ rief ich hart. Sie zuckte wieder zusammen; ihre Augen waren ganz dunkel geworden und blitzten vor Wut und Haß. ›Warum heißt Ihr mich so?‹ rief sie mit geballten Fäusten. ›Euch habe ich nichts gestohlen.‹ Dann ließ sie allmählich die Arme sinken und sagte vorwurfsvoll: ›Ihr solltet mich nicht so nennen – gerade Ihr nicht.‹ Ich selbst hatte das Wort bereut, kaum daß ich es ausgestoßen. ›Warum läßt du's auch darauf ankommen‹, entgegnete ich milder. ›Und wenn du Hunger hast, warum arbeitest du nicht?‹ ›Das geht nicht‹, erwiderte sie dumpf. ›Weshalb nicht?‹ ›Es nimmt mich niemand.‹ ›Das ist nicht wahr. Hast du's denn schon versucht?‹ Sie schüttelte das Haupt. ›So tu's!‹ Sie blickte nachdenklich vor sich hin. ›Schenkt mir lieber etwas‹, sagte sie nach einer Weile. ›Nein, ich schenke dir nichts! Das hieße nur deine Trägheit, deine schlimmen Neigungen unterstützen. Oder doch –‹ fuhr ich fort, von einem plötzlichen Gedanken überkommen ›ja, ich will dir so viel schenken, daß du eine Zeitlang nicht zu hungern brauchst und dir ein paar Ellen Zeug an den Leib schaffen kannst; aber auch nur unter der einen Bedingung, daß du dich nach Arbeit umsiehst.‹ Sie schwieg und schien einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. ›Es nimmt mich niemand‹, wiederholte sie endlich. ›Ihr wißt doch – –‹ ›Ich weiß. Aber gerade deswegen wird und muß man dich nehmen; denn es ist jedermanns Pflicht, dir zu einem ordentlichen Leben zu verhelfen. Im Wirtschaftshofe findest du ganz gewiß Aufnahme. Wenn du willst, werde ich mit dem Adjunkten sprechen.‹ ›Nehmt Ihr mich lieber‹, sagte sie, rasch aufblickend. ›Ihr könnt mich ja auch im Walde brauchen.‹ ›Nein,‹ entgegnete ich verwirrt, ›nein, dazu ist es jetzt schon zu spät; die Kulturen sind ausgesetzt, und was ich dir sonst noch zu tun geben könnte, würde nicht weit reichen. Aber bei der Wirtschaft geht es erst jetzt so recht an. In der nächsten Woche beginnt die zweite Rübenhacke, dann die Heumahd, späterhin ist der Schnitt – und endlich die Rübenernte. So hättest du Beschäftigung und Verdienst bis tief in den Herbst hinein. Willst du?‹ Ich sah, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte und wie verloren vor sich hinstarrte. Ich trat ihr näher und zog die Börse. ›Schau,‹ sagte ich in mildem Tone, ›du bist ein hübsches Mädchen; warum willst du nicht auch brav und rechtschaffen sein? Wie heißt du denn eigentlich?‹ ›Maruschka‹, sagte sie still. ›Also, Maruschka, warum willst du nicht, wie all die anderen, dein tägliches Brot erwerben – für dich – und auch für deine Eltern, die nun einmal zur Arbeit nicht mehr taugen? Dein Beispiel würde den Bruder aneifern – und ihr könntet alle miteinander noch ehrsame Leute werden, statt in Elend und Schande zu verkommen. Denkst du denn gar nicht an deine Zukunft?‹ Ihre breiten, kräftigen Nasenflügel hatten während meiner Worte leise zu zittern begonnen; die Mundwinkel zogen sich schmerzlich herab – und jetzt brach sie in ein unaufhaltsames, lautes Weinen aus. ›Siehst du?‹ fuhr ich fort, indem ich mit der Hand leicht über ihr sprödes Haar fuhr. ›Nimm dir's zu Herzen. Heute ist Freitag – übermorgen, Sonntags, in aller Frühe begib dich nach dem Hofe und melde dich zur Arbeit. Willst du?‹ ›Ich will‹, sagte sie schluchzend. ›Nun also. Da nimm! Es ist so viel, als ich eben kann. Aber ich baue auf dein Versprechen. Und daß du mir nicht mehr in den Wald kommst! Hörst du?‹ Sie schüttelte unter Tränen das Haupt, zum Zeichen, daß sie nicht wiederkommen wolle. ›Und nun leb' wohl‹, sagte ich. Sie hielt die Gabe in der fest geschlossenen Hand. Stumm, gehorsam, noch immer leise weinend, wandte sie sich und ging. Mit freier, gehobener Brust atmete ich auf. Alle unlauteren, häßlichen Empfindungen waren in mir wie hinweggespült; ich hatte nur das frohe Gefühl, wohl gehandelt zu haben. Ich erstieg die Anhöhe und wartete, bis Maruschka aus dem Walde in die sonnige Ebene hinaustrat. Sie blickte nicht um, sondern schritt mit gesenktem Haupte zwischen den leuchtenden Kornfeldern dahin. Endlich trocknete sie sich die Augen und begann dann langsam und vorsichtig die Banknote zu entfalten, die ich ihr in die Hand gedrückt. 3. III. Gleich am Nachmittage suchte ich den Adjunkten auf. Er hörte mich einigermaßen verwundert an und fragte lächelnd, wie ich dazu käme, den Fürsprecher der jungen Troglodytin zu machen. Darauf war ich vorbereitet und konnte daher ohne jede Verlegenheit auseinandersetzen, daß sich das Mädchen zu großem Verdrusse der Försters tagelang im Revier umhergetrieben, daß ich ihr endlich ins Gewissen geredet und sie bestimmt habe, sich Sonntags im Wirtschaftshofe zu stellen und um Beschäftigung zu bitten. Und am Ende seien wir ja infolge unseres Amtes berufen, uns der Leute anzunehmen, da man sich von seiten der Ortsobrigkeit gar nicht um sie kümmere. ›Gewiß,‹ antwortete er, ›und an mir soll's nicht liegen, wenn das verlotterte Ding etwa klagen sollte, daß man es rettungslos verkommen lasse. Auch kann ich ja eben jetzt nicht genug rührige Hände finden. Aber ich gestehe Ihnen offen, daß ich zu ihrem guten Willen kein rechtes Vertrauen zu fassen vermag. Und selbst wenn sie die redlichste Absicht hätte, so wird sie diese ihrer Natur gegenüber nicht durchsetzen können – gerade so wenig, wie ihre Eltern, die ja auch hin und wieder derlei Anwandlungen gehabt haben. Es sind nun einmal degenerierende Menschen, denen die Arbeitsscheu im Blute steckt. Ein paar Tage, höchstens eine Woche lang greifen sie zu; dann lassen sie plötzlich alles liegen und stehen und strecken sich wieder auf die faule Haut. Das scheint, wie gesagt, auf rein physischen Gesetzen zu beruhen, die selbst dem äußeren Zwange spotten. Wie es mit dem Bruder in dieser Hinsicht abgelaufen ist, wissen Sie ja; ich fürchte, die Schwester wird einen ähnlichen Ausgang nehmen. Aber wie gesagt, wenn sie kommt, ist sie angenommen. Einige von den Weibern und Mädchen, die im Grunde nicht um gar vieles besser sind, werden wohl die Nase rümpfen, wenn sie mit der abgestraften Diebin aufs Feld hinaus sollen, aber das gibt sich in wenigen Tagen und braucht uns nicht zu kümmern.‹ Montags, in aller Frühe, begann die Rübenhacke, und ich suchte einen erhöhten Punkt am Waldrande auf, um der Arbeit von weitem zuzusehen. Während der Nacht hatte es heftig gewittert; nun war die Luft durchsichtig klar, und ein kühler Wind strich von Norden her über die Felder, die sich zu beiden Seiten der Landstraße weithin ausdehnten. Wie Smaragd stachen die Rübenpflanzungen von dem gelblich wogenden Getreide ab, und die bunten Kopftücher der Arbeiterinnen, die sehr zahlreich in tief gebückter Haltung auf dem grünen Plan beschäftigt waren, flatterten wie seltsame große Blumen. Ich bemühte mich, Maruschka unter der zerstreuten Schar herauszufinden, aber es wollte mir nicht gelingen, und schon begann ich zu zweifeln, daß sie ihren Vorsatz ausgeführt – als ich sie plötzlich auftauchen sah, nunmehr deutlich erkennbar an den farblos dunklen Lumpen, die sie noch immer am Leibe trug; nur ein neues, feuerfarbenes Kopftuch hatte sie sich bis jetzt mit meinem Gelde zugelegt. Sie war also wirklich gekommen – sie arbeitete! Zufrieden blickte ich noch eine Weile auf das bunte Bild, dann ging ich meinen Geschäften nach. Gegen Abend fühlte ich mich plötzlich unwohl. Ich mußte mich irgendwie erkältet haben, und als ich zu Bett ging, stellte sich Schüttelfrost samt einer starken Halsentzündung ein, die mich einige Tage im Hause fest hielt; währenddessen aber war die Arbeit auf den Rübenfeldern zu Ende geführt worden. Hingegen folgte schon in der nächsten Zeit die Heuernte, und eine große, an den Ort grenzende Wiese wurde zuerst in Angriff genommen. Da ich an diesem Tage zufälligerweise im Schlosse zu tun hatte, wo eben zwei junge Grafen zur Bürsch angekommen waren, so konnte ich bei meiner Rückkehr das rüstige Treiben in der Nähe betrachten und trat endlich selbst hinein. Obgleich die Sonne noch nicht sehr hoch stand, herrschte doch schon die ganze drückende Schwüle des Juli. Der Schweiß der Arbeit floß in Strömen; dennoch war es eine Freude, zu sehen, wie die Leute, Männer und Weiber vereint, lustig die Sensen schwangen und die langhalmigen Gräser, in welchen sie bis an die Hüften standen, vor sich niederlegten. Auf dem bereits abgemähten Teil der Wiese wurde in großen Kreisen eine neue Maschine herumgefahren, welche bestimmt war, die duftigen Schwaden zu wenden und leicht auszubreiten. Dort konnte man auch den Adjunkten gewahren, der eifrig hin und her schritt, seinen Feldstock schwingend. Als er meiner ansichtig wurde, rief er schon von weitem: ›Grüß Gott, Herr Waldkollege! Ihr kommt wohl, um nach meiner Schutzbefohlenen zu sehen? Aber die werdet Ihr hier nicht finden. Was ich vorhergesagt, ist eingetroffen. Zwei Tage lang hat sie bei den Rüben gearbeitet, dann verschwand sie. Wenn aber dennoch Euer Herz nach ihr verlangt,‹ fuhr er etwas ironisch fort, ›so schaut nur dorthin!‹ Er wies dabei mit seinem Stocke nach einem hohen Mühlendamm, der sich am Rande der Wiese hinzog. Und wirklich: dort oben saß Maruschka am Fuße eines morschen Weidenstrunkes, der einzelne junge Triebe in der Sonne glänzen ließ. Sie selbst aber trug noch ihre alte Kleidung, und so zeichnete sich die ganze Gestalt finster und unerfreulich gegen den lichten Horizont und seine weiß schimmernden Wolken ab. Das feuerfarbene Tuch hatte sie auf den Knieen liegen, in ihrem Haar funkelte ein Büschel roter Mohnblumen. So blickte sie, die Arme aufgestemmt und das Kinn mit den Händen stützend, auf die emsige Schar zu ihren Füßen nieder. ›Es ist freilich bequemer,‹ fuhr der Adjunkt fort, ›sich die Sache aus der Vogelperspektive mit anzusehen. Dennoch begreift unsereiner gar nicht, wie der Dirne der Tag hingehen mag; das ewige Faulenzen und Vagieren muß doch auch seine Pein haben. Und was sie nur dabei denken mag? Denkt sie überhaupt an oder über etwas? Wer vermag sich in die Seele eines solchen Wesens zu versetzen? Ich habe mich schon öfter gefragt, was sie denn eigentlich abhalten mag, die Pfade des am nächsten liegenden und dabei bequemsten Lasters zu beschreiten; des Erfolges wäre sie ja sicher. Denn trotz ihrer Verwahrlosung, ihrer breiten Backenknochen und der etwas platten Nase ist sie doch eine Schönheit, eine echt slawische Schönheit. Hier im Orte könnte freilich ihr Weizen nicht blühen; aber sie brauchte ja nur eine Fußreise nach Brünn anzutreten, dort gibt es Seelenverkäuferinnen genug, die sie mit offenen Armen empfangen würden. Es kann also doch nur wieder die Macht der Trägheit sein, was sie an das gewohnte heimatliche Elend festbannt. Merkwürdig ist es übrigens, daß sich hier nicht wenigstens irgend ein verkommener Bursche an sie macht. Ich kann zwar für ihre Tugend nicht einstehen, aber gewiß ist, daß ich sie niemals mit irgend etwas Männlichem habe verkehren sehen; sie treibt sich immer mutterseelenallein umher. Wäre sie überhaupt fähig, zu lieben? Ja, das sind lauter Probleme, lieber Freund, und wenn man sich so in der Lage befände, wäre es ganz interessant, sie in andere Verhältnisse zu versetzen und zu beobachten, was dabei herauskäme, welche ungeahnten Eigenschaften sie vielleicht entwickeln würde – – Aber Teufel, was treibt denn die Maschine!?‹ rief er, plötzlich abbrechend. Diese schien ins Stocken geraten zu sein, und besorgt eilte er auf sie zu. Ich winkte ihm mit der Hand zum Abschied und ging. Seine Worte hatten in mir einen Sturm heraufbeschworen, der alles gewaltsam Unterdrückte und vergessen Schlummernde wach rüttelte. Neuerdings tobte mein Blut und erzeugte die tollsten, ausschweifendsten Gedanken. Aber es gelang mir doch bald, wieder über mich selbst Herr zu werden – und um so mehr zu bleiben, als ich ja Maruschka nicht mehr sah. Dem Walde blieb sie fern, und ich selbst, um nicht an ihrem Heim vorüberkommen zu müssen, bequemte mich stets zu einem längeren Umweg durch den oberen Teil des Ortes. In der Eile hatte ich einmal den früher gewohnten Pfad eingeschlagen, und da stand sie gerade auf der Brücke. Sie hielt sich tief über das Geländer gebeugt und blickte in das Wasser hinunter. Vielleicht hatte sie mich kommen sehen und sich infolgedessen abgewendet; mir aber fiel auf, daß sie besser und sorgfältiger als sonst gekleidet erschien, und zwar in helle Farben; um den bräunlichen Hals trug sie eine dreifache Schnur bunter Glasperlen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie zu dem allen gekommen sein möchte. So vergingen mehrere Wochen, und die Jagdzeit rückte heran. Die Herrschaft war inzwischen vollzählig eingetroffen; auch zahlreiche Gäste erschienen. Da gab es denn gleich zum Anfang ein lustiges Geknalle auf den Stoppelfeldern, das den Hühnern und Hasen galt; nunmehr aber sollte im Walde der erste Trieb auf Rehe stattfinden. Ich mußte mich also tags vorher zu dem Heger hinaufbegeben, um mit ihm das Nötige zu verabreden, fand ihn aber nicht zu Haufe. Sein junges Weib – er hatte, bereits ziemlich hoch betagt, eine zweite Ehe geschlossen – säugte eben auf der Schwelle ihr Kind und meinte, der Mann müsse noch in der Nähe sein, denn er wäre erst vor kurzem weggegangen. Sie bezeichnete mir die Richtung, die er mutmaßlich eingeschlagen, und so betrat ich den angegebenen Pfad, der in das ernste Düster hoher Tannen hineinführte. Eine Zeitlang blieb er eben, dann hob er sich, um plötzlich in eine muldenförmige Vertiefung abzufallen, die, von jungen Lärchen- und Fichtenschößlingen bestanden, im vollen Lichte der klaren Herbstsonne lag. Ich hielt einen Augenblick still, um zu sehen, ob sich nicht der Heger dort unten befinde – da gewahrte ich ein zärtliches Pärchen, das in trauter Umschlingung zwischen dem niederen Buschwerk ruhte. Die Überraschten – denn auch sie erblickten mich jetzt – fuhren auseinander und verbargen, indem sie sich rasch umwälzten, instinktmäßig die Gesichter im Grase. Aber ich hatte sie bereits erkannt: es waren Maruschka – und der Sohn des Bürgermeisters, ein bartloser, noch nicht zwanzigjähriger Bursche, der eigentlich hübsch zu nennen gewesen wäre, wenn nicht ein widerlicher Zug von Geistesschwäche und kindischer Weichheit sein Antlitz entstellt hätte. Ich kehrte natürlich sofort um und schritt den Pfad wieder zurück. Aber es dauerte nicht lange, so kam mir jemand eilig nachgekeucht. Es war der Junge, ohne Kopfbedeckung, den Rock nur so um die Schultern geworfen. ›Herr Adjunkt! Herr Adjunkt!‹ rief er noch aus der Entfernung mit flehender Stimme. ›Was soll's?‹ fragte ich, indem ich anhielt. ›Ach, Herr Adjunkt,‹ stammelte er, sich mühsam des ungewohnten deutschen Idioms bedienend, ›verraten Sie nichts! Sagen Sie niemandem, daß Sie mich hier oben mit der – mit der Maruschka gesehen haben.‹ ›Was kümmert das mich? Bin ich ein altes Weib?‹ versetzte ich barsch in seiner Muttersprache. ›Ach, es wäre schrecklich, wenn man's erführe‹, fuhr er weinerlich fort. ›Mein Vater – und auch die Mutter wäre – –‹ Er machte Gebärden des Außersichseins. ›Das glaub' ich gern‹, bekräftigte ich. ›Aber kommt ihr denn oft hier oben zusammen?‹ fuhr ich unwillkürlich fort und schämte mich vor mir selbst, daß ich bei dieser Frage ein zuckendes Weh am Herzen verspürte. ›I freilich‹, grinste der Bursche, und sein Mund zog sich dabei bis zu den Ohren. ›Alle Tage.‹ ›An derselben Stelle?‹ ›Einmal da, einmal dort.‹ ›Und wie könnt ihr dann glauben, daß euch niemand gewahr werden wird?‹ ›O, da herauf kommt ja kein Mensch. Höchstens Leute aus dem fürstlichen Revier herüber, und die kennen uns nicht.‹ ›Aber der Heger? Der müßte euch doch schon getroffen haben?‹ ›O, der Pan Heger,‹ lachte der Junge wieder, ›der tut uns nichts. Der hält den Mund. Dem hab' ich –‹ er machte eine bezeichnende Pantomime, daß er ihm Geld in die Hand gedrückt. Und das bestärkte mich wieder in der üblen Meinung, die ich, sowie der Förster, von dem Manne hatte. Im Dienste zwar erschien er sehr brauchbar; er besaß Umsicht, Mut und Energie, seine sonstigen Eigenschaften aber flößten kein Zutrauen ein. Er trank gern und hatte schwere Familiensorgen auf dem Halse, da ihm noch drei Kinder aus erster Ehe anhingen. Niemals kam er mit seinem Gehalt aus, und der Graf, bei dem er eine Zeitlang in Privatdiensten gestanden und welcher für ihn eine besondere Vorliebe zeigte, mußte ihn fortwährend unterstützen. Ich ärgerte mich. ›Auch Ihnen werd' ich mich schon dankbar erweisen‹, fuhr der Bursche mit unterwürfiger Zutraulichkeit fort. ›Was untersteht Ihr Euch!‹ brauste ich auf. ›Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Was mich betrifft, könnt Ihr also vollständig beruhigt sein. Ich sag' Euch das, damit, wenn die Sache heute oder morgen doch ruchbar wird, es nicht etwa heiße, ich hätte sie zutage gebracht‹. Damit ließ ich ihn stehen. Den Heger traf ich nunmehr zu Hause. Es kam mich an, ihn zur Rede zu stellen; aber die ganze Sache war mir so widerlich, daß ich sie nicht noch einmal berühren wollte. Ich erteilte also bloß meine Befehle für die Jagd und ging dann meiner Wege. 4. IV. Der Förster begab sich nur höchst selten in den Marktflecken; sein Leiden und die damit verbundene Griesgrämigkeit hinderten ihn daran. Mußte es aber doch hin und wieder aus zwingenden Gründen geschehen, so blieb er auch meistens gleich bis tief in die Nacht hinein unten hängen. Denn er pflegte alsdann das Honoratioren-Wirtshaus aufzusuchen, wo der seltene Gast mit großer Zuvorkommenheit empfangen wurde; das gute böhmische Bier und eine Tarockpartie taten das übrige, um den brummigen Alten auftauen zu lassen, der sich, einmal in Fluß gekommen, als sehr gemütlicher und lustiger Gesellschafter erwies. Das war auch in dieser Zeit einmal der Fall gewesen. Ich saß noch mit der Försterin, die ihn stets mit einiger Ängstlichkeit erwartete, beim Lampenschein am Tische, als er nach Hause kam. Er sah sehr heiter aus, und während er sich's bequem machte, sagte er: ›Wißt ihr das Neuste? Der ganze Ort ist voll davon. Der Sohn des Bürgermeisters hat eine Liebschaft mit der jungen Kratochwil.‹ ›Was du nicht sagst!‹ rief die Försterin verwundert aus. Ich aber wußte es ja, und zuckte daher nur die Achseln. ›Eine schöne Bescherung für den Herrn Papa‹, fuhr der Alte fort. ›Nun kann er leicht fluchen und wettern und dabei schwören, er wolle die ganze Familie ins Zuchthaus bringen. Daran hätte er früher denken sollen, jetzt ist es zu spät.‹ ›Nun, es wird ja nicht so arg sein‹, meinte die Frau. ›Arg ist es, sehr arg. Der schwachköpfige Lali, der schon als Bub' immer hinter den Weibsbildern her war und von ihnen beständig zum Narren gehalten wurde, ist endlich vor die rechte Schmiede gekommen. Das nichtsnutzige Mensch hat ihn natürlich gleich mit offenen Armen empfangen. Und nun er den Braten geschmeckt, heult und flennt er und droht, er werde sich umbringen, wenn man ihm die Maruschka nimmt.‹ ›Jesus Maria! Der Schlingel!‹ stieß die Försterin halblaut hervor, indem sie die Hände faltete. ›Tun wird er's freilich nicht, aber ihre liebe Not werden die Eltern mit ihm haben; der verzogene Bursch war ja seit jeher gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Jetzt lassen sie ihn freilich nicht mehr allein über die Straße, sonst aber achteten sie, trotz aller Affenliebe für den einzigen, nicht darauf, daß der Tagdieb unter dem Vorwande, nach den Feldern zu sehen, beständig vom Hause fern war. Man hätte sonst früher dahinter kommen müssen. Merkwürdig ist es überhaupt, daß auch sonst niemand darauf verfiel, obgleich man sich allgemein wunderte, daß die Maruschka ganz schmuck und sauber einherging und ihr Vater aus dem Rausch gar nicht mehr herauskam. Aber wissen Sie, Pernett,‹ fuhr der Förster fort, indem er mich streng anblickte, ›wissen Sie, daß wir eigentlich in die Geschichte mit verwickelt sind? Denn raten Sie einmal, wo das saubere Liebespaar seine Zusammenkünfte gehalten? In unserem Revier – oben beim Heger, der ihnen den Unterschlupf im Walde verstattet. Wahrscheinlich hatte ihm der Junge eine Zeitlang Geld zugesteckt, schließlich aber mochte es dem alten Gauner vorteilhafter geschienen haben, das Geheimnis um eine runde Summe zu verraten. Miserabler Lump! Aber da es nun einmal geschehen ist, habe ich im Grunde doch meine Freude daran.‹ Wir waren noch nicht lange zur Ruhe gegangen, als plötzlich die Hunde in ein wütendes Gebell ausbrachen und die Hausklingel mehrmals hintereinander hastig gezogen wurde. Da ich noch nicht schlief, so war ich bald bei meinem Stubenfenster, das dem Tore zunächst lag, und blickte, einen Flügel öffnend, hinaus. Draußen im Dunkel standen zwei Männer. Es waren Arbeiter, die bei einem Neubau außerhalb des Ortes verwendet wurden und, wie sie sagten, in einem offenen Schuppen genächtigt hatten. Von dort aus hätten sie einen starken Feuerschein bemerkt, der aus dem oberen Teil des Waldes gegen den Himmel aufstieg. Sie wären gekommen, uns davon zu benachrichtigen und sich im Falle der Not zur Verfügung zu stellen. Kaum hatte der Förster, im Bette halb aufgerichtet, diese Kunde vernommen, als er auch schon mit einem Satze auf dem Boden stand. ›Ein Waldbrand?‹ schrie er, indem er mit ungewohnter Schnelligkeit in seine Kleider fuhr. ›Ein Waldbrand? Aber wie ist denn das möglich?‹ setzte er, sich besinnend, hinzu. ›Bei diesem feuchten Nebelwetter? Auch war die Nacht ganz windstill, als ich heimkehrte.‹ ›Das ist sie noch‹, entgegnete ich, neuerdings hinausblickend. ›Meiner Meinung nach könnte höchstens das Hegerhaus brennen.‹ ›Sie haben recht; so wird es sein. Und dann hat auch die junge Kratochwil das Feuer gelegt, um sich an dem Manne zu rächen.‹ Mich selbst hatte dieser Gedanke sofort durchzuckt. ›Eilen Sie nur gleich hinauf‹, fuhr der Förster fort, ›und sehen Sie nach. Die Männer können Sie zur Vorsorge mitnehmen; ich folge Ihnen, sobald ich mich wärmer angekleidet habe.‹ ›Ich denke, Sie können sich's ganz ersparen‹, sagte ich, mich rasch fertig machend. ›Es kann keine besondere Gefahr dabei sein; das kleine Haus steht ja auf einer ausgedehnten Lichtung. Sie mögen übrigens in Bereitschaft bleiben, und wenn es not tut, sende ich nach Ihnen.‹ Dies leuchtete auch der Försterin ein, die schon die hohen Filzstiefel des Alten hervorgesucht hatte, und dieser stimmte zu, während ich mit den Männern abging. Wir hatten zwei Laternen mitgenommen und schlugen bei Nacht und Nebel gleich den kürzesten, wenn auch beschwerlichsten Weg ein. Es dauerte nicht lange, so verspürten wir bereits leichten Brandgeruch, der immer eindringlicher wurde, und als wir endlich auf die Lichtung hinaustraten, schimmerte uns die rötliche Glut verglimmender Balken, die um das Haus herumlagen, durch die Dunkelheit entgegen. Der Brand war also schon erloschen und keine weitere Gefahr mehr zu besorgen; auch der Schaden erwies sich als nicht sehr bedeutend. Bloß der Dachstuhl war herabgebrannt; die Mauern standen unversehrt; selbst ein kleiner, ganz in der Nähe befindlicher hölzerner Stall war von den Flammen verschont geblieben. Ich fragte die Hegerleute, welche eben beschäftigt waren, einige ins Freie geschaffte Habseligkeiten wieder einzuräumen, auf welche Art das Feuer ausgebrochen sei? Die Frau erwiderte darauf hastig und einigermaßen verwirrt, sie könne nur glauben, daß es böse Menschen gelegt hätten. Es gäbe einige Wilddiebe, die ihrem Manne schon längst Rache geschworen; auch wäre es immerhin möglich – sie blieb plötzlich in ihrer Rede stecken, da ihr der Heger, wie ich bemerkte, einen grimmigen Blick zuwarf. Die Erörterung war ihm offenbar unangenehm, und er sagte jetzt mit einem gewissen Trotz: ›Wir können niemanden anklagen. Die Oktobernächte sind bereits empfindlich kalt, und da haben wir, der Kinder wegen, noch spät am Abend geheizt. Der Ofen aber ist alt und schadhaft – und der trägt wohl die Schuld an dem Brande. Übrigens war der Schrecken, den wir ausgestanden, das Ärgste; alles andere ist kaum der Rede wert. Dachsparren und Schindeln waren ohnehin schon morsch und verwittert, und hätten bald durch neue ersetzt werden müssen.‹ Diese Erklärung, sowie das ganze Benehmen der Leute erschien hinreichend, Maruschka in meinen Augen des Frevels zu entlasten, den ich ihr zugemutet; der Förster jedoch hielt bei meiner Rückkehr mit der ihm eigenen Verbissenheit an seinem Argwohn fest und meinte, der Heger habe wohl seine guten Gründe, die Schuld auf den Ofen zu schieben, damit die Rolle, welche er bei dem Liebeshandel gespielt, nicht weiter zur Sprache käme. Aber nicht bloß der Alte war überzeugt, daß das Mädchen den Brand gelegt: die Kunde verbreitete sich im Orte selbst wie ein Lauffeuer und wurde sofort zur unzweifelhaften Tatsache. Man sprach von nichts anderem und fragte sich entrüstet, wie es denn komme, daß die Verbrecherin noch immer frei und unbehelligt umhergehe. Infolgedessen fand sich auch das Gericht veranlaßt, von der Sache Akt zu nehmen und Maruschka einem strengen Verhöre zu unterziehen. Da diese aber ihre Schuld auf das entschiedenste in Abrede stellte und auch nicht der Schatten eines wirklichen Beweises gegen sie vorgebracht werden konnte, so mußte der Gerichtsleiter, der diesen Ausgang vorhergesehen, alles weitere auf sich beruhen lassen, zeigte sich aber, um die Gemüter zu beruhigen, gerne bereit, den Antrag zu unterstützen, den der Bürgermeister, nunmehr durch die Umstände begünstigt, an die Statthalterei zu richten fest entschlossen war, nämlich: die bereits wegen Einbruchs abgestrafte Marie Kratochwil, welche, in unverbesserlicher Arbeitsscheu verharrend, der öffentlichen Sittlichkeit sowohl, als auch der allgemeinen Sicherheit gefährlich erscheine, möge zur Abgabe in eine Korrektionsanstalt bestimmt werden. Und da nun der Ortsvorstand begreiflicherweise mit vollen Segeln ins Zeug ging, sich nach der Landeshauptstadt begab, um dort persönlich alle Hebel in Bewegung zu setzen, so langte auch bald der Bescheid herab, daß das Mädchen zu einjähriger Zwangsarbeit einzuliefern sei. Maruschka, bis dahin in Gewahrsam gehalten, wurde also eines Tages, ohne daß ich sie mehr zu Gesicht bekommen hätte, unter Gendarmeriebegleitung zur Bahn gebracht und nach Brünn befördert. Die Frau des Bürgermeisters hatte sich inzwischen mit ihrem Sohne, der, nachdem er sich eine Zeitlang wie ein Wahnsinniger gebärdet, in apathische Schwermut versunken war, zu entfernt lebenden Verwandten begeben, hoffend, daß der Wechsel des Ortes und der Umgebung seinen heilsamen Einfluß auf den Gemütszustand des Burschen nicht verfehlen würde. Dieses Mittel schien aber nicht angeschlagen zu haben; denn man wunderte sich bei seiner Rückkehr, wie schlecht und verfallen er aussah, und wollte seitdem bemerken, daß er ein in sich gekehrtes, heimtückisches Lungerleben führe. Bald hieß es auch, er habe mit dem Bruder der Maruschka Freundschaft geschlossen, treibe sich in dessen Begleitung an entlegenen Orten umher, und beide seien schon des öfteren in einem verrufenen Wirtshause nächst der Landstraße gesehen worden. Ja man behauptete sogar, daß er bei einbrechender Dunkelheit die Familie in ihrer Höhle aufsuche, sie mit Branntwein regaliere und mittrinkend schwöre: er und Maruschka würden doch noch ein Paar werden. Zwar stehe ihm im Frühling die Rekrutierung bevor, aber es wäre ihm, trotz der Absicht seines Vaters, ihn loszukaufen, ganz recht, ein Paar Jahre beim Militär zu dienen. Wenn er dann wieder zurückkehre, sei er majorenn und niemand mehr könne ihm etwas befehlen oder verbieten, selbst seine Eltern nicht, von denen er übrigens glaube, daß sie nicht allzulange am Leben bleiben dürften. So wenigstens erzählte man sich; ich aber gestehe, daß ich stets eine eigentümliche Empfindung hatte, wenn mir der Bursche hin und wieder begegnete, bleich, hohlwangig und mit blöden Augen vor sich hin wie ins Leere stierend. 5. V. Das Jahr 66 war herangekommen, und sein Sommer brachte Sorge, Verwirrung und tiefes Leid. Heute sind mehr als zwei Dezennien darüber hingegangen, und die Einsicht, daß jene Ereignisse der Ausgangspunkt des großen Germanischen Reiches gewesen, hat uns alle mit dem Schicksal, das uns damals getroffen, ausgesöhnt, wenn sich auch seither die Deutschen in Österreich, durch den Nationalitätenhader von allen Seiten bedrängt, immer einsamer und verlassener fühlen. Aber ich gerate da in Reflexionen, die nicht zu meiner Geschichte gehören. Der Krieg hatte auch unsere Provinz gestreift und der Ort vordringende preußische Truppen beherbergt. Als sie nach geschlossenen Friedensverhandlungen abgezogen waren, schien auch wieder die frühere Alltagsstimmung zurückgekehrt zu sein; die so folgenschweren Vorgänge hatten keine äußeren Spuren hinterlassen. Bald aber machte sich viel Schmerzliches geltend. Manche von den Einwohnern hatten ihre Söhne in den blutigen Schlachten verloren, oder sahen sie verstümmelt im elterlichen Hause eintreffen. Zu denen, welche Tote zu beweinen hatten, gehörte auch der Bürgermeister. Der Junge hatte seinen Willen durchgesetzt und sich assentieren lassen, oder viel mehr mochten die Eltern, welche von dem bevorstehenden Kriege keine Ahnung hatten, in einem kurzen Militärdienste ein willkommenes Heilmittel für ihren Sohn vermutet haben. Dieser war also in das einheimische Regiment getreten, wo er auch, dem Schutze eines bekannten Hauptmannes empfohlen, in der Tat einigermaßen aufzuleben schien; der Krieg aber brachte ihm ein rasches Ende. Er war zwar noch bei Königgrätz mit heiler Haut davongekommen, nach dem hastigen und verworrenen Rückzug über die Elbe jedoch wurde er vermißt, und seine Spur blieb für immer verloren; er mußte in den Fluten des Stromes sein Grab gefunden haben. Die beiden Alten lebten, ihrer reichen Habe unfroh, in öder Ergebung dahin und nahmen schließlich eine junge verwaiste Anverwandte an Kindesstatt ins Haus. Auch in der Troglodytenfamilie hatte sich manches verändert. Der Vater, endlich dem Schicksale des Säufers erliegend, war eines Tages im delirium tremens verendet, und die Mutter hauste nunmehr am Flusse allein mit ihrem jüngsten Sohne. Dieser schien indes in sich gegangen zu sein und hatte wenigstens annäherungsweise einen Beruf ergriffen: er war Gänsehirt geworden. Und dieses Amtes waltete er mit überraschendem Eifer, erstaunlicher Umsicht und ungeahnter Redlichkeit. So kam es, daß ihm nach und nach fast die ganze Gemeinde ihr watschelndes Federvieh anvertraute, das man früher vor den würgerischen Griffen der Kratochwil nicht genug in acht hatte nehmen können. Eine unübersehbare Herde schnatterte nun auf der frisch besämten Hutweide und verlieh der Erdhütte, die sie umweidete, einen höchst idyllischen Charakter. Zwischendurch bewegte sich der mächtig aufgeschossene, rothaarige Junge und trieb mit einer langen, lustig geschwungenen Peitsche seine Schutzbefohlenen zu Paaren, jedes einzelne Stück aus der Schar dem Eigentümer nach heraus erkennend. So ging das Jahr hin, und wohl nur wenigen kam es in den Sinn, daß die Zeit herannahe, um welche Maruschka aus der Zwangsanstalt würde entlassen werden. In mir selbst war fast jede Erinnerung an sie erloschen; hatte ich doch inzwischen ein schönes, sanftes Mädchen, die Tochter eines benachbarten Försters, kennen gelernt, die auch später meine Frau geworden ist. Ich war also in der Tat höchlich erstaunt, als ich die Zurückgekehrte an einem düsteren, stürmischen Novembertage auf der Brücke stehen sah. Sie lehnte mit dem Rücken am Geländer und blickte mir starr und ausdruckslos entgegen; endlich wendete sie sich langsam ab. Ich aber war erschrocken über die Veränderung, die in ihrem Äußeren vor sich gegangen. Die einst so kräftige, schlanke Gestalt hatte eine ungesunde, formlose Fülle entwickelt, und in dem fahlen, aufgedunsenen Gesicht lag jener unbeschreibliche Zug öden Stumpfsinns, der den meisten Sträflingen eigen ist. Von ihren Haaren war nichts zu sehen, ein schmutziges Kopftuch umhüllte das ganze Haupt bis tief in die Stirn hinein. Ein unsägliches Grauen wandelte mich an, als ich jetzt an ihr vorüberging, und später vermied ich es, auf demselben Wege zurückzukehren. Es gibt Tage, an welchen alles zusammentrifft, um kein Behagen im Menschen aufkommen zu lassen. Ein solcher Tag war auch der heutige. Schon am frühen Morgen hatte es Zwist und Ärgernis mit den Holzschlägern im Walde gegeben; jetzt, nach der unerfreulichen Begegnung, mußte ich im Auftrage der Herrschaft zu Gericht, eines Treibers wegen, den man auf der Jagd angeschossen; im Forsthause lag der Alte mit seiner Gicht zu Bette, was auch die Försterin um ihre Laune brachte. Nach hastig eingenommenem Mittagessen mußte ich wieder zu den Holzschlägern hinaus, und am Abend stand mir der Abschluß der Forstrechnungen bevor, welches Geschäft ich stets so lange als möglich hinauszuschieben pflegte. So hatte ich mich denn etwa gegen neun Uhr in meine Stube zurückgezogen, um meine Arbeit in Angriff zu nehmen. Aber ich war zerstreut, unruhig, und die verteufelten schwarzen Zahlen tanzten mir beim Lampenschein vor den Augen. Mein Hund schien sich gleichfalls nicht behaglich zu fühlen; er drehte sich wiederholt unter dem Tische um sich selbst herum und konnte doch keine bequeme Lage finden. Auch das störte mich; ich legte die Feder aus der Hand, brannte mir eine Pfeife an und ging eine Zeitlang auf und nieder. Ich dachte dabei an gar nichts, und doch fühlte ich mich von irgend etwas seltsam in Anspruch genommen. Aber die Zeit drängte, ich setzte mich wieder und indem ich mich gewaltsam zurechtrückte, begann ich zu addieren. Jetzt ging es, und mehr und mehr kam ich in die Arbeit hinein. Auch Stop hatte endlich Ruhe gefunden; er schlief. Auf diese Art vergingen etwa zwei Stunden. Zuweilen hielt ich inne und lauschte unwillkürlich auf den Novembersturm, der den Wald durchbrauste. Stop schien ihn zu empfinden; er schauerte leicht und schlug hin und wieder im Traume kurz und leise an. Da war es mir, als geselle sich dem Rauschen mit einem Male ein eigentümlicher Hall. Ich erhob mich und trat dicht an die Scheiben. Horch! War das nicht Glockengeläute? Ich öffnete leise einen Flügel. Jetzt ein eigentümlich langgezogener Ton. Das Feuerhorn! Feuer – Feuer im Ort! So rasch als möglich machte ich mich fertig und verließ, um niemand vorzeitig zu wecken, das Haus durch das niedrig gelegene Fenster; Stop folgte mir mit einem federleichten Satze. Nach einigen hastigen Schritten blickte ich zum Himmel empor; tief schwarz kam er über den Wipfeln der Fichten zum Vorschein, die das Haus nahe umstanden. Also rasch vorwärts, um Ausblick zu gewinnen! Immer deutlicher vernahm ich das dumpfe Glockengetön, während ein geheimnisvoller Weheruf mit dem Sturm zu gehen schien. Nun bräunte sich auch schon das Firmament, dann rötete es sich – und als ich jetzt den Waldrand erreicht hatte, lag der Ort vor mir, taghell beleuchtet von dem Flammengewoge eines brennenden Hauses. Wie ich mich sofort orientierte, war es das des Bürgermeisters; nahebei, nur durch ein anderes, niederes, aber langgestrecktes getrennt, ragte das Gerichtsgebäude, das größte des Ortes, von der prasselnden Lohe angestrahlt, fast blutrot empor. Zum Glück trieb die Windrichtung die Flammen nicht in den Flecken hinein, sondern nach rückwärts, dem freien Felde zu; auch war die Feuerwehr, die sich erst vor kurzem hier gebildet hatte, schon in voller Tätigkeit begriffen. Eine Minute lang betrachtete ich das furchtbar prächtige Schauspiel, während unten, beim Geheul der angesammelten Menschen, die Spritzen über den Platz rasselten und ihre Wasserstrahlen in die züngelnden Flammen stäuben ließen. Dann überlegte ich, ob ich hinabeilen oder vorerst die gewiß noch ahnungslosen Försterleute in Kenntnis setzen sollte. Dabei machte ich unwillkürlich eine halbe Wendung und gewahrte hinter mir im Gestrüpp eine zusammengekauerte weibliche Gestalt, die ich früher nicht bemerkt hatte. Der Feuerschein umfunkelte ihr Antlitz, sowie die herben roten Früchte eines dürren wilden Rosenstrauches, an welchem sie unmittelbar saß. Es war Maruschka. ›Du!?‹ rief ich aus, während eine plötzliche Gewißheit in mir aufstieg. ›Ja, ich,‹ erwiderte sie ruhig. ›Was tust du hier?‹ ›Ich sehe zu. Schon seit zwei Stunden wart' ich, daß es anginge.‹ ›Du hast –!‹ ›Redet nur aus! Ich hab' das Feuer gelegt.‹ ›Elende!‹ stieß ich hervor, indem ich mein Gewehr erhob, unwillkürlich versucht, mit dem Kolben auf ihr Haupt niederzuschmettern. ›Oho!‹ schrie sie, indem sie rasch emporsprang. ›Kommt Ihr mir so! Ich fürcht' Euch nicht samt Eurer Flinte. Denn wenn Ihr mich nicht gleich niederschießt, könnt' es Euch schlecht ergehen!‹ Sie sah mich wild drohend und dabei unsicher auf dem Boden fußend an. Aus der Tasche ihres Kleides blinkte der dünne Hals einer Flasche hervor; sie hatte offenbar Branntwein getrunken. ›Aber was kümmert's denn Euch?‹ fuhr sie, plötzlich einlenkend, fort; ›Euch geschieht ja nichts, denn bis an den Wald kommt das Feuer nicht.‹ ›Wer spricht davon? Aber die Leute da unten!‹ ›Die Leute da unten? Ihrer wegen hab' ich ja angezündet! Damals tat ich's nicht, als sie mich anklagten. Jetzt sollen sie verbrennen, alle miteinander!‹ ›Ruchlose! Aber der Himmel selbst läßt deine Absicht zuschanden werden. Sieh nur, der Wind hat sich gelegt, und das Haus brennt schon schwächer.‹ Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin und sah, daß ich recht hatte. Wie es oft bei heftigem Sturme zu geschehen pflegt, war in der Luft momentane Ruhe eingetreten, und es schien, als wäre man des Feuers bereits Herr geworden. Sie krallte die Finger ineinander. ›Nun, das Haus wenigstens ist hin!‹ keuchte sie krampfhaft. ›Was tut's? Der Bürgermeister läßt ein neues aufbauen. Und angenommen selbst, daß er schweren Schaden genommen, stand dir eine solche Rache zu? War er nicht ohnehin schon schwer genug bestraft für das Unrecht, das er dir, wie du wohl meinst, angetan? Er hat seinen Sohn verloren. Oder weißt du das nicht?‹ ›Wie sollt' ich's nicht wissen!‹ sagte sie verächtlich. ›Aber was hab' ich davon, daß er sich um seinen Jungen härmt? Was kümmert's mich, daß der hin ist!‹ ›Du hast ihn doch gern gehabt!‹ ›Den? Der Aff' war mir immer zuwider. Ich hab' ihn genommen, weil er mir Geld gab – und weil Ihr mich nicht mochtet!‹ Im selben Augenblicke empfanden wir einen furchtbaren, heißen Windstoß, der uns beide ins Wanken brachte; die Stämme hinter uns ächzten und knarrten, und aus dem erstickenden Brande züngelten neue Flammen. ›Ha! Ha!‹ rief sie mit gellendem Gelächter. ›Seht Ihr, der Himmel meint es gut mit mir! Es brennt wieder – es brennt! Jetzt geht auch das Nachbarhaus an!‹ Sie jauchzte in wilder Freude auf, zog die Flasche hervor und trank gierig mit zurückgeneigtem Haupte und hoch erhobenem Arm. ›Ja, jetzt werden sie braten – alle – alle – die mich ins Arbeitshaus gebracht. O, was hab' ich dort ausgestanden! Ich will nicht arbeiten, ich mag nicht arbeiten, ich kann nicht arbeiten – und wer mich dazu zwingt, der ist mein Feind, den hass' ich und den bring' ich um!‹ Sie begann, eine branntweintrunkene Mänade, mich mit plumpen, häßlichen Sprüngen zu umtanzen. Ich faßte sie rauh an und zwang sie still zu stehen. ›Du kannst nicht arbeiten?‹ rief ich. ›Nun wirst du's erst recht müssen! Denn auf das hin‹ – ich wies nach dem Feuer – ›bekommst du wenigstens zehn Jahre Zuchthaus. Und dort läßt man die Leute nicht feiern!‹ ›Zuchthaus!‹ rief sie mit tollem Gelächter. ›Zuchthaus! Den möcht' ich sehen, der mich ins Zuchthaus bringt!‹ ›Was? Glaubst du, man werde nicht sofort auf dich verfallen? Dich nicht vor Gericht stellen?‹ ›Wenn man mich hat!‹ ›Meinst du zu entkommen? Wo willst du denn hin?‹ Sie breitete die Arme weit auseinander, als wollte sie den unendlichen Raum bezeichnen. ›Die Gendarmen werden dich überall finden!‹ ›Meint Ihr? Oder wollt Ihr mich gleich fassen? Tut's! Ihr habt ja auch ein Gewehr!‹ Sie langte rasch darnach, und ich hatte alle Mühe, es ihr zu entringen. ›Schießt mich nieder!‹ heulte sie plötzlich, ›schießt mich nieder!‹ Sie warf sich zu Boden und wand sich mir zu Füßen. ›Oder nein, küßt mich!‹ schrie sie, wieder rasch aufspringend. ›Küßt mich! Meint Ihr, ich weiß nicht, daß ich Euch gefallen habe? Daß Ihr in mich verliebt wart? Ja, verliebt! Damals – erinnert Ihr Euch? Ihr habt Euch nur geschämt, sonst wäret Ihr mir nachgelaufen wie ein Hund, wäret mir um den Hals gefallen. Tut's jetzt, da alles aus ist! Ihr müßt es tun!‹ Gleich einer wilden Katze sprang sie an mir hinauf und umklammerte mich, als wollte sie mich erwürgen, während ihre dunstigen Lippen die meinen suchten. Stop, der erbost zu bellen angefangen, verbiß sich in ihr Kleid und zerrte daran; aber sie beachtete es nicht. ›Komm',‹ keuchte sie, ›komm' mit mir in den Wald hinein! Dort ist es Nacht – kein Mensch sieht uns – komm'! komm'!‹ Sie trachtete, mich in wütender Umklammerung mit sich fortzuziehen. Ich machte alle Anstrengungen, mich loszumachen – es ging nicht; ich hätte zur äußersten Gewalt schreiten müssen. Und trotz allen Ekels und Abscheus, trotz der Furcht, die ich jetzt vor ihr empfand, fühlte ich doch eine plötzliche Wallung des Blutes, meine Sinne drohten sich zu verwirren; ich befand mich in einer entsetzlichen Lage .... Doch da erschien die Rettung! Ein näher kommendes Rasseln ertönte; es war die kleine Feuerspritze eines auswärtigen Maierhofes, die dem bedrängten Orte zu Hilfe eilte. Um Zeit zu gewinnen, hatte sie einen breiten Feldweg eingeschlagen, der unten am Walde vorüberführte; sie kam jedoch, des stark ausgefahrenen Geleises wegen, nur langsam vorwärts. Die Bedienungsmannschaft war abgesessen und eilte neben dem holpernden Gefährt einher. ›He, Leute!‹ rief ich mit aller Kraft. ›Hieher, ihr Leute! Hier ist die Mordbrennerin! Faßt sie! Herauf ihr Leute!‹ Doch niemand kehrte sich daran; meine Rufe schienen unvernommen im Winde zu verhallen. Die Trunkene, Wahnwitzige aber schien zur Besinnung zu kommen und Bestürzung zu empfinden. Sie ließ in ihrer Umschlingung nach, und so konnte ich sie beiseite schleudern, die Hähne meines Gewehres spannen und rasch hintereinander beide Läufe in die Luft abfeuern. Das wirkte. Die Männer hielten an und blickten durch das Halbdunkel forschend empor. Maruschka, die Gefahr erkennend, wandte sich eilig zur Flucht und verschwand zwischen den Stämmen. ›Laufe du nur!‹ rief ich ihr, zitternd vor Aufregung, nach. ›Man kennt dich und wird dich zu finden wissen!‹ Aber man fand sie nicht. Alle Nachforschungen, die man unverweilt nach glücklich bewältigtem Brande im Revier sowohl als in der ganzen Gegend anstellte, hatten keinen Erfolg. Sie war und blieb verschwunden. Erst im Frühjahr, als der Schnee längst geschmolzen war, entdeckte man im Wald unter dem Geröll eines schmalen und tiefen Wasserrisses eine weibliche Leiche. Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt; aber alle Anzeichen sprachen dafür, daß es die der Troglodytin gewesen. Mir selbst blieb der Anblick erspart, denn noch in demselben Winter war ich als Unterförster auf ein Gut versetzt worden, das ein Schwiegersohn des Grafen in Südsteiermark, nahe der kroatischen Grenze, besaß.« Ginevra Vorwort des Herausgebers Vorwort des Herausgebers. Auch in unserer Novelle hat Saar ältere Motive wieder aufgegriffen und fortgesponnen. Das Motiv des mit Liebesschuld beladenen Offiziers hatte er in der Umarbeitung von »Vae victis« wieder fallen gelassen (Band VIII, Seite 9); und mit den Papieren zum »Haus Reichegg« stimmt nicht bloß die Situation, die Teilnahme der Offiziere an dem Tanzvergnügen der Städter, sondern auch die Schilderung Ginevras überein. Die Handschrift unserer Novelle ist »Blansko, 4. März 1889« datiert. Es ist eine Reinschrift, die aber noch so viele Korrekturen erfahren hat, daß sie stellenweise nur schwer leserlich geworden ist. Sie liegt zunächst dem ersten Abdruck in dem Wiener Jahrbuch »Dioskuren« 1890 (XIX. Jahrgang, Seite 149–179) zugrunde, der freilich bei der Korrektur noch leise Abänderungen erfahren hat; auf den Dioskuren beruht aber auch noch der späte Abdruck in der Zeitschrift »Moderne Kunst« (XVII. Jahrgang, 1902/3, Seite 262 ff., 294 ff., 305 ff., 314 ff.). Für eine neue Ausgabe hat der Dichter zunächst in einem Separatabdruck aus den Dioskuren Änderungen angebracht, sie aber dann doch wieder in die Handschrift eingetragen und diese zum zweiten Male dem Abdruck in der vierten Novellensammlung »Frauenbilder« 1892 (Seite 1–82) zugrunde gelegt, wodurch die Korrekturen so zahlreich geworden sind, daß der Verleger wiederholt einzelne Stellen ins Reine schreiben mußte und sich bei dieser Gelegenheit auch für ein paar Änderungen im Wortgebrauch die Zustimmung des Dichters einholte. Trotzdem auch hier noch bei der Korrektur nachgeholfen worden war, genügte auch diese Fassung dem unermüdlich feilenden Dichter nicht. Er erbat sich am 3. April 1896 ein Exemplar der »Frauenbilder« für eine etwa notwendige zweite Auflage und unterzog sie im März des folgenden Jahres eingehenden Verbesserungen, die dann der ersten zweibändigen Ausgabe der »Novellen aus Österreich« 1897 (zweiter Band, Seite 179–232) zugute kamen und nicht mehr bloß die Form betrafen: denn die Mutter der Ginevra stammt nun nicht mehr aus Conegliano, sondern aus Bassano, und der Satz am Schlusse, nach welchem der Oberst zu der Polin immer noch in Beziehungen steht, ist erst hier eingefügt. In der zweiten Ausgabe dieser Sammlung (a.a.O.) ist dann neben geringen stilistischen Änderungen die Chiffre L ... in Leitmeritz aufgelöst worden. Dem Abdruck in Reclams Universalbibliothek (Nr. 4600 [1904]) scheinen noch nicht zu Ende korrigierte Druckbogen dieser letzten Ausgabe zugrunde zu liegen; denn er stimmt an einigen wenigen Stellen noch mit der vorletzten überein. Das Diner war vorüber und die kleine Tischgesellschaft begab sich in den Garten der Villa, um dort den Kaffee zu nehmen. Nachdem man sich auf einer Terrasse niedergelassen, die den Ausblick auf die umliegenden Höhen und einen Teil der Stadt eröffnete, sagte die Hausfrau: »Erzählen Sie uns doch endlich von dieser Ginevra, lieber Oberst. Versprochen haben Sie es längst. Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer Art Andacht ihrer gedenken. Lassen Sie sich daher nicht bitten. Wir sind ganz unter uns, und hoffentlich kommt kein unerwarteter Besuch, der Sie unterbrechen könnte.« Der Oberst, ein hochgewachsener, schlanker Mann in bürgerlicher Kleidung, blickte nachdenklich auf die Glimmfläche der Zigarre nieder, die er sich soeben angezündet. »Nun denn,« sagte er, »wenn Sie wollen, soll es geschehen, obgleich ich befürchten muß, ein recht unüberlegtes Versprechen gegeben zu haben. Denn was ich vorbringen kann, ist eigentlich doch nur eine veraltete Liebesgeschichte, welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte. Indes, wie gesagt, wenn Sie es wirklich wünschen, bin ich bereit. Ist es doch ein Genuß, wenn auch ein schmerzlicher, sich in die goldenen Tage der Jugend zurückzuversetzen.« * * * 1. I. »Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Teil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag – abgesehen von ihrer anmutigen Lage in einem der gesegnetsten Landstriche Böhmens – auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber – in den vierziger Jahren – konnte er wahrhaft trostlos genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehends militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Toren und Wällen und bestanden zumeist aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in denen sich Krämer und Handwerker, Bierwirte und Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Offiziere waren daher ganz und gar auf den kameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führten nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militärkasino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits der Elbe gelegenen Kreisstadt Leitmeritz, wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirtschaften sehr anspruchsvoll auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, und nach der Rückkehr in die Festung begaben sich manche noch in ein höchst zweifelhaftes Lokal, um dort halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen. Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte. Zudem war ich jung, und nach der strengen Zucht, die ich früher in einem Kadettenhause erdulden mußte, hatten derlei Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit. Mein Oheim, der mich, den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnesstatt angenommen und einen ziemlich hohen und einflußreichen Posten beim damaligen Hofkriegsrate bekleidete, setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb. So kam es auch, daß ich eines Abends, im Karneval, einmal und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte, und zwar aus folgendem Grunde. Der Festungskommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihrer Stellung Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Rot künstliche Frische zu verleihen. Bei erfahrenen Kameraden galt sie als eine ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemerken, daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte, anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich glaubte dies um so mehr zu meinen Gunsten auslegen zu dürfen, als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich – und das geschah mehrmals des Tages – am Kommandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie wohl meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der offizielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lehbaft vor, wie auch sie diesem Abend sich entgegen freue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde – und was dergleichen jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirt gemacht. Denn zu dem Balle wurden auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen vom Zivil auch die Offiziere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationiert war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß sie für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängnis, wie es derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegt, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrates zu, welche, da sie sonst niemand aufzufordern Lust bezeigte, mit ihren rötlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies in anständiger Weise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand. So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken sah, die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hinblies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob. ›Bist du hier?‹ rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an der ich sofort einen meiner näheren Freunde, den Leutnant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte, fuhr er eintretend fort: ›Zum Teufel, was treibst du denn da im Finstern?‹ Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinanderschlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte. ›Ich gehe nach Leitmeritz hinüber‹, sagte er, meine Frage vorweg nehmend. ›Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und du sollst mit mir kommen.‹ ›Wir sind ja gar nicht geladen.‹ ›Das tut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen.‹ Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheiratet hat. ›Gut,‹ erwiderte ich; ›aber wie willst du das anfangen?‹ ›Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren »Ballausschüssen« anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber deshalb siehst du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen kann. Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblicke verhindert worden. Also tu' mir den Gefallen.‹ Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wandte daher neuerdings ein; ›Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Orts dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen teilnehmen.‹ ›Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?‹ rief er ärgerlich. ›Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von Leitmeritz zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!‹ Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Kommandanten-Balle erkältet. ›Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gib acht, was für Mädchen du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herumbaumelten.‹ Ich sah, daß es kein Entrinnen gab, und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich schließlich bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte. Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach Leitmeritz an. Tagsüber war Tauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes war in der herben Luft etwas wie ein Vorhauch des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich in gleichmäßigem Takt den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten. 2. II. Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Komiteemitglieder – ein älteres und ein junges – waren im Vestibül anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste teilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über ihre Gesichter, und indem sie etwas von ›besonderer Ehre‹ murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich uns nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Teil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Komiteemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dieses durch eine offene Flügeltür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hineinblicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner mit einer stämmigen Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem, zierlichem Wuchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank. Denn die Gesellschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen erschienen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich jetzt im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksal überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. In den Armen eines vierschrötigen, ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmutig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ die zierlichen Füße sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, rückwärts zusammengeknotet und bloß mit einem weißen Sträußchen geschmückt; um den Hals war ein schmales schwarzes Samtband geschlungen, an dem ein kleines goldenes Kreuz hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blicke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten bereits untereinander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl. Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich – und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens sehr bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, eine mit kupferroten Bändern verzierte Haube auf dem Kopf; ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein; auch konnte man immerhin den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken; er verweilte bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle, und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin, als ich mit einem Mal rings herum eine auffallende Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Française erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeit sich die wenigsten gefunden hatten. Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur Einleitung gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran. ›Was!?‹ rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, ›was, nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? C'est une honte! Schämen Sie sich, meine Herrschaften! En avant! Ich bitte, herbei zu kommen!‹ Diese Worte ermunterten manche, die unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd. ›Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch viele da sind, die ganz gut mittanzen könnten. Pas de gêne, mes dames! Keine Umstände, meine Damen! J'arrangerai tout! Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!‹ Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis-à-vis fehle. ›Ein vis-à-vis!‹ schrie der Alte wieder. ›Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis-à-vis! Kommt wirklich niemand? Nun, ich werde schon irgendwo etwas Verborgenes ausfindig machen – vielleicht im Speisezimmer!‹ Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt saß, während ihre Tischnachbarn dem Forschenden unwillige Blicke zuwarfen. ›Was?‹ rief er in seinem höchsten Fisteltone, ›Fräulein –‹ er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte – ›was, die beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, meine Herrschaften,‹ wendete er sich an die übrigen, ›es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!‹ ›Wir halten niemand zurück, Herr Tanzmeister,‹ erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. ›Wenn das Fräulein tanzen will , so mag sie es immerhin.‹ Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur schwach Widerstrebende in den Saal hinaus. Dort fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. ›Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!‹ rief er aus. ›Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Offizier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen ist; jetzt aber, hoff' ich, wird er sich nicht länger bedenken!‹ Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen. Wir erröteten beide, verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe. Noch hatten wir in unserer Befangenheit kein Wort gewechselt, als schon die Quadrille begann, bei welcher man in jener Zeit nicht bloß nachlässig hin und her schlenderte, sondern jeden Schritt aufs genaueste markierte. Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin bewegte. Die schmächtigen Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu wollen, während die schmalen Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so über den Boden hinschwebten. Mit vollendeter Anmut streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammenfanden, die Hand entgegen. Dabei lag ein fast feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indes ich nun Gelegenheit hatte, in nächster Nähe jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit zu bewundern: die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellierte Näschen, die durchsichtig zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln erwiderte. Jetzt aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm in Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: ›Wahrhaftig, mein Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies an Ihrer Seite zu erkennen.‹ Sie errötete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigentümlich tiefen und wohllautenden Stimme: ›Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille ordentlich zu erlernen. Es ist auch gar nicht so schwer; man muß nur ein bißchen den Kopf zusammenhalten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor.‹ ›Diese sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer,‹ erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. ›Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen.‹ Ich nannte meinen Namen. Sie verneigte sich leicht und sagte dann: ›Ich heiße Ginevra – Ginevra Maresch.‹ ›Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener.‹ ›Ich bin auch eine Italienerin,‹ entgegnete sie lächelnd, – ›das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Offizier war, kennen gelernt.‹ ›Ihr Vater war Militär?‹ ›Jawohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben,‹ setzte sie ernst hinzu. ›Und Ihre Mutter?‹ ›Die lebt – dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, – eine Lungenentzündung, durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten.‹ ›Sind Sie mit Verwandten hier?‹ ›Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben.‹ ›Wieso?‹ ›Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen – besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Witwe ist, und das verträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich ein ganz gutes Mädchen, es ließe sich mit ihr auskommen. Aber leider ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich – besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh tun, wenn sie wahrnimmt, wie andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen kann – so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmut nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem andern tanze, als mit ihm.‹ ›Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?‹ Sie erbleichte flüchtig. ›O nein! Nicht das geringste! Aber er tut sich etwas auf seine Wohlhabenheit zugute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig' es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen.‹ ›Das ist freilich unangenehm.‹ ›Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen.‹ ›Konnten Sie sich denn nicht jemand anderem anschließen?‹ ›Nein; wir haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt – und so sind wir es zuletzt geblieben.‹ Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals umschritten und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man wahrscheinlich deshalb so bald folgen ließ, damit die von der Française Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin – und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Atem schöpfend, das losgegangene Haar aus der Stirn zurückschüttelnd, machte sie eine Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher und eilte in das Speisezimmer. Um mich drehte sich noch alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. ›Nun,‹ sagte er, ›dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding – und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst.‹ Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen – da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen. ›Denken Sie,‹ begann sie mit zitternder Stimme, ›was man mir angetan! Meine Begleiter sind fort und haben mich allein hier zurückgelassen.‹ Einen Augenblick schwieg ich betroffen. Dann aber sagte ich: ›Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht.‹ ›Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt' ich es auch,‹ fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, ›das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause.‹ ›Allein?‹ ›Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe – außerhalb der Stadt.‹ ›Wie glücklich wäre ich, dürft' ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten.‹ ›Das können Sie – wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit – in zehn Minuten sind Sie wieder da.‹ ›Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn Sie fort sind?‹ Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. ›Wirklich?‹ fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah. ›Gewiß‹, bekräftigte ich. Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: ›Das freut mich.‹ Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und alles drängte und zwängte sich behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offenstehenden Nebentür, die zur Damengarderobe führte. Vor dieser, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primitive Konditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben. ›Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?‹ fragte ich. ›Nein, ich danke. Oder doch – um ein Glas Wasser möchte ich bitten.‹ Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Ware saß, begehrte Wasser, und um doch etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte. ›Die Orangen sind schön‹, sagte sie. ›Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen.‹ Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. ›Nun aber bin ich bereit‹, sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. ›Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ich nehme nur meine Sachen aus der Garderobe.‹ Ich eilte nach dem Vestibül, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, ums Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten, und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen. ›Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?‹ begann sie. ›Dort wohne ich.‹ ›Das ist noch näher, als ich gedacht. Nur mehr ein paar Augenblicke – und Sie sind mir entschwunden. Vielleicht für immer.‹ Sie erwiderte nichts. ›Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?‹ ›Ich werde die Mutter fragen,‹ sagte sie nach einer Pause. ›Und wie werde ich den Bescheid erfahren?‹ Sie schien zu überlegen. ›Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee.‹ Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer über die Felder gegen den Fluß hinzogen. ›Es ist mein Lieblingsweg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?‹ ›Sie fragen? – –‹ ›Es dürfte morgen gutes Wetter sein,‹ fuhr sie, stillstehend, mit einem Blick nach dem Himmel fort; ›auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben Sie zurück. Gewahren Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch.‹ Sie reichte mir die Hand. ›Also addio! Auf morgen!‹ Sie eilte nach vorwärts, den matten Lichtern entgegen. ›Addio!‹ rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht an eine Scheibe. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen. Ich aber stand noch eine Weile und spähte nach dem Schatten Ginevras, der sich auf den durchschimmerten Fenstervorhängen abzuzeichnen schien. Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging. 3. III. In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittagsstunde entgegensah, läßt sich denken; ich zählte die Minuten und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang solch ein minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen, ganz unvorhergesehene Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr, abzukommen, und mich fast laufend auf den Weg zu machen. Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen. Die schönste Februarsonne strahlte vom blauen Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn auch die Landschaft noch ihre ganze winterliche Kahlheit aufwies. Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms mitgenommen und ausgespannt hatte, grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt. ›Also sind Sie doch gekommen‹, sagte sie lächelnd, als ich endlich atemlos und erhitzt vor ihr stand. ›Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln.‹ Ich wollte zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinandersetzen, aber sie unterbrach mich. ›Das tut ja nichts. Sie sind jetzt da – und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab' ich Ihnen eine gute Nachricht, mitzuteilen: meine Mutter will Sie empfangen.‹ ›Welch ein Glück!‹ rief ich aus. ›Ich hatte es vorausgesehen,‹ fuhr sie ruhig fort. ›Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe – oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, dann ist sie auch überzeugt, daß es ein sehnlicher und wohlüberlegter ist, auf welchem ich, wenn es not tut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher bloß: wenn du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. – Und Sie meinen es doch redlich?‹ setzte sie hinzu, indem sie mir voll und tief in die Augen sah. Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und sie mit stummer Beteuerung geküßt. ›Ich habe nicht daran gezweifelt‹, sagte sie in festem Tone. ›Die Offiziere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurteil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über alles geht. – Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; allein der Tag neigt sich doch schon dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten.‹ So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos umzäunten Gärtchen und winzigen Grundstücken unterbrochen, eine Art Vorort, der im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien wohlgehalten und reinlich. In den blanken Scheiben spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Türen. Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlicher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinanstiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb gerötete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche gleich darauf im Flur an uns vorüberkam und in einer Seitentür verschwand. ›Das war unsere Hauswirtin,‹ sagte Ginevra; ›die Witwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirtschaftet hatte. Sie selbst bewohnt eben nur eine Kammer; alles andere haben wir um ein Billiges gemietet.‹ Sie öffnete eine zweite Seitentür, durch welche wir in eine helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau, die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röte flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob. ›Da ist er, Mamma,‹ sagte Ginevra. ›Ich lasse dich mit ihm allein.‹ Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus. Ich näherte mich der blassen Frau, die sich wieder gesetzt hatte, und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat ein. Endlich begann ich: ›Sie waren so gütig, mir zu gestatten – –‹ ›Es freut mich, Sie kennen zu lernen‹, erwiderte sie in ziemlich gebrochenem Deutsch. ›Bitte, nehmen Sie Platz.‹ Ich zog einen Stuhl heran. ›Ich weiß nicht,‹ fuhr sie nach einigem Zögern fort, ›ob ich recht getan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir alles mitgeteilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am geratensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit‹ – sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien zu hören ist – ›Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer höchst peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, duch die Verhältnisse im elterlichen Hause dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten habe. Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich einen solchen Verkehr doch stets als Verrat an meinen Angehörigen.‹ Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie erriet meine Gedanken und sagte lächelnd: ›Nicht wahr, Sie finden, daß mir Ginevra gar nicht ähnlich sieht? Sie ist ganz nach ihrem Vater geraten. Wenn Sie sich die Mühe nehmen und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen.‹ Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich verblaßtes Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in Offizierstracht der Jägertruppe vor. Aus dem überhohen Frackkragen ragte ein fein geschnittener, höchst ausdrucksvoller Kopf mit lichtblonden Haaren und blauen Augen. Je länger ich das Bild bei dem ungewissen Dämmerlichte des Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge Ginevras daraus entgegen. ›Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm,‹ fuhr die Frau auf meine laute Beistimmung fort; ›auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist.‹ ›Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!‹ rief ich aus. ›Nun, vielleicht sind wir beide bestochene Richter. Aber soviel glaube ich wohl selbst sagen zu dürfen: sie ist ein vortreffliches Mädchen und verdient glücklich zu werden.‹ ›Sie wird es auch gewiß!‹ ›Das steht in Gottes Hand.‹ Ein Schweigen trat ein, währenddessen man aus der Küche herein das Knistern des Herdfeuers, sowie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte. ›Ginevra bereitet den Kaffee‹, sagte Frau Maresch. ›Sie muß ja überall mit angreifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Not – und was noch schlimmer, in Abhängigkeit von fremden Menschen geraten sein.‹ ›Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?‹ fragte ich. ›Nein – wenigstens niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind schon vor Jahren rasch nacheinander weggestorben. Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und mich dann in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich denken können, trotz meines ehelichen Glückes sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anderswohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten – und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen.‹ So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: ›Ich sehe, daß Sie aus vornehmer Familie sind. Und Emil heißen Sie – Emilio. Ein schöner und mir wohlbekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt.‹ In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand eine kleine, grün lackierte Schirmlampe, wie sie damals gebräuchlich waren, und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte. ›Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter,‹ sagte sie, die Leuchte niederstellend, ›und ich kann den Kaffee bringen, der eigentlich längst fertig ist – und zu welchem Sie‹ – sie wandte sich mit einer Verbeugung an mich – ›eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen.‹ Und nun begann sie rasch, ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch nahe an die Mutter heran und breitete ein frisches Tuch darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kanne und Tassen, welch letztere sie sorgsam füllte und lächelnd kredenzte. Nachdem das Vesperbrot eingenommen war, stand sie auf und zündete eine Kerze an. ›Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen‹, rief sie. ›Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt.‹ Sie öffnete eine Seitentür, die ich schon mehrmals ins Auge gefaßt hatte, und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein, so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mttelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links davon waren zwei eingerahmte Tuschzeichnungen angebracht, welche südliche Landschaften darstellten. Knapp am Fenster ein mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe dabei ein anderes kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöpfen ein Vogelbauer stand. Die eine Seitenwand deckte ein Kasten, die andere ein Regal, das sich vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt zeigte. ›Nun, hab' ich es mir nicht hübsch eingerichtet?‹ fragte Ginevra. ›Wenn ich hier nähe, kann ich in unseren Garten blicken. Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier‹ – sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief – ›das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lustig. Und dort‹ – sie beleuchtete das Regal – ›dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborner – oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Er kannte kein anderes Vergnügen. In seinen jüngeren Jahren war er auch Zeichner; jene Landschaften dort sind von ihm in Neapel aufgenommen worden, denn er hat im Jahre Zwanzig die österreichische Intervention mitgemacht.‹ Ich hatte inzwischen einen der Bände herausgezogen und aufgeblättert. ›Lesen vielleicht auch Sie italienisch?‹ forschte sie. ›Ich sollte wohl; denn es wurde im Kadetteninstitute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht.‹ ›Wir wollen miteinander lesen, dann wird es schon gehen. – Hast du gehört, Mamma,‹ rief sie ins Zimmer hinein, ›daß ihm unsere Sprache nicht fremd ist?‹ ›Ho compreso; che piacere!‹ ließ sich die Mutter vernehmen. ›Sie können sich übrigens denken,‹ fuhr Ginevra fort, ›daß ich selbst das meiste von dem nicht kenne, was in den Büchern steht; es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen.‹ Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich jetzt zu verabschieden. ›Auf Wiedersehen‹, sagte die Mutter. ›Sia benedetta la sua intrata da noi.‹ Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und trat aus der Tür, von Ginevra mit dem Lichte begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus. ›Sie lieben mich also?‹ fragte sie mit einem innigen Blick. Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlossen sich zu einem langen Kusse zusammen.« 4. IV. »Und nun«, fuhr der Oberst fort, »begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossenheit den Reiz eines Verhältnisses erhöhte, das sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete – und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte. Ich kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es war Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen dem Aufbrechen nahe waren. Dort weilte sie, während wir an deren in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen sowie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes gezählt seien ..... Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mitteilte, daß es seinem Einflusse möglich geworden sei, meine Versetzung zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Leutnant; eine sprungweise Vorrückung, wie sie in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regimentsinhabers nicht allzu schwer zu erreichen war. Er hoffe daher, so schloß er, mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick aber fuhr sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt – und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. Ich konnte also höchstens noch einen vollen Abend für mich retten. Der heutige war schon von einer gemeinsamen Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit einer Tafel im Kasino zu schließen pflegte. Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die Stunden, die knapp vor mir lagen, konnte ich erhaschen und machte mich sofort auf den Weg nach Leitmeritz. Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntnis setzen! Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und schien eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen. ›Ah, Emilio!‹ rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. ›Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?‹ fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. ›Ist vielleicht etwas vorgefallen?‹ ›Allerdings, carissima madre‹ – ich pflegte sie stets so zu nennen – ›allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz Unerwartetes, Trauriges – –‹ Und nun teilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte. Sie mußte sich setzen. ›Mein Gott,‹ brachte sie mühsam hervor, ›so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen – aber dennoch – – Ich glaube, da ist sie schon‹, setzte sie aufhorchend hinzu. In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, das Antlitz von der Luft gerötet, ein Körbchen am Arm, das sie rasch beiseite stellte, um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen. ›Da bist du ja!‹ rief sie. ›Ich hab' es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!‹ ›Mit deinen Ahnungen!‹ sagte die Mutter. ›Wenn du wüßtest, was ihn hierher geführt –‹ Sie erblaßte leicht. ›Was willst du damit sagen, Mamma?‹ fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns beide mit atemloser Spannung ansah. Und nun erfuhr auch sie, was da kommen sollte. Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so stand sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: ›Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es nicht zu ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt du schon fort?‹ ›In drei Tagen.‹ ›Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und du wirst mich dort wie hier lieben.‹ ›Nun, wer weiß,‹ warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, ›ob er uns in Wien nicht vergißt.‹ ›Wie kannst du nur so sprechen, madre‹, brauste sie auf. ›Als ob du nicht aus deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, die längste Trennung an Gefühlen, wie die unseren, nichts zu ändern vermögen! Im Gegenteil werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?‹ – wandte sie sich an mich und schlang den Arm um meine Schultern – ›nicht wahr, wir gehören einander an fürs Leben?‹ ›Für ewig!‹ erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. ›Und sieh‹, fuhr ich, plötzlich von einem tröstlichen Gedanken überkommen, fort, ›vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein vielvermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unsere Zukunft zu tun. Wir sind ja beide noch jung und können warten.‹ ›Ja,‹ erwiderte sie, ›wir können und wollen warten.‹ Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine grundlose Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, fürs erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch: ›Und wie es auch sein möge, jedenfalls komme ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub ein, den man mir nicht verweigern kann. Ich kehre also ganz gewiß im Spätherbst zurück und werde in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen. Dann können wir uns einige Wochen für die Trennung schadlos halten.‹ ›Und uns um so inniger des Wiedersehens freuen‹, setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. ›Aber heute bleibst du doch?‹ ›Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird uns überhaupt nur ein Abend mehr vergönnt sein – der morgige. Ich werde so früh wie möglich kommen – zum Abschied.‹ ›Zum Abschied‹, wiederholte sie still. ›Aber heute kannst du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nötige veranlassen.‹ Und sie erhob sich, um nach der Küche zu sehen, wo sich bereits die Hauswirtin am Herde zu schaffen machte. ›Merkwürdiges Mädchen!‹ sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. ›Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater.‹ Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch, und wir setzten uns zum Mahle, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch später blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra Hand in Hand auf einem kleinen Sofa, der Mutter gegenüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich. ›Also morgen‹, sagte Ginevra, indem sie mir die Hand drückte. ›Morgen – zum letztenmal!‹ ›Nicht zum letztenmal!‹ sprach sie kraftvoll. Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und mich der Tür zuwandte, da brach in ihr der zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich mit den Armen. So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte; dann riß ich mich los.« 5. V. Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. »Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen,« sagte er dann; »denn die Rolle, die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Kontext fortfahren. Der Abschied war ein tief ergreifender gewesen. Ich hatte Ginevra beim Scheiden ein Ringlein mit blauem Stein gegeben, welch letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. ›Nimm!‹ sagte sie. ›Es ist ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag' es jetzt du als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind.‹ Ich kam mir damit wie gefeit vor und fühlte, wie siegreich das Bild Ginevras, deren im Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken standhalten würde. Es waren anfänglich nicht allzu viele. Denn fürs erste galt es, im Regiment, wo man den eben nicht erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der innern Stadt aufzusuchen, wo er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so oft es anging, auf das köstlichste zu bewirten, wobei der Champagner nicht gespart wurde. So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen, höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb aber meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was unter den damaligen Verhältnissen dem heutigen täglichen Schreiben gleichkam, und es läßt sich nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevras erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las – und wieder las ..... So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des Bataillons, bei welchem ich stand, schwer erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstgeschäfte zu übernehmen. Der kommandierende Major, ein Baron Dumont, stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmütigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heranzuziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen ließ er sich begleiten, und abends war man ein für allemal zum Tee gebeten, wogegen man sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Pikett oder Ecarté zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war mit einer polnischen Gräfin verheiratet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages ganz plötzlich in Wien erschien. Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine eigentümliche Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen – vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; bei näherer Betrachtung jedoch zeigte sich ein reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten im Lächeln zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von nicht allzu hohem Wuchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das plötzlich in ein überraschendes Aufleuchten übergehen konnte. Dazu die weiche, fremdländische Aussprache, die vornehme Ungezwungenheit einer vollendeten Weltdame – und man mußte sich sagen, daß man sich hier einer höchst verführerischen Erscheinung gegenüber befinde. Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt zu dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Tee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszustrecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener Weise Cercle zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich erwies sie eine Art mütterlicher Vertraulichkeit, die sich oft zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevras durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in voller Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer Entfernung als früher, wo es mich sozusagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte. Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige Fehler im Spiel hatte zu schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: ›Aber was treiben Sie denn, mon enfant? Sie leiden ja an einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?‹ ›Du stellst Gewissensfragen, Lodoiska‹, bemerkte ihr Gatte mit seinem stereotypen Lächeln. ›Und wenn dem so wäre, Gräfin?‹ entgegnete ich halb im Ernst, halb im Scherz. ›So würd' ich es begreiflich finden‹, antwortete sie. ›Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?‹ ›Keineswegs. Weit – sehr weit von hier entfernt.‹ Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten ineinander. ›Ist es ein junges Mädchen?‹ fragte sie nach einer Weile. ›Das versteht sich wohl von selbst‹, sagte der Major. ›Schön?‹ fuhr sie kurz fort. ›Ungemein‹, warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend. ›Brünett?‹ ›Blond.‹ Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deshalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck verabschiedet. Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm seltener am Spiele teil und zog sich währenddessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Klavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte. Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet war. Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war mir, als hätte ich etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und infolgedessen gerieten meine Briefe weniger rund und fließend als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen atmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich in Worten jeder Überschwenglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. Und immer kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, um welche ich auf Urlaub in Leitmeritz erscheinen würde. Das aber war es, was meine Unruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu welch unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen – und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich gar nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, zu meiner Absicht verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihn, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen gewesen, in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der Tat ganz ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser peinlichen Gemütslage begab ich mich an einem nebligen Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten. Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: ›Kommen Sie nur da herein. Es ist mir draußen zu hell; die Lampe tut meinen Augen weh.‹ Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, phantastisch beleuchtet, entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben. Ihr volles, Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz. ›Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen‹, begann sie in melancholischem Tone. ›Dumont hat notgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen.‹ Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen. ›Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung‹, sagte ich, mich setzend. ›Ich habe es wohl bemerkt‹, erwiderte sie leise und nachdenklich. ›Vertrauen Sie mir doch an, was Sie drückt.‹ Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. ›Nun,‹ sagte ich endlich, ›vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen – oder eigentlich Andeutungen über eine Herzensangelegenheit – –‹ ›Jawohl; ich erinnere mich.‹ ›Ich hatte in dieser Hinsicht,‹ fuhr ich zögernd fort, ›um einen Urlaub einkommen wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen –‹ ›Dann denken Sie nicht weiter daran,‹ warf sie leicht hin. ›Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht – man erwartet mich – –‹ ›Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber beichten Sie mir, mon enfant, ‹ fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie meine Hand faßte, ›wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Haben Sie ernste Absichten?‹ Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. ›Allerdings hege ich solche – obgleich –‹ ›Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?‹ fügte sie rasch bei. ›Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zur Ihrer Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre‹, fuhr sie, mir höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fort, ›wäre das Verhältnis etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?‹ Ich verstand, was sie meinte. ›O nein!‹ rief ich; ›das ist keineswegs der Fall.‹ ›Dann ist es ja ein wahres Glück, daß Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie – und auch für Ihre Geliebte ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heiraten. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären vielleicht gezwungen, Ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen – zu ewiger Reue. Und das alles schon in Ihren Jahren! Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!‹ Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr recht deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte. Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf. ›Armes Kind,‹ sagte sie, indem sie mir das Haar aus der Stirn strich, ›armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?‹ Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge. ›Sie werden alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns – nicht wahr?‹ Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Sie ließ es lächelnd geschehen; dann drückte sie ihr Haupt fest an meine Schulter, und flüsterte: ›Endlich!‹ Ich sank ihr zu Füßen. 6. VI. Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgeteilt, daß es mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinandersetzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag – um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren – den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müssen – fand ich gar nicht den Mut zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer. Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriffe war, an einer Schlittenpartie in den Prater teilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde mir – ich trat gerade aus meiner Wohnungstür – ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevras war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich höchst peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurückgelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufruhr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen schwächer und gingen endlich ganz vorüber. So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweiten Male Karneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska, in einen rosenroten Domino gehüllt, machte von der Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch und umschwärmte fortwährend einige junge Kavaliere, die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, denen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, die ich um so peinlicher empfand, als ich mich auch sonst mehr und mehr durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte. Ich war also gegen Morgen höchst mißmutig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pauvre honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen. Als ich, dennoch bangen Herzens, die Tür öffnete, stand sie – stand wirklich Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften hinabgesenkt, die Hände leicht ineinandergeschlossen. Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blässe lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor. ›Verzeihen Sie,‹ begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, ›daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten.‹ ›Den Brief Ihrer Mutter –‹ stammelte ich in atemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: ›Ihre Mutter –‹ ›Ist vor zwei Monaten gestorben,‹ sagte sie ernst. ›Mein Gott –‹ erwiderte ich tonlos. ›An einem Rückfall in jene Krankheit, von der Sie ja wissen.‹ Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen. ›Mein Gott –‹ wiederholte ich, während sich jetzt ihre Augen langsam mit Tränen füllten. ›Aber ich bitte, setzen Sie sich doch –‹ Sie drückte ihr Tuch an die Wimpern und machte eine kurz ablehnende Bewegung. ›Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie kennen den Wert, den es für mich hat – und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitz.‹ ›Gewiß, gewiß‹, entgegnete ich und wollte an meinen Schreibtisch treten. Aber unwillkürlich hielt ich inne. ›Und Sie , Ginevra – was werden Sie jetzt – –‹ ›Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; denn in Leitmeritz mag ich nun nicht länger bleiben. Aber ich werde niemandem zur Last fallen, sondern Unterricht im Italienischen erteilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll.‹ Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von allem, was da geschehen, in mädchenhafter Selbständigkeit, im Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde, da überkam mich das ganze Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit und drohte mich zu ersticken. Wie aus einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor. ›Ginevra,‹ rief ich, ›Sie verachten mich – Sie müssen mich aufs tiefste verachten!‹ ›Ich verachte Sie nicht‹, entgegnete sie ruhig. ›Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?‹ ›O! Nicht geliebt!‹ ›Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt – nicht so, wie ich Sie geliebt. Wie sehr ich durch diese allmähliche Erkenntnis gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte. Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich Ihnen dankbar für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens – und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch‹ – sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab – ›den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück – wie ich es vielleicht sollte. Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage.‹ In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle. ›Ginevra!‹ rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen. Sie trat rasch einige Schritte zurück. ›Was soll das?!‹ rief sie mit herber Stimme. ›Es ziemt sich nicht zwischen uns.‹ ›Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie – wenn Sie vergessen könnten – –‹ Sie zog die Brauen zusammen. ›Nun, nun, sprechen Sie weiter!‹ ›Es könnte noch alles gut werden‹, hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung aus meinem Munde klingen müsse, und die unklare Vorstellung eines versöhnenden Ausgleiches, die sich meiner bemächtigt hatte, ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft. Ich schwieg. Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. ›Sehen Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz.‹ Keiner Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor, und reichte es ihr. Sie nahm es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ein Schüttern ging durch ihren ganzen Körper, sie mußte sich setzen. ›Mein Gott! Mein Gott!‹ sagte sie still. Dann stützte sie die Stirn mit der Hand und begann leise zu weinen. Ich wagte nicht zu atmen. ›Es ist vorüber‹, sagte sie endlich, indem sie aufstand, und sich die Augen trocknete. ›Leben Sie wohl!‹ Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir jetzt reichte, nicht wieder loslassen, sollte die herrliche Gestalt an mich ziehen, wie einst. Sie schien es zu fühlen, und rasch sich mir entreißend, schritt sie der Tür zu. ›Ginevra!‹ stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend zu und verschwand. Ich sank auf den Stuhl, den sie eingenommen hatte, und blieb regungslos sitzen ..... Bald darauf folgten jene Märztage, deren stürmische Ereignisse auch mich über mich selbst hinausrissen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, die damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht. Ich selbst stand noch bei den Truppen, die Wien belagerten. Dann kam der ungarische Feldzug mit seinen wechselvollen Geschicken und blutigen Schlachtfeldern – und als spätere Jahre über so Vieles den Schleier der Vergessenheit breiteten, war auch über meine jugendlichen Herzenskämpfe das Gras gewachsen.« * * * »Und haben Sie nichts mehr von Ginevra gehört?« fragte man nach einer Weile. »Allerdings; ich war in der Lage, Erkundigungen einzuziehen. Sie lernte in Graz einen jungen Triestiner kennen, der sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende Stellung in Ägypten gemacht. Sie hat ihn geheiratet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben – und zwar während der Wiener Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter. Es ist jedoch möglich, daß ich mich getäuscht.« »Sie wird es wohl gewesen sein,« sagte die Hausfrau nachdenklich. »Und so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden.« »Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur; unglücklich sind allein die Schwachen.« »Und die Polin?« fragte eine andere Dame. »Das wäre eine Geschichte für sich«, antwortete der Oberst, indem er aufstand und den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher warf. »Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; ich werde erwartet.« Er verabschiedete sich und ging. Die anderen blickten ihm nach, bis seine hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte. »Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist zwar zehn Jahre älter als er – also bereits eine Greisin –, aber er konnte nicht mehr loskommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken.« Geschichte eines Wienerkindes 1. I. Im Frühling des Jahres 1870 fand in dem Wiener Vororte, wo ich damals meinen Wohnsitz genommen hatte, eine festliche Hochzeit statt. Fast der gesamten Einwohnerschaft waren zierlich gedruckte Anzeigen zugegangen, und wer nur irgend abkommen konnte, der fand sich auch am festgesetzten Tage zum feierlichen Trauungsakte in der geräumigen Pfarrkirche ein. Ich konnte gleichfalls nicht umhin, zu erscheinen, denn ich war mit dem Bräutigam persönlich bekannt, wenn auch nicht näher, als dies öftere Begegnungen an öffentlichen Orten mit sich zu bringen pflegen. Er war ein junger Mann in den ersten Dreißigern und so recht das Bild eines Wiener Bürgersohnes von älterem Schlage. Nicht allzu groß, dabei leicht zu körperlicher Überfülle neigend, hatte er ein hübsches, frisch gefärbtes Gesicht und äußerst gutmütige blaue Augen, die in beständiger Heiterkeit strahlten. Er kleidete sich nach neuestem Schnitte und hatte eine Vorliebe für bunte Halsbinden, nahm sich aber keineswegs geziert oder geckenhaft aus; vielmehr trat in seinem ganzen Wesen eine gefällige, etwas sorglose Natürlichkeit zu Tage. Sein Vater, ein wohlhabender Mann, hatte es aus kleinen Anfängen heraus zum Stadtzimmermeister gebracht und am Eingange des Ortes ein ansehnliches Familienhaus erbaut, an das sich ein großer Arbeitsplatz und weitläufige Holzlager schlossen, zu welchen Liegenschaften sich im Laufe der Zeit noch ausgedehnte Ziegeleien in der nächsten Umgebung gesellten. Als der alte Städler starb, teilten sich zwei Söhne in den wohlgegründeten Besitz, so zwar, daß der ältere, welcher bereits verheiratet war, die Zimmermeisterei weiter betrieb, der Jüngere aber das Holzgeschäft und die Verwaltung der Ziegeleien übernahm, nebenher ein behagliches, jedoch keineswegs lockeres Junggesellenleben fortführend. Jetzt aber war er, wie sich zeigte, dessen überdrüssig geworden; im Stammhause war Raum genug für eine zweite Familie – und so hatte er eben nur die Braut zu wählen gehabt. Die Kirche, durch deren gotische Bogenfenster das Licht eines sonnigen Maitages fiel, war überfüllt; wie natürlich, zeigte sich das weibliche Geschlecht vorwiegend vertreten und harrte mit Spannung auf das Erscheinen der Brautleute. Und als dieses jetzt endlich erfolgte und das junge Paar mit einem zahlreichen Anhange in die Kirche trat, da ging ein vernehmbares Murmeln der Bewunderung durch den stillen Raum, und aller Augen folgten der Braut, die in der Tat einen entzückenden Anblick darbot. Hohen Wuchses den Bräutigam etwas überragend, schritt sie an seinem Arm, bleich vor innerer Erregung, mit gesenktem Haupte dem Altare zu. Der wallende Schleier, der Myrtenschmuck im dunkelblonden Haar, das matte Weiß des Hochzeitskleides gaben der kräftig schlanken Gestalt etwas sanft Verklärtes, und als sie jetzt aufblickte, schimmerten ihre Augen hell wie Gold. Man war erstaunt und atmete kaum; so viele, so makellose Reize hatte man nicht zu sehen erwartet. Auch ich war überrascht – doppelt überrascht. Denn ich hatte das schöne Geschöpf, das jetzt in reifer Märchenhaftigkeit vor den Altar trat, in fast noch knospender Entwicklung gekannt, und während nunmehr der Priester seine Anrede hielt, das Brautpaar mit klangvollen Stimmen die Jaworte sprach und die Ringe gewechselt wurden, erinnerte ich mich an folgendes. * * * Es war zu Anfang der Sechziger Jahre. Ich hatte den Soldatenrock noch nicht lange ausgezogen und mich mit meinen literarischen Hoffnungen und Entwürfen in einer stillen Vorstadtwohnung eingesponnen, die ich in der Regel während der ersten Nachmittagsstunden verließ, um in einer nahe gelegenen Gastwirtschaft mein Mahl einzunehmen. Auf dem Wege dahin mußte ich an einem stattlichen Hause vorüber, an einer jener Neubauten, wie sie damals allerorten emporwuchsen und hier der Hauptstraße der Vorstadt ein immer vornehmeres Aussehen verliehen. Es gehörte, wie ich später erfuhr, der Witwe eines Baumeisters, der die Herstellung auf eigene Rechnung in Angriff genommen hatte, inzwischen aber mit dem Tode abgegangen war. An einem Fenster des ersten Stockwerkes, in welchem die Eigentümerin wohnte, gewahrte ich nun öfter das reizende Profil eines Mädchens, das hinter einer Reihe wohlgepflegter Blumentöpfe saß. Die noch sehr jugendliche Schöne wendete natürlicherweise den Kopf bisweilen nach der Straße, und so kam es, daß sich eines Tages unsere Blicke begegneten, wobei nur ihre hellen Goldaugen besonders auffielen. Seitdem stellte sich zwischen uns eine Art stillen Einverständnisses her, so zwar, daß sie mich jetzt immer zu erwarten schien und sich, wenn sie mich kommen sah, hinter den Blumen erhob, mir auf diese Art auch den Anblick ihrer zarten Büste zuteil werden lassend. Obgleich ich nun keinerlei Absichten hegte, so spann ich doch den Faden des kleinen Romans in anmutigen Träumen fort, indem ich es gewissermaßen dem Schicksale überließ, ob es mich vielleicht ohne mein Zutun dem holden Geschöpfe näher bringen wolle. Es durchzuckte mich daher ein freudiger Schreck, als ich sie eines Tages, da ich gerade auf dem Heimwege begriffen war, sehr zierlich gekleidet aus dem Haustor treten und in die nächste, nur ein paar Schritte entfernte Seitengasse einbiegen sah. Im ersten Augenblick war ich wie eingewurzelt stehen geblieben; dann aber folgte ich ihr. Sie trug ein helles, blau gestreiftes Sommerkleid und ein braunes Strohhütchen, das mit künstlichen Feldblumen geschmückt war. Zum ersten Male hatte ich ihre hohe, schlanke Gestalt ganz vor Augen und konnte die harmonischen Gliederbewegungen, die kräftig ausschreitenden Füßchen und die dichte Fülle des Haares bewundern, das ihr, nach der Mode jener Zeit, halbgelöst, in einem feinen Seidennetze weit über den Nacken hinabhing. Sie mußte mich vorhin gleichfalls wahrgenommen haben, denn sie wendete öfter den Kopf zur Seite, wie um zu spähen, ob ich ihr gefolgt und in der Nähe sei. Jetzt hatte sie die Gasse durchschritten, welche in eine breite, von Menschen und Fuhrwerken sehr belebte Straße mündete. Dort blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen, setzte dann behutsam auf den Fußspitzen über den Fahrweg, der erst vor kurzem bespritzt worden war, und ging jenseits, sich nach rechts wendend, noch ein Stück fort, um in eine jener stillen, nach dem Südbahnhof führenden Gassen einzubiegen, welche damals noch zum größten Teil von wipfelüberragten Gartenmauern gebildet wurden. Tat sie das, um mir Gelegenheit zu ungescheuter Annäherung zu bieten? Kaum konnte ich daran zweifeln, denn sie hatte ja jetzt mit einer raschen Wendung nach mir zurückgeblickt. Dennoch und obgleich ich nun ebenfalls die Gasse betrat, konnte ich einer gewissen mutlosen Befangenheit nicht Herr werden und hielt mich noch immer in einiger Entfernung. Endlich, da ich sah, daß sie langsamer zu gehen anfing, faßte ich ein Herz und war bald an ihrer Seite, indem ich mich, den Hut lüftend, in einem Gewirr von Worten verfing, wie man sie bei ähnlichen Anlässen zur Entschuldigung zu stammeln pflegt. Sie blickte mich leicht von der Seite an und brach dann in ein klingendes Lachen aus. »Entschuldigen Sie sich doch nicht gar so sehr«, sagte sie. »Wir sind ja alte Bekannte, denn Sie gehen täglich an unserem Hause vorüber. Aber wer sind Sie eigentlich?« fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie mich jetzt mit ihren hellen Augen eindringlich musterte. Ich gestehe, daß mich nunmehr eine eigentümliche Verlegenheit überkam. Der Berufstitel »Schriftsteller« diente zu jener Zeit noch nicht zu besonderer Empfehlung; man war weit eher geneigt, einige Mißachtung daran zu knüpfen. Überdies hatte ich noch keine öffentlichen Proben meiner Tätigkeit abgelegt, war daher gewissermaßen weder Fleisch noch Fisch. Dennoch mußte ich mich entschließen, mit einiger Beklemmung zu sagen: »Ich bin Schriftsteller«. »So«, erwiderte sie gedehnt. »Und was schreiben Sie denn?« Neue Verwirrung meinerseits. »Nun – Dramen – Novellen –« Ich konnte bemerken, wie sich ihr Näschen, dessen seine Nüstern leicht geschwellt waren, ein wenig rümpfte. »Also ein Dichter!« sagte sie spöttisch. »Aber das tut nichts; Sie sehen gar nicht danach aus. Für heute übrigens«, setzte sie kurzweg hinzu, »müssen wir uns trennen. Bleiben Sie hier zurück; mein Weg führt mich nach einer ganz anderen Richtung, und begleiten dürfen Sie mich nicht. Wenn Sie aber wieder mit mir zusammentreffen wollen, so kommen Sie einmal zu Schwott. Sie wissen doch –?« »O ja, ich weiß –« »Nun also. Jeden Samstag, manchmal auch an Donnerstagen bin ich abends dort. Es ist sehr lustig. Und nun leben Sie wohl!« Sie streckte mir die Hand entgegen, drückte die meine kurz und kräftig und eilte mit raschen Schritten den Weg zurück, auf dem sie gekommen war. Ich jedoch blieb mit sehr niederdrückenden Empfindungen in der verödeten Gasse stehen. Schon das anfängliche Lachen und die ersten Worte des jungen Mädchens hatten mich befremdet; die ungezwungene, gleichsam überlegen leichtfertige Art und Weise, in der sie sich gab, hatte mich mehr und mehr enttäuscht und ernüchtert; – bei ihrer Aufforderung aber, zu »Schwott« zu kommen, war ich vollends aus allen Himmeln gefallen. Zu Schwott! Es war dies eine nach ihrem Besitzer benannte Tanzschule, die sich in einem alten, heute nicht mehr bestehenden Häuserkomplex der inneren Stadt befand. Sie wurde weit weniger des Unterrichtes wegen besucht, den man dort erteilte: ihre Hauptanziehungskraft waren die sogenannten »Gesamtübungen«, welche an drei Abenden der Woche stattfanden. Nicht bloß ein Teil der jeunesse dorée in all ihren Spielarten erschien dabei; es kamen auch ältere, ja selbst alte Lebemänner, die hier im Trüben zu fischen gedachten. Denn es war bekannt, daß man in den schwülen und überfüllten Räumen der Tanzschule neben interessanten, vielumworbenen Erscheinungen aus der feineren weiblichen Halbwelt auch den frischen Reizen von Beamten- und Bürgerstöchtern begegnete, die sich, wie man annehmen konnte, ohne Vorwissen ihrer Angehörigen hierher begaben, jugendlicher Vergnügungssucht – oder auch schlimmeren Antrieben folgend. Ich selbst war in früherer Zeit einmal dort gewesen und hatte es, wie meine Schöne gesagt, in der Tat sehr lustig gefunden. Aber auch sie war in diesem ruchlosen Gewirre zu treffen – sie , die mir hinter ihren Blumen als Bild der Jungfräulichkeit erschienen war! Ich fühlte, wie sich mir jetzt bei diesem Gedanken das Herz zusammenzog. Trotzdem wäre ich immerhin genug Realist gewesen, um ein Stelldichein von seiten eines so reizenden Geschöpfes unter allen Umständen willkommen zu heißen. Um aber mit einer jungen Dame, die zu »Schwott« ging, in nähere Beziehung zu treten, dazu waren meine Verhältnisse in keiner Weise angetan. So kam ich denn, während ich langsamen Schrittes nach Hause ging, mehr und mehr zur Einsicht, daß der Sache ein für allemal ein Ende zu machen und jeder weitere Verkehr abzubrechen sei. Die Ausführung dieses Entschlusses wurde mir auch durch äußere Umstände erleichtert. Denn, nachdem ich eine Zeitlang vermieden hatte, mich in der Hauptstraße zu zeigen, mußte ich infolge einer Kündigung meine Wohnung räumen. Ich mietete mich hierauf in einem entlegeneren Teile der Vorstadt ein und sah die schöne Elise Schebesta – den Namen hatte ich später in Erfahrung gebracht – in der Tat nicht mehr. Einmal nur, als ich an einem nebligen Oktoberabende die innere Stadt durchschritt, glaubte ich beim Scheine der Gasflammen erkannt zu haben, daß sie an der Seite eines sehr vornehm aussehenden Herrn in einem Fiaker an mir vorübergefahren war. * * * Und nun, nach einer Reihe von Jahren, stand sie, schöner denn je, mit schimmernder Myrte geschmückt am Altar ..... Die Zeremonie war zu Ende, und die Menge drängte aus der Kirche in den leuchtenden Tag hinaus, um die Teilnehmer der Hochzeit noch in die Wagen steigen zu sehen. Diese aber fuhren jetzt, während sich der Schleier der Braut in der wehenden Luft aufbauschte und leicht hin und her flatterte, dem Bürgerhause zu, das am Eingange des Ortes mit blumengeschmückter Pforte dem fröhlichen Einzug entgegen harrte. 2. II. Die Neuvermählten mußten keine Hochzeitsreise angetreten haben – keine längere wenigstens, denn schon in nächster Zeit begegnete ich ihnen bei einem Spaziergange an dem stillen, den Vorort abgrenzenden Douaugelände. Es war ein milder, leicht bewölkter Abend, und die Ufer des Kanals, tagsüber durch anlangende Frachtschiffe und Holzflöße reich belebt, zeigten sich gänzlich verödet; nur ein geduldiger Angler saß an dem sanft dahin fließenden Wasser. Ich war um diese Zeit oft hier zu finden, denn ich liebte die stimmungsvolle Einsamkeit der Gegend, und auch die beiden hatten sie wohl aufgesucht, um sich ungestört im Freien ergehen zu können. Sie schritten Arm in Arm, dicht aneinandergeschmiegt das Ufer entlang und blickten gemeinsam nach einem Eisenbahnzuge, der eben jenseits, über eine frei ragende Brücke hinweg, ins Land hineinbrauste. Als ich an ihnen vorüberkam, mußte ich einen Gruß darbringen, wobei mich die Besorgnis anwandelte, daß mich die junge Frau vielleicht sofort wieder erkennen würde. Aber wiewohl sie mich, den Gruß mit ihrem Gatten erwidernd, rasch und aufmerksam betrachtete, so konnte ich doch ihrem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob dies der Fall gewesen; wahrscheinlich hatte sie mich bereits vollständig aus dem Gedächtnisse verloren. Ich konnte später nicht umhin, stehen zu bleiben und dem Paare nachzublicken, bis es hinter einer hohen Baumgruppe, die, wie auf einem holländischen Landschaftsbilde, ein altes, einzeln stehendes Gebäude umdunkelte, verschwand. Trotz allem, was mir bekannt war, überkam mich jetzt ein wehmütiges Gefühl der Verlassenheit – ein fast an Neid streifendes Nachempfinden des Glückes, das ich da vor Augen gehabt. – Und dieses Glück schien in ungetrübter Dauer vorhalten zu wollen, wenngleich die schöne Frau Stadler mit einem etwas herausfordernden Benehmen ziemlich gewagte Toiletten zur Schau trug, und ihr, wenn sie sich an gewissen Abenden der Woche mit ihrem Gatten in einem vielbesuchten Gasthause einfand, am Stammtische alles aufs lebhafteste den Hof machte. Da geschah es auch oft genug, daß sie noch in später Nachtstunde, von einem lauten, angeheiterten Männerschwarme umringt, in das nahe gelegene, menschenleere Kaffeehaus trat, wo man lärmend Platz nahm und bei dampfenden Punschgläsern den erregten Lebensgeistern vollends die Zügel schießen ließ. Dennoch verlautete nichts, was dem Rufe der Dame zu nahe getreten wäre; sie schien vielmehr neben diesem heiteren Lebensgenusse ihre Pflichten in jeder Hinsicht sehr gewissenhaft zu erfüllen. Sie war, das sah man, eine vortreffliche Hausfrau, besorgte alle Einkäufe selbst, zeigte sich jeden Sonn- und Feiertag in der Kirche, und als sie im zweiten Jahre ihrer Ehe Mutter geworden war, vollzog sich auch in ihrem Wesen ein sichtlicher Wandel. Sie kleidete sich weit einfacher, erschien immer seltener am Stammtische und war auf der Straße meistens nur, höchst aufmerksam und besorgt, hinter einem netten Korbwägelchen sichtbar, das von einer Magd geschoben wurde und in welchem ein rosiges Kindchen unter einem blauen Schleier schlummerte. Ja, wenn man späterhin die einst so lebendige und bewegliche Frau sah, wie sie mit zunehmender Leibesfülle und leicht schwellendem Doppelkinn an schönen Sommerabenden sich aus dem Fenster lehnte und mit einer Art von satter Zufriedenheit auf die belebte Straße hinabblickte, da machte sie so recht den Eindruck des Soliden und Altbürgerlichen. Dann war es mir auch immer, als hätte ich ihr etwas abzubitten, und ich kam zur Einsicht, wie töricht und ungerecht es sei, von Vergangenem stets auf das Zukünftige schließen zu wollen. Was lag daran, daß sie als Mädchen, wie es im Volksmunde heißt, ihr Leben genossen hatte? Wenn sie jetzt nur eine treue, sorgsame Gattin, eine liebende Mutter war – und ihren Mann beglückte. Und daß sie ihn beglückte, das erkannte man an seinen heiteren Mienen, seinen strahlenden Augen. Auch er hielt sich jetzt von Vergnügungen ziemlich fern und schien sich mit Vor liebe auf sein trauliches Heim zu beschränken, das nunmehr schon zwei heranwachsende Kinder belebten, ein Knabe und ein Mädchen, schön und blühend, wie aus einem Gemälde von Rubens herausgeschnitten. Da begab es sich eines Winters, daß in dem Vororte eine Persönlichkeit sichtbar wurde, welche die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war dies ein hochgewachsener, noch ziemlich jugendlicher Mann von überaus vornehmem Äußeren, der im Hôtel garni Wohnung genommen und sich in das Meldebuch als Leo Röber, Fabrikdirektor, eingezeichnet hatte. Gleichwohl schien er ohne jegliche Beschäftigung zu sein und gehabte sich wie jemand, der in völliger Unabhängigkeit von seinen Renten lebt. Er machte, wenn auch im stillen, ziemlichen Aufwand, speiste im Kasino, das mit dem Hotel in Verbindung stand, an einem eigens für ihn bereit gehaltenen Tische, und bei Fahrten nach der Stadt bediente er sich, Omnibus und Pferdebahn verschmähend, stets eines Mietwagens. Nach und nach verlautete indes, daß die Fabrik, deren Direktor er sich nannte, erst im Entstehen begriffen, er selbst aber von einer Aktiengesellschaft beauftragt sei, in der Umgebung des Ortes den Anlageplatz zu ermitteln und Voranschläge zu entwerfen. Endlich schien er dies auch in Angriff nehmen zu wollen und trat mit einigen einheimischen Fachleuten – worunter die Gebrüder Stadler – in allerlei Unterhandlungen, ohne sich jedoch mit einem von ihnen näher und bestimmter einzulassen, wie er denn überhaupt jedem umgänglichen Verkehr mit sehr hochmütiger Zurückhaltung auswich. Auch bei den Bällen, welche im Laufe des Karnevals in dem großen Saale des Kasinos stattfanden, erschien er bloß als steifer Zuschauer, in tadellosem Frack, eine weiße Kamelie im Knopfloch. Ich selbst kümmerte mich um ihn begreiflicherweise sehr wenig, wenn ich auch bei zufälligen Begegnungen auf der Straße nicht umhin konnte, seine wirklich auffallend schöne und interessante Erscheinung mit Wohlgefallen zu betrachten. Und er war, wie alle unbeschäftigten Menschen, häufig genug auf der Straße anzutreffen. Vor allem liebte er es, in der Lindenallee auf und nieder zu schreiten, welche sich vom Eingang des Ortes bis zum Linienwalle erstreckte. Diese Allee, im Sommer schattig und duftig, jetzt aber kahl und durchsichtig, führte an dem freistehenden Stadlerschen Hause vorüber, von diesem durch die breite Fahrstraße getrennt; auf der anderen Seite dehnten sich, niedrig eingeplankt, weitläufige Felder aus. Als ich eines Tages – es war schon im März, und die Sonne schien hell und warm – mit der Pferdebahn aus der Stadt zurückkehrte, gewahrte ich ihn dort schon von weitem und glaubte zu bemerken, daß er im Gehen nach den Fenstern des Bürgerhauses emporspähte, dem wir uns jetzt beide näherten. Im Vorüberfahren folgte ich unwillkürlich seinem Blicke und sah, daß Frau Elise aufrecht dicht hinter den Scheiben stand. Wie ein Blitz durchzuckte es mich, daß hier ein Einverständis obwalte. Aber tat ich den beiden nicht vielleicht unrecht? Konnte ich mich nicht täuschen? Eine Zeitlang dachte ich darüber nach; zuletzt aber sagte ich mir, daß mich ja die Sache ganz und gar nichts angehe, und ließ meine Vermutung um so mehr auf sich beruhen, als ich eben mit Vorbereitungen zu einer Reise nach Italien beschäftigt war, die ich bald darauf antrat. 3. III. Meinem Wanderaufenthalte im Süden war ein ziemlich langer und seßhafter bei einem Freunde in Steiermark gefolgt, und so waren auch bis zu meiner Rückkehr beinahe zwei Jahre vergangen. Meine Wohnung hatte ich beibehalten, und als ich im Zwielicht eines frostigen Spätherbstabends ankam, fand ich in dem mir so lieb gewordenen Vororte vieles verändert. Gleich neben dem Stadlerschen Hause zeigten sich neue Bauten: arg verschnörkelte, aber doch höchst stattliche und geräumige Villen, zwischen denen sich der alte Bürgersitz, um einen sehr großen Teil seines freiliegenden Grundes beschnitten, recht eng und gedrückt ausnahm. Zudem wies er sich äußerlich sehr vernachlässigt; die Tünche war verwittert, die Fenster dunkelten wie erblindet. Im weiteren Verlauf der Straße überraschte mich eine Anzahl prunkvoll erleuchteter Kaufläden; auch war der Verkehr viel lebhafter, als es sonst um diese Stunde der Fall gewesen. Als ich am nächsten Morgen ausging, begegnete ich fast lauter unbekannten Gesichtern, ein Zeichen, daß viele neue Einwohner zugewachsen waren. Erhoben sich doch, wie ich jetzt sah, überall neue Häuser; selbst die Querstraße, die man nicht lange vor meiner Abreise durch eine weite Flucht verwüsteter Gärten abgesteckt hatte, war in zwei Reihen kleiner Paläste fast ausgebaut. Ich trat, um zu frühstücken, in das Kaffeehaus. Dort war alles beim Alten geblieben; nur die Fenster hatte man vergrößert und mit hellen Spiegelscheiben versehen. Im übrigen ebenfalls fremde Gäste, mit Ausnahme eines bejahrten Mannes, der eine Brille mit dunklen Gläsern auf der stark geröteten Nase trug. Er war mir von früher her als Gemeindesekretär bekannt, und ich wunderte mich, ihn während der Amtsstunden hier zu treffen. Als ich grüßend auf ihn zutrat, hatte er einige Mühe, mich zu erkennen, freute sich aber dann sehr des Wiedersehens und teilte mir mit, daß er vor zwei Monaten seine Pensionierung erhalten habe. Seines zunehmenden Augenleidens wegen. Damit stehe es jedoch, Gott sei Dank, noch immer nicht gar so schlimm; es wäre eben nur ein willkommener Vorwand für den neuen Herrn Bürgermeister gewesen, um ihn, den alt gedienten und verdienten Beamten, beiseite zu schieben. Der Mann wolle nun einmal alles von Grund auf umwandeln. »Ja,« fuhr der Alte in wehmütigem Tone fort, »die schönen, gemütlichen Zeiten sind vorüber, und unser liebes Döbling nimmt eine andere Gestalt an. Schon heute ist es kaum mehr zu erkennen – geben Sie acht, in einigen Jahren wird es ganz und gar mit der Stadt zusammengewachsen sein. Hoffentlich erleb' ich das nicht mehr.« Ich suchte ihn zu trösten und erkundigte mich nach diesem und jenem, unter anderem auch nach den Stadlers. »Die Stadlers? Wissen Sie denn nicht, daß der jüngere gestorben ist?« »Gestorben?« »Jawohl, – es war eine recht traurige Geschichte.« »Wieso?« »Sie haben also gar nichts davon gehört? Seine Frau ist ihm durchgebrannt. Mit diesem Herrn Röber, dem sogenannten Fabrikdirektor. An den müssen Sie sich ja noch erinnern. Eines schönen Morgens war sie fort, Mann und Kinder im Stiche lassend. Alle ihre Pretiosen hat sie mitgenommen und auch eine Summe Geldes, die allerdings insoferne ihr Eigentum war, als sie einige Mitgift ins Haus gebracht. Der arme gute Ferdl – Sie wissen ja, daß er Ferdinand geheißen hat – war ganz außer sich, dem Irrenhause nahe.« »Er hat sie wohl sehr geliebt?« »Und wie! Von Jahr zu Jahr mehr. Schön war sie, das muß man sagen. Er hatte sie auf einem kostümierten Bauernballe kennen gelernt, der hier im Kasino stattfand und zu dem sie aus der Stadt gekommen war – als Tirolerin. Er vernarrte sich sofort in sie und hat sie geheiratet, obgleich ihm mancher, der wußte, daß ihr Ruf nicht der beste sei, dringend davon abriet. Sonst aber erschien die Partie ganz passend. Das Fräulein Schebesta war aus guter Familie, eines Baumeisters Tochter und, wie gesagt, auch nicht ganz ohne Vermögen, obgleich auf dem Hause, das ihr nach dem Tode der Mutter zugefallen, genug Schulden hafteten. Und während ihrer Ehe hielt sie sich auch die längste Zeit ganz brav, wenn sie auch eine flotte Frau war. Aber da mußte der Lump mit seiner stolzen Haltung und dem interessanten Backenbart kommen – und aus war's und geschehen. Indes, nachdem der erste Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, suchte sich der verlassene Ehegatte so gut es ging zu fassen. Er hat seinen Kindern zuliebe alles aufgeboten, sein schweres Schicksal mit männlicher Kraft zu tragen – und es war ihm auch so ziemlich gelungen. Da, eines Tags – sechs Monate ist es jetzt her – steht er dort an jenem Billard und spielt wie gewöhnlich nach Tisch. Plötzlich fällt ihm die Queue aus der Hand, mit der andern fährt er nach der Stirn – und sinkt lautlos zu Boden. Der Schlag hatte ihn getroffen.« »Und die Kinder?« fragte ich nach einer Pause. »Mit denen ist es auch eigentümlich gegangen. Selbstverständlich hat sie der Bruder zu sich genommen, dessen Frau ihm keine Nachkommenschaft geschenkt hat. Da wären sie auch ganz gut aufgehoben gewesen. Aber bald darauf erkrankten sie, fast gleichzeitig, am Scharlach. Als sie beinahe schon genesen waren, trat Diphtheritis hinzu – und beide starben in einer Nacht.« »Das ist wirklich sehr traurig.« »Na, vielleicht war's zu ihrem Besten. Man soll keinen beklagen, wenn er einmal da unten in der Erde liegt. Wer weiß, was die zwei Kleinen noch alles hätten erleben müssen; jedenfalls aber blieb's ihnen erspart, sich späterhin über ihre Mutter klar zu werden. Auch geht's ja – im Vertrauen gesagt – schon seit Jahren mit den Stadlerschen abwärts. Der Krach im Jahre 73 hat auch auf die Brüder gewirkt; es hieß, daß sie nur mit Mühe den Konkurs abwehrten. Daher sind auch, als der Jüngere starb, sofort die Ziegeleien samt den Holzlagern verkauft worden; und auch der Johann treibt die Zimmermeisterei nur mehr recht notdürftig fort. Denn mit der Ausschließlichkeit, die den Vater emporgebracht, ist's schon lange vorbei, und die Konkurrenz, die auf jedem Gebiete herrscht, hat den Sohn überflügelt. Sie werden das auch dem Hause anmerken, wenn Sie vorüberkommen. Früher blickte es einem so hell, so einladend entgegen; jetzt nimmt es sich neben den modernen Nachbarn ganz finster und trostlos aus. So ist der Lauf der Welt,« schloß er seufzend: »das Neue floriert, und das Alte geht zu Grunde.« Er war aufgestanden, nahm Hut und Überrock vom Nagel und schickte sich zum Fortgehen an. »Und hat man nichts mehr von der Frau gehört?« fragte ich. »Nichts Gewisses. Anfangs hieß es, das Paar habe sich nach Pest gewendet. Dann wollte man erfahren haben, daß sie in Paris seien, während andere behaupteten, sie wären gar nicht über Wien hinausgekommen. Es ist auch jetzt ganz gleichgültig. Wer weiß, ob sie überhaupt noch beisammen sind. Derlei Dinge halten nicht.« Er reichte mir die Hand und empfahl sich. Ich aber blieb sitzen und sah durch die neuen Spiegelscheiben auf die Straße hinaus, die in diesem Augenblick wenig belebt war. Ein scharfer Nordwind hatte sich erhoben und fegte welkes Laub von den Bäumen des Kaffeehausgartens über das Pflaster. »Ja,« sagte ich still vor mich hin, »das ist der Lauf der Welt.« Ein Trupp von Kindern, die nach beendeter Schulstunde, die Bücherränzel auf dem Rücken, lustig am Fenster vorbeitollten, weckte mich aus meinen Gedanken. 4. IV. Seitdem war fast ein Jahr verstrichen, als eines Vormittags an meine Tür geklopft wurde und ein jüngerer Schriftsteller eintrat, der sich bei seinen Berufsgenossen keiner besonderen Beliebtheit erfreute. Nicht ohne Begabung schon sehr früh in die Literatur getreten, hatte er sich auf allen möglichen Gebieten versucht und betätigte sich, da der Erfolg seinen Erwartungen nicht entsprach, zuletzt fast nur mehr als Kritiker. In dieser Eigenschaft hielt er – gewissermaßen schon ein Vorläufer der heutigen »neuesten Schule« – als leitenden Grundsatz die Behauptung aufrecht, daß alles bisher Geleistete veraltet sei und in unsere Zeit nicht mehr passe. Er selbst fühlte sich durchaus »modern«, sprach stets von einer Literatur der Zukunft und erwies sich infolgedessen gegen Anfänger sehr nachsichtsvoll und ermunternd, besonders wenn diese dem weiblichen Geschlecht angehörten. So stand er denn auch bei einigen Schriftstellerinnen und solchen, die es werden wollten, in großem Ansehen. Sie übersendeten ihm ihre Werke, zogen ihn zu Rate, wogegen er, wie behauptet wurde, stets die Gelegenheit wahrnahm, mit der einen oder der anderen dieser Damen, die er nach seinem Geschmacke fand, in intimere Beziehungen zu treten. Nebenher aber wollte es ihm nicht gelingen, sich eine feste und unbestrittene literarische Stellung zu schaffen, was ihn, eitel und selbstbewußt wie er war, immer mehr in einen schwarzgalligen Hochmut hineintrieb. Ich selbst hatte mich ihm bei irgend einer Gelegenheit gefällig erwiesen, und seitdem besuchte er mich öfter, als mir gerade erwünscht war. Denn trotz der Anerkennung, die er mir gegenüber gnädigst an den Tag legte, konnte er doch nicht umhin, beständig durchfließen zu lassen, wie sehr er sich nur und meinen Leistungen überlegen fühle. »Obgleich Sie sich gar nicht um mich kümmern, muß ich Sie doch wieder einmal in Ihrer Einsiedelei aufsuchen«, sagte er jetzt, indem er mir die Hand reichte und sich seines abgegriffenen Hutes entledigte. Dann schüttelte er das lange, straffe Haar und blickte im Zimmer umher. »Mein Gott! wie kann man sich nur so vergraben! Eine schöne Aussicht haben Sie allerdings«, setzte er, ans Fenster tretend, hinzu. »Aber was nützt das alles? Dabei bleibt man doch nur ein Romantiker, ein elegischer Lorenz Kindlein. Heutzutage muß der Dichter mitten im Kampfe des Lebens stehen, muß ein scharfes Auge, ein stets bereites Ohr haben für die Zeichen und Forderungen der Zeit – sonst wird er mit Recht beiseite liegen gelassen.« Da ich auf diese oft vernommenen Bemerkungen mit einem Schweigen antwortete, das er auslegen konnte, wie er mochte, fuhr er, nach mir zurückgewendet, in seinem Sermon fort: »Aber so seid Ihr nun einmal, Ihr Herren von der alten Schule! Ihr könnt Euere überlieferten Ideale nicht los werden. Da treffen es die Frauen wahrlich besser. Die haben den Mut, mit der Vergangenheit zu brechen, und besitzen den richtigen Instinkt für die Bedürfnisse der Gegenwart. Sehen Sie nur, was ich da wieder in die Hand bekommen!« Er zog bei diesen Worten ein ziemlich umfangreiches Heft, das in der Mitte zusammengelegt war, aus der Tasche seines Überziehers und reichte es mir hin. Ich bog es auseinander und las den Titel: »Der Roman einer Frau, von Elsa Röber«. Ich blickte sinnend auf. Er bemerkte es nicht und warf sich in seinem Eifer auf den nächsten Stuhl. »Grandios, sage ich Ihnen! Der Griff einer Löwin! Da wird mit dem hergebrachten flauen Gefasel über die Heiligkeit der Ehe gründlich aufgeräumt und das Evangelium der freien Liebe höchst eindringlich gepredigt. Die betreffenden Stellen und Schilderungen sind um so schlagender, als sie von der Feder einer Frau herrühren. Ganz so, wie sie hier vorliegt,« fuhr er nach einer Pause fort, »ist die Geschichte freilich nicht zu brauchen. Die Form ist sehr mangelhaft; auch steht die Verfasserin mit der Grammatik und hin und wieder mit der Orthographie noch auf ziemlich gespanntem Fuße. Aber mit der gehörigen Nachhilfe kann der Roman, wenn er erscheint, Furore machen.« »Und ist Ihnen die Verfasserin persönlich bekannt?« fragte ich aus meinen Gedanken heraus. »Selbstverständlich. Nachdem ich das Manuskript, das sie mir durch zweite Hand übersenden ließ, geprüft hatte, habe ich mich auch sofort bei ihr eingeführt. Eine wunderschöne Frau! Im interessantesten Alter – so im Anfang der Dreißiger. Vielleicht ist sie Ihnen sogar nicht fremd; denn wenn ich nicht irre, hat sie während der Ehe, die sie da schildert, hier in Döbling gewohnt.« »Und jetzt?« fragte ich weiter, während immer bestimmtere Vermutungen in mir auftauchten. »Jetzt? Jetzt lebt sie in der Stadt.« »Allein?« »Keineswegs. Mit ihrem Geliebten, den sie zwar ihren Mann nennt; aber ich glaube nicht, daß sie verheiratet sind. Er ist Agent – oder ähnliches; es scheint ihnen nicht am besten zu gehen.« Er sah nach der Uhr. »Teufel, schon Zwölf! Da muß ich Sie verlassen. Ich soll zu Tisch nach Weinhaus hinüber, wo Verwandte von mir den Sommer zubringen. Habe die Gelegenheit benützt, zu Ihnen einen Abstecher zu machen. Wissen Sie was? Ich lasse das Manuskript hier. Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie es durchsehen. Ich bin zwar meiner Sache sicher; allein es wäre mir doch von großem Werte, auch Ihr Urteil zu vernehmen. Wenn es Ihnen recht ist, hol' ich es gegen Abend bei Ihnen ab.« Da meine Vermutungen inzwischen fast zur Gewißheit geworden waren, so interessierte mich jetzt das Ganze sehr lebhaft, und ich sagte ihm, daß er mich nach fünf Uhr ganz bestimmt zu Hause antreffen werde. Kaum war er aus dem Zimmer getreten, als ich mich auch schon setzte und das Heft zur Hand nahm. Elsa Röber! Es konnte kein Zweifel sein! Röber hieß ja der Mann, um dessen willen Frau Stadler Heim und Familie verlassen hatte. Alles traf zu: sie war die Verfasserin! Ich begann zu lesen. Es wurde mir nicht ganz leicht; denn die Schrift war ungleich und verworren, an manchen Stellen so flüchtig, daß ich einzelne Wörter kaum entziffern konnte. Dennoch, je mehr Blätter ich umwendete, je mehr mußte ich mich in gewissem Sinne mit der Ansicht des begeisterten Entdeckers einverstanden erklären. Nicht, daß mir die Arbeit so bedeutend wie ihm erschienen wäre. Sie erwies sich vielmehr als ganz schülerhafte Nachahmung einer Erzählung, die unter dem Titel »Die Geschiedene« vor einigen Jahren erschienen war und von einem hochbegabten Autor herrührte, welcher als eigentlicher Eröffner dieser Richtung eine stark naturalistische Erotik in die neuere deutsche Literatur eingeführt hatte. Und die kurzen Gedichte, welche sich hin und wieder eingestreut fanden, riefen sofort die genialen Lieder der Ada Christen ins Gedächtnis. Trotzdem: neben vielem Platten und Gewöhnlichen – ergreifende Schilderungen; neben manchem Falschen und Verlogenen, neben Rohem und Verletzendem – Laute einer tiefen, eigentümlichen Empfindung, erschütternde Schreie des Schmerzes und der Lust, welche namentlich in unbefriedigten weiblichen Herzen mächtigen Widerhall hervorrufen mußten. – Ich ließ das Heft sinken. Seltsam! So war denn diese einst so behäbige, jeder höheren geistigen Anregung fernstehende Frau, die, als echtes, genußfrohes Wienerkind herangewachsen, vor Jahren verächtlich das Näschen gerümpft hatte, als sie erfuhr, daß ich ein Dichter sei: zuletzt auch von dem schriftstellerischen Drange der Zeit erfaßt worden, und die Macht ihrer Schicksale hatte ihr die Feder in die Hand gedrückt! * * * Gegen sechs trat der neue Frauenlob (diesen Namen hatte ich dem Erwarteten schon seit längerem so für mich im stillen beigelegt) wieder bei mir ein. Sein erstes Wort war: »Haben Sie gelesen?« »Gewiß«, bestätigte ich. »Nun und was sagen Sie?« drängte er. »Ich bin Ihrer Meinung«, erwiderte ich ohne jede Einschränkung, da ich doch wußte, daß er keine einzige würde gelten lassen. »Bravo!« rief er, indem er stolz das Haupt erhob. Dann fügte er herablassend hinzu: »Welch ein Triumph für die Dichterin, daß auch Sie – –« Ich überlegte einen Augenblick. Es konnte, wie gesagt, kein Zweifel mehr obwalten, aber ich wünschte die vollständigste Überzeugung. Aus dem Roman selbst konnte diese nicht unmittelbar gewonnen werden. Wie bei den meisten Anfängerarbeiten waren die Lokalfarben absichtlich verwischt, die Charaktere ziemlich allgemein gehalten, die Begebenheiten weit hergeholt. Ich sagte also: »Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich die Verfasserin in der Tat zu kennen glaube. Das heißt, ganz oberflächlich – gewissermaßen bloß vom Sehen. Dennoch kann ich mich täuschen. Teilen Sie mir also Genaueres über sie mit – beschreiben Sie mir ihr Äußeres –« »Wozu auch? Sehen Sie sich die Dame an, und es wird sich zeigen, ob Sie auf der richtigen Fährte waren.« »Wie sollte das geschehen?« »Ganz einfach. Man erwartet mich heute abend dort zum Tee – und ich nehme Sie mit. Das günstige Urteil, das Sie gefällt, wird die schöne Frau doppelt freuen, wenn sie es aus Ihrem eigenen Munde vernimmt.« Ich gestehe, dieser Vorschlag hatte etwas Verlockendes. Es reizte mich, die Frau, deren Lebensgang ich so lange beobachtet hatte, in nunmehr ganz veränderten Verhältnissen wiederzusehen. Dennoch fühlte ich das Unstatthafte eines solchen Vorgehens, um so mehr, als ja meine Anerkennung keineswegs eine so rückhaltlose war, wie der selbstbewußte Protektor voraussetzte. Ich erwiderte daher: »Es wird doch wohl nicht angehen – so ganz ohne weiteres –« »Welche Bedenklichkeiten, Verehrter! Sie können doch annehmen, daß Sie unter allen Umständen willkommen sein werden. Und dann offen gestanden, es kommt mir sehr erwünscht, wenn ich Sie dort einführen darf. Und zwar dieses Röber wegen, der trotz seiner fatalen Lebensstellung ein äußerst hochmütiger Geselle ist. Er schätzt die Begabung seiner Geliebten – oder seiner Frau nicht im geringsten; vielmehr bespöttelt er ihr Streben und betrachtet mich mit offen zur Schau getragenem Mißtrauen. Er glaubt jedenfalls, daß ich mit – Gott weiß welchen eigennützigen Absichten ins Zeug gehe. Wenn er aber sieht, daß ein Mann wie Sie – –« »Ich wüßte nicht, warum gerade ich diesem Herrn Röber imponieren sollte«, erwiderte ich, die jetzt so plötzliche Hochschätzung abweisend. »Und dann noch eins. Es wäre doch eigentlich sehr unzart, wenn ich jener Frau so ganz ohne jegliche Vorbereitung entgegentreten würde. Denn so gut ich sie im Gedächtnis zu haben glaube, wird auch sie sich meiner Person erinnern und könnte dadurch höchst unliebsam an die Vergangenheit gemahnt werden.« Er lachte laut auf. »Da irren Sie gewaltig, lieber Freund! Frau Elsa hat mit allem, was hinter ihr liegt, gründlich abgerechnet. Das sollte Ihnen doch schon der Roman beweisen; sie hat jetzt nur eines im Auge: daß dieser zur Geltung gelangt. Also machen Sie sich keine Skrupel und kommen Sie mit!« Eine Zeitlang schwankte ich noch; dann aber gab die Neugierde den Ausschlag. Ich machte mich fertig und fuhr mit Frauenlob nach der Stadt. 5. V. Der Stadtteil, in welchem Elsa Röber wohnte, war jenes alte, mehr oder minder licht- und luftlose Gassengewirre, das sich in der nächsten Nähe des Stephansdomes noch heute von allen Neuerungen fast unberührt erhalten hat. Die Mietzinse sind dort in den meisten Häusern billiger als anderswo, und so besteht auch ein großer Teil der Bewohner aus Leuten, die in beschränkten, öfter auch zweifelhaften Verhältnissen leben. In einer der engsten Gassen vor einem hohen, grau übertünchten Hause mit vorspringendem ersten Stockwerk angelangt, traten wir – es war im September – in eine dunkle, zugluftige Einfahrt. Dort lenkte mich mein Führer gleich links über ein paar Stufen nach einem schmalen, unbeleuchteten Seitengang, wo wir uns einer einzelnen Tür gegenüber befanden. Er zog die Klingel und, da drinnen alles still blieb, nach einer Weile ein zweites Mal. Endlich vernahm man ein Geräusch von leichten Schritten, die sich zögernd der Tür näherten; ein kleines Guckloch wurde geöffnet, und eine weibliche Stimme fragte in die Dunkelheit hinaus: »Wer ist da?« »Ich bin es, Frau Elsa!« rief Frauenlob eindringlich. »Machen Sie nur auf!« Drinnen klang, während sich das Guckloch schloß, ein leichtes »Ah!« Dann sehr vernehmlich: »Bitte nur noch einen Augenblick! Ich habe das Mädchen weggeschickt; ich muß erst den zweiten Schlüssel holen.« Bald darauf drehte sich dieser im Schlosse, und eine nicht ganz deutlich werdende Gestalt ließ uns, indem sie die Tür öffnete, in das trübe Zwielicht einer nicht sehr geräumigen Küche treten. »Ach, verzeihen Sie,« sagte sie, indem sie den Schlüssel wieder umdrehte und abzog, »daß Sie sich so lange gedulden mußten. Ich hatte Sie so früh nicht erwartet. Aber – –« Wie man bemerken konnte, verweilte jetzt ihr Blick befremdet und forschend auf mir. »Ja, gnädige Frau, ich habe einen Besuch mitgebracht«, rief mein Begleiter feierlich. Dann vorstellend: »Mein hochverehrter Kollege, der berühmte –« er nannte meinen Namen. »Er hat Ihren Roman gelesen und will Sie nun auch persönlich kennen.« »O, ich bitte –« erwiderte sie verwirrt. »Aber treten Sie doch ins Zimmer. Ich habe noch gar nicht Licht gemacht – ich werde gleich –« Und indem sie sich jetzt mit einer Petroleumlampe zu schaffen machte, die in der Nähe des Herdes stand, traten wir in ein ziemlich weitläufiges, niedrig gewölbtes Gemach, wie solche in den Erdgeschossen alter Stadthäuser häufig anzutreffen sind. Da die Fenstervorhänge geschlossen waren, herrschte in dem Raume solche Dunkelheit, daß man die Einrichtungsstücke, außer einem runden Tische, der in der Mitte des Zimmers stand und auf welchem bereits Vorbereitungen zum Abendtee getroffen waren, kaum unterscheiden konnte. Wir hielten uns, um nirgends anzustoßen, in der Nähe der Tür, und nun trat auch Frau Elsa herein, das Gesicht von der hellschimmernden Lampe beleuchtet, die sie vor sich her trug. Wenn Frauenlob gesagt hatte, daß sie »wunderschön« sei, so konnte man diesem Ausspruche jetzt ebenso wenig unbedingt beipflichten, wie der überschwenglichen Anerkennung des Romans. Daß sie sehr schön gewesen, das zeigte sich allerdings noch, und daß sie auch noch immer Anreiz auszuüben vermochte, mußte zugegeben werden. Allein welche Veränderungen waren da während der letzten drei Jahre vor sich gegangen! Sie war überraschend schlank, ja mager geworden, und zwar wies sie jene Magerkeit vorzeitig raschen Verfalles, welche Züge und Formen schlaff und verkümmert erscheinen läßt. Ihr vormals so ungemein üppiges Haar war auffallend gelichtet, und die hellen Goldaugen hatten sich zu einem scharfen Braun abgedunkelt. Trotzdem waren es noch immer anziehende Augen, die jetzt bei mangelnder Gesichtsfülle um so größer erschienen, als sie von sichtlich geschwärzten Wimpern hervorgehoben wurden. Aber sie waren auch von breiten, mißfarbigen Ringen umzogen, die als Zeichen körperlicher – vielleicht auch seelischer Erschöpfung gelten konnten. Sie trug ein einfaches, nicht ganz passendes Kleid aus Wollenstoff, und außer einer billigen, unechten Brosche in der Gegend des Halses keinerlei Schmuck. Ihre Hände waren gerötet und ließen trotz der peinlichen Sorgfalt, mit der sie offenbar gepflegt wurden, Spuren harter häuslicher Arbeit erkennen. Sie hatte die Lampe auf den Tisch gestellt und betrachtete mich aufmerksam. »Darf ich noch einmal um den Namen dieses Herrn bitten; ich hab' ihn vorhin nicht ganz –« Frauenlob wiederholte ihn mit Emphase. »Ach ja,« sagte sie, indem sie sich auf ein kleines Sofa niederließ und uns gleichfalls zum Sitzen einlud – »ach ja, diesen Namen hab' ich wohl schon gehört. Aber es ist mir, als sollt' ich Sie auch persönlich kennen –« Nun war der peinliche Augenblick gekommen, den ich vorausgesehen und trotz der Versicherungen Frauenlobs gefürchtet hatte. Ich erwiderte daher etwas kleinlaut: »Allerdings haben wir einander schon öfter gesehen – und zwar in Döbling, wo ich seit einer Reihe von Jahren wohne.« »Ja, ja, gewiß – in Döbling«, entgegnete sie hastig, während ihre etwas gelbliche Gesichtsfarbe langsam in eine dunkle Röte überging. »Ich entsinne mich sehr genau. Und da kennen Sie ja gewiß auch meine ganze Geschichte und werden sich nicht wundern, mich in ganz anderen Verhältnissen –« Ich hatte mich inzwischen gefaßt und trachtete so rasch wie möglich über dieses Thema hinwegzukommen, das sie allem Anscheine nach doch nicht so vollständig gleichgültig ließ, wie Frauenlob behauptet hatte. »Ich wundere mich über gar nichts, gnädige Frau,« sagte ich in bestimmtem und dabei sehr ehrerbietigem Tone; »höchstens über das eine, daß Sie unter die Schriftstellerinnen gegangen sind.« »Mein Gott,« sagte sie aufatmend mit einem Lächeln; »weiß ich doch selbst kaum, wie ich dazu gekommen bin. Ich hatte ja früher an so etwas gar nicht gedacht und auch sehr wenig gelesen. Im vorigen Jahre sind mir aber ganz zufällig ein paar Bücher in die Hand gekommen, die auf mich großen Eindruck gemacht haben. Aber auch da fiel es mir nicht ein, selbst zu schreiben; erst als mein – Mann für einige Zeit verreisen mußte und ich ganz allein blieb, erst da überkam es mich. Und zwar ganz plötzlich; – ohne vieles Nachdenken habe ich die Geschichte hingeschrieben.« Das entsprach ganz meinen Voraussetzungen, und ich freute mich über das unbefangene Eingeständnis. Unwillkürlich fühlte ich mich versucht, auf unsere allererste Begegnung anzuspielen und so zu erfahren, ob sie sich meiner auch aus jener fernen Zeit noch erinnere. Wäre ich mit ihr allein gewesen, würde ich es jedenfalls getan haben, so aber hielt mich die Gegenwart meines Begleiters zurück, und ich schwieg. »Ich legte auch anfangs gar kein Gewicht darauf,« fuhr sie nach einer Pause fort; »es war mir eine bloße Zerstreuung – eine Herzenserleichterung gewesen. Später aber zeigte ich die Blätter einer Bekannten, und diese meinte, ich sollte sie zu verwerten trachten; es gäbe jetzt so viele Frauen, die mit derlei Geld erwerben. Sie bot mir ihre Vermittelung an – und Ihr – Freund hier –« sie wies auf Frauenlob – »war so liebenswürdig, ein günstiges Urteil zu fällen.« Dieser warf sich auf seinem Stuhle in die Brust. »Nur nach Verdienst, Frau Elsa«, sagte er. »Also auch Sie meinen,« sprach sie langsam, indem sie schüchtern ihren Blick auf mich richtete, »auch Sie meinen, daß die Sache –« »Sie haben es doch gehört!« unterbrach sie der andere, ungeduldig die langen Haare schüttelnd. Ich befand mich nun wieder in einiger Verlegenheit. »Ihre Leistung ist jedenfalls eine sehr interessante,« hob ich gewissermaßen zögernd an, »und mit einigen Änderungen, die daran vorgenommen werden müssen –« »Das werde ich alles besorgen!« rief Frauenlob. »Auch die Herausgabe! Der Erfolg kann nicht ausbleiben, Frau Elsa, und wenn Sie sich fernerhin meiner Leitung anvertrauen, so ist Ihnen eine bedeutende Zukunft gewiß.« Sie blickte zweifelnd vor sich hin. »Glauben Sie wirklich?« fragte sie dann nachdenklich, mehr gegen mich gewendet. »Ich hätte da so vieles zu lernen. Und woher sollte ich die Zeit nehmen? Wir leben, wie Sie sehen, in beschränkten Verhältnissen – und mein Mann ist sehr verwöhnt; ich habe alle Hände voll zu tun, um unsere Häuslichkeit seinen Bedürfnissen gemäß einzurichten. Er würde es nicht besonders gerne sehen, wenn ich mich anderweitig beschäftigte« – »Danach haben Sie nicht zu fragen!« sagte Frauenlob in scharfem, erzieherischem Tone. »Die Hörigkeit der Frau ist Gott sei Dank vorüber – und Sie müssen sich neben Ihrem – Gemahl eine selbständige Stellung schaffen.« »Mein Gott, daran denk' ich ja gar nicht«, erwiderte sie zerstreut; es war, als horche sie dabei aus dem Zimmer hinaus. »Und dann – er hat nun einmal eine Abneigung gegen schreibende Frauen.« »Das müssen Sie ihm eben abgewöhnen – müssen ihn eines Besseren belehren!« Sie erwiderte nichts und hatte offenbar die letzten Worte nur mehr mit halbem Ohr vernommen. Dann rief sie plötzlich: »Da kommt er!« Draußen war heftig an der Klingel gerissen worden, und durch die Küche, wo sich schon früher die Anwesenheit einer Magd bemerkbar gemacht hatte, trat jetzt Röber ein. Er mußte seine hohe Gestalt unter der Tür um so mehr bücken, als er den Hut auf dem Kopfe behielt. Erst in der Mitte des Zimmers nahm er ihn zögernd ab, wobei sein Blick überrascht und befremdet auf mich gerichtet blieb. Wir hatten uns erhoben. »Der Herr Doktor hat uns einen angenehmen Besuch mitgebracht, Leo,« sagte Elsa, und der Ton ihrer Stimme hatte dabei etwas flehend Unsicheres, »einen berühmten Schriftsteller. Vielleicht kennst du den Herrn vom Sehen.« Er blickte mich unverwandt an und sagte, ohne eine Miene zu verziehen, mit einer leichten Verbeugung: »Habe nicht die Ehre«. Hierauf machte er eine halbe Wendung und fuhr, nach uns zurück sprechend, fort: »Die Herren werden schon entschuldigen. Ich bin seit heute morgen auf den Beinen und muß mir's bequem machen.« Er war bei diesen Worten auf eine Seitentür zugeschritten, öffnete sie und verschwand in einem kleinen Zimmer, das offenbar als Schlafgemach benützt wurde. »Er ist wirklich sehr in Anspruch genommen«, bestätigte Elsa, die ihm, wie ihn bedauernd, nachgeblickt hatte. Dann begab sie sich mit einer kurzen Entschuldigung in die Küche, um, wie sie sagte, nach dem Tee zu sehen. Ich spürte nun großes Verlangen, fortzugehen und sah meinen Begleiter fragend an. Dieser aber schien durchaus nicht gewillt, das Feld zu räumen; er lehnte sich vielmehr mit einer Art verbissenen Trotzes in den Stuhl zurück und streckte die Beine von sich. Jetzt trat auch schon die Hausfrau wieder ein, in jeder Hand eine kalte Schüssel tragend. Die Magd folgte mit allerlei Zubehör. Dann wurde der kochende Teekessel gebracht; später folgte ein großer, mit Bier gefüllter Glaskrug. Inzwischen war Röber gleichfalls zum Vorschein gekommen. Er hatte sich in einen langen, abgetragenen Schlafrock gehüllt, der Spuren früherer Eleganz aufwies; an den Füßen trug er bequeme Hausschuhe. »Die Herren werden es nicht übel nehmen,« begann er in herablassendem Tone, als verzeihe er uns, daß wir möglicherweise an seiner Bekleidung Anstoß nehmen könnten, »die Herren werden es nicht übel nehmen, daß ich so vor ihnen erscheine. Allein wie gesagt, ich fühle mich überangestrengt – und zudem leide ich schon einige Zeit an den Füßen.« »Ach ja!« fiel Elsa ein. »Und es will auch gar nicht besser werden. Hast du heute vielleicht wieder stärkere Schmerzen?« forschte sie ängstlich. »Nun, nicht gerade das. – Aber,« fuhr er mit einer Wendung nach dem Tische fort, »ich sehe, es ist alles bereit. Die Herren sind unsere Gäste?« »Gewiß werden sie uns das Vergnügen machen«, sagte Elsa einladend. Was konnte ich tun? Um irgend eine stichhaltige Ausrede zu ersinnen, war es zu spät und somit der günstige Augenblick, mich zu entfernen, versäumt; ich mußte mich also mit an den Tisch setzen. Elsa machte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit die Wirtin, während Röber, einem sichtlichen Bedürfnisse folgend, sehr ungezwungen den Schüsseln zu Leibe ging. Erst jetzt konnte ich ihn mit voller Aufmerksamkeit betrachten. Auch in seinem Äußeren zeigte sich eine große Veränderung. War Elsa in den letzten Jahren körperlich verfallen, so hatte er hingegen verhältnismäßig zugenommen. Aber es war nicht die blühende Überfülle der Gesundheit und Kraft, sondern jene blasse und weichliche Aufgedunsenheit, welche so vielen Menschen anhaftet, die ein unregelmäßiges und dabei sorgenvolles Leben führen. Dies konnte man besonders in seinem Gesichte wahrnehmen, dessen Züge derart verquollen waren, daß die früher so ungemein schönen dunkelgrauen Augen kaum mehr zur Geltung gelangten. Er rasierte das Kinn nicht, sondern trug einen sehr kurz gehaltenen Vollbart, der ihm übel ließ und in welchem sich schon zahlreiche Silberfäden bemerkbar machten; auch zeigte sich über der Stirn stark zunehmende Kahlheit. Der ganze Mann sah in der Tat sehr verkommen aus. Eben jetzt langte er eine Kartoffel auf seinen Teller und während er die noch leicht dampfende in vier Teile zerlegte und verkühlen ließ, eröffnete er, sichtlich in behaglicherer Stimmung, das Gespräch. »Sie wollen also,« begann er, sich gleichsam an uns beide wendend, mit ironischer Verziehung der Mundwinkel, »Sie wollen also meine El–sa–« er sprach den Namen mit satirisch übertriebener Betonung aus » à tout prix zur Dichterin machen?« »Machen?« rief Frauenlob mit scharfer Stimme. Er schien nur auf einen Angriff gewartet zu haben, und seine kleinen, grünlichen Augen blitzten kampflustig. »Machen? Wie sollte man das anstellen, wenn es nicht schon wäre?« »Ich weiß,« erwiderte der andere vornehm, indem er ein Kartoffelstück aufnahm: » poeta nascitur. Aber man kann auch jemanden in etwas heineinreden.« »Was hätte man davon?« entgegnete Frauenlob, geringschätzig das Haupt zurückwerfend. »Ganz richtig, was hätte man davon? Wenn auch Elsa Begabung besitzt – woran ich übrigens gar nicht zweifeln will – so bleibt doch das Ganze eine höchst unnütze Sache.« »Aber man kann doch damit verdienen, Leo«, warf Elsa schüchtern ein. Röber lachte laut auf. »Verdienen? Mit der Schriftstellerei? Ha! Ha!« »Erlauben Sie,« schrie Frauenlob heftig, während ich dem Mann im stillen nicht unrecht gab, »das ist eine Behauptung, die nur beweist, wie sehr Sie in Ihren Anschauungen zurück sind. Es ist ja wahr, früher einmal mußten selbst die größten Geister darben; heutzutage jedoch kann man mit der Feder sehr viel erwerben.« »Als Journalist vielleicht. Übrigens ist das viel oder wenig Ansichtssache. Wenn ich Summen in Betracht ziehen soll, so müssen es Hunderttausende sein.« »Sie geben es nicht billig!« lachte Frauenlob mit giftigem Hohne. Er hatte im Eifer eben das dritte Glas Bier hinuntergestürzt, und sein knochiges, breites Gesicht, das stets ungesund gerötet war, begann bläulich zu leuchten. »Das ist meine Sache«, erwiderte Röber mit ruhigem Stolz, und zum ersten Male glänzten seine Augen wieder hell und groß auf. »Die Herren Poeten pflegen beständig von ihren Idealen zu sprechen; auch andere Leute haben welche. Das meine ist ein sehr großes Vermögen, ein Ideal, das so ziemlich jedes andere in sich schließt.« »Aber auch um so mehr Ideal bleibt!« rief der Gegner bissig. »Je nach Umständen. Das kann Ihnen schon die große Anzahl bedeutender Kapitalisten zeigen, die es in der Welt gibt. – A propos, Lisi,« fuhr er mit einem Blick auf die Hausfrau fort, »ich habe heute gute Nachrichten mitgebracht. Die Sache in Bulgarien scheint endlich in Fluß kommen zu wollen.« »Wirklich! Wirklich!« rief sie, überrascht und vor Freude errötend, aus der peinlichen Verlegenheit heraus, die sie bei diesem Wortwechsel begreiflicherweise überkommen hatte. »Wirklich?« wiederholte sie jetzt, wie von einem unwillkürlichen Zweifel ergriffen, etwas kleinlaut und gedehnt. »Er hatte sich inzwischen den Mund gewischt und, ohne uns zum Rauchen aufzufordern, eine Zigarette angezündet.« »Ja, wirklich, mein Kind. Gut Ding braucht eben Weile, und ich begreife, daß es dir schon etwas zu lange dauert. Aber es sei dir vergeben. Und wenn alles so kommt, wie ich hoffe, dann kannst du zu deinem Vergnügen blaustrümpeln.« »Es dürfte wohl beim Strümpfestopfen sein Bewenden haben«, sagte Frauenlob mit unerbittlicher Grobheit. »Immer eine nützlichere Beschäftigung als Romane schreiben. Übrigens verspüre ich keine Lust, mich in eine weitere Behandlung dieses Gegenstandes einzulassen. Die Herren sind ja auch nicht zu mir, sondern zur – Dichterin gekommen. Ich darf die literarischen Konferenzen nicht länger stören.« Er erhob sich mit gemachtem Gähnen, trat schwerfällig auf Elsa zu und küßte sie flüchtig auf die Stirn. »Gute Nacht, mein Kind.« »Du willst dich wirklich schon zurückziehen?« fragte sie. Man sah ihr die innere Ratlosigkeit an, in der sie sich befand. »Gewiß, ich bin müde und schläfrig. Recht gute Nacht, meine Herren!« Er verbeugte sich dabei nur vor mir und schritt nach dem Nebenzimmer; Elsa folgte ihm bis zur Tür. Ich hatte genug, stand auf und suchte nach meinem Hute; Frauenlob, an seinem Ingrimm würgend, blieb sitzen. »Sie wollen schon fort?« fragte Elsa, zurückkehrend und in einem Tone, der bewies, welche Erleichterung ihr dies wäre. »Allerdings«, entgegnete ich, nach der Uhr sehend. »Die Stunde ist vorgerückt, und Sie wissen, ich habe einen weiten Weg. Sie bleiben noch?« wandte ich mich bedeutsam an meinen Begleiter. Dieser sah unschlüssig vor sich hin, dann sprang er auf. »Ich wollte allerdings noch einiges Wichtige mit Frau Elsa verhandeln, allein in solcher Stimmung – – In der Tat, gnädige Frau,« – er trat vor sie hin – »es bedarf des ganzen Umfanges meiner Verehrung und Bewunderung für Sie – –« »Ach mein Gott, lieber Doktor,« unterbrach sie ihn, »Sie sollten Röber doch schon ein wenig kennen. Er ist nun einmal so – er hat den Kopf voller Sorgen, die ihn übellaunig machen – und da – – Allerdings hat er sich heute unverantwortlich benommen. Und ich muß doppelt bedauern – Ihretwegen –« Sie sah mich dabei ausdrucksvoll und gleichsam um Nachsicht flehend an. »Was werden Sie von uns denken?« »Besorgen Sie nichts, gnädige Frau«, erwiderte ich. »Ich bin nicht so leicht verletzt. Vielmehr habe ich Sie recht sehr um Verzeihung zu bitten. Denn gewiß war es mein so ganz unvorbereiteter Besuch, zu dem ich mich nie und nimmer hätte entschließen sollen, was zur unliebsamen Verstimmung dieses Abends wenigstens beigetragen hat.« »O, glauben Sie das nicht«, sagte sie hastig. Dann, sich Frauenlobs besinnend, fuhr sie einlenkend fort: »Wie immer auch, überzeugt können Sie sein, daß es mir sehr angenehm war, Sie kennen gelernt – oder besser gesagt, wiedergesehen zu haben. Und ich würde Sie jedenfalls bitten, Ihren lieben Besuch zu erneuern, wenn ich das unter solchen Umständen noch wagen dürfte.« »Je nun, man wird ja im Leben immer wieder zusammengeführt. Für heute nehmen Sie die Versicherung, daß ich, was mich selbst betrifft, den verunglückten Abend keineswegs bedauere.« Ich drückte die Hand, die sie mir reichte. Dann geleitete sie uns in die Küche, wo sie die Magd weckte, die auf einem Stuhle eingeschlafen war und sich jetzt anschickte, uns durch den dunklen Flur nach dem bereits gesperrten Haustor zu leuchten. »Ich komme morgen Nachmittag,« sagte Frauenlob im Fortgehen; »hoffentlich finde ich Sie allein.« Sie erwiderte nichts und rief uns nur mit gedämpfter Stimme »Gute Nacht« nach. Kaum auf die Gasse getreten, rief mein Begleiter, in welchem es noch immer zu kochen schien: »Der Unverschämte! Und Sie, mein Bester, haben mich mit keinem Worte unterstützt!« »Was hätte ich sagen sollen? Ich begreife auch gar nicht, wie Sie sich so ereifern konnten. Dem Manne sind eben die neuen Beziehungen seiner Frau – oder Geliebten unangenehm. Er hat sich im ganzen doch nur wie ein Eifersüchtiger benommen.« »Eifersüchtig? Er liebt sie gar nicht. Seine Eitelkeit ist verletzt, weil er sich mit einem Mal von einer Frau geistig überragt sieht, die er bis jetzt nur als eine willfährige Magd betrachtet hatte.« »Möglich. Übrigens scheint er mir geistig durchaus nicht so tief stehend.« »Ach was! Ein Hohlkopf ist er, der obendrein an Größenwahn leidet. Haben Sie gehört, wie er mit den Hunderttausenden herumwarf?« »Je nun, er scheint sich mit weitgehenden geschäftlichen Spekulationen zu befassen. Und da wäre es ja in unserer Zeit des raschen Gelderwerbes immerhin denkbar, daß ihm irgend eine Kombination glückt.« »Sagen Sie lieber irgend ein Schwindel. Der Mensch besitzt alle Anlagen, um früher oder später mit dem Strafgerichte Bekanntschaft zu machen.« »Auch das ist nicht ausgeschlossen. Es walten hier überhaupt Verhältnisse ob, in welche man sich am besten gar nicht einmischt. Auch Sie, denk' ich, sollten sich zurückziehen.« »Zurückziehen? Ich? Nachdem ich schon so weit vorgedrungen? Nein, da kennen Sie mich schlecht, Verehrter! Dieser Frau müssen die Augen geöffnet, sie selbst auf die Bahn gebracht werden, die sie zu schreiten berufen ist. Ich interessiere mich sehr für sie – und zwar, wie ich Ihnen ganz offen bekennen will, nicht bloß für die Schriftstellerin.« »Wenn das der Fall ist, dann stehen Ihre Aussichten nicht sehr günstig. Denn wenn Sie vielleicht auch recht haben, daß er sie nicht liebt: sie liebt ihn gewiß leidenschaftlich.« »Nun ja! Das mag sein!« rief er, ärgerlich über die Wahrheit, die mein Ausspruch enthielt. »Aber das kann sich auch ändern. Die Hauptsache ist, daß sie erkennt, an welchen Mann sie sich da gekettet hat. Daher muß man ihr eine literarische Stellung schaffen; ist ihr Ehrgeiz einmal geweckt, dann ergibt sich alles weitere von selbst.« »Je nun, Sie sind Herr Ihrer Beschlüsse.« Wir waren inzwischen auf der Freiung angelangt, wo die erleuchtete Uhr der Schottenkirche eine halbe Stunde vor Mitternacht wies. »Werden Sie noch auf einen Tramwaywagen stoßen?« fragte er kühl und offenbar verletzt durch meine zweifelhafte Zustimmung. »Ich denke wohl, daß es noch nicht zu spät wäre. Aber ich ziehe es jedenfalls vor, zu Fuß zu gehen. Die Nacht ist hell und angenehm.« »Nun, dann leben Sie wohl! Ich kehre um.« Wir verabschiedeten uns ziemlich gemessen voneinander; dann trat ich beim Schein des Halbmondes, an welchem, querüber, ein regungsloser dunkler Wolkenstreif stand, den Heimweg an. 6. VI. Der »Roman einer Frau« war in der Tat erschienen. Frauenlob hatte dafür einen jungen, aufstrebenden Buchhändler gewonnen, der in pikanten Verlagsartikeln sein Heil zu finden hoffte und auch ein verhältnismäßig nicht unbedeutendes Honorar zahlte. Der Erfolg entsprach allerdings nicht ganz den ausschweifenden Erwartungen der beiden Herren; aber es war immerhin ein Erfolg, der fast ganz mit meinen Voraussetzungen zusammentraf. Von der maßgebenden Kritik anfänglich gar nicht beachtet, fand das Buch doch den Weg in das lesende Publikum und wurde vornehmlich von Frauen, die in offenkundiger oder verheimlichter Mißehe lebten, mit einer Art persönlicher Anteilnahme gepriesen. Infolgedessen drang es denn allmählich auch in literarische Kreise; man prüfte, fand, was ich gefunden, und hielt mit mehr oder minder einschränkender Anerkennung nicht zurück. So kam es, daß der Name der Verfasserin ein mehrfach genannter wurde, sie selbst aber hier und dort als interessante Erscheinung auf der Bildfläche der Öffentlichkeit auftauchte. Wie weit dies alles in ihr bisheriges Leben verändernd eingriff, blieb mir unbekannt. Denn in meinen eigenen Verhältnissen war inzwischen ein Umschwung eingetreten, welcher, seit längerem vorbereitet, mich zu dem Entschlusse bestimmt hatte, Wien zu verlassen und einen anderen Aufenthaltsort zu wählen; ich war abgereist, ohne Elsa Röber wieder gesehen zu haben. Frauenlob, der mich seit jenem Abend auffallend vernachlässigt hatte, war beim Abschiede sehr kühl und wortkarg, indem er das schweigende Selbstbewußtsein eines Mannes hervorkehrte, der in stolzer Zurückhaltung bloß die Tatsachen für sich sprechen läßt. Ich würde also in meiner Abgeschiedenheit aller dieser Ereignisse und Zusammenhänge immer weniger gedacht haben, wenn mich nicht jetzt ab und zu die Zeitungen daran gemahnt hätten. Ich stieß auf Notizen über Elsa Röber, auf literarische, sowie auf solche, welche bloß Persönliches enthielten. So wurde sie auch in einer Schilderung des glänzenden Festes, das während des Karnevals in den Atelierräumen eines berühmten Malers stattgefunden, unter den Damen genannt, welche durch blendende Erscheinung und prachtvolles Kostüm besonders aufgefallen waren. Da erhielt ich im Frühling von Frauenlob ganz unvermutet ein Buch zugesendet. Er war, wie sich zeigte, wieder einmal »schöpferisch« tätig gewesen und hatte unter sehr verlockendem Titel einen Band Erzählungen herausgegeben, welche in der Tat bewiesen, daß es ihm weit weniger an Talent, als an Geschmack und innerer Reife gebrach. Eine dieser Erzählungen, und zwar die längste von allen, konnte sogar als gelungen bezeichnet werden, und ich war froh, ihm dies in warmen Worten mitteilen zu können. Mich bei dieser Gelegenheit nach Elsa zu erkundigen, unterließ ich nach einiger Überlegung, es gewissermaßen ihm selbst anheimstellend, ob er mir in dieser Hinsicht Nachricht geben wolle oder nicht. Ich empfing von ihm auch sofort ein längeres Schreiben, welches nebst seinem Danke für meine Anerkennung folgendes enthielt: »Und nach Elsa Röber fragen Sie nicht? Das ist mir ein Beweis, daß Sie sich um diese Frau gar nicht mehr kümmern. Dennoch dürfte es Sie interessieren, zu erfahren, daß ich meine Beziehungen zu ihr abgebrochen habe. Und zwar vollständig und für immer. Denn sie ist infolge ihres literarischen Debüts mit Kreisen in Berührung gekommen, die mir durchaus nicht zusagen. Überdies hat sich merkwürdigerweise der Ausspruch, den Sie, wie Sie sich noch erinnern werden, einst über Röber getan, insofern bewahrheitet, als es diesem wirklich gelungen ist, die an jenem denkwürdigen Abend aufs Tapet gebrachte Angelegenheit in Fluß zu bringen. Er vermittelt jetzt, so heißt es, bedeutende Exporte nach allen Balkanländern, und Sie begreifen, daß er sich bereits auf den kleinen Krösus hinausspielt. Die enge Stadtwohnung ist aufgegeben, eine weitläufige in einem vornehmen Neubau bezogen worden. Kleine Diners finden dort statt, sowie größere Abendgesellschaften, an welchen neben einigen fragwürdigen Geschäftsexistenzen auch gewisse Schmarotzer teilnehmen, die den Ruhm der Hausfrau in die Welt posaunen. Dieses alles würde übrigens noch hingehen, wenn nicht auch sie angefangen hätte, sich (wie lächerlich!) auf die große und vornehme Dame hinauszuspielen – und sogar mir , dem sie in schlimmer und schlimmster Zeit ihren Erfolg (der ja auch ein pekuniärer war!) zu danken hatte, mit Herablassung und Geringschätzung zu begegnen. Da ich aber keineswegs der Mann bin, solches zu dulden, so habe ich ihr, nachdem sie mich einmal über eine Stunde hatte antichambrieren lassen, meine Meinung rund heraus gesagt und sie ihrem Schicksal überlassen. Dieses wird kein sehr freundliches sein; denn Leuten wie Röber gegenüber bleibt das Sprichwort aufrecht: Wie gewonnen, so zerronnen. Übrigens kann mir alles weitere um so gleichgültiger sein, als ich selbst neue Wege einzuschlagen gedenke. Hören und staunen Sie: auch ich verlasse Wien. Allerdings nicht, um mich, gleich Ihnen, in beschauliche Einsamkeit zurückzuziehen. Ich will mich vielmehr aus unseren stagnierenden, absterbenden Zuständen heraus so recht ins Volle und Aufstrebende stürzen – kurz: ich will trachten, in der Hauptstadt des Deutschen Reiches Boden zu gewinnen. Für einen Österreicher keine leichte Aufgabe, werden Sie sagen. Gewiß. Aber ich schrecke vor Schwierigkeiten nicht zurück. Man hat in Berlin einen sehr bezeichnenden Ausdruck erfunden: das Epitheton ›schneidig‹. Nun, einige ›Schneidigkeit‹ werden Sie mir, wie Sie mich kennen, wohl zugestehen müssen – und daraufhin will ich es wagen. Jedenfalls werde ich diesen Sommer daran setzen, die dortigen literarischen Verhältnisse eingehend zu studieren – und mich überhaupt umzutun. Gelingt es mir nicht, feste Anknüpfungspunkte zu finden – dann erübrigt mir freilich nichts anderes, als wieder zur alten Wiener Tretmühle zurückzukehren. Unter allen Umständen aber erhalten Sie aus der deutschen Metropole Nachricht von Ihrem usw.« So also standen nunmehr die Dinge, deren Entwicklung ich bald wieder aus den Augen verlor. Denn immer seltener wurde jetzt in den Blättern, die mir zu Gesichte kamen, Elsa Röber erwähnt; es ließ sich erkennen, daß man über sie, die ihrem ersten kein zweites Werk hatte folgen lassen, bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen war. Nur einmal noch, nach ziemlich geraumer Zeit, stieß mir eine Notiz auf: Frau Elsa Röber habe zur Errichtung eines Kinderasyls eine sehr namhafte Summe beigesteuert. Ich stutzte. Wollte sie vielleicht mit dieser Spende Gewissensregungen beschwichtigen und an fremden Kindern gutmachen, was sie einst an den eigenen verbrochen? Fast schien es mir so. Es konnte indessen auch bloße soziale Eitelkeit sein, was sie antrieb, als öffentliche Wohltäterin zu glänzen. Eines aber war damit bewiesen: daß sich Röber noch immer im Stadium des »Gewinnens« befand. Was Frauenlob betraf, so hatte er mir zwar von Berlin aus voll stolzer Zuversicht und weitgehender Erwartungen geschrieben, auch später unter Kreuzband ein paar Artikel zugesendet, die in dortigen Blättern erschienen waren; fernere Resultate jedoch ließen auf sich warten. 7. VII. Ein Jahr später führten mich die Verhältnisse auf kurze Zeit wieder nach Wien. Es war im Frühsommer, und die helle Stadt schimmerte in vollem Blütenschmuck ihrer öffentlichen Anlagen. Dennoch hatten viele meiner Bekannten sich bereits aufs Land begeben. Einer von ihnen stellte mir in seiner verlassen stehenden Wohnung ein Zimmer zur Verfügung, welches ich eigentlich nur zum Schlafen benützte. Ich empfing niemanden, ging ziemlich unbeachtet meinen Geschäften nach und gab mich nebenher im stillen den Genüssen hin, welche Wien und seine nächste Umgebung in dieser schönen Jahreszeit darbieten. So hatte ich mich auch an einem strahlenden Sonntagsmorgen zu einer Fahrt nach Schönbrunn entschlossen. Ich wollte da draußen, etwa im Jägerhause, frühstücken und hierauf wieder einmal den herrlichen Park nach allen Richtungen durchstreifen, wollte mich später auf eine Bank niederlassen, die sonnigen, rasenumsäumten Blumenbeete des Parterres, die weißen Marmorgruppen in den Nischen der Laubwände, das freundliche Schloß mit seinen grünen Jalousien vor Augen – und mich dabei in längst vergangene Zeiten, in alte teuere Erinnerungen zurückträumen ...... Das führte ich denn auch alles aus – und darüber war es Mittag geworden. Ich dachte nun bei »Dommayer« zu essen, nachmittags aber bei Verwandten vorzusprechen, die in Penzig wohnten, und welche ich seit einer Reihe von Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Während ich mich jetzt dem nach Hietzing führenden Ausgang des noch ziemlich menschenleeren Parkes näherte, kamen mir in der breiten Doppelallee zwei hohe, vornehm aussehende Frauengestalten entgegen. Die eine von ihnen schien mir sehr bekannt; unwillkürlich blickte ich sie forschend an – und sah, nun schon ganz in der Nähe, daß ich Elsa Röber vor mir hatte. Auch sie war, wie ich bemerken konnte, auf mich aufmerksam geworden, und ungeheuchelte Freude des Wiedersehens malte sich jetzt in ihren Zügen. »Ah, Sie sind in Wien!« rief sie, stehenbleibend und mir die Hand entgegenstreckend, die ich mit einiger Verlegenheit ergriff. »Seit wann sind Sie denn hier? – Aber ich muß Sie bekannt machen«, fuhr sie mit einem Blick auf ihre Begleiterin fort, die mich stolz und zurückhaltend betrachtete. »Meine Freundin Frau von Ramberg – Herr –.« Ich hatte inzwischen herausgefunden, daß mir auch diese Dame, welche eine Art Männerhut und einen leichten Halbschleier trug, nicht ganz fremd war; denn sie gehörte zu jenen Erscheinungen, mit welchen mich die weitläufigen gesellschaftlichen Beziehungen, die ich in früherer Zeit noch unterhielt, hier und dort flüchtig zusammengeführt. Sie war die Frau eines Konsulatsbeamten und mit diesem ziemlich weit in der Welt herumgekommen; seit sie aber von ihm getrennt lebte, hatte sie Wien zu ihrem ständigen Aufenthaltsorte gewählt, wo sie eine rege gemeinnützige Wirksamkeit zu entfalten suchte. Sie beschäftigte sich viel mit der Frauenfrage, war Mitglied mehrerer weiblichen Vereine; ja sie hatte sogar an der Klinik eines berühmten Chirurgen einen Pflegerinnenkurs durchgemacht, dessen Frucht eine kleine Broschüre über diesen Gegenstand war. Sie galt für geistig sehr bedeutend, aber auch für hochmütig und ränkesüchtig; die Männer behandelte sie mit kühler Herablassung und schloß sich mit Vorliebe an Frauen an. Sie erwiderte nunmehr meine Verbeugung mit einem gemessenen Kopfnicken. »Und bleiben Sie jetzt hier?« fragte Elsa weiter. »Keineswegs. Ich bin nur auf ganz kurze Zeit gekommen – gleichsam inkognito –« »Das ist schade. Ich begreife übrigens, daß man es vorzieht, auf dem Lande zu leben. Die Ruhe ist so wohltuend. Auch wir wollen jetzt beständig in Hietzing wohnen, wo wir eine Villa gekauft haben. Wußten Sie vielleicht davon?« »Nein.« »Weil Sie sich auch gar nicht um so alte Bekannte kümmern! Aber kommen Sie doch ein wenig mit uns. Man hat mir Bewegung verordnet, und da laufe ich denn die Alleen hier ab.« Ich konnte nicht umhin, mich anzuschließen und fand mich allmählich in die so unvermutete Situation. Hatte ich doch kaum mehr der Frau gedacht, die jetzt neben mir herschritt! Sie war schlank geblieben und sah bei näherer Betrachtung etwas gealtert aus; vor allem hatte ihr Teint und der Schmelz der Zähne bedeutend gelitten. Aber ihre Züge waren feiner, vergeistigter geworden, und ein schwermütiger, schmerzlicher Zug um Augen und Mund verschönte sie eigentümlich. Ein Morgenkleid aus rot gemustertem Foulard und ein großer weißer Spitzenhut vollendeten ihre tadellose Erscheinung. Ja, sie war in Haltung und Miene, in Wort und Gebärde wahrhaftig eine »Dame« geworden. Der Wiener Dialekt, der ihr eigentlich niemals stark angehaftet und welchen sie im Verkehr mit Röber, der ein sehr reines Deutsch sprach, schon früher so ziemlich abgestreift hatte, war jetzt bis auf einige leichte und gemütliche Anklänge aus ihrer Rede verschwunden. Was nicht das Geld bewirkt! So dacht' ich im stillen, während ich das kostbare Parfüm einatmete, das in einem feinen Hauche von ihr ausging. »Wissen Sie,« begann sie nach einigen schweigend zurückgelegten Schritten, »daß ich Ihnen schon schreiben wollte?« »Mir? Gewiß in einer literarischen Angelegenheit?« »O keineswegs!« erwiderte sie rasch mit leichtem Erröten, »Sie erinnern sich doch – ich sagte Ihnen ja, daß ich eigentlich keinen Beruf zur Schriftstellerin in mir fühle.« »Man muß es ihr glauben, da sie es behauptet«, warf Frau von Ramberg, halb zu mir gewendet, mit ihrer etwas dünnen und knöchernen Stimme ein. »Sie hat aber trotzdem einen neuen Roman zu schreiben begonnen.« »Nun ja; ich bin jetzt wieder oft allein – und da muß ich doch die Zeit mit irgend etwas hinbringen. Aber es ist nur für mich; Sie wissen ja, es macht denen, die mir am nächsten stehen, keine Freude.« »Daran würde ich mich in der Tat nicht kehren«, sagte die andere scharf. »Ach lassen Sie das jetzt, liebe Euphemie«, erwiderte Elsa mit einem bittenden Blick. Und dann zu mir: »Aber sagen Sie doch, wohin wollten Sie eben? Was haben Sie für heute vor?« »Ich wollte zu Dommayer –« »Zu Dommayer? Essen Sie doch lieber mit uns!« »Wie könnt ich – –« »O ich verstehe. Sie haben noch jenen unseligen Abend im Gedächtnisse. Aber Sie werden heute alles anders finden – und auch ein paar Freunde von uns – eine ganz kleine Gesellschaft –« »Die ich nicht kenne.« »Der Architekt K .... und der Musiker H ... werden Ihnen doch nicht fremd sein?« sagte die Ramberg spitz, indem sie in die Luft sah. »Und der junge Maler R ... gewiß auch nicht«, setzte Elsa dringend hinzu. »Er tritt jetzt ganz in die Fußtapfen Lenbachs und Fritz Kaulbachs. – Und was den Hausherrn betrifft, so hatte er sich damals absichtlich so schroff benommen – und es auch gleich darauf bereut – Ihretwegen. Nur der Doktor war ihm äußerst verhaßt – und wie ich jetzt zugeben muß, nicht mit Unrecht.« »Nun –« »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Er hat sich mit dem Roman sehr bemüht – hat mir, ich geb' es gerne zu, in böser Zeit einen großen Dienst erwiesen. Und ich wäre ihm auch gewiß dankbar gewesen – aber er wollte sich sofort bezahlt machen.« Sie erhob das Haupt und blickte wegwerfend zur Seite. »Von wem ist die Rede?« fragte Frau von Ramberg. »Ach von –« Elsa nannte den Namen. »Das ist aber doch ein höchst geistvoller Mensch«, sagte die andere sehr bestimmt. »Wie ich höre, lebt er jetzt in Berlin?« »Ich glaube«, warf ich leicht hin, da ich nicht recht wußte, was ich erwidern sollte. »Also nicht wahr, Sie kommen?« wandte sich jetzt Elsa wieder an mich. »Um drei Uhr. Hetzendorferstraße.« Sie fügte die Nummer bei. Aber ich trug durchaus kein Verlangen, dort zu speisen, und brachte meinen beabsichtigten Besuch in Penzig vor. »Ach, den können Sie ja inzwischen abtun!« »Nun ja, aber –« »Kein aber! Bitte, kommen Sie! Ich hätte Ihnen so manches zu sagen –« »Ich kann ja nach Tisch erscheinen.« »Sie würden uns vielleicht nicht antreffen; denn wir fahren wahrscheinlich nach Tisch aus.« »Nun, wenn dieser Herr gar so viele Umstände macht –« sagte Frau von Ramberg und zog die Schultern in die Höhe. »Nein, nein! Ich habe ihn nun einmal und lasse ihn nicht wieder los. Wer weiß, ob ich ihn sonst jemals wieder sehe, da er ja nicht hier bleibt – und auch ich schon in den nächsten Tagen abreise. – An die See – oder ins Gebirge«, setzte sie mit leiserer Stimme, zu mir gewendet, hinzu. »Ich bin sehr leidend – meine Nerven sind zerrüttet –« Ich blickte sie an. In der Tat: der schmerzliche Zug in ihrem Antlitz trat jetzt schärfer hervor, und ihr Blick hatte etwas Erloschenes. »Nun denn,« sagte ich, unwillkürlich nachgebend, »ich werde erscheinen.« »Schön!« rief sie. »Und nun machen Sie Ihren Besuch!« Ich verabschiedete mich von den Frauen und begab mich über den schwankenden Kettensteg nach Penzig. Dort traf ich, wie dies meistens in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, niemanden von der Familie, die ich wieder sehen wollte, zu Hause. Man hatte vereint für den ganzen Tag einen weiteren Ausflug unternommen. 8. VIII. So begab ich mich denn doch zu Dommayer und blieb dort bis hart an drei Uhr sitzen. Endlich betrat ich die Hetzendorfer Straße und dachte beim Anblick der neuen schimmernden Villen an die unscheinbare Reihe schlichter, kleiner Landhäuser, welche in früherer Zeit hier gestanden. An Ort und Stelle angelangt, wurde ich von einem Livreediener in einen großen, ebenerdigen Salon geführt, wo der Hausherr mit sechs männlichen Gästen bereits anwesend war. Ich sah, daß Röber bei meinem Erscheinen leicht errötete, und er konnte seine Verlegenheit nicht ganz bemeistern, während er mir mit ausgesuchter Höflichkeit entgegenschritt. »Elsa hat mir gesagt, daß wir heute das Vergnügen haben würden, Sie zu empfangen; ich freue mich außerordentlich. Die Damen werden wohl gleich erscheinen; darf ich Sie einstweilen mit diesen Herren bekannt machen?« Der Architekt, ein behäbiger, jovialer Lebemann und infolge des feinen Kunstsinnes, den er als Hersteller geschmackvoller Interieurs bewährte, in den vornehmsten Kreisen gesucht und beliebt, war schon auf mich zugekommen und schüttelte mir die Hand, während der Musiker H ..., ein ergrauter Apostel Richard Wagners, sich mit einem apathischen Kopfnicken begnügte. Der Maler, schlank und blond, der mir bloß dem Namen nach bekannt war, verneigte sich mit verbindlicher Schüchternheit wie ein junges Mädchen. Ganz unbekannt waren mir: Herr Malinsky, Geschäftsfreund Röbers; eine hagere Gestalt mit fast kahl geschorenem Haupte, aber endlos nach rechts und links abstehendem Backenbarte. Sein Antlitz war schlaff und durchfurcht, sein Blick matt und doch durchdringend wie der eines Croupiers. Dann ein schmächtiger Jüngling mit nachlässiger, vornüber gebeugter Haltung, dünner Habichtsnase, ein rundes Stück Glas ins rechte Auge geklemmt. Er wurde mir als Baron Conimor vorgestellt und bemühte sich, verständnisinnig zu lächeln, als ihm mein Name genannt wurde. Dabei sah man ihm die Zuversicht an, daß der Nimbus kolossalen Reichtums, der den seinen umstrahlte, keineswegs verfehlen würde, die richtige Wirkung zu tun. Ganz zuletzt tauchte, gewissermaßen wie aus einem Versteck, ein kleiner dicker Mann mit Säbelbeinen, ungeheuerer Stirn und wulstigen Lippen über dem verschwindend kurzen Kinn auf: der Direktor des neuen Kinderasyles. Er verneigte sich linkisch und sah in seinem zwar ganz neuen, aber sehr schlecht sitzenden schwarzen Anzuge zwischen den in geschmackvolle Sommertracht gekleideten Anwesenden wie ein Leichenbitter aus. Den vornehmsten Eindruck machte Röber. Er war wieder ganz die stramme, tadellose Erscheinung von früher. Sein Scheitel war freilich gelichtet geblieben; aber dieser Mangel ließ die Stirn freier und schöner hervortreten, wie denn überhaupt seine Züge, wie sich nun zeigte, mit den Jahren an Bedeutung gewonnen hatten. »Was nicht das Geld vollbringt!« dachte ich wieder still bei mir. Jetzt öffnete sich die Tür, und die beiden Damen traten ein. Aller Augen blickten ihnen entgegen und leuchteten, mit Ausnahme der grauen und kalten Röbers, in Bewunderung für die Hausfrau auf. Elsa sah nun auch wirklich überraschend schön aus, und man kam hier wieder einmal zur Einsicht, welche Rolle die Ankleidekunst im Leben einer verblühenden Frau spielt. Eine knappe, spitzenverbrämte Robe von gelblicher Farbe, herzförmig ausgeschnitten und in der linken Achselgegend mit blassen Rosen geschmückt, zeigte ihren Wuchs in harmonischer Schlankheit; die eben in Mode gekommene schlichte und glatte Haartracht, mit dem kleinen englischen Knoten im Nacken, ließ sie um so jugendlicher erscheinen, als der krankhafte Gesichtsausdruck in diesem Augenblicke gänzlich verschwunden war. Erst jetzt bemerkte ich, daß die Haare einen starken Schimmer ins Rote aufwiesen, der offenbar künstlich hergestellt war, wie man denn überall die verhüllende, nachbessernde und verschönende Hand wahrnehmen und verfolgen konnte. Dennoch lag über der ganzen Gestalt eine köstliche aromatische Frische, an der man ebenso wenig zweifeln mochte, wie an der Echtheit der Brillant-Boutons, die an den rosigen Ohren der schönen Frau gleich großen Tautropfen funkelten. Als gerader Gegensatz erschien Frau von Ramberg, obgleich auch sie sich in den Gemächern der Hausfrau mit etwas Reispulver angefrischt und den spärlichen Brauenwuchs über den wasserblauen Augen sorgfältig nachgedunkelt hatte. Ihr Gesicht erwies sich nun ohne Schleier als nicht unhübsch: kleine, gekniffene Züge, denen ein bedeutungsvoller Ausdruck aufgezwungen war. Sie trug das fahlblonde Haar rund abgeschnitten und zu einer kunstvollen Kräuselfülle aufgebauscht, was ihr im Verein mit der stolzen Kopfhaltung und einem schwarz geränderten Kneifer, den sie nunmehr, weiß Gott warum, auf die Stumpfnase gesetzt hatte, fast das Aussehen eines jungen Mannes verlieh; auch der hagere, eckige und von einem übertrieben einfachen Kleide bis an das Kinn hinauf umschlossene Leib stimmte dazu. So hatte denn die ganze Erscheinung etwas Zwiespältiges, das leicht ein Lächeln hätte hervorrufen können, aber der scharfe, böse Zug um die schmalen, blutlosen Lippen der Dame mahnte zur Vorsicht. Elsa, ein prachtvolles Bukett von Rosen und Hyazinthen in der Rechten, bot mir mit einem Blick der Befriedigung rasch die Linke zu flüchtigem Drucke. »Schön, daß Sie Wort gehalten haben!« Dann begrüßte sie die Gesamtheit der übrigen Herren mit einer anmutigen Kopfbewegung und trat auf den Direktor zu. Dieser sagte unter zahllosen Bücklingen, er habe seinen Sonntag benützt, um der großherzigen Gönnerin vor der Badereise noch Kunde von ihren lieben Schützlingen zu bringen. Der Herr Gemahl sei so liebenswürdig gewesen und habe ihn aufgefordert, beim Diner zu bleiben. »Sehr willkommen«, erwiderte Elsa, deren Züge einen innig ernsten, fast andächtigen Ausdruck angenommen hatten. »Hoffentlich gedeihen die Kleinen und sind zufrieden. Wir wollen bei Tisch weiter davon sprechen.« Dann wandte sie sich, wie mir schien, mit etwas gezwungener Liebenswürdigkeit an Conimor. »Und Ihnen, Baron Sigi, muß ich sehr danken für das wundervolle Bukett – sowie für die anderen Blumen, die Sie mir neuerdings haben senden lassen. Es ist sehr lieb von Ihnen – aber was wird Ihr Papa sagen, wenn Sie die Treibhäuser derart plündern? Nicht wahr, Leo?« Sie blickte nach Röber; dieser aber zuckte bloß die Achseln. »Ach was, Papa!« lachte Conimor gedehnt. »Der tut's ja selbst – wenn auch mehr im geheimen.« »Das muß wahr sein«, warf der Architekt ein, der als gutmütiger Spottvogel bekannt war. »Conimor Vater und Sohn ersticken die Frauen Wiens mit Blumen.« »Nur die schönen, wenn ich bitten darf«, versetzte der Baron, Elsa, indem er den Kopf leicht hin und her wiegte, mit den Augen verschlingend. »Übrigens – unsere Gärten vertragen es. Sie wissen doch, daß wir zur Vergrößerung der Anlagen in Nußdorf wieder einige Joch Terrain erworben haben?« »Und einen Gartendirektor aus England«, warf der Maler ein. »Ja – aber auch der leistet nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches. Rosen – und immer wieder nur Rosen. Das wird am Ende langweilig. Soll einer einmal eine ganz neue Blume erfinden!« »Das dürfte freilich schwer halten«, sagte der Architekt. »Aber bringen Sie selbst einmal Abwechselung in den Gegenstand. Geben Sie statt der Rosen andere Gewächse, zum Beispiel Passifloren.« Conimor öffnete ein wenig den Mund und sah in die Luft. »Passifloren?« »Gewiß«, fuhr der andere fort. »Und da ließe sich vielleicht eine ganze neue Spielart zuwege bringen; die können Sie dann Passiflora Conimor nennen.« »Passiflora Conimor«, wiederholte der Baron gedankenlos, denn er starrte wieder nach Elsa, die sich inzwischen von ihm entfernt hatte. In diesem Augenblicke wurden die Türflügel des anstoßenden Speisezimmers geöffnet, und ein Diener in schwarzem Frack meldete, daß serviert sei. Elsa schob leicht ihren Arm unter den meinen; Röber führte Frau von Ramberg, die mit dem Direktor ein Gespräch begonnen hatte, und wir ließen uns alle an dem Tische nieder, der mit kostbarer Einfachheit gedeckt war: schweres Linnen, schwere Kristallgläser, massives Silber. Keine Blumen (denn wie mir Elsa zuflüsterte, liebte Röber sie nicht auf der Tafel); nur eine alte getriebene Fruchtschüssel, in welcher, von großen Gartenerdbeeren umgeben, eine Ananas goldig erglänzte, hob sich farbig von dem funkelnden und schimmernden Weiß ab. Auch das Menu sprach für den Geschmack der Wirte: wenige Gänge, aber ausgesuchte, seltene Gerichte; Bordeaux und Champagner. Elsa saß zwischen mir und dem Direktor. Dieser hatte gleich nach der Suppe seinen Bericht begonnen, den er, von teilnehmenden Fragen der Hausfrau des öfteren unterbrochen, mit einem salbungsvollen Sermon über den Segen der modernen Humanität schloß. Die Unterhaltung wurde nun allgemein. Conimor gab die neueste Turfanekdote zum besten. Man kannte sie aber schon und sie fand daher wenig Anklang. Die Künstler sprachen selbstverständlich von allerlei, das in ihr Fach schlug: der Maler von dem Bismarckbildnisse Lenbachs, der Architekt von einem verfallenen Schlößchen, das ein Graf X in Tirol gekauft habe und dessen Restaurierung demnächst in Angriff genommen werden sollte, der Musiker von der Aufführung des Parzival, die in Bayreuth bevorstand. Meine Tischnachbarin zur Linken, Frau von Ramberg, gab mir sehr eindringlich ihre Begeisterung für einen norwegischen Dichter zu hören, welcher eben damals mit seinen Dramen Aufsehen erregte, später aber durch Henrik Ibsen vollständig verdrängt wurde. Röber überwachte mit scharfen Blicken den Fortgang des Diners, während er mit dem neben ihm sitzenden Malinsky von Zeit zu Zeit einige vertrauliche Worte wechselte. Nicht allzu lange dauerte es, so wurde die Tafel aufgehoben, und man begab sich, um den Kaffee zu nehmen, in den Salon, da einstimmig erklärt wurde, auf der Terrasse sei es noch zu heiß. Nachdem der Direktor seine Tasse und ein Gläschen Chartreuse geleert hatte, bewegte er sich, eine der schweren Zigarren, die Röber seinen Gästen dargereicht, unangezündet zwischen den dicken Fingern, verlegen auf seinem Stuhle hin und her. Endlich erhob er sich und stammelte, man möge verzeihen, daß er sich leider entfernen müsse. Er habe eine Verabredung mit seiner Frau getroffen, die ihn in Schönbrunn erwarte. Elsa reichte ihm sehr freundlich die Hand, die er untertänig an die wulstigen Lippen drückte. Wie schön, wie weiß war jetzt – ich hatte sie schon bei Tisch bewundert – diese Hand, an deren schlankem Goldfinger ein prachtvoller Saphir glänzte. »Ich hoffe, vor meiner Abreise Ihre Zöglinge noch persönlich aufsuchen zu können; wenn nicht, so erhalten Sie jedenfalls das Bewußte zugesendet.« Kaum war der Direktor, der sich in der Nähe der Tür noch einmal mit einem tiefen Knix umgewendet hatte, wobei er nach Weiberart an seine langen Rockschöße griff, verschwunden, als auch Röber sich erhob. »Ich muß ebenfalls aufbrechen,« sagte er, »und kann nur bedauern, die Gegenwart so angenehmer Gäste nicht länger genießen zu können.« Man sah, wie Elsa erbleichend zusammenzuckte. »Wie?« fragte sie mit gepreßter Stimme, »du willst fort? Du hast doch versprochen, den Abend hier zuzubringen – endlich einmal«, setzte sie leiser hinzu. »Ja, ich habe es versprochen«, erwiderte er kalt. »Aber ich kann mein Versprechen nicht halten. Eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, nach der Stadt zu fahren.« »Heute? An einem Sonntag?« fragte Frau von Ramberg spitz. »Meine Angelegenheiten kennen keinen Sonntag, gnädige Frau.« Dann wandte er sich zu Elsa. »Malinsky wird es dir bestätigen; er kommt mit mir.« »Allerdings«, sagte dieser, indem er seine durchfurchte Stirn noch mehr in horizontale Falten legte. »Es geht nicht anders, Verehrte.« Er erhob sich zum Abschied. Elsa schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Geh' nur, geh'!« sagte sie, das Haupt zurückwerfend, heftig zu Röber. »Wir können auch ohne dich ausfahren.« »Gewiß,« erwiderte er mit einem harten Blicke; »du wirst mit Conimor fahren.« »Nun, wenn du es durchaus willst –« versetzte sie, nervös erbebend, und sah ihn mit weit geöffneten Augen an. »Ja, ja!« rief der Baron vergnügt, »wir fahren miteinander! Mein Fiaker hat heute ein ganz neues Zeug'l – famos!« Elsa achtete nicht darauf. »Und wann kommst du zurück?« fragte sie, schwer atmend. »Das weiß ich nicht. Es dürfte spät werden, und da übernachte ich besser gleich in der Stadt.« Nachdem er dies in eisigem Tone gesprochen hatte, verbeugte er sich nach rechts und links; dann trat er, wie sich besinnend, an mich heran und reichte mir mit einem Anfluge seines früheren Hochmutes die Hand. »Ich hoffe, Sie wohl noch ein andermal zu sehen.« Als er sich mit Malinsky entfernt hatte, trat eine peinliche Stille ein. Man sah, in welcher Gemütsverfassung sich Elsa befand, und war in Verlegenheit, wie man darüber hinwegkommen sollte. Selbst der joviale Architekt wußte sich nicht zu helfen; er trommelte auf den Scheiben der Glastür, die auf die Terrasse führte, während Frau von Ramberg ihren sichtlichen Ärger hinter einem Zeitungsblatt verbarg, das sie zur Hand nahm. Der Maler aber näherte sich betrachtend den Bildern, die an den Wänden hingen; darunter auch eine arg verstrichene Farbenskizze von Makart, welche die Hausfrau in einem ungeheueren Rembrandthute vorstellte. Zuletzt vertiefte er sich sehr angelegentlich in einen ganz kleinen Pettenkofen, der in der Nähe eines Fensters angebracht war. Nur Conimor kam nicht aus dem Gleichgewichte. Er goß sich höchst munter ein zweites Glas Chartreuse ein und vertauschte seine Zigarre, die er in den Aschenbecher warf, mit einer zarten Papyros. »Wie heiß es hier ist!« rief Elsa plötzlich, indem sie ihren Fächer heftig auseinander schwirren ließ. »Soll ich die Tür öffnen?« fragte der Architekt. »Bitte!« Er tat es. Die Luft, die hereindrang, war allerdings noch von der Nachmittagssonne durchglüht; aber ihr würziger Hauch erquickte doch und verteilte sich wohltuend in dem rauchigen Raume. Man atmete freier auf, und auch Elsa schien sich allmählich zu fassen. »Lieber H ...,« sagte jetzt Frau von Ramberg herablassend zu dem Musiker, der inzwischen regungslos dagesessen hatte, »Sie haben bei Tisch von der neuesten Schöpfung Wagners gesprochen. Sie kennen sie gewiß schon – wenigstens zum Teil. Können Sie uns nichts daraus vorspielen?« »Den Anfang, wenn Sie wollen«, erwiderte der Gefragte trocken. »O ja! Wir bitten darum!« rief Elsa aus ihren Gedanken heraus. »Nicht wahr?« wendete sie sich fragend an mich; sie hatte sich offenbar erst jetzt wieder auf meine Anwesenheit besonnen. Der Musiker erhob sich, trat an den Stutzflügel, der in der Nähe der Gartentür stand, und öffnete ihn, während alles Platz nahm. Jetzt begann er zu spielen. In feierlichen, vibrierenden Schwingungen, sofort an die Eigenart ihres Urhebers mahnend, quollen die Töne auf. Der Architekt, wie um gesammelter zuzuhören, schloß die Augen; der Maler drehte, etwas zerstreut, die Enden seines feinen blonden Schnurrbärtchens; Conimor, die Hände in den Hosentaschen, öffnete den Mund. Frau von Ramberg hatte sich neben Elsa gesetzt und lauschte mit zurückgeworfenem Haupte und übereinandergeschlagenen Beinen. Elsa blickte starr vor sich hin; von Zeit zu Zeit schien ein leichter Schauder durch ihren Körper zu gehen. Das Spiel war zu Ende und tiefe Stille trat ein. Der Architekt fuhr empor; man merkte, daß er geschlummert hatte. Endlich sprach Frau von Ramberg: »Großartig! Erhaben!« »Das eigentlichste Werk des Meisters, eine Offenbarung«, bekräftigte H .... barsch. »Hm – ja«, sagte Conimor, indem er aufstand und näher trat. »Aber was Sie letzthin gespielt haben, hat mir noch viel besser gefallen. Sie wissen, das Stück da – aus Tristan und Isolde –« »Isoldens Liebestod«, versetzte der Musiker kurz, ohne ihn anzusehen. »Ach ja, Isoldens Liebestod!« rief Elsa hastig. »Er ist wundervoll! Spielen Sie ihn doch!« »Wird es Sie nicht zu sehr angreifen, meine Liebe?« fragte die Ramberg mit gedämpfter Stimme. »Ich fürchte –« »Ach nein, nein! Es tut nichts! Bitte, liebster H ...!« Dieser legte wieder die langen, vertrockneten Finger auf die Tasten, während sich Conimor auf ein kleines Tabouret niederließ, das zufällig ganz nahe hinter dem Fauteuil Elsas stand. So trat denn neuerdings erwartungsvolles Schweigen ein, und bald darauf entwickelte sich aus glau ineinander zitternden Klangwellen heraus, in allmählichen, grausam wollüstigen, immer wieder in sich zurücksinkenden Steigerungen, der gewaltsamste Angriff auf die menschlichen Nerven, den die Tonkunst kennt. Die Wirkung war auch hier eine geradezu körperliche: Jeder fühlte sich in seiner Weise gepackt, überwältigt, gepeinigt, entzückt, aufgelöst. Selbst Frau von Ramberg konnte ihre Würde nicht behaupten; sie fing an, sich auf ihrem Sitze wie eine Schlange zu winden. Elsa lag weit zurückgelehnt in dem niederen Fauteuil, ohne zu merken, daß ihr Haar den Arm Conimors berührte, den dieser auf die Lehne gelegt hatte. Sie war bleich, und ein hastiges, gleichmäßiges Zucken erschütterte ihren Leib. Plötzlich stieß sie einen durchdringenden Schrei aus. Alles sprang erschrocken auf; nur der Musiker blieb ruhig sitzen, die Finger auf den Tasten. »Ich hab' es ja gewußt!« rief Frau von Ramberg, mehr erzürnt als besorgt, indem sie mit ihrer dürren Hand über die Stirn Elsas strich. Diese sah aus wie eine Tote, ihr Blick war gebrochen. Dennoch erhob sie sich, mühsam nach Atem ringend, nahm den Arm der Dame und wankte, auf der andern Seite von Conimor unterstützt, aus dem Salon. Man hörte, wie sie draußen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. »Schöne Bescherung!« sagte der Architekt nach einer Pause. Dann sich zu H .... wendend: »Da haben Sie die Wirkungen der Wagnerschen Musik.« »Was kann Wagner dafür, daß die Leute krank sind«, versetzte der andere phlegmatisch. »Wie aber stünd' es um ihn, wenn sie's nicht wären?« » Sie sind jedenfalls gesund«, sagte H ...., indem er aufstand und ihm mit einen leichten Schlag auf den wohlgenährten Leib versetzte. Dann sah er nach der Uhr. »Schon sechs. Ich muß nach Lainz hinüber. Adieu.« Er verbeugte sich nachlässig und ging. »Alter Musikbär!« brummte der Architekt und folgte dem Maler und mir über die Terrasse in den Garten, wo wir ziemlich einsilbig das blumige Rondell des Vorplatzes umschritten. Draußen, hart am Gitter, im Schatten überhängender Zweige stand der Fiaker Conimors; in der Tat ein sehr »fesches Zeug«, dessen Lenker, auf dem Kutschbock ausgestreckt, den Schlaf des Gerechten schlief. Jetzt kam der Baron zurück und gesellte sich zu uns. Wir sahen ihn fragend an. »Ich weiß nichts«, sagte er, die Achseln zuckend. »Sie hat sich mit Frau von Ramberg auf ihr Zimmer begeben.« Es dauerte nicht lange, so erschien diese auf der Terrasse und schritt uns, sichtlich erregt, mit wichtiger Miene entgegen. »Die Frau des Hauses ist noch immer nicht wohl«, sagte sie. »Doch nichts Gefährliches?« forschte Conimor angelegentlich. »Ich hoffe nicht. Jedenfalls aber kann sie sich heute nicht mehr zeigen. Die Herren wollen sich also in ihren weiteren Plänen für den Abend nicht stören lassen. Sie aber, Baron Sigi, fahren sofort nach der Stadt zu Doktor Breuer, auf daß er, wenn möglich, noch heute herauskommt.« »Soll geschehen«, versetzte Conimor, näherte sich dem Gitter und rief den Kutscher an. Er mußte es noch zweimal tun, bis dieser emporschrak, schlaftrunken um sich blickte und, endlich die Sachlage begreifend, beim Tor der Villa vorfuhr. »Und was tun wir ?« wandte sich der Architekt an den Maler. Dieser blickte unschlüssig vor sich hin. »Wenn die Herren wollen, nehme ich Sie mit«, sagte Conimor mit einer einladenden Armbewegung. »Ja, haben wir denn alle drei Platz?« fragte der umfangreiche Baukünstler mit einem Blick nach dem zierlichen Gefährt. »Ach was, wir nehmen den Baron auf den Schoß!« erklärte der Maler. Die Herren stiegen ein. Nachdem der Wagen fortgerollt war, sah mich Frau von Ramberg von der Seite an und fragte: »Sie kennen Elsa schon lange?« »Allerdings – ziemlich lange.« »Und auch, wie sie mir selbst gesagt hat, ihre früheren Verhältnisse. Da werden Sie sich wohl manches von dem erklären können, was Sie heute wahrgenommen.« Sie erwartete, daß ich etwas darauf sagen würde. Da dies aber nicht geschah, fuhr sie fort: »Das ist die Folge, wenn man einem Manne alles opfert. Offen gestanden, habe ich Elsa, nachdem ich ihren Roman gelesen, für eine weitaus bedeutendere Frau gehalten. Sie ist doch nur eine beschränkte, weichmütige Wienernatur und brachte es nicht einmal dahin, daß Röber sie geheiratet hat. – Ich glaube, sie wollte Ihnen Eröffnungen machen und Ihren Rat erbitten«, setzte sie nach einer Pause hinzu, offenbar ärgerlich über mein andauerndes Schweigen, das ihr gewiß sehr einfältig erschien. »Aber da ist nicht zu raten und nicht zu helfen. Er liebt sie eben nicht mehr. Auch sonst ist die Arme sehr übel daran. Sie hat nämlich in letzter Zeit öfter derlei Anfälle, und die Ärzte verstehen ihren Zustand gar nicht, wenn sie ihr Bewegung verordnen. Ich halte das Ganze für den Beginn einer höchst traurigen Frauenkrankheit.« Mit diesem kategorischen Ausspruch zog sie das Kinn zu kurzem Gruß an und entließ mich. Ich aber trat in den lauen, dämmerigen Abend hinaus. Auf dem Hietzinger Platze wimmelte es von Menschen und Fuhrwerken aller Art, die bereits samt und sonders der Stadt zustrebten, während bei Dommayer lustige Musik erklang und immer neue Scharen von Besuchern den Schönbrunner Park verließen. Mitten in diesem bunten Gewoge schritt auch ich jetzt, meinen Gedanken nachhängend, dahin. * * * Als ich mich im Laufe der nächsten Tage, meinen Besuch in Penzing erledigend, nach dem Befinden Elsas erkundigte, erhielt ich in der Villa den Bescheid, daß sie auf dringendes Anraten der Ärzte eine altbewährte Wasserheilanstalt aufgesucht habe. 9. IX. Die Zeit meiner Abreise war herangerückt. Bevor ich meine Vaterstadt vielleicht auf lange wieder verließ, wollte ich noch eine stille Stunde der Gemäldegalerie im Belvedere weihen. Konnte es doch das letztemal sein, daß ich diese Kunstschätze an dem stimmungsvollen Orte sah, wo ich sie seit meiner Jugend zu betrachten und zu bewundern gewohnt war. Die Ausführung dieses Vorhabens wurde durch mehrfache Umstände bis knapp vor dem Tage verzögert, den ich mir zur Reise festgesetzt hatte, und selbst da kam noch allerlei Störendes dazwischen, so daß es bereits zwei Uhr war, als ich mich, an den wohlbekannten Taxushecken und den steinernen Sphinxen vorübereilend, dem ehemaligen Sommerpalaste des Prinzen Eugen näherte. Das Wetter war dem Unternehmen nicht sehr günstig: ein düsterer, bedeckter Himmel, der sich hin und wieder aufhellte, um gleich wieder regendrohend sich zu verfinstern. So fehlte denn, als ich die weiten Säle betrat, der verklärende Sonnenschein, welcher, wenn auch in einzelnem zuweilen störend, die Gesamtheit der Bilder sofort dem Auge und Herzen näher bringt. Zudem waren unvermutet viele Besucher da; die Mehrzahl rote Bädeker in den Händen. Was mich aber am meisten störte, war die Unzahl von kopierenden Malern und Malerinnen. Sie saßen nur so in Reihen hintereinander, jeder und jede noch ein paar neugierige Zuseher im Rücken oder zur Seite. Ich konnte die richtige Stimmung nicht finden und ging zerstreuten Sinnes an den herrlichen Meisterwerken hin. Dieser leere, unbefriedigte Zustand wurde aber mit einem Mal zu einem grimmigen Mißbehagen, als ich im Rubenssaale mit einem Herrn zusammenstieß, dem ich, und besonders heute, lieber eine Meile weit aus dem Weg gegangen wäre. Es war ein sogenannter »Amateur«, ein sonst ganz unbeschäftigter, ziemlich wohlhabender Mann, der in allen Ateliers herumschnüffelte, auf jeder Auktion anzutreffen war und, wie sich von selbst versteht, eine kleine Privatgalerie samt einer wertvollen Antiquitätensammlung besaß. Sein selbstbewußtes Wesen, seine rechthaberischen, oft sehr schiefen Kunsturteile waren sprichwörtlich geworden, und die Maler behaupteten, er verstehe von Bildern so viel oder so wenig wie ein Schuhflicker. Das war nun freilich übertrieben; denn wiewohl er nach jeder Richtung hin Aussprüche tat, die von dünkelhafter Halbbildung strotzten, so konnte man doch nicht leugnen, daß er, wie alle solche Menschen, die Gabe besaß, an jeder Leistung sofort die schwachen Seiten herauszufinden. Und wie in der Kunst, so auch im Leben. Ein aufdringlicher Gesellschafter, wußte er sich in alle Kreise Eintritt zu verschaffen; man duldete ihn als eine Art notwendigen Übels und bespöttelte seine böse Junge mehr, als man sie fürchtete, da er oft genug über ganz harmlose Persönlichkeiten die ungeheuerlichsten Dinge vorbrachte. Dennoch wußte er sehr genau, wo jeden einzelnen der Schuh drückte, und die verborgensten und verschwiegensten Verhältnisse waren für ihn nicht selten ein offenes Buch, in dem er mit Behagen las. Ich wollte anfangs Miene machen, ihn nicht sofort zu erkennen, dann aber mich mit einer verbindlichen Gebärde schweigend an ihm vorbei drücken. Er jedoch tat sehr erfreut, faßte mich unter dem Arm, fragte mich, wie es mir gehe, wie lange ich schon in Wien sei – und so weiter. Meine neueste Dichtung habe er gelesen, sich aber leider mit dem Sujet nicht befreunden können; jedenfalls sollte ich mehr – viel mehr schreiben. Dann kam er auf die neuen Museen zu sprechen, welche er in der Hauptsache für ganz verfehlt erklärte – und schloß endlich damit, daß er hier Rafaels Madonna im Grünen en miniature kopieren lasse, und zwar von einem Aquarellisten, der in dieser Hinsicht eine ganz neue Methode erfunden habe. Er führte mich auch zu dem betreffenden Künstler, einem schon sehr bejahrten Herrn, der, eine eigentümlich konstruierte Brille auf der Nase, ruhig hinter seiner Tafel saß. Die fast vollendete Arbeit nahm sich in der Tat sehr schön und erfreulich aus; der Mäcen lobte sie auch, hielt jedoch mit wohlwollenden Ausstellungen keineswegs zurück. Ganz unerträglich jedoch benahm er sich einem jüngeren Maler gegenüber, welcher, wie sich herausstellte, Morettos Santa Justina im Auftrage des Münchener Grafen Schack kopierte. Nicht genug, daß er dicht hinter den emsig Arbeitenden trat und, bald das Original, bald die Kopie betrachtend, vor allen Anwesenden mißbilligend den Kopf schüttelte: er wies auch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Fehler hin, welche seiner Meinung nach bei der Nachbildung begangen wurden, so daß der Künstler endlich sich unwillig halb erhob und den unberufenen Kritiker mit zornfunkelnden Augen herausfordernd ansah. Ich hielt es nicht länger aus und wollte, mich empfehlend, die Galerie verlassen, die mir nun doch schon verleidet war. »Warten Sie, ich gehe gleich mit Ihnen«, sagte er und hängte sich wieder an meinen Arm. Er hatte unten einen Einspänner stehen und bot mir einen Platz an. Ich wollte ablehnen; aber er nötigte mich einzusteigen. »Fahren Sie wenigstens ein Stück Weges mit; warum wollen Sie denn die lange Heugasse zu Fuß zurücklegen?« Als wir in dem engen Gefährt saßen, fragte er mich, wohin ich denn eigentlich wollte. Ich antwortete, daß ich jetzt essen gehen würde. Wohin? Er speise in der Stadt Frankfurt, ich solle mitkommen. Nein, das sei mir zu entlegen, ich wolle überhaupt nicht nach der Stadt. Wohin ich mich also begeben würde? Ich nannte ein in der Nähe befindliches Hotel, das mir gerade einfiel. »Hotel Viktoria? Schön, ich kann auch dort speisen und leiste Ihnen Gesellschaft.« Er rief dem Kutscher zu, nach dem bezeichneten Orte zu fahren. Da es inzwischen ein wenig geregnet hatte und sich der Tag überhaupt empfindlich kühl anließ, so vermieden wir, uns in den schönen Garten zu setzen, der das Hotel auszeichnet, und begaben uns in den Speisesaal, der, wie meistens um diese Stunde, ganz unbesucht war. Wir bestellten unser Essen, das ich meinerseits in der aufgezwungenen Gesellschaft mit verbissenem Ingrimm hinunterwürgte. Man hatte uns schon den Kaffee gebracht, als plötzlich draußen im Garten ein auffallend vornehmes Paar erschien: ein Herr und eine Dame, in welch ersterem ich sofort Röber erkannte. Die beiden schienen unter sich uneins, ob sie im Freien bleiben oder den Saal aufsuchen sollten. Endlich gab die Dame kurzweg den Ausschlag, indem sie sich rasch an einem kleinen Tische niederließ, der, von einigen Oleanderstöcken umgeben, ziemlich geschützt in der Nähe der Saalfenster stand. Mein Begleiter hatte die Ankömmlinge ebenfalls wahrgenommen und rief: »Oho! Wie kommen die daher? Gewiß nur, weil sie anderswo fürchten müßten, gesehen zu werden.« »Kennen Sie die Leute?« fragte ich hinausblickend. Wir saßen an der Rückwand des nicht sehr breiten Saales in einer Art Nische, wo man uns nicht leicht wahrnehmen konnte. »Ob ich sie kenne!« erwiderte er, sich behaglich zurücklehnend. »Das ist ja dieser Röber, der in letzter Zeit so viel Geld macht.« »Ich glaube, ich bin einmal irgendwo flüchtig mit ihm zusammengetroffen. Und ist die Dame seine Frau?« »Seine Geliebte. Die gewesene Frau eines Börsensensals, der sich ihretwegen erschossen hat. Eine Jüdin. Sie war einmal unvergleichlich schön, wie man noch jetzt bemerken kann.« Ihre Schönheit war mir allerdings sofort aufgefallen, und gerade in diesem Augenblick zeigte sie mit einer Kopfwendung ihr ungemein interessantes Profil: edelste, orientalische Züge, fast blutlos bleich; aus dem kleinen weißen Kapotehütchen, das sie trug, drängte sich rückwärts, in kaum zu bändigender Fülle, ein Wust von glanzlosen dunkelschwarzen Haaren hervor. »Eine höchst gefährliche Person«, fuhr mein Nachbar fort. »Herzlos, mit einem kalten, messerscharfen Verstande. Dabei bizarr, phantastisch, abenteuerlich. Eine unmögliche Zusammenstellung, werden Sie sagen – und doch ist es so.« »Sie scheinen sehr genau unterrichtet zu sein.« »Mein Gott, ich verkehre ja mit aller Welt und habe sie schon gekannt, da sie noch ein junges Mädchen war. Bereits damals zeigte sich, was sie werden würde: ein Irrlicht, das nicht zu haschen, ein Mühlstein, der nicht abzuschütteln ist. Sie hätte inzwischen schon einen Fürsten B ... heiraten sollen, und nur durch die größten Geldopfer von seiten der Familie ist die Sache rückgängig geworden.« »Sie besitzt also Vermögen?« Er lachte laut auf. »Vermögen? Schulden! Denn es ist nicht anzunehmen, daß ihr neuer Verehrer diese vollständig gezahlt hat. Sie ist nämlich eine notorische Verschwenderin – und zwar in einer Art und Weise, die eigentlich schon ans Wahnwitzige streift. Das pflegt immer der Fall zu sein, wenn der semitische Geist einmal ins Gegenteil umschlägt. In ihrer Hand würden Millionen zerrinnen. Was sie jetzt Herrn Röber kosten mag, läßt sich gar nicht beurteilen.« »Aber ist er denn selbst so ungewöhnlich reich,« fragte ich, »daß er –« »Reich! Er hat mit Lieferungen in die unteren Donauländer reichlichen Gewinn erzielt. Seit einiger Zeit operiert er mit einem gewissen Malinsky, einem wahren Gauner, an der Börse. Bis jetzt allerdings mit fabelhaftem Glücke. Wie lange es noch so fortgehen wird, ist die Frage. Er soll übrigens auch noch eine alte Geliebte in seiner Villa in Hietzing bei sich haben. Eine Art Schriftstellerin. – Wissen Sie davon nichts?« fragte er plötzlich argwöhnisch. »Nein«, erwiderte ich trocken und machte Anstalten, meine Zeche zu begleichen. Denn ich glaubte zu bemerken, daß man draußen, während zwei Kellner mit unterwürfiger Dienstbeflissenheit ein ausgesuchtes Diner zu servieren begannen, auf uns aufmerksam geworden war. »Sie wollen schon gehen?« fragte mein Begleiter. »Ja; ich muß nach Hause. Ich habe noch allerlei zu ordnen und zu packen, denn ich reise morgen von hier ab.« Ich hatte gefürchtet, er würde sich mir wieder anschließen, vielleicht gar in meiner Wohnung eine zweite Zigarre rauchen wollen. Aber er regte sich nicht und sah mich ganz gleichgültig an. »So? Sie reisen morgen?« sagte er gedehnt. »Nun, dann Gott befohlen! Ich bleibe noch ein wenig. Es macht mir Vergnügen, das Pärchen da draußen zu beobachten. Es sitzt sich hier wie in einer Loge.« Wir reichten einander flüchtig die Hände, und ich entfernte mich, nachdem ich noch einen Blick auf Röber und seine neue Geliebte geworfen hatte, welche eben bemüht war, mit einem kurzen Messer, das sie in der beringten Hand hielt, eine Krebsschere zu öffnen. Noch den ganzen Abend beschäftigte dieses unvermutete Zusammentreffen meine Gedanken, und als ich am nächsten Morgen, bei strömendem Regen, im Eisenbahnzuge durch die melancholischen Praterauen fuhr, da kam auch am Fuße des Kahlen- und Leopoldsberges für einen Augenblick der stattliche Vorort in Sicht, wo sich für die schöne Frau Stadler der Schicksalsknoten geschürzt hatte. »Wie wird es enden?« dachte ich, während jetzt der Zug mit beschleunigtem Laufe und schrillem Pfeifen in die weite, trostlose Ebene hineindampfte ...... * * * Es endete nur zu bald – und traurig. Was ich darüber zufällig und absichtlich in Erfahrung gebracht, kann hier in Kürze erzählt werden. Das Glück war Röber nicht treu geblieben. Er verlor, verlor alles, was er gewonnen – und noch mehr. Aber er hatte, um sich aufrecht zu erhalten, in letzter Zeit auch nach anvertrauten Geldern gegriffen: drei namhafte Beträge waren sofort zu ersetzen, wofern er nicht den Gerichten verfallen wollte. Woher aber die nötige Summe nehmen? Elsa brachte sie zustande: sie ging – ob nun gezwungen, oder aus eigenem Antriebe – Conimor darum an. Und dieser erfüllte ihr Begehren. Er hatte gerade die Nacht zuvor im Wienerklub an einen hohen Aristokraten zweimal hunderttausend Gulden im Spiel verloren; was lag daran, wenn Papa noch ein Sümmchen darauf legte, das doch kaum zur Hälfte jenes Verlustes hinanreichte? Er konnte es ja wieder hereinbringen. Elsa erhielt also das Geld und gab es Röber. Dieser nahm es – und verschwand, ohne seine Verpflichtungen zu erfüllen. Mit ihm die neue Geliebte. Es mußte alles von langer Hand vorbereitet gewesen sein; denn sie waren spurlos entkommen. Wie man annahm, nach Amerika; und in der Tat liefen zwei Jahre später von dorther Briefe und Geldsendungen an die Verlusttragenden ein. Was aber hätte die arme Verlassene damals tun sollen? Die Villa war mit Beschlag belegt worden; ihr selbst standen peinliche Vernehmungen – vielleicht noch Ärgeres bevor, da man anfänglich nicht umhin konnte, sie als die Mitwisserin jener sträflichen Vorgänge anzusehen. Sie nahm also zu dem Mittel ihre Zuflucht, das sie schon lange vorher zur Beschwichtigung körperlicher Schmerzen in Anwendung gebracht und welches sie jetzt rasch und mit einem Mal von allen Leiden befreien sollte. Sie vergiftete sich mit Morphin. Und was würde Frauenlob gesagt haben, wenn er diesen vollwichtigen Triumph seiner Vorhersagungen noch erlebt hätte?! Aber er war vor Elsa zu Grabe gegangen. Ein Lungenübel, zu dem er seit jeher veranlagt gewesen, hatte sich in Berlin, wo er kümmerliche Tage fristete, rasch entwickelt und ihn dahingerafft, ehe ihm noch die viel gepriesene Heilkraft der Kochschen Lymphe eine trügerische Hoffnung hätte gewähren können. Schloß Kostenitz 1. I. In der Nähe eines Grenzgebirges, dessen westliche Ausläufer sich dicht bewaldet ins flache Land erstrecken, liegt auf mäßiger Höhe ein weit ausblickendes Schloß, das sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht allzu freundlich von dem Hintergrunde dunkler Tannen abgehoben hatte. Denn die Mauern waren verwittert, die Fensterläden geschlossen, und um das schweigende Portal wehte der Hauch der Verödung. Unten aber dehnte sich die Ebene aus, damals wie heute, ein sonniges Bild regen, werktätigen Lebens. Hart am Fuße des Abhanges ein stattlicher Marktflecken, in dessen Umkreise der schwarze Diamant, die Steinkohle, geschürft und auf unübersehbaren Feldern, von nur schmalen Strichen Kornes eingerahmt, die gelb blühende Ölpflanze und die zuckerspendende Rübe gebaut wurden. Dazwischen, weithin zerstreut, einzelne Schachte und Fabrikgebäude, gegen deren geschwärzte Mauern und qualmende Schlote sich hier und dort ein hellschimmerndes Landhaus umso lieblicher ausnahm. Von dort herauf erklang tagsüber, bald lauter, bald gedämpfter, das Gepolter der Maschinen, das Brausen der Dampfkessel, der gellende Schall der Werkglocken – und verzitterte in den Wipfeln des Schloßparkes, wo auf dem verschlammenden, von Wasserrosen überdeckten Teiche ein einsamer Schwan die stillen Kreise zog. – Im Frühling des Jahres 1849 jedoch hatte dieser verlassene Herrensitz einen noch ganz freundlichen Anblick dargeboten. Auch war gerade in jener Zeit eine Anzahl von Arbeitern erschienen, um das Schloß, welches von seinem damaligen Besitzer, dem Freiherrn von Günthersheim, bis jetzt nur im Sommer benützt worden war, zu dauerndem Aufenthalte instand zu setzen. Und bald konnte man auch in der Umgegend die Kunde vernehmen, daß der Freiherr des hohen Staatsamtes, das er bekleidete, enthoben worden sei und sich nunmehr mit seiner Gemahlin für immer hieher zurückzuziehen gedenke. In der Tat kam eines Abends – zu Anfang des Juni – auf der staubigen Landstraße ein mächtiger, mit Postpferden bespannter Reisewagen in Sicht, welchen in früherer Zeit schwarzbefrackte Honoratioren und weißgekleidete Mädchen mit Blumensträußen in den Händen würden erwartet haben, der aber jetzt, wo die verbrausten Stürme des Revolutionsjahres noch überall zerstörte und unklare Verhältnisse zurückgelassen hatten, bloß der Gegenstand einer halb flüchtigen, halb befangenen Neugier war. So geschah es, daß der Freiherr, als er mit seiner Gemahlin, einer noch jungen, leicht verschleierten Dame, unter dem Portal aus dem Wagen stieg, nur von seinem Verwalter und einigen Nebenbediensteten empfangen wurde. Später jedoch kam es in der Gaststube des Goldenen Löwen, wo sich die hervorragendsten Bürger und Anfassen des Ortes allabendlich einzufinden pflegten, zu einer lebhaften Debatte über die Frage, ob man dem Schloßherrn, wiewohl dieser nunmehr alle feudalen Hoheitsrechte eingebüßt habe, nicht doch eine Ovation hätte darbringen sollen. Denn es unterlag keinem Zweifel, daß er nur seinen liberalen Anschauungen, die er bekanntermaßen schon im Vormärz betätigt hatte, bei dem abermaligen Umschwung der Dinge zum Opfer gefallen sei. Und in dieser Hinsicht verdiene er jedenfalls die hochachtende Anerkennung, das verständnisvolle Bedauern aufgeklärter und nach wie vor freiheitlich gesinnter Männer. Eine direkte Kundgebung, das müsse man nachträglich erkennen, wäre allerdings bei dem reaktionären Drucke, der gegenwärtig selbst auf dem platten Lande geübt werde und sich durch verschärfte Polizeimaßregeln jeder Art bemerkbar mache, nicht wohl tunlich gewesen, keineswegs aber könne es verargt oder gar verwehrt werden, daß man von seiten der Bürgerschaft dem Gutsbesitzer, zu welchem man seit Jahren in einem weitverzweigten Pachtverhältnisse gestanden und noch stehe, einen Höflichkeitsbesuch abstatte. Dabei wäre man ja recht wohl imstande, die eigentliche Absicht sub rosa kundzugeben, und somit sei auch dann jede Versäumnis – wenn eine solche vorliege – wieder gut gemacht. Diese Anschauung, obgleich einige Ängstliche und Gleichgültige dagegen sprachen, wurde endlich mit Stimmenmehrheit zum Beschlusse erhoben, worauf man daran ging, die Mitglieder der beabsichtigten Deputation und deren Führer zu wählen. Als dem Freiherrn am nächsten Vormittage das Erscheinen der Abgeordneten gemeldet wurde, war er eben beschäftigt, in seinem Arbeitszimmer – einem hochgelegenen Gemache mit weiter Fernsicht – einige notwendige Einrichtungen zu treffen, und schien von der ihm zugedachten Ehre keineswegs freudig überrascht zu sein, denn ein Schatten von Mißmut überflog sein Antlitz. Da es aber nicht anging, die Leute, welche sich draußen durch anspruchsvolles Räuspern und Scharren mit den Füßen bemerkbar machten, unter irgend einem Vorwande abzuweisen, so ließ er sie, indem er eine wohlwollende Miene annahm, ohne weiteres eintreten. Er ging ihnen einige Schritte entgegen, hörte die Rede des Sprechers, der ein kleiner, beleibter Mann war, in vorgebeugter Haltung an, errötete flüchtig bei einigen bedeutungsvollen Stellen und dankte schließlich mit etwas leiser, aber klarer und eindringlicher Stimme für die wohlwollenden Gesinnungen seiner Mitbürger. Sie zu rechtfertigen, vermöge er leider nicht mehr; überhaupt bleibe jetzt dem einzelnen sowohl wie der Gesamtheit nichts anderes übrig, als sich in schweigender Ergebung zu fassen. Hierauf reichte er dem Führer die Hand zum Abschied und geleitete die unter Bücklingen sich Entfernenden bis zur Tür. Allein geblieben, trat er langsam an ein Fenster und blickte gedankenvoll in den leuchtenden Tag hinaus. Der unvermutete, wenn auch an sich ganz bedeutungslose Zwischenfall hatte doch, indem er Erinnerungen weckte, lebhaft auf ihn gewirkt. Und wie da draußen am Horizont weiße, schimmernde Wolkenmassen emportauchten, so tauchte im Geiste des verabschiedeten Staatsmannes die Vergangenheit auf ..... Der Freiherr von Günthersheim war nicht von altem Adel. Sein Großvater, einem bürgerlichen Geschlechte entstammend, war unter der Regierung Maria Theresias mit bescheidenen Anfängen in Staatsdienste getreten und hatte sich im Verlauf der Jahre dem Kanzler Kaunitz derart verwendbar erwiesen, daß er während der Josephinischen Ära zu immer höheren Ämtern emporstieg. Sein Sohn betrat unter dem folgenden Herrscher die gleiche Laufbahn und wurde später ob seiner Verdienste zur Zeit der französischen Invasion vom Kaiser Franz in den Freiherrnstand erhoben, welcher Auszeichnung er durch den Erwerb einer Herrschaft in Böhmen, die er von einem tief verschuldeten Kavalier unter sehr günstigen Bedingungen übernahm, auch eine reale Grundlage zu verleihen wußte. Dem Enkel war somit vorweg eine glänzende Zukunft eröffnet. Ursprünglich zur diplomatischen Karriere bestimmt, wurde er als noch ganz junger Mann während des Wiener Kongresses in der Staatskanzlei verwendet, wo er durch seine Fähigkeiten und seine erstaunliche Arbeitskraft die Aufmerksamkeit Metternichs erregte. Der Fürst zog ihn nunmehr näher an sich heran, konnte ihn jedoch von der Richtigkeit des Regierungssystems, das jetzt in Österreich mehr und mehr Platz griff, nicht überzeugen; ihre Anschauungen gingen immer weiter auseinander, bis endlich der Freiherr, bereits selbst in höherem Amte, zu jenen Persönlichkeiten gehörte, die im Rate der Krone fortschrittliche Ideen entwickelten und neue Institutionen ins Leben zu rufen trachteten. So war er denn auch einer von denen, welche, trotz Rang und Würden, die so plötzlich ausgebrochene Märzrevolution als erlösenden und verheißungsvollen Umschwung begrüßten. In jener vielbewegten Zeit mit einer leitenden Machtstellung betraut, mußte er gleichwohl infolge der zunehmenden revolutionären Ausschreitungen Verfügungen erlassen, die ihn in den Augen der Volksführer freiheitsfeindlich erscheinen ließen und ihn eines Tags in die Lage brachten, sich vor einem erregten Pöbelschwarme, der sein Wohnhaus umwogte und drohend eindringen wollte, mit seiner fast zu Tode geängstigten jungen Frau in dem engen Zwischenraume einer Doppeltür verborgen zu halten. Dennoch harrte er auf seinem Posten aus und trachtete im Verein mit einigen Gleichgesinnten, den Kaiser, der sich inzwischen nach Innsbruck begeben hatte, zur Rückkehr nach Wien zu bestimmen, von welchem Schritte er Klärung der Verhältnisse und endliche Beruhigung erwartete. Als aber trotzdem die Greuel der Oktobertage folgten und der Hof nunmehr nach Olmütz zu fliehen gezwungen war, da konnte er zu seinem tiefen Schmerze nicht umhin, denjenigen beizustimmen, die schon in den ersten glorreichen Freiheitstagen das Verderben und den Zerfall der Monarchie erblickt hatten. Er selbst mußte jetzt – mit welchen Gefühlen! – die einziehenden Truppen Windisch-Grätz' und des Banus als Retter und Erretter begrüßen, mußte erkennen, daß die Regierung keine anderen Maßregeln ergreifen konnte, als jene, die nun ein hochmütig zufahrender, gewaltsamer Staatsmann an die Hand gab und denen der Freiherr selbst zum Opfer gefallen war ..... Noch immer stand dieser in Gedanken am Fenster. Endlich machte er eine Handbewegung, als wollte er sagen: »Vorüber!« Dann griff er nach seinem Hute und begab sich über die breite, von seinen Schritten leicht hallende Steintreppe in den Park hinab. Still und sonnig lag das Parterre mit seinen bunten Blumenbeeten vor ihm ausgebreitet. Er durchschritt es und bog in einen breiten Baumgang ein, der, sanft ansteigend, immer tiefer in die Schatten einer künstlich geschaffenen romantischen Wildnis hineinführte. Ringsumher zeigten sich, in höchst mannigfaltiger Abwechslung, bemooste Felsenpartien, kleine Teiche und Wasserfälle, Grotten, Eremitagen, lauschige Bosketts mit eröffneten Fernsichten: alles schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts angelegt und durch ein zierliches Labyrinth von auf- und abführenden Pfaden miteinander verbunden. Jetzt hielt der Freiherr still. Er hatte eine freiere Hochfläche erreicht und stand vor einer großen Wiese, die sich, von Eichen und alten Buchen umsäumt, in leuchtender Einsamkeit ausdehnte. Am anderen Ende ragte, dicht vor einem kleinen Birkenwäldchen, ein sehr geräumiger, etwas verwittert aussehender Pavillon auf, das Tirolerhaus genannt. Ein hölzerner, gedeckter Gang umlief von außen das erste Stockwerk; die Tür im Erdgeschoß stand offen, und auf einer daneben angebrachten Bank saß die Gattin des Freiherrn, das Haupt durch einen breitrandigen Florentiner Strohhut gegen die Strahlen der Sonne geschützt. Ein aufgeschlagenes Buch lag in ihrem Schoße; sie selbst aber blickte träumerisch vor sich hin. So tief schien sie in sich versunken, daß sie den Nahenden lange nicht bemerkte, der nun quer über das schwellende Grün der Wiese auf sie zuschritt. Endlich hatte sie sein Erscheinen wahrgenommen, erhob sich und ging ihm mit etwas langsamen, aber höchst geschmeidigen Gliederbewegungen entgegen. Ihr schlanker Wuchs, noch mehr aber ihre ganz ungewöhnliche Schönheit ließen sie um vieles jünger erscheinen, als sie in der Tat war. Erst bei näherer Betrachtung erkannte man die völlig ausgereifte Gestalt und jene etwas überschwellenden Formen, wie sie kinderlosen Frauen eigen zu sein pflegen. Jetzt stand sie vor ihm und schlang die weißen Arme, die aus langgeschlitzten Hängeärmeln hervorschimmerten, leicht um seinen Hals. »Du kommst spät«, sagte sie, ihre großen Augen, die blau wie Kornblumen waren, zu ihm aufschlagend. »Ich habe dich schon lange erwartet.« Er erwiderte fürs erste nichts und blickte nur in dieses Antlitz, das bei aller rosigen Helle einen zart bräunlichen Hautton aufwies und von einem solchen Zauber war, daß man es, auch nur einmal gesehen, nie wieder vergessen konnte. Und er! Wie oft hatte er sich schon in den unergründlichen Reiz dieser weichen und doch mit feinster Bestimmtheit geschnittenen Züge versenkt! Wie oft den sanften Bug der Nase, den unbeschreiblichen Liebreiz der Lippenbildung bewundert – und wie wurde er stets aufs neue davon überrascht und entzückt! Endlich sagte er: »Ich bin zurückgehalten worden; es war eine Deputation bei mir.« Sie ließ die Arme sinken. »Eine Deputation?« fragte sie betroffen. »Erschrick nicht«, entgegnete er, indem er zärtlich mit seiner schon etwas welken Hand über eine der dunklen Haarwellen strich, die zu beiden Seiten ihres Hutes hervorquollen. »Es ist von gar keiner Bedeutung. Man hat mir von seiten der Ortsgemeinde eine Huldigung dargebracht, von der ich allerdings lieber verschont geblieben wäre. Da sie aber jetzt, wie alles andere, bereits hinter mir liegt, so will ich sie gewissermaßen als Abschluß meines öffentlichen Wirkens betrachten – und nichts soll fürder unsern lieben Schloßfrieden stören.« »So hoffe ich!« sagte sie, sich an ihn schmiegend. »Und doch«, fuhr sie nachdenklich fort, »fürchte ich auch, daß dir dieser Frieden, diese Ruhe bald zur Last werden dürfte. Du bist so an Tätigkeit gewöhnt –« »Ja,« antwortete er, während er seinen Arm sanft um ihre Mitte legte und sie langsam nach der Bank zurück leitete, auf die sich nun beide niederließen, »ja, ich bin an Tätigkeit gewöhnt – aber ich bin auch erschöpft. Wer, wie ich, das Werk seines Lebens zusammenbrechen sah, der fühlt, daß er zu Ende ist und nicht etwa wieder von vorne anfangen – oder gar nach einer anderen Richtung hin wirksam sein kann. So ist man auch nur meinem eigenen Wunsche zuvorgekommen, als man mich, freilich ziemlich ungnädig, in den Ruhestand versetzte, und wenn mich heute noch ein bitteres Gefühl beschleicht, so ist es nur die Folge der Überzeugung, daß der Staat auf Bahnen zurückgeworfen wurde, die nie und nimmer zum Heile führen können. Wie unsicher, wie drohend erscheinen die Verhältnisse! Des Aufstandes in Ungarn ist man noch nicht Herr geworden, – Konflikte mit Deutschland hinsichtlich der Machtfrage scheinen sich vorzubereiten. Österreichs Zukunft ist es, was mich mit tiefer Sorge erfüllt. Könnte ich darüber beruhigt sein, so würde ich mich glücklich preisen, endlich mir selbst – und meinem geliebten Weibe leben zu können.« Er hatte bei diesen Worten ihre Hand erfaßt, um sie an die Lippen zu führen; sie aber bot ihm den Mund zu einem vollen, langen Kusse. So ungleich auch das Paar erscheinen mochte, der Austausch dieser ehelichen Zärtlichkeit hatte nichts Befremdliches. Denn der betagte Mann, der die blühende Frau umschlang, gehörte zu jenen seltenen Menschen, welche ohne Nachteil alt werden können. War auch sein Haar ergraut, sein Scheitel gelichtet: seine schlanke, vornehme Gestalt war aufrecht und beweglich geblieben, und der geistige Adel seiner Stirn, der klare Blick seiner Augen wurden durch den fein sinnlichen Zug, der die Lippen umspielte, keineswegs geschädigt, sondern nur noch eindringlicher hervorgehoben. War er doch, als er zu Anfang der Vierziger Jahre einem öffentlichen Verwaltungsamte vorstand, im Volksmunde stets der »schöne Präsident« genannt worden. Und damals geschah es auch, daß er sich, nahezu ein Fünfziger, in die Tochter eines seiner ihm unterstehenden Räte beim ersten Anblick leidenschaftlich verliebt, daß er um sie geworben – und ein freudiges Jawort erhalten hatte. Er war viel zu klug, um nicht einzusehen, daß dabei sein Rang und seine Glücksgüter sehr bedeutend in die Wagschale gefallen waren; aber er hatte trotzdem die überzeugende Empfindung, daß er seine kaum zwanzigjährige Braut auch durch die Vorzüge seiner Persönlichkeit fesselte und ihr durch die unverbrauchte Kraft seines im Innersten jugendlich gebliebenen Wesens fast jene Liebe einflößte, die er selbst für sie empfand. Ja, er wurde beglückt – aber auch er beglückte. Daran konnte, durfte er nicht zweifeln im Laufe einer nunmehr fast zehnjährigen Ehe. Aber wird dieser beseligende Zustand Dauer haben können? Auch jetzt noch, da er nun in der Tat die Schwelle des Greisenalters beschritten hatte? Und später ....? Diese Gedanken mochten es sein, die seine Stirn umwölkten und ihn mit gedämpfter Stimme sagen ließen: »Ja, ich werde hier glücklich sein, Klothilde. Aber auch du ?« Sie sah ihn überrascht an. »Ich!? Wie kannst du nur daran zweifeln? Du weißt doch, wie sehr ich unser schönes Kostenitz liebe. Und jetzt, da wir uns ganz hier einleben können – was stets das Ziel meiner geheimen Wünsche war – jetzt sollte ich nicht glücklich sein können?« Er sah, daß sie ihn nicht verstand. »Ich meinte es auch nicht so«, sagte er leise. »Ich zweifelte nur, ob du dich auch ferner an meiner Seite hier glücklich fühlen wirst.« Sie verfärbte sich leicht. »An deiner Seite?« rief sie. »Wie kommst du zu dieser Frage, Alfons?« Er senkte das Haupt. »Weil ich älter und älter werde – und du noch im vollen Zenith deines Lebens stehst.« Nun hatte sie ihn begriffen. Sie sprang auf, legte die Hände auf seine Schultern und blickte ihm erschreckt und vorwurfsvoll ins Antlitz. »Alfons, was willst du damit sagen? Wer gibt dir ein Recht, so zu sprechen?« »Meine innerste Empfindung«, antwortete er demütig, indem er ihre beiden Hände ergriff und sie sanft an die Lippen führte. »Verzeih' mir, Klothilde! Es war gewiß töricht, daß ich dieser Empfindung Ausdruck gegeben – aber ich konnte nicht anders.« Sie stand vor ihm und sah ihm tief in die Augen. »Mein Gott, ich fasse es nicht. Hast du denn etwas an mir wahrgenommen, das dich zu solchen Besorgnissen –« »O nichts! Nichts!« unterbrach er sie hastig. »Du bist ein Engel an Güte und Zärtlichkeit!« »O dann,« rief sie, »dann begreife ich nicht, wie du dich mit solchen Gedanken quälen kannst! Alfons!« fuhr sie fort, indem sie jetzt, eh' er es noch verhindern konnte, rasch an ihm niederglitt, knieend seine Hand ergriff und wiederholt an die Lippen drückte. »Alfons! Muß ich dir denn erst versichern, daß es kein glücklicheres Weib geben kann, als ich es bin? Fühlst du denn nicht, wie innig ich dir angehöre? Und nun gar hier, ferne von den verwirrenden Eindrücken der Welt, in die ich mich, das weißt du, nie – niemals habe finden können. O, hier kann sich ja unser beider Glück nur erhöhen, und wenn dir, wie gesagt, die Untätigkeit nicht zur Last wird, dann wird auch nichts den Himmel unserer Tage trüben!« Der Hut war ihr in den Nacken gesunken, und ihr schönes Haupt kam ganz und voll zum Vorschein. Er streichelte mit Kosen die dunkle Haarfülle, die ihre zarte, schimmernde Stirn umfloß. »Kann es denn ein besseres Tun geben, als still in deiner Nähe zu atmen?« sagte er lächelnd, während er sie mit sanfter Gewalt wieder auf die Bank emporzog. »Übrigens ganz und gar müßig werde ich trotzdem nicht sein. Denn ich habe vor, die Geschichte der Jahre zu schreiben, die ich im Staatsdienste zugebracht. Sie wird vielleicht einem späteren Geschlechte zugute kommen.« »Das ist ja herrlich!« rief Klothilde vergnügt aus. »Werde doch auch ich meine Beschäftigungen – oder Liebhabereien wieder aufnehmen, die mir so lange verwehrt und verkümmert waren. Schon habe ich meine eingetrockneten Aquarellfarben hervorgesucht – und gleich morgen gehe ich an die Landschaft, die ich bereits vor einem Jahre begonnen. Und wie will ich mich wieder auf meinem Klavier üben! Jeden Abend sollst du eine Sonate oder eine Symphonie zu hören bekommen.« Er lächelte ihr mit stiller Beistimmung zu. »Und wenn Tante Lotti kommt, dann sind wir auch nicht mehr so ganz allein. Dann haben wir einen guten Hausgeist, der sich um alles kümmern wird, was deine Frau vernachlässigt. Es ist dir doch recht,« setzte sie nach einer Pause hinzu, »daß ich sie gebeten habe, unser beständiger Gast zu sein?« »Gewiß. Die Ärmste verdient unsere ganze Teilnahme, und wir erfüllen nur eine Pflicht, wenn wir ihr nach all dem Unglück, das sie getroffen, bei uns ein Asyl anbieten.« »Sie ist so gut!« fuhr Klothilde fort. »Und dabei so umsichtig, so tüchtig! Wie bewundernswert hat sie nach dem frühen Tode ihres Mannes ihren Sohn erzogen. Und welche Seelenstärke hat sie bewiesen, als sie den hoffnungsvollen Jüngling in ihren Armen verbluten sah.« »Ja, dieser Kampf an der Taborbrücke«, sagte der Freiherr nachdenklich, »war das Verhängnis der Revolution. Ich hatte den armen August gewarnt, aber er konnte – oder wollte nicht mehr zurück.« Sie sah, daß sich die Stirn des Gatten umwölkte, und suchte seine Gedanken abzulenken. »Willst du dir nicht das Haus ansehen?« fragte sie. »Ich habe mich darin schon wieder vollständig eingerichtet. Komm, ich werde dich führen!« Sie stand auf, und er folgte ihr, indem er seinen Arm leicht unter den ihren schob. Sie traten in den kleinen Flur und stiegen die knarrende Holztreppe hinan, die nach einem nicht ungeräumigen, wenn auch niederen Gemach führte. Es war in ländlichem Geschmack mit Möbeln aus Naturholz eingerichtet; an den Wänden hingen, dunkel eingerahmt, und schon ziemlich verblaßt, Tiroler Gebirgsveduten; in der Mitte aber, über einer sauber geschnitzten, mit harten Kissen belegten Sitztruhe, prangte in sorgfältig koloriertem Steindruck das Bildnis Andreas Hofers. Die ganze Ausstattung rührte noch von der Mutter des früheren Schloßbesitzers her, die einige Jugendjahre in Tirol zugebracht und zur Erinnerung an diesen Aufenthalt das kleine Gebäude hatte herstellen und mit Vorliebe betreuen lassen. Sie pflegte, wie behauptet wurde, während ihrer letzten Lebensjahre fast die ganze Tageszeit hier zuzubringen, und ein anstoßendes Zimmerchen zeugte von ihren sonstigen Gewohnheiten und Liebhabereien. Dort war alles im zierlichen Stil des Empire eingerichtet. Vor einem winzigen Kanapee stand ein putziges Spieltischchen aus Ebenholz, an welchem die alte Dame Patience legte oder mit ihrer Vorleserin eine Partie L'Hombre machte. Ein kleines, brüchiges Spinett hatte seinen Platz dicht am Fenster; auf der anderen Seite befand sich eine offene Handbibliothek, die eine ganze Serie älterer Dichter, wie Klopstock, Uz, Hagedorn, Gellert, enthielt; alles in wohlerhaltenen altmodischen Einbänden von braunem Leder. Die Werke Jean Pauls fanden sich vor, samt einem Exemplar der ersten Ausgabe des Werther; auch einige Dramen Schillers und Tiedges Urania. Auf dem geräumigen Tische des Eintrittszimmers lagen ebenfalls Bücher, die sich durch frische und moderne Einbände als Lektüre der jetzigen Herrin zu erkennen gaben. »Da siehst du nun alles beisammen,« sagte Klothilde, nachdem sie eingetreten waren, »was ich außer dir zu meinem Glück brauche. Hier meine geliebten Bücher, vor allen mein Lenau« – sie nahm den Band wie liebkosend auf – »und dort meine Staffelei. Selbst das Klimperkästchen da drinnen ist mir unschätzbar; denn ein paar Kleinigkeiten von Mozart lassen sich immer hin darauf spielen.« Er stand jetzt vor der zierlichen Staffelei, an welcher die von Klothilde erwähnte Landschaft zu erblicken war. Sie stellte ein lauschiges, wipfelumschattetes Felsental vor; von der Höhe stäubte ein Wasserfall nieder. Im Vordergrunde fanden sich einige Frauengestalten in idealer Gewandung angedeutet. »Daran erkennt man doch gleich die Schülerin Markos«, sagte der Freiherr, das Bild betrachtend. Es war so. Klothilde hatte als ganz junges Mädchen von diesem Meister, der, wie in jenen Tagen viele seiner Kunstgenossen, zu solchem Nebenverdienst greifen mußte, Unterricht erhalten. Man konnte sie begabt nennen; aber über den Dilettantismus erhob sie sich nicht, wie denn überhaupt ihre ganze Bildung, den Zeitverhältnissen entsprechend, der Gründlichkeit entbehrte. Nur die zugänglichste Oberfläche des Wissens hatte sie in sich aufgenommen mit dem feinen Instinkte der damaligen Frauen, welche an geistiger Empfänglichkeit die Männer fast durchgehends überragten. So gingen denn die Kenntnisse Klothildens nicht sehr weit über das hinaus, was ihr durch die gleichzeitige schöne Literatur vermittelt wurde, und auch da war es eigentlich nur das schwermütig sentimentale Element, das sich in den Dichtungen Lenaus, oder das Zarte und Sinnige, wie es sich in den Studien Adalbert Stifters aussprach, was sie unmittelbar anzog; der tiefe Gehalt unserer Klassiker war ihr mehr oder minder verschlossen geblieben. Hingegen zeigte sie sich musikalisch ungemein stark veranlagt und auch umfassend ausgebildet. War doch in ihrem Vaterhause, mehr als heutzutage üblich, die Kammermusik gepflegt worden, und Klothilde selbst hatte stets am Klavier an diesen liebevollen Übungen teilgenommen. Vor allem waren es die unerschöpflichen Tonschätze Beethovens, an denen man sich immer wieder entzückte, und so besaß sie für diesen Meister nicht bloß die begeistertste Verehrung, sondern auch das tiefste Verständnis. »Hier werde ich nun wieder meine Vormittage zubringen«, sagte sie jetzt. »Wie dankbar bin ich der guten Gräfin, deren Geist mich in diesen Räumen umschwebt, daß sie das reizende Häuschen entstehen ließ!« »Nun, nun,« erwiderte der Freiherr scherzhaft, indem er sich unter dem tapferen Sandwirte niederließ, »ich werde noch ganz eifersüchtig werden auf dieses Buen Retiro, welches überdies so einsam gelegen ist, daß du mir ganz leicht eines Tages geraubt werden kannst.« »O ich fürchte mich nicht!« lachte sie. »Du weißt, wie ängstlich ich bin; aber hier fühle ich mich so sicher, wie in deinen Armen.« Sie hatte sich zu ihm gesetzt, und beide blickten nun schweigend durch eine offenstehende Flügeltür in das leuchtende Grün hinein, das draußen über dem Gelände des Ganges zum Vorschein kam. Eine Biene surrte ins Zimmer herein und umkreiste langsam einen Strauß von Wiesenblumen, der, offenbar von Klothilde gepflückt, in einer altmodischen Vase vor ihnen stand. Plötzlich erklang in der Ferne der schrille Ton einer Glocke. »Wie rasch die Zeit vergeht!« rief Klothilde. »Man läutet schon zu Tisch.« »Offen gestanden, mir nicht ganz unerwünscht«, sagte der Freiherr, indem er sich erhob. »Ich spüre bereits die Wirkungen der Landluft.« So verließen sie denn das kleine Haus und schritten gemächlich, die schattigsten Laubgänge wählend, dem Schlosse zu. »Wenn es dir recht ist,« sagte Klothilde, indem sie sich zutraulich an seinen Arm hängte, »so machen wir nachmittags gleich unseren ersten Gang in den Wald. Wie lange schon haben wir ihn nicht mehr betreten! Willst du?« »Gewiß,« erwiderte er; »alles was du willst.« Bald darauf betraten sie das Eßzimmer im Erdgeschosse. Es war ein kühler, weit gewölbter Raum, wo sich das Paar allerdings etwas vereinsamt ausnahm. Ein würdig aussehender Kammerdiener reichte mit zeremoniellem Ernst die Speisen dar. Nachdem der Freiherr die gewohnte Siesta gehalten, brachen sie nach dem Walde auf, der hinter dem Schlosse lag. Ein kleines Hinterpförtchen in der Umfassungsmauer des Parkes, das der Freiherr aufschloß, führte zuerst auf ein Feld hinaus, wo die Ähren, von rotem Mohn durchleuchtet, bereits eine gelbliche Färbung angenommen hatten. Sie durchschritten es auf einem schmalen Pfade, dann traten sie in das duftige Bereich des Nadelholzes. Langsam bewegten sie sich im Anstiege fort, bis sie endlich eine Waldblöße erreicht hatten, wo eine alte, breitästige Föhre aufragte. Eine Ruhebank stand davor, und an dem rötlich grauen Stamm war ein Bild zu sehen: das schöne, leidvolle Antlitz einer mater dolorosa. Klothilde selbst hatte es vor einigen Jahren nach einem älteren Meister kopiert und an ihrem Lieblingsbaume angebracht. Trotz einer schützenden Überdachung hatten die Gouachefarben bereits gelitten und Klothilde nahm sich vor, nächstens ihren Malkasten mitzunehmen und den Schaden auszubessern. Die Sonne stand schon tief, als sie wieder in das Schloß zurückkehrten. Nach einer kurzen Trennung fanden sie sich wieder im Salon zusammen. Draußen hatten sich die Fluren bereits in Dämmerung gehüllt, die der Schimmer des zunehmenden Mondes leicht durchbrach. Bald wurden die Lampen gebracht, und man nahm den Tee, worauf sich Klothilde am Klavier niederließ und die Mondscheinsonate zu spielen begann. Zauberhaft quollen die Töne unter ihren Händen auf und drangen durch die offene Altantür in die schweigende Landschaft hinaus, welche jetzt von dem sanften Silbergestirn immer leuchtender erhellt wurde. Und als dann später die beiden Gatten auf dem Altan standen und in die azurene Nacht emporblickten, da wölbte sich der Himmel mit seinen unzähligen Sternen wirklich über zwei glücklichen Menschen. 2. II. Drei Wochen waren den Bewohnern des Schlosses auf solche Art in sanfter Gleichmäßigkeit dahingegangen. Der Sommer hatte sich inzwischen zu seiner eigentlichen Höhe erhoben, und der Duft der blühenden Linden schwamm weithin in der Luft. Der Freiherr verbrachte nunmehr die sonnedurchglühten Stunden des Tages in seinem nach Norden gelegenen Arbeitszimmer, wo er bereits allerlei Material zu seinen Denkwürdigkeiten aufgesammelt hatte; seine Gattin aber hielt sich dann in ihrem Sommerhause auf, wo sie eine Art geschäftigen Traumlebens führte. Sie saß an der kleinen Staffelei und strichelte zierlich an ihrer idealen Landschaft, und wenn es in den niederen Räumen allzu schwül wurde, so nahm sie eines ihrer Lieblingsbücher und ließ sich unter den schattenden Birkenwipfeln nieder, zuweilen mit sinnendem Aug' dem Fluge der Schwalben folgend, die im Zick-Zack über die Wiese hinschossen, oder dem Rufe des Kuckucks, lauschend, der aus dem Walde herübertönte. Eines Tages, als das Ehepaar eben abgespeist hatte, wurde vom Kammerdiener mit dem Kaffee ein versiegeltes Schreiben gebracht, das für den Freiherrn bestimmt war. Es enthielt die Mitteilung des Gemeindevorstehers, daß der Marktflecken Einquartierung zu erwarten habe. Und zwar den Stab und die erste Division eines Dragonerregiments, welchem der hiesige Landbezirk als Kantonierungsstation angewiesen sei. Dem Orte falle es natürlich nicht allzu schwer, die Offiziere und Mannschaften unterzubringen; hinsichtlich der Pferde jedoch gebe es große Schwierigkeiten, daher man den Freiherrn ersuchen müsse, die bekanntlich sehr ausgedehnten Stallräume des Schlosses zur Verfügung zu stellen. Man würde auf ungefähr dreißig Pferde rechnen. Selbstverständlich wären dann auch die betreffenden Reiter aufzunehmen, die jedoch in den Ställen selbst unterkommen könnten. Auch wäre man sehr dankbar, wenn Seine Exzellenz so liebenswürdig sein wollte, einen oder zwei der Herren Offiziere zu beherbergen, unter denen, wie man in Erfahrung gebracht, einige vom hohen Adel sich befänden. Man beabsichtige in dieser Hinsicht selbstverständlich keinen Zwang, bitte aber um möglichst raschen Bescheid, da die Truppe schon morgen hier einrücken werde. Der Freiherr hatte das Schreiben mit zunehmendem Stirnrunzeln gelesen und zögerte jetzt, seiner Gemahlin den Inhalt bekannt zu geben. Da sie ihn aber doch erfahren mußte, so überreichte er ihr das Blatt, welches sie, nachdem sie es rasch überflogen, auf den Tisch sinken ließ. »Soldaten!« rief sie aus, während nach und nach ein tiefes Erröten in ihrem Antlitz zum Vorschein kam. »Ja, Soldaten!« erwiderte er in erzwungen resolutem Tone. »Kriegsvolk und Landesplag',« setzte er bitter scherzhaft, Heine zitierend, hinzu. »Unser stiller Schloßhof wird morgen einem lärmenden Feldlager gleichen.« »Und müssen wir uns denn dem Auftrage unterziehen?« fragte sie, ihn angstvoll ansehend. »Allerdings, mein Kind«, antwortete er nach kurzem Schweigen. »Wir haben unseren Teil der gemeinsamen Lasten ohne Widerrede zu tragen. Auch läßt sich nicht leugnen, daß unsere Stallungen leer stehen, da ja die ganze Feldwirtschaft verpachtet ist. Wir müssen also die Leute aufnehmen.« »Und die Offiziere?« fuhr sie zögernd fort. »Man hat uns in dieser Hinsicht zu nichts verpflichtet.« »Gewiß. Aber wohl erwogen, können wir auch dieses Ersuchen nicht von der Hand weisen. Es würde illoyal – zum mindesten seltsam erscheinen. Angenehm kann es mir nicht sein, das begreifst du. Wären es noch Offiziere schlechthin, so würde sich die Sache auch einfacher gestalten; aber es sind, wie in dem Blatte zu lesen, auch welche vom Hochadel darunter, und man wird nicht ermangeln, uns gerade diese heraufzusenden. Das ist fatal. Du weißt, ich habe zur Aristokratie seit jeher, nicht bloß infolge meiner Anschauungen, sondern auch als Emporkömmling auf gespanntem Fuße gestanden, wenngleich es meine Stellung mit sich brachte, daß ich mit den Leuten, soweit es not tat, verkehren mußte. Aber da es nun nicht anders geht, so sollen sie in Gottes Namen kommen!« »Und wo werden wir sie unterbringen?« »Auch dafür wird sich Rat schaffen lassen. Steht doch der kleine Anbau des linken Flügels, in welchem sich früher das herrschaftliche Gerichts- und Rentamt befand, vollständig leer. Es enthält zwei ganz bequeme Wohnungen, die auch, wie ich glaube, zur Not eingerichtet sind; außerdem kann man einiges hinüberschaffen lassen. Und somit,« fuhr der Freiherr fort, indem er aufstand und entschlossenen Schrittes auf und nieder ging, »somit ist die Angelegenheit erledigt. Zu einem gesellschaftlichen Verkehr sind wir nicht verpflichtet; auch pflegen die Herren, die gerne ungezwungen unter sich bleiben, einem solchen meistens selbst auszuweichen.« Sie erwiderte nichts und blieb in unruhiges Nachdenken versunken. Er trat auf sie zu und legte die Hand beruhigend auf ihren Scheitel. »Nimm diesen Zwischenfall nicht so tragisch, Klothilde«, sagte er. »Er wird vorübergehen wie vieles andere. Freilich,« fuhr er mit einem leichten Seufzer fort, »es ist kein gutes Vorzeichen, daß der idyllische Zustand, in den hinein wir uns versetzt haben, so rasch gestört wurde. Die ereignislosen Tage, wie sie sich in früherer Zeit so behaglich abgewickelt haben, sind eben vorüber. Brennende politische Fragen, bedeutungsvolle soziale Probleme sind zu lösen, und die Geschichte der Staaten wird vielleicht bald eingreifende Veränderungen zu verzeichnen haben. Schon jetzt, scheint es, nehmen die Verhandlungen mit Preußen einen ernsteren Charakter an, und das für morgen erwartete Regiment dürfte nicht das einzige sein, das an die Grenze gezogen wird; ich glaube, daß man von unserer Seite eine militärische Demonstration beabsichtigt.« Sie hatte ihm mit dem Ausdruck stiller Verzweiflung zugehört. »Aber was haben wir damit zu schaffen, Alfons?« rief sie. »Das alles geht dich ja gar nichts mehr an!« »Liebes Kind,« erwiderte er mit sanftem Ernste, »den Wellenschlägen der Zeit kann sich auch der am fernsten Stehende nicht entziehen.« Er hatte bei diesen Worten den Klingelzug ergriffen, der den Kammerdiener herbeirief. Dieser erhielt nun den Auftrag, den Verwalter in Kenntnis zu setzen, daß ihn der Freiherr sofort auf seinem Zimmer erwarte. Hierauf stiegen die beiden Gatten schweigend die Treppe nach dem ersten Stockwerke hinan. Im Vestibül trennten sie sich, wie gewöhnlich um diese Zeit, und jedes begab sich nun in seine Gemächer. Als sich Klothilde in den ihren befand, sank sie in einen Fauteuil und überließ sich den wogenden Empfindungen, die sie bestürmten. Ja, auch in diesem reinen Herzen gab es Widersprüche; auch in dieser so ungemein glücklichen Ehe fand sich eine Untiefe, welche die junge Frau bis jetzt angstvoll vor sich selbst verheimlicht hatte und von der jetzt mit einem Mal der verhüllende Schleier weggerissen war! So sehr Klothilde an ihrem Gatten hing, so sehr sie ihn verehrte und hochhielt: eine Seite seines Wesens gab es, über welche sie anders dachte, die sie anders empfand, als er. Das waren seine liberalen Grundsätze. Anfänglich hatte sie diese kaum begriffen und um so weniger Gewicht darauf gelegt, als ja auch der Freiherr keineswegs mit solcher Anforderung an seine junge Frau herangetreten war. Erst nach Ausbruch der Märzbewegung erhielt Klothilde deutliche Vorstellungen und Eindrücke, welche sie dem Gange der Ereignisse innerlich mehr und mehr entfremdeten. Die ersten jubelnden Umzüge mit Fahnen und Fackeln, die Uniformen der Nationalgarde, die wallenden Hutfedern der Studentenlegion schienen ihr wesenlose Maskerade, die sie oft im stillen belächelte. Doch sie verschwieg ihre Meinung, um den Gatten, der dies alles so hoch nahm, nicht zu verletzen, und um keinen Preis hätte sie gewagt, ihn etwa beeinflussen oder umstimmen zu wollen, selbst dann nicht, als sie später den furchtbaren Ernst jener Tage erkannte und schaudernd miterlebte. Aber so kam es auch, daß sie die siegreich einziehenden Truppen mit ganz anderen Empfindungen begrüßte als der Freiherr, und daß ihr Blick dankbar und mit stillem Wohlgefallen auf den kräftigen Gestalten, den wettergebräunten Zügen der Marssöhne ruhte, die jetzt alle Plätze und Straßen der Stadt so reich belebten. Wie oft wurde sie, die früher, gleich den meisten Mädchen und Frauen Wiens, vor jeder Uniform eine eigentümliche, oft verletzend sich kundgebende Scheu empfunden hatte, durch vernehmbares Säbelgeklirr ans Fenster gelockt, um sofort, tief errötend, vor den flammenden Blicken vorübergehender Offiziere wieder zurückzutreten. Und da hatte sie auch, zum erstenmal in ihrer Ehe, die Entdeckung gemacht, daß sie ein empfängliches Herz besitze, daß sie dieses Herz aufs strengste überwachen müsse. Sie fühlte, daß sie bereits auf dem Wege war, ihrem Gatten in Gedanken untreu zu werden, und deshalb hatte sie auch diesmal das Schloß und seine Abgeschiedenheit doppelt freudig begrüßt. Ja, hier in dieser seligen Stille, bei ihrer Staffelei, bei ihren Büchern, von hehren Tönen umrauscht, konnte ihr nichts Verwirrendes nahen, konnte sie niemals sich selbst, niemals ihrer Pflicht untreu werden! Und nun war die Gefahr plötzlich so nahe – so entsetzlich nahe gerückt! Es benahm ihr den Atem. Sie stand auf und öffnete eines von den Fenstern, welche, um die Hitze des Tages abzuhalten, samt den Jalousien geschlossen waren. Es war zum Ersticken im Zimmer. Aber auch von draußen schlug ihr dumpfe Schwüle entgegen. Sie blickte hinaus. Kein Blatt regte sich, rings umher brütete es wie ein Gewitter. Unruhig bewegte sie sich im Zimmer bald hierhin, bald dorthin, nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen; aber es gelang ihr nicht ..... Gegen Abend trat der Freiherr bei ihr ein. Er hatte dem Verwalter die nötigen Aufträge erteilt, hatte nunmehr selbst nachgesehen und alles in Ordnung gefunden. »Du aber, armes Herz, scheinst dich noch immer nicht beruhigt zu haben«, schloß er seinen Bericht. Sie erwiderte nichts, und schmiegte sich nur, wie Schutz suchend, an seine Brust. »Nun, ich begreife es wohl«, fuhr er fort. »Ist mir doch selber recht peinlich zumute. Aber komm, gehen wir jetzt zum Tee. Und zur Feier des bevorstehenden Ereignisses kannst du uns dann die Eroica spielen!« Er hatte dies, um sie aufzumuntern, in satirisch scherzhaftem Tone gesprochen; sie aber streckte abwehrend die Hände aus und rief: »Nein, nein, heute nicht!« »Nun, freilich, sie würde ja gar nicht passen! Also etwas Lustiges! Etwa einen Marsch aus Vielka oder ein paar Lannersche Walzer.« Trotz dieser Erheiterungsversuche blieb die Stimmung eine gedrückte, und als sich Klothilde später doch an den Flügel setzte, wurde sie schon bei den ersten Tönen, die sie anschlug, von rollendem Donner unterbrochen. Das Gewitter, welches in der Tat langsam und zögernd heraufgestiegen war, kündigte jetzt seine unmittelbare Nähe an. Ein Blitz zuckte durch die Nacht, während ein heftiger Windstoß die halb offen stehende Glastür weit aufriß. Der Freiherr stand auf, um sie zu schließen. »Das erste Gewitter dieses Sommers«, sagte er hinausblickend. »Es droht recht arg zu werden.« Wirklich folgte schon Blitz auf Blitz, die Landschaft taghell erleuchtend; immer näher, immer mächtiger erscholl der Donner, und ächzend warfen sich die dunklen Wipfel der Bäume im Sturm hin und her. Klothilde war an die Seite ihres Gatten getreten und betrachtete mit ihm das furchtbar prächtige Schauspiel, bis sie sich endlich mit leichtem Beben geblendet abwandte. »Komm,« sagte er, »machen wir Nacht und lassen bei geschlossenen Läden die Elemente sich austoben.« Ihre Schlafgemächer grenzten aneinander. Um das Schloß heulte der Sturm, rauschte der Regen, hallte der Donner – und so blieben sie noch lange wach. 3. III. Dem nächtlichen Gewitter war kein heiterer Morgen gefolgt. Ein rauher Nordwind sauste noch immer durch die Wipfel und trieb am Himmel düstere Wolken vorüber, die sich in heftigen Güssen entluden. So ließ sich denn der Tag für die Erwachenden keineswegs freundlich an, und in schweigender Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, wurde das Frühstück eingenommen. Die Reiter, so hieß es, würden schon um zehn Uhr in den Ort einrücken, und diesem Augenblicke sah die Dienerschaft keineswegs so unfroh entgegen, wie die Herrschaft, denn mit den Soldaten kam ja Leben und Abwechslung in die öde Stille und Einsamkeit des Schlosses herauf. Besonders der weibliche Teil gab eine sehr auffallende Erregung kund. Schon als die Kammerzofe des morgens das Zimmer der Freifrau betrat, konnte diese wahrnehmen, daß sich das Mädchen viel zierlicher als sonst gekleidet hatte; aber auch in der Küche erschienen die Mägde in ihrer Weise herausgeputzt und liefen in unnützer Geschäftigkeit hin und her, während selbst die betagte wohlbeleibte Köchin eine frische Haube mit bunten Bändern aufgesetzt hatte. Nur der Kammerdiener bewahrte unerschütterlich seine vornehme Ruhe, und der Kutscher des Freiherrn, ein hagerer, ziemlich steifer Rosselenker, machte sogar ein etwas verdrießliches Gesicht, da ihm nunmehr eine bedenkliche Schmälerung seiner Hoheitsrechte im Stalle bevorzustehen schien. So kam die zehnte Stunde allmählich näher. Der Himmel hatte sich inzwischen aufgeklärt, und die Gatten traten auf den Altan hinaus. Von dort hatte man ja die Landstraße in Sicht, die sich, soweit das Auge reichte, in mehrfachen Krümmungen durch die Fluren hinzog, und auf welcher nunmehr die Reiter heranrücken mußten. Und wirklich, dort in äußerster Ferne funkelte es mit einem Male wie Feuer auf. Das waren die Helme, welche die hervorbrechenden Sonnenstrahlen auffingen und widerspiegelten. Und schon kam die Truppe mit ihren weißen Mänteln zum Vorschein, gleich einer seltsamen, hell gleißenden Riesenschlange sich näher und näher windend. Schon konnte man die einzelnen Pferde, konnte die Offiziere von der Mannschaft unterscheiden, konnte die Standarte wahrnehmen, die in ihrem Überzuge von schwarzem Wachstuch in die Luft ragte. Und nun ein helles Trompetensignal. Kommandorufe ertönten; die Säbel fuhren blitzend aus den Scheiden – und in geschlossenen Reihen, unter langgezogenen Fanfaren zogen die Schwadronen in den Marktflecken, ein, von welchem aus bereits eine Menge Volks entgegengelaufen war. »Da sind sie«, sagte der Freiherr, und trat mit Klothilde in den Salon zurück. »Es wird noch eine Weile dauern, bis wir unseren Teil zu Gesicht bekommen.« »Wir wollen es abwarten«, entgegnete sie, den Schal, den sie über ihren Morgenanzug geworfen hatte, fröstelnd über der Brust zusammenziehend. Dann ging sie, um sich für den Tag anzukleiden. Er aber setzte sich an ein Fenster und blickte erwartungsvoll hinaus. Es zeigte sich lange nichts; nur der Regen fiel in Strömen auf die Pfade der Avenue. Die Dragoner hatten offenbar unten auf dem Marktplatze Aufstellung genommen, und die Bequartierung ging jetzt allmählich vor sich. Von Zeit zu Zeit drang ein Trompetensignal durch die Stille. Nun aber wurden Hufschläge vernehmbar, und es dauerte nicht lange, so kam ein kleiner Trupp in raschem Trabe die Avenue heraufgeritten. Die Pferde über und über mit Kot bespritzt, triefend von Nässe. Voran ein Offizier auf einem schlankfüßigen Rappen, den Mantelkragen emporgestülpt, so daß unter dem Helm nur eine kühn geschwungene Nase und zwei dunkle Augen, die rasch und flüchtig nach den Schloßfenstern aufblickten, zum Vorschein kamen. Ein Reitknecht mit zwei in Decken gehüllten Handpferden folgte; ganz zuletzt kam ein leichter Fourgon nachgefahren. Der Verwalter, der den Auftrag erhalten hatte, die Ankömmlinge zu empfangen, war ihnen schon entgegengeeilt und lenkte sie jetzt seitwärts um das Schloß herum nach dem Hofe, wo sich die Ställe und das Amtshaus befanden. Nach einiger Zeit erschien er bei dem Freiherrn, der mittlerweile sein Zimmer aufgesucht hatte, mit der Meldung, daß alles aufs beste untergebracht sei. Nur ein Offizier sei gekommen, und zwar ein Rittmeister, dessen Leutnant krank in der letzten Station zurückgeblieben sei. Die betreffende Wohnung habe man dem Wachtmeister eingeräumt, der wahrscheinlich seine Stelle vertrete. Als der Verwalter sich entfernt hatte, trat bald darauf der Kammerdiener ein und überreichte eine Karte. Der Freiherr nahm sie und las: »Rittmeister Graf Poiga-Reuhoff.« Der Herr Graf, berichtete der Kammerdiener, habe durch seinen Reitknecht anfragen lassen, ob er noch im Laufe, des Vormittags die Ehre haben könne, Seiner Exzellenz aufzuwarten, was der Freiherr in verbindlichster Weise bejahte. Hierauf begab er sich in das erste Stockwerk hinunter, um Klothilde in Kenntnis zu setzen. Sie befand sich in ihrem Ankleidezimmer, und er klopfte leise an die Tür. »Bist du allein?« fragte er. »Ja. Ich bin im nächsten Augenblick bereit –« Er setzte sich, die Karte in der Hand, auf einen Stuhl. Klothilde erschien bald. Sie sah etwas bleich, aber wundervoll aus in einem hochgeschlossenen Kleide aus braunem Foulard mit mattem Goldglanz. Eine durchsichtig weiße Halskrause hob den Schmelz ihres Antlitzes. Der Freiherr betrachtete sie unwillkürlich mit Bewunderung, sagte jedoch nichts und überreichte ihr bloß die Karte. Sie warf einen Blick darauf: »Ein Graf?« sagte sie dann. »Wie vorausgesehen. Wenn ich nicht irre, sind die Poiga in Böhmen – in der Nähe Prags begütert. Er will uns sofort einen Besuch machen.« » Uns ? Muß ich dabei sein?« »Gewiß. Man müßte sonst eine Ausrede ersinnen. Und wozu – da du ihn doch einmal wirst kennen lernen müssen.« »Es ist wahr«, erwiderte sie gefaßt. »Wir sind eigentlich recht töricht. Ich habe inzwischen darüber nachgedacht und gefunden, daß wir allzuviel Gewicht auf diese Einquartierung legen.« »Du hast recht,« erwiderte er mit zustimmendem Lächeln, »wir benehmen uns, als hätten wir niemals im Leben mit Menschen verkehrt.« Sie begaben sich in den Salon. Auf einem Tische lagen Zeitungen und Briefe, die mit der Post gekommen waren. Auch ein Brief an Klothilde fand sich vor, bei dessen Anblick sie ausrief: »Von Tante Lotti!« Sie setzte sich und begann das ziemlich umfangreiche Schreiben zu lesen, während der Freiherr die Zeitungen durchblätterte. Jetzt rief sie: »Wie schade! Lotti schreibt mir, daß sie vor halbem August nicht bei uns eintreffen kann; es sind wichtige Angelegenheiten, die sie bis dahin in Wien zurückhalten. Und gerade jetzt wäre sie uns von großem Nutzen!« »Allerdings«, erwiderte der Freiherr. »Sie ist eine praktische Frau, die nicht viele Umstände macht.« So ging die Zeit hin, und die Turmuhr holte gerade aus, die zwölfte Stunde zu schlagen, als vom Korridor herein Tritte und Sporengeklirr vernehmbar wurden. »Man kommt«, sagte der Freiherr, indem er sich erhob und dem nunmehr Eintretenden, welchem der Kammerdiener die Tür geöffnet hatte, entgegenging. Auch Klothilde stand auf und richtete die Augen scheu auf die hohe, männlich schlanke Gestalt, die der knapp anliegende weiße Uniformrock sehr vorteilhaft hervorhob. »Gestatten Sie, Exzellenz,« begann der Graf, indem er sich leicht verbeugte und die schöne Frau mit einem raschen Blick streifte, »gestatten Sie, daß ich mich persönlich vorstelle. Es hat sich nun einmal gefügt, daß wir in Ihren Burgfrieden einbrechen mußten, und es braucht wohl keiner Versicherung, daß ich selbst an dieser unliebsamen Störung keine Schuld trage.« Der Freiherr erwiderte einige verbindliche Worte und bat den Grafen, Platz zu nehmen. »O ich weiß,« sagte dieser, während er sich in einem Fauteuil niederließ und Klothilde, die sich auf das Sofa gesetzt hatte, ganz und voll ins Auge faßte, »ich weiß und begreife sehr wohl, daß derlei Überfälle höchst lästig sind. Aber was will man tun? Man muß sie eben wohl oder übel hinnehmen. Sie dürften übrigens«, fuhr er, den Kopf hochmütig zurückwerfend, fort, »nicht allzuviel zu leiden haben. Meine Dragoner sind ehrliche Mährer, also im ganzen stille und zurückhaltende Leute, die mit ihren heimischen Mehlklößen vollständig zufrieden sind. Und was meine Person betrifft, so bitte ich, auf mich nicht die geringste Rücksicht zu nehmen. Ich habe nur sehr wenige Bedürfnisse und führe das Notwendigste, wenn es nur einigermaßen angeht, stets mit mir. Speisen werde ich unten an der Wirtstafel mit den Offizieren. Sie sehen also,« schloß er, stolz ablehnend, »daß ich außer der höchst angenehmen Wohnung, die Sie mir zur Verfügung gestellt, auf Gastfreundschaft durchaus keinen Anspruch mache.« Eine Pause trat ein, die der Freiherr mit der Frage unterbrach, woher das Regiment komme. »Aus Italien, wo wir so ziemlich unnütz waren, da die Kavallerie in den sumpfigen Reisfeldern keine rechte Verwendung finden konnte. Nun, Papa Radetzky ist trotzdem mit den Italienern fertig geworden. Wir sollten hierauf mit anderen Truppen unter Haynau nach Ungarn marschieren. Unterwegs aber erhielt das Regiment Order, hierher zu rücken. Es bereitet sich wohl etwas gegen Preußen vor; der alte Hegemoniekitzel scheint sich dort wieder zu regen.« »Der König von Preußen hat die deutsche Kaiserkrone abgelehnt«, sagte der Freiherr im Tone leiser Zurechtweisung. »Weil sie ihm vom Frankfurter Parlament angeboten wurde«, entgegnete der Graf mit unterdrückter Heftigkeit. »Es wäre Unsinn gewesen, sie von solcher Seite anzunehmen. Die Schwäche Österreichs ist eine weit bessere Chance, und da Kossuth und Görgei noch immer obenauf sind, glaubt man auch damit rechnen zu können. Aber das russische Bündnis wird den Dingen eine ganz andere Wendung geben. Eure Exzellenz wissen doch bereits – –?« »Ich habe von diesem Bündnisse in den Zeitungen gelesen«, sagte der Freiherr ruhig. »Der Zar ist mächtig«, fuhr der Graf mit blitzenden Augen fort, »und es kann der Welt gar nicht schaden, wenn sie nach all dem tollen Freiheitsschwindel wie der einmal tüchtig die Knute zu spüren bekommt.« Der Freiherr erwiderte nichts und suchte das Gespräch auf andere, näher liegende Dinge zu lenken, wobei nun auch Klothilde Gelegenheit fand, einige Worte mit einzuflechten. Aber der Graf erhob sich bald. »Ich darf die Herrschaften nicht länger stören«, sagte er, sich beim Abschiede mit herablassender Förmlichkeit verbeugend. »Auch werde ich unten erwartet. Noch eines will ich sagen. Sollten sich wider Vermutungen meine Leute Unzukömmlichkeiten erlauben, so bitte ich, sich sofort an mich zu wenden. Für Störungen, welche mit der Handhabung des Dienstes verbunden sind, kann ich natürlich nur um Entschuldigung bitten, und die Schloßherrin« – er wandte sich dabei an Klothilde – »wird es mir hoffentlich nicht allzu schwer anrechnen, wenn sie durch unvermeidliche Trompetensignale – oder durch das Wiehern und Stampfen der Pferde aus süßen Morgenträumen aufgeschreckt wird.« Als er sich entfernt hatte, herrschte längeres Schweigen. Endlich sagte der Freiherr: »Hab' ich es nicht vorhergesagt? Es ist wirklich ein Glück, daß wir uns um ihn nicht zu kümmern brauchen. – Wie findest du ihn?« setzte er nach einer Weile, sie nicht ohne Besorgnis anblickend, hinzu. Sie zuckte leicht die Achseln. »Der richtige Aristokrat«, fuhr der Freiherr, mehr zu sich selbst sprechend, fort. »Welche Anschauungen! Aber er hat ja recht«, schloß er mit bitterem Lächeln. »Diesen Herren gehört jetzt wieder die Welt.« 4. IV. Die Äußerung, welche der gräfliche Rittmeister über seine Leute getan, bewahrheitete sich. Sie enthielten sich, wie man sah, ohne besonderes Verbot alles überflüssigen Lärmens und gingen in meist wortloser, etwas melancholischer Gleichmäßigkeit ihren Verrichtungen nach. Waren diese abgetan, so streckten sie sich auf ihr Strohlager hin oder saßen rauchend auf den langen Bänken, die an der Stallmauer angebracht waren; manchmal gingen sie des Abends paarweise oder in Gruppen in den Ort hinunter, um aber in der Regel lange vor dem Erklingen der Retraite wieder heimzukehren. Selbst um das schöne Geschlecht im Schlosse kümmerten sie sich äußerst wenig, und die Mägde machten sich ganz unnütz öfter als sonst bei dem Auslaufbrunnen zu tun, der zwischen der Küche und dem Stalle sein Wasser versprudelte. Hin und wieder näherte sich wohl der eine oder der andere von den Reitern mit einem tschechischen Scherzworte, das aber die guten Wiener Kinder (selbst die Eingeborenen sprachen nur deutsch) nicht verstanden, oder half ihnen mit ungeschlachter Galanterie Eimer und Krüge aufnehmen; weiter aber kam es nicht, da man zu keinem Gedanken- und Gefühlsaustausche gelangen konnte. Nur der Wachtmeister, ein behäbiger, auf seinen struppigen, künstlich verlängerten Schnurrbart sehr stolzer Mann, schien in dieser Hinsicht unternehmender sein zu wollen. Er hatte es aber, wiewohl er bisweilen auch in der Küche herumschnüffelte und schäkerte, im Bewußtsein seiner Würde mehr auf das niedliche Kammerkätzchen abgesehen, das nun ebenfalls öfter, als gerade notwendig war, durch den Hof huschte. Diese Franziska jedoch (eigentlich wurde sie Fanny genannt) fand diesen Werner (zufällig führte der Wachtmeister in der Tat diesen Namen) keineswegs nach ihrem Geschmacke; auch sie strebte nach Höherem, und ein schmucker Leutnant wäre ihr gerade recht gewesen. Obzwar nun ein solcher fehlte – und der Herr Graf unnahbar schien, so hatte sie dennoch für den ältlichen Galan nur ein herablassendes Kopfnicken oder höchstens ein paar schnippische Worte in Bereitschaft. So geschah es, daß schon in kürzester Zeit fast das frühere stille Leben im Schlosse herrschte und die Reiter, deren Erscheinen so viele Aufregung hervorgebracht hatte, kaum mehr beachtet wurden. Nur wenn sie die Pferde gesattelt aus dem Stalle zogen, aufsaßen und unter dem Kommando des Wachtmeisters, der mit einer langen Peitsche mitten in dem Rund des Hofes stand, Schule ritten, da gab es immerhin ein Schauspiel, dem man nicht ungern zusah, und welches bisweilen auch der Rittmeister vom Fenster seiner Wohnung aus, einen kurzen Tschibuk rauchend, beobachtete. Eines Tages hatten sich der Freiherr und seine Gemahlin in einen galerieartigen Raum begeben in dessen Mitte ein Billard stand, um sich von dort aus, da die Fenster nach dem Hofe gingen, gleichfalls das Traben und Galoppieren mit anzusehen. Es gab diesmal einige besonders widerspenstige Pferde, und der Wachtmeister fand Gelegenheit, seine Peitsche eindringlich spielen zu lassen, wobei nicht selten die im Sattel wankenden Reiter mitgetroffen wurden. Der Freiherr hatte sich bald wieder entfernt; Klothilde aber war noch am Fenster zurückgeblieben, und sah jetzt, wie sich die Leute zum Abritt anschickten. Inzwischen jedoch war ein prachtvolles, isabellfarbiges Pferd, leicht aufgezäumt, aus dem Stalle gezogen und vor das Wohnhaus des Rittmeisters gelenkt worden. Und gleich darauf trat dieser aus der Tür, in Mütze und Reitjacke, eine Gerte in der Hand. Bei seinem Anblick trat Klothilde erschrocken vom Fenster zurück. Ihr erster Antrieb war, aus dem Zimmer zu fliehen; aber sie fühlte sich unwiderstehlich gefesselt. Mit leichtem Zittern trat sie hinter einen der schweren Halbvorhänge und blickte, so sich verborgen glaubend, wieder in den Hof hinab, während sich der Graf eben in den Sattel schwang. Es kostete ihm einige Mühe, denn das edle Tier war voll nervöser Unruhe. Es trat, aufgeregt schnaubend, beständig zur Seite und versuchte endlich mit den Vorderfüßen in die Luft zu steigen, von dem Stallknechte nur mit Anwendung aller Kraft niedergehalten. Endlich saß der Reiter oben und tätschelte liebkosend den glänzenden, mit einer langen, fast weißen Mähne gezierten Hals des Tieres, das ihn aber noch immer nicht auf sich dulden wollte. Es bäumte sich hoch auf, schüttelte den Kopf und war nicht nach vorwärts zu bewegen, vielmehr trat es jetzt, durch Schenkeldruck und stachelnde Sporen gepeinigt, einen Rückgang im Kreise an, so daß der Wachtmeister, der sich inzwischen genähert hatte, schon seine Peitsche entrollen wollte. Der Graf aber winkte unwillig ab und ließ dem Pferde seinen Willen. In dem Augenblick jedoch, als er in Gefahr kam, an die Mauer gedrückt zu werden, versetzte er ihm, nach rückwärts ausholend, solch wuchtige Gertenhiebe, daß es mit einem Male einige rasche Sätze nach vorwärts tat – und zwar quer über den Hof, in das Wiesenrondell hinein, das einen kleinen flachen Zierteich umgab. Dort aber riß er es – sich weit zurücklehnend – so mächtig herum, peitschte ihm derart die Flanke, daß es unwillkürlich in den gebahnten Weg einbog, wo es, am ganzen Leibe zitternd, stillestand. Nun neigte sich der Graf wieder schmeichelnd zu seinem Halse nieder und langte aus der Tasche eine Hand voll Zuckerstücke, die er mit vorgestrecktem Arm dem Pferde anbot. Dieses blähte die Nüstern und betastete mit den Lippen zurückhaltend die gebotene Süßigkeit, die es zuletzt doch mit wachsendem Behagen zwischen dem schäumenden Gebisse zermalmte. Nun erhielt es leichten Schenkeldruck und schmeichelnden Zuruf; noch widerstrebte es – aber allmählich setzte es sich in Gang, immer williger, immer freier, immer leichter, bis es zuletzt mit flüchtigen, weitausgreifenden Hufen, den Kopf anmutig auf und niederbewegend, in der Runde dahinflog. Mit klopfendem Herzen und wachsender Erregung hatte Klothilde diesen Vorgängen zugesehen. Sei es nun, daß sie dabei unbewußt aus dem schützenden Verstecke getreten war, sei es, daß dieses sich überhaupt nicht genügend erwies, die junge Frau mußte von unten jedenfalls zu erblicken gewesen sein. Denn als jetzt der Graf im Bogen wieder an dem Schlosse vorbeikam, sah er rasch empor und brachte, sich im Sattel verneigend, mit eigentümlichem Lächeln einen zwar höchst ehrerbietigen – und doch nicht minder vertraulichen Gruß dar. Ohne ihn zu erwidern, trat Klothilde erbleichend zurück und floh auf ihr Zimmer. 5. V. Seitdem wagte sie es nicht mehr, an ein Fenster zu treten. Sie fürchtete, des Grafen ansichtig zu werden – fürchtete es um so mehr, als sie deutlich empfand, wie sehr sie dies eigentlich im Tiefsten ihrer Seele wünsche. Hatte sie sich doch schon früher im Geiste mehr mit ihm beschäftigt, als sie es vor sich selbst verantworten konnte. Seine hohe Gestalt, das dunkle Feuer seiner Augen, sein gebräuntes, stolzes Antlitz, von welchem das kurzgeschnittene blonde Haupthaar und der feine rötliche Schnurrbart eigentümlich abstachen, schwebte ihr in jeder einsamen Stunde vor und schlichen sich sogar nachts in ihre Träume. Wie oft hatte sie sich auf dem sträflichen Wunsch ertappt, unter irgend einem Vorwande das Zimmer ihrer Zofe zu betreten, weil sie zufällig wahrgenommen, daß man von dort aus das kleine Amtshaus im Auge habe, wo der Graf, ohne sich – so schien es – um irgend jemand zu kümmern, wie meilenweit vom Schlosse entfernt lebte. Aber jetzt, nachdem er sie so seltsam eindringlich, so rätselhaft vertraulich gegrüßt, hatte sie mit einem Male die Überzeugung, daß auch er sich im Geiste mit ihr beschäftigt habe, und fühlte sich nunmehr von den geheimnisvollen Fäden seiner Gedanken umsponnen. So lebte sie in beständiger, vor ihrem Gatten verhehlter Unruhe dahin, die ihr um so qualvoller wurde, als ihr die Gelegenheit benommen war, ihre frühere Lebensweise wieder aufzunehmen. Denn die junge Frau trug jetzt eine seltsame Scheu, sich in den Park zu begeben; zudem herrschte noch immer unfreundliches, veränderliches Wetter, und durch die Wipfel wehte es feucht und kühl. Klothilde blieb daher auf ihre Zimmer angewiesen und unternahm nur zuweilen am Nachmittage, tief in einem halbgedeckten Wagen zurückgelehnt, mit ihrem Gatten eine kurze Spazierfahrt. Als aber jetzt wieder der Himmel blau, die Tage hell und sonnig geworden waren und die leuchtende Glut des Juli über der Landschaft lag, da begann Klothilde eine unendliche Sehnsucht nach ihrem trauten Asyl zu empfinden. Sie glaubte zu fühlen, wie sich, wenn sie nur wieder einmal an ihrer Staffelei oder mit einem Buche unter den lispelnden Birkenwipfeln säße, alles Verwirrende und Beängstigende von ihr ablösen, wie ein tiefer, wunschloser Friede in ihre Seele einziehen würde. Auch die Gefahr, im Parke mit dem Grafen zusammenzutreffen, schien während des Vormittags ausgeschlossen. Denn der ritt ja, wie sie in Erfahrung gebracht, jetzt jeden Morgen mit seinen Dragonern fort, zu irgend welchen größeren Übungen die, ziemlich weit vom Marktflecken entfernt, auf freiem Felde, vorgenommen wurden. Dann blieb er auch gleich unten zu Tisch und kehrte erst in den späteren Nachmittagsstunden nach Hause zurück. Sie setzte also eines Morgens nach dem Frühstück ihren Gartenhut auf. »Ich gehe heute in den Park«, sagte sie auf einen fragenden Blick ihres Gatten. »Zum erstenmal seit mehr als vierzehn Tagen. Du meinst doch auch, daß ich – –« setzte sie zögernd hinzu, da sie zu bemerken glaubte, daß seine Stirn nicht ganz frei war. »O gewiß, gewiß«, fiel er rasch ein. »Warum solltest du nicht? Es hat mich ohnehin gewundert, daß du so lange hier oben ausgehalten hast«, fügte er mit leichtem Scherze bei. »Das Wetter war nicht sehr einladend. Außerdem begreifst du wohl –« Er hatte sich erhoben und stand jetzt dicht neben ihr. »Ich begreife«, sagte er leise. »Aber das wäre doch zu viel. Geh' nur, mein Kind«, fuhr er fort, indem er sie sanft auf die Stirn küßte. »Vielleicht suche ich dich später unten auf.« Sie nahm ihren Sonnenschirm und schritt die Treppe hinab. Im Vorhause warf sie einen scheuen Blick nach dem Hofe. Dort war alles still, wie ausgestorben; denn die Dragoner waren weggeritten und noch nicht zurückgekehrt. Nur eine Stallwache lungerte träg auf einer Bank. Klothilde durchschritt jetzt einen schmalen Seitengang, öffnete eine kleine Pforte – und stand unmittelbar auf dem prangenden Parterre. Es war die Zeit des Nelkenflors, und weiße Falter flatterten über diesen würzigen Blumen, welche in allen Farbenschattierungen ihren heißen Duft ausatmeten. Sie bückte sich, um eine von hellem, brennendem Rot zu pflücken und steckte sie vor die Brust. Je tiefer sie jetzt in den Park hineinschritt, desto beschwingter fühlte sie sich. Mit Entzücken sog sie die warme und doch so erquickende Sommerluft ein, und strahlend glitt ihr Blick über das vertraute Grün der alten Baumgruppen. Nun hatte sie schon die Wiese, hatte das Tirolerhaus erreicht, dessen Tür sie mit rascher Hand aufschloß. Und jetzt betrat sie die lieben, dämmerigen Räume, in die, nachdem Türen und Fensterläden geöffnet waren, der helle Tag hereinflutete. Ja, da stand und lag noch alles so, wie sie es vor Wochen verlassen. Auf dem Tische die Bücher, dort die Staffelei mit der nahezu vollendeten Landschaft; selbst die Blumen in der Vase, die letzten, die sie unten auf der Wiese gepflückt, waren noch nicht vollständig verwelkt. Unwillkürlich breitete die junge Frau wie zur Begrüßung die Arme aus; dann fuhr sie mit beiden Händen leicht über die Brust hinab, als wollte sie damit alles Belastende und Unreine, das noch auf ihr lag, abstreifen. Hierauf ging sie daran, wie sie es stets gewohnt war, einige Ordnung zu schaffen. Sie reihte die Bücher aneinander, entfernte die Blumen aus der Vase, um sie später durch andere zu ersetzen, und begann mit einem leichten Tuche, das sie einem Schränklein entnommen, die feine Staubschicht wegzuwischen, die sich über einzelne Gegenstände gebreitet hatte. Bei dieser Beschäftigung überhörte sie ganz ein leises Trompetenklingen in der Ferne, welches anzeigte, daß die Reiter von ihren Übungen nach dem Marktflecken zurückkehrten. Nun hatte sie bereits die Stühle zurechtgerückt und die Staffelei mit allem Nötigen instand gesetzt. Aber mit der Arbeit wieder beginnen konnte und mochte sie heute noch nicht. Sie wollte sich fürs erste ganz und voll den seligen Empfindungen hingeben, welche hier – o, sie hatte es vorausgesehen! – über sie gekommen waren. Ausgenießen wollte sie so recht den fühlbaren Beginn wonniger Befreiung und sich dabei hinüberträumen in das reine, ungetrübte Glück kommender Tage! So ging sie wieder langsam hinunter und ließ sich auf die Bank nieder, wo sie so gerne saß. Dort weilte sie jetzt, in ihr Innerstes versunken, während die Zeit mit unmerklichem Flügelschlage an ihr vorüberzog ... Endlich sah sie nach der kleinen Uhr, die sie im Gürtel trug. Es war Mittag geworden. Sie aber hatte noch zwei volle Stunden vor sich, bis die Tischglocke sie rief; auch würde ja noch früher ihr Gatte erscheinen. Einstweilen konnte sie einen Rundgang um den Teich unternehmen, der in nächster Nähe oberhalb des Tirolerhauses lag. Klothilde liebte die ausgedehnte, von Schilf und Binsen durchsetzte Wasserfläche, an deren Ufern Erlen und hohe Ulmen tiefe, schwermütige Schatten verbreiteten. Kaum, daß sie dort sichtbar geworden, kamen sogleich zwei Schwäne herangeschwommen, denn sie waren gewohnt, daß ihnen die Schloßherrin hin und wieder Brot zuwarf. Heute aber war sie mit leeren Händen gekommen, und die silberweißen Vögel begleiteten fruchtlos ihre Schritte. Nachdem Klothilde den Teich langsam umgangen hatte, lenkte sie halb unbewußt ihre Schritte einem Hügel zu, welcher, künstlich angelegt und von hohen Fichten bestanden, über die Umfassungsmauer des hier sein Ende erreichenden Parkes emporragte. Ein schmaler Pfad wand sich durch das Gehölz und führte nach dem Gipfel, der den Ausblick auf die gegenüberliegenden Wälder und Höhenzüge eröffnete und auf welchem jetzt Klothilde angelangt war. In demselben Augenblick jedoch prallte sie mit einem halb unterdrückten Aufschrei zurück. Denn auf einer bequemen Ruhebank, die dort oben angebracht war, saß der Graf, lässig zurückgelehnt, eine Zigarre rauchend. Jetzt erhob er sich und sagte lächelnd mit einer tiefen Verbeugung: »Sie erschrecken ja, gnädigste Chatelaine, als wäre ich eine Schlange, auf die Sie treten könnten.« Alles Blut war aus ihrem Antlitz gewichen. Sie stand vor ihm in blasser Schönheit, sich mit der Rechten an einem Fichtenstamm haltend, denn es war ihr, als müßte sie umsinken. »Ich kann nur bedauern,« fuhr er, die Zigarre wegschleudernd, fort, »daß Ihnen mein Anblick solches Entsetzen eingeflößt hat. Aber fassen Sie sich doch!« Er trat auf sie zu, wie um sie zu stützen. Sie machte eine abwehrende Bewegung und sagte mit bebender Stimme: »Verzeihen Sie, ich war so gar nicht vorbereitet, daß jemand –« »Hier sitzen könnte?« erwiderte er mit leichter Ironie. »Fühlen Sie sich denn gar so sicher in dieser Einsamkeit? Früher mag dies wohl der Fall gewesen sein – aber jetzt kann es immerhin Leute geben, die Ihnen auflauern. Zum Beispiel ich. Ich habe es schon gestern getan – und heute gehe ich seit einer Stunde im Park umher.« »Ich habe Sie nicht bemerkt.« »Das weiß ich. Sie saßen so in Gedanken vertieft, dort unten vor dem kleinen Hause. Auch habe ich mich ziemlich gedeckt gehalten und bin sehr leise aufgetreten. – Aber Sie wollten sich jetzt gewiß hier niederlassen?« setzte er hinzu, indem er mit einer einladenden Handbewegung nach der Bank wies. »O nein«, versetzte sie rasch. »Ich dachte nicht daran, hier zu verweilen – es war ein bloßer Zufall, daß ich – –« »Der Zufall ist nichts anderes, als geheimnisvolle Notwendigkeit«, sagte er. »Ich wollte sie vorhin nicht stören; als ich aber, meinen Weg fortsetzend, diese Stelle entdeckt hatte, da dachte ich, wie schön es wäre, wenn Sie sich hier einfinden würden. Und so war es mein lebhafter Wunsch, der Sie, ohne daß Sie es gewollt, hieher geführt.« Er hatte sich bei diesen Worten leicht zu ihr hingebeugt und sah sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte, und fühlte nur, wie ihr eine heiße Glut ins Antlitz stieg. »Ja,« fuhr er fort, seine Stimme zu schmeichelndem Flüstern dämpfend, »ja, schöne Chatelaine, ich habe nicht bloß gestern und heute – ich habe stets an Sie gedacht, seit ich Sie zum erstenmal gesehen. Und schon damals hab' ich erkannt, daß wir uns finden würden.« Sie rang nach Atem. Da war es ja, da hatte er ausgesprochen, was sie geahnt, was sie gefürchtet! Und sie – o Gott! – sie stand da, ratlos, hilflos – und fand kein Wort der Entgegnung, der Zurechtweisung. Was konnte – was mußte er von ihr denken? .... »Und nicht wahr?« setzte er hinzu, »wir haben uns gefunden – werden uns wiederfinden –« Er hatte bei diesen Worten mit seiner nervigen, aber feinen Hand, an der ein kostbarer Siegelring glänzte, ihre bebenden Finger erfaßt und einen Arm um ihren Leib gelegt. Sie wollte sich ihm entziehen, ihn zurückstoßen – aber sie vermochte es nicht. Ihre Kniee wankten, die Sinne drohten ihr zu vergehen. »O, du liebst mich!« lispelte er, indem er versuchte, ihren bleichen, abgewandten Mund zu küssen, »nicht wahr, du liebst mich?« Und da sie verzweiflungsvoll widerstrebte, fuhr er fort: »Kommen Sie, lassen Sie uns hier bleiben an diesem trauten, verschwiegenen Ort!« Er suchte sie mit Gewalt nach der Ruhebank zu lenken. »Hier stört uns niemand – –« Diese Worte brachten sie zur Besinnung. Denn wie ein Blitz hatte sie dabei der Gedanke an ihren Gatten durchzuckt. Wenn er mittlerweile in den Park gekommen wäre – und sie nun suchte! Sie machte eine gewaltsame Anstrengung, sich aus den Armen des Grafen loszumachen, der seine Lippen in ihr Haar gepreßt hatte; aber er umklammerte sie nur um so fester. Als er jedoch in ihren Zügen den Ausdruck der entsetzlichen Angst gewahrte, mit welcher sie von dem Hügel fortstrebte, fragte er betroffen: »Warum wollen Sie fliehen? – Wohin wollen Sie, Klothilde?« Sie deutete in kraftloser Verstörung nach dem Tirolerhause hinunter. »Dorthin?! Warum?« »Ich erwarte –« Mehr konnte sie nicht hervorbringen. »Wen? Wen erwarten Sie?« drängte er, ohne sie völlig loszulassen. Und da sie nicht mehr antwortete, setzte er hinzu: »Ihren Gatten?« Sie ließ bejahend das Haupt sinken. Nun gab er sie langsam frei. »Das ist freilich fatal«, sagte er mit unterdrücktem Ärger. »Er darf uns nicht beisammen finden. Am allerwenigsten hier. Aber ich komme morgen – komme jeden Tag wieder. Um dieselbe Stunde –« Sie hörte ihn nicht mehr. Sie strich mit beiden Händen über ihr losgegangenes Haar und taumelte die Höhe hinunter. Er aber blieb eine Weile aufrecht stehen und blickte verdrossen in die Gegend hinaus. Dann schüttelte er den Kopf und entfernte sich mit vorsichtigen Schritten. 6. VI. Als jetzt Klothilde, ohne zu wissen wie, bei dem Tirolerhause angelangt war, sank sie auf die Bank neben der Tür und blickte starr und ausdruckslos vor sich hin. Was war denn vorgegangen?! Sie mußte sich erst darauf besinnen – und nun schlug sie, laut aufstöhnend, die Hände vor das Antlitz. »Mein Gott! Mein Gott!« Was sie geahnt, wovor sie gezittert, war eingetroffen. Eingetroffen in dem Augenblick, wo sie sich bereits gerettet und geborgen glaubte! Vollzogen hatte es sich plötzlich, ohne Widerstand von ihrer Seite! Willenlos hatte sie in den Armen des Grafen gelegen – und nur mehr eines Haares Breite hatte sie von dem Abgrund getrennt, in den sie als Ehebrecherin unrettbar versunken wäre! Und war sie es denn eigentlich nicht schon? Ein anderer, als ihr Gatte, hatte sie verlangend an sich gezogen, hatte sie – sie schauderte auf – du genannt, hatte mit brennenden Lippen ihrem Scheitel ein Mal aufgedrückt. Wie sollte sie jetzt dem Freiherrn entgegentreten – entweiht, gebrandmarkt! Und nicht der begehrliche Mann mit den dunklen Augen war an dem allen schuld – nein, nur sie , sie ganz allein in ihrer entsetzlichen Schwäche und Hilflosigkeit! Jede andere Frau an ihrer Stelle und unter solchen Umständen würde den Versucher abgewiesen – ihn wenigstens zum Scheine zurückgestoßen haben! Und sie – sie hatte nicht einmal ein Wort der Zurechtweisung, geschweige denn ein gebieterisches der Abwehr gefunden. Und wenn er morgen wieder an sie herantrat, fehlte ihr gewiß wieder die Kraft! O, was für ein Weib war sie!? Welch ein verächtliches Geschöpf! Welch unerhört feige, erbärmliche Natur! Nicht wert, daß sie die Sonne beschien, deren goldige Lichter vor ihr auf der Wiese glänzten und funkelten! Sie sprang auf und eilte in die Zimmer empor. Dort schloß sie rasch die nach dem äußeren Gang offene Tür, schloß alle Fensterläden. Nun war es dunkel um sie her; nur die Gegenstände, deren Anblick sie noch vor einer Stunde so glücklich gemacht, dämmerten in gespenstischen Umrissen auf. Auch das konnte sie nicht ertragen; sie sank auf den harten Sitz an der Wand und schloß die Augen. Nun war es finster und still wie im Grabe. O, läge sie darin! Aber wurden jetzt nicht von unten herauf Tritte vernehmbar? Klangen sie nicht schon auf der Treppe? Das war ihr Gatte! Ihr Herz stand still – und doch nicht so still, wie sie es gewünscht hätte. Der Freiherr hatte leicht an der Klinke gedrückt und fragte mit halber Stimme durch die Spalte herein: »Bist du hier, Klothilde?« Sie regte sich nicht. Nun hatte er die Tür ganz geöffnet und sah bei dem Lichtschein, der von draußen hineinfiel, wie sie lang ausgestreckt dasaß, totenbleich, mit zurückgesunkenem Haupte. »Klothilde!« rief er, erschrocken auf sie zueilend. »Was ist dir? Mein Gott, was ist geschehen –?« Sie gab noch immer keinen Laut von sich. Er befühlte ihre Stirn, faßte ihre kalte, leblose Hand. »Klothilde,« wiederholte er, aufs äußerste beängstigt, »was ist dir?« »Frage mich nicht«, erwiderte sie jetzt dumpf. »Was soll das heißen?« drängte er, indem er sich an ihrer Seite niederließ. »Sprich, rede – ich bitte dich!« Sie schlug die Augen auf und starrte, ohne ihn anzusehen, wie ins Leere. »Ich bin verloren«, sagte sie. »Verloren?!« rief er aus. »Verloren –« wiederholte er tonlos, während plötzlich eine entsetzliche, unfaßbare Vermutung in ihm aufdämmerte. »Ja«, sagte sie. Ihm war es, als läge er im Fieber und habe ein entsetzliches Traumgesicht. Aber nein: es war ja Wirklichkeit – etwas Entsetzliches mußte vorgefallen sein. Was immer auch: vor allem Klarheit, vollständige Gewißheit! Er sagte daher sanft: »Laß diese rätselhaften Aussprüche, Klothilde. Sage mir, was geschehen ist. Hörst du, Klothilde? Vertrau' es mir an – mir, deinem Gatten, der dich liebt – so unsäglich liebt –« Bei dem Ton dieser Stimme, bei der Berührung seiner Hand, die jetzt mit aufmunterndem Kosen über ihre Schläfe und Wange strich, überkam sie ein so gewaltiges Weh, daß ihr die Brust zerspringen wollte. Endlich brach sie in einen Strom von Tränen aus. Er ließ sie weinen. Dann brachte er seinen Mund dicht an ihr Ohr und sagte weich und flüsternd: »Ich will dir zu Hilfe kommen«. Sage mir: »hängt dein verzweifelter Zustand mit – mit dem –« Er vollendete nicht; denn ein rasches Aufschluchzen Klothildens sprach deutlich genug. Und nun, da er die Gewißheit hatte, um was es sich handelte, begann er zu forschen, allmählich, mit äußerster Vorsicht und Zartheit. Aus den leisen, kaum andeutenden Fragen, die er an sie richtete, aus halben Worten, unterdrückten Gebärden, krampfhaftem Weinen erfuhr er, was sich zugetragen – und atmete auf. »Armes Kind!« sagte er nach einer Pause, »armes Kind! – Und weiß ich jetzt alles?« setzte er leise hinzu. Sie bejahte mit stummem Senken des Hauptes. »Nun dann,« fuhr er fort, die Hand auf ihren Scheitel legend, »dann sei ruhig. Denn es wird alles wieder gut werden.« Sie fuhr mit halbem Leibe empor und blickte ihn mit schreckhaftem Erstaunen an. »Das ist nicht möglich«, sagte sie tonlos. »Warum nicht? Liebst du ihn denn?« »Nein!« rief sie, die Arme vorstreckend. »Es war nur Schwäche – entsetzliche Schwäche.« »Nun,« erwiderte er, indem er sie jetzt mit sanfter Gewalt an sich zog, »wenn du ihn nicht liebst, wenn du fühlst, daß deine Zuneigung für mich die gleiche geblieben ist, dann ist ja auch alles wie früher.« Sie sah ihn ausdruckslos an. »Es kann nicht wie früher sein. Denn du mußt mich jetzt verachten, aufs tiefste verachten.« »Verachten?« sagte er innig. »Nein, ich verachte dich nicht, ich liebe dich! Und daher ist es auch jetzt meine Pflicht, dich dir selber zurückzugeben.« Er war bei diesen Worten aufgestanden und schritt, ernst vor sich hinblickend, in dem dämmerigen Räume auf und nieder. Sie folgte ihm mit den Augen. Es war, als habe ein Hoffnungsstrahl in ihrem verstörten Antlitz aufgeleuchtet. Plötzlich aber fragte sie zitternd: »Was willst du tun?« »Das ist meine Sache«, entgegnete er fest. Sie sprang auf. Ein fürchterlicher Gedanke hatte sie durchzuckt. Es war offenbar: er trug sich mit einer Herausforderung an den Grafen! So pflegen ja die Männer mit der Ehre ihrer Frauen die eigene wieder herzustellen! Mein Gott! Er wollte mit seinem Leben für sie einstehen – für sie, die sich des Lebens nicht mehr wert fühlte! »Nein,« rief sie, »das darfst du nicht! Du darfst es nicht!« Er sah sie befremdet an; denn er verstand nicht gleich, was sie sagen wollte. Erst der Ausdruck namenloser Angst, mit dem sie ihm jetzt flehend die Arme entgegenstreckte, brachte ihn darauf. »Besorge nichts«, entgegnete er mit ruhigem Lächeln. »Ich kämpfte nicht mit solchen Waffen. – Aber fasse dich jetzt, Klothilde. Es ist hohe Zeit – wir müssen nach dem Schlosse zurück. In solchem Zustande darf dich niemand sehen.« Sie fühlte, daß er recht habe und daß sie ihm schuldig sei, äußere Haltung zu bewahren. Instinktiv trat sie vor einen kleinen Spiegel, der an der Wand hing, ordnete ihre Haare, benetzte ihre verweinten Augen aus einem Glase, das halb mit Wasser gefüllt neben der Staffelei stand, und frischte ihr Antlitz auf. Er war auf sie zugetreten. »Sei guten Mutes, Klothilde«, sagte er, indem er ihr den Arm bot. »Es wird bald alles wie ein böser Traum hinter uns liegen.« Sie versuchte ein schwaches Lächeln; dann gingen sie. 7. VII. Der Freiherr erschien heute allein zu Tisch. »Die Baronin ist unwohl«, bedeutete er dem Kammerdiener. Dieser schaffte sofort das aufgelegte zweite Gedeck beiseite, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen; denn es war ihm bekannt, daß die Herrin, wenn auch selten, dann aber um so heftiger an Migräne leide und sich in solchem Falle stets gänzlich zurückziehe. Mit der äußeren Ruhe eines Weltmannes, der im Leben jede Art von Selbstbeherrschung erlernt und geübt hatte, nahm der Freiherr das Diner ein, wenn auch flüchtiger als sonst, was ja nicht auffallen konnte, da er ohne Gesellschaft speiste. Er atmete aber befreit auf, als endlich der Kammerdiener das Kaffeebrett mit der kleinen chinesischen Tasse und dem silbernen Kännchen vor ihm niedersetzte und hierauf verschwand. Nun konnte er sich, in den Stuhl zurückgelehnt, vollständig seinen Gedanken überlassen. Was sich da zugetragen, hatte ihn nicht ganz unerwartet getroffen. Ein Vorgefühl davon hatte auf ihm mit dumpfem Drucke gelegen seit jenem Tage, an welchem er die Zuschrift des Gemeindevorstehers erhalten. Aber nach Art erfahrener Naturen wollte er nicht vorschnell an ungewiß drohende Dinge rühren, um nicht etwa ihren Gang zu beschleunigen; er vermied es später sogar, seine Gemahlin zu beobachten, auf daß er durch verfrühte Wahrnehmungen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werde. Da sich aber nun alles, immer noch überraschend genug, vollzogen hatte, erkannte er auch sofort sehr deutlich, wie klar und einfach die Sache lag – und Klothilde allein war es, die er dabei unmittelbar ins Auge faßte. Er selbst kam ja gar nicht in Betracht; er war ein alter Mann, den nur getroffen hatte, was ihn früher oder später einmal treffen mußte – und Graf Poiga-Reuhoff war eben ein gewohnheitsmäßiger Roué, gegen welchen er für seine Person nicht einmal Gereiztheit empfand, den er nur mit Hinblick auf den Seelenzustand Klothildens haßte. »Armes Weib!« flüsterte er vor sich hin. »Welche Zukunft steht ihr bevor!« Aber nicht die Zukunft galt es jetzt zu bedenken, nur die Gegenwart. Und über diese mußte sie unter allen Umständen hinweggebracht werden! Als jetzt der Kammerdiener wieder eintrat, sagte er: »Ich möchte heute dem Herrn Rittmeister einen Besuch machen, da ich ihn das erste Mal nicht angetroffen und bloß eine Karte zurückgelassen habe. Erkundigen Sie sich, ob er zu Hause ist. Lassen Sie aber nichts von meiner Absicht verlauten; vielleicht besinnne ich mich noch anders.« Er erhielt bald die Meldung, der Graf befinde sich in seiner Wohnung. Nachdem er noch eine Weile sitzen geblieben, begab er sich auf sein Zimmer, um eine Änderung in seinem Anzuge vorzunehmen. Dann griff er nach seinem Hute und schritt langsam die Treppe hinunter. Es schlug eben vier Uhr, als er quer über den Hof dem Amtshause zuschritt. Auf einer der Stallbänke sah er den Reitknecht des Grafen sitzen, träg hingelümmelt neben dem Wachtmeister, mit welchem er in einer Unterhaltung begriffen schien. Sobald der Wachtmeister des Schloßherrn ansichtig wurde, erhob er sich und salutierte; der Reitknecht aber, ein bartloser, in der Art solcher Leute hochmütiger Bursche, zögerte sichtlich; erst als der Freiherr gerade auf ihn zutrat, erhob er sich rasch und brachte den Stummel einer Virginiazigarre, den er mehr kaute als rauchte, aus dem Munde. Der Freiherr sagte, er wünsche den Grafen zu sprechen; wie er gehört habe, sei dieser zu Hause. »Ja,« erwiderte der Bursche in schwer verständlichem Deutsch; »aber er schläft. Ich habe jedoch den Befehl, ihn um vier Uhr zu wecken. Es ist jetzt gerade Zeit,« fuhr er mit einem Blick nach der Schloßuhr fort, »und ich werde den Herrn Baron anmelden.« »Tun Sie das,« versetzte der Freiherr, »ich werde einstweilen hier warten.« Und er schlug die Richtung nach dem Rondell in der Mitte des Hofes ein, wo er den kleinen Teich zu umschreiten begann. Es dauerte ziemlich lange, bis der andere mit der Nachricht zurückkam, der Herr Graf lasse bitten, einstweilen oben Platz zu nehmen, er werde gleich erscheinen. Der Freiherr folgte nun dem Reitknechte, der offenbar auch die Verrichtungen eines Dieners besorgte, in das Eintrittszimmer, wo es ziemlich wüst aussah. Auf einem niederen Schranke gewahrte man, neben einer Anzahl von Gerten und Reitstöcken, die Mütze und die Handschuhe des Grafen; zwei Säbel, ein schwerer und ein leichter, lehnten in einer Ecke, und auf dem Tische vor dem Sofa lag bei den Resten eines Frühstücks, die jetzt der Bursche rasch entfernte, ein zur Hälfte gerauchter Tschibuk. Obgleich ein Fenster offen stand, war doch ein scharfer Geruch von türkischem Tabak im Gemach verbreitet, der sich dem Freiherrn, welcher selbst nicht rauchte, höchst unangenehm aufdrängte. Durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers herein klang das zornige, ab und zu herrisch beschwichtigte Gekläff eines Hundes, der den Fremden witterte; dazwischen Schritte und Geräusche, welche verrieten, daß der Graf eben im raschen Ankleiden begriffen war. Endlich öffnete sich die Tür, durch deren Spalt sofort ein gelber, affenartiger Pintscher laut aufbellend dem Freiherrn entgegenschoß; auf einen drohenden Ruf seines Herrn kroch er unter das Sofa, wo er leise nachknurrte. »Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Exzellenz,« sagte der Graf, indem er den erst halb eingeknöpften Uniformrock vollends schloß, »ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie so lange habe warten lassen, aber ich war auf Ihren Besuch durchaus nicht vorbereitet – –.« Seine Bewegungen waren hastig, unsicher und ließen Verlegenheit erkennen. »Vielmehr muß ich Sie, Herr Graf, um Verzeihung bitten, daß ich zu so wenig geeigneter Stunde bei Ihnen erschienen bin –.« »O, das hat gar nichts zu sagen«, unterbrach ihn der andere, während sich nun beide setzten. »Wir machen jetzt größere Übungen, die einigermaßen ermüdend sind – und da habe ich eine Stunde geschlafen –.« »Nun, es war immerhin eine Störung – aber ich habe Ihnen eine dringende Mitteilung zu machen.« »Eine dringende Mitteilung? Welcher Art, wenn ich fragen darf?« »Dürfte ich mir vielleicht erlauben, jenes Fenster zu schließen?« sagte der Freiherr nach einer kurzen Pause, indem er Miene machte, sich zu erheben. »O, sehr gern!« rief der Graf und sprang zuvorkommend auf. »Exzellenz fürchten wahrscheinlich die Zugluft?« »Nein. Ich fürchte nur, daß meine Mitteilung Erörterungen nach sich ziehen könnte, welche besser im Hofe nicht gehört werden.« Der Graf zuckte zusammen. Er konnte kaum mehr im Zweifel sein, um was es sich handeln würde; jetzt aber hatte er auch sofort die vollständigste Fassung gewonnen. »Exzellenz treffen sehr seltsame Vorkehrungen«, sagte er kurz. »Sie dürften vielleicht nötig sein. Ich möchte Sie sogar bitten, im Vorhause nachzusehen, ob nicht jemand –« Der Graf blitzte ihn mit seinen dunklen Augen zornig an. »Was soll das heißen? Ich bin von keinen Spionen umgeben und bitte Sie, zur Sache zu kommen.« »Wie es Ihnen beliebt. Ich für meine Person pflege niemals sehr laut zu sprechen – und eigentlich handelt es sich ja nur um eine Bitte, die ich Ihnen vortragen werde. Wenn Sie ihr Gewährung schenken, so entfällt jede weitere Verhandlung von selbst.« »Und was wäre das für eine Bitte?« fragte der Graf, der sich wieder gesetzt hatte und nun die Arme über der Brust verschränkte. »Daß Sie diese Behausung sobald, wie nur irgend möglich, verlassen möchten.« »Herr Baron!« »Bleiben Sie ruhig, Herr Graf«, sagte der Freiherr sanft. »Betrachten Sie es wirklich nur als Bitte.« Es klang in der Tat ein flehender Ton durch diese Worte. Der andere blickte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. »Und aus welcher Veranlassung richten Sie diese Bitte an mich?« »Aus Rücksicht für meine Frau.« Eine dunkle Röte schoß in das Antlitz des Grafen. »Sie hat Ihnen gesagt?« – fragte er halb verwundert, halb wegwerfend. »Ja, sie hat es mir gesagt.« »Nun also!« versetzte der Graf nach kurzem Schweigen, indem er hochmütig den Kopf zurückbog. »Wenn Sie nicht gekommen sind, Rechenschaft von mir zu fordern, dann ist auch alles weitere höchst gleichgültig. Denn Sie begreifen doch, daß Ihre Frau Gemahlin fortan vor mir sicher ist – ganz sicher!« Diese Worte trafen den Freiherrn wie Peitschenhiebe, aber er zuckte nicht einmal mit den Wimpern. »Das begreife ich sehr wohl«, sagte er ruhig. »So einfach jedoch liegen die Dinge nicht. Was da vorgefallen, hat meine Frau derart angegriffen, daß eine dauernde Seelenstörung zu befürchten ist.« »Die Baronin scheint sehr schwache Nerven zu haben!« rief der Graf höhnisch. »Ohne Zweifel. Und deshalb sehen Sie auch ein, daß ich unter keiner Bedingung von Ihnen Genugtuung fordern darf. Ich habe vielmehr, was meine Person anbetrifft, gar kein Gewicht auf die Sache zu legen und nur zu trachten, daß meine Frau sich beruhige. Sie muß vergessen lernen – und dazu ist vor allem notwendig, daß Sie nicht mehr hier sind.« »Eine höchst eigentümliche Auffassung!« »Gewiß, diese Auffassung ist keine alltägliche. Aber wie Sie auch darüber denken mögen, eines werden Sie nach reiflicher Erwägung klar erkennen: daß Ihnen unter allen Umständen die Pflicht erwächst, das Geschehene möglichst ungeschehen zu machen.« Der Graf war nachdenklich geworden. Die ruhig ernste, ergreifende Sprache des Freiherrn verfehlte offenbar nicht, Eindruck zu machen. Aber bald gewann seine Natur wieder die Oberhand. »Nein! Nein!« rief er, sich ungestüm vom Sessel erhebend. »Ich kann mich nicht so ohne weiteres fortweisen lassen!« »Sie werden nicht fortgewiesen. Es ist Ihr freier Entschluß, eine Änderung herbeizuführen.« »Aber wie soll ich es anstellen?« rief der Bedrängte ärgerlich mit dem Fuße stampfend. »Kann ich denn so Knall und Fall – –? Was würde man unten – im Kreise der Kameraden dazu sagen? Es würde Aufsehen erregen – ja man könnte sogar mutmaßen –« »Um Mutmaßungen kümmere ich mich nicht.« »Und jedenfalls würde man einen anderen Offizier heraufsenden. Sie kämen da vielleicht nur aus dem Regen in die Traufe!« Der Freiherr bewegte sich auf dem Sofa, aber er sagte mit eisiger Ruhe: »Das fürchte ich nicht. Wiederholungen ereignen sich nicht so rasch nacheinander.« Der Graf sah ihn halb erstaunt, halb verächtlich an und erwiderte nichts mehr. Denn plötzlich wurden schwere, wuchtige Tritte vernehmbar, die unter Sporengeklirr die Treppe heraufkamen. »Es ist jemand von meinen Leuten«, sagte er jetzt. Und da nun schon mit schüchterner Plumpheit an der Tür geklopft wurde: »Herein!« Ein stattlicher Unteroffizier trat ins Zimmer, den Helm auf dem Kopfe, die Diensttasche umgehängt. Er nahm Stellung und salutierte automatisch. Dann zog er ein großes versiegeltes Schreiben hervor und überreichte es seinem Vorgesetzten, der es erbrach. Während des Lesens nahmen die Züge des Grafen einen eigentümlichen Ausdruck an. »Es ist gut. Sagen Sie meinem Wachtmeister, daß er die Leute zum Befehl antreten lassen soll.« Als er mit dem Freiherrn wieder allein war, wandte er sich an diesen. »Der Zufall ist Ihnen günstig, Herr Baron. Wissen Sie, was dieses Blatt enthält? Den Marschbefehl. Wir müssen sofort zur ungarischen Armee stoßen. Morgen mit dem frühesten verlassen wir das Schloß.« Ohne ein Zeichen der Überraschung oder der Befriedigung erhob sich der Freiherr und sagte mit einer Verbeugung: »Dann ist unsere Unterredung zu Ende. Wäre das Blatt gestern eingetroffen, so wäre sie nicht notwendig geworden.« Kaum hatte er sich zum Abgehen gewendet, als auch schon der Hund unter dem Sofa hervorschoß und sich mit wütendem Gebell an seine Fersen heftete. Ein Fußtritt seines Herrn ließ ihn schmerzlich aufheulen. »Verdammte Bestie!« rief der Graf mit unterdrückter Stimme, während das Tier winselnd in einen Winkel flüchtete. Allein geblieben, schritt er mit sichtlich unangenehmen Gedanken und Empfindungen im Zimmer auf und nieder. »Ach was!« sagte er endlich, schnippte mit den Fingern und schnallte seinen Säbel um. * * * Währenddessen hatte Klothilde auf dem Ruhebett ihres durch geschlossene Jalousien verdüsterten Zimmers gelegen. »Ich muß dich nun für einige Zeit dir selbst überlassen«, hatte der Freiherr zu ihr gesagt, als er sich zu Tisch hinunter begab. »Vielleicht ist es dir erwünscht. Ängstige dich nicht, es wird alles gut werden.« Aber kaum allein, empfand sie sofort wieder aufs tiefste, daß es nie und nimmer gut werden könne. Einen Augenblick zwar hatte sie bei den milden, zärtlichen Tröstungen ihres Gatten aufgeatmet; einen Augenblick war das Leben, sonnenhell wie früher, aus der dunklen Nacht der Verzweiflung, die sie umgab, aufgetaucht – jetzt aber versank es wieder. Sie fühlte, daß etwas in ihr gebrochen und vernichtet war, das nicht wieder hergestellt werden konnte. Ja, die klare Ruhe, der heitere Frieden ihrer Seele war verloren – verloren für immer. Was frommte es, daß ihr Gatte entschuldigte und verzieh, was sie sich selbst niemals würde verzeihen können? Der heutige Tag ließ sich in ihrem Gedächtnisse nicht auslöschen. Seit jeher hatte sie nur in ganz reiner Lebensluft zu atmen vermocht; die leiseste Trübung drohte sie zu ersticken. Schon von klein auf war sie so gewesen. Ein geringes Versehen, das sie sich zu schulden kommen ließ, ein noch so sanfter Tadel ihres Vaters – die Mutter hatte sie schon sehr früh durch den Tod verloren – oder von seiten ihrer Lehrer erfüllte sie mit solchen Gewissensbissen und Selbstvorwürfen, daß sie oft wochenlang aus kindlichem Gram und Kummer nicht herauskam. Mit welch ängstlicher Scheu war sie als Mädchen und später als Frau allem aus dem Wege gegangen, was sie in Gefahr und Versuchung hätte bringen können; eine innere Stimme sagte ihr, daß ihr die Kraft des Widerstandes fehle. Daher galt sie auch in der Gesellschaft für geistig beschränkt, und trotz ihrer Schönheit trat niemand näher an sie heran; denn ihre hilflose Zurückhaltung flößte weit eher Mitleid als Interesse ein. Darum liebte sie so die Stille und Zurückgezogenheit; da konnte sie ihr Wesen frei und furchtlos entfalten, da konnte sie gedeihen; – Verwickelungen und Konflikten, das fühlte sie, war sie nicht gewachsen – sie brachten ihr den Tod .... Sie schauerte. Wie kalt war es im Zimmer trotz des heißen Sommertages! Sie breitete eine leichte Decke über sich und schloß die Augen. Und wie sie jetzt so dalag, überkam sie ein eigentümlicher Zustand. Es wurde ihr so weh zumute – und doch wieder so wohl. Gerade wie beim Beginn einer schweren Krankheit, wo die Welt in vagen Umrissen zu verdämmern beginnt – wo alles Nahe in immer weitere Ferne gerückt wird. Nur manchmal durchzuckte ein namenloser Schmerz ihre Brust. Denn da dachte sie ihres edlen Gatten, der glücklichen Jahre, die sie mit ihm verlebt hatte – dachte an den schönen stillen Park, an das Tirolerhaus – an ihre Landschaft – ihre geliebten Bücher ..... Sie zog die Decke höher hinauf. Ein seltsamer, dumpfer Druck, den sie schon in den letzten Tagen hin und wieder empfunden hatte, lastete jetzt schwer auf ihrer Stirn, und indem sie die Augen schloß, versank sie in einen lähmenden Halbschlaf, der sie mit verworrenen Traumgesichten umgaukelte. Es war nichts Ungeheuerliches, nichts eigentlich Beängstigendes. Die verschiedenartigsten Gestalten tauchten auf und verschwanden wieder oder gingen eine in die andere über. Sie sah ihren Vater, sah ihre Mutter, von der sie sich sonst kein recht deutliches Bild mehr machen konnte; sie sah sich selbst als ganz kleines Mädchen mit einem Geburtstagsstrauß in der Hand; ihren Gatten als ganz jungen Mann in einem grünen Frack mit gelben Knöpfen, wie er auf einer von Daffinger gemalten Miniatur dargestellt war; sah den Grafen auf einem Feuer sprühenden Pferde, ihr Kammermädchen mit dem Aussehen einer alten Magd in ihrem elterlichen Hause – einen langen Zug von Reitern auf schwarzen, seltsam beflorten Rossen ... Jetzt schrak sie auf. Ihr Gatte, der über sie gebeugt stand, hatte sie sanft auf die Stirn geküßt. »Du hast geschlummert?« fragte er leise. »Ja – es scheint«, erwiderte sie, während ihr neuerdings die ganze Wucht ihres Elends fühlbar wurde. Und nun teilte er ihr mit, was sich zugetragen. Er hatte gehofft, sie würde dabei immer leichter, immer freier aufatmen. Aber sie hauchte nur tonlos: »Mein Gott! Mein Gott! Dieser eine Tag!« »Ja,« sagte er erschüttert und zugleich beruhigend, »es ist traurig, daß alles menschliche Glück und Unglück zuletzt meistens nur von solchen Schickungen abhängt. Doch tröste dich: es ist jetzt alles vorbei.« Sie ergriff die Hand, die er ihr reichte; aber das Herz lag ihr wie Eis in der Brust. 8. VIII. Am folgenden Nachmittag saß der Freiherr am Schreibtisch und richtete folgenden Brief an Frau Charlotte Nespern in Wien: »Ich schreibe Ihnen in größter Beängstigung, liebe Tante Lotti! Meine teure Klothilde, die sich schon gestern unwohl gefühlt, ist heute in den frühen Morgenstunden von einem Schüttelfroste befallen worden, in welchem ich sofort den Vorboten einer ernstlichen Erkrankung vermutete. Dennoch unterließ ich es, auf ihre Einsprache hin, nach einem Arzt zu schicken, denn der Anfall ging vorüber, und nur eine gewisse Abspannung war zurückgeblieben, die Klothilde bewog, im Bette zu bleiben, wo sie auch späterhin in einen, wie es schien, ruhigen und erquickenden Schlaf verfiel. Aber gegen Mittag erwachte sie unter erneuten Fiebererscheinungen – und nun zögerte ich keinen Augenblick, nach dem Doktor zu senden, der aber, wie das schon zu gehen pflegt, nicht anzutreffen war, da er sich zu einem Kranken außerhalb der Ortschaft begeben hatte. Es konnte nur der Auftrag hinterlassen werden, daß er nach seiner Rückkunft sogleich im Schlosse erscheine. Bis jetzt (vier Uhr) ist er noch nicht da – und ich fange bereits an, die Minuten zu zählen; denn das Fieber ist im Zunehmen begriffen, und die geliebte Kranke, obgleich sie nicht darüber klagt, scheint an den quälendsten Kopfschmerzen zu leiden. In dieser verzweifelten Gemütslage schließe ich meinen Brief mit der innigen Bitte, wenn es Ihnen die Umstände nicht ganz und gar unmöglich machen, so eilen Sie hierher und stehen in voraussichtlich schwerer Zeit bei Ihrer Sie zärtlich liebenden Nichte und Ihrem treu ergebenen Günthersheim.« Der Freiherr hatte das Schreiben hastig fertiggestellt und dann durch einen Diener eilends zur Post bringen lassen. Es gab damals noch keine Telegraphenverbindungen, auch keine Eisenbahnen, die von den Hauptlinien abzweigten, und so mußten wenigstens vier Tage verstreichen, eh' die sehnlich Herbeigewünschte eintreffen konnte. Der besorgte Gatte begann den Zustand der völligen Verlassenheit, in welchem er sich jetzt mit der Kranken befand, aufs tiefste zu empfinden. Nunmehr aber wurde das Erscheinen des Arztes gemeldet. Der Freiherr ging ihm rasch entgegen und führte ihn in das Zimmer, wo Klothilde lag, das Antlitz erhitzt, die Stirn mit einem kühlenden Umschlag bedeckt. Der Doktor, ein hoher Fünfziger mit stark gerötetem pockennarbigen Gesicht, trat auf seinen Stock gestützt – denn er hatte ein lahmes Bein – mit einer plumpen Verbeugung an das Bett und betrachtete sie aufmerksam. Dann entfernte er den kalten Bausch und befühlte die Stirn. »Diese Umschläge nützen nichts – Eis! Eis!« Er setzte sich auf einen Stuhl und prüfte den Puls der Kranken, an die er einige kurze Fragen richtete. »Hm« – machte er nach einer Pause. »Ich werde eine Kleinigkeit verschreiben.« Damit erhob er sich und hinkte schwerfällig aus dem Zimmer. Der Freiherr war ihm gefolgt und fragte jetzt ängstlich: »Nun, lieber Doktor – nun?« »Cerebrales Fieber«, erwiderte dieser trocken, indem er sich nach Schreibzeug umsah. »Ich bringe Ihnen sogleich das Nötige. – Aber sagen Sie: halten Sie den Zustand für sehr gefährlich?« »Es kann eine Gehirnentzündung werden. Hat die Frau Baronin in letzter Zeit eine Aufregung durchgemacht?« Trotz seiner Selbstbeherrschung und obgleich er auf die Frage vorbereitet gewesen, fühlte der Freiherr, wie er errötete. »Sie hat sich allerdings einen Vorfall sehr zu Herzen genommen aber –« »Hm, ja. Kinderlose Frauen in solchem Alter und –« er warf einen eigentümlichen Blick auf den Freiherrn. »Übrigens wer weiß, wie die Dinge zusammenhängen. Exzellenz haben ja hier oben auch Einquartierung gehabt? Nicht wahr?« Der Freiherr konnte eine Gebärde der Betroffenheit nicht unterdrücken. »Ja, gewiß –« »Nun also. Ich kann Ihnen nur sagen, daß seit einigen Tagen im Orte Typhusfälle vorkommen. Vielleicht haben die Dragoner etwas eingeschleppt und nun als Andenken zurückgelassen.« Um seine Erregung zu verbergen, trat der Freiherr ins Nebenzimmer und brachte ein kleines zierliches Tintenfaß samt Feder und Papier herein. »So,« sagte der Doktor, nachdem er rasch ein Rezept geschrieben, »das ist alles, was ich tun kann. Im übrigen: fortgesetzte Eisumschläge, kühlende Getränke. Unter allen Umständen aber möchte ich Ihnen raten, noch einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ich übernehme in solchen Fällen nicht gern allein die Verantwortung. Denn ich gelte, obgleich ich mein Diplom in der Tasche habe« – er schlug dabei an die Hüfte – »in den Augen vieler Leute doch nur als Landbader. Eine Kapazität aus Prag – oder gar aus Wien hierher zu bescheiden, ist es freilich zu spät.« »Zu spät!« rief der Freiherr angstvoll. »Ja; denn die Krisis pflegt oft sehr rasch einzutreten.« »Aber eine günstige Wendung ist doch möglich?« »Möglich, ja. Schicken Sie daher gleich einen Wagen nach Trautenau – zu Doktor Lederer. Ein Schüler Oppolzers. Er ist zwar ein sonderbarer Heiliger und wird sich spreizen – schließlich, aber kommen. Allerdings kann er vor zwölf Stunden kaum da sein«, fügte der Doktor nachdenklich hinzu. »Sie beängstigen mich aufs äußerste!« »Na! Na! Verlieren Exzellenz den Kopf nicht. Eines muß ich Ihnen noch sagen, damit Sie nicht etwa allzu sehr erschrecken: es werden voraussichtlich schon heute Delirien eintreten. Jedenfalls komme ich abends wieder. Guten Tag!« Mit dieser gedankenlos gesprochenen Grußformel, die ihm bei jedesmaligem Kommen und Gehen zur Gewohnheit geworden, entfernte er sich und überließ den Freiherrn einer stummen Verzweiflung. »Mein Gott! Mein Gott! Sollte es schon soweit – und keine Rettung mehr sein?« flüsterte endlich der qualvoll Bedrückte und begab sich mit leisen Schritten in das Krankenzimmer zurück. Er beugte sich über Klothilde, die in unruhigem Schlummer zu liegen schien, und faßte leicht ihre Hand. Bei dieser Berührung schlug sie die Augen auf und sah ihn wie fremd an. Dann aber lächelte sie, und er fühlte, wie sich ihre Finger zu sanftem Drucke schlossen. »Wie fühlst du dich?« fragte er. »O, nicht schlechter«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Nur müde, sehr müde – ich möchte in einemfort schlafen.« »Nun, schlafe, mein Kind, schlafe«, sagte der Freiherr zärtlich. »Aber wir werden Eisumschläge machen müssen.« »Das wird mir wohl tun«, hauchte Klothilde, während sie schon die Lider geschlossen hatte. Inzwischen war Eis gebracht worden und der Freiherr traf selbst die ersten Anstalten. Dann überließ er dem Kammermädchen die weitere Sorge, um jetzt die Absendung des Wagens nach Trautenau veranlassen zu können. Er tat es, wie er sich selbst eingestand, ohne tröstliche Erwartung. Denn mit jener ahnungsvoll düsteren Voraussicht, welche reifen und vielgeprüften Menschen eigen ist, zweifelte er bereits an einem glücklichen Ausgange. »Ich baue auf Ihre Umsicht,« sprach er zu dem Kammerdiener, den er mit der Botschaft an den Arzt betraute, »und weiß, daß Sie nichts verabsäumen werden.« Dann kehrte er zu der Kranken zurück, hieß das Mädchen einstweilen sich entfernen und nahm dicht an dem Bette Platz. Klothilde schlummerte. Aber sie bewegte Kopf und Arme hin und her; ihre weißen Finger schienen von dem blauen Atlas der Bettdecke Flocken auflesen zu wollen. Langsam, bleischwer zogen die Stunden vorüber, während draußen die Sonne tiefer und tiefer sank und ihr letztes rötliches Gold durch die Spalten der Jalousien schimmern ließ. Was war das plötzlich? Klothilde hatte die Lippen bewegt und unverständliche Worte gemurmelt. Er glaubte, sie gälten ihm, und neigte sein Haupt tief zu dem ihren hinab. Aber sie bemerkte es offenbar nicht. »Willst du etwas, Klothilde?« fragte er leise. Keine Antwort; nur erneutes, stärkeres Gemurmel – unverständliche Worte. Sein Herz erstarrte. Die beginnenden Delirien! sprach es in ihm. Immer unruhiger wurde die Kranke; sie warf ächzend und stöhnend den Kopf hin und her, und schien dabei mit unsichtbaren Personen zu sprechen. Wenn er nur verstehen könnte! Und jetzt waren ihm auch einige Worte deutlich ins Ohr gedrungen. Es waren französische Worte! Sie hatten sich beide im gegenseitigen Verkehr dieser Sprache nur selten bedient; ja Klothilde hegte eine Art Abneigung dagegen, denn sie hatte sie in ihrer Jugend äußerst schwer und mühsam erlernt und später nur sehr unvollkommen beherrscht. Und jetzt – in ihrer Krankheit – in der Bewußtlosigkeit ihres Geistes griff sie danach! »Le cheval! Le cheval!« stieß sie jetzt, furchtbar aufschreiend, hervor und richtete sich mit halbem Leibe auf. Plötzlich aber sank sie wieder zurück, streckte sich lang aus und verblieb regungslos. Der Freiherr nahm dies alles wahr im ungewissen Dunkel des Gemaches. »Klothilde!« rief er entsetzt. »Klothilde!« Sie blieb stumm. »Mein Gott!« ächzte der Freiherr. »Wenn nur Doktor –« Aber der trat auch eben jetzt, so leise wie es ihm möglich war, durch die Tür, von dem ängstlich blickenden Mädchen gefolgt, welches das Licht einer Kerze mit vorgehaltener Hand dämpfte. »O, Doktor, sehen Sie nur ....« Dieser nahm dem Mädchen das Licht ab und ließ den vollen Schein auf Klothilde fallen. Sie lag noch immer ganz starr; ihr schönes Antlitz war verzerrt, die Mundwinkel herabgezogen. »Mein Gott, Doktor, was ist das?« Dieser schien selbst erschrocken; er hatte diesen Anblick offenbar nicht erwartet. »Trismus – Trismus«, sagte er endlich. »Ist Senfmehl im Hause? Rasch!« Das Mädchen eilte fort. Aber schon trat etwas ein, das den Freiherrn erschaudern machte. Ein plötzliches Schüttern ging durch den Körper seiner Frau; die Augen öffneten sich weit, die Finger krampften sich zusammen und mit zischenden Atemstößen schnellte die Kranke wiederholt im Bette empor. »Konvulsivischer Anfall!« rief der Doktor. »Ein so akuter Verlauf ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen. Sobald einige Beruhigung eintritt, werde ich sofort einen Veneneinschnitt applizieren. – Aber jetzt, Exzellenz, ist es Zeit, daß Sie nach dem Geistlichen schicken.« Der Freiherr zuckte zusammen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Dem Geiste seiner Zeit gemäß war er kein Ungläubiger; auf religiöse Gebräuche und Feierlichkeiten jedoch hatte er, sowie seine Gemahlin, die ihre stille Andacht am liebsten in der kleinen, im Erdgeschoß gelegenen Schloßkapelle verrichtete, seit jeher nur wenig Gewicht gelegt. Jetzt aber sollte Klothilde mit den Sterbesakramenten versehen werden, und die tiefernste Bedeutung des Augenblickes fiel ihm erschütternd auf die Seele. Es traf sich, daß der Ortspfarrer, der durch einen Diener in Kenntnis gesetzt wurde, seit einigen Tagen selbst unwohl war und daher seinen Kooperator entsenden mußte; dieser erschien auch in kurzer Zeit. Der Freiherr war ihm die Treppe hinunter entgegengegangen und befand sich einem ganz jungen Geistlichen gegenüber, der erst vor kurzem aus dem Alumnat getreten sein konnte. Eine schmächtige, hoch aufgeschossene Gestalt mit blonden Haaren und einem zarten, fast mädchenhaften Gesicht, das Befangenheit und Verlegenheit ausdrückte. Als ihm jetzt der Freiherr mit zitternder Stimme auseinandersetzte, wie so ganz unvorhergesehen und rasch der traurige Fall eingetreten – und daß die Kranke bewußtlos sei, erwiderte er, hoch errötend: »O, ich verstehe – ich verstehe – ich werde die heilige Handlung so rasch wie möglich vornehmen.« Die Augen zu Boden gesenkt, betrat er das matt erhellte Zimmer und erhob den Blick erst, als er dicht vor der Kranken stand, bei welcher der Doktor inzwischen eine leichte Blutentziehung angewendet hatte. Mit bebender Stimme und bebender Hand nahm er, während die anderen in dem Hintergrunde des Zimmers knieten, die Zeremonie der letzten Ölung vor; er wagte dabei kaum das regungslose, bleiche junge Weib anzusehen, und es glich einer Flucht, als er nach einem kurzen Gebet das Zimmer verließ. Der Freiherr war ihm nachgeeilt und ergriff draußen dankend seine Hand: »Gott schütze Sie!« murmelte der Priester, hastig abwehrend, und entfernte sich mit dem Meßner, der jetzt im Hofe sein Glöckchen erklingen ließ. Als der Freiherr zurückkehrte, fand er den Doktor am Bett, trübselig das Haupt gesenkt. Beide blickten nun schweigend auf Klothilde, aus deren schönem Antlitz die Verzerrung verschwunden war. Aber sie hatte die Augen geschlossen und atmete hastig und stoßweise. »Doktor!?« flehte leise der Freiherr. Der andere schüttelte mutlos den Kopf. »Collapsus!« sagte er leise. »So muß ich mich auf das äußerste gefaßt machen?« »Ich glaube. Was geschehen konnte, ist geschehen. Es wäre jetzt an der Natur, sich selbst zu helfen. Jedenfalls bleibe ich hier. Ich darf mich wohl ein wenig da drinnen auf das Sofa hinstrecken?« Mit diesen Worten zog er sich in das anstoßende Zimmer zurück. Der Freiherr jedoch kniete am Bett nieder. Bis zu dieser Minute war sein Auge trocken geblieben. Der furchtbare Krampf seines Innern hatte keine Lösung finden können. Jetzt aber machte er sich in Tränen Luft. Zuerst drängten sie sich einzeln, tropfenweise, zwischen den Wimpern hervor, aber immer strömender, immer heißer weinte sie der gebrochene Mann auf die geliebte Hand nieder, die er umfaßt hielt ..... »Doktor! Doktor!« Dieser fuhr, aus dem kurzen Schlafe, in den er verfallen war, von dem Freiherrn wachgerüttelt, empor. »Ein neuer Anfall! Ein neuer Anfall!« »So, so,« sagte der Doktor, sich etwas mühsam zurechtfindend, und folgte in das Krankenzimmer. Der Anfall war heftig, aber kurz. Klothilde lag wieder ruhig da; sie schien jedoch kaum mehr zu atmen. Und nun geschah etwas, das nur diejenigen kennen, welche an Sterbebetten gestanden haben. Klothilde öffnete mit einemmal die Augen und richtete sich mit halbem Leibe empor. Ausdruckslos blickte sie um sich; dann kehrte sie ihr Antlitz langsam dem Gatten zu. Sah sie ihn? Sah sie ihn nicht? Wer konnte es sagen? Unverwandt, aber verglast blieben ihre Augen auf ihn gerichtet. Plötzlich lächelte sie; dann fiel sie in die Kissen zurück, seufzte tief auf – und ihr Kinn sank zur Brust hinab. Der Freiherr von Günthersheim beugte sich über die Leiche. 9. IX. Wie er den Rest der Nacht und den Morgen durchlebt, wie er den eingetroffenen zweiten Arzt empfangen, darüber konnte er später sich selbst keine Rechenschaft ablegen. Mit jener an Gedankenlosigkeit grenzenden Apathie des Schmerzes traf er und hieß er die Anstalten treffen, welche nunmehr zum Begräbnis notwendig erschienen. Er wurde dabei von dem wackeren Doktor unterstützt, der offfenbar Mitleid mit dem vereinsamten Manne hatte; auch der Ortsvorsteher fand sich ein, um das Beileid der Gemeinde auszusprechen und sich dem Freiherrn zur Verfügung zu stellen. Und wie denn die Frauen bei ähnlichen Anlässen stets bemüht sind, eine warme und werktätige Teilnahme zu bezeigen, so hatten einige angesehene Einwohnerinnen nicht ermangelt, der weiblichen Dienerschaft, welche sichtlich den Kopf verloren hatte, bei den letzten Diensten, die der toten Herrin zu erweisen waren, an die Hand zu gehen. Und so war auch die Stunde gekommen, wo Klothilde im Salon aufgebahrt lag, von hochragenden Wachslichtern umflackert. Man hatte sie in schwarze Seide gekleidet, ihr einen Kranz aus weißen Rosen um die Stirn und ein kleines goldenes Kruzifix in die gefalteten Hände gelegt. Der Freiherr war im Innersten gegen solche Zurschaustellung gewesen, aber er konnte und durfte sie den Menschen nicht entziehen, die jetzt voll scheuer Neugierde in Scharen heraufkamen, die schöne tote Schloßfrau zu bewundern und zu betrauern. Und währenddessen saß er im anstoßenden Gemach allein, ganz allein. Er hörte die vorsichtig gedämpften Schritte der Ab- und Zugehenden, hörte stilles Geflüster und unterdrücktes Weinen. Er aber konnte nicht weinen; wäre Tante Lotti hier gewesen, so wären mit ihren auch seine Tränen geflossen. Sie allein war es, die er entbehrte – aber sie konnte ja im besten Falle erst übermorgen eintreffen. Und so blieb sein heißes Auge trocken, blieb es die endlos lange Nacht hindurch, während welcher zwei arme Frauen an der Leiche beteten, blieb es, als er den letzten Kuß auf die Stirn seines Weibes drückte. Nur wie im Traum nahm er wahr, daß man jetzt den Sargdeckel über ihr schloß; wie im Traum sah er den Pfarrer mit zwei Kaplänen in weißen Chorhemden und goldgestickten Stolen eintreten, hörte die monotonen Gebete, die halb gesungenen, halb gesprochenen Responsorien, atmete den betäubenden Duft, der qualmend aus dem geschwungenen Weihrauchfasse drang. Und jetzt wurde der Sarg gehoben und fortgetragen. Hinter ihm folgten die Priester, hinter den Priestern er selbst. Dann die schwarzgekleidete Dienerschaft und endlich die Honoratioren des Ortes, die mit ihren Frauen dicht gedrängt den Sarg umstanden hatten. Und so ging es in langsamem Zuge die Avenue hinunter, hinunter durch den heißen, leuchtenden Sommertag, hinunter zur Ortskirche, wo die Tote bis auf weiteres in einem zum Schloßbesitz gehörenden Gruftgewölbe beigesetzt wurde. Erst als er sich wieder – ein Wagen, der nachgefahren war, hatte ihn zurückgebracht – allein im Schlosse befand, erwachte er. Und da brach auch sein Jammer hervor und erfüllte die einsamen Gemächer mit stöhnender Wehklage. * * * Tante Lotti war gekommen. Er hatte sie stumm in seine Arme geschlossen und dann ein leise abwehrendes Zeichen mit der Hand gemacht. Daraus hatte sie entnommen, daß er nicht gefragt sein wollte – und sie fragte nicht. Wozu auch? Daß Klothilde gestorben war, das wußte sie, und sie fand sich in diese Tatsache, wie sich starke und vielgeprüfte Naturen in das Unabänderliche zu finden wissen. War sie doch nicht außer sich geraten, als man ihr den Sohn sterbend ins Haus gebracht. Sie hatte nicht, wie andere Mütter an ihrer Stelle getan haben würden, mit Gott und der Weltordnung gehadert, nicht die teuflische »Kamarilla« und die entmenschte »Soldateska« verflucht: nein, der Jüngling hatte sich im blauen Legionärrock, die Flinte auf der Schulter, zu voraussichtlichem Kampfe aufgemacht – konnte sie es wundernehmen, daß er mit durchschossener Brust vor ihr lag? Freilich, daß ihre Nichte in der vollsten Blüte des Lebens so plötzlich dahingerafft worden war, entzog sich jeder Voraussetzung. Aber wie viele Menschen erkranken und sterben nicht auf der weiten Erde? Auch die junge Frau hatte dieses Los getroffen. Tief schmerzlich für den armen Gatten; schmerzlich auch für sie , die auf das Kind des Bruders all die segnende Liebe übertragen wollte, welche sie dem eigenen nicht mehr weihen konnte. Als kluge und erfahrene Frau hatte sie gefühlt, wie notwendig gerade Klothilden, deren Ehe kinderlos geblieben, eine mütterliche Freundin sein mußte – um so notwendiger, je mehr ihr Gatte in den Jahren vorschritt. Aber sie hatte auch sofort das Bewußtsein, nunmehr für diesen leben und sorgen zu müssen. Sie war auf seinen Brief über Hals und Kopf von Wien abgereist und hatte dort manches höchst Wichtige unerledigt zurückgelassen. Dennoch wollte sie jetzt fürs erste hierbleiben und abwarten, bis sich der Trostlose einigermaßen gefaßt haben würde. Und der Freiherr faßte sich auch allmählich. Das heißt, es wurde ihm nach und nach vollkommen klar und deutlich, was sich eigentlich zugetragen hatte. Sein geliebtes Weib war ihm weggestorben, einer Gehirnentzündung erlegen. Also einer Krankheit. Was aber hatte die Krankheit hervorgerufen? Aller Wahrscheinlichkeit nach jene Begegnung im Parke mit dem Grafen Poiga. Der also war ihr Mörder! Doch nein! Was hatte er denn getan? Nicht mehr und nicht weniger, als was jeder andere an seiner Stelle – was vielleicht der Freiherr selbst in seinen jüngeren Jahren – einer schönen Frau mit einem alternden Gatten gegenüber getan haben würde. Konnte der Graf die Folgen voraussehen – ja auch nur ahnen? Nein. Denn keine andere Frau hätte sich dieses Abenteuer so zu Herzen genommen. Er jedoch, ihr Gatte, hätte sie kennen und es wissen sollen. Und so war es auch seine Pflicht gewesen, sie vor solchen Fährlichkeiten zu bewahren, zu schützen. Aber die Schuld lag noch viel tiefer. Er hatte als Fünfzigjähriger ein junges Mädchen geheiratet, hatte ein aufblühendes Leben an sein verwelkendes gefesselt. Und doch – das Mädchen hatte ihn geliebt! Es hatte als Weib zehn Jahre lang mit inniger Neigung an ihm gehangen! Dennoch durfte er damals nicht um sie werben. Denn als reifer, überlegter Mann mußte er voraussehen, daß die Natur im Laufe der Zeit gegen diesen Bund Protest einlegen würde. Und er gestand sich jetzt, daß ihn solche Bedenken auch wirklich stark beunruhigt hatten, aber von seiner Selbstsucht, von seinem Verlangen nach dem köstlichen Besitz waren sie zum Schweigen gebracht worden. Ja, es war ein Verbrechen, daß er um sie geworben! Was aber wäre geschehen, wenn er es nicht getan? Sie würde einen anderen geheiratet haben. Sie wäre jetzt noch eine glückliche Gattin – vielleicht eine glückliche Mutter. Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Herz zusammen. Worin jedoch lag die Bürgschaft, daß es sich, bei all den Zufälligkeiten, die das menschliche Wohl bedingen, bei all den Gefahren, die es bedrohen, wirklich so verhalten würde? Wer konnte behaupten, daß Klothilde unter anderen Verhältnissen glücklicher – ja auch nur so lange glücklich gewesen wäre, wie sie es mit ihm war. Hätte sie nicht schon in ihrem ersten Wochenbett sterben können? Er atmete freier auf. Ja, ein Menschenschicksal läßt sich in all seinen Möglichkeiten nicht berechnen, und wenn er an dem seines geliebten Weibes Schuld trug, so büßte er es jetzt durch ein vereinsamtes, qualvolles Dasein, dem der erlösende Tod – er fühlte es im Tiefsten seiner Seele – nicht so bald nahen würde ....... Dennoch ging er jetzt daran, alle notwendigen letztwilligen Anordnungen so rasch zu treffen, als sollte er morgen sterben. Fürs erste hinsichtlich seines Vermögens. Er war kein reicher Mann; ja ohne den bedeutenden Ruhegehalt, den er vom Staate bezog, hätte er sich sehr einschränken müssen. Die Ersparnisse welche die Günthersheim vor ihm zurückgelegt, waren von seinem Vater zum Ankauf des Gutes verwendet worden, das, weil man es nicht in eigener Verwaltung haben konnte oder mochte, nur geringe Erträgnisse abwarf. Er selbst hatte es bloß als Sommeraufenthalt geschätzt – und das Schloß sollte einst der Witwensitz seiner teuren Klothilde werden; denn daß er vor ihr zu Grabe gehen würde, unterlag keinem Zweifel. Nun war es freilich anders gekommen. Aber was sollte jetzt mit dem Gute geschehen? Es lebten zwar noch Anverwandte des Freiherrn, aber keiner, den er für würdig erachtete, daß er ihm den Besitz vererbe. Sie sollten alle, je nach ihren persönlichen Verhältnissen, durch Legate oder Jahresrenten befriedigt und versorgt werden – auch jene, die es nicht um ihn verdient hatten. Das Gut selbst aber, samt allen darauf haftenden Lasten und mit dem ausdrücklichen, in schmerzlicher Pietät für die Verblichene wurzelnden Vorbehalt: daß das Schloß auf die Dauer von fünfundzwanzig Jahren nicht als Wohnsitz benützt werden dürfe, sollte nach seinem Tode der Ortsgemeinde zufallen. Damit waren dieser die Mittel an die Hand gegeben, durch größere industrielle Unternehmungen und Errichtung gedeihlicher öffentlicher Anstalten den Marktflecken – wie es das ehrgeizige Streben der Einwohnerschaft war – im Laufe der Zeit zum Range einer Stadt zu erheben. Nachdem der Freiherr diese Schenkung urkundlich besiegelt hatte, zog er die letzte Ruhestätte der Verewigten in Erwägung. Für jetzt war sie, wie es die Umstände erheischten, in die entlegene Gruft gebracht worden. Dort aber, bei den fremden Toten, durfte sie nicht bleiben. Ganz in seiner Nähe sollte sie ruhen, an dem Orte, den sie im Leben so sehr geliebt. Der Gedanke, ihr an der Stelle des Tirolerhauses ein kleines Mausoleum zu errichten, beschäftigte ihn. Aber ein solches Grabmal erschien ihm doch zu gesucht, zu aufdringlich – und so wendete er sich an das Landeskonsistorium mit dem Ersuchen, die Leiche seiner Gemahlin in der Schloßkapelle beisetzen zu dürfen, woselbst sie bis zu seinem eigenen Ableben zu verbleiben hätte. Dann aber sollten beide Leichen nach Wien überführt und dort auf dem Sankt Marxer Friedhofe in der Grabstätte seiner Eltern und Großeltern zur ewigen Ruhe bestattet werden. Über diesen Entschlüssen und Anordnungen war allmählich der Herbst ins Land gezogen. Die Tage wurden kürzer und kürzer; Schwärme von Nebelkrähen hockten in den Wipfeln des Parkes, dessen Pfade sich mit abfallendem Laube bedeckten. Und die Novemberstürme fingen an, um das Schloß zu brausen, wo der Freiherr einsam hauste. Und doch nicht ganz einsam. Tante Lotti hatte inzwischen ihre Angelegenheiten in Wien geordnet und war zu ihm zurückgekehrt. Der harrenden Teilnahme dieser Vielgeprüften erschloß er endlich den ganzen Umfang, die ganze Bedeutung seines Schmerzes. Sie begriff – und verstand zu trösten. An ihrer Seite betrat er zum ersten Male wieder Klothildens Gemächer, die er bis jetzt, den überwältigenden Eindruck fürchtend, gemieden hatte. Und nun wurden ihm auch die verlassenen Räume mit all den Reliquien eines für immer dahingegangenen Daseins zu einem teuren Besitze, bei dem er jetzt öfter und öfter verweilte, in Erinnerung versunken und von sanfter Wehmut durchschauert. Und als es nun wieder allmählich Frühling wurde, die weiße Schneedecke, die sich ringsum ausgebreitet hatte, wegschmolz – und in dem ergrünenden Rasen des Parkes Veilchen und Primeln zum Vorscheine kamen, da schlug der Freiherr eines Tages den Weg nach dem Tirolerhause ein. Mit zitternder Hand öffnete er Türen und Fenster und ließ die warme, sonnige Luft in die stillen, leicht nach Moder duftenden Räume dringen. Da befand sich alles noch an derselben Stelle, wie damals! Die Landschaft an der Staffelei – die Bücher, eines davon aufgeschlagen. Und dort stand auch das Glas, in welches Klothilde den Zipfel ihres Tuches getaucht hatte, um die Tränenspuren im Antlitz zu verwischen! Er verhüllte das seine mit den Händen. »Mein Gott! Mein Gott!« Die Erinnerung an jene entsetzliche Stunde überfiel ihn mit ganzer Macht ... Er wankte die Stufen hinab und ließ sich auf die Bank nieder, wo sie so gerne gesessen hatte. Vor ihm lag die Wiese in neuer Triebkraft; über ihm, in den schlanken Birkenzweigen, wiegte sich mit zartem Gezwitscher eine Meise; ein erster hellgelber Falter flatterte dicht an ihm vorüber. Befreiende Wehmut überkam ihn nach und nach; es war ihm, als säße Klothilde mit ihrem breitrandigen Strohhute an seiner Seite – und legte, wie sie es gewohnt war, ihre Hand in die seine ....... Und nun weilte er fast täglich dort. Schon blühte in sanften Farben der Akelei, den man auf Wunsch der Schloßfrau, die ihn so sehr liebte, gepflanzt hatte, und der so reich und üppig gedieh, daß im Mai alle Rasenhänge davon überdeckt waren. Und dann kam die Zeit der Rosen, die Zeit der Nelken – und endlich die der Georginen und Astern .... So zog Jahr um Jahr dahin, und der Freiherr selbst begann ein Pflanzenleben zu führen – das stille Pflanzenleben des Alters. Seine Denkwürdigkeiten, die er begonnen hatte, waren fürs erste liegen geblieben. Als er sie später wieder aufnehmen wollte, erschienen ihm diese Aufzeichnungen nicht mehr wichtig genug, da sich inzwischen im Staate eine Neugestaltung der Dinge anzubahnen schien, wie sie einst seinem Geiste vorgeschwebt hatte. So ließ er denn die Papiere ruhen und begnügte sich mit dem Bewußtsein seines früheren Wollens. – Als seit dem Tode Klothildens fast ein Dezennium verstrichen war, fühlte sich der Freiherr eines Abends unwohl. Es war in der ersten Frühlingszeit, die ihn wieder in den Park zu dem Tirolerhause geführt hatte. Er mochte sich während der Stunden, die er dort zubrachte, erkältet haben, der herbeigerufene Arzt stellte eine Lungenentzündung fest. Die Krankheit ging jedoch in normalem Verlaufe vorüber, und im Mai konnte sich Günthersheim, wenngleich noch sehr geschwächt, doch als genesen betrachten. Mittlerweile hatte sich gegen das mit Frankreich verbündete Italien der Krieg vorbereitet, dessen rasche und folgenschwere Ereignisse der Freiherr, wie so viele Einsichtige, mit ahnungsvollen Befürchtungen verfolgte. Als er eines Vormittags in seinem Zimmer die Zeitungsberichte über die Schlacht bei Magenta las, fand er unter den gefallenen Offizieren einen Oberst Graf Poiga-Reuhoff verzeichnet. In diesem Augenblick entsank das Blatt seiner Hand. Als nach einiger Zeit der Kammerdiener eintrat, sah er seinen Herrn mit gesenktem Haupte auf dem Sofa sitzen und glaubte, er schlafe. Sich leise nähernd, erkannte er, daß er tot war. Eine Lungenlähmung war plötzlich eingetreten. 10. X. Die beiden Särge waren nach Wien gebracht worden. Auch Tante Lotti hatte sich dorthin begeben und laut testamentarischer Vollmacht mit sich genommen, was von intimerem Werte war; alles übrige wurde an Arme und Bedürftige verteilt, so daß nur, was gewissermaßen niet- und nagelfest war, im Schlosse zurückblieb. Dieses selbst aber wurde nunmehr an allen seinen Eingängen versperrt und die Schlüssel dem Gemeindevorstand überantwortet, der seinerseits einen verläßlichen Mann als Aufseher anstellte. Mit seiner Familie im Amtshause untergebracht, hatte dieser darüber zu wachen, daß nichts in Verfall gerate; wie denn auch zweimal des Jahres alle Räumlichkeiten geöffnet wurden, um die notwendige Lüftung und Reinigung vorzunehmen. Inzwischen war die neue Aera wirklich angebrochen, und eine fröhliche Wahlbewegung ging durch das Land. Lang erhoffte Einrichtungen, erlösende Gesetze machten sich geltend, aber mit ihnen auch tiefere nationale Spaltungen, die fast in allen Teilen der Monarchie zutage traten. Es war ein freierer, aber auch unruhigerer Geist in die Zeit gekommen, deren Hauch von nun an das stille Schloß umwehte, während die Mauern allmählich eine düstere Färbung an nahmen und auf den unbetretenen Gängen der Avenue sich langhalmiger Graswuchs entwickelte. Plötzlich wurde es von feindlichen Truppen überschwemmt. Denn der Krieg des Jahres 1866 hatte sich in die Nähe gezogen, und die Kanonen donnerten in der Runde. Man hatte das weitläufige Gebäude einem preußischen General erschließen müssen, der dort sein Heerlager aufschlug. Auch das ging vorüber, und es wurde wieder still auf der einsamen Höhe. Unten aber regte sich aufs neue der Gewerbefleiß friedlicher Hände – und der Marktflecken dehnte sich weiter und weiter aus. Ein stattliches Schulhaus, ein neues Rathaus in gotischem Rohbau erhoben sich – und als nun gar auf frisch gelegten Schienen die erste Lokomotive vorüberdampfte, da war auch das Ziel erreicht – und der Ort zum Range einer Stadt erhoben worden. Und schließlich waren auch die fünfundzwanzig Jahre abgelaufen, welche dem Schlosse neue Bewohner ferne gehalten hatten. Mit demselben Tage aber, an dem diese Frist ihr Ende erreichte, waren auch schon ganze Scharen von Handwerkern erschienen, welche nunmehr daran gingen, das verlassene Gebäude nach jeder Richtung hin im modernsten Geschmacke aufzufrischen und einzurichten. Denn einer der bedeutendsten Industriellen des Landes, der sich im Laufe der Jahre ein erstaunliches Vermögen erworben, war bei einer Geschäftsreise von diesem, gewissermaßen in der Luft schwebenden Herrensitze in Kenntnis gesetzt worden und hatte sofort hinsichtlich des Erwerbes in der ganzen früheren Gutsausdehnung ein glänzendes Angebot getan. Die Väter der jungen Stadt gingen umso rascher auf den Verkauf ein, als damit alle weiteren Sorgen und Mühen der Verwaltung entfielen und das Gemeindevermögen um ein beträchtliches, zur Stunde flüssiges Kapital wuchs. Und so hielt denn, nachdem im Schlosse die zahlreichen, vordem sehr einfach gehaltenen Gemächer durchweg mit neuen Parkettböden, mit goldgemusterten Tapeten, mit Samt, Seide, Spitzen und stilvollen Möbeln ausgestattet, die Vorhalle und die Treppen mit Nischen und Statuen, mit kostbaren Teppichen und exotischen Gewächsen ausgeschmückt waren, an einem dunklen Septemberabend der neue Besitzer seinen Einzug – und zwar bei elektrischem Licht, dessen weißes Fanal die Avenue weithin erhellte. Selbstverständlich waren auch bedeutende Eingriffe in den Park geschehen. War doch dieser im Laufe der Jahre mit seinem Unterholz derart ins Laub geschossen, daß eine förmliche Durchforstung Platz greifen mußte. Dabei fielen auch alle vermorschten Eremitagen, Tempelchen, Brückchen und Ruhebänke, die samt und sonders aus Birkenästen hergestellt waren; nur das Tirolerhaus an der großen Wiese hatte man als wunderliches Denk- und Wahrzeichen einer engbrüstigen und geschmacklosen Vergangenheit unberührt gelassen. Auch konnte man dort immerhin vor einem plötzlich niedergehenden Regen Schutz finden oder auch an kühlen Herbsttagen das Gouter einnehmen. Als man aber das letztere wirklich einmal ausführte, da zeigte sich, daß die Räumlichkeiten für die höchst zahlreiche Familie des neuen Schloßherrn samt allen Hofmeistern, Gouvernanten und Bonnen doch viel zu klein und unbequem waren. Die Damen konnten keinen rechten Platz zum Sitzen finden – und die Herren stießen mit den Hüten an die Decke. Öffnete man die Fenster, so drang empfindliche Zugluft herein, schloß man sie, so waren die Zimmerchen – denn auch die Damen rauchten Zigaretten – alsbald mit unerträglichem Tabaksqualm angefüllt. Und welche Bruthitze mochte in der schönen Jahreszeit hier innen herrschen! Man mied also das Haus im nächsten Sommer vollständig; nur die englische Gouvernante, eine ältliche Miß mit messingblonden Haarwickeln, suchte es je zuweilen an Sonntagen auf, um von keinem Menschen gestört in der Bibel lesen zu können. Und als im darauffolgenden Winter das Unerhörte geschah, verwegene Strolche nächtlicherweile einbrachen und alles Bewegliche wegschleppten, da kam man auch sofort zu dem Entschlusse, den alten »Kasten« dem Erdboden gleich zu machen und an seiner Stelle ein geräumiges, den Anforderungen modernen Komforts entsprechendes Sommerhaus zu errichten. Wirklich entstand auch, wie hervorgezaubert, in kürzester Zeit ein ganz stattliches Gebäude im Schweizerstil, von dessen breiter, luftiger Terrasse man bequem auf einen weit abgesteckten Lawn Tennis-Platz niederblicken konnte, der einen guten Teil der Wiese einnahm. Dort bewegen sich, wenn – was häufig geschieht – das Schloß zahlreiche Gäste beherbergt, anmutig jugendliche Gestalten in vollem Eifer des körperbiegenden Spieles. Die Herren in Jockeimützen und farbigen Wollenhemden, die Damen, hochgeschürzt, in grell bunter Tracht – alle aber in gelben, mit Gummi besohlten, absatzlosen Schuhen. Und während unten bei fröhlichen Scherzen und schallendem Gelächter die Bälle hin und her oder über das Gitternetz fliegen, weilt oben auf der Terrasse eine Schar gesetzterer Männer und Frauen in anregendem Geplauder. Da wird alles berührt, alles gelobt oder getadelt, begriffen oder mißverstanden, was der Tag bringt: die neuesten Verordnungen der Regierung und die neuesten Moden; die Schwankungen der Kurse und die Differenzen zwischen diesem oder jenem Theaterdirektor und dieser oder jener Schauspielerin; die letzte sensationelle Ehescheidung, das letzte siegreiche Rennpferd, der Sozialismus, der Hypnotismus und die Erzeugnisse der naturalistischen Schule. So regt und betätigt sich geräuschvoll an dem Orte, wo Klothilde in tiefer Stille an der schwermütigen Glut Lenaus sich entzückte, an ihrer idealen Landschaft pinselte – und im Übergefühl der Schuld zusammenbrach, ein neues, bestimmteres, zuversichtliches Geschlecht mit anderen Empfindungen und Anschauungen, mit anderen Zielen und Hoffnungen – daher auch mit anderen Schicksalen. Aber auch dieses Geschlecht wird dereinst zu den vergangenen zählen – und wieder ein neues ausblicken nach den ungewissen, ewig wechselnden Fernen der Zukunft. Vierter Teil Herr Fridolin und sein Glück 1. I. Schopenhauer spricht in einer seiner zahlreichen Abhandlungen über die Leiden und die Nichtigkeit des Daseins die Behauptung aus: daß die sogenannten Glücklichen es nur scheinbar, höchstens aber nur vergleichsweise seien, und wenn schon hin und wieder ein wahrhaft Glücklicher vorkäme, so sei dies ein so seltener Fall wie ein erreichtes sehr hohes Alter, wozu – gleichsam als Lockvogel – die Möglichkeit gegeben sein müsse. Nun, als ein solcher ausnahmsweise Glücklicher stellte sich der Zimmerwärter auf dem gräflichen Schlosse zu N ... Herr Friedrich – oder eigentlich, der tschechischen Taufliste nach, Herr Bedřich Kohout dar. Schon der Lebens- und Entwickelungsgang dieses merkwürdigen Mannes sprach dafür. Vom barfüßigen, des Lesens und Schreibens unkundigen Lehrjungen in der Schloßtischlerei hatte er es durch besondere Dienstwilligkeit und Verwendbarkeit im Lauf einiger Jahre zum Hausknecht gebracht, in welcher Eigenschaft ihm nebst anderen Verrichtungen auch das Heizen sämtlicher Öfen sowie die Betreuung aller im Gebrauch stehenden Lampen oblag. Diesen wichtigen Geschäften unterzog er sich mit einem verständnisvollen Eifer, welcher von der plumpen Fahrlässigkeit seines Vorgängers auf das überraschendste abstach, und da er dabei die eigene Person sehr sauber hielt, das fahle Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt trug und sein rundes Gesicht beständig in unterwürfigem Frohsinn strahlen ließ, so erfreute er sich im Schlosse bald der allgemeinsten Beliebtheit. Man ließ sich herab, ihn anzusprechen, wenn er, die Holztrage auf dem Rücken, in den Gängen oder im Hofe vorüberkam, und ergötzte sich an der harmlosen Dreistigkeit, mit welcher er neckende Fragen höchst schlagfertig zu beantworten wußte. Jemand wandelte einmal scherzweise seinen Rufnamen Friedrich in Fridolin um, was allseitig Anklang fand, und von nun ab nannte ihn niemand mehr anders. Als sich mit der Zeit einige Lücken in der höheren Dienerschaft ergaben, wurde auch sofort erwogen, ob man diesen gutmütigen, anstelligen Burschen, der sich nach und nach die deutsche Sprache nicht bloß in Wort, sondern auch einigermaßen in Schrift zu eigen gemacht hatte, nicht näher heranziehen solle. Wirklich entschloß man sich, ihn probeweise dem jungen Erbgrafen zur persönlichen Dienstleistung zuzuteilen. Dieser Versuch übertraf alle Erwartungen, und nachdem der Noviz seinen Herrn und dessen Hofmeister auf einer Reise durch Italien begleitet hatte, erklärte Graf Benno halb im Scherz, halb im Ernst: er könne ohne seinen Fridolin gar nicht mehr leben. Dieser wußte sich auch bei einer späteren Reise, die in Begleitung eines älteren Standesgenossen nach Paris und London – und von dort aus nach New York unternommen wurde, mit überraschendem Orts- und Spürsinn überall zurechtzufinden, ja er bot zum Erstaunen und auch sehr zum Vorteile der beiden hohen Reisegefährten sogar der Seekrankheit Trotz. Und als die glückliche Heimkehr im Schlosse durch ein großes Diner gefeiert wurde, da fand Fridolin Gelegenheit, seinen außerordentlichen Eigenschaften die Krone aufzusetzen. Der schon bejahrte Kammerdiener war nämlich gerade an diesem Tage infolge einer starken Erkältung gezwungen, das Bett zu hüten; welcher andere aber konnte für ihn einspringen als der umsichtige Beschützer und treue Diener seines jungen Herrn? Da stand er nun in dem gewölbten Speisesaale, schwarz befrackt, mit weißer Halsbinde, und überwachte, die Stirn in strenge Falten gelegt, die schüsselreichenden Diener oder bewegte sich zwischendurch selbst unhörbaren Schrittes um die Tafel, die serviettenumhüllte Flasche den Gläsern nähernd und den Gästen mit ehrerbietig gedämpfter Stimme Chateau-Margaux, Rheinwein und Champagner anbietend, welch letzteren er, anmutiger Abwechslung halber, auch » Veuve Cliquot « oder Grand mousseux nannte. Die Höhenlinie seines Daseins aber erreichte er, als er einige Jahre später ein Ehebündnis mit dem Fräulein Katinka Kwapil schloß. Diese bereits etwas überreife Schönheit, deren einziger Fehler in einer allzusehr nach aufwärts gerichteten Nase bestand (denn sie erfreute sich eines üppigen blonden Haarwuchses, schmachtender blauer Augen und, wie Kenner versicherten, einer prachtvollen Büste), war der Reihe nach Kindermädchen bei den drei Komtessen des Hauses gewesen. Da jedoch nunmehr auch die jüngste solcher Obhut entwachsen war, so sollte die brave Katinka für ihre aufopfernden Dienste belohnt und ihr, wie sich die Frau Gräfin-Mutter ausdrückte, ein » sort « bereitet werden. Und welch besseres Los konnte ihr beschieden sein als das, die Gattin des treuen Fridolin zu werden, welchem bei diesem Anlasse eine neue, höchst ehrenvolle und wichtige Stellung zugedacht wurde. Der bisherige Zimmerwärter war mit zunehmendem Alter immer bequemer und nachlässiger geworden, so zwar, daß man sich endlich gezwungen sah, ihn in den Ruhestand zu versetzen. Zu seinem Nachfolger aber wurde – wie schwer ihn auch sein Herr entbehren mochte – Fridolin bestimmt. Denn dieser Perle unter den Dienern, diesem zuverlässigsten aller Menschen, der ja auch mit Hobel und Leim umzugehen wußte, konnten sämtliche Kostbarkeiten des Schlosses, konnten die reichgeschnitzten Möbel und breitumrahmten Bilder, die alten Gobelins und persischen Teppiche, die zahllosen Statuetten, Vasen und Nippgegenstände sowie der funkelnde Tafelschatz in allen Metall-, Porzellan- und Glassorten mit ruhiger Seele anvertraut werden; wie man auch überzeugt sein konnte, fernerhin die Gastzimmer nicht in mangelhaftem Zustande, die entlegenen und unbenützten Räumlichkeiten nicht in völliger Verwahrlosung anzutreffen. So fand denn mit seiner Ernennung auch die Hochzeit statt, und das reich beschenkte Paar bezog in einem Nebengebäude eine sehr geräumige, nett ausgestattete Wohnung, um dort die Flamme des häuslichen Herdes auflodern zu lassen. Allerdings war Fridolin mit seinem neuen Amte die Verpflichtung auferlegt worden, die gewohnten Dienstleistungen bei dem Erbgrafen bis auf weiteres nebenher fortzusetzen, und auch Katinka wurde immer noch zu allerlei Handreichungen ins Schloß gezogen, was begreiflicherweise bei Tag und Nacht vielfältige Störungen in dem jungen Eheleben mit sich brachte. Indes führte, wie überall, auch hier die Zeit Veränderungen herbei, welche Fridolin allmählich zum selbständigen Manne machten. Die beiden ältesten Komtessen hatten sich schon vor einigen Jahren vermählt; nun folgte der Bruder ihrem Beispiele, indem er eine fürstliche Erbin erkor, welche ihm ausgedehnte Güter in Böhmen und Ungarn mitbrachte. Diese Besitzungen erforderten die Anwesenheit des neuen Herrn, der fortan abwechselnd dort seinen Aufenthalt nahm. Und als das Haupt der Familie, Erlaucht senior, eines Tages das Zeitliche gesegnet hatte, da fanden sich die Gräfin-Witwe und ihre jüngste Tochter doch zu verlassen und abgeschieden in dem weitläufigen Schlosse; sie zogen es endlich vor, den Sommer auf den Gütern ihrer Angehörigen, den Winter aber in Wien oder Meran zuzubringen. Auf diese Art wurde Fridolin wirklich zum Alleinherrscher in dem verlassenen Schlosse, welchem er jetzt seine ganze Liebe und Hingebung weihen konnte. Es soll hier gar nicht näher beschrieben werden, mit welchem Eifer, mit welcher Sorgfalt er jeden Frühling und Herbst mit einer Anzahl weiblicher Hilfskräfte die Lüftung und Reinigung der Gemächer vornahm; wie er, die Wichsbürste unter den rechten Fuß geschnallt, in tollen Wendungen über die Parketten hinfuhr, bis diese wie Spiegel glänzten; wie er schadhaft gewordene Möbel, eines nach dem anderen, in die kleine Tischlerei, die er in seinem Wohnhause hergestellt hatte, schleppte oder schleppen ließ, um, ohne Rücksicht auf seine weißen fleischigen Hände, unermüdlich daran zu hämmern, zu leimen und zu firnissen – kurz, es war jahraus, jahrein alles in solchem Stande gehalten, daß die weiten, funkelnden Räumlichkeiten jeden Augenblick wieder bezogen werden konnten. Daran dachte nun freilich niemand; aber es ereignete sich doch hin und wieder, daß sich der in der Ferne weilende Herr mit einigen erlesenen Gästen auf seinem väterlichen Stammsitze zur Jagd ankündigen ließ. Da mußte denn Fridolin Küchen- und Kellerschlüssel bereithalten, das nötige Tafelzeug hervorholen und das Büffet instand setzen, während Frau Katinka ihre kulinarischen Kenntnisse mit Zuhilfenahme eines dicken Kochbuches auffrischte. Und als dann die erlauchten Jäger müde und hungrig beim späten Diner saßen, da war er es wieder, der in schwarzem Frack und weißer Halsbinde die schüsselreichenden Diener überwachte und die edlen Weine in die Gläser goß. Das ging aber jedesmal rasch wie ein Traum vorüber, und Herr Fridolin schlüpfte alsbald wieder in den bequemen braunen Lodenrock mit grünen Vorstößen, den er im Stilleben seiner Häuslichkeit zu tragen pflegte. Und eine geordnetere, behaglichere Häuslichkeit als die seine konnte es kaum mehr geben. Das Wohnhaus glich einer kleinen Villa. Es sah auf ein schmuckes Vorgärtchen, in welchem hochstämmige Rosen prangten, und rückwärts dehnte sich ein geräumiger Obst- und Gemüsegarten aus. Abgegrenzt wurde dieser durch einen großen Hühnerhof, wo es in allen Tonarten gackerte, schnatterte und gluckste, sowie durch eine Reihe hölzerner Koben, aus welchen von Zeit zu Zeit fröhliches Grunzen drang. Dies alles betreute Frau Katinka mit eigener Hand; denn es galt nicht bloß, das Notwendige für den Hausbedarf zu erzielen, sondern auch einen schwungvollen Handel mit Geflügel und Ferkelchen zu betreiben, welcher es dem Gatten ermöglichte, einen großen Teil seines dienstlichen Einkommens für sich und die Seinen beiseitezulegen. Sie hatte im Laufe der Jahre drei Kinder geboren, zwei Mädchen und einen Knaben, welche sämtlich runde Gesichter und nach aufwärts gestülpte Stumpfnasen zur Schau trugen, was um so begreiflicher war, als sich auch Herr Fridolin durch kein Adlerprofil auszeichnete. Sie wuchsen in voller Gesundheit und Frische heran und besuchten schon alle die Schule, wo ihnen, da man dem Lehrer eine deutsche Nachstunde bezahlen konnte, die Wohltat eines zweisprachigen Unterrichtes zuteil wurde. Zu Hause redeten sie mit der Mutter und der Magd böhmisch, mit dem Vater, der dies unbedingt forderte, deutsch – und so war in der Familie der Nationalitäten-Ausgleich auf das befriedigendste hergestellt, wenn auch Frau Katinka im stillen mehr auf die slawische Seite hinneigte. Ihre Schönheit hatte mit der Zeit begreiflicherweise einige Einbuße erlitten. Das dichte Blondhaar zeigte sich ziemlich gelichtet, die schmachtenden Augen hatten mit rötlichen Rändern einen schärferen Ausdruck angenommen, und auch die Büste schien nicht mehr so prachtvoll wie früher zu sein. Aber Herr Fridolin, wenn er es überhaupt bemerkte, ließ sich das nicht anfechten, wie er denn fast in allem, was nicht den Dienst betraf, den erhabenen Grundsätzen der Stoa huldigte. Auch war ja Katinka noch immer eine ganz hübsche Erscheinung, zumal wenn sie sonntags in die Kirche ging, wo sie durch ihre elegante und modernste Kleidung nicht bloß bei der Frau des Schloßgärtners, sondern auch bei der des Gutsverwalters und den sonstigen Spitzen der weiblichen Ortsbevölkerung neidische Bewunderung erregte. Freilich konnte sie sehr leicht solchen Luxus entfalten. Denn ihre einstigen Pflegebefohlenen verabsäumten nicht, ihr alljährlich zu Weihnachten ausgemusterte, das heißt kaum getragene Kleider, Jacken und Mäntel zu senden, wobei sie, nun selbst Mütter geworden, auch der Kinder nicht vergaßen. Seine Erlaucht, der Herr Graf, entzog sich ebensowenig dieser Pflicht der Dankbarkeit und erfreute den treuen Fridolin ziemlich regelmäßig mit Ablegern aus seiner Garderobe, infolgedessen der Herr »Schloßverwalter« – so hörte sich der alleinherrschende Zimmerwärter gerne nennen – selbst aussah wie ein Kavalier, wenn er an der Seite seiner Gattin erschien und nach beendetem Gottesdienst Arm in Arm mit ihr den Heimweg antrat. Und wenn er dann nach eingenommenem Mahle, welchem Frau Katinka an Sonn- und Feiertagen stets eine Tasse schwarzen Kaffees folgen ließ, eine Zigarre rauchend, in dem von Rosen durchdufteten Vorgärtchen saß, das hohe, schöne Schloß in altfranzösischem Stil vor Augen, da mochte er, der einst barfüßig und in geflicktem Jäckchen durch das Portal des Vorhofes hier eingezogen war, mit dem erhebenden Bewußtsein dessen, was er erreicht und errungen, auch das Vollgefühl haben, ein Glücklicher zu sein. 2. II. Dennoch – es muß leider gesagt werden – würde der Skeptizismus Schopenhauers auch hier ein Haar in der Suppe gefunden und auf den Ausspruch des Horaz hingewiesen haben, der da lautet: nemo ab omni parte beatus . Und wirklich: es gab eine Seite, von welcher aus sich das Dasein des altgräflichen Zimmerwärters weniger beneidenswert darstellte. Auch an seinem Glücke war ein wunder Punkt; freilich nur ein ganz kleiner, verschwindend kleiner – aber er machte sich um so empfindlicher geltend, als er allwöchentlich, und zwar jeden Donnerstag, berührt wurde. Aus welchem Anlasse und in welcher Art, wird aus Folgendem klarwerden. Herr Fridolin hatte nämlich eine entschiedene Vorliebe für Pilsener Bier. Nun soll damit nicht etwa gesagt sein, daß er ein Trinker gewesen. Welcher Freund und Verehrer jenes hellen, durchsichtigen, stark hopfenhältigen Gebräues könnte überhaupt ein Trinker genannt werden? Nein: Fridolin brachte diesem ersten der Biere jene würdevolle Bedächtigkeit entgegen, die ihn nach allen Richtungen hin auszeichnete. Er zog es eben jedem anderen Getränke vor, ja es war gewissermaßen das einzige, das er zu sich nahm. Im übrigen erwies er sich, wie alle bedeutenden Menschen, nicht abhängig von seinen leiblichen Bedürfnissen, die er auf das allereinfachste zu befriedigen liebte. Möglich, daß er sich seinerzeit in den Leckerbissen übernommen hatte, die auf der Tafel erschienen waren und deren schönste Reste sehr oft der Dienerschaft anheimzufallen pflegten. Gewiß ist, daß ihm jetzt der Anblick von Austern, Hummern oder Gänseleberpasteten Widerwillen erregte und daß er auf Fasane und Schnepfen mit Geringschätzung hinabsah. Auch aus anderem Geflügel machte er sich nichts, und Frau Katinka konnte das, welches sie aufzog, ruhig den Händlern überlassen, wenn sie ihm nur oft genug Rauchfleisch mit Knödeln oder jene mit Quark und Rosinen belegten Kolatschen vorsetzte, die sie so ausgezeichnet zu bereiten verstand. Und was sollten ihm all die Weine, welche in bestäubten Flaschen in der Tiefe des Kellers lagerten? Was dieser nach Tinte schmeckende Bordeaux, dieser parfümierte Johannisberger – oder gar dieser süßlich prickelnde Weiberschleck, der Champagner? Höchstens, daß er gelegentlich ein Glas alten Österreichers zu sich nahm, wiewohl er auch da nach dem ersten prüfenden Schluck die Mundwinkel, mißvergnügt schmatzend, herabzog. Ja, nur dem »Pilsener« wohnte gediegene, ausgeglichene Kraft inne – und eine herbe Fülle von Wohlgeschmack, dem kein anderer zu vergleichen war. Aber es hatte, wie alle Biere, die Eigentümlichkeit, daß es nur dann voll mundete, wenn es frisch verzapft war. Pilsener, das auch nur einen Tag – geschweige denn mehrere – lief, verdiente den Namen nicht; auf Flaschen gezogen, konnte es nur als jämmerlicher Notbehelf gelten. Also frisch vom Fasse weg mußte es getrunken werden! Das jedoch konnte, wie an allen kleinen Orten, wo die wenigsten imstande waren, sich diesen Genuß zu gönnen, nur an jedem Donnerstag und Samstag geschehen – und zwar in dem nicht weit vom Schlosse entfernten Gasthause des Herrn Wenzel Sykora. Dort also rann es zweimal die Woche vom Nachmittag bis tief in die Nacht hinein vom Zapfen ins Glas. O, wie gemütlich ging es dabei zu! Besonders an Samstagen, wo man sich, den geschäftelosen Sonntag vor Augen, dem wohligsten Behagen hingeben konnte. An einer langen Tafel in der Mitte der niederen, verräucherten Wirtsstube sowie an kleineren, von Hängelampen überqualmten Seitentischen, wo sich lebhafte Tarockpartien entwickelten, saßen im Vereine mit den angesehensten Bürgern und Grundbesitzern: der Gutsverwalter, der Rentmeister, der Forstkontrollor, sämtliche Adjunkten und Schreiber, der Schloßgärtner und – last, not least – in seiner ganzen unvergleichlichen, unterwürfig stolzen Würde Herr Fridolin. Da flossen die Stunden nur so mit dem köstlichen Naß dahin, das Herr Sykora, verständnisvoll schmunzelnd, in den blinken den Gläsern von Mann zu Mann umhertrug. So wies denn der Zeiger stets weit über Mitternacht, wenn Herr Fridolin, die Mütze aufs Ohr gesetzt, sich auf den Heimweg machte und mit etwas wankenden Beinen in das eheliche Schlafgemach trat, wo ihn Frau Katinka aufs liebevollste erwartete und empfing. Sie lächelte ihm in einem koketten Nachthäubchen vom flaumigen Pfühl aus entgegen, und keine Gardinenpredigt weckte die Kinder, die in der Nebenstube den Schlaf der Unschuld schliefen. Nur zärtliches Geflüster wurde vernehmbar, das noch einige Zeit fortdauerte, wenn das Licht gelöscht war. Aber so nachsichtig und duldsam die liebende Gattin sich an Samstagen erwies: so unerschütterlich, ja grausam streng verhielt sie sich an Donnerstagen. Da durfte Fridolin an ein längeres Verweilen bei Herrn Sykora nicht denken; es war ihm nur gestattet, zur »Jause« sich dorthin zu begeben: Schlag sieben, um welche Zeit das gemeinsame Familiennachtmahl eingenommen wurde, mußte er wieder zu Hause sein. Also kaum zwei Stunden, zwei kurze Stunden waren ihm gegönnt. Und was ließ sich in einer solchen Spanne Zeit leisten – in einem Getränke leisten, das nicht rasch und unbedacht hinter die Binde gegossen werden konnte, sondern gewissermaßen mit Andacht ausgekostet werden mußte? Allerdings hätte er sich wohl – Frau Katinka würde es gestattet haben – das fehlende Quantum nach Hause bringen lassen können. Aber Pilsener über die Gasse tragen! In einem Kruge oder einer Flasche! Ging da nicht schon durch das mehrmalige Umgießen die beste Kraft, das feinste Arom verloren! Nein: nur in der richtigen Faßnähe konnte es wirklich genossen werden. Und gerade dann, wenn man so recht eigentlich anfing, auf den Geschmack zu kommen – zu einer Zeit, wo sich die Tür öffnete, die freizügigen Gäste einer nach dem anderen eintraten, um sich mit vertraulichem Gruße hinter die Gläser zu setzen: aufbrechen und der Gesellschaft Valet sagen! Es war, wie gesagt, ein furchtbares, grausames Gebot – aber er mußte sich ihm fügen. Denn wenn er sich auch beikommen lassen wollte, den Schlag der siebenten Stunde zu überhören: er konnte gewiß sein, daß in kürzester Frist ein plumper Finger draußen an eine Fensterscheibe pochte; und wenn er auch dieses Pochen überhörte, dann ging alsbald die Tür auf, und durch die Spalte hinein rief die schrille Stimme seiner Hausmagd: »Pane Kohout!« Und blieb er auch dann taub, so erschien nach einer Weile eines der stumpfnasigen Kinder, um dem Vater zu melden, daß das Essen auf dem Tische stehe. Raffte er sich, den kleinen Boten abweisend, mit äußerster Kraftanstrengung zu dem Bescheid auf: man solle nur ohne ihn zum Nachtmahl gehen, da konnte es sich ereignen – einmal geschah es und durfte nicht wieder geschehen! – daß plötzlich die Tür weit aufgestoßen wurde und Frau Katinka, Haupt und Brust malerisch mit einem dunklen Tuche umhüllt, auf der Schwelle erschien, ein zorniges und gebieterisches »Fridolin!« erschallen lassend. Nein: besser, als dann kreidebleich aufspringen und, ohne die Zeche zu bezahlen, unter dem Zischeln und verhaltenen Lachen der Mitgäste wie begossen abeilen – besser war es, noch vor der entsetzlichen Stunde aufzubrechen. Und wenn er das nun mit einem wehmütigen Scheideblick auf das letzte geleerte Glas jeden Donnerstag tat und, von dem halb mitleidigen, halb spöttischen Abschiedsgruße des Herrn Sykora geleitet, den Weg nach dem Schlosse antrat, da waltete ein bitteres Gefühl in seiner Brust, und er würde, wenn er sie gekannt hätte, mit eingestimmt haben in die Worte des römischen Dichters: nemo ab omni parte beatus . 3. III. Das alles hatte ich so nach und nach in Erfahrung gebracht, da ich oft genug als Gast in dem Schlosse verweilte, wo mir in einem kleinen Seitenflügel selbst dann noch zwei Zimmer zur Verfügung standen, als Herr Fridolin bereits die alleinige Schlüssel-Oberhoheit führte. Während eines solchen einsamen Aufenthaltes aber sollte mir ein noch tieferer Einblick in das Wesen des merkwürdigen Mannes vergönnt werden. Es war im Winter und an einem jener Donnerstage, welche für ihn stets so peinvoll verliefen. Ich hatte wie gewöhnlich bei Herrn Sykora ziemlich spät Mittag gehalten und mich dann beim Kaffee in ein Buch vertieft, das ich, weil es mich sehr interessierte, zu mir gesteckt. Draußen heulte ein wilder Schneesturm, rüttelte an den Fenstern und pfiff durch die Röhre des eisernen Ofens, in welchem ein ausgiebiges Steinkohlenfeuer pustete. Es begann allmählich zu dämmern, und ich mußte das Buch weglegen. Aber ich fühlte mich, allein, wie ich war, so behaglich in der stillen, durchwärmten Gaststube, daß ich im Angesicht des Gestöbers ruhig sitzen blieb und eine zweite Zigarre anzündete, deren Rauch sich bläulich durch das Halbdunkel hinzog. Da vernahm ich, wie draußen im Flur jemand wiederholt mit den Füßen aufstampfte – und weiße Flocken von Mütze und Mantel schüttelnd, trat Herr Fridolin herein. Bei meinem Anblick stutzte er und betrachtete mich forschend; als er mich erkannt hatte, machte er die gewohnte herablassend ehrerbietige Verbeugung. Dann schickte er sich an, an einem Nebentische Platz zu nehmen. »Guten Abend, Herr Kohout«, sagte ich. »Aber warum setzen Sie sich nicht zu mir?« Er zog die Brauen empor und krümmte leicht den Rücken. »Wenn Sie erlauben«, erwiderte er und ließ sich sachte, die beiden Handflächen aneinander reibend, mir gegenüber nieder. »Ein elendes Wetter«, fuhr er fort, indem er sich das Haar über der Stirne glattstrich. »Man sollte eigentlich keinen Hund hinausjagen.« »Nun, es ist ja nicht so weit bis hierher«, sagte ich. »Zum Glück nicht. – Aber wo bleibt denn der Wirt?« Er kehrte sich nach der Tür. »Der wird wohl ein Nachmittagsschläfchen halten.« »Ach was, er kümmert sich nicht, weil um diese Zeit gewöhnlich keine Gäste da sind. Ich pflege sonst auch erst später zu kommen. Heute aber muß ich schon um sechs Uhr wieder zu Hause sein. Wir haben nämlich ein Schweinchen geschlachtet, das nicht mehr fressen wollte. Da hat man die Hände voll zu tun – und zum Nachtmahl gibt es gleich die ersten Würste. Aber ich muß doch den Sykora herbeiläuten.« Und er begann die Schlagschelle, die auf dem Tische stand, kräftig zu bearbeiten. Es dauerte nicht lange, so erschien auch der Ersehnte im Eiltritt und machte beim Anblick Fridolins eine Gebärde der Überraschung. »Schon so früh hier, Herr Schloßverwalter?!« rief er. »Ausnahmsweise, ausnahmsweise«, erwiderte Herr Kohout, sichtlich verlegen, daß man ihn in meiner Gegenwart »Schloßverwalter« genannt hatte. »Aber es ist doch schon angezapft?« »Gewiß, soeben, Herr Schloßverwalter. Es scheint heute ganz ausgezeichnet zu sein. Wird gleich erscheinen.« Damit ging Herr Sykora, der inzwischen die Hängelampe in der Mitte des Zimmers lichtspendend gemacht hatte, was einen scharfen Petroleumgeruch nach sich zog. Als wir jetzt allein waren, rückte Fridolin an seinem Stuhl und räusperte sich. »Sie müssen schon entschuldigen, daß man mir einen Titel gibt, der mir eigentlich –« »Nun«, unterbrach ich ihn, »was nicht ist, kann noch werden.« »Vielleicht, vielleicht«, erwiderte er, halb verschämt, halb stolz abwehrend. »Und die Leute lassen es sich nun einmal nicht nehmen –« Jetzt hatte Herr Sykora auch das funkelnde Glas gebracht, an dessen Rande der Schaum weiß und dicht wie Schlagsahne stand. Fridolin faßte den Henkel und hielt es prüfend gegen das Licht. Dann tat er einen kurzen, aber kräftigen Zug. »Wirklich ganz ausgezeichnet!« versicherte er, mit der Zunge schnalzend. »Aber Sie trinken das Bier nicht?« wendete er sich an mich und warf einen Blick auf die Kaffeetasse, die noch vor mir stand. »O ja. Aber es ist mir noch zu früh.« »Zu früh? Dieses Bier kann man zu jeder Zeit genießen – vorausgesetzt, daß es frisch ist. Es ist das gesündeste Getränk. Ich meinerseits betrachte es als eine Art Medizin.« »Aber Sie sind ja doch ganz gesund, lieber Herr Kohout«, sagte ich, indem ich sein breites, glattrasiertes Gesicht betrachtete, das ein stattliches Doppelkinn aufwies. »Nun, eigentlich ja. Gott sei Dank! Aber an gewissen Übelständen fehlt es nicht. Die kommen so mit den Jahren. Das Dienen greift den Menschen an.« »Gewiß. Und Sie haben es nicht leichtgenommen.« »Das darf man auch nicht«, sagte er, feierlich die Hand erhebend, »wenn man in seinem Berufe etwas leisten will. Und' ich habe seit jeher den Beruf in mir gefühlt, Diener zu sein.« »Ein seltenes Wort, Herr Kohout. Ein seltenes Wort in einer Zeit, wo jeder nur Herr sein will.« »Das ist es. Man will sich nicht mehr unterordnen, und es wird sich bald kein Mensch finden lassen, der sich zu sogenannten niederen Verrichtungen herbeiläßt, obgleich dazu Eigenschaften erforderlich sind, von denen so irgendein hochnasiger Bursche keine Ahnung hat. Nehmen Sie zum Beispiel das Amt eines Hausknechtes. Sie wissen, daß ich als solcher gedient habe. Nun, das Reinigen der Treppen und Gänge ist wohl keine Kunst, und der Nächstbeste kann es treffen. Aber die Lampen! Um die instand zu halten, ist nicht bloß ein stark entwickelter Reinlichkeitssinn, sondern auch eine gelehrige, schmieg- und biegsame Hand notwendig.« (Er ließ seine fleischigen Finger in der Luft spielen.) »Und dann das Heizen! Da darf man nicht bloß das Holz in den Ofen schieben und den Span darunter, man muß sich auch überzeugen, ob es wirklich brennt. Denn jeder Ofen hat seine besonderen Mucken, die studiert werden müssen – geradeso, wie hinsichtlich der Temperatur die Empfindlichkeit der Zimmerbewohner studiert werden muß. Der Herr Graf, Erlaucht selig, zum Beispiel wollte es warm haben – aber nicht zu warm; Erlaucht die Frau Gräfin hingegen kühl – aber nicht zu kühl. Nun können Sie sich vorstellen, wie schwer das zu machen war. Und dann im Kinderzimmer! Da wachte der Doktor wie der Teufel darüber, daß immer auf einen bestimmten Grad geheizt sei – nicht eine Linie darüber und keine darunter. Da mußte man also das feinste Auge für das Thermometer besitzen. Aber auch die vielen und verschiedenartigen Gäste stellte ich zufrieden; sogar die Hofmeister und Gouvernanten. Unsere alte, lustige Französin behauptete immer, daß ich ein wahrer bijou sei, und die schöne Engländerin, die Miß Roberts, nannte mich nie anders als my dear Fridolin.« Diese Fremdwörter, mit welchen Herr Fridolin offenbar seine ausgebreiteten Sprachkenntnisse erhärten wollte, wurden so eigentümlich vorgebracht, daß ich alle Mühe hatte, mein Lachen zu einem Lächeln herabzudrücken. »Ich weiß, ich weiß«, sagte ich, »Sie waren ein Liebling der Damen.« »Nun ja. Aber ich habe mich auch rechtschaffen geplagt und nebenbei manches Unangenehme erdulden müssen. Und insofern begreif' ich es wohl, daß das Dienen nicht jedermanns Sache ist. Nun gar bei hohen Herrschaften. Die sind nicht gewohnt, Rücksicht zu nehmen. Zu jeder Stunde des Tages und der Nacht muß man zur Verfügung stehen. Empfindlich darf man schon gar nicht sein; denn die Worte werden nicht auf die Waagschale gelegt – und manchmal kommt es auch zu gewissen Handgreiflichkeiten. Auch muß man Spaß verstehen, wenn einen die jungen Herren unversehens überreiten – oder einem eine Ladung Vogeldunst nach hinten versetzen. Manchmal beliebt es ihnen sogar, einem, wenn man gerade im besten Schlafe liegt, den Strohsack unter dem Leibe anzuzünden und im entscheidenden Augenblicke einen Kübel Wasser über das Ganze auszugießen. Da heißt es, gute Miene zum bösen Spiel machen – und mitlachen; denn merken sie, daß es einen verdrießt, treiben sie's noch ärger. Nun jeder Stand hat seine Schattenseiten, und überall gibt es irgend etwas hinunterzuschlucken. Manchmal noch weit Ärgeres – wenn es auch nicht darnach aussieht. Und schließlich wird unsereins für seine Ausdauer belohnt. Ich selbst zum Beispiel verdanke alles, was ich jetzt bin und habe, eigentlich doch nur einem solchen Spaß – wenn er mir auch bald das Leben gekostet hätte.« »Wieso?« »Nun hören Sie. Es war in einem sehr strengen Winter und der Eissport auf dem großen Teiche im Park wurde eifrig betrieben. Eines Sonntags ging es dort besonders lebhaft zu; denn aus der Nachbarschaft hatte sich von allen Seiten Besuch eingefunden. Ich stand damals schon im Dienste meines Herrn und mußte mich gleichfalls auf dem Eise halten, um Schlittschuhe zu schnallen, Zigaretten und Kognak herumzureichen. In der Mitte des Teiches war der Fische wegen eine viereckige Öffnung ausgehackt, gerade so groß, daß ein Mensch hindurch konnte. Anfänglich bewegte man sich auf Distanz daran vorbei; dann aber wurden die jungen Kavaliere immer übermütiger und suchten sich gegenseitig dem Loche zuzudrängen, damit irgendeiner zum Vergnügen der anwesenden Komtessen, die nur darauf zu warten schienen, hineinplumpse; was jedoch nicht so leicht angehen wollte, denn sie waren alle fix und gewandt wie die Teufel. Ich mußte mich entfernen, um schwere Zigarren zu holen, die verlangt wurden, und süßen Likör für die Damen. Wie ich nun, das Kistchen in der einen, die Flasche in der anderen Hand, eiligst zurückkehrte, ruft einer – der junge Graf von Ostrov war's –: ›Holla! Der Fridolin! Den sollte man untertauchen!‹ – ›Ja, ja, untertauchen! Den Fridolin untertauchen!‹ schrien alle durcheinander, die Komtessen nicht am wenigsten. Nun stellen Sie sich meine Situation vor. Ich war durch das Hinundherrennen ganz in Schweiß gekommen – und nun sollte ich ins Eiswasser hinein! Das Herz stand mir still vor Angst. Aber ich ließ es nicht merken, sondern suchte eine lächelnde Miene anzunehmen, als wäre mir die Sache ganz egal. Damit hatte ich schon manchmal Ähnliches von mir abgewendet. Aber diesmal half's nicht. Man stürzte auf mich los, packte mich bei den Füßen und schob mich kopfüber durch das verdammte Loch. Mir vergingen sofort die Sinne, und halbtot zogen sie mich heraus. Nun wurde ich freilich gleich zu Bett gebracht, frottiert, und als ich wieder zu mir selber kam, mußte ich siedend heißen Grog literweise in mich hineintrinken. Aber es nützte nichts. Schon nach einer halben Stunde brach hitziges Fieber – und im Laufe der Nacht eine Lungen- und Rippenfellentzündung aus. Da hätten Sie aber meinen jungen Herrn sehen sollen! Er hatte mehr Angst, daß ich stürbe, als ich selbst. Der Hausarzt genügte ihm nicht; es mußte um einen Professor nach Wien telegraphiert werden, und stundenlang saß er an meinem Bette, mir in einem fort Trost zusprechend, wie die Mutter dem kranken Kinde. Und sehen Sie –« er schlug auf seinen breiten Brustkasten – »ich bin wieder gesund geworden. Erlaucht aber behütete mich seit jener Zeit wie seinen Augapfel. Kein unliebsames Wort hat er mir mehr gegeben, weder im Scherz noch im Ernst – und ist mir bis heute ein gnädiger, fürsorgender Herr geblieben. Und nun kann ich es Ihnen ja anvertrauen, daß ich die Hoffnung, ja die Gewißheit habe, bei Geburt seines nächsten Sprößlings, der bereits auf dem Wege ist und voraussichtlich der erwartete Sohn und Stammhalter sein wird, zum Schloßverwalter ernannt zu werden.« »Ich gratuliere. Dann haben Sie ja auch den Gipfel Ihrer Wünsche erreicht. Sie sind in der Tat ein glücklicher Mann!« »Ja«, sagte er, den Kopf zurückwerfend, »ich habe alle Ursache, Gott zu danken, und möchte, offen gestanden, mit niemandem auf Erden tauschen – nicht einmal mit einem Hofrat. Aber werden Sie es glauben«, fuhr er nach einer Pause, mehr zu sich selbst sprechend, fort, »werden Sie es glauben, daß ich einmal auf dem Punkte stand, meine ganze Zukunft in den Wind zu schlagen – daß ich nahe daran war, einen der tollsten, wahnsinnigsten Streiche zu begehen, die jemals –« Er unterbrach sich, wie von einem innerlichen Grauen überwältigt. »Was? Sie? – und einen tollen, wahnsinnigen Streich? Ein so bedächtiger, vernünftiger Mann –« »Und doch war es so.« »Und was könnte Sie bewogen haben?« »Die Liebe!« sagte er emphatisch, mit erhobener Hand gegen die Stubendecke blickend. »Die Liebe? Ja, sollte denn Ihre Frau –?« »Wer spricht von meiner Frau!« rief er abwehrend. »Die habe ich ja gar nicht geliebt – das heißt, damals nicht, obgleich ich sie bereits kannte. Ich habe sie erst später lieben gelernt. Und dann – es war auch nicht, was man so für gewöhnlich Liebe nennt: es war eine Leidenschaft.« »Eine Leidenschaft? Wahrlich, Herr Kohout, wenn ich Sie so betrachte und mir Ihr ganzes Wesen vergegenwärtige, scheint es mir fast unmöglich, daß Sie jemals –.« »Es ist mir eigentlich selbst ein Rätsel. Und doch – wenn Sie die Person gekannt hätten, die mich so weit gebracht –« Er schwieg, in Erinnerungen versinkend. »Aber das ist ja höchst interessant!« rief ich aus. »Möchten Sie mir denn nicht Näheres mitteilen?« Er hob den Kopf und überlegte. »Nun, wenn es Sie wirklich interessiert, in Gottes Namen. Obgleich ich mich vor Ihnen bloßstelle. Aber Sie sind Schriftsteller und können einen Roman daraus machen. Der Teufel weiß, wie mir die ganze Geschichte gerade jetzt wieder in den Sinn gekommen ist.« Er schlug wuchtig auf die Tischglocke, denn sein Glas war längst geleert. »Ein Stündchen haben wir noch Zeit«, sagte er dann, nach der Wanduhr blickend, die eben fünf wies. Herr Sykora hatte wieder das Glas gefüllt. Fridolin tat, wie um sich zu stärken, einen langen Zug. Hierauf setzte er die Zigarre in Brand, die ich ihm angeboten, und begann zu erzählen, was ich da niederschreibe. Freilich nicht ganz so, wie er es vorgebracht, nicht mit seinen höchsteigenen Worten – wie wäre dies auch möglich? Aber doch in seinem Sinne – und wie es mir eben im Gedächtnisse haftengeblieben ist. 4. IV. »Zur Zeit, da ich noch als Hausknecht diente, befand sich unter den vielen Frauenzimmern, die in der herrschaftlichen Waschküche beschäftigt waren, auch ein Mädchen, das Milada hieß. Ein noch blutjunges Ding, nicht viel über fünfzehn, mager und aufgeschossen wie eine Bohnenstange. Aus dem schmalen blassen Gesicht, das noch dazu immer von einem verblichenen Kopftuche halb verhüllt war, blickten zwei große Augen, schwarz und glänzend wie Steinkohle. Sie war die jüngste Tochter eines Maschinenschlossers, der bei den Eisenwerken in Arbeit stand. Frühzeitig Witwer geworden, besaß er vier heranwachsende Kinder, davon jedes, sobald es nur anging, in seiner Art Geld verdienen mußte. Der mürrische, hartherzige Vater sprach mit ihnen die ganze Woche hindurch kaum ein Wort; nur an den Sonnabenden, wo sie ihm das Erworbene ablieferten, brummte und schalt er, wenn er sah, daß das eine oder das andere ein paar Kreuzer für sich selbst verwendet hatte. Was nun Milada betrifft, so wurde sie im Schlosse fast gar nicht beachtet, denn sie nahm sich, wie gesagt, sehr unscheinbar und unfertig aus. Selbst die Stallburschen, die in der Nähe der Waschküche hausten und gern allerlei Unfug trieben, fühlten sich nicht versucht, mit ihr zu schäkern; höchstens, daß sie ihr, wenn sie gerade vorüberkam, einige höhnische Worte nachriefen. Mir aber gefiel sie, weil sie immer still vor sich hin blickte und unverdrossen ihrer Hantierung nachging, die ihrem schmächtigen Körper große Anstrengungen auferlegte. Mir tat das Herz weh, wenn ich sah, wie sie keuchend schwere Körbe mit Wäsche oder gefüllte Eimer trug, die ihr fast die Arme aus den Schultern renkten. Und wenn ich gerade Zeit hatte, war ich ihr in der einen oder andern Weise behilflich, soweit dies, ohne daß es auffiel, geschehen konnte. Denn ich wollte mir vor den anderen nichts vergeben; auch befolgte ich den Grundsatz, daß ich mich von Weibsleuten so fern wie möglich halten müsse. Denn Liebschaften – und nun gar solche mit Nebenbediensteten – machen zerstreut, lenken von der Arbeit ab und können, da ja Gelegenheit geboten ist, leicht zu den ärgsten Unzukömmlichkeiten führen.« »Das war sehr wohl überlegt, Herr Kohout«, unterbrach ich ihn. »Daran erkenne ich Sie.« »Ja, ich habe sehr früh begonnen, zu überlegen und alle Verhältnisse in Betracht zu ziehen. So blieb es auch dabei, daß ich mich der Milada nicht weiter näherte, obgleich sie, wie es mir schien, nichts dagegen gehabt hätte. Nur einmal, als gerade Jahrmarkt war, kaufte ich ein hübsches blaues Tuch mit weißen Tupfen und steckte es ihr heimlich zu. Ich sah, wie sie vor Freude ganz rot wurde. Dann sagte sie mit ihrer hellen, aber sanften Stimme, die sie selten genug vernehmen ließ: ›Ich danke dir, Bedřich‹ – ich hörte es gern, daß sie mich nicht wie die anderen Fridolin nannte –, ›ich danke dir. Das Tuch gefällt mir sehr.‹ Ich gestehe, daß es mich nun anwandelte, sie zu umarmen und zu küssen, denn wir befanden uns ganz allein in dem schmalen Hinterhofe, wo sie eben einige Stücke feiner Putzwäsche an die Trockenleine hängte. Aber ich beherrschte mich und eilte fort – und von dem Tag an wich ich ihr absichtlich aus, denn ich fühlte, daß jetzt die größte Gefahr drohe. Zudem verlor ich sie ohnehin bald gänzlich aus den Augen. Ihre ältere Schwester, die dem Vater die Wirtschaft führte, war erkrankt – und da mußte sie nun selbst einspringen. Dann kam ein Winter, den die Herrschaft in Wien zubrachte. Im nächsten Sommer jedoch war Milada wieder bei der Arbeit in der Waschküche, und da konnte man wahrnehmen, daß sie sich inzwischen schon sehr entwickelt hatte; auch ihr Gesicht war um vieles schöner und lieblicher geworden. Aber sosehr es mich zu ihr hinzog, hielt ich mich doch zurück; denn ich war damals gerade in die Dienste meines jungen Herrn getreten, und da war, wie Sie begreifen, doppelte Vorsicht geboten.« »Ich bewundere Ihre Selbstbeherrschung.« »Ja, damals beherrschte ich mich. – Nun traf es sich, daß die Herrschaft einen Maler zu Gast hatte. Einen Professor an der Kunstakademie – vielleicht kennen Sie ihn –, der die Ferien hier zubringen wollte. Er war schon ein älterer Mann – an die Fünfzig, aber noch sehr frisch und lebenslustig – und dabei von so ungezwungenem Benehmen, daß es schon einigermaßen ans Unanständige grenzte. Kein Mädchen im Schlosse war vor ihm sicher – meine Frau, die damals bei den Komtessen war, hat mir noch später davon erzählt. Aber auch sonst trieb er sich überall herum, wo er bunte Röcke vermutete: im Wirtschaftshofe, bei der Dreschscheune – ja selbst im Kuhstall. Und dabei hatte er nicht einmal die Ausrede, daß er nach Modellen suche, denn er malte bloß Landschaften, in welchen kein lebendes Geschöpf zu sehen war. So trat er denn auch eines Tages seinem vollen Umfange nach – er war nämlich sehr dick – ganz plötzlich in die Waschküche, zum Entsetzen der Weiber, die sämtlich, der Augusthitze wegen, sowenig wie möglich am Leibe hatten. Alle schrien und kreischten durcheinander und suchten ihre Blößen, so gut es anging, zu verbergen. Das aber machte ihm den größten Spaß, und lachend schritt er von der einen zur anderen, unbekümmert um das Seifenwasser, das man ihm von allen Seiten zur Abwehr entgegenspritzte. So war er durch das Getümmel und den Qualm, der in der Küche herrschte, bis in die Plättkammer vorgedrungen, wo einige Mädchen bei ihrer Arbeit am Laden standen, darunter auch Milada. Als der Professor sie erblickte, machte er halt und betrachtete sie mit offenem Munde. Wenigstens fünf Minuten lang hat er sie so angestarrt, den Kopf hin und her wiegend, ohne ein Wort zu sprechen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Bei Tafel aber erzählte er den Herrschaften, die an seiner Weise Gefallen fanden, er sei in der Waschküche gewesen und habe dort ein Mädchen angetroffen, das er als Schönheit ersten Ranges bezeichnen müsse. Namentlich, was ihren Wuchs betreffe; denn in dieser Hinsicht könne sie jedem Bildhauer Modell stehen zu einer Hebba oder Hebbe – eine solche weibliche Gottheit nannte er. Anfangs lachte man ungläubig, besonders die französische Gouvernante; die Frau Gräfin-Mutter jedoch, welche, wie Sie ja wissen, eine sehr kunstsinnige Dame ist und an derlei großes Interesse nimmt, gab nach Tisch ihrer Kammerfrau den Auftrag, die Beschließerin zu rufen. Diese wurde angewiesen, das Mädchen unter einem passenden Vorwande ins Schloß zu bringen. So trat denn Milada, die sich nur rasch das Haar zurechtgestrichen hatte, bald darauf mit einem Korbe voll eben geplätteter Tafelwäsche, die vorgezeigt werden sollte, in den Salon, in welchem sich außer dem Professor nur die Damen befanden; die Herren hatten sich in das Rauchzimmer zurückziehen müssen. Milada wurde nun von allen Seiten betrachtet, man richtete einige Fragen an sie, und nachdem sie wieder gegangen war, erhob sich ein großer Meinungsstreit. Die Komtessen sowie die meisten der anwesenden Damen wollten das Urteil des Professors nur mit bedeutenden Einschränkungen gelten lassen; die alte Mamsell soll sogar heftig abwehrend gestikuliert und etwas wie mauvais goût haben verlauten lassen. Aber Ihre Erlaucht legte sich ins Mittel und sagte: ›Nein, nein, der Herr Professor hat sich als sehr feiner Kenner erwiesen. Das Mädchen ist wirklich von ganz besonderer Schönheit. Aber in ihrem Blick ist etwas, das mir nicht gefallen will. Ich halte diese Milada für eine gefährliche Person.‹ Begreiflicherweise – denn die Wände haben Ohren – verbreitete sich das alles gleich einem Lauffeuer und erweckte die Eifersucht der übrigen weiblichen Bediensteten im höchsten Grade. Man ließ nicht ab, Milada zu begaffen, zu belauern, zu kritisieren, und zerbrach sich den Kopf darüber, wie der Ausspruch Ihrer Erlaucht, daß sie das Mädchen für eine gefährliche Person halte, eigentlich zu verstehen sei. Einige meinten, die Herrin habe Anlagen zum Diebstahl oder zu sonstigen Verbrechen bei ihr wahrgenommen. Die Kammerfrau aber, welche auf ihre eigene, freilich schon etwas schadhafte Schönheit sehr stolz war, lächelte überlegen und sagte, es wäre wohl möglich, daß auch solche Anlagen vorhanden seien, Ihre Erlaucht jedoch habe den Ausspruch lediglich mit Beziehung auf das männliche Geschlecht getan und da könne sie (die Kammerfrau) nicht einsehen, weshalb gerade diese Wäscherin gefährlicher sein sollte als andere. Mir aber war bei dem Gerede und Gezischel recht übel zumute. Denn obgleich ich, wie Sie wissen, jede Annäherung an Milada vermied, so hatte ich sie doch sozusagen ins Herz geschlossen – und wer weiß, was im Laufe der Zeit geschehen wäre, wenn die Frau Gräfin jene Bemerkung nicht gemacht hätte, die mich nun vollends abschreckte.« »Sehr begreiflich!« stimmte ich bei. »Und hat sich in der Folge irgendwie herausgestellt –« »Nur zu bald. Denn schon in nächster Zeit traf hier zu Besuch ein polnischer Fürst ein, der allerlei Dienerschaft mitbrachte, darunter auch einen sogenannten valet de chambre , der sich auf den Franzosen hinausspielte, in Wirklichkeit aber nichts anderes war als ein Coiffeur oder Barbiergeselle aus irgendeiner polnischen Stadt. Er hatte auch nichts weiter zu tun, als seinen Herrn drei- oder viermal des Tages zu frisieren und ihm den feinen rötlichen Bart zu kräuseln. Alles übrige besorgte ein Leibjäger in verschnürtem Kaftan, und so konnte der Schwengel die Zeit mit Flanieren hinbringen, gewöhnlich von Kopf bis zu Fuß weiß angezogen, eine bunte Krawatte vorgesteckt, die Hände in den Hosentaschen und eine kaum sichtbare Zigarette zwischen den Lippen. Dabei behandelte er uns herrschaftliche Diener so von oben herab; selbst die Frauenzimmer übersah er – bis er endlich eine ausgeschnüffelt hatte, die nach seinem Geschmack war. Als ich eines Morgens an dem Hinterhofe vorbeiging und, ohne an etwas zu denken, durch das offene Tor blickte, sah ich, wie er bei Milada an der Trockenleine stand und zärtlich in sie hineinredete. Ich gestehe, daß mich eine wahnsinnige Eifersucht befiel. Es trieb mich, auf den windigen Kerl loszustürzen und ihn an der Kehle zu packen. Aber ich beherrschte mich, und unbemerkt ging ich wieder, obgleich es mir fast das Herz abdrückte. Bald darauf war Milada nicht mehr im Schlosse zu sehen, denn ihre Schwester hatte geheiratet und mußte im Hause des Vaters ersetzt werden; auch der Fürst blieb nicht mehr lange und reiste mit seinen Leuten ab. Ich aber konnte die Geschichte nicht aus dem Sinn bringen, sie ließ mir bei Tag und Nacht keine Ruhe; ich war steinunglücklich. Erst im Verlauf des Winters, nachdem ich mit meinem jungen Herrn nach Italien gegangen war, wurde mir leichter. Vergessen konnte ich freilich nicht; denn noch in Neapel habe ich des Nachts einen bösen Traum gehabt, der mich an alles wieder erinnerte. Als es aber gegen Ende Mai an die Heimkehr ging, da nahmen meine Gedanken eine andere Wendung und beschäftigten sich ganz angenehm mit Milada. Wie es ihr während der ganzen Zeit ergangen sein möchte? Wie sie zu mir reden würde, wenn ich sie aufsuchte? Und dergleichen mehr. Freilich drängte sich auch immer das Bild des verdammten polnischen Haarkräuslers dazwischen. Aber der war fort – und das Ganze brauchte ja nicht mehr gewesen zu sein als so eine kleine Liebelei, an die sie vielleicht gar nicht mehr dachte. Kurz, ich empfand eine große Sehnsucht nach ihr und konnte es kaum erwarten, wieder an den Ort zu gelangen, wo ich in ihrer Nähe war. So geschah es auch, daß mein erster Gang im Schlosse der Waschküche galt. Ich wußte wohl, daß ich sie dort nicht finden würde; aber ich konnte etwas über sie erfahren von den anderen Weibern. Die standen, als ich eintrat, von ihren Trögen entfernt in einem Haufen beisammen und bemerkten mich gar nicht. Denn sie sprachen, mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd, über etwas, das sie offenbar in große Aufregung versetzte. Da sie aber alle durcheinanderschrien, konnte ich nicht verstehen, um was es sich eigentlich handelte; nur den Namen Milada glaubte ich wiederholt zu vernehmen. Endlich gewahrte mich eine. ›Je, der Kohout!‹ rief sie, Und die anderen darauf, sich mir zuwendend: ›Der Kohout! Der Bedřich! Der Fridolin! Der wird sich auch wundern!‹ ›Was gibt es nur?‹ schrie ich sie an. ›Was habt ihr denn?‹ ›Die Milada! Die Milada!‹ ›Was ist's mit der Milada?‹ Und nun alle wie mit einer Stimme: ›Ihr Kind hat sie umgebracht! Das Kind, das sie von dem französischen Kammerdiener gehabt hat! Vor einer halben Stunde hat sie der Gendarm vom Hause weggeholt!‹ Mir war's, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf und einen Messerstich ins Herz bekommen. Was ich darauf erwiderte und wie ich aus der Waschküche herauskam, weiß ich heute nicht mehr ...« Er sank erschöpft in sich zusammen und trank langsam die Neige seines Bieres aus. »Drei Jahre hat man ihr gegeben«, schloß er jetzt mit dumpfer Stimme. Eine Pause trat ein. »Lieber Herr Kohout«, sagte ich endlich, »das ist allerdings eine Geschichte, die Ihnen sehr nahegegangen. Aber von einer so besonderen Leidenschaft Ihrerseits habe ich, offen gestanden, bis jetzt nicht viel bemerken können.« »Warten Sie nur!« erwiderte er, die Hand erhebend. »Ich muß mir erst ein frisches Glas bestellen. Sie sehen ja, daß ich noch jetzt ganz angegriffen bin.« Nachdem das Glas erschienen war und Herr Fridolin sich gelabt hatte, fuhr er folgendermaßen fort: 5. V. »So schwer mich, wie gesagt, dieses Ereignis traf, so war es doch ein solches, das gewissermaßen ein Heilmittel in sich selbst trug: es war eben zu arg. Wie konnte, wie durfte ein Mensch, wie ich, fernerhin an eine Zuchthäuslerin – an eine Kindesmörderin auch nur denken! Abscheu und Verachtung mußten da jedes andere Gefühl ersticken. Auch trat ich nicht lange darauf mit meinem Herrn die große Reise nach Paris, London und übers Meer an. Da lernte ich die Welt kennen, von der ich bis jetzt nur ein winziges Stückchen gesehen hatte; läßt sich doch Italien, sosehr kunstverständige Leute dafür schwärmen, mit Frankreich und England nicht vergleichen – geschweige mit Amerika, das die Großartigkeit selbst ist. Ich konnte bei unserer Rückkehr sagen, daß ich mich in jeder Hinsicht ausgebildet hatte, und so durfte ich mich auch der Hoffnung hingeben, mit der Zeit Kammerdiener im gräflichen Hause zu werden. Dies war damals das höchste Ziel, welches mir vor Augen schwebte; denn daß ich einmal eine Stellung wie meine jetzige erreichen würde, ließ ich mir ja nicht träumen. So vergingen zwei Jahre. Da traf es sich, daß mein Herr wieder einmal für ein paar Tage zur Hühnerjagd nach Ostrov ging. Das dortige Schloß hat keinen Überfluß an Räumlichkeiten, daher auch die Jagdgäste ihre Diener nicht mitzunehmen pflegten. Somit hatte ich Ferien, die ich vergnüglich ausnützen wollte. Vor allem dachte ich daran, den Förster Brodsky im Tiergarten-Revier zu besuchen. Der alte Mann, der inzwischen gestorben ist, sah es gerne und war sehr stolz darauf, wenn jemand aus dem Schlosse, der der Herrschaft näherstand, in seine Waldeinsamkeit kam; auch hatte er gutes Bier eingelagert; freilich nur Landbier; aber damals war ich durch das Pilsener noch nicht verwöhnt. Sie wissen, um zu dem Forsthause zu gelangen, muß man an dem sogenannten Feenteich vorüber. Dorthin begab sich früher, als die erlauchten Kinder erst heranwuchsen, die Herrschaft an schönen Nachmittagen sehr oft. Man nahm allerlei Erfrischungen mit, lagerte sich unter den hohen Fichten am Ufer, fischte oder trieb sich in kleinen Booten auf dem spiegelhellen Wasser umher. Aber schon zu jener Zeit war es dort sehr öde. Die Kähne lagen umgekippt auf der Böschung und vermorschten zusamt der Badehütte, die kaum mehr ein Mensch benützte. Als ich mich so gegen Abend dem Teiche zubewegte, sah ich jenseits auf dem brüchigen Stieglein der Hütte eine Frauensperson sitzen, die sich sonderbar ausnahm. Ihr Haar war gelöst, so daß es in langen schwarzen Strähnen Schultern und Rücken bedeckte; das Kleid hatte sie teilweise aufgeschürzt, und einer ihrer Füße hing nackt und bloß ins Wasser hinein. Das Gesicht konnte ich nicht sehen; denn sie saß mit gesenktem Kopfe von mir abgewandt. Als ich näher kam, blickte sie mit einer halben Wendung auf – und nun erkannte ich Milada. ja, sie war es, die jetzt mit einem Schrei emporfuhr, das Stieglein hinan und längs der Uferwandung mit fliegenden Haaren herbeieilte. Bedřich! rief sie, die Arme ausbreitend, Bedřich! Mir war, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich fühlte es wie Blei in den Beinen; aber ich trachtete, so rasch wie möglich fortzukommen, ohne mehr einen Blick auf sie zu werfen. ›Aber Bedřich! so warte doch!‹ rief sie. Ich blieb jetzt stehen, denn sie war schon dicht hinter mir her, und geradezu davonlaufen wollt' ich nicht; das hielt ich unter meiner Würde. ›Na, was gibt's?‹ rief ich, so barsch ich nur konnte. Nun stand sie vor mir und warf mit beiden Händen das Haar zurück. ›Kennst du mich nicht mehr?‹ fragte sie, schwer atmend. Ich hatte mich inzwischen gefaßt. ›O ja, ich kenne dich schon‹ erwiderte ich, ›aber gerade deswegen –‹ ›Verachtest du mich‹, sagte sie mit einem bösen Blick. ›Verachtest du mich, weil ich ins Unglück gekommen bin. Aber wer war schuld daran? Du!‹ ›Ich!?‹ ›Ja, du!‹ wiederholte sie und sah mich mit den schwarzen Augen fest und eindringlich an. ›Kannst du's leugnen, daß du mich gern gehabt hast?‹ ›Wer sagt das?‹ ›Du hast mich gern gehabt – sehr gern. Hast mich's auch anfangs merken lassen. Aber du wolltest es vor den andern nicht zeigen – aus Furcht, es könnte dich in Verruf bringen und dir schaden. Und als du beim jungen Herrn Bedienter geworden bist, hast du dich ganz von mir abgekehrt. Das hat mir weh getan; denn ich hab' dich lieb gehabt. Und deshalb hat's auch der Franzos' durchgesetzt.‹ Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich ärgerte mich, daß sie den Lumpen so nannte. ›Das war kein Franzos'‹, rief ich, ›das war ein Polack!‹ ›Meint'wegen! Mir war ja der Mensch mit seinen angefaulten Zähnen gleich im Anfang zuwider. Aber er ist immer um mich herumgestrichen wie ein spinnender Kater. Auch zu Haus hatt' ich keine Ruh' vor ihm. Brief auf Brief hat er mir geschrieben und mir goldene Berge versprochen, wenn ich ihn heiraten wollte. Er werde sich selbständig machen und irgendwo in einer großen Stadt ein Geschäft einrichten. Da gab ich zuletzt nach. Und als ich am Kirchtag mit ihm zum Tanz ging – da war's auch geschehen. Am nächsten Morgen ist er mit seinem Herrn abgereist – auf Nimmerwiedersehen. Er hat's gewußt – ich nicht.‹ ›Deshalb durftest du doch dein Kind nicht umbringen.‹ ›Mein Gott, ich war verzweifelt! Und eigentlich wollt' ich's ja auch nicht umbringen. In meiner Angst vor dem Vater hab' ich's zwischen Tannenreisern versteckt. Die lagen auf einem Haufen in der Ecke des Hofes, wo ich es spätnachts in dem offenen Scheunchen zur Welt gebracht. Als ich beim ersten Dämmern hinging, um nachzusehen, war es schon tot. Und da hab' ich den Kopf verloren und hab's im Nachbargarten verscharrt, wo man's gefunden hat. Aber was weißt du‹, fuhr sie aufschluchzend fort, ›was weißt du, was in einem unerfahrenen Mädel vorgeht, das die längste Zeit gar nicht begreift, wie etwas, das ihm nur Ekel gemacht, solche Folgen haben kann! Auch die Geschworenen wußten's nicht, die mich schuldig gesprochen. Doch nun ist's abgebüßt. Ein Jahr hat man mir sogar geschenkt, weil ich mich brav gehalten da drinnen. Und jetzt darfst du mich nicht verlassen.‹ ›Was soll das heißen?‹ ›Heiraten mußt du mich, Bedřich! Und dabei trat sie ganz an mich heran und wollte mir die Arme um den Hals schlingen.‹ Das war mir zuviel; ich stieß sie unsanft zurück. ›Du bist närrisch!‹ sagte ich kurz und wendete mich zum Gehen. Sie hielt mich am Arm fest. ›Nein, ich bin nicht närrisch!‹ rief sie. ›Ich will dir sagen, weshalb ich vorhin dort am Teich gesessen bin. Hinein wollt' ich. Was blieb mir auch anderes übrig? Beim Vater halt' ich's nicht aus; der wollte mir ohnehin gleich die Tür vor der Nase zuschlagen. Ein Dienst ist auch jetzt nicht so bald zu bekommen – und eine ganz Schlechte, wie ich sie da drinnen kennengelernt, möcht' ich nicht werden. Aber ich hab' noch zum letztenmal nachgedacht, ob es nicht doch einen Weg gäbe, der mich aus dem Elend hinausführt, ohne daß ich's notwendig hätte, mich umzubringen. Da erblickte ich dich! Das war mir wie ein Fingerzeig!‹ Mir war bei dem allem ganz wirblig im Kopfe geworden. Ich konnte mich, obgleich ich es wollte, nicht losmachen und blieb halb abgewendet stehen. ›Du hast mich ja noch immer gern! Nicht wahr, Bedřich! Schau mich nur an!‹ drängte sie. Ich tat wirklich, was ich vermeiden wollte, und blickte nach ihr hin. Sie stand da, leicht vorgebeugt, die Augen lauernd auf mich gerichtet. Über ihr loses Kleid fielen die Haare bis zur Kniebeuge hinab, und trotz des geheimen Grauens, das ich vor ihr empfand, sah ich, wie schön sie war – eigentlich noch viel schöner als früher, trotz der zwei Jahre, die sie im Zuchthaus gesessen. ›Und ich hab' dich auch noch gern‹ fuhr sie fort. ›Darum wirst du mich nicht verlassen!‹ Sie brachte ihr Gesicht dem meinen so nahe, daß ich ihren Atem spürte. Ich fühlte, wie meine Kraft schwand, und sagte fast kläglich: ›Aber was soll ich denn tun? Du mußt doch einsehen, daß es unmöglich ist – ganz unmöglich –‹ ›Warum sollt' es unmöglich sein?‹ unterbrach sie mich rasch. ›Wenn du nur willst ! Das andere wird sich schon finden. – Aber wohin gehst du denn jetzt eigentlich?‹ Diese Frage gab mir die Besinnung wieder. ›Ich muß zum Förster‹, antwortete ich kurzweg. ›Und das gleich.‹ ›Nun, geh' nur, geh‹, sagte sie, ›ich halte dich nicht länger. Aber morgen kommst du wieder hierher.‹ ›O nein, das werd' ich nicht tun!‹ ›Du wirst schon‹ erwiderte sie, indem sie mir schmeichelnd das Kinn berührte. ›Du hast doch Zeit?‹ Ihre Zuversicht brachte mich auf. ›O ja, Zeit hätt' ich schon‹, rief ich hochmütig, ›denn mein Herr ist auf der Jagd in Ostrov. Aber ich werde nicht kommen.‹ Sie beachtete meine Weigerung gar nicht und sagte nachdenklich: ›Das trifft sich ja gut. Da kann ich dich gleich in der Früh' erwarten. So um acht oder neun. Nicht wahr, du kommst?‹ fügte sie jetzt, mich zärtlich anblickend, hinzu. Und eh ich mich dessen versah, hatte sie mich mit beiden Armen umfaßt und mir einen Kuß auf den Mund gedrückt. Ich riß mich mit Gewalt los und eilte fort. 6. VI. Ich war aber kaum fünfzig Schritte weit in den Wald hineingegangen, als ich den Kuß gewissermaßen nachzuschmecken begann; es war mir, als spürte ich die weichen, warmen Lippen Miladas noch immer auf den meinen. Auch kam mir alles, was sie da gesprochen und vorgebracht hatte, in den Sinn, und je länger ich darüber nachdachte, je mehr wollte es mir scheinen, daß sie eigentlich recht habe. Ja, wenn ich damals mit beiden Händen zugegriffen hätte, es wäre für sie alles anders gekommen! Ich war froh, daß ich endlich das Forsthaus erreicht hatte und so auf andere Gedanken gebracht wurde. Der freudige Empfang, der mir zuteil wurde, die neugierigen Fragen, die der Alte und seine Frau an mich richteten, verscheuchten meine Grillen, so daß ich nach dem Nachtmahl noch ein paar ganz heitere Stunden zubrachte, indem ich mit dem Förster wacker drauflostrank. Aber während des Heimweges durch den stillen, lautlosen Wald überfiel es mich von neuem. Es war eine helle Mondnacht, und als ich wieder an dem Feenteich vorüberkam, da drehte sich mir das Herz förmlich im Leibe herum. Daß ich zu Hause nicht einschlafen konnte, begreifen Sie wohl; und als es endlich geschah, hatte ich die verworrensten und schreckhaftesten Träume. Ich sah das tote Kind versteckt zwischen den Reisern liegen; Milada stand dabei und weinte bitterlich. Plötzlich aber befand ich mich selbst neben ihr – und da lachte sie laut auf und klatschte in die Hände. ›Ach, Bedřich, da bist du! Nun ist alles gut! Du bist ja der Vater!‹ Und nun kamen zwei Gendarmen, um uns zur Trauung in die Kirche zu führen. So tolles Zeug träumte mir. Als ich am Morgen wie zerschlagen erwachte, überfiel mich sofort der Gedanke, daß sie mich heute am Teich erwarte. Hingehen darfst du nicht, sagte ich zu mir selbst, um keinen Preis – sonst bist du ein verlorener Mann! Aber da kam mir der marternde Zweifel, ob denn die Sache, wenn ich nicht hinginge, auch wirklich abgetan wäre? Nein: Milada wird nicht nachgeben, wird alles anwenden, deiner habhaft zu werden. Sie wird jede mögliche Gelegenheit benützen, um dich zu umgarnen. Sie wird dir auflauern – wird sich am Ende vielleicht gar ins Schloß einschleichen! Nein, das wäre entsetzlich! Und so überredete ich mich schließlich, daß es am geratensten sei, hinzugehen und mit entschiedenem Ernst das letzte Wort zu sprechen. Nur so war es möglich, sie zur Überzeugung zu bringen, daß zwischen ihr und mir keine Gemeinschaft bestehen könne. Infolgedessen machte ich mich auch um die achte Stunde auf den Weg. Je näher ich dem Orte kam, desto heftiger pochte mir das Herz. Ich fühlte, daß ich einem schweren Kampfe entgegenging, bei welchem mich der Anblick Miladas wehrlos machen würde. Wiederholt dachte ich daran, umzukehren – aber es zog mich immer wieder vorwärts. Als ich eintraf, saß sie schon in einiger Entfernung vom Ufer auf einer Schicht abgeholzter Baumstämme. Ich hatte vorausgesetzt, daß sie mir entgegeneilen würde, und mich schon zur Abwehr einer Umarmung bereit gehalten. Ich war also fast enttäuscht, als sie sitzen blieb und mich immer näher an sie herankommen ließ. Endlich erhob sie sich und ging langsam auf mich zu. ›Grüß dich Gott, Bedřich!‹ sagte sie ganz ruhig. Ich schwieg und suchte eine strenge Miene anzunehmen, was mir aber nicht gelang, denn ich mußte sie, ob ich nun wollte oder nicht, mit Wohlgefallen betrachten. Sie trug heute ein knappes, lichtes Kattunkleid, das ihr nicht ganz bis zu den Knöcheln reichte und saubere Halbschuhe sehen ließ. In dem sorgfältig aufgesteckten Haar hatte sie ein paar von den gelben Blumen befestigt, die gerade an versumpfenden Uferstellen des Teiches wucherten. Und um Hals und Nacken schimmerte, lose geknüpft, ein blaues Seidentuch, dessen vordere Zipfel sie jetzt mit den Fingern auseinanderzog. ›Kennst du das Tuch, Bedřich!‹ sagte sie und sah mich zärtlich an. ›Es ist dasselbe, das du mir vor fünf Jahren geschenkt. Freut es dich nicht, daß du es noch an mir siehst?‹ Mir wurde ganz wehleidig zumute bei der Erinnerung, und unwillkürlich erwiderte ich: ›Es würde mich schon freuen –‹ ›Wenn es anders wäre‹, ergänzte sie seufzend. ›Auch mir wär's lieber. Aber da es nicht so ist, so müssen wir trachten, daß es anders wird. Hast du schon darüber nachgedacht?‹ Jetzt war der entscheidende Moment da; jetzt galt es, sich unerschütterlich zu zeigen. Ich raffte also meine ganze Kraft zusammen und sagte: ›O ja, ich habe nachgedacht. Und deshalb bin ich auch gekommen, um dir zu sagen –‹ ›Sag's nicht, Bedřich‹, unterbrach sie mich rasch, indem sie mir die Hand vor den Mund hielt. ›Sag's nicht! Es kommt dir doch nicht vom Herzen. Aber ich hab' auch nachgedacht und herausgefunden, daß alles ganz gut zu machen ist, wenn du nur willst.‹ ›Ich will aber nicht!‹ stieß ich mit Anstrengung hervor. ›O, du willst schon!‹ erwiderte sie, sich an mich schmiegend, ›du willst schon! Du getraust dich nur nicht, es dir einzugestehen – gerade so wie damals. Aber wie's auch sei: anhören mußt du mich.‹ Das hätt' ich nun rundweg abschlagen sollen. Aber ich brachte es nur zu einem kleinlauten: ›Was nützt's, wenn ich dich anhöre?‹ ›Hör nur, und du wirst sehen, daß ich recht habe. Aber da unten beim Wasser wollen wir nicht bleiben; es könnte doch irgendwer vorüberkommen. Gehen wir höher in den Wald hinauf.‹ Und sie bewegte sich auch gleich, ohne meine Einwilligung abzuwarten, dem nächsten Pfade zu, der sich steil durch die Fichten emporwand. Ich hätte umkehren sollen. Aber ich tat's nicht, sondern folgte der schlanken Gestalt, die den Saum ihres Kleides aufgenommen hatte und leicht vor mir herschritt. So gelangten wir höher und höher und kamen endlich zu einer kleinen Felsengruppe, die auf einer freieren Stelle zwischen jungen Schößlingen emporragte. Milada hielt still und blickte um sich. ›Da wollen wir sitzen‹, sagte sie und ließ sich, ihr Kleid zusammennehmend, an einem der Felsblöcke in trockenes Moos nieder. Mir hatte das Herz schon während des Anstieges heftig zu schlagen begonnen, und jetzt, da ich mich in dieser völligen Abgeschiedenheit mit ihr allein sah, faßte mich eine Art Taumel, so daß ich gegen meinen Willen neben ihr hinsank. ›So, nun wollen wir reden‹, fuhr sie fort, indem sie meine Hand ergriff. ›Glaub' mir, Bedřich, ich weiß recht gut, wie dir zumut ist, und begreif's auch, daß du dich nicht gleich in alles finden kannst. Aber es wird schon gehen; man muß dir nur den Weg zeigen und dich darauf hinführen.‹ Ich wollte meine Hand zurückziehen; sie aber hielt sie zwischen ihren beiden fest. ›Schau, Bedřich, dein Herr hält große Stücke auf dich und ist dir sehr gewogen. Wenn du ihn schön bittest, so gibt er dir gewiß irgendeinen Posten. Etwa als Aufseher oder Wagmeister in einer der Fabriken – oder auch bei den Kohlenwerken in Schlesien. Dann kannst du mich heiraten.‹ Das war so recht nach Weiberart gedacht und brachte mich wieder zu mir selbst. ›Da sieht man‹ versetzte ich ärgerlich, ›wie leicht du alles nimmst! Wahr ist es schon, mein Graf hält große Stücke auf mich. Aber gerade deswegen wird er mich auch nicht von sich lassen wollen. Jedenfalls aber würde er mich fragen, weshalb ich mir eine solche Veränderung wünsche. Und wenn er dann erführe, daß ich dich heiraten will – nun, ich will dir nicht weh tun. Aber das Weitere kannst du dir denken.‹ Sie blickte finster vor sich hin. ›Ja, ich kann es mir denken. Aber du kannst ihm auch sagen, daß du an meinem Unglück schuld bist – und daß du's wieder gutmachen willst.‹ ›Dann würd' er mich für verrückt halten!‹ fuhr ich auf. ›Und mich vielleicht davonjagen – aber mir gewiß keinen anderen Posten geben.‹ ›Das wär' auch noch nicht das Ärgste!‹ rief sie heftig, und ihre Augen blitzten. ›Dann gehst du mit mir in eine Gegend, wo uns niemand kennt. Du hast dir gewiß etwas erspart, und ein Handwerk verstehst du auch. Wir werden uns schon fortbringen. Daher ist es vielleicht das beste, wenn du gleich ohne weiteres den Dienst kündigst.‹ ›Was? Ich selbst sollte den Dienst kündigen?‹ ›Warum denn nicht? Bist du etwa bei der Herrschaft angebunden?‹ ›Ja, ich bin angebunden! Seit fünfzehn Jahren werd' ich dort gehalten wie das Kind im Haus. Der Herrschaft verdank' ich alles. Das sind meine Wohltäter!‹ ›Dafür aber hast du ihnen auch das Deine geleistet! Mehr als jeder andere!‹ ›Das war meine Pflicht. – Aber das verstehst du gar nicht.‹ Sie merkte wohl, daß sie mich an einer Seite gefaßt hatte, wo mir nicht beizukommen war. Denn sie lenkte plötzlich ein und sagte ganz weichmütig: ›O ja, ich versteh' es schon, ich versteh' es schon. Ich weiß, daß du ein treues Herz hast, und begreif's, daß du an der Herrschaft hängst; ich war ja selbst gern dort. Aber schau, Bedřich, ein wenig mußt du jetzt auch an mich denken. Und dann: so gut ein Dienst ist – eine eigene Wirtschaft ist besser. Und wenn du ein Weib hast, das dich gern hat –‹ Sie hatte sich bei diesen Worten mit halbem Leibe über mich gebeugt und blickte mir, den Arm um meine Schultern legend, eigentümlich in die Augen. ›Ja, ein Weib, das im Zuchthaus gesessen!‹ wollt' ich ausrufen und sie von mir stoßen. Aber ich vermocht' es nicht. Ihr Blick hatte etwas Lähmendes; ich war wie betäubt. ›Schau'‹, fuhr sie fort, ›ich will dich ja nicht zwingen. Folg nur dir selber. Ich werde einstweilen für vierzehn Tage nach Lettowitz gehen. Dort lebt ein Geschwisterkind meiner seligen Mutter, die alte Hudetz. Die behält mich gewiß einige Zeit bei sich; denn ein paar Gulden hab' ich mir – du weißt schon, wo – erarbeitet – und in Taglohn kann ich vielleicht auch gehen; der Ort ist groß, und niemand kennt mich. Dort also erwart' ich dich. Du wirst schon kommen, wie du heute gekommen bist. Du würdest sonst keine ruhige Stunde mehr haben, das weiß ich. Du kannst nicht mehr sein ohne mich!‹ Sie zog mich plötzlich mit aller Kraft an sich, preßte ihre halb geöffneten Lippen auf die meinen und küßte mich, als wollte sie mir die Seele aussaugen. Die Sinne vergingen mir; ich wußte nicht mehr, was ich tat – und umfing sie jetzt gleichfalls.« 7. VII. »Ich brauche wohl nicht erst zu sagen«, fuhr Herr Fridolin nach einer Pause tiefaufatmend fort, »daß diesem Rausch ein entsetzlicher Katzenjammer folgte. Als ich mich nach ungefähr einer Stunde von Milada getrennt hatte, war es mir, als sollt' ich jetzt gleich in den Feenteich hineingehen, dort, wo er am tiefsten ist. Was ich geahnt, gefürchtet, es hatte sich vollzogen, im Handumdrehen vollzogen: ich war ihr verfallen mit Leib und Seele. Was sollte nun geschehen!? Ratlos irrte ich unten am Waldrand längs der Felder hin und her; wohin ich die Gedanken wendete, überall eine Mauer, an welcher ich mir, wenn ich wollte, den Schädel blutig stoßen konnte. Ein wahres Glück, daß mein Herr erst morgen zurückkam; denn heute wär' ich außerstande gewesen, meinen Obliegenheiten nachzukommen. Aber es war auch am nächsten Tage nicht viel anders, und mich wundert's heute noch, daß der Graf nichts gemerkt oder mich doch wenigstens wegen meiner vielen Verstöße und Ungeschicklichkeiten nicht einen Esel über den anderen genannt hatte. Auch im Laufe der Woche blieb es so. Ich rang nach Entschlüssen und wußte nicht, was ich tun sollte. Etwas mußte geschehen – aber was ? Den Dienst aufgeben? Ihnen kann ich's ja sagen: so gut die Herrschaft war und ist, sie würde die Kündigung nicht angenommen haben. ›Was fällt dir ein, Fridolin?‹ hätt's geheißen. ›Nein, mein Lieber, wir brauchen dich, du bleibst!‹ Und wenn ich's auch in irgendeiner Weise durchsetzen würde – was dann? Heiraten, die Milada heiraten, auf die man, wenn wir auch an einen anderen Ort gingen, früher oder später mit Fingern weisen konnte? Nein, nie und nimmer! Denn dieser Gedanke war der entsetzlichste und machte mich fast wahnsinnig. Und dabei hatte ich doch das Gefühl, daß ich wirklich nicht mehr ohne sie leben könne. Sehen Sie (Herr Fridolin schlug jetzt verschämt die Augen nieder), ich war bis zu dieser Zeit das gewesen und geblieben, was man so beim weiblichen Geschlecht eine Jungfrau nennt. Ich hatte mich, obgleich mir auf unseren Reisen manche Gelegenheit geboten war, niemals mit irgendeinem Frauenzimmer eingelassen – und ich befand mich ganz wohl dabei. Nun aber hatte mit einemmal ein so höllisches Feuer in mir zu brennen angefangen, daß mir beständig zumute war wie einem Hirsch im September und daß ich an mich halten mußte, um nicht sofort nach Lettowitz zu laufen. Es war zum Verzweifeln! Als ich mich so in einer schlaflosen Nacht mit allem Möglichen und Unmöglichen abquälte, durchzuckte es mich plötzlich: ›Wie, wenn du mit Milada nach Amerika gingest?!‹ Und kaum war dieser Gedanke in mir aufgeblitzt, als er mir schon zur überzeugenden Vorstellung, zum weitausgreifenden Vorsatz wurde. Ja, auf diesem Wege war Rettung möglich, ließ sich alles durchsetzen, wovor ich bis jetzt zurückgeschaudert war. Was ich in dem merkwürdigen Lande gesehen und vernommen hatte, bestärkte mich in dem Glauben. Dort, wo sich kein Mensch um die Vergangenheit des andern kümmert, war es mir ganz ohne Scheu möglich, Milada zu heiraten. Und welche Erwerbsquellen standen mir in New York offen, wo die reichsten Leute nicht um schweres Geld die notwendige Dienerschaft auftreiben können – wo gewisse Handleistungen mit Gold aufgewogen werden müssen! Ein Stiefelputzer zum Beispiel kann dort seine zehn Dollars im Tag Einnahme haben. Mir schwindelte der Kopf! Ganz so leicht, wie sie gedacht wurde, ließ sich die Sache freilich nicht ausführen. Das Haupthindernis blieb noch immer bestehen; nämlich der Umstand, daß von der Herrschaft nicht loszukommen war. Es mußte also eine Art Flucht ins Werk gesetzt werden. Und im Nu hatte ich mir auch in dieser Hinsicht mit einer ganz niederträchtigen Findigkeit, von der ich heute gar nicht begreife, wie ich sie haben konnte, alles zurechtgelegt. Ich besitze eine Schwester, die einen Schuster in der Hanna geheiratet hatte und mit ihrem Manne und mehreren Kindern noch heute dort lebt. Wir hatten uns, offen gestanden, die ganze Zeit über den Teufel umeinander gekümmert, wie das so bei Geschwistern geht, die schon als Kinder getrennt werden. Jetzt aber wollt' ich vorgeben, daß ich sie nach so vielen Jahren wiedersehen möchte, um bei dieser Gelegenheit mit ihr über eine kleine Erbschaft zu verhandeln, die uns von seiten eines entfernten Verwandten zufallen dürfte. Ich würde also um einen achttägigen Urlaub bitten, den man mir nicht gut versagen konnte. Diese acht Tage genügten doppelt, um Hamburg zu erreichen. Ich hatte dort zufällig einen Auswanderungsagenten kennengelernt, einen gewissen Swinemann, dem ich mich, da wir uns ja nicht vor dem Arm der Gerechtigkeit flüchteten, vollkommen anvertrauen konnte. Geld besaß ich in Hülle und Fülle; denn Sie können sich denken, daß ich mir im Laufe der Zeit etwas zurückgelegt hatte. Also würde auch Swinemann mit allem einverstanden sein und uns an Bord bringen, von wo aus ich meinem Herrn ein reumütiges Geständnis ablegen und ihn um Verzeihung bitten wollte. Dieser, wie gesagt, ganz niederträchtige Plan beruhigte mich dermaßen, daß ich nun sofort einschlief. Am nächsten Tage galt es, einen günstigen Augenblick zu erhaschen, um dem Herrn meine Bitte vorzutragen. Ich fand ihn schon am Morgen, als ich beim Ankleiden behilflich war, in guter Laune, was sonst nicht immer der Fall zu sein pflegte; faßte mir also gleich ein Herz. Er schenkte mir, seine erste Zigarette anzündend, wohlwollendes Gehör, und nachdem ich geendet hatte, sagte er: ›Nun, Fridolin, du hast dich fünfzehn Jahre lang nicht von uns weggerührt – die acht Tage Freiheit kann man dir schon gönnen. Es trifft sich auch insofern gut, als ich mich selbst für einige Zeit zu meiner Schwester in Steiermark begeben will, wohin ich dich ja nicht mitzunehmen brauche. Wenn du Lust hast, kannst du sogar länger ausbleiben – vierzehn Tage. Wann willst du denn schon fort?‹ Ich erlaubte mir zu sagen, je eher, je lieber. ›Nun, so bring mir alles in Ordnung, und dann kannst du morgen mit dem Nachtzuge abgehen.‹ Ich war miserabel genug, ihm mit Zeichen tiefer Rührung und Dankbarkeit die Hand zu küssen. Jetzt aber mußte Milada in Kenntnis gesetzt werden, die mich gewiß schon erwartete; denn es waren an die zehn Tage vergangen, seit ich sie in Lettowitz wußte. Dieser Ort ist von hier drei Bahnstationen entfernt, die sich allerdings einander ganz nahe befinden; man muß aber doch eine gute Stunde fahren. Eine Stunde Aufenthalt, eine andere zur Rückfahrt; also im ganzen drei Stunden. Das stimmte zu den beiden Postzügen, die, sich kreuzend, auf der Strecke verkehren. Aber woher die Zeit nehmen? Der Satan half mir auch da. Denn der Graf kündigte mir an, daß er sich in Geschäften mit dem Eilzuge nach Brünn begeben und bis zum Diner ausbleiben werde. Der Eilzug ging um elf; ich konnte also um Mittag an die Bahn zum Postzug zurechtkommen. Milada hatte mir das Haus, wo sie ihren Aufenthalt genommen, sehr kenntlich bezeichnet. Eine kleine Kalupe an der waldigen Hügellehne oberhalb der großen Mühle, die gleich am Eingang des Ortes steht. Ich sah die Hütte schon vom Bahnhof aus und ging ohne weiteres darauf los. Als ich mich der Tür näherte, kam hinten herum ein altes Weib mit einem Reisigbündel zum Vorschein und sah mich mit kleinen Triefaugen verschmitzt an. ›Was ich da wolle?‹ ›Zur Milada will ich.‹ ›Die ist jetzt nicht da.‹ ›Wo ist sie denn?‹ ›In der Mühl' unten.‹ ›Was tut sie denn dort?‹ ›Sie hilft mit im Schüttkasten.‹ ›Aber ich muß mit ihr reden.‹ Die Alte zögerte. ›Seid Ihr vielleicht der Herr Kammerdiener?‹ ›Ja.‹ ›Na, ich werd' sie holen. Geht einstweilen hinein.‹ Sie warf das Bündel weg und humpelte, während ich ins Haus trat, den Abhang hinunter. In der niederen Stube, der einzigen, die es neben der kleinen Küche gab, zeigte sich alles sauber und ordentlich gehalten; nur die Luft war dumpf und modrig, obgleich das Fenster offenstand. An der einen Wand erblickte ich ein kurzes, schmales Bett mit hochgeschichteten Federpfühlen; ein bunter Frauenrock war neben einem Strumpfpaare darüber ausgelegt; unter dem Bett sahen zwei kleine Schuhe hervor. Das also war Miladas Lager; die Alte mochte sich auf der Bank in der Nähe des Ofens behelfen. Auf die setzte ich mich jetzt und wartete, während an der Decke die Fliegen surrten. Eine Viertelstunde verstrich, und niemand kam. Ich sah auf die Uhr. Schon fünfundzwanzig Minuten über eins und um zwei muß ich zur Rückfahrt wieder an der Bahn sein! Endlich wurde die Tür aufgestoßen, und Milada, mit erhitztem Antlitz und flatterndem Kopftuche, stürzte herein und auf mich zu. › Du bist da, Bedřich!‹ rief sie wie überrascht. ›Ja, ich bin da. Hast du mich denn nicht erwartet?‹ ›Freilich hab' ich dich erwartet! Längst schon erwartet! Und was bringst du mir?‹ fuhr sie fort, indem sie mir forschend in die Augen blickte. ›Großes und Wichtiges habe ich für dich‹, erwiderte ich. ›Setz dich zu mir und hör mich an.‹ Wir ließen uns auf die Bank nieder, und nun begann ich, ihr alles auseinanderzusetzen. Ihre Züge wurden dabei immer ernster, und ihr Blick senkte sich zu Boden. Als ich geschlossen hatte, trat eine Pause ein. Endlich sagte sie: ›So weit, Bedřich! so weit – gar übers Meer.‹ Ich hatte Jubel erwartet und war daher sehr enttäuscht. ›Es ist der einzige Weg!‹ rief ich zornig. ›Es gibt keinen anderen – und wenn du ihn nicht mit mir gehen willst, so ist auch alles aus. Denn hier im Lande gibt es nun einmal keine Gemeinschaft zwischen uns!‹ Sie war ganz blaß geworden. ›Nun, nun, sei nur nicht gleich so bös‹, entgegnete sie finster. ›Ich habe nur darüber nachgedacht.‹ Es reute mich, daß ich sie so hart angelassen. ›Verzeih' mir, Milada‹, sagte ich. ›Aber siehst du, ich hatte geglaubt, es würde dich freuen –‹ ›Es freut mich ja auch‹, erwiderte sie einlenkend. ›Und ich gehe mit dir, wohin du willst – bis ans Ende der Welt. Aber wie werden wir's denn anfangen?‹ ›Ganz einfach. Ich für meine Person reise morgen nachts ab.‹ ›Schon morgen?‹ ›Es muß sein. Und du übermorgen. In Wischau treffen wir zusammen.‹ ›Wischau? Wo ist das?‹ ›Nicht weit von Brünn. Aber ich habe dir hier alles Nötige aufgeschrieben; du kannst nicht fehlgehen.‹ Damit reichte ich ihr ein Blatt aus meiner Brieftasche, das ich während der Fahrt hierher vorbereitet hatte. Sie sah auf den Zettel nieder, dann hob sie die Augen. ›Bedřich!‹ sagte sie, ›das hätte ich dir nicht zugetraut.‹ ›Ich mir selbst nicht. Aber jetzt sollst du mich kennenlernen. Jetzt sollst du sehen, wie ich bin, wenn ich etwas durchsetzen will.‹ Und während ich dies ausrief, umschlang ich sie; denn ihre Nähe hatte schon längst auf mich gewirkt wie der Funke auf den Zunder. Es war, als wollte sie mich abwehren, aber schon im nächsten Augenblick erwiderte sie meine Umarmung mit leidenschaftlichen Küssen. Dabei glitt ihr das lose Kopftuch in den Nacken, und mein Blick fiel auf eine frische, halb aufgeblühte Rose, die sie im Haar trug. ›Woher hast du die Rose?‹ fragte ich, während mich ein eigentümliches Gefühl überkam. ›Die Rose?‹ entgegnete sie unbefangen, aber doch errötend, und langte mit der Hand danach. ›Die ist aus dem Mühlgarten.‹ ›Aus dem Mühlgarten? Wie kommst du denn da hinein? Und kann man dort gleich alles abreißen?‹ ›Ach was‹, sagte sie kurz, ›der Müller hat sie mir gegeben.‹ ›Der Müller?‹ Und nun fiel mir ein, daß ich von dem schon reden gehört. ›Ich glaube gar, du bist eifersüchtig‹, lachte sie. ›Das ist ja ein alter Mann.‹ ›Das tut nichts‹, erwiderte ich. ›Es ist in der Gegend bekannt, daß er noch immer den Frauenzimmern nachstellt – ärger als ein Junger.‹ Sie zog die Brauen zusammen. ›Was kümmert das mich. Er hat mir die Rose über den Zaun geworfen – und ich hab' sie nicht liegenlassen. Aber nimm du sie jetzt.‹ Sie zog die Rose aus dem Haar und steckte sie mir ins Knopfloch. ›Da, du Kindskopf! Aber weißt du, es freut mich doch, daß du eifersüchtig bist, denn das zeigt mir, daß du mich gern hast.‹ Und dabei zog sie mich wieder an sich und küßte mich, daß ich vor Seligkeit fast verging. Aber plötzlich durchzuckte es mich, und ich riß mich los. ›Ich muß fort!‹ sagte ich. ›Jetzt schon?‹ ›Ja, sonst versäum' ich den Zug, und ich darf nachmittags im Schloß nicht fehlen. Also gib auf den Zettel wohl acht. Es ist alles genau aufgeschrieben. Nimm sowenig mit wie möglich. Ich kauf' dir schon, was du brauchst. Hast du Geld zur Fahrt?‹ Ich griff in die Tasche. ›Laß nur. Wenn's nicht weit ist – ein paar Gulden hab' ich schon, das weißt du ja.‹ ›Nun also. Heut' ist Samstag; morgen, Sonntag, reise ich – Montag oder längstens Dienstag du. Laß' mich nicht unnötigerweise in Wischau warten.‹ ›Gewiß nicht! Ach, Bedřich, wenn du wüßtest, wie mir ist!‹ Sie barg ihr Haupt an meiner Brust. ›Froh sollst du sein!‹ sagte ich mit einem letzten Kusse. ›Aber da hör' ich den Zug pfeifen!‹ Damit riß ich mich los und lief den Abhang hinunter. In der Nähe des Bahnhofes, wo bereits das Glockenzeichen ertönte, sah ich zurück. Sie stand vor dem Hause und winkte mit dem Tuche. Ich hatte gerade noch Zeit, auf den Tritt des letzten Waggons zu springen.« 8. VIII. Herr Fridolin hatte hier seine Erzählung abgebrochen und einen ängstlichen Blick nach der Uhr getan. »Die Zeit drängt«, sagte er, »und so will ich ohne weitere Auseinandersetzungen gleich daran anknüpfen, daß ich an einem regnerischen Morgen in Wischau eingetroffen war. Ich hatte diesen Ort, in dessen Umgebung meine Schwester lebte, als erste Station gewählt, obgleich damit ein Umweg eingeschlagen wurde. Denn ich mußte zum Schein den vorgeblieben Zweck meiner Reise verfolgen, der im Schlosse allgemein bekannt geworden war. Wischau ist ein kleines Städtchen mit einem geräumigen Hauptplatze, wo ich, als ich dort im Gasthof zur Krone abstieg, rings im Kreise hölzerne Buden aufgeschlagen fand; ein Zeichen, daß heute Jahrmarkt abgehalten wurde. Das war mir ganz recht. Denn Sie begreifen, daß mir jetzt, da der erste Schritt getan war, mein Vorhaben in seiner ganzen Tragweite aufs Herz fiel und daß mich schwere Gewissensbisse sowie bängliche Gedanken hinsichtlich der Zukunft zu quälen begannen; einige Zerstreuung konnte mir also nur willkommen sein. Nachdem ich ordentlich gefrühstückt hatte, legte ich mich in meinem Zimmer zu Bett und schlief nach einer durchwachten Nacht bis in den Mittag hinein. Als ich ans Fenster trat, sah es unten auf dem Platze ziemlich leer aus; aber eine Stunde später wimmelte es bereits von Menschen, die sich trotz des schlechten Wetters unter ausgespannten Regenschirmen an den Buden vorbeidrängten. Ich mischte mich nun auch in das Gewimmel, nahm alles in Augenschein und erstand nebst anderen Gegenständen für Milada einen karierten Plaid mit Tragriemen, eine geräumige Ledertasche, einen halbseidenen Schirm – und schließlich einen kleinen Hut von feinem Filz, wie ihn die Damen auf der Reise zu tragen pflegen. Nachdem ich das alles in mein Zimmer geschafft hatte, flanierte ich so herum; denn es gab allerlei zu sehen, sogar ein Theater in dem Saale eines anderen Gasthofes, wo obendrein die Nacht durch getanzt wurde. Am anderen Morgen trat ich vor das Haustor. Denn es war festgesetzt, daß sich Milada gleich von der Bahn weg in den Gasthof begeben sollte. Doch wer nicht kam, war sie. Es ärgerte mich, denn ich hatte trotz allem schon große Sehnsucht nach ihr empfunden und konnte es kaum mehr erwarten, sie bei mir zu haben. Aber ich dachte mir: nun, vielleicht wollte sie nicht bei Nacht fort und macht sich erst jetzt auf den Weg. Der Tag schlich so dahin; der Abend kam, Milada nicht. Nun wachte ich dem nächsten Morgen wie im Fieber entgegen – aber Milada blieb aus. Wie war das zu deuten? Sollte sie gar nicht die Absicht gehabt haben, zu kommen, und mich hier ohne weiteres sitzen lassen? Das wäre niederträchtig! Und doch empfand ich bei diesem Gedanken fast eine wohltuende Erleichterung. Oder sollte sie etwa gar mit dem alten Kerl, dem Müller? – Mein Herz zog sich zusammen. Aber nein! Nein! Sie kann ja krank geworden sein – kann, ungenau und unbeholfen, wie Weibsleute in solchen Dingen sind, die rechte Strecke verfehlt haben und Gott weiß wohin gefahren sein! Unter solchen ratlosen Vermutungen, davon eine die andere kreuzte, brachte ich den Tag hin – auch den nächsten. Endlich, am vierten, erhielt ich einen Brief, den ich heute noch auswendig weiß, da er nur aus ein paar Zeilen bestand: ›Lieber Bedřich! Ich kann mit Dir nicht nach Amerika gehen, denn ich heirate den Müller. Sei mir nicht bös. Es wäre Dir doch ein Opfer gewesen, das Du früher oder später bereut hättest. Deine Milada.‹ Das Papier glitt mir aus der Hand, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als wäre mit ihm ein Stein von meiner Brust gefallen. Doch gleich darauf packte mich die Eifersucht und ein grimmiger Haß gegen den Müller, den ich niemals im Leben gesehen hatte. Wie toll rannte ich im Zimmer umher und entwarf die schrecklichsten Rachepläne, die alle auf eine Mordgeschichte hinausliefen, wie man sie jetzt fast täglich in den Zeitungen zu lesen bekommt. Aber nach und nach wurde mir immer deutlicher, daß es ja für mich das größte Glück wäre, wenn die Ehe mit dem Müller zustande käme. Aber wird dies auch wirklich geschehen? Konnte das Ganze nicht bloß ein Vorwand sein, auf daß ich wieder zurückkehrte und alles so bliebe, wie es war? Das ließ sich eben nicht herausbringen, und so erübrigte mir nichts, als abzuwarten, wie sich die Dinge gestalten würden. Indessen galt es doch, zu überlegen, was vorderhand zu tun sei. Sofort zur Herrschaft zurückkehren wollte ich nicht; denn es hätte den anderen Dienstleuten seltsam erscheinen müssen, wenn ich nicht einmal die verlangten acht Tage fortgeblieben wäre. Ich beschloß also, aus der Not eine Tugend zu machen und nun wirklich meine Schwester in dem Dorfe Remojan aufzusuchen, das anderthalb Stunden von Wischau entfernt liegt. Da das Wetter gut war, machte ich mich gleich zu Fuß auf den Weg, fand aber nicht den freundlichsten Empfang. Meine Schwester wollte mich die längste Zeit gar nicht wiedererkennen und tat sehr zurückhaltend; mein Schwager Schuster desgleichen. Schließlich bedauerte man, daß gar nichts im Hause sei, um mir einen Imbiß vorsetzen zu können, wofür ich auch bestens dankte. Erst am nächsten Tage, als ich mit einem leichten Fuhrwerk kam, meiner Schwester die Sachen mitbrachte, die ich für Milada gekauft hatte, und jedem der fünf Kinder einen Silbergulden in die ungewaschene Patschhand drückte, tauten die Leute auf und flossen zuletzt so von Zärtlichkeit über, daß sie mich noch ein paar Tage in Nemojan festhielten, wo sich im Wirtshause ein nicht ganz unbewohnbares Zimmerchen für mich vorfand. Dort zechte ich auch tüchtig mit meinem Schwager, dem jetzt die Zeit ein einziger blauer Montag war; aber ich konnte doch meine innere Unruhe nicht übertäuben, die mich endlich zur Heimkehr trieb. Jetzt sollte sich mein Schicksal entscheiden! Als ich an einem schönen Herbstnachmittage mit meinem Handkoffer durch das Schloßportal trat, war die erste Person, die ich erblickte, Katinka, meine jetzige Frau. Sie saß im Vorhof unter der breiten Esche, die schon ganz gelb gefärbt war, und strickte an einem langen weißen Strumpfe. Als sie mich sah, öffnete sie den Mund vor Überraschung und wurde blutrot im Gesicht. ›Je, du bist schon da, Fridolin!‹ rief sie. ›Wie du siehst.‹ ›Nun, das freut mich.‹ ›Auch soviel.‹ ›Ich hatte gedacht, du würdest länger ausbleiben. Wie ist's dir denn ergangen? Deine Schwester wird sich wohl auch recht gefreut haben, dich wiederzusehen.‹ ›Na, so so. Gibt's was Neues im Schlosse?‹ ›Gar nichts. Dein Herr ist noch in Steiermark. Über etwas aber wirst du dich doch wundern.‹ ›Über was denn?‹ ›Erinnerst du dich an die Milada?‹ Mir gab es einen Riß durch den ganzen Leib. Aber ich erwiderte so unbefangen wie möglich: ›Warum sollt' ich mich nicht an die erinnern? Sie war ja lang genug im Schloß.‹ ›Und daß sie ihr Kind umgebracht hat, weißt du auch. Vor ein paar Wochen ist sie aus dem Zuchthaus gekommen – und jetzt heiratet sie der Müller Mussil in Lettowitz.‹ ›Den kenn' ich nicht‹, sagte ich, mich zusammennehmend. ›Ein alter Mann, schon an die siebzig, der aber noch immer den Teufel im Leib hat. Nächsten Sonntag werden sie aufgeboten, ein für allemal.‹ ›Nächsten Sonntag schon!‹ schrie ich, mich vergessend. ›Sie haben Eile not‹, fuhr Katinka trotzdem ahnungslos fort, ›der Kinder des Müllers wegen, die freilich längst selbst verheiratet sind und schon vor Jahren ihr Erbteil voll ausgezahlt erhalten haben. Aber sie könnten doch noch allerlei dagegen tun. Er hat dem ältesten Sohn, der in Brünn einen großen Mehlhandel betreibt, auch noch die Mühle abtreten müssen, um ihn ganz herumzukriegen. Er selbst behält sich nur einen Wirtschaftshof in der Nähe von Trübau, der freilich groß genug und an die Zehntausend wert sein soll. Dort will er mit der Milada leben, der er, wie es heißt, den Hof für den Fall seines Todes verschrieben hat.‹ In diesem Augenblick kam vom Schloß aus ein Wagen herangerollt; die Frau Gräfin machte ihre gewohnte Spazierfahrt. Wir nahmen Stellung und verneigten uns ehrerbietig. ›Siehst du‹, sagte Katinka, als der Wagen draußen war, ›siehst du, wie recht Ihre Erlaucht damals gehabt hat. Wer weiß, was noch alles geschieht. Gar zu gut wird sie's bei dem Müller nicht haben. Der hat schon drei Weiber ins Grab gebracht. Nun, sie wird wohl glauben, daß er bald stirbt; aber das ist einer von denen, die hundert Jahre alt werden.‹ Ich hatte genug und ließ Katinka allein, die an ihrem Strumpfe weiter strickte. Als mir jetzt das Schloß in seiner ganzen Ausdehnung vor Augen kam, als ich alles Bekannte und Gewohnte wiederfand – da übermannte es mich, und in meinem Zimmer, das ich für immer hatte verlassen wollen, brach ich in Tränen aus. Aber sie flossen auch um Milada. Das Gespräch mit Katinka hatte alle Erinnerungen in mir aufgewühlt, und ich empfand, wie sehr ich diese falsche Schlange noch liebte. Nach einer gewissen Zeit hörte ich den Wagen zurückkommen, und gleich darauf erschien der Bediente, der auf dem Bock gesessen, an meiner Tür. ›Fridolin, du sollst sofort zur Frau Gräfin kommen!‹ rief er herein und entfernte sich wieder schleunigst. Ich erschrak. Sollte man etwas erfahren haben? Und will man mich jetzt zur Rede stellen? Aber was war zu tun? Ich wusch und kämmte mich rasch, dann ging ich mit klopfenden Herzen hinauf. Ihre Erlaucht befand sich in dem Balkonzimmer, wo sie sich des abends gewöhnlich vorlesen ließ. Aber sie war noch allein, empfing mich freundlich und stellte, während ich aufatmete, einige wohlwollende Fragen, die den Aufenthalt bei meiner Schwester betrafen. Nachdem ich dieselben untertänigst beantwortet hatte, schwieg sie eine Zeitlang, dann fragte sie plötzlich: ›Wie gefällt dir denn die Katinka?‹ Ich war ganz betroffen und wußte nicht, was ich erwidern sollte. ›Nun‹, sagte ich endlich, ›die Katinka – die Katinka ist ein recht angenehmes Mädchen.‹ ›Nicht wahr? Und auch ein braves Mädchen ist sie. Möchtest du sie heiraten, Fridolin?‹ Jetzt war ich vollständig paff und wußte schon gar nicht, was ich sagen sollte. ›Heiraten – ja – heiraten – daran hab' ich bis jetzt nicht gedacht, Erlaucht.‹ ›Dann kannst du jetzt daran denken. Offen gesagt: es wär' uns erwünscht, wenn ihr beide ein Paar würdet. Unter dieser Bedingung steht dir für deine langjährigen treuen Dienste eine Belohnung in Aussicht. Wir wollen nämlich den Zimmerwärter pensionieren und dir den Posten geben.‹ Um mich her drehte sich alles, und mühsam stammelte ich einige mir selbst unverständliche Worte. ›Nun, nun‹ sagte die Gräfin, ›ich begreife, daß du dich nicht so ohne weiteres entschließen kannst. Denk darüber nach. Beschlaf die Sache – und morgen meldest du mir, was du zu tun gesonnen bist.‹ Damit reichte sie mir die Hand zum Kusse und entließ mich sehr gnädig.« * * * Hier hielt Herr Fridolin inne und blickte wieder nach der Uhr, deren Zeiger fünf Minuten vor sechs wies. »Bis hierher und nicht weiter«, sagte er jetzt. »Alles übrige wissen Sie ohnehin.« Damit stand er auf und näherte sich dem Kleiderrechen an der Wand. »Nein«, rief ich, »ich weiß nicht alles! Wie war es mit Milada? Hat sie den Müller wirklich geheiratet?« Er hatte inzwischen seinen Mantel umgeworfen und kehrte, die Mütze in der Hand, an den Tisch zurück. »Ja, sie hat ihn geheiratet und ist nach zwei Jahren Witwe geworden. Eine Zeitlang hieß es, sie habe den Alten mit Gift ins Jenseits befördert. Aber das wird wohl bloßes Gerede gewesen sein; es wären ja sonst die Gerichte eingeschritten. Nicht lange darauf hat sie ihren Schaffer zum Mann genommen, dem sie auch ein Kind geboren. Sie selbst aber ist im Wochenbett gestorben.« Die Uhr hob schnarrend an, sechs zu schlagen. Fridolin zuckte zusammen. »Gute Nacht!« Und damit stürzte er aus dem Zimmer, mich der ungestörten Nachwirkung seiner Erzählung überlassend. Diese bewies zwar nicht ganz die Stärke seiner Leidenschaft – aber sie sprach für sein Glück. Ninon 1. I. Die Maskenbälle, welche im Karneval des Jahres 186* im Theater an der Wien stattfanden, gehörten zu den glänzendsten und besuchtesten der Saison. Ein unternehmender Direktor, der die Leitung der Bühne erst vor kurzem übernommen, hatte sie nach Art der Pariser Opernbälle ins Werk gesetzt und damit den Wienern, welche zu derlei Vergnügungen bis jetzt nur die Redoutensäle und einzelne größere öffentliche Lokale gekannt, etwas ganz neues geboten. Mehr als einmal war ich, in jener Gegend wohnend, des nachts an dem strahlend erleuchteten Portal vorübergeschritten, hatte rasche Wagen anfahren und halbverhüllte Frauengestalten in reizenden Kostümen oder Balltoiletten aussteigen sehen, ohne daß mich die Lust angewandelt hätte, das bunte Treiben, von dem man sich Wunderdinge erzählte, näher in Augenschein zu nehmen. Endlich jedoch, als ich gerade in vorgerückter Nachtstunde aus einer Gesellschaft nach Hause ging und also schon im Frack steckte, faßte ich plötzlich den Entschluß, eine Karte zu lösen. Den hellen, reich ausgeschmückten Raum betretend, fand ich, daß derselbe keineswegs überfüllt, sondern weit weniger belebt war, als ich erwartet hatte. Die Logenreihen wiesen viele Lücken auf, und die nicht sehr zahlreichen Insassen blickten, wie es schien, etwas gelangweilt auf die Maskenschwärme hinab, die sich unten ziemlich durchsichtig hin und her bewegten. Indessen erkannte ich bald, daß ich während einer längeren Ruhepause gekommen war; ein großer Teil des Publikums mochte den Saal verlassen und die angrenzenden Speise- und Erfrischungsräume aufgesucht haben. Als jetzt das Orchester plötzlich eine rasche Tanzweise erklingen ließ, strömte es auch wirklich von allen Seiten zu, so daß endlich eine dichte Menge in lustigem Walzer durcheinander wogte. Nun zeigten sich auch mehr oder minder interessante Erscheinungen. Stadtbekannte Persönlichkeiten der Aristokratie und der Finanzwelt, hervorragende Mitglieder des Parlaments, Schriftsteller und Künstler. Unter den letzteren ein damals vielgenannter polnischer Maler in Nationaltracht, der seine bezaubernd schöne Schwester in gleicher Kleidung am Arm führte. Sehr zahlreich war die Schauspielkunst vertreten. Neben einer ebenso berühmten wie berüchtigten Lokalsängerin fiel ein neugewonnenes weibliches Mitglied des Burgtheaters durch vornehme Haltung und klassischen Adel des Profils ganz besonders auf. Die Dame ließ sich von einem zur Zeit bühnenbeherrschenden Autor begleiten und zog einen langen Schweif neugieriger Bewunderer nach sich. Dennoch fühlte ich mich gewissermaßen enttäuscht; ich hatte mehr Fülle und Triebkraft im ganzen, mehr lebensfreudige Hingabe im einzelnen erwartet. Es war doch eigentlich nur eine Zurschaustellung, welche trotz allen äußeren Glanzes etwas innerlich Beengtes und Frostiges hatte. So schritt denn auch ich ohne rechten Anteil in dem Gewoge einher, das sich jetzt, da wieder eine Tanzpause eingetreten war, in weitem Rundgang durch den Saal bewegte. Mit einemmale fühlte ich, wie sich von rückwärts ein Arm unter den meinen schob, und hörte eine künstlich fistelnde Stimme fragen: »Bist du auch da?« Ich blickte erstaunt und forschend auf die weibliche Maske, die jetzt an meine Seite getreten war und sich sehr zutraulich an mich schmiegte. Eine nicht allzu große, volle Gestalt in einem blaßblauen, mit schwarzen Spitzen verbrämten Domino. »Wie du siehst, bin ich da,« erwiderte ich endlich. »Ich kann dir jedoch deine geistreiche Frage nicht zurückgeben; denn ich vermag schlechterdings nicht zu erraten – –« »Das glaub' ich,« versetzte sie. »Aber betrachte meine Hand; vielleicht bringt sie dich auf die Spur.« Ich blickte auf die entblößte Hand nieder, die auf meinem Arm ruhte. Es war eine sehr schöne Hand; etwas fleischig zwar, aber doch lang und edel gestreckt, die Fingerspitzen leicht nach aufwärts gebogen. Keine Überladung mit Ringen; ein einziger flacher Goldreif, an welchem eine feine, nicht allzu kostbare Perle schimmerte, hob sich geschmackvoll von der elfenbeinartigen Blässe der Haut ab. »Nun?« fuhr die Maske fort. »Kannst du nichts herausbringen? Du rühmtest dich doch stets, einen sehr scharfen Blick für Hände zu haben, und auch nur einmal gesehene nie wieder zu vergessen. Und die meine hast du sehr oft gesehen – ja du hast sie sogar besungen.« »Besungen? Das muß eine Zeit her sein. Denn mit derlei geb' ich mich schon lange nicht mehr ab.« »Es ist auch schon lange – so an die zehn Jahre. Meine Augen hatten dich übrigens gleichfalls poetisch begeistert, und du glaubtest damals etwas ganz neues zu sagen, indem du sie Veilchenaugen nanntest.« »Noch immer besser, als wenn ich sie mit Vergißmeinnichten verglichen hätte,« erwiderte ich, indem ich mich umsonst bemühte, aus den ziemlich farblosen Augenflächen, die durch die Schlitze der schwarzen Samtlarve blinkten, eine Vorstellung zu gewinnen; »ich wäre nun erst recht Lügen gestraft.« »Na, ich will nicht schuld sein, daß du dir dein bißchen Gehirn überanstrengst. Ich werde mich demaskieren; mir ist ohnehin schon fürchterlich heiß unter diesem Schwitzvisir.« Dabei machte sie die Larve los und wandte mir ein breites, weißes Antlitz zu, in dessen schlaffen, gleichsam plattgequetschten Zügen ich mich nicht sofort zurechtfinden konnte. Endlich hatte ich ein volles Bild gewonnen. »Nina!« rief ich aus. »Ja, Nina«, entgegnete sie, plötzlich in den niedrigsten Wiener Dialekt verfallend und mit einer Stimme, deren Klang ein Heer von Erinnerungen in mir wach rief. »Nina – oder besser g'sagt: Krawall-Ninerl! Das hätt'st dir net verhofft, mich wieder z'finden – und gar auf an Elitball. Net wahr? Hast g'wiß g'laubt, i wär' schon längst in an Spital' z' Grund gangen – oder gar wo anders, wo's no schlimmer is. – Es war auch nicht weit davon«, fuhr sie, da ich nichts erwiderte, im früheren Hochdeutsch fort; »aber da siehst du, daß nicht bloß die Tugend besteht. Mach' doch nicht ein gar so dummes Gesicht! Schauen wir lieber, daß wir aus dieser Tretmühle hinauskommen; die Tanzerei wird ohnehin gleich wieder losgehen – und darüber sind wir beide erhaben. Wir wollen irgend einen stillen Winkel aufsuchen, wo wir eine Zigarette rauchen und von alten Zeiten plaudern können. Auch ist mir, offen gestanden, einigermaßen flau im Magen und ich möchte etwas zu mir nehmen. Erschrick nicht! Ich denke an kein Souper mit obligatem Champagner. Das Saufen hab' ich mir abgewöhnt; – bin überhaupt solid geworden. Eine Tasse Tee mit einigem kalten Aufschnitt genügt vollkommen.« Sie hatte mich bei diesen Worten nach dem Seitengange gezogen, der in ein geräumiges Büffetzimmer führte. In der Mitte dieses schmalen Korridors war ein großer, von zwei Gasflammen beleuchteter Spiegel angebracht. Davor hielt sie mich zurück, so daß wir nun beide unser Bild vor Augen hatten. »Nun, wir nehmen uns noch ganz erträglich aus«, sagte sie. »Könnten Mann und Frau sein. Bedankst dich – was? Du hast übrigens im Laufe der Jahre gewonnen. Siehst ganz stattlich aus. Ich aber bin leider sehr stark geworden und muß mich abscheulich schnüren. Und was sagst du zu meinem Gesicht?« Sie ließ die Kapuze des Dominos ganz in den Nacken fallen, so daß ihr Haupt mit dem dichten, trockenen, fahlroten Haar frei zum Vorschein kam. Es war in der Tat ein merkwürdiger Kopf, der trotz der verquollenen Gesichtszüge einen fesselnden Eindruck machte. Infolge eines eigentümlich schmerzhaften Zuges, der sonderbarerweise seit jeher um diese blaugrauen Augen, um diesen herben, fast leblos blassen Mund gelegen hatte, mahnte er an die berühmte tête de cire im Museum zu Lille. »Du sagst ja gar nichts. Schön bin ich freilich nie gewesen –« »Aber bezaubernd. Jeder, der etwas tiefer in dein weißes Gesicht geblickt hatte, war auch in dich verliebt.« »Mit Ausnahme deiner Wenigkeit«, sagte sie wegwerfend. »Ich war eben vorsichtig.« »Ja, du gingst mir aus dem Wege – und machtest nur hinterrücks schlechte Verse auf mich. Konnte mir auch ganz recht fein; denn du warst damals – offen gestanden – ein ausnehmend fader Jüngling. Übrigens«, fuhr sie fort, indem sie ganz dicht an den Spiegel trat und sich wohlgefällig betrachtete, »hast du nur die Wahrheit gesagt. Es waren alle wie toll in mich verliebt. Ich weiß eigentlich selbst nicht warum –« »Weil du stets im Innersten kalt bliebst.« »Kalt? Nun ja. Wenn ich da überall hätte glühen sollen, wäre gar bald nur mehr ein Häuflein Asche von mir geblieben. Wenn ich so zurückdenke in die Zeit, wo du noch ein junger Leutnant warst, ist mir's, als wär' ich schon hundert Jahre alt. Mein Gott, der arme Rudi!« »Ja, der arme Rudi,« wiederholte ich still. Der Schatten des einstigen Kameraden war schon längst vor mir aufgestiegen. »Und weißt du, daß ich damals, als er sich erschoß, auch nicht so viel –« sie schnippte mit den Fingern – »dabei empfunden hatte! Eigentlich hat er's ja auch nur seiner Schulden wegen getan.« »Die er für dich gemacht.« »Ah pah! Für mich – oder für eine andere, das blieb sich gleich. Es lag ihm so im Blute.« »Mag sein. Aber er war auch eifersüchtig –« »Dumm genug. Es war ihm doch bekannt, daß ich von einer Hand in die andere ging. Das wußte jeder und mußte sich's gefallen lassen – er aber wollte der einzig Geliebte sein. Gerade so wie auch damals der junge Maler, dem ich Modell stand zu einer Laïs oder Phryne. Ein letzter hoffnungsvoller Rahlschüler, der sich mittlerweile aufs Porträt geworfen hat, weil es mit den griechischen Schwarten nicht mehr ging. Er wollte mich um jeden Preis heiraten, und bald wär's zum Duell gekommen zwischen ihm und einem seiner Kollegen, der dasselbe wollte. Das war nun wieder ein Nazarener aus der Schule Führichs, malte mich als Madonna – und hat mich bei den Sitzungen mit verdrehten Augen angebetet wie eine wirkliche. Lächerlich!« »Nun, es hat mancherlei in dir gesteckt«, sagte ich nachdenklich. »Es quirlte nur alles so durcheinander.« Sie blickte schweigend vor sich hin. »Ja, ich war eine Canaille«, sagte sie dann mit einer Art von teuflischer Genugtuung. »Aber komm, gehen wir zum Tee.« Wir begaben uns also in das Büffetzimmer, wo es in diesem Augenblick ganz still und menschenleer war, und ließen uns an einem Ecktischchen nieder. Während der Aufwärter den gewünschten Imbiß brachte, und Nina behaglich träg zulangte, dachte ich an Vergangenes ..... Ja, das Weib, das jetzt, in zunehmender Fülle verblühend, vor mir saß – ich hatte es schon in seiner ersten Jugend gekannt. Als ein ganz verlorenes, verkommenes Ding, mit einem zerschlissenen Fähnchen auf dem Leibe, mit defektem Schuhwerk und zerknittertem Hütlein. Aber sie hatte den Wuchs einer Hebe, und ihr lichtes, von zerzausten rötlichen Haaren umschimmertes Gesicht übte eine wundersame Anziehungskraft aus. Die Züge waren schon damals so, als hätten sie in ihrer ursprünglich reinen Bildung einen leichten, entstellenden Druck erhalten. Und doch – welch ein Reiz lag in dem etwas schief stehenden Näschen, in dem weichen und doch energischen Kinn – in dem eigentümlichen Schnitt und Blick der Augen. Es waren wirklich Veilchenaugen, wenn sie freundlich oder zärtlich blickten, aber stahlgrau und stahlhart in Stunden oder Tagen des Schmollens und Grollens. Und solche Stunden und Tage waren bei Nina nichts seltenes. Wie ein Aal wußte sich dann das schlanke Geschöpf jeder verlangenden Umarmung zu entwinden und die rosigen Nägel der zarten Finger zur Abwehr zu gebrauchen. Dafür aber gab sie sich, wenn man es am wenigsten erwartete, ganz plötzlich, wie dem Antrieb einer Laune folgend, hin, und oft erschien sie ganz unvermutet in irgend einer Offizierswohnung, um dort die Nacht zuzubringen. Manchmal kam sie recht ungelegen; sie kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf sich, müd und abgehetzt, wie sie war, aufs Sofa oder ins Bett und schlief sofort ein. Denn sie hatte, wie man wußte, keinen eigentlichen »Unterstand« und verbrachte die Tage in den Straßen der Stadt und der Vorstädte, in Ateliers von Malern und Bildhauern, denen sie als Modell diente – oder sonst wo. Bei aller Unbildung – sie konnte kaum lesen und schreiben – besaß sie Geist, Urteilskraft und stets schlagfertigen, sarkastischen Witz; sie konnte oft Aussprüche tun, über die man erstaunte. Habgierig und eigennützig war sie in der Regel nicht, vielmehr mit allem zufrieden, was man ihr anbot; sie wurde selten unwillig, wenn man ihr nicht einmal ein bescheidenes Souper vorsetzen konnte. Sie aß überhaupt fast nichts, mochte nicht einmal Süßigkeiten; aber für Alkohol zeigte sie eine entschiedene Vorliebe. Sie trank alles Trinkbare – sogar Rum, davon sie einmal bei einer Orgie soviel auf einen Zug zu sich nahm, daß sie zum allgemeinen Entsetzen wie tot hinfiel. Sich zu berauschen, gewährte ihr offenbar das höchste Vergnügen, obgleich sie dabei in eine finstere, zornige Stimmung verfiel. Sie begann dann mit heiserer Stimme vom Jahre 1848 zu sprechen und er zählte, wie sie als halbwüchsiges Mädchen zuerst mit den Studenten, später mit den Brüdern »Arbeitern« ausgezogen war und sich, an Straßentumulten teilnehmend, zum ersten Male auf der Höhe einer Barrikade preisgegeben habe. Dabei wurde sie ganz wild, schalt uns Offiziere feile Knechte der Tyrannei, und begann derart zu toben, daß sie Gläser und Teller nach unseren Köpfen warf und mit Gewalt zur Ruhe gebracht werden mußte. Infolgedessen wurde sie auch »Krawall-Ninerl« genannt. Zuweilen aber konnte sie ganz weichmütig und sentimental werden, erzählte von ihrem armen Vater, der ein zugrunde gegangener Tischlermeister gewesen – und von ihrer unglücklichen Neigung zu dem schönen Peppi. Dieser schöne Peppi war damals Heldenspieler an einem Vorstadttheater, ein arger Schreier und Kulissenreißer; aber er entzückte sein Publikum als Karl Moor, als Graf Wetter von Strahl und in ähnlichen Rollen; die Frauen vom »Grund« waren alle vernarrt in ihn. Aber der stolze Histrione fand das verwahrloste Mädchen unter seiner Würde und ließ es unerhört vor seiner Türe schmachten und winseln. So wenigstens berichtete Nina mit stammelnden Lippen und schluchzte und heulte dabei wie ein Kind. Wir anderen lachten darüber; aber dem armen Rudi, der sie leidenschaftlich liebte und sie durch allerlei Opfer eine Zeitlang an sich gefesselt hatte, zerfleischten solche Erzählungen das Herz, in welches er sich zuletzt die todbringende Kugel gejagt hatte ..... »Aber jetzt sag' mir doch«, begann nunmehr Nina, die ihren Appetit mittlerweile gestillt hatte, »sag' mir doch, lieber Alter, wie kommst du denn eigentlich zu dem schwarzen Frack? Ich hatte einige Mühe, dich darin wieder zu erkennen, und auf der Straße wären wir wohl beide fremd aneinander vorübergegangen. Hast du etwa eine Unannehmlichkeit gehabt? Oder warst du vielleicht töricht genug, in Zivildienste zu treten, um irgend ein edles Mädchen, das die Kaution nicht auftreiben konnte, unter die Haube zu bringen?« »Keines von beiden. Du weißt doch –« »Nu ja, ich weiß, daß du dich schon damals mit der Idee trugst, Schriftsteller zu werden. Aber Mensch, du wirst doch nicht von der Feder leben? Oder hast du vielleicht eine Erbschaft gemacht?« »Das letztere keineswegs.« Sie sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Verachtung und Mitleid an. »Also wirklich! – Aber weißt du was?« setzte sie plötzlich hinzu, »du hattest ja nicht bloß lyrische Gedichte, sondern auch Trauerspiele im Sinn. Schreib' mal 'ne Rolle für mich.« »Für dich?« »Nun ja. Auch ich habe mich, wie du mich hier siehst, der Kunst gewidmet und werde demnächst als Schauspielerin auftreten.« »Du?« »Was ist dabei zu staunen? Mit dem früheren Leben hält's eben nicht mehr. Du darfst übrigens nicht glauben«, fuhr sie, den Kopf zurückwerfend, fort, »daß es mir späterhin so elend ergangen ist, wie in meiner schönen Jugend. O nein! Auch ich hatte, nachdem ich noch manches Arge und Ärgste überstanden, meinen Grafen, meinen Baron – und schließlich einen Bankier. Aber so alt dieser dicke Jude selbst war, ich erschien ihm im Laufe der Zeit nicht mehr jung genug, und da er überdies fallierte, so stand ich schließlich allein da. Das aber brachte mich zur Erkenntnis, daß ich mir einen neuen Nimbus anschaffen müsse. Und so gehe ich denn zum Theater.« »Ja – aber wie –?« »Ja aber wie?« wiederholte sie höhnisch. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon sich euere Weisheit nichts träumen läßt – obgleich sie sehr leicht auf die Spur geraten könnte. Erinnert man sich denn gar nicht mehr an meine unglückliche Jugendleidenschaft? An den schönen Peppi?« »O ja; ich erinnere mich schon. Der Bühnenlöwe aus der Vorstadt –« »Dieser Löwe hat ausgebrüllt. Das heißt, er ist alt und zahnlos geworden; auch die Mähne hat er verloren. Und da er selbst nicht mehr tragieren kann, so hat er eine Art Schauspielschule errichtet, von der er lebt. Merkst du nun? Und hast du vielleicht eine Ahnung davon, daß sich derzeit der Spieß umgekehrt hat? Der ergraute Löwe – oder eigentlich Esel, der mich einst mit Füßen von sich gestoßen, ist jetzt bis über die Ohren in mich verliebt. Dabei aber hat er herausgefunden, daß das Zeug zu einer großen Tragödin in mir steckt.« Ich sah sie an. Während der letzten Worte hatte ihr Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck angenommen. Es streckte sich gewissermaßen in die Länge, die Augen öffneten sich weit, und der kräftige blasse Mund verzerrte sich zu einer schmerzvollen Grimasse. Der ganze Kopf hatte jetzt wirklich etwas von einer antiken tragischen Maske. »Vielleicht hat der Löwe von ehedem recht«, sagte ich nachdenklich. »Allerdings ist es ein wenig spät –« »Spät? Wie alt bin ich denn? Fünfundzwanzig Jahre – du kannst ja nachrechnen. Der neue Stern des Burgtheaters, den ganz in der Nähe leuchten zu sehen, ich eigentlich hierher gekommen, ist keineswegs jünger – und gleichfalls aus dem Nichts aufgegangen. Wir können noch Rivalinnen werden. Schon am nächsten Sonntage trete ich im Pasqualatti-Theater auf.« »Dort?« »Du weißt, eine Versuchsbühne. Und als erstes Debut werde ich die Maria Stuart spielen.« »Die Maria Stuart –« »Eigentlich lächerlich, was? Denke dir nur: wenn die einstige Krawall-Ninerl so heraustritt« – sie beugte sich vor und breitete die Arme aus –: ›Eilende Wolken, Segler der Lüfte!‹ Und daß ich besser sei, als mein Ruf, könnte ich auch nicht behaupten. Aber was willst du? Meinem alten Löwen steckt nun einmal der Jambus im Leibe – und er will mir ihn mit Gewalt einimpfen. Da er mir nun auch ein Engagement zu verschaffen gedenkt, muß ich mich fürs erste fügen. Später werde ich schon mit anderem hervortreten – etwa mit der Cameliendame. Das ist zwar auch eine abgespielte, weinerliche Komödie. Ich würde etwas ganz Neues brauchen, etwas Unerhörtes – noch nie Dagewesenes. Aber der Mann, der das schriebe, müßte erst geboren werden. Ihr deutschen Dichter habt schon gar nicht das Zeug dazu und kommt aus euerer langweiligen Rührseligkeit nicht heraus. – »Aber«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, indem sie mit weit aufgerissenem Munde laut gähnte, »ich bin nachgerade müde und schläfrig geworden und möchte nach Hause. Geh', hol' einen Wagen.« Sie hatte mich bei dieser Aufforderung leicht mit der Fußspitze angestoßen, und da mir selbst eine Verlängerung dieses Beisammenseins keineswegs erwünscht war, so beglich ich die Rechnung und zögerte nicht, dem Wunsche nachzukommen. Ein Fiaker war bald zur Stelle. Ich öffnete den Wagenschlag und ließ Nina, die bereits, in einen grell karrierten Mantel gehüllt, unter dem Portal stand, einsteigen. »Wohin soll dich der Kutscher bringen?« fragte ich. »Du wirst mich doch nicht allein fahren lassen?« rief sie mit einem bösen Blicke. »Das muß ich mir ausbitten!« Ich stieg also zu ihr ins Coupé. Sie wohnte irgendwo »Unter den Weißgerbern«, und der Wagen rollte rasch über das feuchte, leicht beschneite Pflaster dahin. »Schau«, begann Nina nach einer Weile schweigenden Nebeneinandersitzens, »schau, da wären wir wieder einmal ganz traulich beisammen. Wir könnten uns sogar küssen. Aber ich bin ja jetzt solid«, fügte sie wie abwehrend bei, da sie meinerseits keinerlei Anstalten zu näherer Anschmiegung wahrnahm. »Wo wohnst du denn?« Und da ich keine zureichende Antwort gab, drückte sie sich in die Ecke und sagte mit unverhehltem Ärger: »Du brauchst nicht so geheimnisvoll zu tun, ich werde dich nicht überfallen; davor bist du sicher. Aber mein Debut mußt du mit ansehen. Darauf besteh' ich. Ich werde dir gleich eine Karte geben, die dir den Eintritt verschafft; denn die Vorstellung ist sozusagen eine geschlossene.« Sie kramte in ihrem Geldtäschchen und zog aus mehreren Visitenkarten eine hervor, die ich zu mir steckte. Nun war auch der Wagen bald vor dem Hause angelangt, das Nina beherbergte. Ich half ihr beim Aussteigen und zog rasch die Torklingel; denn ein kalter Schneeregen schlug uns ins Gesicht. Zum Glück ließ der Hausmeister nicht lange auf sich warten. Nina reichte mir rasch die Hand. »Also nächsten Sonntag. Vergiß nicht!« Sie verschwand unter dem Tor, das dröhnend ins Schloß fiel. Ich schickte jetzt den Wagen fort; denn trotz des bösen Wetters fühlte ich das Bedürfnis, zu Fuß nach Hause zu gehen. Die reine Luft tat mir wohl, wie ich so durch die stillen dunklen Gassen schritt. Schon ließ sich der anbrechende Morgen spüren; hinter manchem Fenster und in früh geöffneten Läden schimmerte Licht. Die Begegnung hatte niederdrückend auf mich gewirkt. Mahnte sie doch eindringlich an eine Vergangenheit, welche völlig zu überwinden und abzutun ich damals bestrebt war. 2. II. Auch am nächsten Tage hielt diese Verstimmung an, und wurde zu einer recht ärgerlichen Empfindung, als mir die Karte, die ich von Nina erhalten hatte, wieder in die Hand und deutlich vor Augen kam. »Fräulein Ninon Ninoni.« Und unten in der Ecke: »für den Abend des 20. Februar im Pasqualatti-Theater.« Ich brach in ein bitteres Lachen aus. Zwar hatte ich schon damals den Bühnen und ihren Leitern gegenüber herbe Erfahrungen gemacht, hatte tiefer, als mir lieb sein konnte, in diese Welt des doppelten Scheines hineingeblickt; aber noch waren die Ideale meiner Jugend: die großen Dramen unserer großen Dichter, die großen Leistungen unserer großen, nach und nach dahingehenden Schauspieler in mir lebendig geblieben. Und nun sollte ich mit ansehen, wie dieses herzlose, frivole, freche Geschöpf, die Nina-Ninon, als Maria Stuart auftrat! Wie drastisch hatte sie selbst den Widerspruch, der darin lag, hervorgehoben! Nein, nie und nimmer! Und doch! War nicht die Mehrzahl der Bühnenkünstlerinnen ähnlich geartet? Konnte sie nicht wirklich begabt sein? Schauspielerisches Wesen ist ja dem Geschlechte mehr oder minder angeboren, und diesem weiblichen Proteus konnte man schon eine gehörige Dosis davon zutrauen. Auch waren ja ihre geistigen Anlagen keine gewöhnlichen, und im Verlauf der Jahre schien sie sogar für einige Bildung gesorgt zu haben. Wer weiß also? Außerdem: der gänzlichen Talentlosigkeit, dem bloßen Dilettantismus erschloß sich auch dieses Versuchstheater nicht, das ja bekanntermaßen als Vorhalle größerer Bühnen galt. Es wäre immerhin interessant – und man sollte doch sehen. Wohlan, ich werde mich einfinden! – Der Sonntag war da – und mit ihm ein wahres Frühlingswetter, wie es oft im Februar einzutreten pflegt, um bald wieder einem harten Nachwinter Platz zu machen. Ich ging schon früh am Nachmittage fort; denn ich wollte die Zeit bis zur Theaterstunde im sonnigen Freien zubringen. Langsam schritt ich die Favoritenstraße hinauf, die feiertäglich menschenleer war; nur selten rollte ein Wagen an mir vorüber. Alle Kaufläden waren geschlossen, die Häuser wie ausgestorben; unter den Toren standen müßige Dienstmägde, die gelangweilt in den hellen Tag hinausblickten. Auch draußen vor der Linie alles still und öde. Wo mochten die Menschen sich aufhalten, von denen es hier im Laufe der Woche wimmelte? Einzelne Fußgänger, meist Arbeiter im Sonntagsstaat, schlichen über die leere Fläche vor dem Südbahnhofe, der sich auch ausnahm, als wäre heute jeder Verkehr eingestellt; das Pfeifen und Brausen eines eben näherkommenden Zuges ließ freilich diese Täuschung nicht aufkommen. Ich durchschritt nun den Viadukt und betrat den Vorort Favoriten, welcher damals in seiner ersten weiteren Ausbreitung begriffen war. Dort herrschte schon regeres Leben. In der Hauptstraße schritten unternehmend herausgeputzte Mädchen, barhäuptig und mit rauschenden, gesteiften Röcken, an der Seite von jungen Burschen und Soldaten auf und nieder; aus mancher der zahlreichen Gastwirtschaften klang fröhliche Musik, wie es schien, schon jetzt zum Tanze einladend. Auf einem wüsten Baugrunde, wo bereits einzelne Anfänge stattlicher Gebäude zu sehen waren, hatte sich ein »Ringelspiel« angesiedelt, und eine Schar lärmender Rangen trieb dort beim Klange einer Drehorgel ihr Wesen. Bald war das freie Feld mit seinen öden Sandstätten erreicht, darauf noch stellenweise angehäufter, schmutziger Schnee lag; doch wehte es wie ein Hauch des Lenzes darüber hin; es war, als sollte jetzt und jetzt eine Lerche schmetternd in die Luft emporsteigen. Aber es blieb alles still, und die Steinumrisse der »Spinnerin am Kreuz« blickten ernst durch die beginnende Dämmerung zu mir herüber. Ich kehrte jetzt im Rundgange, an dem schweigenden Friedhof vorbei, durch die Matzleinsdorfer Linie zurück und trat, da es noch immer nicht Theaterzeit war, in ein nahes Kaffeehaus, wo eine Gesellschaft von Pfahlbürgern beim gemütlichen Tarock saß, während eine Anzahl jüngerer Leute am Billard sich vergnügte. Ich blieb bei meiner Tasse und den Zeitungen bis gegen sieben Uhr sitzen; dann begab ich mich in den kleinen, versteckten Musentempel. Die Räume waren noch sehr dürftig erhellt, und eine moderige Kühle schlug mir samt dem eigentümlichen Mißduft eines wenig besuchten Theaters entgegen. Die Karte, die ich vorwies, eröffnete mir einen Sitz in der letzten Reihe; er war so eng und unbequem, daß ich kaum Platz finden konnte. Nach und nach durchdrang mein Auge die herrschende Dunkelheit und nahm den abgeschabten Bühnenvorhang wahr, auf dem eine Lyra samt anderen Attributen der dramatischen Kunst zu sehen war. Endlich wurde der Kronleuchter angezündet und verbreitete einiges Licht, so daß ich doch auch die übrigen Besucher unterscheiden konnte, die sich nunmehr rasch nacheinander, einzeln und in Gruppen, eingefunden hatten. Die meisten waren auf den ersten Blick als Bühnenangehörige und solche, die es werden wollten, zu erkennen. Man sah untergeordnete Mitglieder, männliche und weibliche, der Vorstadttheater; aber auch an ›Hofschauspielern‹ fehlte es nicht, welche in der Regel Aufwärter und Bediente darstellten, oder auch bloß bei der Komparserie beschäftigt waren. Sie saßen ganz vorne in den ersten Reihen und strichen sich, genial die Häupter zurückbiegend, das Haar zu recht, während die betreffenden Damen riesige Fächer aufklappten. In den wenigen Logen befand sich ein höchst seltsames Publikum. Man wußte nicht, was man aus den Leuten machen sollte, die sich, teils wunderlich herausgeputzt, teils in vernachlässigten Hausanzügen an den Brüstungen zeigten. In der Loge, welche sich der Bühne zunächst befand, hatte eine ganze Familie Platz genommen; der jüngste Sprößling, etwa sechs Jahre alt, kramte begehrlich in einer großen Zuckerdüte, die man ihm beim Eintritt gereicht haben mochte; es waren gewiß alle nähere Bekannte der Debütantin. Nun begann auch schon das lückenhafte Orchester eine schwindsüchtige Ouvertüre; die Bühnenklingel ertönte, die Lyra rollte sich mit dem Vorhang in sich selbst zusammen – und Hanna Kennedy, eine kleine dicke Person, begann den armen Ritter Paulet kreischend herunterzukanzeln. Aber da kam auch sie – Maria Stuart, im Schleier, ein Kruzifix in der Hand. Ich gestehe, daß ich überrascht war, so schön, so ganz ihrer Rolle angemessen sah Nina aus. Sie hatte sich möglichst schlank gemacht; die Sammethaube, der historische Kragen hoben ihr schimmerndes Antlitz hervor, welches sie so trefflich herzurichten gewußt, daß es fast dem ihrer Jugend gleich kam. Und sie sprach auch, abgesehen von der gewiß angelernten Unart, die Konsonanten zu brechen, und die Vokale zu dehnen, ganz gut, wußte sich in den vorgeschriebenen Resignationston mit entsprechendem Augenaufschlag vollständig hineinzufinden. Dabei keine Spur von Befangenheit; vielmehr, wenn auch noch keine Routine, so doch eine gewisse familiäre Vertrautheit mit den Bühnenbrettern, als habe sie sich Zeit ihres Lebens darauf bewegt. Nur darin zeigte sie sich noch als Neuling, daß sie ihrem Mortimer gegenüber nur mühsam das Lachen verbeißen konnte. Dieser unglückliche Schwärmer wurde gleichfalls von einem Anfänger, einem hageren Jüngling mit auffallend kurzem Oberleib und dementsprechend langen, nach auswärts gedrehten Beinen dargestellt, welcher mit jedem Worte, jeder Geberde den damals so gefeierten Joseph Wagner kopierte, und schließlich mit aller Gewalt durch eine bloß gemalte Dekorationstür abgehen wollte. Als der Vorhang fiel, wurde Fräulein Ninoni stürmisch gerufen; nicht mit Unrecht, denn für ein erstes Auftreten hatte sie wirklich ganz ausgezeichnet gespielt. Sie erschien dreimal an der Rampe, von dem alten Löwen, der nicht wieder zu erkennen war, im Triumphe hinausgeführt. Der zweite Akt, in welchem sie nicht auftrat, verlief sehr eintönig. Denn die übrigen Rollen waren mit Schauspielern vom Handwerk besetzt, die hier gegen ein »Weniges« aushalfen und ihre Aufgaben mehr oder minder erträglich durchführten. Nun kam der dritte Akt und mit ihm der Höhepunkt des Stückes. Ich war neugierig, wie sich Nina bei der leidenschaftlichen Begegnung der beiden Königinnen bewähren würde. Wenn ich an ihre einstigen Zornausbrüche (allerdings im berauschten Zustande) dachte, an das maßlos heftige Wesen, das sie dabei hervorkehrte: so ließ sich jetzt eine packende und überzeugende Darstellung erwarten. Aber seltsam: gerade dieser affektvollen Szene schien sie nicht gewachsen zu sein. Sie tobte zwar, überschrie sich zum Schlusse: dennoch hatte ihr Spiel etwas Falsches, Dünnes, Eingelerntes. Sie konnte sich offenbar in die Empfindung des ins Innerste getroffenen Weibes nicht finden und tastete mit Worten und Geberden unsicher vor sich hin. Jetzt erkannte man, daß ihr die Rolle wirklich nicht lag; den ruhigen, kalten, giftigen Haß der Elisabeth hätte sie gewiß besser zum Ausdruck gebracht. Dennoch erhielt sie ungeheuren Beifall, in welchen sogar ein junger, über Nacht berühmt gewordener Charakterdarsteller des Burgtheaters mit einstimmte. Er war plötzlich in einer bis jetzt leeren Loge aufgetaucht, und indem er den interessanten Kopf mit dem schlichten, straffen Haar wohlwollend vorstreckte, bewegte er leicht die Fingerspitzen gegeneinander. Doch ebenso plötzlich verschwand er wieder. Er hatte sich offenbar auf dringende und demütige Bitte des alten Löwen für eine Viertelstunde in das entlegene Theater begeben, um sich die »große Streitszene« anzusehen und sein Urteil abzugeben. Auch ich hatte nunmehr genug und verließ den engen Raum, wo es nachgerade schon unerträglich heiß geworden war. Wozu hätte ich mir auch noch die berufene »Abschiedsszene« auferlegen sollen? Hatte ich doch bereits die Überzeugung gewonnen, daß die Debütantin nicht ohne Talent war. Ganz gewiß: sie besaß genau so viel Talent, wie Hunderte neben ihr; sie konnte getrost alles spielen, was man ihr zu spielen gab: Maria Stuart und Deborah, Iphigenie und die Waise von Lowood, Adelheid im Götz und die Kameliendame – ja selbst, wenn es gerade not tat, auch die »Nandl« im »Versprechen hinter'm Herd«. Es handelte sich also nur mehr um ein Engagement – und das würde sie schon finden; sie hatte ja einen Gönner und Förderer. Wie es mit dem »Nimbus« aussehen werde, den sie sich zulegen wollte, mochte freilich dahingestellt bleiben. Indes, auch der konnte sich ja noch einstellen ..... So dachte ich, während ich jetzt durch die abendlich belebten Gassen schritt, um mein gewohntes schlichtes Gasthaus aufzusuchen, wo ich dann, einsam wie immer, bei einem Glase Bier weiter über Kunst und Künstler nachsann. * * * Schon in den nächsten Tagen meldeten einige Zeitungen, daß Fräulein Ninon Ninoni infolge ihres glänzenden Debüts als Maria Stuart einen sehr vorteilhaften Antrag von seiten des Stadttheaters zu O ... erhalten und angenommen habe. Die Laufbahn war also eröffnet – und schien schon ein Jahr darauf mit einem Engagement an einer kleinsten deutschen Hofbühne – ich hatte von dieser Tatsache durch ein obskures Theaterblättchen, das mir ganz zufällig in die Hände kam, Kunde erhalten – auch abgeschlossen zu sein. Denn seither war und blieb Nina – für mich wenigstens – verschollen. 3. III. Die Bahnstation P ... in Steiermark ist ein Kreuzungspunkt vieler nach allen Richtungen verkehrender Züge, und die meisten Reisenden sind gehalten, dort umzusteigen, oder auf spätere Weiterbeförderung zu warten. Daher bietet auch der Bahnhof stets ein sehr belebtes und bewegtes Bild dar, so daß die Bewohner des angrenzenden Städtchens kein besseres Vergnügen kennen, als das ab- und zuströmende Gewimmel in Augenschein zu nehmen und sich an den verschiedenartigen Erscheinungen und Trachten zu ergötzen, wobei ihnen während der schönen Jahreszeit der weitläufige Restaurationsgarten, der einen bequemen Ausblick auf den Perron gewährt, sehr zustatten kommt. An einem heißen Augustabend des Jahres 187* war auch ich mit dem Wiener Zuge in dieser Station eingetroffen und ausgestiegen. Zwei Stunden Wartezeit standen mir jetzt bevor, und leiblicher Erquickung bedürftig, trat ich in den Garten, den ich aber so dicht besetzt fand, daß ich mich umsonst nach einem Plätzchen umsah, wo ich mich hätte niederlassen können. Endlich, ganz im Hintergrund, gewahrte ich einen einigermaßen freien Tisch; das heißt, ein Mann, der mir den Rücken zukehrte, saß daran; die übrigen Stühle waren, sowie ein Teil der Tischplatte, bedeckt und beladen mit allerlei Plaids, Überwürfen und Handgepäck. Immerhin konnte ich zur Not noch unterkommen. Ich näherte mich daher und fragte sehr höflich, ob es erlaubt wäre? Der Mann hob den Kopf, sah mich an – ich ihn, und nachdem wir uns eine Weile gegenseitig angestarrt, riefen wir beide wie aus einem Munde: » Sie sind es – Sie !« Ja, er war es, mein berühmter – oder eigentlich berühmt gewesener Kollege Z., den ich nun schon seit einer Reihe von Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber mein Gott, wie hatte er sich inzwischen verändert! Wie verfallen, wie hohlwangig sah er aus! Wie hatte sich sein einst so reiches, jetzt schon ergrauendes Haar gelichtet! Und der einst so blühende, ausdrucksvolle Mund war unedel ins Breite gezogen und fast zahnlos! Nur die großen, eigentümlich blickenden Augen waren dieselben geblieben. Doch nein. Sie waren von schweren, faltigen Tränensäcken umgeben, und wo früher das helle, reine Feuer der Begeisterung geleuchtet hatte, brannte jetzt eine düstere, unheimliche Glut – die Glut der Erschöpfung. Er hatte, um mir Platz zu machen, einige geleerte Teller und zwei halbvolle Gläser, die auf dem Tische standen, näher aneinander geschoben und merkte jetzt, daß ich ihn forschend betrachtete. »Sie sehen mich an?« sagte er, indem er mit der hageren Hand über die Stirn fuhr. »Ja, ich bin gealtert – vorschnell gealtert. Das literarische Schaffen reibt den Menschen auf, wie kein anderes. Sie zwar sehen vortrefflich aus und haben zugenommen. Freilich sind Sie auch niemals ein rechter Arbeiter gewesen.« Ich gestehe, daß ich mich einigermaßen beschämt fühlte. Ja, ich mußte es zugeben: ich war niemals ein rechter Arbeiter gewesen. Das heißt, ich war von der Stimmung abhängig und konnte das Meine nur langsam zutage fördern. Er aber vermochte jeden Augenblick zu schaffen; Entwurf und Ausführung fielen ihm in eins zusammen. Was hatte er nicht schon alles veröffentlicht! Gewiß an die fünfzig Bände. Seinen Ruf verdankte er den ersten Novellen, die er geschrieben. Welch eigentümliche Kraft und Frische lag darin! Es war, als sei ein neues Morgenrot in der deutschen Literatur angebrochen – als sollte es endlich wieder Tag werden. Ja, die hellen, farbigen Schöpfungen waren mit nichts bisher Dagewesenem zu vergleichen. Man wollte zwar den Einfluß ausländischer Schriftsteller darin erkennen. Das mochte sein. Aber es ging doch alles aus dem eigensten Geiste, dem eigensten Herzen des Autors hervor. Vor allem ein starker und doch keuscher Zug von Sinnlichkeit, der entzückte, ohne zu reizen; der die Nerven nicht aufregte, sondern erquickte und erfrischte. So wurde denn der junge Dichter der Held des Tages. Verleger und Zeitungen rissen sich um ihn; man konnte kein Blatt, kein Blättchen zur Hand nehmen, ohne wenigstens den Nachdruck eines seiner neuesten Erzeugnisse zu finden. Auch ins Französische wurden sie übersetzt und fanden sogar ihren Weg in die rötlich gelben Hefte der Revue de deux Mondes. Das dauerte nun so eine Zeit. Der Gefeierte hatte sich in eine anmutig gelegene Provinzstadt zurückgezogen, um ungestört arbeiten zu können; es schien fast unmöglich, den Anforderungen zu genügen. Aber er wollte ihnen genügen, und so kam es endlich, daß seine Leistungen der Welt nicht mehr genügten. Was früher entzückte, mutete jetzt, so wurde behauptet, wie Manier an. Das war ja immer dieselbe Liebesgeschichte: derselbe schwache, willenlose, sich im Staube windende Mann – und dasselbe rücksichtslose, grausame, brutale Weib. Und die »gesunde« Sinnlichkeit bekam bereits, wie es hieß, den Beigeschmack krankhafter Zersetzung. Inzwischen hatte er, zum ersten Male, einen umfangreichen Roman geschrieben, den ein großes Blatt mit Hinblick auf seinen Namen sofort unbesehen erwarb. Als man aber das Manuskript durchging, sprach aus dem Werke eine solche seelische Verwilderung, daß man es sofort zurücksendete, wobei man sogar, um weitere unliebsame Verhandlungen zu vermeiden, das bereits ausgezahlte, sehr beträchtliche Honorar im Stiche ließ. Aufs Äußerste erbittert, suchte der gekränkte Dichter eine Polemik zu eröffnen; aber man erwiderte nicht, und als er sich hierauf in den ungemessensten Ausdrücken erging, schüttelte man allseits die Köpfe und begann achselzuckend von Selbstvergötterung und Größenwahn zu sprechen. Um diese Zeit wollte er es auch bei den Bühnen versuchen, und versendete ein soziales Drama um das andere. Man hatte jedoch damals noch keine Ahnung von dem später hereinbrechenden Naturalismus: die Direktoren fanden die Stücke roh und gewaltsam, und gaben zwar achtungsvolle, aber ablehnende Bescheide. Nur einige wenige Theater, welche in Deutschland nach dem Rufe geistiger Führerschaft strebten, griffen darnach, wie nach allem Neuen und Seltsamen, indem sie hofften, daß von ihren kleinen Kunststätten sensationelle Welterfolge ausgehen würden. Man zog den Autor in Person an den Ort der Aufführungen, wo sein Erscheinen jedesmal einem Triumphzuge glich. Aber die Erfolge blieben aus, oder schlugen in das Gegenteil um, und alle wohlwollenden oder bezahlten Zeitungsberichte konnten diese Tatsache nicht beschönigen oder gar vertuschen. So geriet der viel und rasch schreibende Mann zuletzt auch in Geldverlegenheiten und mußte sich im Kampfe ums Dasein dadurch aufrechterhalten, daß er für obskure Blätter und zweideutige Verleger schrieb, die mit pikanter Ware spekulierten. Aber obgleich nun seine Bücher unter vielverheißenden Titeln und lockenden Umschlagbildern in die Welt gesetzt wurden: sie zogen doch nicht so recht und wanderten stoßweise in die Magazine der Antiquare, von welchen sie zu Spottpreisen angekündigt wurden, während der Autor, der nunmehr ein unstätes Wanderleben führte, mehr und mehr in Vergessenheit geriet .... »Ja,« sagte er jetzt, »das Leben hat mir arg mitgespielt; aber gebrochen hat es mich noch lange nicht. Ich werde vielmehr« – er fuhr wieder mit der Hand über die Stirn – »meinen Feinden zu Trotz, einen ungeahnten, großartigen Aufschwung nehmen. Sie haben doch wohl schon von Zola gehört?« Ich bejahte. »Dann werden Sie auch wissen, daß dieser Franzose – an der Seine ist man eben, ungeachtet aller Niederlagen, noch stets und immer weit voran – eine Serie von Romanen plant, die er experimentale nennt, und worin er, gewissermaßen naturgeschichtlich, die Lebensläufe einer Familie in allen ihren Verzweigungen auf dem Boden des zweiten Kaiserreichs darstellen will. Eine geniale Idee! Aber ich werde sie überbieten, indem ich in einer Folge von Romanen die Entwickelungsgeschichte der Menschheit darstelle. Jeder dieser Romane soll zu einer anderen Zeit, in einem anderen Lande spielen. Eine Riesenarbeit! Aber ich werde sie bewältigen. Freilich sind dazu umfassende Studien und vielfache Autopsie notwendig; vor allem aber vollständigste Muße und Unabhängigkeit. Daher denke ich auch vorerst an ein anderes großes literarisches Unternehmen, das mich zum reichen Manne machen wird.« Ich sah ihn fragend an. »Ich werde nämlich,« fuhr er nach einem langen Atemzuge fort, »ich werde nämlich eine periodische Zeitschrift gründen, welche den Titel: Internationale Revue führen soll. Dieser Titel sagt alles. Ich will einen Sammel- und Kampfplatz für die hervorragendsten Autoren aller Nationen schaffen und der deutschen Lesewelt ihre neuesten Arbeiten in mustergiltigen Übersetzungen bieten. Sie müssen gestehen, daß ich damit einem längst gefühlten Bedürfnisse entgegenkomme und etwas in seiner Art Einziges ins Leben rufe: ein großartiges Spiegelbild der gesamten Literatur der Gegenwart.« Er hielt wie erschöpft inne; ich aber erwiderte fürs erste nichts. Denn ich konnte seiner Ansicht nicht beipflichten. Eine solche Nebeneinanderstellung der verschiedenartigsten Geistesprodukte schien mir sehr geeignet, das mangelhafte Urteil des Publikums vollends zu verwirren, und überdies die ohnehin stets bereite Nachahmungssucht der deutschen Schriftsteller nur noch mehr anzuspornen. Aber meine Meinung brauchte ja nicht gerade die richtigste, jedenfalls aber keine maßgebende zu sein. Nach einer Pause erwiderte ich daher bloß: »Und wo werden Sie diese Revue erscheinen lassen?« »Wo? In Wien, wohin ich eben jetzt reise.« Ich konnte wieder nicht zustimmen. Denn Wien erschien mir durchaus nicht der geeignete Ort, und trotz meiner Gepflogenheit, nur dann Rat zu erteilen, wenn ich darum angegangen werde, konnte ich mich in diesem Falle doch nicht enthalten, zu fragen: »Warum nicht lieber in Berlin?« Er erhob hastig abwehrend die Hand. »Verschonen Sie mich mit Berlin! Dort herrscht jetzt die trunkene Nüchternheit. Überdies hat der deutsche Arm den deutschen Geist erschlagen. Und dann: das Verhältnis zu Frankreich! Ich bin doch fürs erste hauptsächlich auf die Schriftsteller jenseits des Rheins angewiesen; keiner von ihnen würde mir etwas zur Verfügung stellen wollen, wenn ich meinen Sitz in Berlin aufschlüge. Anfänglich dachte ich an Leipzig oder Stuttgart, an eine oder die andere der dortigen großen Verlagsfirmen. Aber man schüttelte die Köpfe. Es sind doch nur Kleinkrämer den Hachette, Michel Lévy – und anderen französischen Editeuren gegenüber. So habe ich denn Wien gewählt, wo man noch einigen Schwung des Geistes und des Herzens besitzt. Auch ist mir von dort aus ein Verleger auf halbem Wege entgegengekommen.« Er nannte den Namen. »Sie kennen ihn doch?« Ich kannte den Mann. Derselbe hatte allerdings in seinem nicht großen Geschäfte bisher eine Rührigkeit gezeigt, die sich vorteilhaft von der starren Trägheit des älteren Wiener Buchhandels unterschied. Ob er aber einem solchen Unternehmen, das ein bedeutendes Anlage- und Betriebskapital erforderte, gewachsen war, konnte zweifelhaft erscheinen. Da aber meine Bedenken auf Z. gewiß keinen Eindruck gemacht haben würden, und es doch immerhin im Bereiche der Möglichkeit lag, daß sich seine Hoffnungen in dieser Hinsicht erfüllten, so sagte ich ganz aufrichtig: »Nun, ich wünsche Ihnen vom Herzen den besten Erfolg.« »Ich danke Ihnen!« erwiderte er lebhaft. »Freilich«, fuhr er, den Kopf senkend, nachdenklich fort, »freilich wird das alles ungeheuere Anstrengungen erfordern. Welch ein Aufwand an Zeit, Mühe und Sorge jeglicher Art! Aber zum Glück steht mir eine sehr energische, unternehmende und widerstandsfähige Kraft zur Seite. Meine Frau.« »Ihre Frau? Sind Sie denn verheiratet?« »Das wissen Sie nicht? Nun ja, ich bin in meinem Vaterlande so gut wie verschollen – und niemand kümmert sich mehr um mich. In Frankreich ist die Nachricht durch alle Blätter gegangen. Sie werden übrigens meine Frau gleich sehen. Sie hat sich nur entfernt, um einige Weisungen unseres Gepäckes wegen zu erteilen, das begreiflicherweise etwas umfangreich ist. – Aber da kommt sie ja schon!« Ich blickte nach der angezeigten Richtung und gewahrte eine stattliche Dame, die sich in höchst auffallender Tracht zwischen den Reihen der dichtbesetzten Tische, und von allen Seiten mit Blicken verfolgt, auf uns zubewegte. Wie? Oder trügte mich mein Auge? Das war ja – – beim Himmel, es war Nina! Nun stand sie vor uns in einem breiten, mit Federn geschmückten Rembrandthute, in einem rotgemusterten, fast ärmellosen Seidenkleide, um die entblößten vollen Schultern ein leichtes weißes Mäntelchen geworfen. Sie hatte mich schon aus der Entfernung forschend angesehen, und ich konnte bemerken, daß sie mich nicht gleich erkannte. Als dies aber jetzt geschah, malte sich in ihren Zügen keineswegs freudige Überraschung. Ihr Gatte mußte unser beiderseitiges Befremden wahrnehmen, und er rief auch sofort: »Sieh' da! Ich glaube, ihr kennt, euch –« »Ja, wir kennen uns«, antwortete Nina, die sich rasch gefaßt hatte, mit kalter Unbefangenheit. »Wir sind sogar sehr alte Bekannte, die aber im Leben äußerst selten zusammengetroffen sind. Wann war es doch zum letztenmal? Ich glaube, gerade, in der Zeit, da ich zum Theater ging.« »Ja, es war damals«, erwiderte ich. »Und Sie sind also –?« »Nein«, fiel Z. rasch, wie triumphierend ein, »nein, meine Niniche ist Gott sei Dank nicht mehr beim Theater. Ich habe sie von der Bühne weggeheiratet. Nicht wahr, Engel? Was hättest du auch mit deinem so einzigen Talente, ungenügend und unpassend beschäftigt, dort anfangen sollen? Die dramatische Kunst hättest du doch vom Untergange nicht retten können.« Er hatte bei diesen Worten liebkosend ihren weißen, runden Arm ergriffen, an welchem ein breites Armband von zweifelhafter Echtheit schimmerte. Sie entzog sich ihm mit einem unwilligen Rucke, ließ sich halb am Tische nieder und leerte die Neige eines Glases. »Nun ja; aber es tauchen doch jetzt wieder ganz interessante Stücke auf. Arria und Messalina – und dann die Nora von diesem Schweden oder Norweger –« »Ah pah!« erwiderte er geringschätzig. »Nachzüglerarbeit – vorübergehende Erscheinungen. Glaube mir, die Literatur ist dem Drama entwachsen, und nur im Roman, im großen naturgeschichtlichen Roman –« »Ja, ja,« unterbrach ihn Nina ungeduldig. »Aber es ist Zeit, daß wir uns fertig machen. Der Zug wird gleich da sein.« Und sie rief, ein abgegriffenes Portemonnaie aus der Tasche ziehend, den eben vorüberhastenden Kellner an, um die Rechnung zu begleichen. In der Tat vernahm man schon fernes Brausen, und ein Schaffner schrie in den Garten hinein: »Zug nach Wien!« »Also jetzt rasch, rasch,« rief sie, eine Hutschachtel ergreifend, während ihr Mann sich anschickte, alles übrige aufzuraffen und sich damit zu beladen. »Kann ich ihnen nicht behilflich sein?« fragte ich den Keuchenden und nahm ihm ab, was ich neben meiner eigenen schweren Handtasche zu tragen vermochte. Nina, mit ihrer Hutschachtel, hatte sich bereits voraus durch das entstandene Gewühl gedrängt. Während wir nun folgten, sagte er: »Da sehen Sie sie! Immer voran! O, dieses Weib ist der Halt, die Stütze meines Lebens. Sie wird die Revue durchsetzen und auch ihre erste Mitarbeiterin sein. Sie wissen vielleicht gar nicht, daß sie ein fabelhaftes Sprachentalent besitzt. Im Französischen ist sie bereits Meisterin und hat unlängst eine Causerie von Cherbuliez ins Deutsche übersetzt, die durch viele Blätter die Runde machte und ihr ein höchst schmeichelhaftes Schreiben des Autors eintrug.« Wir waren nunmehr in der Halle angelangt, wo sich ein Träger anbot; Z. aber wies ihn zurück. »Das erlaubt Ninoche nicht«, sagte er stolz lächelnd. »Auch habe ich ja noch Kraft; geben Sie mir jetzt nur die Sachen.« Ein Glockensignal ertönte. »Also leben Sie wohl! Aber wohin reisen denn Sie?« »Ich zweige nach Tirol ab.« »Aha! Sommerfrische. Grüßen Sie mir die Dolomiten. Und lassen Sie etwas von sich hören. Adressieren Sie nur nach Wien, der Brief wird mich schon finden. Vielleicht geben Sie der Revue auch einen Beitrag.« Damit enteilte er, seiner Frau nach, die schon draußen auf dem Perron, ohne sich mehr um mich zu kümmern, mit lauter, scharfer Stimme nach ihm rief. Das Zeichen zur Abfahrt wurde gegeben, und der Zug setzte sich pfeifend und schnaubend in Bewegung. Ich aber kehrte in den Garten zurück, der mittlerweile ziemlich leer geworden war und wo ich endlich zu einem Essen gelangte. Während die Dämmerung jetzt völlig hereinbrach – und auch später bei einer langen nächtlichen Fahrt hatte ich wieder einmal Zeit und Anlaß, einsam wie immer, über Kunst und Künstler nachzusinnen. 4. IV. Seitdem war ein Jahr verflossen und ich selbst noch immer nicht nach Wien zurückgekehrt. Allerlei hatte mich fern gehalten, und als mich jetzt doch sine wichtige Angelegenheit zwang, die Stadt an der Donau aufzusuchen, geschah dies mit dem festen Vorsatze, sie so bald wie nur irgend möglich wieder zu verlassen. Inzwischen war aber die Internationale Revue wirklich erschienen, und zwar unter der Ägide jenes Verlegers, den mir Z. damals namhaft gemacht hatte. An pomphaften Ankündigungen, Prospekten und sonstigen Reklamen war nichts gespart worden; auch eine lange Liste von Mitarbeitern hatte man veröffentlicht: aber schon die ersten Hefte ließen vermuten, daß sich das Unternehmen nicht würde halten können. Sie brachten – allerdings von namhaften Autoren – unbedeutende Sächelchen: Novelletten, Skizzen und flüchtige literarische Essays, wie sie jetzt, sich vorwiegend an rein Persönliches haltend, anfingen Mode zu werden. Den größten Raum nahmen sogenannte »Korrespondenzen« aus allen Hauptstädten ein, hastig hingeworfene Theater- und Kunstberichte. Kurz: ein Sammelsurium, aus welchem man nichts nur einigermaßen Wertvolles hätte herausgreifen können. Das wurde mir nun gleich bei meinem Eintreffen von allen Seiten bestätigt. Die Zeitschrift werde bald eingehen, hieß es; der Verleger stehe bereits vor dem Konkurse; der Herausgeber befinde sich in Nöten aller Art. Zudem sei er eigentlich nur dem Namen nach der Leiter, denn nicht bloß seine geistige, sondern auch seine physische Kraft sei gebrochen; nur seine Frau, eine begabte Person, ehemalige Schauspielerin, halte das Ganze noch mühsam aufrecht. Dies alles ließ mir ein Zusammentreffen mit dem armen Z. nicht wünschenswert erscheinen, und mir bangte vor dem Augenblick, der ein solches unvermeidlich machen könnte. Aber es dauerte nicht acht Tage, als ich schon eines Morgens durch die Post einen Brief empfing, der in zwar festen und weitläufigen, aber doch krausen und verworrenen Schriftzügen folgendes enthielt: »Lieber alter Freund! Von fremden Leuten mußte ich erfahren, daß Du in Wien bist. Du findest es also nicht der Mühe wert, Deine ältesten Bekannten aufzusuchen. Nun, so richte ich die Bitte an Dich, so bald wie möglich bei uns – oder besser gesagt, bei mir vorzusprechen. Am besten zwischen 11 und 1 Uhr, um welche Zeit Z. sich im Redaktionsbureau befindet. Wir sind also ungestört und können eingehend über eine Angelegenheit verhandeln, welche Dir vertrauensvoll vortragen wird Deine alte Nina.« Die Adresse war beigefügt; dann der Nachsatz: »Komm' aber gewiß!« Was war da zu tun? Ich machte mich also schon am nächsten Vormittage auf den Weg. Die Adresse leitete nach einer neuen Gasse des dritten Bezirkes. Ich stieg vier Treppen hoch und drückte an dem Klingelknopfe der durch den Namen kenntlich gemachten Tür. Eine schlumpige Magd, die mich erst forschend durch ein Lugfensterchen betrachtet hatte, öffnete und sagte, da ich meine Karte übergeben wollte: »Nicht notwendig; die Gnädige ist zu Hause.« Und schon kam mir aus der nächsten Tür Nina halb entgegen und ließ mich in ein geräumiges, aber kahles und unwohnliches Zimmer treten. »Ich danke dir, daß du gekommen bist«, sagte sie, mir die Hand entgegenstreckend, welche, wie sie selbst, auffallend schlanker geworden war. »Nimm Platz.« Sie wies nach einer blauen Ripsgarnitur, welche ziemlich neu, aber auch schon schadhaft aussah, denn von den weißen Porzellanknöpfen der Einfassung waren schon mehrere abgesprungen. Sie setzte sich nun an meine Seite, und ich wunderte mich, wie vorteilhaft sie aussah. Keine Spur mehr von jenem frivol- und komödiantenhaft vernachlässigten Äußeren, das sie damals an der Bahn zur Schau getragen hatte; vielmehr war jetzt ihre ganze Erscheinung von einer gewissen Vornehmheit. Ein einfaches, knappanliegendes dunkles Kleid hob ihren immer noch vollen, aber geschmeidigen Wuchs anmutig hervor. Das Haar trug sie schlicht gescheitelt und rückwärts in einen dichten Knoten zusammengewunden. Nicht das geringste Anzeichen des Alterns war in ihrem glatten Gesichte wahrzunehmen; sie konnte freilich auch erst fünf- oder sechsunddreißig Jahre zählen. »Also noch einmal meinen Dank«, begann sie jetzt rasch, wie geschäftsmäßig. »Fürs erste habe ich dir folgendes zu sagen. Es wird außer dir nur noch sehr wenige Menschen in Wien geben, welche meine Vergangenheit kennen. Ich erwarte von dir, daß du mich in dieser Hinsicht nicht bloßstellen wirst.« »Diese Bemerkung ist ganz überflüssig«, erwiderte ich. »Du kannst dir wohl denken –« »Gewiß, gewiß; ich kenne dich. Es mußte aber dennoch ausdrücklich betont werden. Nun darfst du nicht etwa glauben, daß ich mich auf die Heilige hinausspielen und meine Vergangenheit verleugnen will. Das habe ich als gewesene Schauspielerin auch gar nicht notwendig. Ich möchte nur nicht, weißt du, daß man das Ärgste –« »Du kannst vollständig beruhigt sein.« »Der Welt wegen, auch mein Mann darf nicht mehr erfahren, als ihm bereits bekannt ist; denn das würde seine Liebe zu mir nur noch steigern.« »Wie? – Aber dagegen hättest du doch nichts?« »O ja! Seine Zärtlichkeiten grenzen ohnehin schon an Wahnsinn. Er ist eine durchaus krankhafte Natur, die mir Ekel einflößt – seit jeher Ekel eingeflößt hat.« »Aber wie konntest du ihn dann –« »Heiraten meinst du? Nun, ich wollte 'mal auch das probieren. Es war ein dummer Streich; hoffentlich mein erster und letzter. Und dann: ich hatte das Komödiespielen schon satt. An größeren Bühnen könnt' ich kein Engagement finden – und sich beständig auf kleinen Bühnen herumzuschlagen, ist ein trostloses Vergnügen. Und nun gar da draußen im Reich, wo die Leute unglaublich geschmacklos sind. Ein Publikum aus Pappendeckel, sage ich dir, innen dick mit Sittlichkeit ausgefüttert, und außen mit einem gleichmäßigen Bildungslack überzogen. Man kann nach keiner Seite hin Eindruck machen. Dazu das Repertoire! Goethe und Schiller, Schiller und Goethe; dazwischen Roderich Benedix und Charlotte Birch-Pfeiffer, hin und wieder auch ein unglücklicher neuer Klassiker wie Paul Heyse – es war zum Auswachsen. Da kam er nach D ..., wo ich eben engagiert war. Er hatte nach langem Hin- und Herschreiben endlich unseren ledernen Intendanten bewogen, eines seiner Stücke zu bringen, mit welchen er das deutsche Drama regenerieren wollte. Tolles Zeug; aber es imponierte uns allen – am meisten mir; denn es war doch wenigstens nichts alltägliches. Zudem war er ein berühmter Mann – oder schien es wenigstens zu sein. Die kleine Stadt war bei seinem Erscheinen in Aufruhr; die Aufführung war ein bevorstehendes Ereignis; man sprach von nichts anderem. Mir war die weibliche Hauptrolle zugedacht – und während er sie mir einstudierte, verliebte er sich in mich. Wir setzten beide große Erwartungen in den Erfolg – der aber nur in eine allgemeine Entrüstung ausschlug. Am meisten entrüstet aber waren wir – und in dieser Stimmung war es ihm um so leichter, mich zum Austritt zu bestimmen, da mein Kontrakt ohnehin zu Ende ging. Aber wir sollten als Mann und Frau auf seine Stücke reisen, die er immer noch durchzusetzen hoffte; er wollte nebenbei öffentliche Vorlesungen halten. Auf große Theater war nicht zu rechnen; sie sollten aber von den kleinen, bei denen wir jetzt die Runde machten, nachgezogen werden. So gelangten wir sogar bis nach Temesvar – wo wir glücklich ausgepfiffen wurden. Nun gab er es auf, der Messias des Dramas zu werden, was zu glauben – ich will es gestehen – ich anfangs selbst dumm genug gewesen. Nun aber redete er sich ein, er müsse den Roman der Zukunft schreiben, entwarf die ungeheuerlichsten Pläne – aber du hast es ja damals selbst gehört.« Wie wahr, wie zutreffend war das alles! Und doch, wie tief verletzte es mich, daß gerade sie es aussprach. Sie hätte trotzdem noch immer einige Achtung für seine geistigen Anstrengungen – zum mindesten Mitleid mit ihm fühlen sollen. »Du bist grausam«, sagte ich. »Diese Art von deinem Manne zu sprechen hat etwas Empörendes. Mag er nun sein, wie er wolle: er war ein großes, ein einziges Talent, ein bedeutend angelegter Mensch – und der Himmel weiß, auf welche Art –« »Auf welche Art?« unterbrach sie mich. »Durch ausschweifendes Leben und Überarbeitung. Bedeutend angelegt, sagst du? Nein, mein Lieber, er ist ein durch und durch verlogener Kerl, der sich nicht eingestehen will, daß er fertig ist – ganz fertig.« Ich wollte erwidern, aber ich vermochte es nicht; ich war wie erstarrt. Dieses Weib warf dem Ärmsten ausschweifendes Leben und Verlogenheit vor! »Darum hat er auch die Revue gegründet, wo er andere für sich arbeiten lassen kann. Es war der Instinkt der Selbsterhaltung, der ihn dazu trieb. Somit lag einige Vernunft in der Sache, und wenn ich mich ihrer annahm, konnte sie vielleicht soweit rentieren, daß sie uns das Leben sicherte. Wir standen ja bereits vor dem Nichts. Und da wäre ich nun eigentlich bei dem Hauptpunkte unserer Unterredung angelangt.« Sie lehnte sich einen Augenblick schweigend zurück, dann fuhr sie fort: »Du wirst wohl schon vernommen haben, daß das Unternehmen, eigentlich erst im Entstehen begriffen, auch schon dem Zusammenbruche nahe ist. Ganz so schlimm aber, wie es den Anschein hat, stehen die Dinge doch nicht. Die Idee halte ich noch immer für eine glückliche. Sie lag gewissermaßen in der Luft, und wenn wir sie, kaum erfaßt, wieder fallen lassen müssen, dann wird sie von stärkerer Hand neuerdings aufgegriffen werden. Und darum handelt es sich. Wir haben ohne alle Geldmittel begonnen, bloß auf einen windigen Schlucker von Verleger gestützt. Wir konnten keinen rechten Vertrieb zustande bringen, konnten keine verlockenden Honorare bieten und mußten uns sozusagen mit Abfällen begnügen. Das könnte ganz anders werden, wenn uns eine beträchtliche Geldsumme – etwa dreißig bis vierzig Tausend zur Verfügung gestellt würden. Diese Summe aber sollst du uns schaffen.« »Ich!?« »Ja, du. Denn du besitzest, wie ich erfahren habe, ausgebreitete Bekanntschaften, vornehme Gönner und Freunde; darunter auch einige aus den hohen Finanzkreisen. Es müßte dir also bei einigem guten Willen gar nicht schwer werden, die Leute zu bestimmen, uns ein Betriebskapital vorzuschießen, das ihnen ja verzinst werden kann; auch du hättest dann einen Anteil an dem voraussichtlichen Gewinn zu erwarten.« Ich hatte mich inzwischen von meinem unangenehmen Erstaunen einigermaßen erholt und nunmehr auch ganz gefaßt. »Nein,« sagte ich entschieden, »das geht durchaus nicht an. Erstens bist du über die Stellung, die ich in der Gesellschaft einnehme – oder einzunehmen scheine, übel berichtet. Vor allem aber überschätzest du weit den Einfluß, den ich auf gewisse Persönlichkeiten nehmen könnte. Und selbst wenn ich –« »Ich verstehe«, unterbrach sie mich, die Brauen in böse Falten ziehend. »Du traust uns nicht zu, daß wir trotzdem die Sache in Schwung bringen könnten. Und was Z. betrifft, so hast du ja vollkommen recht. Auch ich will dir zugestehen, daß ich selbst, obgleich ich im Laufe der Zeit mehr Einblick in solche Dinge gewonnen habe, als du dir vorstellst – daß ich selbst, sage ich, der Leitung nicht gewachsen wäre. Aber wir haben einen jungen Mann kennen gelernt, einen Russen – oder eigentlich Polen, der als Korrespondent mehrerer ausländischer Blätter seit kurzem hier lebt. Ein höchst begabter Mensch, der alle Sprachen spricht und schreibt und bei seinen fast über die ganze Welt verbreiteten Beziehungen wie geschaffen erscheint, an die Spitze der Revue zu treten. Jedenfalls bitte ich dich, eh' du entschieden ablehnst, die Angelegenheit mit ihm durchzusprechen. Es wundert mich, daß er noch nicht hier ist; denn ich habe ihn, auf dein Erscheinen rechnend, gebeten, heute und auch an den nächsten Vormittagen nachzusehen.« In diesem Augenblicke ertönte draußen leicht und sanft die Klingel. »Da ist er«, rief sie, nach der Tür blickend, und ihr Alabastergesicht wurde plötzlich von einem rosigen Schein durchleuchtet. Sie war errötet. Und nun erschien auch schon der Erwartete, beim Eintreten aus kleinen schwarzen Augen einen lauernden Blick durch die Türspalte werfend. Als er mich gewahrte, nahmen seine Züge den Ausdruck würdevollen Ernstes an, der sofort in ein überfreundliches Grinsen überging, als uns Nina jetzt gegenseitig vorstellte. Er war von schlankem, sehr zierlichem Wuchse, und seine zarten Füße standen etwas nach einwärts gerichtet. Mit sorgfältiger, aber fadenscheiniger Eleganz gekleidet, trug er die Rosette irgend eines Ordens im Knopfloch. »Da haben Sie nun unsern alten Freund, lieber Glensky«, sagte Nina. »Setzen Sie ihm den Kopf zurecht, denn er will von unserem Vorschlage nichts wissen.« Glensky, der sich sachte niedergelassen hatte, rückte an seinem Kneifer und sah mich mit wohlwollendem Lächeln an. »Nun, ich begreife recht wohl, verehrter Herr,« begann er mit weicher, süßlicher Stimme, »daß Sie uns nicht so ohne weiters Ihre Unterstützung –« »Die durchaus nicht in meiner Macht steht«, unterbrach ich ihn. »Das muß ich auch Ihnen wiederholen. Sie sind noch nicht lange in Wien, kennen also die hiesigen Verhältnisse nicht so genau, wie ich. Meiner Überzeugung nach werden Sie hier von keiner Seite Unterstützung finden.« »Sie mögen recht haben,« erwiderte er, indem er seinen hübschen Kopf traurig beipflichtend senkte; »es ist noch sehr viel Phäakentum im Lande. Ich gestehe, daß mir selbst Zweifel gekommen waren. Ich betrachte daher Ihre Ablehnung als einen Wink des Schicksals. Überdies habe ich heute Morgen eine Nachricht erhalten, welche mich hoffen läßt, das Unternehmen auf einen anderen Boden verpflanzen zu können.« Nina sah ihn überrascht an. »Ja, meine Gnädige,« fuhr er ehrfurchtsvoll gegen sie gewendet fort, »ich habe eine ganz außerordentliche Nachricht erhalten, die ich Ihnen später mitteilen werde. Ich war schon seit längerem darauf vorbereitet und habe ihr mit Spannung entgegengesehen. Da aber die Sache denn doch noch im Ungewissen schwebte, so habe ich selbst Ihnen gegenüber nichts davon erwähnt.« Ich sah nach meiner Uhr. »Die Zeit drängt mich«, sagte ich, mich erhebend. »Und da ich nunmehr ohnehin überflüssig geworden bin, so werde ich mich empfehlen.« »Du bleibst doch jetzt in Wien?« fragte Nina, die in sichtlicher Aufregung und offenbar froh war, daß ich aufbrach. »Nein, im Gegenteil. Ich reise schon in den nächsten Tagen wieder ab.« »Da sieht man dich wohl kaum mehr?« »Die Zeit dürfte es nicht gestatten. Am besten also, ich nehme gleich Abschied, und bitte auch, deinem Gemahl –« »Werd' es bestellen. Und was wir da verhandelt haben –« »Bleibt selbstverständlich Geheimnis.« »Nun, so leb' wohl«, sagte sie kurz und reichte mir die Hand hin, die ich, wie die Glenskys, der sie mir angelegentlich entgegenstreckte, drücken mußte. Ich atmete auf, als sich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, und wie beflügelt eilte ich die Treppe hinunter, im Innersten froh, daß mir der Anblick des armen Z. erspart geblieben. Aber es sollte nicht sein. Denn schon im nächsten Augenblick kam er das erste Stockwerk heraufgekeucht, ein dickes Seidentuch als Schutz gegen die herbstliche Kühle um den Hals gewunden, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er stutzte, als er mich wahrnahm, blieb stehen und blickte mich mit blöden, verglasten Augen an. »Sie – ah, Sie –« rief er endlich, leicht mit der Zunge anstoßend. »Sie waren bei mir? Haben mich nicht getroffen? Aber doch mit meiner Frau gesprochen?« Ich bejahte. »Schön. Komm Sie doch wieder mit mir hinauf. Bin etwas früher als sonst frei geworden und bleibe jetzt zu Hause. Sie können mit uns speisen.« »Bedaure sehr, aber – – ich werde ein andermal –« »Schön. Aber kommen Sie bald! Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen. Über meine Revue. Es gibt einige Schwierigkeiten. Aber ich werde sie überwinden! Werde sie überwinden!« Er hatte offenbar keine Ahnung von dem Vorschlag, den mir Nina gemacht. »Ich gratuliere.« »Danke. Aber wie es hier zieht auf der Treppe! Vergessen Sie nicht. Kommen Sie bald! Auf Wiedersehen!« Und damit stürmte er, sein Halstuch fester zusammenziehend, die Treppe hinauf – wie seinem Schicksal entgegen. * * * Und sein Schicksal vollzog sich auch wenige Wochen nach meiner Abreise. Der Verleger meldete den Konkurs an; die Revue hörte zu erscheinen auf. Nina aber verschwand mit Herrn Glensky; niemand wußte, wohin. Sie hatte ihren Gatten krank, hilflos wie ein Kind, nur mit einer notdürftigen Geldsumme versehen, zurückgelassen. Anfangs versuchte der Unglückselige, sich und anderen einzureden, die beiden hätten im Interesse der Revue eine gemeinschaftliche Geschäftsreise gemacht. Aber die entsetzliche Gewißheit, daß ihn seine geliebte Ninoche treulos – und für immer verlassen hatte, drängte sich ihm stets überzeugender auf und brachte endlich das Gehirnleiden, dessen deutliche Anzeichen man schon lange an ihm bemerkt haben wollte, zum Ausbruch. Zur Nachtzeit in Tobsucht verfallend, unternahm er einen Selbstmordversuch, der nicht vollständig gelang. Man brachte ihn in eine Privatheilanstalt, wo er, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, am nächsten Tage verschied. Die Schriftsteller Wiens beteiligten sich sehr zahlreich an seinem Leichenbegängnisse, und ein prachtvoller Lorbeerkranz lag auf dem Sarge. Man ehrte den Tod. 5. V. Zu den eigentümlichsten Künstlernaturen, die mir in meinem Leben begegnet waren, gehörte ein Maler, dessen Name eigentlich erst mit seinem Tode allgemein bekannt geworden ist, obgleich sein Ruhm schon lange vorher im Verborgenen geblüht hatte. Mit seinen Anfängen noch in die ältere Wiener Schule zurückreichend, war dieser »große Kleinmaler«, wie man ihn zuletzt nannte, als junger Mann durch widrige Lebensumstände aus seiner Laufbahn gedrängt worden, und als er sie später wieder ergriff, hatte er mit großen Schwierigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, zu kämpfen: man wollte ihn eben längere Zeit hindurch nicht mehr für voll anerkennen. Während des raschen wirtschaftlichen Aufschwunges jedoch, welcher in dem sogenannten »Krach« endigte, wurden auch seine Bilder in Betracht gezogen, und wenn sie auch damals nicht gerade in die »Mode« kamen, so trachtete doch jeder feinere, oder für sein gelten wollende Kenner und Kunstfreund ein solches Kabinettsstück zu erwerben, infolgedessen sich der in stiller Zurückgezogenheit lebende Künstler plötzlich mit Aufträgen überschüttet fand. Da er aber gewohnt war, bedächtig aus seinem Inneren heraus zu schaffen, so konnte oder wollte er nur den wenigsten dieser Anforderungen gerecht werden, und sah sich bald wieder beiseite liegen gelassen und allmählich in seine frühere Verborgenheit zurücksinken. Er bewohnte in einer entlegenen Vorstadt ein kleines Haus, das gegenwärtig verschwunden ist; ein wenig gepflegtes Gärtchen stieß daran, und das schmucklose, um nicht zu sagen dürftige Atelier bildete einen schroffen Gegensatz zu den stilvollen, mit Kunstschätzen aller Art ausgestatteten Prachträumen, in welchen gleichzeitige Meister ihre sensationellen Bilder zutage förderten. Und doch gingen aus dieser schlichten Behausung jene echten Perlen der Malerkunst hervor, die jetzt von ihren Besitzern als intimste Schätze gehütet werden und an welchen reiche Sammler jeden Pinselstrich mit Gold aufwiegen. Mit zunehmenden Jahren hatte er zu kränkeln angefangen und verbrachte daher den Winter meistens im Süden; auch Paris besuchte er hin und wieder, wo er dann stets eine Zeitlang verweilte. Den Sommer aber pflegte er regelmäßig in Wien zuzubringen, das er mit der treuen Anhänglichkeit eines alten Eingeborenen liebte und wo er, vom frühen Morgen bis zur einbrechenden Dunkelheit tätig, die in der Ferne gewonnenen Studien und Entwürfe ausführte. Dann besuchte ich ihn zuweilen; denn obgleich ich mit ihm nicht eigentlich befreundet war, so gehörte ich doch zu den wenigen, mit welchen er nicht ungern verkehrte. Eines Tages – es war im Juni und die Rosen seines Gartens standen schon in der Blüte – hatte ich mich wieder zu ihm begeben. Er war gerade aus Paris eingetroffen und hatte mir nun vieles von der Weltstadt an der Seine zu erzählen. Vor allem besprach er die dortigen neuen Kunstströmungen, die ihn begreiflicherweise sehr interessierten; nebenbei aber auch das gesellschaftliche Leben, die Umtriebe der politischen Parteien und das Gehaben der Anarchisten. Schließlich reichte er mir einen großen Pack Photographien, die er mitgebracht hatte, zur Durchsicht hin. Es war ein buntes, reichhaltiges Durcheinander: Ansichten öffentlicher Gebäude und Plätze, Porträts berühmter oder berüchtigter Persönlichkeiten; darunter auch die beiden jüngsten Toten: Prinz Lou-Lou und der Ex-Diktator Gambetta. Aufnahmen von modernsten Bildern waren gleichfalls zu sehen. Eines davon stellte ein kostbares, äußerst raffiniert zusammengestelltes Interieur dar, in dessen Hintergrunde eine ganz weiß gekleidete Dame gleichsam an die Wand gedrückt stand, während sich die endlose Schleppe ihres Kleides, nach vorwärts gewendet, über den ganzen Boden hinweg dem Beschauer entgegenstreckte. Die weibliche Gestalt frappierte mich, und nachdem ich sie durch eine bereitgelegte große Lupe aufmerksam betrachtet hatte, rief ich aus: »Seh' ich recht? Das ist ja –« »Kennen Sie die auch?« fragte der Maler lächelnd. »Das heißt, ich glaube sie zu kennen. Ist es nicht die ehemalige Frau des armen Z.?« »Wer ist Z.?« Er hatte den Schriften des Verstorbenen wohl niemals Aufmerksamkeit geschenkt, und ich suchte ihn jetzt aufzuklären. »Ach ja,« sagte er, »nun entsinne ich mich. Ob sie aber seine Frau war, könnte ich trotzdem nicht sagen. Jetzt ist sie – oder gilt sie wenigstens für die Frau eines gewissen Glensky, der in Paris ein großes Zeitungsunternehmen betreibt; eine Art Weltkorrespondenz und Übersetzungsbureau.« »Also doch!« »Sie leben auf sehr großem Fuße und halten offenes Haus. In ihrem Salon wimmelt eine foule von Menschen durcheinander. Streber von allen Farben und Abzeichen: Künstler und Schriftsteller, Deputierte und finanzielle Roturiers, wie sie der Tag hebt und stürzt. Mich hat einmal ein junger Maler dorthin mitgenommen; man kann kommen und gehen nach Belieben – und bei den Diners und Soupers soll der Champagner in Strömen fließen. Übrigens glaube ich nicht, daß das literarische Unternehmen, so weitläufig es angelegt sein mag, die Kosten deckt. Ich halte vielmehr diesen Herrn Glensky für einen Agenten Rußlands – oder gerade herausgesagt, für einen politischen Spion.« »Das wäre wohl möglich«, sagte ich. »Nun, und sie ?« »Ist ganz dazu angetan, um ihn als Weib zu unterstützen. Im übrigen ist sie eine ›lionne‹, der von allen Seiten gehuldigt wird. Es ist auch schon, wie das in Frankreich nicht anders geht, ihretwegen zu einem Duell gekommen – zwischen zwei Anbetern natürlich. Sie hat den Leuten seit jeher die Köpfe verrückt.« »Kannten Sie sie denn schon früher?« »Freilich. Sie war ja in ihrer ersten, ganz verwahrlosten Jugend die Geliebte eines meiner Kollegen, der unlängst in sehr dürftigen Verhältnissen gestorben ist. Das war ein äußerst sentimentaler Mensch, der in ihr ein Opfer der menschlichen Gesellschaft sah und die arme Gefallene zu erheben trachtete, indem er sie heiraten wollte. Aber sie trieb nur ihr Unwesen mit ihm, quälte ihn bei Tag – und lief nachts in die Kasernen.« »Dort habe ich sie kennen gelernt.« »Wie? Sie kannten sie auch schon damals?« »Gewiß; wir kannten sie alle.« »Mir wollte sie gleichfalls auf die Bude rücken: Aber Sie wissen, daß ich zu meinen Bildern keine weiblichen Modelle brauche, wenigstens keine solchen. Ich ließ sie ablaufen, indem ich mich auf den Blöden hinausspielte; denn das Ding war mir in tiefster Seele zuwider. Sie mußte das auch gleich weg gehabt haben, denn sie kam nicht wieder. Inzwischen aber hatte sie mich ganz und gar vergessen, denn ich konnte deutlich merken, daß sie mich nicht mehr erkannte, als ich ihr in ihrem Salon, freilich flüchtig genug, vorgestellt wurde. Mir aber gelang es kaum, meine Überraschung zu verbergen, so wenig hat sie sich eigentlich seit jener Zeit verändert. Stärker ist sie freilich geworden; aber sie hat noch fast ganz das eigentümlich verzeichnete Gesicht von früher.« »Sie muß doch schon über die Vierzig sein.« »Nun, das ist ja gerade das rechte Alter für Paris, wo man den Hautgout und die Erfahrung der Überreife zu schätzen weiß. Und außerdem: sie betrinkt sich.« »Was?« »Ja, elle se grise, wie man dort sagt. Mit Champagner natürlich. Und das versetzt nun die Leute in das höchste Entzücken. Denn da treten auch ihre besondersten Reize hervor. Sie fängt zu deklamieren an; erst französisch, dann deutsch – um endlich zu den gemeinsten Wiener Liedern herabzusinken, weshalb man sie auch la belle Viennoise nennt. Den Text versteht natürlich niemand, die Gebärden jeder. Dann aber wird sie plötzlich wild, fängt zu fluchen und drohen an – schleudert die Champagnerkelche an die Wand, daß die Splitter umherfliegen, und schwört, daß sie sich, falls die Kommune wieder erstehe, den Pertoleusen anschließen werde. Geben Sie acht«, fuhr er mit humoristischen Behagem fort, »die spielt noch einmal eine Rolle. Vielleicht als Maitresse irgend eines zweiten Gambetta, oder Rochefort – oder eines anderen Bontoux. Kann auch sein, daß sie wirklich einmal mithilft, Paris in Brand zu stecken.« »Nun, wer weiß«, sagte ich, unwillkürlich seinen spielenden Gedanken folgend. »Gottes Wege sind wunderbar – noch wunderbarer jedoch die der Frauen.« Requiem der Liebe 1. I. An einem milden, sonnigen Septembermorgen schritt Leo Bruchfeld die weitläufige Gasse hinunter. Er erinnerte sich noch der Zeit, wo hier nur zwei Reihen unansehnlicher Häuser gestanden, durch eingeplankte schattige Gärten voneinander getrennt, was gerade diesem Teil des ehemaligen Wiener Vorortes ein sehr ländliches Aussehen verliehen hatte. Aber das rief in ihm keine elegische Stimmung hervor; er ging vielmehr ohne weitere Erwägungen an den stattlichen Gebäuden vorbei, welche sich, mehrere Stockwerke hoch, im Laufe der Jahre rechts und links erhoben hatten. Die meisten Fenster standen offen; Teppiche und Bettzeug waren zum Lüften ausgelegt, und dahinter kamen ab und zu mit halbem Leibe sorgliche Hausfrauen im weißen Morgenhäubchen oder dralle Mägde zum Vorschein. Unten aber regte und bewegte sich in buntem Durcheinander das beginnende Leben des Tages. Fuhrwerke aller Art: Stellwagen und klingelnde Trams, Fiaker und Equipagen, die ihre Insassen aus den nächstgelegenen Sommerfrischen nach der Stadt brachten, rollten auf dem eben bespritzten Fahrwege dahin, während zahlreiche Fußgänger, männliche und weibliche, mehr oder minder eilig ihren Berufsarbeiten entgegenschritten. Nur Kinder sah man wenige; sie waren bereits in der Schule, die erst in den letzten Tagen wieder begonnen hatte. In diesem Gewimmel nahm sich Bruchfeld, einen leichten Havelock um die Schultern geworfen, ganz stattlich aus. Obgleich er schon ein Fünfziger war und sich etwas vornübergebeugt hielt, erschien seine ziemlich hohe Gestalt trotz einer gewissen Beleibtheit doch noch stramm und beweglich, und seine blauen Augen leuchteten hell aus dem kräftig gefärbten Antlitz, das ein kurzer, stark ergrauter Vollbart eher jünger als älter erscheinen ließ. Mancher Vorübergehende betrachtete den bekannten Tonmeister, der seit kurzem als Gast einer vornehmen Familie in dieser Gegend wohnte und auch schon in früheren Jahren hier gelebt hatte, mit Aufmerksamkeit oder grüßte ihn sehr zuvorkommend. So war er auf den kleinen Platz angelangt, zu welchem sich die Gasse erweiterte, als er plötzlich den Schritt anhielt. Er hatte eine Frauengestalt erblickt, welche jenseits, einen blauen Sonnenschirm über sich ausgespannt, langsam vor einem villenartigen Hause auf und nieder ging. Die Dame war nicht mehr jung, aber ihr Wuchs glich dem eines zarten Mädchens, und ihr feines, scharfgeschnittenes Profil zeigte auffallende Schönheit. Nun erblickte sie auch ihn, und eine dunkle Röte schoß in ihr schmales Gesicht. Den Schirm tiefer anziehend, tat sie noch einige Schritte und blieb dann, den Kopf abwendend, stehen. Bruchfeld empfand das Unziemliche seines Hinstarrens und setzte sich wieder in Bewegung. Aber nicht weiter als bis zur Ecke einer nahen Seitengasse; denn er war fest gewillt, die Erscheinung nicht aus den Augen zu verlieren. Die größere Entfernung ließ diese Absicht weniger auffallend erscheinen, und da er, wie die meisten älteren Männer, sehr gut in die Weite sah, so konnte er wahrnehmen, daß auch die Dame unter dem Schirm hervor scheue Blicke nach ihm warf. Die plötzliche Röte war aus ihrem Antlitz gewichen und hatte einer fahlen Blässe Platz gemacht, jener Blässe, welche Frauen eigen ist, die an Blutarmut leiden. Erst jetzt bemerkte er, daß sie in der Linken ein zierliches Körbchen trug, das ihr offenbar zu schwer wurde. Denn sie stellte es nunmehr auf das Mäuerchen des Gitters, das den schmalen Vorgarten des Hauses umfriedete. Dann blickte sie ungeduldig vor sich hin. Sie wartete gewiß auf einen vorüberfahrenden Stellwagen, der ihr schon zu lange ausblieb. Endlich kam einer von der Stadt aus in Sicht. Schwerfällig rumpelte er beim lahmen Trott der Pferde heran. Wie die Tafel auswies, fuhr er nach Grinzing. Die Dame langte nach dem Körbchen und machte ein Zeichen mit dem Schirm. Der Wagen hielt, und ihr Kleid vorne leicht aufnehmend, stieg sie ein. Bruchfeld hatte einen Augenblick gezögert, denn er wurde in der Stadt erwartet. Aber schon eilte er mit raschem Entschlusse herbei und schwang sich in das Rauchkupee. Es war dort nur mehr ein Platz frei gewesen, und so saß er jetzt neben einem dicken, vierschrötigen Manne, seines Zeichens offenbar Wirt oder Fleischer. Diesem gegenüber hielt ein vollbusiges Weib vom »Hof« zwei leere Marktkörbe auf dem Schoß, während er selbst mit den langen Beinen eines hageren Jünglings zu kämpfen hatte, der unter seinem großen Schlapphute in ein zerlesenes Heftchen »Reclam« vertieft war. In der vorderen Abteilung saßen nur drei Personen. Als die Dame eingestiegen war, hatte sich ein alter Herr mit mißmutiger Galanterie vom Rücksitz erhoben, um ihr neben einer bürgerlich aussehenden Frau bequemeren Platz zu schaffen. Bruchfeld sah also nur die zarten Schultern, das schmächtige, in den modisch hohen Kragen gezwängte Hälschen, den dichten Ansatz der dunklen Haare und den aufgestülpten Rand eines flachen Strohhutes mit stahlblauem Aufputz. Sie selbst saß regungslos da, die schmalen Hände in schwedischen Handschuhen über ihrem Körbchen gekreuzt. Nur einmal wandte sie den Kopf zur Seite, wobei sie, gewissermaßen aus dem Augenwinkel heraus, nach rückwärts zu blicken versuchte. Und da kam auch die geschwungene Nase, das leicht vorgeschobene Kinn, die langen, kohlschwarzen Wimpern samt dem ungewöhnlich stark entwickelten Brauenwuchs zum Vorschein, der diesem Antlitz stets einen so auffallenden Reiz verliehen hatte. Freilich, der leuchtende Schmelz der Jugend war daraus entschwunden. Die Züge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen, die Wangen zeigten sich eingesunken, und mißfarbige Ringe lagen um die großen, lang und weit geschlitzten Augen. Und doch – wie schön, wie unsäglich schön war dieses Antlitz noch immer! Ja, in seiner Verfallenheit, seiner krankhaften Blässe noch interessanter, noch ergreifender als damals ...... Der Wagen war inzwischen bei den Häusern in der Nähe des alten Friedhofes angelangt, und der dicke Mann Zog an dem Ring der Klingel, um auszusteigen. Nun hatte Bruchfeld den Raum frei – und sofort rückte er in die Ecke, so daß, wäre die trennende Glaswand nicht gewesen, seine Schulter die ihre berührt haben würde. Dennoch war es ihm, als spüre er ihre Körperlichkeit warm an der seinen – und auch sie schien leicht durchschauert zu werden. Zaghaft wandte sie den Kopf nach ihm zurück – und beider Blicke tauchten zum ersten Male voll ineinander. Er aber, mit klopfendem Herzen und in selige Empfindungen aufgelöst, wünschte nichts anderes, als daß diese Fahrt kein Ende nehmen – daß sie ewig dauern möchte! Doch schon war rechts die weitläufige Restauration mit ihren Gartenanlagen sichtbar geworden, schon senkte sich die Straße, und die ersten Häuser Grinzings kamen zum Vorschein. Am Eingange des Ortes ließ die Dame halten und stieg aus. Bruchfeld tat dasselbe und folgte ihr in angemessener Entfernung. Sie bog bald ab und bewegte sich mit anmutig ruhigem Gange einer entlegenen Seitengasse zu, die eigentlich nur aus vereinzelten Gehöften bestand, deren Eigentümer zu mäßigen Preisen Sommerwohnungen zu vermieten pflegten. Eines dieser niederen Gebäude sah vornehmer aus und machte den Eindruck eines kleinen Landhauses. Darauf schritt sie jetzt zu, erstieg zwei Stufen, die zum Eingang emporführten, öffnete, an der Klinke drückend, das Tor und verschwand, nachdem sie noch einen schüchternen Blick zurückgeworfen hatte. Bruchfeld ging bis an das Ende der Gasse, die ins freie Feld leitete und sich als offener Weg gegen Heiligenstadt schlängelte. Nun bemerkte er auch, daß hinter den Häusern eine Reihe von Gärten hinlief und ein schmaler Fußpfad daran vorüberführte. In diesen Pfad bog er ein und suchte den Garten des Hauses ausfindig zu machen, in welches die Dame getreten war. Das gelang ihm auch; aber eine ziemlich hohe Umplankung und dichtes Heckengebüsch verwehrten den vollen Einblick. Seine Hoffnung, sie hier zu erspähen, erfüllte sich nicht. Er schritt also den Pfad zurück, um neuerdings in die Gasse einzulenken; vielleicht konnte er sie an einem Fenster erblicken. Und in der Tat, als er an dem Hause vorüber kam, sah er sie, wie in Gedanken versunken, hinter einem zurückgeschlagenen Vorhange sitzen, der die Scheiben des letzten Fensters halb verhüllte. Jetzt hob sie den Kopf, und als sie Bruchfeld gewahrte, kehrte sie rasch die Augen von ihm ab. Er aber war eigentümlich ergriffen. Die verödete ländliche Gasse, der stille, gleichsam in sich verschlossene Wohnsitz, das schöne, blasse, verfallene Gesicht, in dem er Trauer und Müdigkeit wahrgenommen zu haben glaubte: das alles erfüllte ihn mit tiefer Wehmut. Was führt sie in dieses Haus? Wohnte sie darin – oder in jenem, vor welchem er ihr heute begegnet war? Aber wozu diese Fragen? Genug, daß er sie wieder gesehen – wieder gefunden hatte! Und in diesem Bewußtsein jubelte er jetzt plötzlich so laut auf, daß ihn zwei barfüßige Kinder, die am Wegrain spielten, erschreckt und verwundert ansahen. Nun befand er sich wieder auf der Straße und trat, seinen Empfindungen nachhängend, den Rückweg an. Bald gewahrte er die Restauration. Er hatte heute noch nichts genossen, da er erst in der Stadt frühstücken wollte. Nun lud es ihn hier dazu ein. Er fand die Gartenräume ganz leer; nicht einer der zahlreichen Tische war besetzt. Er pochte nach dem Kellner, der endlich in Hemdärmeln erschien. Bruchfeld bestellte Tee und einen leichten Imbiß, den er mit gutem Appetit verzehrte. Dann zündete er eine Zigarre an und blickte mit leuchtenden Augen in den sonnigen Tag hinaus – auf die Rebenhügel hinter den bereits brachliegenden Feldern – auf die grünen Höhenzüge des Kahlengebirges. So selig, wie heute, hatte er sich noch nie im Leben gefühlt. In den Tagen vielleicht, an welchen er als Komponist seine ersten Erfolge errungen. Doch nein! Ein so unsäglich wonniges, fast körperlich schmerzendes Gefühl des Glückes hatte er auch damals nicht gekannt. Und wieder jubelte es in ihm: Gefunden! Gefunden – nach mehr als zwanzig Jahren! 2. II. Ja, über zwanzig Jahre war es her, daß er sie zum ersten Mal erblickt. Und zwar an einem Fenster des Hauses, welches man neben dasjenige hingebaut hatte, in dem er selbst wohnte. Es war damals eine Zeit des allgemeinen Bauens. Wer einiges Vermögen besaß, erstand ein Fleckchen Erde, um sich darauf anzusiedeln, und das nahe, anmutige Döbling war in dieser Hinsicht sehr gesucht. Mit Mißvergnügen hatte Bruchfeld das Gerüst aufführen sehen. Seine Wohnzimmer lagen dicht daran, und so hatte er im Frühling und Sommer den Lärm der Arbeit samt den rötlichen Ziegelstaubwolken in unmittelbarster Nähe. Aber der Neubau, der ein Familienhaus werden sollte, gedieh mit überraschender Schnelligkeit; als die Herbstnebel einfielen, stand er fertig da, ein Stockwerk hoch, vornehm, geschmackvoll. Und im ersten Sommermonate des nächsten Jahres wurde er von den Eigentümern, einem Hofrate im Ruhestande und seiner Frau, bezogen. Das hochbetagte Ehepaar besaß zwei Töchter, welche auch schon längst verheiratet waren. Die ältere mit einem Oberst, der bei einer Militärbehörde in Verwendung stand; die jüngere mit einem Beamten des Ministeriums, in welchem der Hofrat früher selbst gedient. Beide Frauen hatten ihr Heim in der Stadt, besuchten aber mit ihren Kindern oft das elterliche Haus, woselbst sie auch ab und zu mehrere Tage verweilten. Ein ständiger Gast jedoch war eine schon herangewachsene Enkelin, die Tochter des Oberst. Sie schien der erklärte Liebling des alten Paares zu sein; auf Bruchfeld hatte sie sofort einen tiefen Eindruck gemacht. Auch das junge Mädchen schien ihm gegenüber nicht ganz gleichgültig geblieben zu sein. Denn sie zeigte sich öfter, als sie es vielleicht sonst getan haben würde, am offenen Fenster, die ungewöhnlich reiche und schwere Fülle ihrer tiefschwarzen Haare in sichtlicher Vorliebe fast immer mit einer blaßgelben Schleife geschmückt. Auch konnte er wahrnehmen, daß sie sich, nicht ohne Verlangen, von ihm gesehen zu werden, vormittags allein im Hausgarten aufhielt, in den er von seinem Arbeitszimmer sehr bequem hineinblicken konnte. So entspann sich zwischen ihnen eine Art zarten Einverständnisses, ein unschuldiger und doch reizvoller Flirt, der Bruchfeld in die glücklichste Stimmung versetzte. Er hatte sich im Winter des vorigen Jahres hierher zurückgezogen, um an einer Oper zu arbeiten, welche für seine Zukunft entscheidend werden sollte. Nachdem es ihm gelungen war, die Aufmerksamkeit musikalischer Kreise durch einige Tonwerke: Lieder, Sonaten und eine Messe, die in der Augustinerkirche zu Gehör gebracht worden war, auf sich zu lenken, hatte er, kurz entschlossen, eine Stelle im Staatsdienste, die er als Doktor der Rechte bekleidete, niedergelegt, um sich ganz seiner Kunst zu widmen. Ein geringes Vermögen, das ihm durch Erbschaft zugefallen war, erleichterte ihm diesen Schritt, der von mancher Seite mißbilligt wurde – und auch er unterschätzte dessen Gefährlichkeit nicht. Aber er konnte nicht anders. Er fühlte, daß er sonst im Dilettantismus stecken bleiben würde; ihn jedoch drängte es, künstlerisch Bedeutendes zu schaffen. Freilich, wenn ihm das nicht gelang, war er verloren. Denn an eine spätere Umkehr war nicht zu denken, und da er kein Instrument in irgend hervorragender Weise spielte, so blieb ihm auch die Laufbahn eines Virtuosen verschlossen, welche so viele Komponisten nebenher einschlagen. Er hatte eben alles auf einen Wurf gesetzt. In diesem Gefühl der Unsicherheit unterdrückte er das Verlangen, dem schönen Mädchen näher zu treten. In welcher Weise wäre ihm dies auch möglich gewesen? Als Freier gewiß nicht. Was hätte er ihr zu bieten gehabt? Eine vorläufige Anweisung auf seinen künftigen immerhin, fraglichen Ruhm? Und wenn auch sie – was er jedoch sehr bezweifelte – darauf eingegangen wäre: ihre Angehörigen, das fühlte er, würden nie und nimmer zugestimmt haben. Daß er noch einmal so alt war wie sie, hätte ihm kein Bedenken eingeflößt; ja, dieser Umstand kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, stand er doch in der Blüte seiner männlichen Jahre. Ein anderes aber hielt ihn desto mehr von weiterer Hoffnung zurück. Denn er nahm, nicht ohne Anwandlung von Eifersucht, bald genug wahr, daß die auffallende Schönheit Paulas (den Namen hatte er ohne Nachfrage erfahren) auch andere Bewunderer heranzog. Man ging, sichtlich ihr zu Gefallen, durch die ziemlich entlegene Gasse, und es war ganz begreiflich, daß sie anfing, diese Huldigungen zu beachten. Zu denen, welche ihr Aufmerksamkeit besonders auf sich zu lenken suchten, gehörte auch der zweitälteste Sohn einer alten Wiener Familie, welche im Laufe der Zeit zu großem Reichtum und Ansehen gelangt war. Ursprünglich einfache Kaufleute, besaßen jetzt die Hardt zahlreiche Industrien, hatten sich in zwei Provinzen angekauft und pflegten stets einen Teil des Sommers in einem stattlichen Landhause auf der »Hohen Warte« zuzubringen. Er selbst mochte zwanzig Jahre alt sein. Groß und schlank, war er in seiner vornehmen Haltung eine höchst anziehende Erscheinung, und Bruchfeld sah den Tag kommen, wo die beiden sich in Liebe finden würden. So war es August geworden, als ihm eine Einladung aus der Ferne zukam. Einer seiner vertrautesten Studienfreunde hatte sich nach geschlossener Ehe als Notar in einer kleinen Landstadt niedergelassen, ein geräumiges Haus samt Grundstücken erworben und forderte ihn jetzt auf, den Rest des Sommers bei ihm zuzubringen. Bruchfeld überlegte nicht lange. Schien es doch, als wolle das Schicksal ihm den Anblick fremder Erfolge ersparen. Als er spät im Herbst zurückkehrte, fand er das Haus nebenan verödet. Der Hofrat hatte zu kränkeln begonnen und sich mit seiner Frau nach Bozen begeben. Von den übrigen zeigte sich niemand. Als er aber Erkundigung einzog, erfuhr er: Fräulein Paula habe sich mit dem jungen Ritter von Hardt verlobt; die Hochzeit dürfte schon im Winter stattfinden. Es war ihm, als habe er das schon lange gewußt. Dennoch zog sich sein Herz schmerzlich zusammen. Aber diese Empfindung dauerte nicht lange; sie ging alsbald in selbstlose, tiefe Befriedigung über. Ja, es hatte so sein müssen! Die beiden waren für einander bestimmt, und Bruchfeld segnete im stillen das schöne junge Paar, das seinem Glück auf den Höhen des Lebens entgegenging. Dieses Ereignis trug auch dazu bei, daß er nun sofort einen Entschluß ausführte, der schon vor seinem Eintreffen halb und halb zur Reife gediehen war. Der Aufenthalt bei dem Freunde in geregelter Häuslichkeit und anmutiger Gegend hatte ihm sehr wohl getan, und er glaubte zu fühlen, daß er dort mit seiner Arbeit rascher zustande kommen würde, als in Wien, wo ihm bei beginnendem Winter Ablenkungen genug bevorstanden. Er ordnete noch in aller Eile einiges Geschäftliche, gab seine Wohnung auf und reiste wieder ab, ohne Paula noch einmal gesehen zu haben. Die Hoffnungen, welche er auf seine ländliche Zurückgezogenheit gesetzt, erfüllten sich jedoch nicht ganz; es vergingen fast noch zwei Jahre, eh' er die Partitur fertig vor sich liegen hatte. Nun aber kehrte er auch ohne Verzug nach Wien zurück, wo er vorläufig in einem Hotel abstieg. Sein Werk wurde der Hofoper eingereicht; bis zur Entscheidung jedoch wollte er sich mit Behagen wieder einmal dem großstädtischen Leben hingeben, wollte alte Erinnerungen auffrischen, und neue Eindrücke empfangen. Während dieser genußfrohen Untätigkeit begab er sich eines Tages auch nach Döbling und schritt der Gasse zu, in der er gewohnt hatte. Er fühlte sich eigentümlich ergriffen, als er den zwei Häusern, die ihm so vertraut entgegenblickten, näher kam, und war sehr erstaunt, in jenem des Hofrats an offenen Fenstern – es war im Juni – zwei ihm völlig unbekannte Frauen und ein rosiges Kinderantlitz zu gewahren. Später, im Kaffeegarten des Kasinos, das er so oft besucht hatte, stieß er auf eine Gruppe von Bekannten, die ihn sogleich aufs herzlichste begüßten. Nach diesem und jenem fragend, erfuhr er, daß der Hofrat bald nach Bruchfelds Abreise gestorben sei. Das Haus habe man sofort verkauft, da sich herausgestellt, daß der alte Herr nicht nur kein Vermögen, sondern infolge verfehlter Kapitalsanlagen Schulden hinterlassen. Das sei auch mit ein Grund gewesen, daß die Verlobung seiner Enkelin mit dem Herrn von Hardt rückgängig geworden. Dessen Familie habe sich eigentlich seit jeher dieser Verbindung im stillen widersetzt und den unerwarteten Zwischenfall benützt, um den Sohn zur Wahl einer ihm längst zugedachten reichen Erbin zu bestimmen. Allerdings habe auch der Vater der Verlobten, der mittlerweile in Pension getreten und jetzt mit den Seinen in Graz lebe, durch stolzes und hochfahrendes Wesen einige Schuld an dem Bruche getragen. Doch das sei nur Wasser auf die Mühle der Hardts gewesen, bei welchen sich trotz äußerer Vornehmheit noch immer der alte Krämergeist offenbare, wie denn der ganze Vorfall hierorts, wo jedermann das so einzig schöne und liebenswürdige Mädchen gekannt, allgemeine Entrüstung hervorgerufen habe. Diese Entrüstung teilte nun auch Bruchfeld, und vor allem hätte er dem jungen Manne eine solche Herzens- und Gesinnungsschwäche nicht zugetraut. Was mochte Paula, die er sich längst als glückliche Gattin gedacht hatte, dabei empfunden haben? In seiner eigenen Familie war ein ähnlicher Fall vorgekommen. Die Verlassene, ein körperlich sehr zartes, nervöses und empfindsames Mädchen, war in Schwermut verfallen, die sie einem frühen Tode entgegentrieb. Und wenn er auch für Paula ein derartiges Los keineswegs befürchtete, so hatte sie doch, wofern sie Hardt wirklich geliebt – und daran war ja nicht zu zweifeln, – eine jener Enttäuschungen erlitten, welche ein Frauengemüt kaum jemals ganz zu verwinden imstande ist. Aber auch über ihn brachen jetzt schwere Enttäuschungen herein. Nachdem man ihn mit einer Entscheidung über alle Gepflogenheit lange hingehalten, erhielt er eines Tages seine Oper mit der einfachen Bemerkung zurück, daß sie zur Aufführung nicht geeignet sei. Dieser Schlag traf ihn allerdings nicht mehr unerwartet. War er doch scharfsichtig genug gewesen, in dem langen Zögern die bevorstehende Ablehnung zu erkennen; auch waren ja in gewissen Kreisen Worte gefallen, die darauf hindeuteten. Und schließlich sah er ein, daß es so habe kommen müssen. Mit Richard Wagner hatte sich im Stil der Oper nach und nach eine vollständige Wandlung vollzogen. Sein leuchtendes Vorbild aber war Mozart gewesen. Somit hatte er sich in der dramatischen Musik als Epigone gekennzeichnet. Und nach anderen Richtungen hin, wo er sich in seiner tiefsten Eigenart hätte bekunden können, drohte ihn Johannes Brahms, dessen Ruhm eben im hellen Aufleuchten begriffen war, lange Zeit hinaus – wenn nicht für immer in den Schatten zu stellen. Was nun beginnen? Wieder den Doktor der Rechte hervorsuchen, wozu man ihm von mancher Seite ganz unverhohlen riet? Nein! Er durfte sich nicht selbst aufgeben, mußte wohl oder übel auf der Bahn weiter schreiten, die er eingeschlagen ...... Und nun kam eine Reihe von Jahren, die er, von den Verhältnissen im Kampfe ums Dasein hin und her geworfen, größtenteils ferne von Wien zubrachte. Jahre voll fruchtloser Arbeit, zunehmender Entmutigung und bitterer Selbstqual. Eine Kette von Not und Sorgen, von Entbehrungen und Demütigungen aller Art, wie sie den Künstlern von heute kaum mehr begreiflich sind – und von denen er sich noch in der Erinnerung schaudernd abwandte. Endlich aber war auch ihm der Sieg der Beharrlichkeit beschieden. – Im Laufe der achtziger Jahre wurde man wieder auf ihn aufmerksam. Man brachte seine Kompositionen, die in den Konzertsälen mehr und mehr Beifall fanden. Hervorragende Verleger boten sich ihm an – und als er zuletzt mit einem Zyklus ergreifender Symphonien hervortrat, war sein Name in aller Munde. Dieser entscheidende Erfolg fiel mit seinem erreichten fünfzigsten Lebensjahre zusammen. Man wetteiferte, dem Meister – wie man ihn jetzt nannte – die wärmsten Ovationen darzubringen. Ja, man führte sogar die damals zurückgewiesene Oper auf. Sie gefiel, und man pries allgemein den langentbehrten Melodienreichtum, der das immerhin etwas veraltete Werk auszeichnete. So sah sich Bruchfeld plötzlich auf einer Höhe, welche einst zu erreichen der Traum seiner Jugend gewesen. Aber es berauschte ihn nicht. Er hatte viel gelitten, viel erfahren und dabei eine Selbstkenntnis erworben, die ihn fühlen ließ, daß ihm diese späten Ehrungen eigentlich mehr boten, als er verdiente. Er war kein Bahnbrecher gewesen, ein Spätgeborener war er, in dessen Werken die Musik einer großen Vergangenheit gewissermaßen den letzten elegischen Nachhall gefunden. Und das genügte ihm auch. Denn in dieser Art zu schaffen, war ja, das wurde ihm jetzt vollständig klar, die Aufgabe seines Lebens gewesen, und er hatte sie, gleichsam unbewußt, erfüllt. Nun wollte er sich in seiner Vaterstadt dauernd niederlassen; früher aber noch eine Reise nach Italien unternehmen, das er einst nur flüchtig hatte durchwandern können, und wohin ihn die Sehnsucht der Erinnerung trieb. Vielleicht empfing er dort die Anregung zu einem größeren Werke, mit welchem er seine Laufbahn würdig abschließen konnte .... Und nun war ihm Paula begegnet! Paula, die er niemals hatte vergessen können – selbst nicht während einer mehrjährigen, durch den Tod gelösten Beziehung zu einer geistvollen Frau, die sein Schaffen aufopfernd gefördert. In dem Salon eines fürstlichen Schlosses, wo ihm einst gastliches Asyl geboten war, hing ein weibliches Porträt, von dem niemand wußte, wen es eigentlich vorstellte. Es trug keine Signatur, stammte jedoch entschieden aus der Zeit des Flors englischer Malerkunst. Die Ähnlichkeit der jungen Dame mit Paula war ganz unglaublich. Dieselben Züge, dieselben Augen – derselbe rote, gleich einer Knospe leicht geöffnete Mund! Bruchfeld trieb stille Abgötterei mit diesem Bilde; ein junger Maler kopierte es auf seinen Wunsch. Nicht ganz glücklich; aber er ließ es doch sofort in seinem Zimmer anbringen. Und auch gesehen hatte er sie im Laufe der Jahre – zweimal gesehen. Das erste Mal ganz flüchtig im Profil an einem Fenster in der Währingerstraße Sie war sofort wieder verschwunden; aber es konnte keine Täuschung gewesen sein, und er fühlte sich versucht, im Hause nähere Erkundigung einzuziehen. Aber wozu? Es war ja noch in seiner schlimmsten Zeit, und er trug sich damals gerade mit der Absicht, Wien dauernd zu verlassen. Lange nahher, als er eben seine Triumphe feierte, begegnete er ihr im Stadtpark, den er in Gesellschaft einiger Herren durchschritt, um in die Reisnerstraße zu gelangen. Bei der Karolinenbrücke kamen zwei weibliche Gestalten in Sicht, welche Bruchfeld, im Gespräch begriffen, nicht weiter beachtete. Erst ganz in der Nähe erkannte er Paula, die Arm in Arm mit einem halbwüchsigen Mädchen rasch einher schritt. Die Blicke begegneten sich, und eine flammende Röte trat in ihr schönes Antlitz, das, wie die ziemlich hagere Gestalt, bereits leichte Spuren des Alterns aufwies. Bruchfeld konnte sich von seinen Begleitern nicht trennen und mußte es aufgeben, ihr zu folgen. So war sie ihm wieder entschwunden! Es schien ihm zwar, daß sie unweit des Parkes wohnen müsse; aber zu Nachforschungen fand er nicht mehr Gelegenheit, da ihn eine künstlerische Verpflichtung, die er in diesen Tagen übernahm, neuerdings auf unbestimmte Zeit in die Ferne trieb. Jetzt endlich, da er sich dauernd in Wien niederlassen wollte – jetzt hatte er sie gefunden! * * * Das Rollen eines Stellwagens, der von Grinzing kam, drang an sein Ohr. Er zog die Uhr und sah, daß er vielleicht noch Zeit fände, der Sitzung beizuwohnen, zu welcher ein musikalischer Verein sein Erscheinen erbeten hatte. Er pochte heftig nach dem Kellner, und da dieser nicht gleich kam, legte er einen Gulden auf das Teebrett und eilte zu dem Wagen, der eben vor der Restauration anlangte. 3. III. Er war in der Tat noch rechtzeitig eingetroffen; aber seine Gedanken schweiften derart von den Verhandlungen ab, daß er einmal, zur allgemeinen Verwunderung, eine ganz verkehrte Antwort gab. Er befand sich in einer Art von Trunkenheit, die erst dann ruhiger Besinnung wich, als er nach gesellig verbrachtem Tage in seinem stillen Zimmer zu Bette lag. Was war denn über ihn gekommen? Was wollte er eigentlich? Er hatte sie wiedergesehen. Welche Hoffnungen knüpfte er daran? Er wußte ja gar nichts von ihr und über sie! War sie noch Mädchen – oder verheiratet? Das letztere schien ihm nicht wahrscheinlich, denn sie sah gar nicht danach aus. War sie also noch frei – nun, dann konnte er jetzt um sie werben. Wie alt war sie denn? Er vermochte es zu berechnen. Sie stand in ihrem siebenunddreißigsten – er in seinem fünfundfünfzigsten Lebensjahre. Allerdings ein Unterschied. Aber war ihm denn nicht gerade in letzter Zeit von verschiedenen Seiten ganz wohlwollend geraten worden, zu heiraten? Er dürfe sich nur nicht an die Jüngste machen; etwa an eine zwischen dreißig und vierzig. Das stimmte ja. Hatten doch schon weit ältere Männer, als er, noch ganz glückliche Ehen geschlossen! Und wie lange war es denn her, daß sich ihm eine junge Dame förmlich an den Hals geworfen? Freilich, sie hatte die Absicht, sich zur Virtuosin auszubilden – und da lag die eigentliche Triebfeder wohl klar zutage. Aber es war doch auch seine Persönlichkeit mit im Spiele gewesen bei dieser raschen, enthusiastischen Neigung, welcher er, da er sie nicht erwidern konnte, mit aller Entschiedenheit aus dem Wege gegangen. Er hatte überhaupt keine Vorliebe für Künstlerinnen und solche, die es werden wollten; er wußte, warum. Und nun erinnerte er sich, daß er Paula nie Klavier spielen gehört habe, und das war ihm damals ganz recht gewesen; es würde ihn ja nur im Arbeiten gestört haben. Aber wenn sie wirklich verheiratet war? Er fühlte einen raschen Schmerz am Herzen. Bliebe immer noch die Frage: ob auch glücklich? Und wenn nicht? Nun, dann – – Er lächelte jetzt über sich selbst. Wie weit ins Blaue hinein verstieg er sich! Was war da auszudenken? Es lag ja noch alles wie unter dichten Schleiern verborgen. So überkam ihn endlich wieder nur die selige Gewißheit, daß er sie gefunden – und daß er sie morgen wiedersehen müsse. Aber wo? Sollte er nach Grinzing fahren? Sollte er sich zur selben Stunde wie heute an den Ort begeben, wo er sie getroffen? Das letztere, schien ihm, als weniger auffallend, vorzuziehen; auch war er fast überzeugt, daß sie in dem Hause wohne, vor welchem sie auf und nieder gegangen. Dort also wollte er sie erwarten. Mit diesem Entschlusse schlief er ein. Am nächsten Morgen trieb ihn die Ungeduld schon lange vor neun Uhr hin. Mit klopfendem Herzen ging er, vorsichtig nach den Fenstern spähend, an dem Hause vorüber. Dabei nahm er wahr, daß sich der Eingang in der schmalen Seitengasse befand, deren Ecke das hübsche, zweistöckige Gebäude bildete. Da heraus also mußte sie kommen. Er stellte sich in einiger Entfernung auf und harrte. Langsam verstrich eine halbe Stunde; schon gab er die Hoffnung fast verloren, daß sie erscheinen würde. Jetzt aber sah er den blauen Sonnenschirm – und die zarte Gestalt bog um das Gitter, an dessen Rand sie wie gestern das Körbchen stellte. Als sie ihn erblickte, wendete sie langsam das Haupt ab. Nun zeigte sich auch schon der Wagen. Bruchfeld verzichtete darauf, mitzufahren. Sie sollte erkennen, daß er gekommen war, sie zu sehen, daß er aber nicht die Absicht habe, sich aufzudrängen; nur in zartester, rücksichtsvollster Weise wollte er vorgehen. Er wartete, bis sie eingestiegen war, und ließ dann den Wagen an sich vorüberfahren. So war er fürs erste ganz zufrieden. Wenn er nur noch gewußt hätte, wem ihre Fahrten nach Grinzing galten. Aber auch das würde sich ja zeigen. Mit solchen Gedanken bog er in die Hauptstraße ein und trat in eine Trafik, um Zigarren zu kaufen. Dabei stieß er auf die Zeitungsträgerin, die eben den Laden verlassen wollte. Sie betrieb ihr Geschäft schon viele Jahre, und Bruchfeld erinnerte sich ihrer noch als eines hageren, starkknochigen Mädchens, das damals auch die Briefe austrug, denn es gab noch kein eigentliches Postamt in dem ländlichen Bezirk. Jetzt war sie eine stattliche, beleibte Vierzigerin mit klugen, freundlichen Augen. Sie begrüßte Bruchfeld sofort als alten Bekannten. »Das ist schön, Herr Doktor, daß Sie wieder hier sind! Habe Sie schon ein paarmal auf der Straße gesehen. Bleiben Sie jetzt bei uns?« »Einige Zeit gewiß. Aber wie ist es Ihnen seither ergangen? Ganz vortrefflich, wie man sieht. Sie sind gewiß verheiratet?« »Freilich, freilich. Dem entgeht man nicht, habe mich lange genug gesträubt. – Aber auch Sie, Herr Doktor, sehen sehr gut aus. Bißchen grau, im übrigen fast ganz so, wie damals, als ich Ihnen die Briefe in die Donaugasse brachte. Das war freilich noch eine andere Zeit. Erinnern Sie sich an das schöne Fräulein nebenan?« »Im Hause des Hofrats? Was ist mit ihr?« »Die lebt jetzt auch wieder in Döbling – als Frau.« »So.« »Sie muß leidend sein, denn sie sieht elend aus – ist aber noch immer sehr schön. Wahrscheinlich ist sie wegen der Eltern herausgezogen; die bereits seit drei Jahren hier in der Hauptstraße wohnen. Der Herr Oberst ist schon sehr alt und gebrechlich. Darum haben sie ihn über den Sommer nach Sievering oder Grinzing gebracht, wo er bessere Luft hat.« »Und wen hat denn die Tochter geheiratet?« »Das kann ich eigentlich nicht sagen. Die Leute halten kein Blatt. Aber der Mann ist jedenfalls nichts Besonderes, sonst wüßt' ich's. Ziemlich bejahrt ist er auch schon. Wird wohl so eine Notehe gewesen sein – nach der verunglückten reichen Partie.« Damit nahm sie ihren Pack Zeitungen auf und verließ mit einem eiligen Gruß den Laden. Also verheiratet! Und der Mann nichts Besonderes. Auch schon ziemlich bejahrt. Bruchfeld wiederholte sich das, während er jetzt seinem Wohnhause zuschritt, das am äußersten Ende der Straße lag, von einem großen Park umgeben. Er sah im Geiste, wie alles gekommen sein mochte. Zuerst eine Zeit der Kränkung und des Harms. Dann vielleicht allmähliches Anknüpfen neuer Beziehungen, die wieder in anderer Weise von den Umständen nicht begünstigt waren und abermals gelöst werden mußten. Dumpfes, verdrossenes Dahinleben, langsames Verblühen – und endlich, so hatte ja die Frau gesagt, die Notehe mit einem nicht geliebten Manne. Kein ungewöhnliches Mädchenschicksal, dem seltsamerweise gerade die Schönsten und Anziehendsten so häufig zu verfallen pflegen! Und diese Überzeugungen bestärkten sich in ihm, als er am nächsten Morgen im Rauchcoupé des Stellwagens saß. Sie hatte diesmal nur auf dem Vordersitze Platz gefunden, und so war sie ihm vollständig vor Augen. Sie sah heute nicht ganz vorteilhaft aus. Ein hohes, dunkles Hütchen mit schmalem Rande ließ ihr ohnehin gestrecktes Gesicht etwas zu lang erscheinen. Und wie fahl, wie verwittert war dies Gesicht! Er nahm deutlich alle Schäden wahr, die Zeit und gewiß auch Krankheit darin hervorgebracht; nur der leicht geschwellte Mund hatte sich frisch erhalten. Und einen eigentümlichen Zug entdeckte er, der um diesen Mund sowie um die Nasenflügel lag – und von dem er sich unangenehm berührt fühlte, er wußte nicht warum. Erst als sie den Kopf zur Seite wendete, kam ihr Profil – und damit wieder ihr ganzer Reiz zum Vorschein, der ihn auch wieder ganz gefangen nahm. Mit Wehmut betrachtete er jetzt das Kleid, das sie trug. Es war zu bauschig für ihren zarten Leib, und der gelblich-graue Stoff sah verschossen aus. Er verkehrte jetzt so viel in Kreisen, wo die Frauen eine fast frevelhafte Kleiderpracht entfalteten. Und sie – sie mußte sich einschränken, mußte sich, das sah man, behelfen, wie es anging. Sein Blick verweilte auf dem einzigen Schmuckstück, das sie trug: auf einer kleinen, abgenützten Filigran-Silberbrosche, die eine Marguerite vorstellte. Er dachte dabei an das Gold-und Juwelengefunkel, das ihm so oft bei anderen vor Augen kam. Zwar wußte er gar wohl, daß auf derlei das Glück des Lebens nicht beruhe, und dennoch machte es ihm Schmerz, daß er Paula in Verhältnissen fand, die sie zwangen, im überfüllten Omnibus zu fahren, und, wie er jetzt erkannte, der Hauswirtschaft ihrer Eltern ein gefülltes Körbchen zuzutragen .... Und auch des Gatten sollte er am nächsten Tage ansichtig werden. Es war Sonntag, und Bruchfeld hatte dem Verlangen, Paula zu sehen, nicht nachgegeben. Seit er wußte, daß sie verheiratet war, wollte er doppelt zurückhaltend sein. An ihr lag es nun, ihm in irgendeiner Weise kund zu geben, ob ihr eine Annäherung erwünscht sei oder nicht. Um drei Uhr fand in der Villa, die ihn beherbergte, ein Diner statt; es waren einige hervorragende Persönlichkeiten, Herren und Damen, geladen worden. Beim Kaffee beschloß man, da das Wetter herrlich war, eine Ausfahrt zu unternehmen. Es wurde der Weg gegen Weidling durch die Wälder bei Sievering vorgeschlagen. Die Gäste hatten Wagen mitgebracht, zwei Hausequipagen standen zur Verfügung – und so setzte sich die Pierutschade nach fünf Uhr in Bewegung. Bruchfeld, der mit der Gattin eines hohen Würdenträgers im zweiten Wagen saß, war sehr zerstreut. Er dachte an Paula, und es war ihm, als sollte er sie während der Fahrt irgendwo erblicken. Als man an der abzweigenden Grinzinger Straße vorüberkam, spähte er unwillkürlich nach dieser Richtung hin. Nun fuhr man in das langgestreckte Sievering ein, das sich von sonntäglichen Ausflüglern äußerst belebt zeigte. Aus den überfüllten »Buschenschänken« klang lustige Musik; die Tische in den Kaffeegärten waren dicht besetzt. Trotzdem stieß man auf ganze Reihenzüge von Menschen, die bereits den Heimweg antraten, denn die Dämmerung brach schon allmählich herein. In diesem Gewühl, das sich auf dem schmalen Fußweg fortbewegte, entdeckte Bruchfeld plötzlich Paula, die am Arm eines Herrn, wie in sich versunken, langsam dahin schritt. Sie trug heute ein sehr hübsches dunkles Kleid und einen sichtlich neuen Hut, der mit roten Blumen geputzt war. Bei dem raschen Heranrollen der Gefährte hob sie den Kopf und faßte den ersten Wagen so aufmerksam ins Auge, daß der zweite ihrem vollen Blick entging und Bruchfeld nicht wußte, ob er von ihr gesehen wurde oder nicht. Desto eindringlicher jedoch hatte er selbst den Herrn an ihrer Seite betrachtet. Er mochte ein Vierziger sein, war schon leicht ergraut, wies aber ein angenehmes, wenn auch unbedeutendes Gesicht. Mit einer gewissen modischen Eleganz gekleidet, machte er den Eindruck eines behaglichen, selbstbewußten Mannes in mittlerer Lebensstellung. Bruchfeld blickte, solange er konnte, dem Paare nach, das nun wieder gleichmütig schweigsam weiter schritt. Ein eigentümliches Gefühl überkam ihn: Eifersucht mit einer Art von Bedauern gemischt. Das also war ihr Mann! Und sie hatte mit ihm von Grinzing aus höchst wahrscheinlich das bekannte Gasthaus zur »Agnes« besucht, in dessen Garten eine Militär-Kapelle spielte. Mitten in dem banausischen Schwarm zu sitzen, schlechten Kaffee zu trinken und triviale Musik anzuhören, war jetzt ihr Sonntagsvergnügen. Wäre sie sein Weib, welch edle Freuden und Genüsse des Daseins ständen ihr zu Gebote – in welcher Umgebung könnte sie sich bewegen! Aber woher wußte er denn, daß sie danach verlangte? Vielleicht war sie vollständig zufrieden – und nur seine Eigenliebe, seine Eitelkeit hatten ihn zu all diesen Reflexionen bewogen! Dennoch saß er Montags wieder im Rauchcoupé. Und zwar allein mit einem Herrn, den er dort schon angetroffen hatte, als er und Paula eingestiegen waren. Sie selbst, auf dem Rücksitze, wandte nicht einmal den Kopf. Der Herr aber, dessen Äußeres den älteren begehrlichen Lebemann bekundete, faßte sie durch seinen Kneifer fortwährend ins Auge. Bruchfeld empfand das sehr unangenehm, da er aber nichts dagegen tun konnte, so wünschte er der Fahrt diesmal ein rasches Ende. Als Paula an der gewohnten Stelle ausstieg, blieb er sitzen, um jenem, der ihr noch mit den Blicken folgte, keinen Anlaß zu Vermutungen zu bieten. Auf dem Standplatze verließen beide den Wagen; der Herr wandte sich nach links, Bruchfeld nach rechts – und eilte der bekannten Gasse zu. Dort angelangt, mäßigte er den Schritt. Sie mußte, so dachte er, erkannt haben, weshalb er zurück geblieben war, mußte sich ihm, wenn sie auf seine Empfindungen einging, jetzt am Fenster zeigen. Aber statt ihres Gesichtes erblickte er das ernste, sorgenvolle einer bejahrten Frau, die durch eine Brille Weißzeug musterte. Gewiß Paulas Mutter, deren er sich kaum mehr erinnert hatte. Er spähte nach den anderen Fenstern, aber es war niemand sichtbar. Er schritt bis an das Ende der Gasse. Dort blieb er mit dem drückenden Gefühl der Enttäuschung stehen. Es war ihm, als sollte er jetzt jede Hoffnung verloren geben. Warum, das wußte er selbst nicht; sie konnte ja verhindert gewesen sein, ihn am Fenster zu erwarten. So wollte er denn noch einmal vorübergehen. In einer fatalistischen Anwandlung beschloß er, alles davon abhängen zu lassen, ob er sie jetzt sehen würde. Als er sich dem Hause näherte, ging das Tor auf – und Paula trat heraus. Sie hatte ihn sofort wahrgenommen und schlug die Richtung nach dem Ort ein. Ihn hatte ein freudiger Schreck durchzuckt. War das Zufall? War es Absicht? Gleichviel: ein entscheidender Augenblick war da – und er mußte benützt werden. Nun aber überkam ihn eine Zaghaftigkeit, die weder seinem Alter, noch seinen Erfahrungen angemessen war. Er fühlte sich wie gewaltsam von ihr ferne gehalten, obgleich sie einmal leicht nach ihm zurückgeblickt hatte. So war sie eine ziemliche Strecke weit gegangen, als er endlich mit raschem Entschluß an ihre Seite trat. »Zürnen Sie mir, daß ich es wage –?« begann er und fühlte sogleich, welch verbrauchte Phrase er da hervorgeholt; aber er hatte in seiner Aufregung keine andere gefunden. »Warum sollte ich Ihnen zürnen?« erwiderte sie, indem sie den Kopf hob. »Ich kenne Sie ja.« Er zitterte bei dem Klang dieser tiefen, dunklen, weichen Stimme, die er von früher her kannte; sie war ja oft in kurzen, abgebrochenen Lauten aus der Ferne zu ihm gedrungen. »Sie kennen mich also noch?« fragte er und empfand sogleich wieder, daß er nichts Einfältigeres hätte sagen können. »Gewiß. Ich habe mich damals für Sie interessiert. Aber warum wollen Sie jetzt gerade mich ?« fuhr sie rasch und unwillig fort. »Sie werden doch als berühmte Persönlichkeit Auswahl genug haben. Und ich bin ja schon vergeben.« Er hatte sich allmählich gefaßt. »Ich weiß,« sagte er, »daß Sie bereits vergeben sind. Aber ich will ja auch nichts anderes, als Ihnen sagen, daß die Erinnerung an Sie niemals aus meiner Seele gewichen ist – daß ich stets und unter allen Verhältnissen des Lebens an Sie gedacht habe –« »Eine ideale Liebe!« sagte sie kurzweg. »Ja, eine ideale Liebe! Und so will ich glücklich sein, wenn ich Sie nur von Zeit zu Zeit sehen, den Klang Ihrer Stimme vernehmen – den Zauber Ihres Wesens in mich aufnehmen darf.« »O nein! Ich bewillige keine Zusammenkünfte. Das würde meinem Manne höchst unangenehm sein. Denn er liebt mich sehr.« »Das ist nur zu begreiflich. Aber – verzeihen Sie mir diese Frage – sind Sie in Ihrer Ehe glücklich?« Sie schwieg einen Augenblick. »O ja! Ich bin meinem Mann sehr gut. Er verdient es auch. Er bringt mir jedes Opfer und trägt mich auf Händen.« Bruchfeld erwiderte nichts darauf; was sie da sagte, überzeugte ihn nicht. »Und wie lange sind Sie schon verheiratet?« fragte er endlich. »Sechs Jahre.« »So lange. Sie waren es also schon, als ich Ihnen – erinnern Sie sich noch – einmal im Stadtpark begegnete?« »Freilich. Ich bin bei dieser Begegnung über und über rot geworden, so daß mich meine junge Nichte, die mit mir ging, um den Grund fragte.« »Auch ich habe es bemerkt. Und ich will Ihnen nur gestehen, daß ich dieses Erröten zu meinen Gunsten deutete. Ich war untröstlich, daß ich Ihre Spur nicht verfolgen konnte.« »Was hätten Sie davon gehabt? Und dann – ich erröte sehr leicht. Es ist eine üble Gewohnheit, für die ich allerdings nichts kann; sie liegt mir im Blute.« Wie um diesen Ausspruch zu erhärten, errötete sie jetzt sehr stark bei dem ehrerbietigen Gruße eines knabenhaft aussehenden Jünglings, der eilig an ihnen vorüberkam. »Das ist ärgerlich,« sagte sie, »daß uns der gesehen hat.« »Warum?« »Er ist der Sohn des hiesigen Kaufmanns, bei dem wir alles nehmen. Da wird mein Mann erfahren, daß ich mit einem Herrn gegangen bin.« »Aber wie sollte er denn gleich –?« »Er kennt den Kaufmann, der ihn besonders verehrt und ihn manchmal um Rat bittet.« »Ist Ihr Gemahl vielleicht auch –?« »Nein, er ist Bankbeamter.« Eine Pause trat ein. Dann sagte Bruchfeld: »Wissen Sie, daß ich Sie gestern mit ihm gesehen habe?« »So? Wo denn?« fragte sie, wieder leicht errötend. »In Sievering.« »Ach ja; wir waren bei der Agnes . Sie auch? Ich habe Sie dort nicht wahrgenommen.« »Nein; ich bin in Gesellschaft durch den Ort gefahren.« »In der langen Wagenreihe? Die hab' ich wohl gesehen, aber Sie nicht.« Sie waren mittlerweile, auf sonnig stillen, vereinsamten Wegen schreitend, in die Nähe des Grinzinger Platzes gekommen, wo sich regeres Leben bemerkbar machte. »Jetzt dürfen Sie nicht weiter mit mir gehen,« sagte sie. »Hier wohnen lauter Bekannte.« Ihm war eigentümlich zu Mute. Er fühlte sich enttäuscht, zurückgewiesen – und doch festgehalten. Er konnte den Blick nicht abwenden von diesem fahlen, dunkeläugigen Antlitz, in welchem der knospenhafte Mund rot aufschimmerte. Ihre Stimme berauschte ihn förmlich. »Ich darf Sie also nicht wiedersehen?« fragte er tonlos. »Sehen können Sie mich ja. Ich fahre täglich um die gleiche Stunde hierher. Zu meinem kranken Papa.« »Und ich kann mitfahren?« »Das steht jedermann frei. Leben Sie wohl!« Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie, ohne sie festzuhalten. »Leben Sie wohl!« erwiderte er und entfernte sich. Alsdann besann er sich, daß er nicht einmal den Hut gelüftet, so in sich versunken war er von ihr weggegangen. Er blieb stehen, um zurück zu grüßen; aber sie war bereits verschwunden. Was wird sie von ihm denken! Doch sie war selbst schuld daran. Ihr seltsames Wesen hatte ihn verwirrt. Er begriff sie nicht. Abweisen konnte sie ihn ja, wenn sie ihn aber schon neben sich hergehen ließ, dann mußte sie auch, nach und nach wenigstens, einen wärmeren Ton finden. Sie hatte ihn behandelt wie einen ihr völlig Fremden – kein Wort, daß sie die ganze Zeit über auch nur einmal an ihn gedacht! Sein Herz zog sich zusammen. Aber wenn er ihr so vollständig gleichgültig war, warum hatte sie ihm zugestanden, daß er sie sehen – daß er mitfahren könne? Das hieß doch nur, die angeknüpften Beziehungen fortsetzen. Freilich, ihre Worte hatten nicht ermunternd geklungen. Aber die Frauen lieben ja solch widerspruchsvolle Kundgebungen – vielleicht lag nur ihr eigener Wunsch dahinter! Ein plötzliches, ungestümes Gefühl der Freude tauchte bei diesem Gedanken in seiner Brust empor – und schon war es ihm, als könne er den morgenden Tag nicht erwarten, der ihm Paula wieder vor Augen führen sollte. 4. IV. Als er aber nach Hause kam, fand er eine Einladung vor, die ihn nach einem ziemlich entlegenen Landsitze rief. Es wurde dort in einer ihm befreundeten Familie ein bedeutsames Fest gefeiert, das er, wie man ihm schrieb, durch seine Anwesenheit verherrlichen sollte. Auch wurde er gebeten, zu dieser Feier ein kleines musikalisches Programm zu entwerfen. Er mußte also noch heute aufbrechen und wurde an Ort und Stelle mit Jubel empfangen. Es war schon alles in vorbereitender Bewegung: auch er konnte sich gleich an die Arbeit machen, denn er hatte nun in aller Eile einen Frauenchor zu komponieren – und die Musik zu lebenden Bildern, welche von einem jungen Maler entworfen und gestellt wurden. Inzwischen füllte sich das weitläufige Haus mit Gästen, so daß es von einer Anzahl schöner Frauen und blühender Mädchen aufs anmutigste belebt wurde. Keine aber von allen – diese Wahrnehmung drängte sich Bruchfeld immer überzeugender auf – konnte sich an eigentümlichem Reiz der Erscheinung mit Paula messen. Imposantere Gestalten, schwellendere Formen, blühendere Wangen sah er wohl: nicht eine jedoch wies jenes unergründliche Etwas auf, das an der krankhaft zarten, verblühten Frau so unwiderstehlich anzog. Am Tage der Feier, wo erlesene und glänzende Trachten die versammelten Schönheiten aufs günstigste hervorhoben, fühlte er, daß Paula, wenn sie jetzt, gleich jenen geschmückt, in den Saal träte, aller Augen auf sich lenken und ungeteilte Bewunderung hervorrufen würde. So hatte er dort nur immer größere Sehnsucht nach ihr empfunden, und als er zurückgekehrt war, begab er sich gleich am nächsten Morgen mit ungeduldigen Schritten nach dem kleinen Platze. Er war, da er sich vom Hause entfernte, durch eine zufällige Begegnung auf der Straße in ein Gespräch verwickelt worden, das er nicht sofort hatte abbrechen können, und fürchtete nun schon, zu spät zu kommen. In der Tat hatte sich Paula bereits vor dem Gitter eingefunden; als sie ihn jetzt erblickte, glitt ein Lächeln über ihre Züge. Ihr an dieser Stelle zu nahen, wagte er nicht; stieg aber später gleichzeitig mit ihr in die vordere Abteilung des Wagens, der diesmal fast unbesetzt war. Nur im Rauchcoupé saßen zwei Obsthändlerinnen mit ihren leeren Körben. Sie waren während der Fahrt eingenickt und wurden durch den Ruck des Haltens aus ihrem Schlummer geweckt. Dann aber schlossen sie, sich zurücklehnend, sofort wieder die Augen. Erst jetzt brachte Bruchfeld seinen Gruß dar, den Paula mit einer gewissen zurückhaltenden Freundlichkeit erwiderte. »Wir sind heute allein«, sagte sie und warf einen Blick nach den beiden Weibern. »Die zwei beachten uns nicht.« Er sah sie mit bewundernden Augen an. Sie trug heute wieder den flachen Strohhut mit stahlblauem Aufputz, und ein zarter rosiger Anhauch verklärte ihr Gesicht. »Wie schön Sie sind!« sagte er bewegt. »Sie wollen mich mit Schmeicheleien gewinnen«, erwiderte sie trocken. »Darauf geb' ich nichts.« Diese Äußerung verdroß ihn. »Ich pflege nicht zu schmeicheln,« versetzte er nachdrücklich, fast heftig, »sondern nur zu sagen, was ich empfinde.« Sie schrak leicht zusammen. »Nun, ich will es ja glauben. Aber ich bin nicht schön. Vielleicht war ich es einmal. Sie wissen am besten, wie weit ich über die Jugend hinaus bin.« »Was sollte dann ich sagen? Ich bin inzwischen ein alter Mann geworden.« »Ein Mann ist nie alt. Aber eine Frau in meinen Jahren! Auch bin ich nicht gesund. Ich kann mich nach meinem zweiten Kinde nicht mehr erholen.« Er blickte sie betroffen an. Daß sie Mutter sein könnte, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. »Sie haben also Kinder?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Gehabt. Beide sind gleich nach der Geburt gestorben. Die letzte war eine sehr schwere und hat mich dem Tode nahe gebracht.« Er schwieg und sie blickte nachdenklich vor sich hin. So wurde es still; nur das Rollen und Ächzen der Wagenräder war zu vernehmen. »Wissen Sie,« begann sie endlich, »daß ich schon geglaubt habe, Sie würden nicht mehr kommen?« »Wie konnten Sie das nur denken? Ich wollte gleich am nächsten Tage – ich war jedoch durch Unabweisliches –« »Entschuldigen Sie sich nicht,« unterbrach sie ihn; »es ist nicht notwendig. Aber, sie waren so verstimmt, als Sie von mir gingen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Sie nicht durch irgend etwas beleidigt – –« »Beleidigt gewiß nicht. Gestehen will ich aber, daß ich verstimmt – oder vielmehr betroffen war. Ich konnte mich in Ihnen gar nicht zurecht finden. Sie waren so kurz angebunden – so unherzlich. Wenn ich auch kein Entgegenkommen erwarten durfte – so doch einige freundliche Worte der Erinnerung –« »Mein Gott, ich erschrak, als Sie mich ansprachen. Es war mir, als hätten Sie von mir eine schlechte Meinung – hielten mich für sehr leichtfertig –« »Wie konnten Sie nur –?« »Und dann – gerade in der Gasse, in der meine Eltern wohnen – so nahe dem Platze, wo mich jeder mann kennt –« »Gewiß – es war sehr unüberlegt. Doch Ihr Anblick – als Sie aus dem Tor traten –« »Nun, es hat ja zum Glück keine Folgen gehabt. Aber Sie müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Es war klug von Ihnen, daß Sie an jenem Tage nicht gleichzeitig mit mir ausgestiegen sind; ich hatte schon gefürchtet, Sie würden es tun. Dem Herrn, der mit Ihnen im Coupé saß, wäre das sofort aufgefallen. Er hat früher einmal in Döbling gewohnt – und sich sehr um mich bemüht. Ohne Erfolg natürlich«, setzte sie rasch hinzu. Bruchfeld schwieg. »Und Sie müssen mich auch heute allein aussteigen lassen, dürfen sich überhaupt in unserer Gasse nicht mehr zeigen. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, fuhr sie, wie von einem plötzlichen Einfall ergriffen, fort. »Erwarten Sie mich morgen um neun Uhr hier an der Straße. Ich werde in der Nähe der Restauration den Wagen verlassen und den Seitenweg einschlagen, der zur Sieveringer Kapelle führt. Ich will ein Gebet für meinen kranken Vater verrichten. Sie können mich dorthin begleiten. Sind Sie einverstanden?« »Sie fragen noch!« »Nun also, um neun. Die Eltern werden in der nächsten Woche wieder ihre Döblinger Wohnung beziehen. Denn es könnte plötzlich rauhes Wetter eintreten, und da muß Papa schon wieder unter Dach sein.« »Ihr Papa ist also sehr krank?« fragte Bruchfeld teilnahmsvoll. »Ach ja. Der Marasmus des Alters. Es ist keine Hoffnung mehr. Aber nun leben Sie wohl; ich bin gleich zur Stelle.« Er zog einen kleinen Strauß prachtvoller Nelken hervor, die er beim Hausgärtner bestellt hatte. »Nehmen Sie diese Nelken!« bat er. Sie blickte mit Widerstreben darauf. »Die sind wirklich schön«, sagte sie, »aber ich kann sie nicht nehmen. Man würde mich gleich fragen, woher ich sie habe. Eine aber will ich behalten – da die rote.« Sie löste sie los und führte sie rasch und leicht an die Lippen. Dann barg sie die Blume in der Tasche ihres Kleides. Sie waren in Grinzing und der Wagen hielt. »Also Adieu!« flüsterte sie und reichte ihm, schon im Aussteigen begriffen, die Hand. Bruchfeld blickte ihr nach, so lange er konnte, und sah, daß sie ihm aus der Entfernung einen Gruß zuwinkte. 5. V. Er hatte spät Nacht gemacht und war dann in einen unruhigen Schlaf verfallen, aus dem er zeitig erwachte. Als der Diener eintrat, um die Fensterläden zu öffnen, fiel nur mattes Licht ins Zimmer und die herbstlichen Wipfel des Gartens zeigten sich in Nebel gehüllt. Kein günstiges Wetter, dachte Bruchfeld, während er sich ankleidete. Seit vierzehn Tagen ungetrübter blauer Himmel – und gerade heute verhüllt er sich! Er frühstückte; dann verließ er das Haus. Es war noch früh, und so schritt er langsam durch die Gassen von Unterdöbling und längs der ansteigenden Felder und Weingärten dem Orte des Stelldicheins zu. Eine empfindliche Kühle herrschte, und weithin lag alles im Nebel. Aber die steigende Sonne schien ihn durchdringen zu wollen; von Zeit zu Zeit wurde ein lichtes Schimmern am Firmament sichtbar. Nachdem er ziemlich lange in der Nähe der Restauration auf und abgeschritten war und wiederholt nach der Uhr gesehen hatte, zeigte sich endlich der Wagen, der Paula bringen sollte. Jetzt hielt er; ihre zarte Gestalt, von einem hellgrauen Regenmantel knapp umschlossen, kam zum Vorschein und schlug den breiten Seitenweg ein. Bruchfeld wartete noch, bis der Wagen eine gewisse Entfernung erreicht hatte, dann eilte er ihr nach. Beim Geräusch seiner Schritte mäßigte sie die ihren, und bald war er ihr zur Seite. »Guten Morgen!« sagte sie, mit reizendem Lächeln seinen Gruß erwidernd. »Ich hatte schon gefürchtet, unsere Begegnung würde zu Wasser werden. Als ich heute Morgen – wir stehen sehr früh auf, weil wir abends sehr bald zu Bett gehen – aus dem Fenster sah, erblickte ich alles grau in grau. Aber es heitert sich aus. Sehen Sie nur!« Sie wies mit der Spitze ihres Schirmes gegen den Himmel, der in der Tat über der wallenden Nebelschicht leise zu blauen anfing. »Es wird noch der schönste Tag werden.« »Der schönste meines Lebens!« rief er aus. »O Paula – verzeihen Sie, daß ich Sie so nenne – Sie wissen nicht, was ich empfinde, nun ich nach so langer Zeit hier an Ihrer Seite gehe! Es ist ein so namenloses Glück, daß ich es selbst gar nicht begreife, nicht fasse!« Sie blickte nachdenklich zu Boden. »Es ist merkwürdig, daß man mich immer so liebt«, sagte sie still, wie in Erinnerungen versinkend. »Seit meiner frühesten Jugend. Den Wenigsten hat es Glück gebracht – aber vergessen hat mich keiner. Sie wissen doch wohl« – sie zögerte ein wenig – »von dem Hardt – daß ich mit ihm –« »Gewiß weiß ich es«, versetzte er, »ich wollte nur nicht –« »Nun sehen Sie, noch in seiner Todesstunde hat er mein Bild, das zur Zeit unserer Verlobung gemalt wurde, neben sich gehabt.« »In seiner Todesstunde? Ist er denn gestorben?« »Ja, vor einem Jahre. Er war sehr unglücklich in seiner Ehe; denn er mochte seine Frau gar nicht.« »Aber warum hat er dann –« »Die Familie wollte es nun einmal – was war da zu machen? Es gab viel Gerede darüber und man hat mich von allen Seiten bedauert. Mein armer Papa, der sehr stolz ist, war ganz wütend – ich selbst aber sehr froh, daß es so gekommen ist.« »Froh? Haben Sie denn Hardt nicht geliebt?« »O ja; ich hab' ihn sehr gerne gehabt. Aber er hat mich so furchtbar mit Eifersucht gequält.« »Das ließe sich begreifen.« »Es war nicht zu ertragen. Denken Sie nur: ich sollte niemanden ansehen, es konnte ihn zur Raserei bringen. Nun gut. Aber auch mich sollte niemand ansehen. Wie war das zu machen? Man hat mich immer sehr viel angesehen. Kann ich dafür, wenn mich jemand ansieht?« »Nun – allerdings –« »Und dann – mir paßte auch diese Familie gar nicht. Sie ist sehr eingebildet auf ihren Reichtum – auf ihren erworbenen Adelstitel. Ich gebe auf alle diese Dinger nicht das geringste. Rang und Würden haben mir niemals imponiert. Ich gehe jetzt auch nicht mit Ihnen, weil Sie der Bruchfeld sind.« »Das wäre mir auch gar nicht recht«, erwiderte er lächelnd. »Mir muß jemand gefallen «, sagte sie nachdrücklich. »Hardt hat mir in den letzten Jahren gar nicht mehr gefallen. Er war sehr dick geworden.« »In den letzten Jahren? Haben Sie denn noch mit ihm verkehrt?« Sie errötete über und über. »Nun ja – in allen Ehren natürlich. Er war so entsetzlich unglücklich – und mich zu sehen, war sein einziger Trost. Sie begreifen – wenn man jemandem so notwendig ist –« Bruchfeld erwiderte nichts. »Meinem Manne durft' ich es allerdings nicht sagen, da der auch von dem Früheren nichts wußte. Es wurde ihm nicht mitgeteilt, als er um meine Hand anhielt. Von Ihnen aber weiß er.« »Von mir ?« »Das ist ihm gesagt worden. Von meiner Tante, die bemerkt hatte, daß ich mich für Sie interessierte.« Bruchfeld fühlte sich unangenehm berührt. Es war ihm, als habe man ihn gewissermaßen als Deckmantel benützt. Aber diese Empfindung ging um so rascher vorüber, als Paula plötzlich stehen geblieben war und mit ihrem Schirm nach dem Wegrand deutete. »Da sehen Sie nur hin! Welche Seltenheit im Oktober!« Der Weisung folgend, gewahrte er einen wilden Rosenstrauch, der bereits seine herben Früchte aufwies. Er blickte sie fragend an. »Sehen Sie denn die Rose nicht?« In der Tat, eine späte, halb geöffnete Rose leuchtete aus dem fahlen Blättergrün hervor. »Ich will sie Ihnen pflücken!« Und sie eilte auf den Strauch zu. »Sie werden sich stechen!« warnte er. »O nein! Ich habe starke Handschuhe an.« Und die vollen Lippen zusammenpressend, trennte sie nicht ohne Anstrengung den zähen Stengel mit der Blume vom dornigen Zweig. »Ihre Liebe!« sagte sie, ihm die Rose überreichend. »Trifft nicht ganz zu«, erwiderte er und drückte die leicht Duftende an die Lippen. »Meine Liebe blüht nicht erst jetzt.« Sie waren schon bis an die wenigen Häuser in der Nähe der Kapelle gelangt, und bald kam auch diese in ihrem schlichten, nüchternen Bau zum Vorschein. »Nun wollen wir andächtig sein«, sagte Paula und trat zu der kleinen Krambude an der Umfassungsmauer. Rosenkränze, Heiligenbilder, geweihte Kerzen waren da zum Kauf ausgelegt. »Ich werde für meinen Vater eine Kerze anzünden«, sagte sie und erstand eine. Bruchfeld tat das gleiche. »Ein Brandopfer meines Glückes«, flüsterte er und trat hinter ihr in den stillen, dämmrigen Kapellenraum, wo einige wenige, ärmlich gekleidete Andächtige zu erblicken waren. Paula nahm ihm die Kerze aus der Hand. »Haben Sie Feuerzeug?« fragte sie mit leiser Stimme. Er reichte ihr das Schächtelchen. Sie näherte sich dem Altar, über welchem, mit einem Gewinde von Astern geschmückt, das Bild der schmerzhaften Maria thronte, die Brust von sieben Schwertern durchbohrt. Alle Anwesenden blickten nach der lieblichen Gestalt, die jetzt, nachdem sie leicht das Knie gebeugt, die Altarstufen hinanschritt, die Kerzen in zwei bereitstehenden Leuchtern befestigte und anzündete. Hierauf kehrte sie zurück, händigte Bruchfeld das Schächtelchen ein und kniete im nächsten Betstuhle nieder. Er stand unweit von ihr und betrachtete sie. Durch die Glasmalerei eines Votivfensters fiel magischer Lichtschimmer auf ihr feines blasses Gesicht. Die langen Wimpern gesenkt, das zarte Kinn auf die gefalteten schmalen Hände gestützt, war sie ein ergreifendes – aber auch entzückendes Bild, das sich immer tiefer in seine Seele prägte. Sie erhob sich früher, als er erwartet hatte, bekreuzte sich und verließ, von ihm gefolgt, die Kapelle. Draußen war es mit einmal leuchtender Tag geworden. Die letzten Nebel hatten sich verflüchtet, und das sonnigste Blau spannte sich über dem herbstlichen Gold der Landschaft aus. »Sie haben nicht lange gebetet«, bemerkte Bruchfeld scherzend. »Nur ein paar Vaterunser. Meine Zeit ist ja gemessen, und wir wollen doch noch ein bißchen miteinander sein. – Aber wohin wenden wir uns jetzt?« setzte sie, umherblickend, hinzu. »Das Gehen strengt mich sehr an; ich bin schon jetzt müde. Und man kann sich nirgends setzen.« »Das ist wahr«, erwiderte er in einiger Verlegenheit. »Wissen Sie was,« sagte sie nach kurzem Besinnen, »dort oben« – sie wies nach zwei kleinen Häusern auf der Wegüberhöhung – »befindet sich eine Kaffeewirtschaft. Auch Heuriger wird geschänkt. Ich war schon einmal dort – mit meinem Manne natürlich.« Es berührte ihn eigentümlich, daß sie ihm diesen Vorschlag machte. Aber er entschlug sich aller weiteren Gedanken darüber und erwiderte: »Das ist ja herrlich! Wollen wir hin?« »Wenn es Ihnen recht ist. Ich werde Sie führen.« So schritten sie denn hinan, und bald hatten sie, durch ein niederes Tor tretend, einen kleinen Garten erreicht, an dessen Ende sich eine Laube befand. Sie wurde von dichten wilden Weinranken gebildet, deren Blätter ihnen in allen Schattierungen von Rot entgegenleuchteten. »Ist es da nicht hübsch?« sagte Paula, indem sie sich an dem Tisch in der Laube niederließ. »Wir sind ganz ungestört, denn um diese Zeit kommt niemand hierher.« Inzwischen war am Eingang eine dicke bejahrte Frau erschienen, die Schürze halb aufgenommen, einen Küchenlöffel in der Hand. Offenbar die Eigentümerin der Wirtschaft. Sie hatte das Kommen der Gäste bemerkt und fragte jetzt, was zu Diensten stehe. »Was werden Sie nehmen?« wandte sich Bruchfeld an Paula. »Ich? Nichts. Ich will nur sitzen.« »Nun, so bringen Sie Wein, liebe Frau. Vom besten, den Sie haben.« »Alten oder heurigen?« fragte die Wirtin, welche inzwischen Paula ins Auge gefaßt hatte und sie mit offenem Munde anstarrte. »Heurigen. Der Seltenheit wegen.« Die letzten Worte waren an Paula gerichtet, die nunmehr hinter dem Rücken der abgehenden Frau in ein Lachen ausbrach. »Was haben Sie denn?« fragte er verwundert. »Ach, die Alte war zu komisch! Sie erinnerte sich, mich hier schon gesehen zu haben, wußte aber nicht, wann und mit wem. Sie ließ förmlich die Augen in mir stecken. – Aber setzen Sie sich doch zu mir!« Sie rückte zur Seite, und Bruchfeld ließ sich dicht neben ihr auf die schmale hölzerne Bank nieder. »O Paula,« sagte er nach kurzem Schweigen, »es ist wie ein Märchen, daß wir beide jetzt so nebeneinander sitzen –« »Nun, sind Sie nicht zufrieden?« fragte sie, ihn schalkhaft von der Seite anblickend. »Zufrieden? Mein Gott, welch ein armes Wort! Selig bin ich, so selig, daß es mir fast die Brust zersprengt. Und doch – –« »Nun?« »Daß wir nicht beisammen bleiben – daß Sie nicht mein sein können – ganz mein – für immer!« »Das ist nun nicht anders.« »Aber es könnte anders werden –« »Nein, nein!« sagte sie rasch und entschieden, indem sie ihm die Hand entzog, die er gefaßt hatte. » Daran ist nicht zu denken.« Am Tor zeigte sich wieder die Wirtin. Sie trug auf einer Blechplatte eine Flasche Wein, zwei Gläser und ein Körbchen mit Brot. Ein kleiner Junge folgte ihr mit einem Teller voll Trauben. »So«, sagte sie, während sie alles auf den Tisch stellte. »Und wenn die Gnädige nicht trinken will – ein paar frische Trauben wird sie sich schon gefallen lassen.« Sie lächelte dabei Paula vertraulich zu und entfernte sich, nachdem sie noch einen Blick auf Bruchfeld geworfen hatte. »Nun, trinken Sie doch!« sagte Paula, als sie jetzt wieder allein waren. »Ich werde Ihnen einschenken.« Sie ergriff die Flasche und füllte eines der Gläser. »Und Sie werden nicht einmal versuchen?« fragte er. »Eigentlich sollte ich nicht, obgleich mir die Ärzte beständig empfehlen, Wein zu trinken. Schon ein paar Tropfen steigen mir zu Kopf. Aber ich will Ihnen Bescheid tun.« Sie goß ein weniges in das zweite Glas. »Auf Ihr Wohl!« »Auf unser Wiederfinden!« rief er, mit seinem Glase anklingend. Der Wein mochte gut sein, aber er mundete nicht recht. Paula, die kaum genippt hatte, verzog die Lippen, und er brach ein Stückchen vom Brot, um dem Geschmack aufzuhelfen. »Und die Trauben?« fragte er jetzt. »Verlocken die Sie nicht? Die Wirtin hat sie doch eigens für Sie gebracht.« »Nun, wenn Sie eine mit mir teilen wollen –« Sie zog die Handschuhe aus, wobei ihre schmalen, mageren, fast abgezehrten Hände sichtbar wurden – für ihn zum erstenmal. »Sehen Sie nur meine Hände!« sagte sie errötend. »Die hätt' ich eigentlich gar nicht zeigen sollen.« Er ergriff eine und führte sie an die Lippen. Sie fühlte sich fast leblos an. »Kalt, nicht wahr?« sagte sie. »Aber es heißt: kalte Hände, warmes Herz.« »Das stimmt nicht«, erwiderte er. »Sie werden doch fühlen, wie warm die meinen sind.« »Heiß«, bekräftigte sie. »Und sie werden die Ihren erwärmen!« Er nahm ihre beiden Hände in die seinen und bedeckte die Spitzen der blutlosen Finger mit Küssen. Sie ließ es geschehen. »Paula!« flüsterte er und legte den Arm um ihren zarten Leib, der jeder Erdenschwere bar schien – und ihn doch alle Wonnen der Berührung empfinden ließ. Sie senkte das Haupt. Hingerissen, näherte er seine Lippen ihrem schmächtigen Halse und drückte einen sanften Kuß auf die schimmernde Stelle zwischen dem kleinen Ohr und dem dunklen Ansatz der Haare. Sie schauderte leicht zusammen und verfärbte sich; sie wurde noch blässer, als sie gewöhnlich war. Ihre Augen schimmerten in einem feuchten Schmelz. Seiner nicht mehr mächtig, zog er sie rasch an sich und suchte ihren Mund. Sie machte eine heftig abwehrende Bewegung. »Verzeihen Sie!« sagte er erschrocken. »Ich wußte nicht, was ich tat –« Sie erwiderte nichts und strich langsam mit beiden Handflächen über Stirn und Schläfen. Er hatte den Arm zurückgezogen und blickte sie ängstlich an. »Versuchen wir die Trauben«, sagte sie jetzt ruhig. Sie nahm eine vom Teller, zerlegte sie in zwei ungleiche Hälften und reichte ihm die größere. »Essen Sie!« Er konnte nicht und sah schweigend vor sich hin. »Seien Sie nicht so nachdenklich!« fuhr sie fort, eine Beere zwischen die Lippen schiebend. »Überhaupt nicht so – so – –« Sie rang nach einem Worte. »Solch einen Mann habe ich noch nie kennen gelernt – Sie nehmen alles so ernst –« »Wie ich es nehmen muß. Denn ich liebe Sie – liebe Sie unsäglich!« »Ich glaub' es ja!« erwiderte sie halb spöttisch. »Aber mein Gott, wie spät ist es denn schon?« Er zog die Uhr. »Halb zwölf.« »Schon! Da müssen wir aufbrechen. Ich wüßte sonst gar nicht, was ich zu Hause sagen sollte.« Und sie machte Anstalt, sich vom Sitze zu erheben. »Man muß doch erst zahlen«, sagte er. »Gehen Sie ins Haus, dort finden Sie die Wirtin.« Er ging und beglich die kleine Rechnung. Als er zurückkam, fand er Paula bereits in der Mitte des Gartens stehen. »Sie dürfen mich nicht weit begleiten«, sagte sie. »Höchstens bis zur Hälfte des Weges. Es könnte uns sonst jemand begegnen.« »Und wann werde ich Sie wiedersehen?« »Ja, wann?« versetzte sie zerstreut und bohrte die Spitze ihres Schirms in den grasigen Boden. »Das ist sehr fraglich. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ziehen die Eltern im Laufe der nächsten Woche wieder nach Döbling. Da bin ich sehr in Anspruch genommen. Aber vielleicht können wir uns am nächsten Donnerstag sehen. Ich habe einen Besuch bei meiner Tante vor, die in der Josephstadt wohnt, und werde die Tramway benützen. Sie können mich um halb Zehn beim Hotel Union erwarten, wo ich umsteige. Werden Sie Zeit haben?« »Sie sollen mich unter allen Umständen dort finden. Aber sagen sie mir noch eines!« »Nun was?« »Ob Sie mir verziehen haben?« »Sie sind ein Kind!« erwiderte sie und fuhr ihm mit der Hand leicht über die Stirn. Er ergriff diese Hand, die wieder behandschuht war, und drückte sie wiederholt an die Lippen. »Was haben Sie davon?« sagte sie lächelnd und bog, zu ihm aufblickend, das Haupt zurück. Und nun zog er sie an sich und küßte den knospenhaften Mund, den sie ihm, halb abgewandt, überließ. 6. VI. Bruchfeld befand sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Was ihm an Paula seltsam erschienen war, was ihn unangenehm, ja schmerzlich enttäuschend berührt hatte, ging unter in der wonnigen Erinnerung an das letzte Zusammensein –: der Zauber ihrer Schönheit ließ ihn alles vergessen. Er dachte nicht einmal mehr daran, daß sie das Weib eines anderen war, und ohne jede weitere Erwägung gab er sich ganz den Entzückungen einer Leidenschaft hin, welche bei ihm, der seine Jugendkraft nicht verbraucht hatte, so spät zum Durchbruch gelangt war. Diese innere Erregung gab sich jetzt in seinem ganzen Wesen kund und mußte seiner nächsten Umgebung auffallen. Eine Verwandte des Hauses, in welchem er Gastfreundschaft genoß, eine ältere, etwas boshafte Dame, fragte ihn einmal ganz plötzlich: »Sagen Sie mir doch, lieber Bruchfeld, was haben Sie denn eigentlich? Sie kommen mir seltsam vor. Sollten Sie vielleicht gar verliebt sein?« »Und wenn ich es wäre?« erwiderte er übermütig. »Dann würde ich Sie bedauern. Denn die Liebe ist eine Krankheit – und in Ihren Jahren doppelt gefährlich.« Diese Worte berührten ihn höchst unangenehm. Er suchte die Wirkung wegzuscherzen. Aber es gelang ihm nicht; endlich flüchtete er sich im Geist zu ihr , die er nächsten Donnerstag wiedersehen sollte. Am Mittwoch hatte er, wie gewöhnlich, an dem späten Familiendiner teilgenommen. Gleich nach Tisch kamen mehrere Besuche; diese Art des Empfanges fand jeden abend statt. Man nahm den Kaffee im Salon und plauderte, in zwanglosen Gruppen verteilt, bis zur Teestunde. Heute bestürmte man eine Dame, welche vor Jahren der Oper angehört hatte, mit Bitten, etwas zu singen. Sie ließ sich endlich dazu bewegen, setzte sich ans Klavier und trug mit klangvoller, noch jugendlich frischer Stimme eine alt-italienische Kirchenarie, dann einige Lieder von Schubert und Schumann vor. Auch eines von Bruchfeld, der, im Fauteuil zurückgelehnt, seinen Gedanken nachging, kam an die Reihe. Es wurde pflichtschuldigst beklatscht, und nun erklärte die Sängerin, sie wolle zum Schlusse noch Rubinsteins: »O wenn es doch immer so bliebe!« hören lassen; sie wußte, daß dieses leidenschaftlich bewegte Lied allgemein beliebt war. Auch Bruchfeld schätzte dessen musikalischen Wert besonders hoch, und er lauschte jetzt dem ergreifenden Gesange, der so ganz seine eigene Seelenstimmung ausdrückte: »Gelb rollt mir zu Füßen der brausende Kur Im tanzenden Wellengetriebe; Hell lächelt die Sonne, mein Herz und die Flur – O wenn es doch immer so bliebe!« Dieser Refrain, von der Sängerin immer mächtiger zur Geltung gebracht, ließ jede Fieber seines Herzens erzittern, und als die letzte Strophe begann: »In das schwarze Meer deiner Augen rauscht Der reißende Strom meiner Liebe –« da konnte er dem Ansturm seiner Empfindungen kaum mehr standhalten. Rasch dankte er noch der Dame, die sich unter stürmischem Applaus am Klavier erhob – und entfernte sich unbemerkt aus dem Salon, wo es ihn in diesem Augenblick nicht länger duldete. Er ging auf sein Zimmer, nahm Hut und Mantel und verließ das Haus. Die Nacht war längst hereingebrochen; dunkel und verödet lagen die Gassen vor ihm. »O wenn es doch immer so bliebe!« hallte es in seinem Innern nach, und ohne es eigentlich zu wollen, nahm er die Richtung nach dem Platze, wo er Paula wiedergefunden. Kaum ein Mensch begegnete ihm; kein Wagen rollte, und seine Schritte klangen einsam auf dem Pflaster. Da stand er nun vor dem Hause. Die Bäume des Vorgärtchens waren zum Teil schon entlaubt, und er konnte durch die Zweige das ganz schmucke Gebäude wahrnehmen, auf welches der Schein einer nahen Gaslaterne fiel. In beiden Stockwerken waren die Rollvorhänge herabgelassen; kein Lichtschimmer kam zum Vorschein. Nur im oberen, ganz an der Ecke, zeigten sich zwei unverhüllte, matt erleuchtete Fenster. Wohnte sie dort? Er wußte es ja nicht – aber es war ihm, als müsse es so sein. Er ging jenseits auf und ab, die Augen nach den durchsichtigen Scheiben gerichtet, hinter denen er verschwommene Umrisse des Gemaches und den Strang einer Hängelampe zu erblicken glaubte. Die Nachtluft strich kalt und scharf um sein Antlitz; hin und wieder kam, von der Türkenschanze her, durch die schmale Seitengasse ein heftiger Windstoß. Aber wurde jetzt nicht eine schattenhafte weibliche Gestalt in der Höhe sichtbar? Er täuschte sich nicht. Sie bewegte sich im Zimmer hin und her. War es Paula? Sein klopfendes Herz sagte ihm, daß sie es sei. Ein unsäglich wonniges Gefühl durchschauerte ihn. Wenn sie nur ans Fenster träte! Hinabsähe! Aber es geschah nicht. Die Gestalt verschwand. Er spannte den Blick. Wieder der Schatten! Ganz in der Tiefe des Zimmers .... Er harrte noch eine Weile, dann aber fiel ihm ein, daß er ja nach Hause müsse, wo seine Abwesenheit gewiß schon längst aufgefallen war. Mit einem letzten Blick nach der matten Helle dort oben eilte er fort. Die Gesellschaft war noch im Salon versammelt, als er eintrat. Aber fast gleichzeitig erschien ein Diener mit der Meldung, daß der Tee serviert sei. Rasch bot er der zunächst befindlichen Dame den Arm. »O wenn es doch immer so bliebe!« intonierte er dabei, im Geiste ganz abwesend, mit halber Stimme. Die Dame sah ihn überrascht an; dann schritten sie in den Reihen der Gäste durch das helle erleuchtete, mit Azaleen geschmückte Vestibule dem Speisezimmer zu. 7. VII. Es war ein unfreundlicher Oktobermorgen, als er sich zur bestimmten Stunde vor dem Hotel Union einfand. Am Himmel jagten, von einem scharfen Nordwest getrieben, dunkle Wolken und drohten sich in Regenschauern zu entladen. Bruchfeld schlug den Kragen seines Oberrockes hinauf. Wie lange schon hatte er derlei Zusammenkünfte nicht mehr gehabt! Und er verwunderte sich unwillkürlich darüber, daß er sich nun wieder auf so abenteuerlichen Wegen fand. Er hatte nicht lange zu warten, denn schon kam von Döbling her ein Tramwaywagen herangeklingelt. Als er hielt, erschien Paula auf der Plattform und sprang leicht die Stufen hinunter. Bruchfeld stand, um nicht aufzufallen, in einiger Entfernung und ließ sie an sich herankommen. »War ich nicht pünktlich?« sagte sie, seinen Gruß etwas geziert erwidernd. »Aber wie kalt es heute ist!« Sie schüttelte sich leicht und zog ihre Pelerine fester um die Schultern. »Das hab' ich vorausgesehen«, erwiderte er. »Es war schon gestern abend sehr frostig. Ich bin in der Dunkelheit vor Ihrem Hause auf und abgegangen.« »So? Wann denn?« »Etwa zwischen neun und zehn.« »Da hab' ich schon geschlafen. Aber weshalb waren Sie denn dort?« »Wie Sie so fragen können? Die Sehnsucht hatte mich hingetrieben. Und mir war es auch, als hätt' ich Sie gesehen. Freilich nur den Schatten Ihrer Gestalt, die sich im Zimmer hin und her bewegte.« »Zwischen neun und zehn?« »Ja.« »Das war ich entschieden nicht. Denn wir sind gestern schon vor neun Uhr zu Bett gegangen. Es brannte um diese Zeit kein Licht mehr in unserer Wohnung.« »Sie wohnen doch im zweiten Stock?« »O nein! Im ersten.« »Da freilich waren alle Fenster dunkel.« »Sehen Sie! Sie haben sich also großartig geirrt.« Sie lachte. Dieses Lachen tat ihm weh; er erwiderte nichts. »Eigentlich sollte ich jetzt nach der Josephstadt umsteigen«, fuhr sie unschlüssig fort; »aber die Wagen sind immer so voll; wir könnten kaum miteinander sprechen. Es wird am besten sein, wenn wir zu Fuß gehen.« »Wie Sie befehlen.« »Aber durch das nächste Stück der Währinger-Straße dürfen Sie mich nicht begleiten. Erst in der Spitalgasse können Sie sich mir anschließen. Wir biegen dann in die Lazarethgasse ein, in der immer nur sehr wenige Menschen zu sehen sind.« Sie setzte sich auch gleich in Bewegung, und er folgte ihr in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße. Wie gut sie vereinsamte Wege ausfindig zu machen weiß, dachte er im stillen und behielt die graziöse Gestalt im Auge, die mit ruhigen Schritten, das Haupt, ihrer Gewohnheit nach, leicht gesenkt, auf dem belebten Trottoir dahinging. Zwei junge Männer kamen jetzt an ihr vorüber und sahen ihr ziemlich unverschämt unter den Hut. Sie blickten auch nach ihr zurück, und Bruchfeld bemerkte, daß Paula gleichfalls eine Kopfwendung machte. Diese Wahrnehmung berührte ihn so unangenehm, daß er, endlich ihr zur Seite, keine Worte fand, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Auch sie schwieg. Erst als sie in die nahe Lazarethgasse einlenkten, sah sie ihn plötzlich von der Seite an und sagte: »Wissen Sie, daß ich Ihnen schon schreiben wollte?« »Schreiben? Und weswegen?« »Um Ihnen mitzuteilen, daß unser Verkehr nicht weiter geführt werden kann.« Und da sie seine Betroffenheit erkannte, fuhr sie gleichsam begütigend fort: »Aber ich fürchtete, der Brief könnte Sie möglicherweise verletzen –.« Sie war offenbar in Verlegenheit und blickte unsicher vor sich hin. »Nun,« erwiderte er nach einer Pause, »es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie mir geschrieben hätten; ich würde mich wahrscheinlich leichter zurecht gefunden haben. – Aber darf ich fragen, was Sie zu diesem plötzlichen Entschlusse –« »O, es war kein plötzlicher Entschluß«, versetzte sie rasch. »Sie wissen ja, daß ich gleich im Anfang – – Mit einem Wort: ich kann das meinem Manne nicht antun.« »Nun denn,« erwiderte er, ärgerlich über diese Abweisung, der er sich so unerwartet ausgesetzt sah, »ich hatte ja auch niemals die Absicht, Sie in Ihrer Pflicht wankend zu machen, und wenn ich gewußt hätte, daß Ihre Ehe eine glückliche ist –« »Warum haben Sie daran gezweifelt? Ich hab' es Ihnen ja gleich gesagt.« »Nun wohl; aber ich habe nicht daran geglaubt. Ich hatte Ihre Vergangenheit im Auge und zog daraus, wie ich jetzt zugeben muß, ganz falsche Schlüsse.« »Ja, Sie haben sich getäuscht. Sie sind eben nicht normal.« »Wie meinen Sie das?« »Sie sind so überspannt, so romantisch. Sie haben, wie alle Künstler, ganz sonderbare Ideen. Ich bin eine hausbackene Natur und verstehe solche Männer gar nicht. Auch habe ich in dieser Hinsicht schon eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.« »An einem Künstler?« »Es war gerade kein Künstler – aber ein außerordentlich exzentrischer Mensch. Ein sehr wohlhabender Ausländer, der sich hier auf der Durchreise befand. Drei Jahre ist es her. Es war an einem Konzertabend bei Zögernitz, wo ich ihn kennen lernte. Der Saal war überfüllt, und er fand keinen Platz mehr, als an dem Tisch, an welchem ich mit meinem Manne saß. Es entspann sich natürlich ein Gespräch – und er verliebte sich sofort leidenschaftlich in mich.« »Nun, das wäre doch noch kein Beweis –« »Nein – aber er setzte alles daran, mich zu erringen – wollte durchaus, daß ich mich von Viktor scheiden lasse und mit ihm nach Hamburg gehe, wo er zu Hause war.« »Und was empfanden Sie für ihn?« »Nichts, gar nichts. Denn er gefiel mir nicht. Und wenn er mir auch gefallen hätte, ich würde doch meinen Mann nicht verlassen haben. Denn eine Frau darf sich von ihrem Manne nicht trennen, wenn er sie wahrhaft liebt.« »Nun, das hängt von den Umständen ab. Es kann Fälle geben, wo die Scheidung zur Pflicht wird. Denn ein ehrlicher Bruch ist immer besser, als eine zweideutige Treue.« »O nein!« rief sie aus, fühlte jedoch sofort, daß sie sich mit dieser Behauptung bloßstelle, und errötete. »Es wäre denn,« setzte sie hinzu, »daß man einen anderen wirklich sehr liebt. Das war aber, wie gesagt, durchaus nicht der Fall. Auch war Viktor so unglücklich darüber.« »Er hat also davon gewußt?« »Natürlich. Der Rasende nahm ja keine Rücksicht. Tagelang hielt er sich unter meinen Fenstern auf – endlich wollte er in unsere Wohnung eindringen. Ich wagte mich gar nicht mehr auf die Straße.« »Und haben Sie zu einem solchen Benehmen nicht doch Veranlassung gegeben? Nicht vielleicht Hoffnungen erweckt –« »Nicht die geringsten«, unterbrach sie ihn, errötete aber wieder sehr stark. »Kann ich übrigens wissen, was sich dieser Mensch eingebildet hat? Zuletzt, als er sah, daß alles umsonst sei, hat er sich erschossen. Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und diese ist nach Wien gekommen und hat mir die bittersten Vorwürfe gemacht. Was konnte ich dafür?« »O gewiß nichts«, erwiderte er und sah sie mit einer Art von Grauen an. In ihr schönes Antlitz war etwas unsäglich Kaltes, Brutales getreten – eine erschreckende Verschärfung jenes Zuges, der ihn damals so unangenehm berührt hatte. »Und auch Sie sind in Ihrer Liebe so exaltiert«, fuhr sie fort. »Mag sein. Aber ich kann Sie versichern, daß ich mich nicht erschießen werde.« »Das möchte ich auch nicht«, sagte sie, und erhob, wie um sich gegen jede Schuld zu verwahren, die Hand. »Wir wollen vielmehr gute Freunde bleiben. Bei zufälligen Begegnungen werden wir miteinander sprechen, und Sie können mich immer ein Stück Weges begleiten.« Er schwieg. »Auch mein Bild will ich Ihnen geben. Eine sehr gelungene Photographie aus meiner Jugendzeit. Eine Freundin, die in Linz lebt, besitzt sie. Sie wird mir das Bild senden und ich werde es kopieren lassen. Wenn Sie sich in ungefähr vierzehn Tagen, morgens zwischen neun und halb zehn, in der Nähe meiner Wohnung einfinden, können Sie es haben. Um diese Zeit begebe ich mich täglich zu meinen Eltern.« Sie waren bereits in die Pelikangasse eingebogen und schritten der Alserstraße entgegen. Paula hielt den Schritt an. »Nun muß ich allein gehen. Meine Tante wohnt an der Ecke der Kochgasse und könnte uns vom Fenster aus sehen«. Sie schlug die großen, dunklen Augen zu ihm auf und reichte ihm die Hand. »Also leben Sie wohl«, sagte sie langsam. Ein namenloses Weh ergriff ihn. »Leben Sie wohl«, erwiderte er. Sie ging. Am Ende der Gasse wandte sie sich um und winkte ihm einen Abschiedsgruß zu. Bruchfeld verweilte regungslos. Endlich brach er in ein kurzes, bitteres Lachen aus und trat den Rückweg an. 8. VIII. Welch ein Tor war er gewesen! Er hatte ja gleich bei dem ersten Gespräch mit Paula erkannt, wie wenig Anklang seine treue Neigung bei ihr gefunden, hatte erkannt, wie wenig sie selbst in ihrem ganzen Wesen der Vorstellung entsprach, die er so lange von ihr gehegt – und dennoch hatte er, die warnenden Stimmen in seiner Brust übertäubend, mit einer Selbstverblendung sondergleichen an dieser sinnlosen Liebe festgehalten, bis er endlich heute entschieden den Laufpaß erhalten! Ein heißer Schauer durchrieselte ihn. Aber was konnte ihm daran liegen? Was machte er sich aus einem Weibe, in dem er sich so sehr getäuscht – in dessen Brust nicht ein Funken edlerer Empfindung glomm! Aus einem Weibe, das nichts anderes war als eine herzlose Kokette – wenn nicht noch Schlimmeres, trotz der sonderbaren ehelichen Treue, die sie ihrem Gatten bewahrte! Sein Stolz, sein Stolzgefühl empörten sich, und unwillkürlich stampfte er im Gehen verächtlich auf das Pflaster. Dennoch vermochte er nicht des Schmerzes Herr zu werden, der dumpf in seinem Innern fortbrannte, und schon in nächster Zeit mußte er erkennen, wie sehr er dieses Weib liebe. Wo immer er sich auch jetzt befand: in seinem einsamen Zimmer, im belebten Salon, im Theater, in der abendlichen Tischgesellschaft von Künstlern und Schriftstellern bei Gause – überall dachte er an Paula. Auf der Straße fürchtete er eine Begegnung mit ihr – und doch lugte er beständig nach ihr aus, blickte in jeden Wagen, ob er das blasse, dunkeläugige Antlitz darin nicht gewahre. Als er bei einem Konzerte eine seiner Symphonien persönlich dirigierte, forschte er mit scheuen Augen nach ihr im Publikum, obgleich er wußte, daß sie gar nicht daran dachte, hier zu erscheinen. Und er hatte oft die ganze Kraft seiner Seele aufzubieten, um des Morgens nicht an dem bekannten Hause mit dem Vorgärtchen vorüberzugehen .... Es war ein aufreibender, unwürdiger Zustand, aus dem er sich um jeden Preis befreien mußte. Aber wie? Es gab, das erkannte er, nur ein Mittel: die Reise nach Italien. Aber nicht nach Venedig wollte er gehen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen. Nein, in dieser halbversunkenen Stadt blühte ja die Sumpfblume der Armut, das Laster, und wandelten Frauen, die ihn mit den großen dunklen Augen Paulas anblicken würden. Auch nicht nach Rom, wo alle Leidenschaften der Vergangenheit und Gegenwart wirr ineinander zucken. Nur in dem lichten, sonnigen Florenz, bei den erhabenen Gestalten Michelangelos, vor den unschuldsvollen Bildern Fiesoles würde er vergessen, würde er die Ruhe seiner Seele wiederfinden! Schon bei dem bloßen Gedanken fühlte er seine Brust erleichtert. Also dorthin! Dorthin! Aber er konnte nicht fort. Künstlerische Verpflichtungen, die er eingegangen, hielten ihn hier noch fest. Inzwischen war auch die Frist abgelaufen, die ihm Paula wegen ihre Bildes gesetzt. Trotz seines Vorsatzes, gar nicht weiter daran zu denken, überlegte jetzt Bruchfeld. Was wollte sie denn eigentlich mit dem Bilde? Doch nichts anderes, als ihn auf wohlfeile Art über die Enttäuschung trösten, die er erlitten. Er sollte sozusagen damit abgespeist werden. Aber verhielt es sich auch wirklich so? Vielleicht tat er ihr unrecht. Es war ihm jetzt, als wäre sie doch einer plötzlichen wärmeren Empfindung gefolgt – als habe ihre Stimme beim Abschied leicht gezittert. Auch hatte sie ja gesagt, daß es sie immer freuen würde, ihn zu sehen. Und er sollte sich jetzt umsonst erwarten lassen? Nein, er mußte das Bild in Empfang nehmen! Und so schritt er zuletzt wirklich an einem frostigen Novembermorgen die weitläufige Gasse hinunter. Vor ihm, in einiger Entfernung, ging ein junger, schlanker Offizier, dessen hoher Wuchs durch den langen grauen Mantel, den er trug, noch auffallender wurde. Auf dem Platze mäßigte er den Schritt und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit nach rechts in die Höhe. Zu den Fenstern Paulas! durchzuckte es Bruchfeld. Aber schon hatte der Offizier den Kopf abgewendet und bewegte sich wieder mit rascherem Schritte vorwärts, bis er, nach der Stadt hin einbiegend, verschwand. Bruchfeld beschwichtigte die quälende Vermutung, die in ihm aufgetaucht war, und schickte sich an, auf Paula zu warten. Eine eigentümliche Empfindungslosigkeit überkam ihn jetzt; aber er konnte das Pochen seines Herzens vernehmen. Es dauerte nicht lange, so erschien sie vor dem Hause und schritt über den Platz der Gasse entgegen, an deren Ecke Bruchfeld Aufstellung genommen hatte. Als sie ihn von weitem wahrnahm, schrak sie merklich zusammen und wollte offenbar eine andere Richtung einschlagen. Aber sie besann sich und ging schnell auf ihn zu. Sie trug einen dunklen, leicht mit Pelz verbrämten Überwurf; ein lichtgraues, fast weißes Hütchen, mit schwarzem Sammet und einer kleinen Feder geputzt, stand ihr reizend zu Gesicht, das überraschend frisch und rosig aussah. »Sie hier, lieber Freund!« sagte sie hastig und sichtlich befangen. »Ich hatte kaum mehr erwartet, daß Sie – – Aber verzeihen Sie! Ich habe heute keine Zeit, mit Ihnen zu plaudern. Ich muß gleich zu den Eltern. Papas Zustand hat sich sehr verschlimmert. Es soll ein neuer Arzt konsultiert werden – er wird gerade um diese Stunde erwartet. Und ich möchte doch dabei sein –« »O das ist sehr begreiflich«, erwiderte er. »Auch bin ich ja nur gekommen, weil Sie – die Güte hatten, mir Ihr Bild ....« »Ach ja, das Bild! Das hab' ich noch nicht. Das heißt – ich habe es nicht bei mir. Eigentlich hat mich der Photograph im Stiche gelassen. Wenn Sie sich aber am nächsten Samstag – also in einer Woche – wieder einfinden wollen, so werden Sie es bekommen. Erwarten Sie mich aber nicht hier, wo man Sie bemerken könnte. Vielleicht dort oben in der Nähe der ersten Cottage-Häuser. Ich werde ganz gewiß kommen. Adieu!« Und damit bog sie in die Gasse ein und eilte fort. Da stand er nun. Er hatte es ja gewollt und durfte sich nicht wundern, daß es so gekommen war. Endlich wandte auch er sich zum Gehen. Wohin sollte er nun? Er hatte zwar mit Bekannten einen Besuch der eben eröffneten Ausstellung im Künstlerhause verabredet. Aber man wollte erst um zwölf dort zusammentreffen, und jetzt war es kaum halb zehn. Er überließ sich also einem ziellosen Schlendergange, wobei er seinen Gedanken und Empfindungen nachhängen konnte. Er bog gleich bei der alten Linienkapelle links ab und nahm den Weg durch die stille, zum Franz-Joseph-Bahnhof führende Straße. Endlich gelangte er an die Brigitta-Brücke. Diese würde ihn zu weit ab geführt haben, und er lenkte in das Gebiet der »Rossau« und des »Althans« ein. Wie lange schon hatte er dieses Gewirr von Gassen und Gäßchen nicht mehr betreten, davon sich einige noch ganz so ausnahmen, wie einst in seiner Jugend! Niedere, jetzt freilich schon dem Verfall nahe Häuser, unscheinbare Läden und Gewölbe, vernachlässigte Gastwirtschaften. Und hart daran, aus jüngster Zeit, unabsehbare Reihen hoher, schimmernder Bauten, die ganz neue Verkehrsadern bildeten und ungeahnte Durchblicke eröffneten. Dennoch wandelte man hier, wo kaum ein Wagen rasselte, und nur wenige Menschen zum Vorschein kamen, wie in fremder, vergessener und verschollener Ferne .... Aber war das nicht Paula, die dort oben am oberen Ende der alten, langgestreckten Gasse, die er eben betreten hatte, am Arm eines Offiziers herangeschritten kam? Desselben jugendlich schlanken Offiziers, den er heute schon einmal wahrgenommen? O ja, sie war es; ihr weißes Hütchen schimmerte von weitem. Und das Paar, das sich offenbar hier sehr sicher fühlte, hielt sich – sie mit beredtem Augenaufschlag, er das Gesicht zu ihr hinabgeneigt – dicht und zärtlich aneinander geschmiegt. Bruchfeld wußte nicht gleich, was er beginnen sollte. Die Gasse war sehr schmal; ein förmlicher Zusammenstoß schien unvermeidlich, wenn er nicht sofort umkehrte oder unter ein Haustor trat. Aber eh' er noch zu einem Entschlusse gekommen war, hatte ihn Paula schon erblickt. Sie erschrak derart, daß sie sich, totenblaß wie sie geworden war, an den Arm ihres Begleiters festklammern mußte. Dieser blickte sie betroffen an und ließ dann die Augen forschend vor sich hinschweifen; aber er gewahrte Bruchfeld nicht mehr. Der war bereits in einem kleinen, dürftigen Gasthause verschwunden, das er in nächster Nähe entdeckt hatte. Drinnen zeigte sich außer einem Manne, der im »Schank« hinter einem leeren Glase saß, nur der Wirt, ein Sammetmützcher auf dem Kopfe. Seine schläfrige Miene drückte Erstaunen über den Gast aus. Bruchfeld begab sich in das anstoßende »Extrazimmer« und bestellte Wein. Dann setzte er sich mit dem Rücken gegen das Fenster. Er wollte die beiden, wofern sie ihren Weg fortsetzten, nicht vorüberkommen sehen. So verweilte er eine halbe Stunde mit völlig erstarrten Lebensgeistern. Er fühlte und dachte nichts. Endlich bezahlte er den ungenossenen Wein, erhob sich und ging. Er hatte noch nicht viele Schritte getan, als er auf einen Trödlerladen stieß, vor welchem neben anderen Gegenständen ein Spiegel ausgehängt war. Unwillkürlich blickte er hinein – und erschrak vor dem Bilde, das ihm entgegensah. Wie festgebannt blieb er stehen. Ja, dieses fleischige, verquollene Gesicht mit dem ergrauten Barte war das seine! Und die ganze Gestalt, wie gedrungen, wie hochschulterig nahm sie sich aus! In so voller, überzeugender Deutlichkeit hatte er noch nie sich selbst wahrgenommen. Und wie eine plötzliche Erleuchtung kam ihm der Ausspruch Schopenhauers in den Sinn: »Jedes Gut will auf seinem eigenen Gebiet errungen sein. Liebe, Schönheit und Jugend werden nur wieder durch Liebe, Schönheit und Jugend gewonnen.« Das sah er nun. Freilich traf dieser Satz nicht vollständig zu. Paula war den Jahren nach nicht mehr jung; älter, viel älter als der Offizier. Aber sie besaß den geheimnißvollen, unvergänglichen Reiz gewisser Frauen, deren Schönheit im Verfall sich fast noch verlockender erweist, als in der Blüte. Selbst als Matronen üben sie gefährlichen Zauber, den kein Mund zu verspötteln vermag. Er dachte an Ninon de l'Enclos. Wie viele Leidenschaften wird Paula noch erwecken! Und er – er war ein alter Mann, der eitel genug gewesen, zu glauben, daß man ihn noch lieben könne! – Diese Erkenntnis, so beschämend sie auch war, hatte für ihn doch etwas Erlösendes. Er fühlte, daß er an allem selbst schuld gewesen, und während er jetzt langsam der Stadt zuschritt, wurde ihm immer leichter, immer freier zumute. So traf er mit fast heiterer Seele im Künstlerhause ein, gab sich mit Aufmerksamkeit der Betrachtung der Gemälde hin, speiste dann mit den Freunden in einem bekannten Restaurant – und abends folgte er einer Einladung in die Oper, wo ein neues Ballett zur Aufführung gelangte. Aber der Anblick der vielen weiblichen Gestalten auf der Bühne bedrückte ihn. Er mußte wieder an Paula denken, und plötzlich fand er, daß ihr eine der jungen Ballerinen oberflächlich ähnlich sah. Der Schmerz erwachte wieder in ihm und trieb ihn fort, ehe noch der zweite Akt zu Ende gespielt war. Als er nach Hause kam, händigte ihm der Portier ein Briefchen ein. Eine Dame habe es in der Dunkelheit überbracht und die Bestellung dringend ans Herz gelegt. Bruchfeld ahnte, von wem es war. Mit klopfendem Herzen steckte er es zu sich, und als in seinem Zimmer die Lichter brannten, erbrach er es. Seine Hand zitterte dabei heftig – wie schwach war er noch! In seltsam geschlungenen und gezwungenen Schriftzügen las er jetzt folgendes: »Mein einzig geliebter Freund! Verurteilen Sie mich nicht, bevor Sie mich gehört. Der Schein ist gegen mich – aber ich bin schuldlos. Es wird Ihnen alles klar werden, wenn Sie sich, wie schon verabredet, nächsten Dienstag oder Mittwoch an dem bezeichneten Orte einfinden. Ich beschwöre Sie, zu kommen. Ohne Ihre Achtung könnte ich nicht leben – mit Ihrer Verachtung noch weniger. Es hat nie jemand anderen geliebt als Sie Ihre unglückselige alte Freundin.« Er warf das Blättchen auf den Tisch. Lüge! Lächerliche, abgeschmackte Lüge! Und doch, wenn es wahr wäre! Wenn sie ..... Ein plötzliches Wonnegefühl tauchte bei diesem Gedanken in seiner Brust empor. Unsinn! Lüge! Abscheuliche, plumpe Lüge, um ihn nunmehr an sich zu locken, seinen Verstand zu umnebeln, ihm den Mund, der ein Geheimnis verraten konnte, mit ihren Lippen zu versiegeln! O sie wußte, daß es ihr gelingen würde, wenn er sich beikommen ließ, ihrem Rufe zu folgen! Er wäre dann für immer der Narr, der Sklave dieses Weibes! Unwillkürlich dachte er an ihren Mann. Welch eine Ehe war das! Aber wird sie ihn nicht unter allen Umständen zu finden wissen? Sie empfand, das erkannte er, bei aller Verderbtheit Scham und Angst vor ihm; ihrer Ruhe, ihrer Sicherheit willen mußte sie ihn jetzt um jeden Preis wieder zu gewinnen trachten. Daher durfte er auch nicht länger hier verweilen: er mußte fort – sogleich fort. Schon am nächsten Tage traf er alle Anstalten. Seine Hausgenossen waren sehr verwundert über diese plötzliche Eile und suchten ihn noch hinzuhalten. Er aber erklärte, er dürfe nicht länger zögern, da er ja nicht gerade bei strengstem Winter in Florenz eintreffen wolle. So ließ man ihn denn gewähren. Es war ihm gelungen, die bindendste seiner Verpflichtungen in guter Art zu lösen; alles andere ließ er auf sich beruhen, denn Gefahr war im Verzuge. Als er nach dem Bahnhofe fuhr, fiel der erste Schnee vom abendlichen Himmel nieder. 9. IX. Zwei Jahre waren seitdem verflossen, als der Bankbeamte Herr Viktor Jaksch aus dem Kaffeehause, das er in den späten Nachmittagsstunden zu besuchen pflegte, in seine Wohnung zurückkehrte. Es war ein ganz nettes kleines Heim, ausgestattet mit dem üblichen Einrichtungsprunk aus den großen Möbelmagazinen, und bestand, nebst einer Küche und einem winzigen Vorzimmerchen, aus zwei Gelassen, davon das eine als eheliches Schlafgemach benützt wurde. Ein anstoßendes schmales Kabinett schien das Boudoir der Gattin zu sein. Es war ein feuchtkalter Abend, und in dem schmächtigen Tonofen des ersten, bereits von einer Lampe erhellten Zimmers brannte ein behagliches Feuerchen. Herr Jaksch legte Hut und Oberrock ab; dann begab er sich in das Schlafzimmer, wo er seine großen und plumpen Füße von den beengenden Stiefeletten befreite und in bequeme Hausschuhe von zartem gelben Leder schlüpfen ließ. Hierauf entledigte er sich seines Jacketts und zog einen ganz neuen Schlafrock an, der vorne an der Brust blau ausgeschlagen war. Auch die Krawatte entfernte er und knüpfte, nachdem er eine Kerze vor dem Toilettespiegel angezündet hatte, ein buntes Seidentuch um den Hals. Er sah nun, wie er fand, ganz malerisch – und vor allem für seine Jahre sehr wohlerhalten aus. Der Scheitel war allerdings schon so weit gelichtet, daß man, wenn man gerade wollte, von einer Glatze sprechen konnte, dafür aber erschien die Stirn bedeutender, und der unternehmend aufgedrehte Schnurrbart gelangte zu größerer Geltung. Kurz, Herr Jaksch war mit sich ungemein zufrieden. Er warf mit einer Seitenwendung den letzten Blick in den Spiegel, blies das Licht aus und kehrte in das erste Zimmer zurück, wo er sich erwartungsvoll in einem Fauteuil niederließ. Seine Frau hatte ihn, als er nach dem Essen ins Kaffeehaus ging, ein Stückchen Weges begleitet, und sich dann, um Besuche zu machen, mit dem Versprechen von ihm entfernt, zeitig wieder zu Hause zu sein. Nun, das war nicht der Fall, aber sie dürfte gewiß bald kommen. Herr Jaksch wartete mit einiger Ungeduld. Er hatte sich auf diesen Abend ganz besonders gefreut. Es war ihm nämlich heute morgen im Bureau vertraulich eröffnet worden, daß er zu Neujahr eine nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung zu erwarten habe. Er hatte diese längst gehoffte Kunde seiner Frau schon bei Tisch mitgeteilt, wollte aber jetzt eine kleine intime Feier dieses frohen Ereignisses veranstalten. An einer Weinhandlung vorüberkommend, hatte er sich eine Flasche Refosco, davon die Gattin, wie er wußte, nicht ungern einige Tropfen nippte, in Papier wickeln lassen; beim Abendessen, das von der Magd bereits gekocht wurde, sollte sie entkorkt und durch das süße Feuer des Weines eine vertrauliche Schäferstunde eingeleitet werden, nach welcher er um so mehr Verlangen trug, als er lange genug Strohwitwer gewesen. Seine Frau hatte im Sommer zuerst Franzensbad – und dann in einer berühmten Nerven-Heilanstalt eine endlose Kur gebraucht. Bis weit in den Oktober hinein hatte sie sich gezogen – dafür aber auch Wunder gewirkt. Seine Paula war gesund und blühend wie ein junges Mädchen in seine sehnsuchtsvollen Arme zurückgekehrt. Gleichwohl sollte er sich – nach ärztlicher Anordnung – noch immer einer gewissen Enthaltsamkeit befleißigen. Er war bis jetzt nach Möglichkeit folgsam gewesen. Aber heute sollte und mußte ihm endlich voller Lohn werden! Halb neun! Und noch immer nicht da! Er erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Dabei fiel ihm ein, daß er, seiner Gewohnheit nach, auch ein Abendblatt gekauft und zu sich gesteckt hatte; im Kaffeehause kam er ja, von einer fixen Billardpartie in Anspruch genommen, nur selten dazu, die Zeitungen näher anzusehen. Er zog es nun aus der Tasche seines Oberrockes, setzte sich nieder und begann, in das volle Licht der Lampe rückend, zu lesen. Bei der zweiten Seite angekommen, stutzte er und faßte mit gespannter Aufmerksamkeit eine Stelle ins Auge, die ihn besonders zu interessieren schien. Da ertönte draußen die Klingel – und die Ersehnte trat herein. Sie war in Halbtrauer; denn sie hatte gegen Ende des vorigen Jahres ihren Vater verloren. Er stürzte auf sie zu, umschloß sie mit den Armen und küßte sie wiederholt. »So laß mich doch nur erst den Hut weglegen!« rief sie widerstrebend und begab sich in das Schlafzimmer, wo sie auch den Mantel von den Schultern gleiten ließ. Dann kehrte sie, das Haar an den Schläfen glattstreichend, zurück. Er betrachtete sie mit trunkenem Blick. Sie sah auch wirklich entzückend aus. Ihr Wuchs war voll, fast üppig geworden. Das früher so fahle Gesicht hatte eine gesunde, bräunliche Farbe angenommen, so daß sie mit ihren roten Lippen und den weitgeschlitzten, dunkel umschatteten Augen einer Kreolin ähnelte. »Du bist spät gekommen, mein Engel!« sagte er und zog sie, sich setzend, auf seine Kniee. Sie ließ es gleichgültig geschehen. »Du weißt doch, daß mich Mama nie fortlassen will. Auch war ich ja noch in der Josephstadt. Der Tante geht es nicht gut. – Was neues?« Sie griff nach dem Blatte, das auf dem Tisch lag. Sie pflegte meistens nur die Inserate durchzusehen; das übrige ließ sie sich gern erzählen. »Neues? Nun ja – eigentlich etwas für dich –« »Was denn?« »Es ist jemand gestorben.« »Wer?« »Nun, der – der – wie heißt er nur gleich? Deine erste Liebe. Na, da lies selbst!« Er wies ihr die Stelle mit dem Finger. Bei den Worten »deine erste Liebe« war sie errötet. Jetzt las sie, noch immer auf seinem Schoße, über den Tisch gebeugt, folgendes: »(† Leo Bruchfeld.) Man schreibt uns aus Florenz: Gestern ist hier der österreichische Musiker und Komponist Dr. Leo Bruchfeld nach kurzer Krankheit gestorben. Seit zwei Jahren schon weilte er in unserer Stadt, um in fast gänzlicher Zurückgezogenheit an einer größeren Tondichtung zu arbeiten, die sich auch unter dem Titel ›Requiem der Liebe‹ in seinem Nachlasse vorgefunden hat.« Die von der Redaktion beigefügte biographische Skizze las sie nicht mehr. Sie hatte sich erhoben und war jetzt so blaß, daß in ihrem Antlitz das bläuliche Geflecht der Adern zum Vorschein kam. »Mein Gott! Paula!« rief er erschrocken. »Wie töricht von mir, daß ich dich aufmerksam gemacht –« »Es ist nichts«, sagte sie, und fuhr langsam mit der Hand über die Stirn. »O doch! Es hat dich sehr ergriffen. Hast du ihn denn wirklich – –? Schau, ich war auf so viele eifersüchtig – aber auf den niemals.« »Es war auch nichts.« Sie wendete sich ab. Die Magd trat ins Zimmer, um den Tisch zu decken, während sich Paula auf das Sofa niederließ und in Gedanken vor sich hinblickte. »Was für ein Dummkopf war ich,« sagte Herr Jaksch zu sich selbst, »daß ich das Blatt nicht sofort versteckt habe. Nun ist alles verdorben.« Sie setzten sich zu Tisch. Paula legte ihm von den Speisen vor. »Und du?« fragte er. »Du weißt doch, daß ich abends nicht esse.« Sie nahm übrigens eine Kleinigkeit auf ihren Teller und kostete davon. Er entkorkte die Flasche. »Refosco«, sagte er. Sie reichte ihm das Spitzgläschen hin. Er goß ein und sie trank. Allmählich fing ihr Gesicht zu glühen an .... Des Nachts merkte er, daß sie nicht schlafe, obgleich sie ganz ruhig neben ihm lag. »Du schläfst nicht?« flüsterte er. »Laß mich.« * * * Am Morgen war sie wie gewöhnlich zu Bette geblieben, während er im Nebenzimmer gefrühstückt hatte und nun, zum Gange in sein Bureau bereit, an ihre Seite trat. »Paula! Mein schönes, mein göttliches Weib!« Er bog sich zu ihr hinab und liebkoste sie. Sie ließ es geschehen und hielt ihm die Hand zum Abschied hin. Als er fort war, verweilte sie eine Zeitlang regungslos mit geschlossenen Lidern. Dann erhob sie sich, wusch sich und kämmte vor dem Spiegel ihr langes, volles Haar, in welchem schon einige Silberfäden schimmerten. Als sie vollständig angekleidet war, trat sie an ein Fenster und blickte durch die Scheiben. Dann setzte sie den Hut auf, nahm den Mantel um und verließ, nachdem sie der Magd mit ruhiger Stimme einige Befehle erteilt hatte, die Wohnung. Ihr Antlitz sah heute wieder etwas blutlos aus, so daß es eine leichte gelbliche Färbung zeigte. Mit gesenkten Wimpern schritt sie langsam die Treppe hinab, verließ das Haus und wendete sich nach rechts. Dort, wo einst Bruchfeld gestanden, stand ein sehr vornehmaussehender Herr. Er war nicht mehr jung, aber keineswegs alt und wies in Haltung und Miene jene weltmännische Sicherheit, welche die Frauen besonders anzieht. Sein etwas verschleierter Blick leuchtete auf, als er sie kommen sah. Sie lächelte ihm entgegen ..... Doktor Trojan 1. I. Ich war zum erstenmal auf der Herrschaft R .... eingetroffen. Man hatte mir im Schlosse eine ganz allerliebste kleine Wohnung vorbereitet: als Schreibzimmer ein helles Turmgemach mit weiter Rundsicht; nebenan, etwas tiefer gelegen, einen bequemen Schlafraum, dessen Fenster von wildem Wein halb umsponnen und überdies von einem mächtigen Baumwipfel des Parkes beschattet waren. Da hatte ich denn, wonach ich mich gesehnt: ein behagliches, stimmungsvolles ländliches Heim, vollständige Freiheit und Muße. Und so konnte und wollte ich – das war auch der Wunsch meiner gräflichen Wirte – sofort an die Arbeit gehen. Ich musterte daher fürs erste das Handwerkszeug. Aber so sehr ich in jeder anderen Hinsicht aufs trefflichste versorgt war: gerade da blieb einiges zu wünschen. Ich fand nämlich violette Tinte vor, gegen deren Gebrauch ich eine entschiedene Abneigung hatte; die Stahlfedern erwiesen sich als zu spitz, und auch das Papier war nicht meine gewohnte Sorte – zudem, wie es mir schien, nicht in genügender Bogenanzahl vorhanden. Aber dem war ja leicht abzuhelfen. Unten im Ort mußte doch irgend ein Kaufmann oder Krämer sein, der derlei Gegenstände führte. Mit eigentlich ganz ungerechtfertigter Hast machte ich mich sogleich auf den Weg. Und richtig: kaum auf dem öden, von hüttenartigen Baulichkeiten umrahmten Marktplatze angekommen, in dessen Mitte der übliche Gänseteich prunkte, erblickte ich schon einen dürftigen Laden mit den Emblemen Merkurs, und über der Eingangstür eine verwitterte Tafel: N. Nezbada, Gemischte Warenhandlung. Als ich eintrat, stand der Eigentümer, breit und hochschulterig, über den Ladentisch gebeugt und sprach mit einem auffallend hageren Manne, der unweit von ihm aus einer, Porzellanpfeife rauchend, an einem mit Erbsen gefüllten Sack lehnte. Herr Nezbada brach sofort die Unterhaltung ab und fragte sehr unterwürfig, womit er dienen könne. Während er nun das Verlangte aus einem entlegenen, verstaubten Fach hervorsuchte, betrachtete ich den Mann am Erbsensacke näher. Obgleich er weder Helm noch Rüstung trug, sondern einen defekten Strohhut und einen höchst fadenscheinigen Sommeranzug, mahnte er, fast skelettartig mager, wie er war, mit seinem bräunlich gelben, vertrockneten Gesicht und dem nach aufwärts gedrehten Schnurrbart an die gang und gäben Bildnisse des Junkers aus der Mancha. Nur die Habichtsnase fehlte. Die seine, dünn und lang, war vielmehr merkwürdigerweise nach einwärts gebogen und verlief dann, allmählich breiter werdend, in ein wagrecht vorstehendes Ende, das sich wie ein Entenschnabel ausnahm. Der Kaufherr legte mir jetzt Papier und Federn zur Auswahl vor. »Belieben wohl aus dem Schlosse zu sein?« forschte er in singendem Mährisch-Deutsch. »Habe Sie, wenn ich nicht irre, heute morgen dort einfahren gesehen.« Und da ich bejahend nickte, fragte er, ob ich mich länger hier aufzuhalten gedenke, was ihm jedenfalls höchst angenehm sein würde. »Nun, ich glaube den Sommer über –« »Das wird den Herrn nicht gereuen«, warf jetzt der Mann am Erbsensacke mit einem schrillen, seltsam fistelnden Diskant ein, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm und sie, gleichsam beteuernd, hoch in die Luft hielt. »Das werden Sie nicht bereuen, mein Herr! Denn unsere Gegend ist ganz einzig in ihrer Art. Eine Vereinigung des Lieblichen mit dem Wildromantischen. Und dabei eine erquickende, nervenstählende Luft, wie in der Schweiz!« Er wurde in dieser begeisterten Lobrede, die sich um so seltsamer anhörte, als er dazu ein weinerliches Gesicht machte, von einem kleinen, barfüßigen Mädchen unterbrochen, das durch die Tür hereingespäht und sich ihm mit verlegener Hast genähert hatte. Er neigte sich zu dem Kinde hinab, das ihm einige mir unverständliche slawische Worte sagte, worauf er gewährend nickte und, höflich vor mir den Hut lüftend, mit der Kleinen den Laden verließ. »Wer war denn das?« fragte ich Herrn Nezbada, der inzwischen auch ein Fläschchen »Alizarin« aufgestöbert hatte und sich nun anschickte, meine Einkäufe sorglich zu verpacken. Er hielt in seiner Beschäftigung inne, stemmte die großen Hände auf den Ladentisch und, sich weit vornüber neigend, sagte er feierlich: »Das war Doktor Trojan.« »Doktor?« erwiderte ich zweifelnd, denn der Mann sah gar nicht danach aus – weit eher wie ein Amts-oder Wirtschaftsschreiber. »Doch nicht Arzt?« »Gewiß, gewiß«, bekräftigte der Kaufherr noch feierlicher. » Arzt – und was für einer! Obgleich er« – hier dämpfte er die Stimme zu geheimnisvollem Flüstern – »nicht wirklicher Doktor ist. Aber er versteht mehr, als mancher Professor. Der Herr Chefarzt Wanka hält große Stücke auf ihn.« »Der Herr Chefarzt Wanka ....?« Herr Nezbada, der sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, sah mich erstaunt an. »Den kennen Sie nicht? Den berühmten Naturforscher?« Ich hatte von dieser Zelebrität in der Tat keine Ahnung. Aber ich ließ das auf sich beruhen, zahlte meine Rechnung und nahm das Paket auf, welches jetzt ganz zierlich vor mir lag. »Darf ich es vielleicht ins Schloß senden?« fragte Herr Nezbada dienstbeflissen. »Danke, es ist ja nicht weit.« Damit empfahl ich mich, von seinen Bücklingen bis zur Tür geleitet. * * * Als ich jedoch mittags an der gräflichen Tafel saß, kam das Gespräch sehr bald auf Doktor Wanka. Und dabei erkannte ich, daß ich mich doch ein wenig zu schämen hätte. Denn der Mann hatte sich, wie ich jetzt erfuhr, um die Durchforschung ausgedehnter Höhlengebiete, welche schon vor zwei Jahrhunderten in der Umgegend entdeckt, aber wenig beachtet worden waren, sehr verdient gemacht. Von einigen Bergleuten unterstützt, oft mit Lebensgefahr, hatte er den Umfang der mächtigen diluvialen Räume in allen ihren Verzweigungen ermittelt und dabei höchst merkwürdige Funde zutage gefördert, welche erwiesen, daß die Höhlen nicht bloß vorweltlichen Tiergeschlechtern, sondern auch prähistorischen Menschen zum Aufenthalt gedient. Die Abhandlungen, die er über die wichtigsten dieser Funde veröffentlicht, mußten seinen Namen in wissenschaftlichen Kreisen längst bekannt gemacht haben; er selbst aber war seit einer Reihe von Jahren damit beschäftigt, das ganze Material zu einer übersichtlichen Sammlung zu ordnen, welche fürs erste in der Landeshauptstadt und später auch in Wien zur allgemeinen Schau gelangen sollte. Mir jedoch wurde dringend empfohlen, sie ohne Säumen gleich an Ort und Stelle in Augenschein zu nehmen, was mir um so bequemer geboten wäre, als ja Doktor Wanka in einem Nebengebäude des Schlosses wohne. Da ich ohnehin die Absicht hatte, bei einigen Persönlichkeiten Artigkeitsbesuche abzustatten, so fand ich mich schon am nächsten Tage dort ein und wurde von einem gebrechlichen alten Herrn empfangen, dessen Augen wie erloschen aussahen, aber im Laufe des Gespräches immer heller und lebhafter aufleuchteten. Er führte mich sehr zuvorkommend in das weitläufige Gemach, das seine Sammlung enthielt, und ich war erstaunt über die Fülle und Mannigfaltigkeit des Vorhandenen. Vom schlichten Kalk- und Glimmerstück bis zum abenteuerlichsten Tropfsteingebilde hatte man die geologische Entwickelung ungemessener Zeiträume vor Augen, während von der kleinsten mikroskopischen Versteinerung bis zu sorgfältig wiederhergestellten Skeletten riesiger Höhlenbären alle Tierarten vertreten waren, welche in jenen dunklen Verborgenheiten gelebt hatten; selbst die augenlose Zwergfauna der Gegenwart, in Spiritus gesetzt, fehlte nicht. Am anregendsten aber erwiesen sich die menschlichen Fossilien, interessante Schädel- und Knochenreste, sowie die Überbleibsel einer vorgeschichtlichen Kultur: Waffen, Gerätschaften und Schmuckgegenstände, alles, trotz primitivster Einfachheit, durch Adel und Zierlichkeit der Form überraschend. Als ich dem Doktor meine Bewunderung aussprach, erwiderte er: »Ja, es war die Aufgabe meines Lebens, und nunmehr ist sie erfüllt. Schon als junger Mann, da ich – noch vom Großvater unseres Grafen – als Fabrik- und Werkarzt hier angestellt wurde, habe ich sie begonnen. Im Anfang ging es freilich sehr langsam; denn ich hatte wenig freie Zeit, und nur in großen Zwischenpausen konnte ich Einfahrten in die Höhlen unternehmen. Mehr und mehr aber wurde ich von der Herrschaft in meinen Forschungen unterstützt – und schließlich erhielt ich die Sinekure eines Chefarztes, deren ich mich noch heute erfreue. So konnte ich mich nun der Sache fast ausschließlich widmen, freilich auf Kosten meines ursprünglichen Berufes, den ich schon seit langem nur mehr in gewissen Notfällen ausübe. Mein Nachfolger im eigentlichen Dienste, Doktor Hulesch, ist ganz ausgezeichnet, besonders als Chirurg, und mit der Ortsbevölkerung habe ich nichts zu schaffen.« »Die hat also ihren eigenen Arzt?« fragte ich. »Ja, und nicht gerade den schlechtesten. Man hat auf dem Lande, zumal in früherer Zeit, immer ganz tüchtige Ärzte gefunden. Freilich nur Empiriker, wie es damals überhaupt um die Theorie nicht so glänzend bestellt war, wie heutzutage. Ein solcher Praktiker war hier auch der alte Trojan, mit welchem ich, so lange er noch lebte, auf dem freundschaftlichsten Fuße gestanden. Er besaß zwar nur das sogenannte Magister-Diplom, war aber ein vortrefflicher Therapeut, und seine Diagnosen, welche für jene Zeit geradezu genial genannt werden konnten, erwiesen sich fast immer untrüglich. Wie oft hab' ich ihn selbst in verzweifelten Fällen zu Rate gezogen! Und diese Eigenschaften sind auch zum Teil auf seinen Sohn übergegangen, wiewohl er die Hoffnungen, die sein Vater auf ihn gesetzt, nicht erfüllt hat.« »Ich habe ihn gestern zufällig kennen gelernt«, sagte ich. »So? Wo denn?« »Bei dem Kaufmann Nezbada.« »Ach ja, dort hält er gern Rast nach seinen ärztlichen Gängen, die ihn oft stundenweit vom Ort abführen. In jenem Gewölbe pflegt man ihn auch aufzusuchen, denn zu Hause kann er niemanden empfangen. Ein seltsamer Kauz, der sich in der Jugend verbummelt und nicht einmal das Diplom seines Vaters erworben hat. Und das ist schade. Bei gehöriger Ausbildung wäre er, meiner Überzeugung nach, eine hervorragende medizinische Kapazität geworden, während er jetzt, trotz ausgesprochener Begabung und sehr anerkennungswerter Heilerfolge bei internen Krankheiten, Gefahr läuft, früher oder später als Kurpfuscher behandelt zu werden.« Wir wurden in diesem Augenblick durch das Erscheinen der Damen des Hauses unterbrochen. Die Gemahlin des Doktors war eine stattliche, trotz ihrer Jahre noch immer schöne Frau; die Tochter ganz dem Vater nachgeraten: unansehnlich von Gestalt, aber klug blickend und interessant von Angesicht. Das Gespräch nahm nunmehr eine Wendung ins allgemeine, und es dauerte nicht lange, so kam Doktor Hulesch, ein älterer, robuster Mann, der in seinem Äußeren an Karl Vogt erinnerte. Wie sich zeigte, hatte er sich eingefunden, um seinem Chef ärztlichen Wochenbericht zu erstatten; ich ergriff daher diese Gelegenheit, um mich zu verabschieden. Als ich später mit einigen Briefen, die ich selbst aufgeben wollte, zur Post ging, sah ich den Arzt der Gemeinde, aus seiner Porzellanpfeife rauchend und einen Knotenstock in der Hand, eilig über den Platz schreiten. Bei einer zufälligen Kopfwendung erblickte er auch mich und nahm, aus der Entfernung grüßend, den zerknitterten Strohhut ab. * * * Was »Doktor Trojan« zum Preise der Gegend vorgebracht, bewahrheitete sich vollständig, und bald hatte ich sie, teils zu Pferd und Wagen, teils auf einsamen Gängen, in ihrer abwechslungsvollen Schönheit nach allen Richtungen hin kennen gelernt. Nur auf den »Hořic« war ich noch nicht gelangt, obgleich ich diese ausgedehnte Hochfläche mit ihren steilen, dicht bewaldeten Abhängen beständig vor Augen sah; denn sie lag, eine halbe Wegstunde entfernt, dem Schlosse gerade gegenüber. Eines Morgens jedoch, da ich mich zur Arbeit nicht recht gestimmt fühlte, beschloß ich hinaufzuwandern, um die Aussicht zu genießen, die sich dort oben ganz überraschend eröffnen sollte. Es war im Juli, und der Tag drohte sehr heiß zu werden. Schon vor acht, als ich auf dem trockenen Gras der Raine quer durch die Felder schritt, brannte die Sonne drückend auf meinen Scheitel nieder. Endlich hatte ich den Waldrand erreicht – und damit auch Schatten, Kühlung. Doch jetzt begann erst auf schmalem Pfade der Anstieg, der immer beschwerlicher wurde, bis ich zuletzt auf förmliches Klettern angewiesen war, so daß ich schon bedauerte, nicht den Umweg auf einem bequemeren, in weitem Bogen nach aufwärts führenden Fahrgeleise eingeschlagen zu haben. Aber schon wurde zwischen den Fichtenstämmen blauer Himmel sichtbar – und bald stand ich mit einem letzten kräftigen Schwunge, von köstlicher Luft angeweht, vor einem leicht wallenden, schnittreifen Ährenmeere. Weithin dehnte es sich, nur unterbrochen von einem langgestreckten Dörfchen, das mit seinen Strohdächern wie weltvergessen dalag. Und nun entdeckte ich auch, schräg seitwärts, den herrschaftlichen Hof, dessen Pächter, wie man mir gesagt hatte, eine kleine Gastwirtschaft unterhielt. Dorthin schritt ich nun, um fürs erste ein Frühstück einzunehmen. Hart an der Hofmauer ragte eine hohe, breitwipfelige Buche auf, in deren Schatten ein Tisch mit zwei Bänken stand. Ein Mann und ein kleiner Knabe saßen daran. Als ich näher kam, erhob sich der Mann, und ich erkannte, daß es Trojan war, der mir nun barhäuptig entgegenschritt; Hut und Pfeife lagen neben einem vollen Bierglase auf dem Tisch. »Verirren Sie sich auch einmal da herauf!« sagte er mit einer Verbeugung und sichtlich erfreut. Dabei aber nahm sein Gesicht seltsamerweise wieder einen weinerlichen Ausdruck an, so zwar, daß seine nach einwärts gebogene Nase fast gänzlich verschwand und nur der Entenschnabel übrig blieb, was sehr komisch aussah. »Es hat lange gedauert,« erwiderte ich, »bis ich dazu kam, obgleich mir diese Höhe ganz besonders angerühmt wurde. Der Weg ist übrigens recht anstrengend.« »Dafür wird man aber auch reichlich belohnt!« Er breitete die langen Arme aus und drehte sich sacht um die eigene Achse. »Sehen Sie nur, was man da alles vor Augen hat! Dort liegt Brünn.« Er wies mit der Hand, die dürr und vertrocknet war wie eine Vogelklaue, nach einer durchsonnten Dunstmasse am fernsten Horizont. »Und die Ortschaften mit ihren Kirchtürmen rings im Kreise! Die Schlangenwindungen des Flusses! Die Wiesen, Weiler und Gehöfte! Wie auf einer Generalstabskarte. Da sieht man erst, wie groß die Welt ist! – Aber Sie sind müde und werden sich setzen wollen. Hoffentlich verschmähen Sie nicht, dort am Tische Platz zu nehmen. Hinter dem Hause gibt's auch ein Gärtchen. Doch hier ist der Blick freier – und es weht eine so erquickende Luft ...« Er strich mit der Hand über die schmale, durchfurchte Stirn, die sich, stark nach rückwärts geneigt, unter kurzgeschorenen, bereits leicht ergrauten Haaren weit fortsetzte. Wir ließen uns nieder, und ich betrachtete jetzt den Knaben, der seine großen, hellen Augen forschend auf mich gerichtet hielt. Ich hatte kaum jemals ein schöneres Kind gesehen. Das volle, runde Gesicht wies den slawischen Typus in jugendlicher Zartheit und Weichheit. Die breite, an den Flügeln leicht geschwellte Nase, der blühende Mund waren aufs feinste modelliert; der ganze Kopf aber hob sich mit dem kräftigen Hälschen sonnengebräunt und wie von innen rosig durchleuchtet von dem ärmlichen, fahlen Flickwerk ab, mit welchem der Kleine höchst notdürftig bekleidet war. Trojan bemerkte mein Wohlgefallen. »Nicht wahr, ein wunderschöner Knabe«, sagte er. »Man kann es schon vor ihm aussprechen, denn er versteht kein Deutsch. Das ganze Ebenbild seiner Mutter, eines armen Weibes, das ich hier oben behandle. Ein sehr schwerer Abdominaltyphus. Aber wir werden sie schon wieder gesund machen. Nicht wahr, Honziček? Da, trink auf die Gesundheit deiner Mutter!« Und mit einem liebreichen Blick schob er dem Kleinen das volle Glas zu, das dieser mit beiden Händchen erfaßte, an die Lippen führte und mit so gierigem Wohlbehagen trank, daß ihm dabei das Wasser in die Augen stieg. »Halt! Halt!« rief Trojan, indem er ihm das Glas behutsam vom Munde weg und aus den umklammernden Fingern zog. »Der kleine Kerl leert es mir auf einen Zug! Willst du ein Saufaus werden, wie dein Herr Papa? – Sie müssen wissen,« wandte er sich an mich, »daß sein Vater einer der ärgsten Lumpe ist, die es gibt. Unzählige Male wegen Wilddieberei und sonstiger Frevel abgestraft, ist er seit seiner letzten Haft spurlos aus der Gegend verschwunden, und der Teufel weiß, wo er sich jetzt herumtreibt. Sein Weib hat er mit dem da in einem elenden Verschlag, der früher als Ziegenstall gedient, hier oben zurückgelassen. Eigentlich war's ein Glück für sie, denn sie hatte den Faulenzer, der in letzter Zeit die Hand nur mehr zu Schlechtigkeiten rührte, ganz und gar erhalten müssen, während er obendrein die Hälfte ihres kargen Tagelohns in Schnaps aufgehen ließ. Nun konnte sie sich wenigstens mit ihrem Kinde satt essen. Aber die beständige Müh' und Plage! Die Feldarbeit will ich damit nicht gemeint haben; denn die ist naturgemäß und daher dem Menschen zuträglich, wenn es auch Schweiß setzt. Aber im Herbst und Winter, wenn der Nordwind über die Höhe fegt und weithin der Schnee liegt! Tagtäglich beim Morgengrauen hinunter in die Zuckerfabrik – oder wo es sonst gerade Beschäftigung gibt! Spät abends wieder herauf – und dabei nichts anderes im Leibe, als Brot und schlechte Kartoffeln: da kann man schon den Abdominaltyphus bekommen. Aber wir werden sie aufbringen! Werden sie aufbringen!« »Daran zweifle ich nicht,« sagte ich, »denn nach allem, was ich von Doktor Wanka über Sie gehört –.« »Er hat also von mir gesprochen!« rief er mit sichtlich befriedigtem Stolze und vor Freude errötend, wobei sich jedoch sein Gesicht ausnahm, wie das eines Menschen, der in bittere Tränen ausbrechen will. »Ich weiß, daß er mich anerkennt, und so werden Sie mein Selbstvertrauen nicht als Unbescheidenheit auslegen. Ich habe ja eine reiche Erfahrung und darf behaupten, daß ich jede Krankheit gewissermaßen schon im Keime erkenne und ihren weiteren Verlauf mit Sicherheit voraussehe – wenn ich auch, wie Sie wohl wissen dürften, kein Doktorexamen gemacht habe.« »Ja, ich weiß,« erwiderte ich, »und ich kann mich nur wundern, daß Sie nicht bestrebt waren ...« Diese Bemerkung war ihm offenbar höchst peinlich, aber sonderbarerweise verzog sich sein Antlitz zu einem kindisch-greisenhaften Lächeln. »Ja, es ist auch höchst merkwürdig«, sagte er, indem er sich auf der Bank herumwarf und einen Arm in die Luft streckte. »Ich hatte die längste Zeit keine Ahnung davon, daß ich zum Arzte geboren war, obgleich ich täglich mit Augen sah, wie mein Vater seinem Berufe nachging, und er mir oft genug sagte, ich müsse einmal sein Nachfolger werden. Darauf hörte ich gar nicht und lebte wie Hans der Träumer in den Tag hinein. Auch hatte ich keinen Lernkopf. Aus Büchern konnte ich nur sehr schwer etwas in mich aufnehmen. Daher war mir auch der Schulbesuch ein Greuel; am liebsten strich ich in Wald und Flur herum. So kam ich denn nur mit knapper Not durch das Gymnasium zu Olmütz, wohin man mich zu Verwandten in die Kost gegeben hatte. Und in Wien, wo ich auf Befehl meines Vaters den medizinischen Studien obliegen sollte, regte sich mit einmal auch der Teufel der Vergnügungssucht und des Leichtsinns in mir. Das dortige flotte Leben behagte mir weit mehr als die Kollegien. Die Vorträge am Krankenbett zogen mich zwar an, aber doch nicht genug; auch waren sie selten. Und nebenher gab es eine Menge Disziplinen, wo es zu ›büffeln‹ galt – dazu war ich, wie gesagt, nicht fähig. Und als ich den ersten Schnitt in das Fleisch einer Leiche tun sollte, erfaßte mich solch ein Grauen, daß ich auf und davon lief und den Seziersaal nie wieder betrat. Nun war es natürlich ex. Was weiter folgte, damit will ich Sie verschonen; Sie würden nichts Gutes zu hören bekommen.« »Fahren Sie nur fort,« sagte ich; »es interessiert mich ja sehr.« »Wozu soll ich Ihnen all die Einzelheiten erzählen?« entgegnete er, jene Erinnerungen gewissermaßen von sich selbst abwehrend. »Wozu? Nur so viel will ich Ihnen in Kürze sagen, daß ich von meinem Vater, der sich um seine schönste Lebenshoffnung betrogen sah, im ersten Zorn verstoßen wurde, dies und jenes versuchte und mich dabei ein paar Jahre in immer schlechterer Gesellschaft herumtrieb, bis ich eines Tages wie der verlorene Sohn in der Bibel zurückkehrte – und auch wie dieser wieder aufgenommen wurde. Denn mein Vater war inzwischen ganz vereinsamt durch den Tod meiner Schwester, die ihm die Wirtschaft geführt hatte. Sie starb, wie einst meine Mutter, nur in früheren Jahren, an der Schwindsucht. Auch mein Vater hatte zu kränkeln begonnen, dabei wurde sein Augenlicht schwächer und schwächer, und so war er schließlich froh, jemanden um sich zu haben. Ich konnte ihm bei Bereitung der Arzeneien – Apotheke war und ist ja keine im Ort – an die Hand gehen; vor allem aber mußte ich ihm vorlesen. Denn er ließ sich, so weit er's erschwingen konnte, die neuesten Fachwerke kommen und hielt medizinische Wochenschriften. Da aber ereignete sich das Wunderbare! Beim Vorlesen – werden Sie es glauben? – fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Alles, was da gedruckt stand, war mir so verständlich, so faßlich, als wär' ich seit jeher Arzt gewesen! Es war mir nicht bloß verständlich: ich fühlte mich auch im Innersten davon gepackt, und mit einer wahren Gier verschlang ich nunmehr die ganze Bibliothek meines Vaters, obgleich es mir war, als hätt' ich das alles längst gewußt. Ist das nicht merkwürdig?! Ist das nicht merkwürdig?!« Er blickte mit einem weinerlichen Gesicht gen Himmel. »Gewiß«, versetzte ich. »Aber es ließe sich wohl durch die Gesetze der Vererbung erklären – etwa durch jene geheimnisvoll wirkende Kraft, welche jemand das Gedächtnis der Materie genannt hat.« »Gedächtnis der Materie«, wiederholte er rasch. »Sehr gut! Gehirneindrücke, die sich von Individuum auf Individuum fortpflanzen. So mußte es gewesen sein! Mein Vater war ganz erstaunt über meine plötzlichen medizinischen Kenntnisse und über die Aussprüche, die ich tat. Als er im Verlauf langjährigen Siechtums bettlägerig wurde, ließ er sich durch mich bei den Patienten vertreten. Anfänglich mußte ich ihm eingehende Berichte erstatten; späterhin aber hörte er gar nicht mehr darauf und sagte: laß es nur sein, du verstehst es ja ohnehin besser als ich.« »Und wenn dem so war,« warf ich ein, »konnten Sie denn, da Ihnen, wie man im Leben zu sagen pflegt, endlich der Knopf aufgegangen war, nicht die Versäumnisse Ihrer Jugend einbringen? Nachträgliche Prüfungen ablegen?« Er rückte unruhig hin und her. »Nein, nein,« sagte er mit einem seltsamen Grinsen, das sich wie ein freudiges ausnahm, »dazu war es zu spät. Ich hatte ja das Normalalter längst überschritten. Und um irgendwelche Prüfungen ablegen zu können, hätte ich zum wenigsten einen chirurgischen Kurs nachholen müssen. Das aber wäre mir unmöglich gewesen, denn mein Abscheu vor dem Schneiden ins Fleisch war und blieb unüberwindlich. Ich kann noch heute kein Instrument in die Hand nehmen.« »Das ist allerdings seltsam – und wohl auch ein Mangel.« »Ein Mangel? Wieso ein Mangel!?« rief er heftig, indem er mir einen fast drohenden Blick zuwarf. Ich sah ihn betreten an. »Nun, ich meine, daß derlei Kenntnisse doch unerläßlich sind für jemanden, der als Arzt – –« »Unerläßlich! Unerläßlich!« wiederholte er mit einer Art Hohn. »Anatomische Kenntnisse sind allerdings notwendig, aber die kann man sich aufs gründlichste aus jedem guten Atlas verschaffen. Wozu wären sonst bildliche Werke da? Man braucht nicht erst Kadaver zu zerstücken. Das ist etwas für die eigentlichen Anatomen, wie Hyrtl und Rokitansky – oder für Physiologen, wie Brücke. Oppolzer und Skoda haben niemals eine Lanzette berührt, das überließen sie den Chirurgen, den Schuhs und Pithas. Sie waren eben Internisten . Und auch ich bin kein Bader, der die Leute schröpft oder ihnen zur Ader läßt. Wer das verlangt, muß zum herrschaftlichen Kurschmied gehen, der auch im Zahnreißen große Geschicklichkeit besitzt. Meine Sache ist es, zu erkennen und festzustellen, ob in diesem oder jenem Falle ein operativer Eingriff notwendig wird – und dann wende ich mich an Doktor Hulesch, der als gewesener Militärarzt in dieser Hinsicht sehr tüchtig ist.« Ich erwiderte nichts. Ich hatte ihn da, das erkannte ich, an einer höchst empfindlichen Stelle getroffen und verspürte durchaus kein Verlangen, mich mit einem erregten Manne in weitere Kontroversen einzulassen. Er merkte meine Verstimmung und fuhr, den schrillen Ton seiner Stimme mildernd, fort: »Verzeihen Sie, mein Herr! Ich bin heftig, ja vielleicht unhöflich geworden. Aber sehen Sie, dieses Thema bringt mich leicht in Harnisch. Ich habe mich bei ähnlichen Diskussionen schon einmal mit Doktor Hulesch gründlich überworfen. Denn der erblickt im ›Schneiden‹ das Heil der Menschheit. Er ist eben ein fanatischer Bewunderer und Anhänger Billroths. Bei aller Hochschätzung dieses genialen Mannes und seiner erstaunlichen Leistungen muß ich doch sagen, daß er die Medizin ganz unter die Herrschaft des Messers zu bringen droht. Er selbst hat ja ganz gewiß den richtigen Blick dafür, ob und wann eine Operation notwendig ist; auch wird er ja meistens nur da zu Rate gezogen, wo es sich um ein Aut Aut handelt. Aber für seine Schüler gibt es keine sonstige Therapie mehr; den alten, kostbaren Pflanzen-Arzeneischatz verachten sie ganz und gar. Es sind ungeduldige Leute, sie wollen der Natur vorgreifen und tun ihr Gewalt an. Aber natura non facit saltus – und auch der Arzt darf keine Sprünge machen. Wenn auch in manchen Fällen für den Augenblick ein überraschender Erfolg erzielt wird: die üblen Folgen hinken nach, und meistens ist über den Patienten das Todesurteil gesprochen worden – wenn es sich auch erst nach einem Jahre vollzog.« Was er da aussprach, hatte ich schon aus dem Munde anderer, nicht gerade unbedeutender Ärzte vernommen. Aber ich mochte nun einmal dieses Gespräch nicht fortsetzen und sagte daher bloß: »Als Laie, lieber Doktor, kann ich über diesen Gegenstand keine Meinung äußern. Auch wollte ich ja mit meiner früheren Bemerkung nur ausdrücken, wie sehr es zu bedauern ist, daß gerade Sie , mit Ihrer Begabung, nicht jene Stellung erreicht haben –« »Stellung!« unterbrach er mich, den Kopf zurückwerfend. »O, ich bin ganz zufrieden mit meiner Stellung, die durchaus nicht so unbedeutend ist, wie sie Ihnen vielleicht erscheint. Zu einem Landarzte, wie er sein soll und muß, sind Eigenschaften erforderlich, welche die Stadtärzte nicht immer besitzen. Fürs erste: selbstlose Hingebung an seinen Beruf. Dann ein untrüglicher Blick – gewissermaßen die Gabe der Divination. Denn wenn die Erscheinungen nicht ganz deutlich zutage liegen – durch Fragen ist aus unseren Kranken nichts herauszubringen; sie wissen gar oft nicht einmal anzugeben, an welcher Stelle sie eigentlich Schmerzen haben. Ganz im Gegensatz zu den Kranken in der Stadt, davon die meisten ihren Zustand in wohlgefügter Rede auseinander zu setzen wissen. Da braucht man also bloß Ohren zu haben. Und dann die Behandlung! In der Stadt kann man leicht verordnen: Halten Sie sich warm! Gehen Sie nicht aus! Genießen Sie dieses oder jenes! Brauchen Sie Karlsbad! Und so weiter. Wie kann man das hier , wo Not und Elend zu Hause – und selbst die wenigen Besitzenden in allem und jedem beschränkt sind? Da heißt es, das Individuum und seine Lebensverhältnisse gründlich erfassen und das Verfahren danach einrichten. Man darf nicht bloß verordnen: man muß auch pflegen – und in vielen Fällen auch ernähren , damit der Patient nicht etwa Hungers stirbt. Ja, mein verehrter Herr, man muß auf dem Lande nicht bloß Arzt, sondern auch Samaritaner sein!« Bei dieser Rede war seine fistelnde Stimme tiefer, klangvoller geworden, und seine kleinen, dunkelbraunen Augen leuchteten in einem eigentümlichen Glanze. Sein hageres Gesicht sah jetzt wie verklärt aus. »Gewiß, ein schönes, ein segensvolles Wirken,« sagte ich, unwillkürlich ergriffen. »Das ist es auch, mein Herr! Und ich bin stolz darauf, wiewohl ich mit meiner Praxis kaum das nackte Leben herausschlage. Aber ich habe keine Bedürfnisse. Ich kuriere um die Suppe. Ja, um die Suppe, mein Herr! Wenn mir davon ein Teller beschert ist – und ein bißchen Bier« – er deutete nach dem Glase – »und Tabak für meine Pfeife« – er langte mit beiden Händen wie liebkosend nach ihr – »dann bin ich auch vollständig zufrieden. Und das ist auch der Unterschied zwischen mir und anderen Ärzten. Die meisten wollen nur verdienen. Freilich sind sie auch darauf angewiesen; denn nicht jeder steht so frei und ledig da wie ich. Aber die sogenannten Spezialisten, das sind Geldraffer. Schon mit ihren Ordinationsstunden häufen sie Reichtümer. Und je rascher, je besser. Kaum besehen, auch schon erledigt. Und wer nicht zahlen kann, mag zusehen, wie er gesund wird. Kein Geld, keine Schweizer. Da bin ich ganz anders geartet. Gerade die Ärmsten behandle ich am liebsten, und je entfernter vom Orte sie wohnen, desto angenehmer ist es mir. Ich habe dann bei meinen Gängen einen unbezahlbaren Genuß. Zu jeder Jahreszeit einen anderen. Im Frühling die Blütenpracht und den Gesang der Vögel, im Sommer die wogenden Felder und harzduftenden Wälder, im Herbst die wallenden Nebel, die sanften, goldigen Farben, im Winter die schweigende Schneelandschaft. Daher ist es mir, von der Zeitersparnis abgesehen, gar nicht recht, wenn mir jemand irgend ein Gefährt schickt; denn ich habe gesunde Beine und hohe Schmierstiefel, die jedem Wetter trotzen.« »Sie sind ein großer Naturfreund!« »Der bin ich, und beneide die Herren Stadtärzte nicht, die in dumpfen, menschenvollen Gassen von Haus zu Haus fahren. Auch um ihre Prachtwohnungen mit den eleganten Wartezimmern, wo Albums und illustrierte Zeitschriften auf den Tischen liegen, beneide ich sie nicht – obgleich ich eigentlich nicht einmal ein Heim habe.« Ich sah ihn an. »Sie blicken erstaunt? Es ist so. Sehen Sie, mein Vater besaß hier ein kleines Anwesen. In seinen letzten Lebensjahren überredete ihn jemand, sich in ein Unternehmen einzulassen, das auf Erschließung eines Kohlenbergwerks gegründet war. Die Sache schlug vollständig fehl, und das ganze Eigentum meines Vaters kam unter den Hammer. Aber der Käufer hatte Pietät genug, den alten kranken Mann nicht aus dem Hause zu weisen, und beließ ihn bis zu seinem Ende darin. Auch mir räumte er dann ein kleines Hinterstübchen ein, wo ich zur Not schlafen kann; im übrigen benütze ich es nur als Laboratorium, da ich fast alle Arzeneien selbst bereite. Es fehlt mir also gewissermaßen sogar an einer Wohnung – und doch bin ich zufrieden – und, wie schon gesagt, stolz auf meinen Beruf.« Er hatte sich bei diesen Worten erhoben, setzte seinen Hut auf und griff nach Stock und Pfeife. »Komm, Honziček,« sagte er, »es ist Zeit, daß wir nach der Mutter sehen. Leben Sie wohl, mein Herr! Es war mir ein besonderes Vergnügen, Sie hier oben getroffen zu haben.« Er machte eine würdevolle, fast herablassende Verbeugung und entfernte sich, den Kopf in den Nacken geworfen, mit weit ausgreifenden Schritten, so daß sich der Kleine, den er an der Hand gefaßt hatte, in Lauf setzen mußte, um ihm zur Seite zu bleiben. Gedankenvoll blickte ich dem wunderlichen Manne nach, dessen Geist bei allen Infirmitäten kein gewöhnlicher war – in dessen Brust ein edles Herz schlug. Unwillkürlich kam mir Doktor Wankas Äußerung in den Sinn, daß er Gefahr laufe, früher oder später als Kurpfuscher behandelt zu werden. Und alles, was ich da aus seinem Munde gehört, noch einmal erwägend, nahm es mich eigentlich wunder, daß man bis jetzt an seinen mangelhaften Kenntnissen keinen Anstoß genommen. Es zeugte jedenfalls von dem Wohlwollen der beiden Ärzte, in deren unmittelbarer Nähe er lebte, von den patriarchalischen Zuständen, welche an diesem Orte noch herrschten ..... Nun war er mit dem Knaben in der Nähe des Dörfchens aus dem Gesicht verschwunden. Eine Weile blieb ich noch sitzen, den Blick in endlose Ferne gerichtet; dann trat ich den Heimweg an. * * * Meine Absicht, den ganzen Sommer hier zuzubringen, erfüllte sich nicht. Schon in den ersten Tagen des August erhielt ich Nachrichten, welche mich zur raschen Abreise zwangen. Mit Trojan war ich nicht mehr zusammengetroffen. Nur ganz flüchtig hatte ich ihn noch einmal gesehen. Ich fuhr im Wagen an ihm vorüber, und es schien mir, als habe er absichtlich auf die Seite geblickt. 2. II. Fast acht Jahre hatten verstreichen müssen, eh' ich zum zweiten Male nach R ... kam. Aber wie überrascht war ich, als ich, den Bahnhof verlassend, dem Orte zufuhr. Er war kaum mehr zu erkennen, so sehr hatte er sich inzwischen erweitert und verschönert. Gleich am Eingang erblickte ich eine öffentliche Anlage mit einer Anzahl weiß gestrichener Bänke unter schattenden Akazien. Und in der Hauptstraße, wo man früher oft im Kote stecken geblieben, wohlgepflasterte Bürgersteige und fast durchgehends neue Häuser. Die meisten allerdings nur aus einem Erdgeschoß bestehend, aber solid und in modernem Geschmack gebaut. Auch neue Läden fielen mir ins Auge. Darunter ein sehr stattlicher mit der Aufschrift in großen Goldlettern: Lekarna – Apotheke . Und nicht weit davon, auf der anderen Seite, zeigte sich am Tor eines hübschen Hauses, gleichfalls in tschechischer und deutscher Sprache, eine Tafel: Der gesamten Heilkunde Doktor W. Srp. Ordiniert von 2–4 Uhr Nachmittag. Und wie sah jetzt der Platz aus! Ein abgezirkeltes Viereck, umgeben von ganz vornehmen Baulichkeiten. Der Gänseteich war allerdings noch vorhanden, aber er hatte eine zierliche gußeiserne Umfassung er halten, zudem schoß aus seinem Wasser der Strahl eines Springbrunnens in die Luft. Gerade gegenüber erhob sich ein sehr stattliches Gebäude mit zwei Stockwerken und ausspringenden Erkern; über dem Tor war weithin zu lesen: Radnice – Rathaus . Die Hälfte des Erdgeschosses jedoch nahm ein großer Kaufmannsladen ein, über welchem ohne weitere Bezeichnung die Firma prangte: A. Brazda. Hinter zwei hellen Schaufenstern erblickte man in verlockender Anordnung Kolonialwaren, Südfrüchte, Delikatessen; des weiteren: Herren- und Damenkonfektion. Kurz, ein ausgebreitetes Geschäft von großstädtischem Anstrich; das unscheinbare Gewölbe des Herrn Nezbada war samt dem Hause, wo es bestanden, von der Bildfläche verschwunden. Fortschritt! Überall Fortschritt! So dachte ich, während ich nun in das Schloß einfuhr. Dort hatte sich freilich nichts verändert; nur die gräflichen Kinder waren bedeutend herangewachsen. Infolgedessen fanden sich auch zwei Erzieherinnen und ein Hofmeister vor. Der letztere benützte meine ehemalige Wohnung, ich wurde also jetzt in dem Gebäude untergebracht, welches Doktor Wanka inne gehabt. Dieser war in Pension getreten und mit seiner Familie nach der Landeshauptstadt übergesiedelt. Die Hälfte des weitläufigen Hauses hatte man dem Doktor Hulesch eingeräumt, der als hartnäckiger Junggeselle sich mit einer Wirtschafterin behalf. Er war also nunmehr mein unmittelbarer Nachbar, und gleich bei dem ersten Besuche, den ich ihm abstattete, erkundigte ich mich nach Trojan. Ich hatte seiner im Laufe der Jahre immer weniger gedacht – und ihn schließlich ganz und gar vergessen. Erst bei meinem Wiedereinzug war er mir durch den Anblick der ärztlichen Aushängetafel in Erinnerung gebracht worden ..... »Sie fragen nach Trojan«, erwiderte Hulesch. »Der arme Teufel hat ein höchst trauriges Ende genommen. Aber haben Sie ihn denn gekannt?« »Gewiß. Ich hatte sogar einmal mit ihm ein längeres Gespräch, das mir den Mann ganz merkwürdig erscheinen ließ.« »Das war er; aber auch gewissermaßen prädestiniert zu dem Schicksal, das ihn getroffen. Da Sie Anteil zu nehmen scheinen, will ich Ihnen den Hergang in Kürze erzählen.« * * * »Wie ich als Arzt selbst zugestehen muß, war er zu unserem Berufe in ganz seltener Weise veranlagt. Aber seine Ausbildung war ungenügend; er hatte eben nichts wirklich gelernt, und chirurgische Kenntnisse besaß er gar keine. Er war in dieser Hinsicht mit einer Idiosynkrasie behaftet: er konnte kein Blut fließen sehen und wich selbst dem Anblick eines ärztlichen Messers aus. Das mochte nun hingehen; denn ich war in einschlägigen Fällen immer zur Hand. Aber wie alle Autodidakten betrachtete er seine Mängel als Vorzüge und suchte aus der Not eine Tugend zu machen. Von der Behauptung ausgehend, daß man der Natur nicht vorgreifen dürfe, hielt er operative Eingriffe in der Regel für überflüssig, ja schädlich, und behandelte gewisse nach außen tretende Übel mit unzulänglichen Mitteln – oft so lange, daß die äußerste Gefahr im Verzuge erschien, wenn er endlich meine Hilfe in Anspruch nahm. Infolgedessen hielt ich es für meine Pflicht, ihm wiederholt und zuletzt sehr eindringlich vorzustellen, welch schwere Verantwortung er da auf sich lade, und daß ein solches Vergehen für ihn selbst die übelsten Folgen nach sich ziehen würde. Das machte ihn jedoch nur noch starrsinniger, erbitterte ihn, und nunmehr hielt er mich im stillen für seinen Feind. Wie sehr mit Unrecht, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Ich schätzte ihn vielmehr, so wie Doktor Wanka, der mit seinem Vater befreundet gewesen, aufrichtig der Verdienste willen, die er sich um die Gemeinde erwarb, indem er in wahrhaft selbstloser, aufopfernder Weise die ärmsten und hilflosesten Kranken behandelte, denen er schon durch sein bloßes Erscheinen Trost, Linderung – und oft genug auch Heilung brachte. Aber es erwuchsen ihm im Laufe der Jahre zwei wirkliche Feinde – ein kleinerer und ein großer. Das kam nun so. Schon während Ihres ersten Aufenthaltes hatte sich hier, wenn auch noch unmerklich, der Geist der Zeit zu regen begonnen. Man nahm eingewurzelte Übelstände wahr und trachtete, zweckmäßige Neuerungen einzuführen; man suchte sich auszubreiten und begann zu bauen, zu verschönern. Dazu kam, daß die günstige Lage des Ortes zwei industrielle Unternehmungen anzog, welche, von der Landeshauptstadt ausgehend, an den Flußufern ihren Sitz aufschlugen. Da kamen denn die Direktoren mit einer Anzahl von Beamten und Werkmeistern, ganz abgesehen von den Arbeitern, welche von allen Seiten zuströmten und sich zum Teil auch hier niederließen. So wurden in der Folge auch allerlei unternehmende Geschäftsleute und Handwerker hierher gezogen – kurz: unser früher so unbeachtetes, stilles R ... entwickelte sich zu der immerhin ganz ansehnlichen Bedeutung, wie Sie es jetzt werden gefunden haben. Daß unter solchen Umständen auch ein Arzt und ein Apotheker nicht lange ausblieben, werden Sie begreiflich finden. Der letztere wurde von mir mit Freude begrüßt. Denn eine Hausapotheke kann doch nur mit dem Notwendigsten versehen sein; seltenere und kostspieligere Medikamente mußten immer durch einen Boten aus dem nächsten Städtchen beschafft werden, und so war ich froh, die ser Last und Sorge enthoben zu sein. Nicht so Trojan, der alle seine zumeist sehr einfachen Arzneien selbst bereitete und an Fordernde verkaufte. Denn es entging ihm nun ein gut Teil seiner hauptsächlichsten Einnahmsquelle, da man doch lieber in die stattliche Apotheke ging, als in sein enges, düsteres Laboratorium, woselbst es aussah, wie in einer Hexenküche. Da er aber sehr geringe Preise machte, so blieben ihm doch noch so viele Kunden, daß der andere Grund hatte, über Gewerbebeeinträchtigung zu klagen, und auch bei der Gemeinde ein Verbot auf unbefugten Arzneiverkauf erwirkte. Da sich aber Trojan nicht darum kümmerte, lag er in beständigem Hader mit dem Pharmazeuten, der endlich mit einer gerichtlichen Anzeige drohte. Was nun den Arzt betraf, so suchte sich dieser vorerst zu orientieren; er verhielt sich zuwartend, ja er trachtete sogar klugerweise, sich auf guten Fuß mit dem vorgefundenen Berufsgenossen zu setzen. Wäre nun dieser auf halbem Wege entgegengekommen, so hätte sich eine, schon durch die gewandelten Verhältnisse bedingte und beide befriedigende Arbeitsteilung herausbilden können. Trojan aber kehrte gegen den Doktor Srp seinen ganzen inneren Hochmut heraus. Nicht genug, daß er sich bei zufälligen Begegnungen mit abweisender Schroffheit benahm, er unterzog auch die ärztliche Tätigkeit des Eindringlings – wie er ihn nannte – einer schonungslosen Kritik, indem er behauptete, daß dieser Protomedikus soviel wie nichts verstehe, und daß man ihn bald mit Schimpf und Schande aus dem Ort jagen würde. Diese Äußerungen kamen natürlich dem Srp zu Ohren, und obgleich dieser – unter uns gesagt – in der Tat nicht viel mehr Kenntnisse besaß, als man eben bei oberflächlich und notdürftig zurückgelegtem Studiengange erwirbt, so hatte er doch sein Doktordiplom in der Tasche und mußte sich aufs tödlichste beleidigt fühlen. Überhaupt nicht sehr gutmütig von Natur, beschloß er, sich zu rächen, nur auf eine Gelegenheit wartend, die es ihm möglich machen würde, mit seinem, einstweilen noch verborgenen Hasse hervorzutreten. Diese Gelegenheit ergab sich auch in nicht allzulanger Frist. Ein Kind, das Trojan an einer Halsentzündung behandelte, war über Nacht gestorben. Srp, der auch das Amt eines Distriktsarztes versah, hatte die Totenbeschau vorzunehmen und fand, daß das Kind der Diphtheritis erlegen sei. Der Fall war also nicht erkannt, infolgedessen die Anzeige nicht erstattet und somit die Gefahr heraufbeschworen worden, daß der verderblichen Seuche, von welcher die Gemeinde bis jetzt so ziemlich verschont geblieben, Tür und Tor geöffnet werde. Und einmal im Zuge, setzte sich der Mann auch gleich hin und erstattete einen fulminanten Bericht an seine vorgesetzte Behörde, worin er besonders hervorhob, daß Trojan den ärztlichen Beruf ausübe, ohne die erforderlichen Studien gemacht zu haben. Nun hatte es sich um jene Zeit getroffen, daß ein neuer Bezirkshauptmann an die Spitze der Geschäfte getreten war, der es für seine Pflicht hielt, in jeder Hinsicht radikal zu Werke zu gehen. Er zeigte sich sehr entrüstet über den Vorfall und trat den Akt sofort an das Gericht ab. Trojan wurde also dorthin vorgefordert. Der unbefangene Richter jedoch, dem das langjährige Wirken des Beschuldigten bekannt war, fällte um so mehr ein freisprechendes Urteil, als der eigentliche Inkulpationspunkt nicht mehr vollständig nachzuweisen war. Zugleich aber schärfte er Trojan ein, daß er sich von nun ab der Ausübung ärztlicher Tätigkeit ein für allemal zu enthalten habe, wenn er nicht unfehlbar der vollen Strenge des Gesetzes, das heißt den auf Kurpfuscherei gesetzten Strafen verfallen wolle. Außer sich vor Aufregung kehrte Trojan hierher zurück, wo er sich ohne Verzug zu Doktor Wanka begab, diesen beschwörend, mit Aufbietung aller seiner Autorität für ihn den Rekurs zu ergreifen. Der alte Herr konnte natürlich auf diese sinn- und zwecklose Zumutung nicht eingehen; er sagte vielmehr: ›Lieber Freund, was Sie da getroffen, habe ich leider vorausgesehen. Ich wußte, daß es nicht anders kommen könne, sobald sich ein Arzt in der Gemeinde niederläßt. Ergeben Sie sich daher in Ihr Schicksal, das in keiner Weise zu ändern ist – und welches Sie, wie Sie sich werden eingestehen müssen, in Ihrer Jugend selbst heraufbeschworen. Seien Sie also vernünftig und ergreifen Sie einen anderen Beruf. Es wird Ihnen zwar schwer fallen, sich in den Wechsel zu finden, aber noch ist es nicht zu spät.‹ – ›Einen anderen Beruf!‹ hohnlachte Trojan. ›Und welchen, wenn ich fragen darf?‹ ›Nun,‹ erwiderte Wanka, ›ich bin nicht ohne Einfluß auf die Herrschaft, es wird mir gelingen, Ihnen bei den zahlreichen Betrieben irgend einen Kanzeleiposten zu verschaffen.‹ ›Einen Kanzeleiposten!?‹ schrie Trojan. ›O, ich danke! Zum Schreiber bin ich nicht geschaffen. Ich werde fortfahren, meinen Beruf als Berufener auszuüben – allen Gerichten zu Trotz – und wenn es sein muß, werde ich als Märtyrer dafür sterben!‹ Damit sprang er auf und stürzte fort, den wohlmeinenden Gönner, der wohl einsah, daß dem Ärmsten nicht zu helfen sei, in peinlichster Verlegenheit zurücklassend. Und er fuhr wirklich fort, Kranke zu behandeln, wenn diese auch immer seltener seine Hilfe in Anspruch nahmen. Denn der Vorfall hatte begreiflicherweise Aufsehen erregt. Es kam zu lebhaftem Meinungsaustausch – und schließlich senkte sich die Wagschale zu Gunsten Srps, der ja ein wirklicher Doktor war und überdies zur extremen tschechischen Partei hielt, welche im Gemeinwesen allmählich die Oberhand gewonnen hatte. Aus ihr ging jetzt auch ein neuer Bürgermeister hervor, ein sehr wohlhabender Mann, der es umso mehr unter seiner Würde hielt, für den Kurpfuscher einzustehen, als dieser eigentlich ein Deutscher war, wenn er auch seit jeher eine vollständig neutrale Haltung bewahrt hatte. So schwand denn Trojan mehr und mehr aus der Achtung und auch aus der Beachtung seiner Mitbürger, wodurch er in immer größere Notlage geriet, die für ihn um so drückender wurde, als er jetzt gewissermaßen auch für eine Familie zu sorgen hatte. Er war nämlich in heftiger Liebe zu einer armen Tagelöhnerin entbrannt, welche, von einem nichtswürdigen Manne verlassen, mit ihrem Söhnchen auf dem Hokic lebte. Sie war schwer erkrankt gewesen, und Trojan hatte sie behandelt. Die Arme genas, aber es blieb ein Schwächezustand zurück, der nur durch Schonung und kräftige Ernährung nach und nach zu beheben war. Trojan sorgte für sie und ihren Knaben, wie er nur konnte, und er würde sie gewiß auch geheiratet haben, wenn der Gatte, der sich irgendwo in der Fremde herumtrieb, nicht noch am Leben gewesen wäre. Aber er war zu ihr in intime Beziehungen getreten, und die wenigen, welche ihm noch nahe standen, konnten sich nicht genug verwundern über das Unmaß von Leidenschaft, die ihn beherrschte. Diesem Umstande mochte es zuzuschreiben sein, daß er sei nen Kranken gegenüber nicht mehr die frühere Sorgfalt an den Tag legte. Er zeigte sich auffallend zerstreut und vergaß oft, die notwendigsten Anordnungen zu treffen. Es war daher nur natürlich, daß man sich fast ausschließlich dem Doktor Srp zuwandte, der, nachdem er jetzt genügendes Beweismaterial in Händen hatte, sofort wieder eine gehässige Anzeige erstattete. Das Gericht mußte nun einschreiten, wenn es auch fürs erstemal nur eine Geldstrafe verhängte. Aus Eigenem hätte Trojan den Betrag nicht erschwingen können; aber ein Freund war ihm unerschütterlich treu geblieben: der Kaufmann Nezbada, den Sie vielleicht ebenfalls gekannt haben dürften. Dieser half ihm aus der Not, obgleich er im Laufe der Zeit selbst sehr heruntergekommen war. Das große Geschäft, das der Sohn des Bürgermeisters, welcher früher bei einem auswärtigen Handlungshause bedienstet gewesen, auf dem Platze eröffnet hatte, tat dem seinen großen Abbruch; gewagte Konkurrenzmittel, auf die er verfiel, hatten nur zur Folge, daß er Konkurs anmelden mußte und mit dem Rest seiner Habe auswanderte, um ein weiteres Fortkommen zu finden. Mit ihm verlor Trojan den letzten Halt, und als eine neue Anzeige wider ihn einlief, wurde er zu einer Gefängnishaft von vierzehn Tagen verurteilt. Der Aufenthalt in dem licht- und luftlosen Arrestlokal, wo er sich mit Dieben und Landstreichern zusammengepfercht fand, hatte die entsetzlichste Wirkung: er war halb tot, als er in Freiheit gesetzt wurde. In diesem jammervollen Zustande suchte ihn Doktor Wanka auf, versorgte ihn mit dem Nötigsten und beschwor ihn, dieser unmöglichen Lebensführung durch Annahme des kleinen Postens, den er ihm mittlerweile in dem Bureau des gräflichen Hüttenwerkes erwirkt habe, ein Ende zu machen. Noch einmal bäumte sich der Unselige dagegen auf, aber schließlich nahm er, im Innersten gebrochen, den Vorschlag an. Die Beamtenschaft des Hüttenwerkes erzählt noch heute von dem tragisch-komischen Eindruck, den das Erscheinen und die Amtstätigkeit des neuen Kollegen hervorgebracht. Wie viele Bogen Papier er verdorben, eh' er auch nur die kleinste schriftliche Arbeit fertig gestellt, und wie viele Fehler und Irrungen auch diese noch aufgewiesen habe. Endlich rührte er keine Feder mehr an, brütete verzweiflungsvoll vor sich hin, bis er eines Tages gar nicht mehr erschien. Auch aus dem Ort war er verschwunden. Da ihn niemand vermißte, geriet er bald in Vergessenheit. Später vernahm man, daß er mit seiner Geliebten, die nun wieder in Taglohn gehe, auf dem Hořic lebe, die Kranken des Dörfchens behandle und Arzeneimittel verkaufe. Auch ärztliche Streifzüge unternehme er, weit in die Umgegend hinein, nach einsam liegenden Gehöften und Hegerhäusern. Von dem allen mußte wohl auch Doktor Srp Kunde erhalten haben; aber es schien, daß er in seiner Rache gesättigt sei, denn er ließ ihn nunmehr vollkommen unbehelligt. So war beiläufig ein Vierteljahr vergangen, als ich mich eines Tages – im Oktober – einer dringenden Angelegenheit wegen nach Brünn begeben mußte. Mit dem Abendzuge zurückgekehrt, wollt' ich mir's gerade bequem machen, als draußen heftig die Klingel gezogen wurde und gleich darauf die Magd eintrat mit der Meldung, Trojan stehe vor der Tür und begehre dringend, mich zu sprechen. Und eh' ich noch Bescheid erteilen konnte, trat er schon selbst ins Zimmer. Bleich wie der Tod, vom Regen durchnäßt, bis an die Kniee mit Kot bespritzt, den unteren Teil der Beinkleider und das Schuhwerk halb in Fetzen. ›Mein Gott, wie sehen Sie aus!‹ rief ich. ›Woher kommen Sie? Was wollen Sie?‹ Er konnte kaum atmen vor Erschöpfung. ›Um des Himmelswillen,‹ keuchte er, ›begeben Sie sich mit mir auf den Hořic! Es ist dort jemand sehr gefährlich krank.‹ Eine Ahnung durchzuckte mich. ›Gefährlich krank? Ein Mann – oder eine Frau?‹ ›Eine Frau‹, stieß er hervor. ›Aber ich beschwöre Sie, kommen Sie ohne Verzug mit mir! Und nehmen Sie Ihre Instrumente mit, es dürfte eine Operation notwendig sein.‹ Ich schwieg einen Augenblick. ›Nun, es soll geschehen. Es trifft sich gut, daß meine Pferde heute vollkommen ausgeruht sind. Aber setzen Sie sich doch! Sie können sich ja kaum auf den Füßen halten.‹ Er nahm Platz, aber trotz seiner Hinfälligkeit trieb ihn die innere Unruhe, wieder aufzustehen. Ich hatte die Magd zu meinem Kutscher befohlen, und es dauerte nicht lange, so fuhr der Wagen vor. Wir stiegen ein. ›Wo ist denn Ihr Hut?‹ fragte ich. ›Den hab' ich unterwegs verloren‹, erwiderte er zähneklappernd. Er hatte nichts am Leibe, als ein dünnes Röckchen, und ich ließ ihm eine Pferdedecke reichen, auf daß er sich einhülle; denn wir saßen in nur halb gedecktem Wagen, und die Nacht war kalt und windig. Im Anfang ging es rasch vorwärts; aber die Windungen des Fahrgeleises, das die Höhe hinanführte, waren nur im Schritt zurückzulegen. Er bebte vor Ungeduld. Endlich waren wir droben. Das Geleise setzte sich notdürftig bis zum Dorfe fort, wo wir ausstiegen, und nun traten wir bald in eine baufällige Hütte, deren Tür uns von einem alten, kaum bekleideten Mann geöffnet wurde. Trojan faßte mich am Arm und zog mich durch die Dunkelheit, die im Eingang herrschte, nach einem kleinen, fensterlosen Gelaß, das von dem qualmenden Dochte eines offenen Lämpchens matt erhellt war. An der Wand, in einem elenden Bette, lag ein junges, blondhaariges Weib, wie es schien, bewußtlos, ein Tuch um den Hals gewunden. Am Fuße des Bettes kauerte der Knabe, er schlief so fest, daß er bei unserem Erscheinen nicht erwachte. ›Da sehen Sie –‹ flüsterte Trojan, indem er das Tuch vom Halse der Kranken löste, ›sehen Sie – –‹ Ich beugte mich hinab. Ein großes, brandiges Geschwür in der Nackengegend war mir sofort ins Auge gefallen. ›Mein Gott,‹ rief ich, näher hinsehend, ›das ist ja ein Anthrax! Was ist denn da noch zu machen! Es ist bereits Pyämie eingetreten – die Ärmste liegt ja schon in den letzten Zügen ....‹ ›Ach nein – nein‹, lallte er, und verzog das Gesicht zu einer lustigen Fratze, wie er merkwürdigerweise immer tat, wenn er schmerzlich bewegt war. Aber ich hatte recht gesehen. Mit einem leichten Seufzer hauchte das Weib, dessen außerordentliche Schönheit mir trotz der krankhaften Entstellung auffiel, den Geist aus. Der Kopf sank zur Brust hinab. Er mußte das gleich mir wahrgenommen haben. Aber er sagte: ›Also jetzt rasch – sonst ist es zu spät!‹ ›Es ist zu spät‹, erwiderte ich erstaunt. ›Sie ist ja tot.‹ Er starrte, die Augen verglast, mit einem blödsinnigen Lächeln vor sich hin. ›Ach nein, nein, Herr, sie ist nicht tot. Nicht wahr, Antscha – Anuschka, du bist nicht tot!?‹ Er faßte liebkosend ihre Hand, mußte sich aber, um nicht umzusinken, an das Kopfende des Bettes lehnen. Ich wußte nicht, was ich ihm sagen, was ich beginnen sollte, und ließ mich schweigend auf die Kante eines alten Stuhles nieder, auf dem ein schadhafter Wasserkrug stand. So verstrichen mehrere Minuten, und es wurde so still im Zimmer, daß man die Atemzüge des noch immer schlafenden Knaben vernahm. Endlich richtete sich Trojan auf; seine Züge waren ernst geworden. Er trat mir einen Schritt entgegen und fragte mit tonloser, aber ruhiger Stimme: ›Sie ist also wirklich tot?‹ ›Gewiß. Sie können sich ja doch selbst überzeugen –‹ Er kehrte zu dem Bette zurück, beugte sich nieder und legte die Hand auf die Brust des Weibes. ›Ja, sie ist tot‹, sagte er fast gleichgültig. Ich war von diesem Benehmen aufs höchste überrascht – und doch froh, ihn gefaßter zu finden, als ich gefürchtet hatte. ›Geschehenes läßt sich nicht ändern. Das ist alles, was ich Ihnen in diesem Augenblick zu sagen vermag. Aber ich möchte Ihnen raten, jetzt hier nicht allein zu bleiben. Sie haben gewiß irgend jemand ...‹ ›Nein, nein‹, erwiderte er, den Kopf schüttelnd. ›Wir haben niemanden. Aber seien Sie unbesorgt. Ich werde bei meiner Kranken wachen – das heißt, bei meiner Toten.‹ Ich sah, wie es ihm jetzt die Brust zusammenschnürte, und reichte ihm schweigend die Hand. Er ergriff sie mit seinen beiden und drückte sie. ›Ich danke Ihnen, verehrter Herr Doktor, daß Sie meinem Rufe gefolgt sind. Es war zu spät! Zu spät!! O wie recht hatten Sie – jetzt und immer! Setzen Sie von dem Todesfall den Herrn Distriktsarzt in Kenntnis.‹ Ich ging, seine weitere Begleitung abwehrend. Draußen an der Hüttentür stand der Alte. Ich suchte ihm einzuschärfen, daß er nicht schlafen gehe und von Zeit zu Zeit bei Trojan nachsehe. Ob er mich verstanden hatte, weiß ich nicht; aber er nickte mit dem Kopfe. Als ich eben in den Wagen stieg, hörte ich einen langgezogenen, markerschütternden Schrei aus der Hütte dringen. Dann wurde alles still. Ich lauschte. Es regte sich nichts, aber in einer Weile glaubte ich leises Jammern zu vernehmen. Sein Schmerz ist zum Ausbruch gekommen, sagte ich zu mir selbst; vielleicht löst er sich jetzt in Tränen. Und nun fuhr ich von dannen. Die Nacht war etwas heller geworden, von Zeit zu Zeit trat der halbe Mond fahl aus den Wolken und warf ein unheimliches Licht auf die Gegend. Dabei lag es mir wie ein Alp auf der Brust. Je länger ich über das Schicksal Trojans nachdachte, desto entsetzlicher schien es mir. Was würde er nun beginnen? Und wie wird sich Srp dazu verhalten, dem unter allen Umständen die Anzeige zu erstatten war? Ich mußte noch heute zu ihm; vielleicht konnte ich das Ärgste verhüten. Es ging bereits gegen elf, als ich im Ort anlangte. Aber ich sah noch Licht in Srps Wohnung, an der ich vorüber kommen mußte. Ich ließ also halten und begab mich hinauf. Er hatte jedenfalls spät zu Nacht gespeist, denn er saß bei einem Glase Bier und einer Zigarre noch am Eßtisch; seine Frau – er war seit kurzem verheiratet – hatte sich bereits zurückgezogen. Er zeigte sich sehr überrascht von meinem Besuch, bei jedem Wort jedoch, das ich vorbrachte, erkannte ich immer deutlicher, wie unbegründet meine Voraussetzung gewesen, daß er in seiner Rache befriedigt sei. Sein Gesicht verklärte sich förmlich vor Schadenfreude, und schließlich rief er triumphierend aus: ›Jetzt haben wir den Kerl! Er hat sich in seiner eigenen Schlinge gefangen – und nun muß er ins Kriminal!‹ Ich wollte Vorstellungen erheben, indem ich auf die eigentümliche Tragik des Falles hinwies. Srp aber unterbrach mich: ›Nein, mein verehrter Herr Kollege! Ein Anthrax, haben Sie gesagt? Den er vernachlässigt – oder eigentlich nicht erkannt hat? Das Weib ist somit von ihm rein hingemordet worden. Sie werden doch einem Mörder nicht das Wort reden wollen?‹ Ich wußte nichts Rechtes zu erwidern; in seinem Ausspruche lag eigentlich die Wahrheit. ›Ich muß Sie vielmehr bitten,‹ fuhr er fort, ›mir diesmal bei der Totenbeschau zu assistieren, auf daß von berufener chirurgischer Seite der volle Umfang der Verschuldung an den Tag gestellt werde.‹ Dagegen hätte ich allerdings Einsprache tun können, aber ich stimmte zu, weil ich vielleicht doch noch im letzten Augenblick zugunsten Trojans einwirken konnte. So fuhr ich denn am nächsten Morgen mit Srp auf den Hořic. Als wir zur Hütte kamen, fanden wir eine Anzahl von Leuten davor versammelt. Auf der Schwelle saß der Knabe und weinte; neben ihm stand der Alte, der uns stumpfsinnig nach der Kammer wies. Beim Eintritt hatten wir einen schrecklichen Anblick. Neben dem Bette, auf dem blutüberströmten Boden, lag Trojan mit ausgebreiteten Armen. Er hatte sich mit einer rostigen Sichel, die jedenfalls früher seiner Geliebten zum Gebrauch diente und bei näherer Betrachtung einige tiefe Scharten aufwies, das Haupt fast gänzlich vom Rumpfe getrennt ..... Selbst Srp war erschüttert. ›Es ist furchtbar‹, sagte er mit leichtem Schauder. ›Gehen wir. Man muß die Obrigkeit verständigen.‹« * * * Hulesch schwieg und überließ mich einem gleichfalls stummen Nachsinnen. »Eigentlich ist es mir doch ganz unbegreiflich,« begann ich jetzt, »daß Trojan die Gefahr, in der seine Geliebte schwebte, nicht früher erkannt haben sollte – daß er so lange gezögert –« »Gewiß. Aber es war nun einmal seine Theorie. Und dann: er hatte ja längst den Kopf verloren. Quem dii perdere volunt, dementant. « »Jedenfalls war hier die Strafe größer als die Schuld. Aber wer weiß, ob es nicht immer so ist! – Und was geschah mit dem Knaben? Hat sich jemand seiner angenommen?« »Man hat sich seiner angenommen«, erwiderte Hulesch, indem er aufstand. »Wenn Sie noch eine kleine Weile verziehen wollen, so können Sie ihn sehen. Aber ich glaube, da ist er schon.« Man hörte einen Wagen langsam heranrollen und vor dem Hause halten. Hulesch führte mich ans Fenster. »Nun blicken Sie gefälligst hinab und betrachten Sie sich meinen Kutscher.« Es war in der Tat Honziček, nunmehr etwa fünfzehnjährig. Ich hätte ihn freilich nicht wiedererkannt; aber einmal aufmerksam gemacht, fand ich die Züge des Knaben in dem allerdings derberen Gesicht des jugendlichen Rosselenkers wieder. Er saß ganz stramm und vergnügt auf dem Bock, sichtlich stolz auf die silberbordierte Mütze, die ihm vortrefflich stand. »Der ist versorgt,« sagte der Doktor. »Er kann auch noch Karriere machen – und seinerzeit die Herrschaft fahren.« Conte Gasparo 1. I. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er ins Regiment kam: eine stramme Gestalt über Mittelgröße, knochig, sehnig, mit breiten Schultern und einem wahren Stiernacken, aus welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß. Das Gesicht kräftig gefärbt, hervorragende Backenknochen, stark entwickelter Unterkiefer und eine zwar nicht niedrige, aber schmale und zurückweichende Stirn. Ein mächtiger, fuchsroter Schnurrbart verlieh diesem Gesicht ein höchst martialisches Ansehen, bei näherer Betrachtung jedoch erkannte man, daß die Züge, die sich beim Sprechen stets zu einem freundlichen Grinsen zusammenzogen, sehr sanftmütig waren und daß die kleinen vergißmeinnichtblauen Augen ungemein wohlwollend, ja zärtlich blickten. Auch die Stimme des neu angekommenen Hauptmanns hatte durchaus nichts Kriegerisches, Rauhes. Sie klang vielmehr in einem weichen, modulationsfähigen Tenor, der sich besonders im Italienischen sehr angenehm anhörte. Und das Italienische war ja die Muttersprache des Conte Gasparo Nardini, der als letzter Sproß eines verarmten Adelsgeschlechtes im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts zu Bologna das Licht der Welt erblickt hatte. Über seinem bisherigen Leben lag ein gewisses Halbdunkel, das selbst der hartnäckigste Vorwitz nicht vollständig aufzuhellen vermochte. Jedenfalls hatte er bereits gegen Ende der dreißiger Jahre als Offizier in einem Kavallerieregimente gedient, aber – wahrscheinlich infolge einer unangenehmen Affäre – seine Charge quittiert. Hierauf war er in päpstliche Dienste getreten. In welcher Eigenschaft, stand dahin. Soviel aber war gewiß, daß er sich während der italienischen Wirren im Jahre achtundvierzig als Kommandant einer Gendarmerieabteilung um eine sehr hohe österreichische Persönlichkeit in außerordentlicher Weise verdient gemacht. Die Tatsache selbst war nicht recht bekannt; man sprach von Entdeckung und Vereitelung eines mörderischen Anschlages. Wie dem auch gewesen sein mochte: durch Vermittelung jener Persönlichkeit wurde Nardini als Oberleutnant wieder in die Armee übernommen und im Laufe der fünfziger Jahre als Hauptmann in das venezianische Regiment versetzt, bei welchem ich diente. Der Empfang, den er fand, war in Ansehung des erwähnten Protektors äußerlich weit zuvorkommender, als es sonst, ähnlichen »Einschüben« gegenüber, der Fall zu sein pflegte; im übrigen wartete man ab, wie sich der Ankömmling in seinem Wesen entpuppen würde. Und da zeigte sich denn sofort, daß er nicht etwa, auf jene Beziehungen pochend, hochfahrend und selbstbewußt auftrat, sondern im Gegenteil eine fast übertriebene Bescheidenheit an den Tag legte. Allerdings verstand er vom Infanteriedienst soviel wie gar nichts und mußte in seinen Wirkungskreis erst eingeführt werden, wobei er überdies keine sehr hervorragende Intelligenz verriet. Da er sich aber als liebenswürdiger Vorgesetzter und guter, ehrlicher Kamerad erwies, so erfreute er sich bald allgemeiner Beliebtheit. Außer seiner Gage bezog er von dem hohen Gönner eine intime Zulage, welche dem vermögenslosen Grafen sehr zustatten kam. Dennoch trieb er keinerlei Aufwand; er hatte, wie die meisten Italiener, nur sehr geringe Bedürfnisse, ja er rauchte nicht einmal. Dabei war er keineswegs ein Knauser; bei ihm fand jeder offene Hand, und manchem von uns hatte er wiederholt aus arger Not geholfen. Aber er befand sich oft genug selbst in Geldverlegenheit, was mit einer persönlichen Schwäche im Zusammenhang stehen mochte, welche ihn nach und nach in Verruf zu bringen drohte. Er wurde nämlich von einem ungewöhnlich starken Hange zum anderen Geschlecht beherrscht, dem er gewissermaßen im allgemeinen, das heißt fast ohne jede Auswahl, sehr augenfällig huldigte. In der kleinen mährischen Stadt, wo wir uns befanden, wurde dies natürlich sehr bald bekannt und man fing an, über den ältlichen Hauptmann zu spötteln, der auf der Straße jeder Schürze nachschmachtete. Zuweilen gab sein Benehmen in dieser Hinsicht auch Ärgernis, und es mußte dahin kommen, daß man ihm eine zwar wohlwollende, aber immerhin ernste Verwarnung zuteil werden ließ. Diese schien auch Wirkung zu tun; Conte Gasparo – so wurde er von uns genannt – schlich eine Zeitlang sehr niedergeschlagen und kleinlaut umher, ohne seine Blicke nach den mehr oder minder verführerischen Schönen zu werfen, welche an ihm vorüberkamen, so daß sich manche von ihnen über diesen plötzlichen Wandel sichtlich verwundert zeigte. Da aber ereignete sich etwas, das die übelsten Folgen nach sich zu ziehen schien. In dem Hause, in welchem Nardini wohnte, war eine Rasierstube eröffnet worden. Der Eigentümer, ein verlebt aussehender junger Mensch hatte aus der benachbarten größeren Stadt, wo er sich früher aufgehalten, ein weibliches Wesen mitgebracht, das als seine Frau galt. Diese Person saß zu gewissen Tagesstunden an der Kassa, was dem Geschäft einen höheren Anstrich verleihen – und wohl auch Kunden heranziehen sollte. Denn sie konnte eigentlich für hübsch gelten, hatte ein fein geschnittenes, sehr blasses Gesicht, auffallend reiches nußbraunes Haar und große dunkle Augen. Aber man erkannte bald, wie verblüht sie bereits war und daß sie eine bewegte Vergangenheit hinter sich haben mochte, daher man sie auch nicht weiter beachtete und ihr höchstens beim Kommen und Gehen einige Artigkeiten sagte. Auf Nardini jedoch schien sie Eindruck gemacht zu haben. Er war weit öfter, als es Bart- und Haarwuchs erforderte, in dem Laden anzutreffen und benahm sich, wenn er sich vor beobachtendem Blick sicher glaubte, als feuriger Anbeter. Schließlich kam es auch dahin, daß ihm eine Zusammenkunft in seiner Wohnung bewilligt wurde. Nardini hatte seinen Diener weggeschickt und den Eingang abgesperrt. Plötzlich erhob sich draußen heftiges Gepolter. Es war der Gatte, der an die Tür pochte und Einlaß begehrte. Da nicht aufgetan wurde, steigerten sich seine eifersüchtigen Wutausbrüche derart, daß das ganze Haus zusammenlief. Nun aber, da schon die Tür gesprengt zu werden drohte, öffnete sich diese, und der Hauptmann erschien auf der Schwelle, die blanke Waffe in der Hand. Der betrogene Ehemann wollte trotzdem eindringen, wobei er einen Säbelhieb über den Arm und einen anderen in das Gesicht erhielt, der sich allerdings später als belanglose Schramme herausstellte, in diesem Augenblick aber die versammelte Nachbarschaft Blut erblicken ließ. Nun brachen allgemeine Verwünschungen und Drohungen los, und wer weiß, was noch geschehen sein würde, wenn nicht jetzt die Treulose, dicht an ihrem Ritter vorüber, mit aufgelösten Haaren hervor und an die Brust des Verwundeten gestürzt wäre, der sich auffallend rasch beschwichtigen und von ihr fortziehen ließ. Nicht so leicht gab sich die Entrüstung der übrigen zufrieden; es wurden noch immer gegen den sittenlosen Gewalttäter, der sich inzwischen wieder eingeschlossen hatte, Schmähworte laut, bis man endlich mit dumpfem Murren das Feld räumte. Die Kunde von diesem Vorfalle verbreitete sich natürlich sehr rasch nach allen Seiten hin, und es erübrigte nichts, als eine militärgerichtliche Untersuchung einzuleiten. Dabei aber stellte sich durch die Zeugenschaft eines verräterischen Lehrjungen unzweifelhaft heraus, daß das saubere Pärchen alles von vornherein abgekartet habe, um an dem verliebten Grafen Erpressungen verüben zu können. Um weitere kompromittierende Verhandlungen niederzuschlagen, zahlte dieser nun freiwillig als Schmerzensgeld für den körperlich Verletzten eine nicht unbeträchtliche Summe, welche die aufgeregten Gemüter vollständig beruhigte – und somit nahm das Abenteuer für Nardini noch einen leidlichen Ausgang. Trotzdem konnte seines Bleibens am Orte nicht länger sein; er wurde zum vierten Bataillon versetzt, das sich damals in Treviso befand. 2. II. Seitdem hatte ich von Nardini nichts Wesentliches mehr erfahren. Einmal noch war ich während des Feldzuges 1859 flüchtig in Verona mit ihm zusammengetroffen; bald nachher verließ ich den Militärdienst, und mehr und mehr ging die Erinnerung daran in den neuen Verhältnissen unter, in die ich mich begeben. Erst im Jahre 71, als ich mich nach mancherlei Kreuz- und Querzügen wieder in Wien befand, sollte ich durch folgenden Brief eindringlicher an jene Zeit gemahnt werden. »Lieber Freund! Durch einen Zufall habe ich in Erfahrung gebracht, daß Du hier bist, und lade Dich ein, nächsten Donnerstag abends acht Uhr zur ›Blauen Flasche‹ in Lerchenfeld zu kommen. Du wirst dort viele finden, die zu unserer Zeit im Regiment gedient haben – das heißt so ziemlich alle, welche gegenwärtig vom Schicksal in Wien wieder zusammengewürfelt wurden. Deinem Erscheinen mit Bestimmtheit entgegensehend, grüßt Dich herzlich Dein alter Kamerad Hauptmann Lenhardt.« Selbstverständlich folgte ich dieser Aufforderung mit Freude und begab mich am bestimmten Abend in das bezeichnete Lokal, welches damals noch die volle »Gemütlichkeit« eines allbekannten, vielbesuchten Vororte-Gasthauses bewahrt hatte. In dem weitläufigen Sommergarten fand ich an einer langen, durch mehrere aneinander gerückte Tische hergestellten Tafel schon einen Teil der Versammlung vor. Da gab es denn gleich ein herzliches Umarmen, ein hastiges Fragen und Antworten – und dieser frohe Empfang wurde allen zuteil, die sich jetzt in rascher Nacheinanderfolge einfanden. Man fühlte sich eigentümlich ergriffen beim Anblick der vielen altvertrauten Gesichter, denen freilich die Zeit schon mehr oder minder arg mitgespielt hatte. Aber das Wesentliche darin war doch unverändert geblieben, oder hatte sich vielmehr bei den meisten erst jetzt zu voller Deutlichkeit entwickelt. Es war eine ganz stattliche Gesellschaft von verschiedenartigen Gestalten in militärischer und bürgerlicher Kleidung. Viele waren bereits in Pension getreten; andere hatten gleich mir den bunten Rock für immer an den Nagel gehängt. Karriere hatten die wenigsten gemacht, ja einige bekundetet durch ihr Aussehen, daß sie ein kümmerliches Dasein führten. Aber es waren doch zwei Stabsoffiziere – und sogar ein General darunter. Dieser bezeigte sich etwas zurückhaltend, und es kostete ihm sichtlich große Selbstüberwindung, allseits das vertrauliche »Du« anzuwenden. Doch auch er taute allmählich auf und wurde zuletzt ganz redselig, als Teller und Biergläser fortgeschafft waren und duftender Gumpoldskirchner die geschliffenen Kelchgläser durchgoldete, in welche ab und zu eine Blütenflocke von den alten Kastanienbäumen fiel, unter denen wir saßen. Somit war alles bereits im besten Zuge, als Lenhardt, der als »Einberufer« gewissermaßen den Vorsitz führte und schon mehrmlas mißmutig um sich geblickt hatte, die Stirn runzelte und mit seiner wuchtigen Baßstimme ausrief: »Der Teufel hole diesen Conte Gasparo! Jetzt ist es bald zehn – und er ist noch immer nicht da.« »Nardini, meinst du?« fragte ich über den Tisch hinüber »Ist er denn in Wien?« »Freilich. Schon seit zehn Jahren lebt er hier in Pension.« »Und wie geht es ihm?« »O ganz gut. Das heißt, er könnte zufrieden sein. Denn er hat inzwischen eine unerwartete Erbschaft gemacht – von einem entfernten Anverwandten in Bologna, wenn auch keine sehr große. Aber die Weiber lassen ihn auf keinen grünen Zweig kommen.« »Die Weiber?« rief man jetzt von allen Seiten. »Noch immer? Er muß doch schon ein Sechziger sein?« »Gewiß. Aber das hindert ihn nicht, sich nach wie vor ›wurzen‹ zu lassen. Und jetzt will er gar noch heiraten. Eine Französin, die er, weiß Gott wo, aufgegabelt. Es soll eine Marquise sein – oder so was. Aber ich glaub's nicht. Schon seit einigen Monaten zieht sich die Geschichte, und nun hat er nicht einmal die Kraft, sich von dieser Circe für ein paar Stunden loszumachen, um seine alten Kameraden wiederzusehen. Doch halt! Mir scheint, da kommt er endlich!« In der Tat bewegte sich ein stattlicher alter Herr durch die lange Flucht des nun auch schon von zahlreichen anderen Gästen besuchten Gartens auf uns zu. Es war Nardini, sehr vornehm gekleidet, auf dem Kopf einen funkelnden Zylinder, den er, schon vom weiten grüßend, abnahm. »Verzeiht,« sagte er unter dem allgemeinen Tschaurufen und Händeschütteln in seinem hastigen, stark gebrochenen Deutsch, dessen er sich seit jeher mit hartnäckiger Vorliebe bedient hatte, obgleich er wußte, daß wir anderen alle mehr oder minder geläufig italienisch sprachen, »verzeiht, daß ich so spät erscheine – aber ich konnte nicht früher abkommen – –« »Natürlich, deine Marquise«, brummte Lenhardt. »Du hast sie gewiß vorher noch samt dem Herrn Bruder ins Theater führen müssen – oder sonstwohin. Aber wir wollen Gnade für Recht ergehen lassen. Setz' dich!« Nardini errötete und suchte mit verlegenem Lächeln an der dicht besetzten Tafel unterzukommen. Dabei entstand ein unwillkürliches Zusammenrücken, und es traf sich, daß er seinen Platz neben mir erhielt. Wir hatten früher sehr gut mit einander gestanden, denn ich war eine Zeitlang sein Kompagnieoffizier gewesen. Er bezeigte sich daher ausnehmend freundlich gegen mich, und auch ich fühlte mich aufrichtig erfreut, ihn wiederzusehen. Er war einer von den wenigen, deren Äußeres sich im Laufe der Jahre vorteilhaft verändert hatte. Vor allem stand ihm die Zivilkleidung besonders gut, denn sie ließ das Aristokratische seiner Erscheinung, welche vormals durch die Uniform verallgemeinert wurde, in voller Eigentümlichkeit hervortreten. Das stark gelichtete rötliche Haar und der fuchsige Schnurrbart waren jetzt reich mit Silberfäden durchzogen, was von den frischen Farben des eigentlich unschönen, aber markanten Gesichtes sehr angenehm abstach. Wie er so dasaß mit den breiten Schultern, dem mächtigen Brustkasten, in noch immer stramm militärischer Haltung, mahnte er an einen alten Condottiere der Renaissance. Sein Erscheinen hatte der Unterhaltung neuen Schwung verliehen. Ernste und heitere Tischreden wurden gehalten, Witzworte flogen hin und her, man zog längst vergangene Erlebnisse wieder hervor – und schließlich war die halbe Nacht vorüber, ohne daß man sich dessen bewußt geworden. Die übrigen Gäste hatten nach und nach den Garten verlassen – wir aber saßen noch immer, so daß die Kellner schon ein recht bedenkliches Gesicht machten, als wieder neue Flaschen bestellt wurden. Endlich entschloß man sich zum Aufbruch, und nachdem der ganze Schwarm auf dem Wege nach der Stadt noch in ein Kaffeehaus eingefallen war, zerstreute man sich mit lauten Abschiedsrufen nach allen Richtungen hin. Nun zeigte es sich, daß Nardini gleich mir auf der Wieden wohnte; wir traten also den Heimweg gemeinsam an, und schließlich bestand der Conte darauf, mich bis zu meinem Hause zu begleiten. Als wir uns am Tor die Hände schüttelten, sagte er mit der einschmeichelnden italienischen Höflichkeit, die ihn stets ausgezeichnet: »Du wirst mir wohl erlauben, daß ich dich einmal besuche.« Obgleich ich den Verkehr mit beschäftigungslosen Menschen fürchtete, weil sie es lieben, die vielen müßigen Stunden des Tages bei ihren Bekannten abzusitzen, erwiderte ich diesmal doch ganz aufrichtig, daß ich seinem Besuch mit Vergnügen entgegensähe. Sehr überrascht aber war ich, als mir schon am nächsten Vormittage sein Erscheinen angemeldet wurde. »Sei mir nicht böse,« sagte er eintretend und einigermaßen betroffen beim Anblick meines ziemlich kahlen Zimmers, »sei nur nicht böse, wenn ich dich vielleicht störe –« »Du störst mich nicht – und wenn auch, so doch nur angenehm.« Damit ließ ich ihn auf meinem kleinen harten Sofa Platz nehmen und setzte mich an seine Seite. »Du wirst dich wundern,« fuhr er nach einer Pause fort, indem er verlegen umher blickte und an seinem Schnurrbart zupfte, »du wirst dich wundern, daß ich so rasch gekommen bin. Aber wir sind alte Kameraden – daher ohne Umschweife – ich habe ein Anliegen an dich.« Ich sah ihn fragend an. »Ich befinde mich nämlich in momentaner – höchst dringender Geldverlegenheit –« Ich machte unwillkürlich eine nicht ganz unzweideutige Bewegung. »Mißversteh' mich nicht, lieber Freund«, setzte er, die Hand auf meinen Arm legend, rasch hinzu. »Ich weiß ja – ich kann mir ja denken – – Allein es wäre ja vielleicht doch nicht unmöglich, daß du Beziehungen hättest – daß dir jemand bekannt wäre, der sich herbeiließe, mir so rasch wie nur möglich – längstens bis heute abends – dreihundert Gulden vorzustrecken. Gegen Zinsen natürlich. Koste es was es wolle, ich muß das Geld haben.« Ich schwieg einen Augenblick, betroffen über diese Zumutung, die ich keineswegs vorausgesehen. Aber Nardini hatte sehr gut erraten, daß ich in Kenntnis gewisser Geldquellen sei; war ich damals doch selbst darauf angewiesen, hin und wieder Darlehen aufzunehmen. Daß er sich jedoch dermalen gezwungen sah, meine Vermittlung in Anspruch zu nehmen, befremdete mich. Doch wie dem auch sein mochte, ich konnte und wollte ihn, der einst seinem Leutnant oft genug Vorschüsse bewilligt hatte, nicht im Stiche lassen, und erwiderte daher: »Nun, ich kenne allerdings einige Leute, die dir vielleicht zu Diensten sein möchten. Da ist zum Beispiel der Juwelenhändler Höbinger – oder auch ein Herr Pettirsch –« »Nein! Nein!« unterbrach er mich hastig und bis unter die schütteren Stirnhaare errötend. »Das sind stadtbekannte Wucherer – mit ihnen will ich nichts zu tun haben –« Diese Äußerung ließ mich vermuten, daß er diese beiden sehr wohl kannte – ihnen möglicherweise schon verpflichtet war. – Aber ich wollte ihm nun einmal behilflich sein und fuhr nach einiger Überlegung fort: »Da wäre auch noch ein gewisser Treulich, ein höchst rechtschaffener Jude, der das ehrsame Handwerk eines Posamentierers betreibt. Er sträubt sich zwar gegen alle Geldgeschäfte, aber seine Frau macht sie für ihn. Es sind eigentlich ganz arme Leute, die den mühsam zurückgelegten Sparpfennig vermehren wolle. Wenn sich – was freilich nicht ganz sicher ist – gerade Geld im Hause befindet und ich Bürgschaft übernehme –« »Das kannst du mit gutem Gewissen«, rief er, freudig meine Hand fassend. »Ich bin ja nicht ohne Vermögen – das heißt – – und außerdem habe ich noch über ein kleines Kapital in Bologna zu verfügen, das ich lange nicht kündigen wollte, um dem Privatmanne, bei welchem es steht, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Aber ich habe mich nun doch dazu entschließen müssen. Und bis die Sache erledigt ist – du begreifst – –« »Immerhin!« erwiderte ich, wieder ganz in den goldenen Leichtsinn meiner Offizierszeit zurückfallend. »Für die genannte Summe werden wir unter allen Umständen noch aufkommen.« Wir begaben uns ohne Verzug in die entlegene Vorstadt, wo das Ehepaar Treulich wohnte, und nach langwierigen Verhandlungen mit der ziemlich zähen schöneren Hälfte konnte Nardini endlich ein Päckchen abgegriffener Banknoten in seiner Brieftasche bergen. Auf der Treppe umarmte er mich. »Mein teurer Freund, du hast mir da einen außerordentlichen Dienst erwiesen. Aber ich habe noch eine Bitte: speise heute abend um sechs Uhr mit mir im ›Goldenen Lamm‹.« Und da er an mir eine ablehnende Gebärde wahrnehmen mochte, fuhr er errötend fort: »Du wirst doch nicht etwa glauben, daß ich dich – – du erweisest mir vielmehr eine zweite sehr große Gefälligkeit, wenn du meine Einladung annimmst. Vielleicht hast du schon davon gehört – oder auch nicht, gleichviel: ich werde mich demnächst verheiraten. Mit einer hochadeligen Dame aus Frankreich, die sich gegenwärtig mit ihrem Bruder in Wien aufhält und in jenem Hotel wohnt. Sie stammt aus einer Bonapartistischen Familie, die sich jetzt nach dem Sturze des Kaiserreiches stark kompromittiert und gezwungen sieht, einige Zeit im Ausland zu verweilen. Ihre übrigen Angehörigen befinden sich in London – aber schon morgen soll eine Persönlichkeit aus Paris hier eintreffen, welche inzwischen einige schwierige Angelegenheiten – vor allem die Vermögensverhältnisse ins reine zu bringen bestrebt war, und unter ihren Auspizien soll dann fürs erste die Verlobung stattfinden. Nun sind mir – du weißt, wie das bei nicht gewöhnlichen Umständen zu gehen pflegt – hinsichtlich der Dame einige unliebsame Bemerkungen zu Ohren gekommen. Natürlich leg' ich gar kein Gewicht darauf, aber es wäre mir doch höchst erwünscht, den Eindruck wahrzunehmen, den meine Braut auf dich macht.« Ich konnte jetzt nicht umhin, mein Erscheinen zuzusagen, und damit schieden wir voneinander. * * * Das »Goldene Lamm«, das sich noch heute in der Wiedener Hauptstraße befindet, gehörte damals zu den besten Gasthöfen zweiten Ranges und zeichnete sich durch stille, bescheidene Vornehmheit aus, so daß angesehene, aber nicht allzu bemittelte Fremde gerne dort abstiegen. Der Speisesaal, in den ich gegen sechs Uhr trat, war den Wiener Eßstunden gemäß ganz leer; aber in einer Ecke stand bereits ein Tisch für vier Personen aufs sorgfältigste gedeckt. Und schon trat auch Nardini aus einer Seitentür, in glatt sitzendem schwarzen Leibrock, eine Rose im Knopfloch und stark nach Moschus duftend. Er hieß mich mit strahlendem Antlitz willkommen und sagte, daß seine Braut ihre Toilette noch nicht beendet habe, aber sehr bald erscheinen würde. Sie ließ auch wirklich nicht allzulange auf sich warten. Als sie jetzt eintrat, in einem lichten, die ganze Gestalt eng umschmiegenden Foulardkleide, eine Wolke durchdringend scharfen Parfüms um sich her verbreitend, erschrak ich. Das war die Pariser Kokotte, wie sie im Buche steht: gefärbt und gemalt vom goldgelben Scheitel bis zum Gürtel – und von jener nicht zu bezeichnenden Magerkeit, welche schon damals anfing, Mode zu werden. Auch der ziemlich beleibte Herr, der ihr unmittelbar folgte, sah trotz seiner eleganten Geschniegeltheit nicht sehr vertrauenswürdig aus. Er wies ein bleiches, aufgeschwemmtes Gesicht, müde und trotzdem lauernde Augen; Wuchs und Füße waren plump und gemein. »Le Marquis et la Marquise D'Orioville«, sagte Nardini vorstellend. »Mein alter Freund und Kamerad –.« » Je suis enchantée, Monsieur «, sagte die Marquise, ihre zinnoberroten Lippen öffnend, und streckte mir die eine unbehandschuhte, skelettartige Hand entgegen, die kreidig weiß war und an welcher, sowie an den durchsichtig dünnen, leicht verkrüppelten Ohren ein paar nicht allzu wertvolle Brillanten funkelten. Der Marquis begnügte sich mit einer Verbeugung. Man ging nun zu Tisch, wo zwei Kellner in stummer Erhabenheit ein kleines, ausgesuchtes Diner servierten. Nardini machte den liebenswürdigen Wirt in einem ungeheuerlichen Französisch. Ich selbst hatte es in dieser Sprache über das »Verstehen« niemals recht hinausgebracht; die beiden Fremden radebrechten einige deutsche Worte; auch zeigte der Marquis eine gewisse Kenntnis des Italienischen. So entwickelte sich denn ein höchst eigentümliches, stellenweise sehr mühevolles Tischgespräch in drei Idiomen, aus welchem hauptsächlich hervorging, daß ein Comte Garnichaut – » mon oncle «, wie die Mar-guise sagte – morgen mit dem Frühzuge hier eintreffen werde, daher man für ihn bereits Appartements bestellt habe. Nardini, vom Champagner, mit welchem man sehr bald begonnen hatte, erhitzt, gestattete sich einige kleine Zärtlichkeiten, welche seine Braut, die gemalten Brauen emporziehend, mit würdevoll koketter Prüderie abzuwehren suchte. Im übrigen taute auch sie nach und nach auf und bekundete jenes gewisse reizende Etwas, das nun einmal jeder Französin angeboren zu sein scheint. Sie begann ganz allerliebst über Verschiedenes zu plaudern, wobei hin und wieder freche Zügellosigkeit in ihren kalten, grünlichen Fischaugen aufblitzte. Hingegen zeigte sich der Marquis immer schweigsamer, obgleich er dem Sekt, der für ihn offenbar zum vin triste wurde, fleißig zusprach, und nur mühsam raffte er sich endlich zu einem halb pantomimischen brüderlichen Toast auf. Inzwischen waren einige andere Gäste in den Saal getreten und hatten an entfernteren Tischen Platz genommen. Als jetzt der Kaffee gebracht wurde, nippte die Marquise rasch ihr Täßchen aus und sagte, man möge entschuldigen, daß sie sich jetzt zurückziehe, denn sie habe zum Empfange des Onkels noch allerlei anzuordnen, besonders aber einige wichtige Papiere durchzusehen und bereit zu legen; die Herren möchten sich im Genusse ihrer Zigarren nicht stören lassen. Nardini bestand trotzdem darauf, ihr den Arm zu bieten und sie nach ihrem Zimmer zu geleiten. Ich blieb also mit dem Marquis allein, der tiefsinnig an einer schweren Havanna kaute und sich endlich notgedrungen in ein schon bei Beginn stockendes Gespräch sur les agréments de Vienne einließ. Zum Glück kam Nardini bald zurück, worauf sich der andere mit der Bemerkung verabschiedete, er müsse nunmehr seiner Schwester behülflich sein. Somit war jetzt der Augenblick da, den ich fürchtete: ich befand mich mit Conte Gasparo allein. Dieser rückte mir sofort ganz nahe und flüsterte mir, wahrscheinlich der benachbarten Gäste wegen, auf Italienisch zu: »Nun, was sagst du? Ist sie nicht ein süperbes Weib?« »Das ist Geschmackssache«, erwiderte ich nach einer Pause. »Ich verstehe. Sie gefällt dir eigentlich nicht – du findest sie zu mager. Aber sieh, gerade das zieht mich besonders an. Doch hier«, fuhr er mit einem Seitenblick auf die Umgebung fort, »läßt sich ja darüber nicht weiter sprechen. Gehen wir.« Wir verließen also das Hotel und traten in den schwülen Dunst des Juniabends hinaus. Die Straße war sehr belebt. Nardini faßte mich unter dem Arm und lenkte in die nächste stille Seitengasse ein. »Und im übrigen« – fuhr er hastig drängend, jetzt wieder in seinem gebrochenen Deutsch, zu fragen fort, »im übrigen – wie ist deine Meinung?« »Offen gestanden, keine sehr gute.« Sein stark erhitztes Gesicht verfärbte sich. »Wirklich? Wirklich? Nun, ich gebe zu – der Bruder – auch mir ist er nicht gerade sympathisch. Aber sie , lieber Freund, sie ist doch in allem und jedem die große Dame – –« »Das ist nun wieder Ansichtssache und läßt sich nicht so ohne weiteres entscheiden. Wo hast du denn die beiden kennen gelernt?« »In der Oper. Sie saßen neben mir im Parkett. Ein Gespräch entspann sich. Dabei erfuhr ich, daß sie eben angekommen waren und in der ihnen ganz fremden Stadt einige Zeit zu verweilen gedächten. Ich stellte mich als Cicerone zur Verfügung, was dankbar entgegen genommen wurde. Nach und nach weihte man mich in alle Verhältnisse ein – und dann – dann kam gewissermaßen alles von selbst –« »Du hast also der – Dame einen Heiratsantrag gemacht?« »Natürlich – das heißt – ihre Zuneigung hing davon ab. Du begreifst, daß sie in ihrer Stellung nicht anders – –« »Nun wohl – und doch finde ich es sonderbar, daß sie dich so ohne weiteres zum Manne nehmen will –« »Wie meinst du das?« sagte er verletzt. »Vielleicht, weil ich in den Jahren schon vorgerückt bin? Auch sie ist nicht mehr jung – gewiß schon über die Dreißig. Und dann« – er warf sich in die Brust – »sie macht keine Mesalliance.« »Gewiß nicht. Weit eher könnte das Umgekehrte der Fall sein.« Ich fühlte, wie er zusammenzuckte. »Du glaubst?« stammelte er. »Sie sollte nicht das sein, wofür sie sich – – Sollte alles, was sie mir mitteilte, erfunden haben? Nein! Nein! Wozu auch? Es wäre ihr ja unter allen Umständen gelungen, mich zu fesseln – wenn ich auch nicht leugnen will, daß so manches mitgewirkt – – du bist zu mißtrauisch, lieber Freund! Bedenke doch, daß morgen ihr Onkel, der Graf Garnichaut, erwartet wird –« »Richtig, der Onkel. Den hätte ich bald vergessen. Sein Eintreffen wird jedenfalls Licht in die Sache bringen.« »Gewiß, gewiß«, erwiderte er aufatmend. »Morgen wird alles in Ordnung sein.« »Ich wünsche es. Aber ich möchte dir trotzdem raten, auch diesem Grafen gegenüber vorsichtig zu sein.« »Sei ohne Sorge!« rief er aufgebracht, indem er mir seinen Arm entzog. »Ich bin kein Kind mehr – und im übrigen ist ja alles nur meine Sache! Aber verzeih'«, fuhr er begütigend fort. »Ich weiß, daß du es sehr gut meinst – ich habe dich um deine Ansicht befragt und mußte auf alles gefaßt sein. Doch nun muß ich dich verlassen. Ich habe versprochen, noch für einen Augenblick ins Hotel zu kommen. Es dürfte schon spät sein.« Er sah nach der Uhr. »Leb' wohl! Ich werde dich sehr bald aufsuchen und dich von allem weiteren in Kenntnis setzen.« Damit entfernte er sich eiligst. Mißmutig schritt ich meiner Wohnung zu. Ich hatte ihm, das empfand ich, eine böse Stunde, vielleicht auch eine üble Nacht bereitet. Möglicherweise ganz ohne Grund. Wenn man französischen Schriftstellern trauen dürfte, gab es ja unter dem Adel des zweiten Kaiserreiches auch eine Halbwelt – und dieser Halbwelt konnten die D'Orioville am Ende doch angehören. Und was lag daran, wenn Nardini mit dem Marquis eine Schwägerschaft einging.? Es war wirklich nur seine Sache. Diese Erwägungen ließen mir die ganze Angelegenheit immer gleichgültiger erscheinen – und schließlich begab ich mich mit voller Seelenruhe zu Bett. * * * Am anderen Tage, gegen zwei Uhr, hatte ich mich eben angekleidet, um zu Tisch zu gehen, als an die Tür meines Vorzimmers dumpf und hastig gepocht wurde. Ich öffnete – und Nardini, im schwarzen Leibrock, das Bändchen des päpstlichen Ordens, den er besaß, im Knopfloch, taumelte mir entgegen. Er ließ sich, ohne auch nur den Hut abzunehmen, auf das Sofa fallen und schrie mit erhobenen Armen: »Ich bin verloren, lieber Freund! Ich bin verloren!« »Wieso? Was ist vorgefallen?« fragte ich, vor ihn hintretend. »Ach, wie recht hast du gehabt! Es waren elende Schwindler! Hochstapler! O maledetti! « Er ballte die Fäuste gegen die Stubendecke. Und als ich ihn um nähere Erklärungen anging, fuhr er, in der Verzweiflung sich seines reinsten, wie die Sprache Manzonis klingenden Italienisch bedienend, fort: »Man hatte mich gestern gebeten, heute mittags zu erscheinen, um dem Grafen vorgestellt zu werden. Als ich in das Tor trat, sah ich ein Häuflein Menschen um die Portierloge versammelt; dabei gab es ein Hin- und Herlaufen auf den Treppen und Gängen – das ganze Hotel war in Aufruhr. Und nun erfuhr ich, daß die beiden des Morgens in einem Fiaker zur Westbahn gefahren, um den Onkel dort zu empfangen – und nicht wieder zurückgekehrt seien. In ihren Zimmern war alles unberührt, auch eine Anzahl von Koffern, die verschlossen standen. Als man sie anfaßte, bewies ihr geringes Gewicht, daß sie kaum etwas enthalten konnten. Die Gruppe vor der Portierloge aber bestand aus allerlei Geschäftsleuten, die gleichfalls um zwölf Uhr bestellt waren, um ihre rückständigen Rechnungen ausbezahlt zu erhalten. Es ist kein Zweifel: sie sind durchgebrannt – und ich Tor habe noch dazu verholfen, indem ich der Schändlichen die dreihundert Gulden einhändigte, die ich deiner freundschaftlichen Vermittlung verdankte!« »Nun,« erwiderte ich, »diesen Verlust kannst du ja noch verschmerzen. Sei froh, daß du so leichten Kaufes davongekommen!« »Leichten Kaufes?!« schrie er mit verzerrtem Gesicht. »Ich habe im Laufe von vier Monaten mein ganzes Vermögen ausgegeben! Mein ganzes Vermögen! Es war allerdings nicht groß – aber doch an die zwölftausend Lire!« »Aber wie konntest du nur – – –« »Ja, wie konnte ich nur! Und das geringfügige Kapital, das ich in Bologna gekündigt, wird gerade hinreichen, die Schulden zu tilgen, welche ich außerdem gemacht! Und für die seit Wochen rückständige Hotelrechnung muß ich auch noch aufkommen! Ich bin also jetzt ein Bettler – nahezu ein Bettler! Wie viel eine Hauptmannspension beträgt, weißt du ja – und der Gnadengehalt ist mir vermindert worden, weil ich schon einmal um einen größeren Vorschuß bittlich werden mußte! O sorte fatale !!« Das Vollbewußtsein seiner Lage überwältigte ihn; er brach in Tränen aus. Er dauerte mich. Und doch – so widerspruchsvoll sind die menschlichen Empfindungen – konnte ich nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. »Ja, du hast da ein teures Lehrgeld gezahlt«, sagte ich endlich. »Wie oft schon!« rief er, mit der Faust vor die Stirn schlagend. »Wie oft schon! O, die Frauen! Die Frauen! Aber das ist mein letztes. Ich kann es ja nicht überleben. Stelle dir nur vor, was jetzt geschehen wird! Die Polizei ist bereits in Kenntnis gesetzt. Man wird das Paar verfolgen, verhaften, nach Wien zurückbringen. Wer weiß, was inzwischen noch alles zutage kommt. Eine öffentliche Gerichtsverhandlung findet statt. Mein Name wird mit hineingezogen, ich werde sogar gezwungen sein, persönlich zu erscheinen. Man wird mit Fingern auf mich weisen. Das kann mir meine Charge kosten. Es bleibt mir nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen!« »Im Gegenteil. Es gilt jetzt, den Kopf oben zu behalten und zu retten, was zu retten ist. Fürs erste mußt du dich an einen Advokaten wenden.« Er glotzte mich, in seinen mutlosen Zustand versunken, mit halb offenem Munde an. »An einen Advokaten – –?« »Ja, damit er die Angelegenheit, soweit sie dich betrifft, in die Hand nehme. Deine Person muß, wenn möglich, ganz aus dem Spiele bleiben.« »Ich kenne keinen Advokaten«, lallte er tonlos. »Aber ich. Er ist sogar einer meiner näheren Freunde und wird dir mit Vergnügen zu Diensten stehen.« Er starrte noch immer verloren vor sich hin. »Komm! Komm!« drängte ich, »ihn vom Sofa emporziehend. Es ist keine Zeit zu verlieren.« Er ließ sich willenlos fortschleppen. * * * Das Äußerste, das Nardini gefürchtet hatte, traf nicht ein. Das flüchtige Paar, das sich damals vom Westbahnhofe sofort an einen anderen begeben hatte, wurde in Budapest ausgeforscht, verhaftet und nach Wien vor den Untersuchungsrichter gebracht. Dabei stellte sich heraus, daß die Dame die Mätresse eines Herrn D'Orioville gewesen, der an der Riviera, wohin er sie mit sich genommen, verstorben war. Bald darauf lernte sie, mit noch einigen Geldmitteln versehen, ihren gegenwärtigen Begleiter kennen – einen zugrunde gegangenen Lyoner Kaufmann, der eben im Begriffe stand, sein Letztes dem Teufel des Roulette in den Rachen zu werfen. Am grünen Tische zu Monaco hatten sie sich gefunden, und da sie sich dort nicht lange halten konnten, zogen sie abenteuernd bis nach Wien, wo sie sich, als Geschwister auftretend, sofort des leicht entzündlichen alten Conte bemächtigten. Die Beträge, um welche sie nebenher auch andere geprellt, waren nicht sehr bedeutend, und da Nardini, sowie der Hotelbesitzer, keine Forderung geltend machte, so kam der Fall gar nicht vor die Geschworenen. Die Inkulpaten erhielten eine mäßige Gefängnisstrafe und wurden dann über die Grenze geschoben. So verlief in dieser Hinsicht, mit Ausnahme einiger Reporternotizen, die auf einen Grafen N ... anspielten, für Nardini alles aufs günstigste, und es war merkwürdig zu sehen, wie rasch sich seine sanguinische Natur von dem erlittenen Schlag erholte. War es doch auch dem Advokaten gelungen, mit den verschiedenen Gläubigern einen sehr günstigen Ausgleich zu treffen, infolgedessen er von dem gekündigten Kapital, das inzwischen eintraf, noch immer ein Sümmchen erübrigte. Conte Gasparo hob also wieder den Kopf, und da sich jetzt begreiflicherweise unser Verkehr fortsetzte, sah ich auch, wie seine erotischen Neigungen neuerdings hervorzubrechen drohten. Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zuerst gelinde und scherzhaft darauf aufmerksam zu machen, bis ich ihm zuletzt, auf die jüngsten Ereignisse hinweisend, mit dürren Worten erklärte, daß es endlich an der Zeit sei, derlei Torheiten nicht mehr aufkommen zu lassen. Mochte ihn nun diese Äußerung verletzt haben, oder gab es andere Abhaltungen – genug: er zeigte sich seitdem immer seltener bei mir, und da ich auch nach ihm kein sonderliches Verlangen trug, so kam er mir schließlich gar nicht mehr zu Gesicht. Eines Tages hatte ich in der inneren Stadt allerlei zu besorgen. Darüber war es vier Uhr geworden, und ich dachte daran, ein verspätetes Mahl einzunehmen. Nach einiger Überlegung begab ich mich zum »Grünen Anker«, woselbst gute italienische Küche zu finden war, nach der ich, aus früherer Gewohnheit, ab und zu Verlangen trage. In das um diese Stunde wenig besuchte Lokal tretend, wollte ich ein kleineres Nebenzimmer aufsuchen, prallte jedoch am Eingang zurück. Denn drinnen saß Nardini mit einer Dame, und zwar ziemlich dicht an ihrer Seite. Es war ein rundliches, bürgerlich aussehendes Frauchen mit blonden Haaren und sanften blauen Augen, die erschrocken nach mir blickten. Auch Nardini, der eben im Begriffe war, mit einer zärtlichen Gebärde Asti spumante in ihr Glas zu gießen, hatte mich bemerkt. Ich ließ mich nunmehr draußen an einem Tische nieder, von welchem aus ich keinen Einblick in das Zimmer haben konnte. Aber es dauerte nicht lange, so kam Nardini herein und rasch auf mich zugeschritten. »Welch ein Zufall,« sagte er, seine Verlegenheit hinter einem freudigen Grinsen zu verbergen trachtend, »welch ein Zufall, daß wir uns hier finden! Die Dame da drinnen –« er setzte sich leicht auf einen Stuhl mir gegenüber – »die Dame da drinnen ist meine Hausfrau. Du mußt nämlich wissen, daß ich mich, des gänzlichen Alleinseins müde, in Pension gegeben habe. Einen Diener kann ich nicht halten – und so faßte ich den Entschluß – da sich eben die Gelegenheit darbot – mich in eine Familie aufnehmen zu lassen, wo ich in jeder Hinsicht aufs beste betreut und versorgt bin. Du darfst daher nichts Übles denken – –« Ich zuckte die Achseln. »Nein, nein, gewiß nicht. Es wird auch gleich der Gatte hier erscheinen, der nur noch eine geschäftliche Angelegenheit in Ordnung zu bringen hat. Er ist Chemiker. Ein ganz aus-gezeichneter Mann –« »Ich zweifle nicht daran. Und wenn du dort wirklich so gut aufgehoben bist –« »Das bin ich! Wie gesagt, in jeder Hinsicht. Denn sie ist eine Hausfrau, wie wenige. Und dabei so herzensgut, so sanftmütig –« »Sie sieht in der Tat so aus. Aber du solltest sie nicht allein lassen –« »Ja, ja, du hast recht,« sagte er aufspringend. »Wir sehen uns ohnehin sehr bald wieder. Ich wollte dich schon längst aufsuchen. Du wohnst doch noch –?« »Immer am selben Ort.« »Also leb' wohl!« Er verschwand. Es dauerte wirklich nicht lange, daß ein bebrillter Herr mit einem langen Knebelbart erschien. Er schritt auch sofort ins Nebenzimmer, wo er mit lauten Zurufen bewillkommt wurde. Ich aber trachtete, mein Mahl zu beenden, und verließ den »Grünen Anker« mit der Überzeugung, daß sich da Conte Gasparo wieder auf höchst gefährliche Wege begeben habe. 3. III. Nardini war natürlich nicht mehr bei mir erschienen, ich selbst aber hatte nicht lange nach jener Begegnung Wien verlassen, wohin ich erst nach Ablauf zweier Jahre wieder zurückkehrte. Bald nach meiner Ankunft stieß ich eines Morgens in der Schottengasse auf Lenhardt, der in einem Bureau des Kriegsministeriums in Verwendung stand. Er war inzwischen Major und noch umfangreicher geworden, als er schon früher gewesen. Ich schloß mich ihm ein Stück Weges an und erkundigte mich während des Gespräches unter anderem auch nach Nardini. »Ach, der!« brummte Lenhardt mit verächtlicher Miene. »Den hab' ich aufgegeben. Er ist in letzter Zeit ganz und gar verkommen.« Und da ich nähere Erklärungen verlangte, fuhr er widerwillig fort. »Die Geschichte mit der Französin kennst du ja. Schon ein paar Monate nachher lernte er ein mit drei Kindern gesegnetes Ehepaar kennen, das in seiner Nähe wohnte. Er vernarrte sich natürlich sofort in die Frau, die so unschuldig und lammfromm in die Welt blickt, als könne sie nicht bis fünf zählen, dabei aber so durchtrieben und abgefeimt ist wie ihr Herr Gemahl – seines Zeichens ein Chemiker, der sich durch allerlei unhaltbare Erfindungen und schwindelhafte Projekte zu grunde gerichtet. Diese Leute, die schon längst von der Hand in den Mund lebten, befanden sich in arger Geldnot und betrachteten daher unseren Gasparo, der noch über eine kleine Barschaft verfügte, Pension und Gnadengabe bezog, als willkommene Beute. Er wurde von ihnen in Wohnung und Verpflegung genommen, was sich anfangs auch ganz gut anließ, so daß der gute Conte im siebenten Himmel schwebte. Bald aber zeigte sich, wie er daran war. Nachdem man ihm unter allerlei Vorwänden zuerst sein Geld, dann seinen Pensionsbogen, den man sofort verpfändete, herausgelockt hatte, behandelte man ihn aufs rücksichtsloseste und gab ihm schließlich kaum mehr zu essen. Dabei wurde er von den Kindern geplagt und gehänselt – und mußte obendrein mit ansehen, wie die Frau mit einem Apothekergehilfen, den man gleichfalls in Kost genommen, ein Liebesverhältnis anfing. Das brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Eines Tages kam er zu mir, mit eingesunkenen Wangen, abgemagert bis auf die Knochen, entdeckte mir seine Lage und schloß damit, daß ihm jetzt nichts übrig bleibe, als sich zu erschießen. Er jammerte mich, und ich beschloß, ihn zu retten, denn ich hielt ihn doch nur für einen gutmütigen Schwachkopf, den die Welt mißbrauchte. Ich begab mich daher fürs erste zu dem Kammervorsteher seines hohen Protektors. Aber ich fand, daß man dort auf ihn, seines ganzen Verhaltens wegen, um so übler zu sprechen war, als er im Laufe der Jahre wiederholt ansehnliche Vorschüsse empfangen hatte. Nach vielen Vorstellungen und Bitten ließ man sich zu einem Letzten herbei: man wollte gegen schriftlichen Revers eine runde Abfindungssumme bewilligen; auch stellte man die Aufnahme Nardinis in das Invalidenhaus in Aussicht, wo er seine alten Tage in sorgenloser Ruhe beschließen könne. Nachdem mit vertraulicher Zuhülfenahme der Polizei seine Beziehungen zu dem würdigen Ehepaare, das sein Opfer nicht so leichten Kaufes freigeben wollte, gelöst waren, konnte er auch wirklich seinen Einzug in das, wie es schien, ihm höchst willkommene Asyl halten. Aber was tut der Mensch? Kaum ein paar Monate dort, nimmt er ein junges Mädchen zu sich, das er irgendwo von der Straße aufgelesen. Eine ganz gemeine Person, die in einer Pappschachtelfabrik gearbeitet hatte. Häßlich, pockennarbig, dabei ein Krüppel, denn sie hinkt am linken Bein. Der Teufel weiß, welche Eigenschaften sie sonst haben mochte, um dem alten Satyr den Kopf zu verrücken – genug: er ließ sie nicht mehr von sich. Nun kann man dort einem Kranken oder Bresthaften die Aufnahme einer Dienerin zur Pflege und zur Wartung allerdings nicht verwehren; aber Nardini war kerngesund, und somit lag die eigentliche Triebfeder klar zutage. Das erregte nun im Hause, wo sich viele verheiratete Offiziere mit ihren Familien befinden, das größte Ärgernis, und er erhielt die strengste Weisung, das Ding sofort zu entlassen. Da er aber nicht wollte oder nicht konnte, so kam er einer voraussichtlichen Ausweisung zuvor, indem er eines Tages ohne weiteres das Feld räumte und mit dem Weibsbild irgendwo draußen in Rudolfsheim eine kleine Wohnung bezog, wo er nun, auf seine geringe Pension beschränkt, ein erbärmliches Leben führt. So sagte man mir wenigstens; denn daß ich nicht selbst nachsehe, begreifst du wohl.« Wir waren inzwischen beim Kriegsgebäude angelangt, in welches nun Lenhardt, sich verabschiedend, einbog, während ich meinen Weg fortsetzte, nicht sonderlich von den Mitteilungen überrascht, die ich ja zum Teil schon damals vorausgesehen. * * * In den nächsten Tagen wollte ich einen Bekannten aufsuchen, der in der Gumpendorfer Straße wohnte. Er war nicht zu Hause, ich erhielt jedoch den Bescheid, in einer Stunde wiederzukommen. Ich schlenderte also nach der Mariahilfer Hauptstraße und dort bis zur Linie hinauf. Zurückkehrend, bog ich in den Esterhazy-Garten ein, den ich schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte. Es war tief im September und der Tag unfreundlich und kühl, so daß die alte, vernachlässigte Anlage sich ganz unbesucht zeigte. Nur ein bejahrter, ärmlich gekleideter Mann saß auf einer der vielen leeren Bänke unter den herbstlich stark entblätterten Bäumen. Ich mußte nahe an ihm vorüber – und nun hatte ich Nardini erkannt, dessen Haare und Bart ganz weiß geworden waren. Vornüber gebeugt, in Gedanken versunken, beachtete er mich nicht; ich aber fühlte mich wehmütig ergriffen, als ich ihn so vor mir sah, in einem dünnen Überzieher, das niederhangende Haupt mit einem abgegriffenen Hute bedeckt. Ich schritt auf ihn zu. »Nardini!« sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. Er sah mit einem irren Blick auf und betrachtete mich. »Ach du«, erwiderte er endlich, indem er ohne jegliches Zeichen innerer Bewegung mechanisch meine Hand ergriff. »Was machst du? Wie geht es dir?« forschte ich teilnehmend. Er sah mich mit einem unsäglich traurigem Ausdruck an. »Sono infelice« sagte er tonlos. »Weshalb? Was ist dir widerfahren?« »M'abbandonato.« »Wer? Wer hat dich verlassen?« fuhr ich fort, mich an seine Seite setzend. »Ach ja, du weißt ja von nichts,« sagte er, sich besinnend. »Ich hatte eine Dienerin. Fast zwei Jahre war sie bei mir – und nun wollte sie nicht länger bleiben.« »Aus welchem Grund?« »Es ist ihr plötzlich eingefallen. Sie wollte in die Fabrik zurück, in der sie seit ihrem zwölften Jahre gearbeitet hatte. Überhaupt in ihr früheres Leben. Was soll ich nun anfangen!« »Du wirst doch wohl noch eine Dienerin finden –« »Eine andere? Ich will keine andere! Nur sie! Die Leute fanden sie häßlich, weil ihr Gesicht von den Blattern entstellt ist. Die dummen Leute! Cosa é la faccia? Niente! Era si formosa, wenn sie auch ein wenig hinkte! Und dann ihre Haare! Ihre Zähne! Ihre Hände und Füße – so klein!« Er bezeichnete das Maß an seinen Fingern. »Sie war also eigentlich – deine Geliebte?« Er warf mir einen erbitterten Blick zu. »Ja, das war sie! Ist es dir etwa nicht recht? Willst du mir Vorwürfe machen? Weil sie von niedriger Herkunft ist? Wer bin denn ich jetzt? Ein armer Teufel, der auf seine Hauptmannspension angewiesen ist! Kann ich damit standesgemäß leben? Oder meinst du vielleicht, weil ich alt bin? Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich nicht alt! Non posso vivere senza femina! « »Du wirst es doch zuletzt müssen.« »Müssen!« schrie er. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Er faßte die eiserne Seitenlehne der Bank und rüttelte daran, daß sie fast aus den Fugen ging. »Ich muß sie wieder haben!« Er blickte wild um sich und fing jetzt an, mit seinen harten, knochigen Fäusten die Brust zu schlagen. Ich fiel ihm in den Arm und sagte eindringlich: »Aber wenn sie nun einmal nicht will!« »Ach ja, sie will nicht!« jammerte er, plötzlich wie gebrochen. »Sie will nicht! Und sie hatte es so gut bei mir! Ich trug sie auf Händen – ich vergötterte sie! Ma, é si crudele! Als sie mir ihren schrecklichen Entschluß ankündigte, da fiel ich ihr zu Füßen und beschwor sie, mich nicht zu verlassen. Aber sie lachte nur dazu. Und dann sagte ich ihr, daß ich sie heiraten wolle, wenn sie nur bliebe. Das wäre ja gegangen, wenn ich meine Charge niedergelegt hätte. Doch sie lachte nur noch lauter und meinte, was sie davon hätte!« »Du siehst, daß alles umsonst ist.« Er hörte nicht, was ich sagte, und fuhr, vor sich hinstierend, fort: »Nachdem sie weg war, habe ich sie auf der Straße abgepaßt, als sie früh morgens zur Fabrik ging. Da empfing sie mich mit Schimpfworten und wollte nach mir schlagen!« Er brach in Tränen aus. Ich empfand mich von diesem Anblick aufs unangenehmste berührt. Dennoch sagte ich noch immer teilnehmend: »Und du denkst noch an sie? Das ist eine unwürdige Schwäche, deren du um jeden Preis Herr werden mußt. Du wirst doch nicht dieser Person wegen den Verstand verlieren wollen?!« »Ja, ja, ich verlier' ihn!« rief er, die Augen rollend. »Ich fühle, daß ich wahnsinnig werde!« Er griff nach der Stirn. Seit sie fort ist, esse, trinke und schlafe ich nicht mehr. Ruhlos irr' ich umher bei Tag und Nacht, bis ich vor Mattigkeit irgendwo hinsinke. »Ich gehe zugrunde!« Er begann wieder mit geballten Fäusten gegen seine Brust zu wüten. Ich hatte genug und stand auf. Es gingen eben einige Menschen durch den Garten, die aufmerksam wurden und betroffen und neugierig nach uns hinblickten. Es mochte aussehen, als wären wir in einem heftigen Streit begriffen. »Nun, dann ist dir auch nicht zu helfen,« sagte ich mit unwillkürlicher Härte. »Aber ich will hoffen, daß du doch noch zur Besinnung kommst. Ich muß jetzt gehen.« Ich reichte ihm die Hand hin, die er nicht ergriff; dann entfernte ich mich rasch, ohne mehr umzublicken. Aber ich war noch nicht weit gegangen, als mich Unzufriedenheit mit mir selbst überkam. Wie? Ich konnte mich so ohne weiteres von dem alten Manne abwenden, konnte ihn mit kalter Verachtung seinem Schicksal überlassen, das er ja doch nicht selbst verschuldet hatte? Jener unglückselige Hang zu den Frauen, der sich durch sein ganzes Leben zog, der ihn seit jeher kaum genießen, aber stets leiden ließ – der nur ihm allein Verderben brachte: mußte er nicht aufs tiefste in seinem Organismus begründet und daher mit unabwendbarer Notwendigkeit zutage getreten sein? Und wenn er diesen Hang nicht zu meistern verstand, so lag das an dem Mangel ethischer Kraft, die doch immer nur eine geistige ist und die er sich selbst nicht geben konnte, da sie ihm von der Natur versagt geblieben. Die Welt, schnell fertig mit dem Wort, mochte ihn immerhin einen alten, schwachköpfigen Satyr nennen: ich aber, der ich mich immer im stillen berühmte, tiefer als andere in das Wesen eines Menschen zu blicken, ich durfte so nicht urteilen. Damals, als es sich um eine Summe Geldes handelte, war ich mit Freuden bereit, ihm zu helfen – und jetzt, da er in seiner greisenhaften Erotomanie dem Irrenhause und dem Selbstmorde nahe stand: jetzt wollte ich ihm einsichtsvolle Teilnahme, freundschaftlichen Beistand versagen, wodurch allein er vielleicht noch zu retten war? .... Und schon kehrte ich um und eilte wieder dem Esterhazy-Garten zu. Aber Nardini war nicht mehr zu sehen. Wohin mochte er sich gewendet haben? Gleichviel! Noch war die äußerste Gefahr nicht im Verzuge – und ich würde ihn zu finden wissen. Mein erster Gedanke war nunmehr, mich zu Lenhardt zu begeben. Nach einiger Überlegung aber gewann ich die Überzeugung, daß er, erbost, wie er auf Nardini war, in seiner schroffen Art jeden Beistand verweigern würde. Ich beschloß also, mich beim Platzkommando nach der Wohnung des Conte zu erkundigen. Morgen, in aller Frühe, da ich ihn jedenfalls noch zu Hause treffen mußte, wollte ich ihn aufsuchen. Nach einer unruhigen Nacht schritt ich schon um sieben Uhr dem bezeichneten Hause in Rudolfsheim entgegen. Ich wollte vorerst beim Hausbesorger Nachfrage halten, fand aber dort die Tür verschlossen. Die Frau jedoch, eine unhold aussehende Alte, traf ich auf der Treppe, eben im Begriff, diese zu reinigen. Ich ersuchte sie, mir zu sagen, in welchem Stockwerk der Hauptmann Nardini wohne. »Im dritten, Tür 21«, entgegnete sie barsch, ohne aufzublicken und sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen, wobei sie mit dem Kehrbesen meinen Füßen sehr nahe kam. »Aber Sie gehen umsonst hinauf. Er ist seit gestern früh nicht mehr nach Hause gekommen.« »Aber er wird doch –« »Na, wer weiß. Seit das Frauenzimmer von ihm fort ist, ist er ganz verrückt.« »Und macht das niemandem Sorge?« »Wem denn? Übrigens ist er schon ein paarmal die Nacht weggeblieben, und erst am nächsten Vormittag wiedergekommen.« »Das wird er wohl auch heute. Ich bitte Sie, ihm dann meine Karte zu übergeben und ihm zu sagen, daß ich um zwei Uhr wieder nachsehen werde. Er möge mich bestimmt erwarten, denn ich habe ihm eine sehr wichtige Mitteilung zu machen.« Sie schob, mit dem Kopfe nickend, die Karte samt dem unterstützenden Geldbetrag in die Tasche ihres schmutzigen Kleides und fuhr fort, während ich nun ging, Staub aufzuwirbeln. Als ich wieder kam, weckte ich sie aus einem gelinden Nachmittagsschlaf, in welchen sie samt ihrem grauhaarigen, bläulich benasten Gatten versunken war. Beide sahen mich stumpfsinnig an. »Nun?« fragte ich. »Ist er gekommen?« »Kommen ist er, aber gleich wieder fortgangen.« »Haben Sie ihm meine Karte gegeben?« »Freilich. Aber er hat sie nicht ang'schaut.« »Glauben Sie, daß er vielleicht im Laufe des Nachmittags oder Abends –« »Das wissen wir nicht«, brummte das Ehepaar einstimmig. Ich war nun ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser Not beschloß ich endlich, mich jetzt doch an Lenhardt zu wenden, den ich auch, obgleich die Stunde schon vorgerückt war, in seinem Bureau antraf; er war gerade im Begriff, es zu verlassen, hatte schon den Säbel umgeschnallt und die Mütze auf dem Kopf. Was ich befürchtet hatte, traf ein. Auf meine dringende und beredte Vorstellung, daß nunmehr für unseren Conte das Äußerste zu befürchten sei, erwiderte er barsch: »Ach was, der alte Narr soll sich erschießen! Es ist das beste, das man ihm wünschen kann!« Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Schon am nächsten Morgen fand man Nardini entseelt in dem Wallgraben nächst der Gumpendorfer Linie. Ein Armeerevolver aus früherer Zeit mit starkem Kaliber lag neben ihm. Sündenfall Im Palais T ... fand eine große Abendgesellschaft statt. Fast eine Stunde schon hatte ich mich in dem bunten Menschengewirr, das sich in den strahlenden Räumen immer dichter ansammelte, hin und her geschoben, ohne auf jemanden zu stoßen, der mich zu einem längeren Gespräch angeregt und gefesselt hätte. Die Schuld mochte allerdings an mir selbst liegen. Schon tagsüber nicht ganz wohl, fühlte ich mich jetzt vorzeitig ermüdet und abgespannt. Da ich aber nicht geradezu verschwinden wollte, so beschloß ich, einstweilen ein entfernteres Nebenzimmer aufzusuchen, das eigentlich nur die Intimen des Hauses kannten und wohin sich bis jetzt gewiß noch niemand verirrt hatte. Es war ein mäßig großes Gemach mit einem weit ausspringenden Erker. An den Wänden zogen sich schön geschnitzte Regale hin, die eine gewählte Handbibliothek enthielten; auf einem runden Tisch fand man Journale und Revuen aller Art; auch an tiefen Lesestühlen und bequemen Etablissements für Raucher fehlte es nicht. In diesem traulichen Raum wurde nach kleinen Diners gewöhnlich der Kaffee gereicht; sonst aber war es eine Art Refugium, wo man sich jederzeit eine Zigarette anzünden, ein Buch zur Hand nehmen – oder auch ungestört ein Schläfchen machen konnte. Wie vorausgesetzt, fand ich das Zimmer, das von einer großen, grünbeschirmten Hängelampe sanft erhellt wurde, noch unbesucht und schritt sofort auf meinen gewohnten Fauteuil zu, dessen Lehne gegen das Licht gekehrt war. Plötzlich aber tauchte hinter dieser Lehne ein kahler Scheitel auf, und das scharfgeschnittene Antlitz eines Mannes wendete sich mir entgegen, der zu den geistvollsten Persönlichkeiten Wiens gehörte. Schon in jungen Jahren als Publizist aufgetreten, hatte er sich später der Regierung zur Verfügung gestellt und es mit der Zeit bei der Preßleitung zum wirklichen Hofrat gebracht. Aber diese Errungenschaft (sowie eine Reihe von Orden, die er als geschmackvoller Mann niemals trug) konnte ihn selbst nicht ganz mit dem Zwiespältigen seiner Stellung aussöhnen. Über den Vorwurf der Gesinnungslosigkeit, den so mancher gegen ihn erhob, setzte er sich zwar mit souveränem Hochmut hinweg; aber die mehr oder minder verschleierte Mißachtung, mit der unabhängig gebliebene Kollegen diesem anderen Gentz begegneten, wurmte ihn im stillen um so tiefer, als er sich den meisten von ihnen geistig weit überlegen fühlte. Im übrigen war er ein vollendeter Weltmann und erfahrener Lebenskünstler, der noch im späteren Alter als Freund schöner Frauen galt. In der Gesellschaft riß man sich förmlich um ihn. Er konnte ja auch, wenn er wollte, höchst liebenswürdig sein, und in kleinem Kreise bezauberte er jedermann durch seine blendenden Einfälle, seinen funkelnden Witz. Freilich saß er auch oft gerade dann, wenn man ein lebhaftes Sprühfeuer seines Geistes erwartete, verdrossen und in sich versunken da oder erging sich in trocken sarkastischen Bemerkungen über die Anwesenden. Er war eben Launen und Stimmungen unterworfen – wie alle Menschen, die mit sich selbst nicht ganz ins reine gelangen können. »Ah, Sie sind da«, sagte er, mir die Hand reichend. »Haben sich also auch hierher geflüchtet? Und nun finden Sie Ihren Sorgenstuhl besetzt. Aber warten Sie« – – Er machte Miene, sich zu erheben. »Bleiben Sie doch, Herr Hofrat«, erwiderte ich und zog einen leichten Rohrschaukelstuhl heran. »Wenn Sie erlauben, rück' ich in Ihre Nähe.« »Um zu zweien einsam zu sein? Ganz vortrefflich. Zwischen den besternten und unbesternten Fräcken, den bekannten entblößten Schultern und mehr oder minder vorquellenden Busen ist es ja wirklich nicht auszuhalten. Und doch geht man immer wieder in Gesellschaft.« »Mein Gott, man muß eben –« »Man muß eben nicht. Man brauchte nur abzusagen. Aber dazu gehört ein Mut, den der zivilisierte Mensch nicht aufbringt – obgleich er sich von Saison zu Saison vornimmt, keine Einladungen anzunehmen und zu Hause zu bleiben. So geht es denn mit Grazie fort, bis endlich der Sensenmann sein Veto einlegt.« Ich bemerkte jetzt, daß er ein aufgeschlagenes Buch neben sich hatte. »Sie haben gelesen?« fragte ich. »Ja; ich habe auf gut Glück zugelangt und einen prächtigen Griff getan. Etwas, das ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt: Turgenjews Frühlingsfluten.« »Allerdings nichts Neues.« »Aber desto Besseres. Oder gehören Sie vielleicht auch zu denen, die diesen großen Schriftsteller – wie mir unlängst ein russischer Botschaftsrat sehr nachdrücklich versicherte – bereits überwunden und durch den Grafen Tolstoi in zweite Linie gerückt erachten?« »Keineswegs. Und gerade der Roman ist ein Meisterwerk.« »Gewiß. Aber wer liest ihn noch heute? Daran läßt sich so recht der Wechsel des Zeitgeschmackes und die Vergänglichkeit des literarischen Ruhmes erkennen. Vor ungefähr zwanzig Jahren konnte man keine Zeitung zur Hand nehmen, keinen Salon betreten, ohne sofort an Turgenjew, dessen Lob in allen Tonarten gesungen wurde, gemahnt zu werden. Man schlug mit ihm die andern tot, wie heutzutage mit Zola und Ibsen. Freilich fehlte es auch schon damals nicht an Kritikern, die ihm am Zeuge flickten. Er war ihnen zu ›weich‹ – und sie fanden es tadelnswert, daß er beständig nur die ›Schwäche‹ schilderte. Dabei warfen sie sich in die Brust, um anzudeuten, wie ›stark‹ sie selbst wären. Es geht doch nichts über das Glück der Einbildung! – Aber auch sonst hat mich das Buch ganz traurig gestimmt. Ich bin nämlich durch diese Frühlingsfluten in meine eigene Vergangenheit zurückgeschwommen.« »Wie weit, wenn man fragen darf?« entgegnete ich etwas spöttisch; denn derlei sentimentale Anwandlungen widersprachen seinem Wesen. »Ziemlich weit, bis zu meinem ersten Sündenfall. Und da ich keine Dame bin, so kann ich auch bekennen, daß er sich bei mir sehr früh ereignet hat.« »Das ließe sich hören. Wie wär' es, wenn Sie selbst einmal zur belletristischen Feder griffen?« »Das werd' ich wohl bleiben lassen. In meinen Jahren pfuscht man niemandem mehr ins Handwerk. Er wäre nur Wasser auf die Mühle wohlwollender Freunde. Aber, wenn Sie wünschen, erzähl' ich Ihnen alles, damit Sie sehen, daß auch frivole Menschen von ernsten Erinnerungen ergriffen werden können.« Er sah nach der Uhr. »Es ist kaum elf. In einem halben Stündchen bin ich zu Ende. Dann stürzen wir uns gemeinsam wieder in das Meer der Langenweile, das da drinnen wogt.« In diesem Augenblick drangen gedämpfte Geigenklänge zu uns herüber. »Ah, der bogenführende Knabe!« rief er aus. »Den wollen wir uns aus der Entfernung noch anhören. Wir haben da gleich das schönste Präludium zu meiner Geschichte.« Wir lehnten uns in den Stühlen zurück und lauschten den Tönen, die immer mannigfaltiger, immer ergreifender anschwollen und schließlich in einem Sturm von Beifall untergingen. »Das ist wirklich ein kleiner Prachtkerl!« sagte er. »Wenn nur aus all diesen Wunderkindern ein neuer Mozart hervorginge! Aber das versinkt regelmäßig im Virtuosentum. – Doch hören Sie: ein anderes Stück!« Als es zu Ende gespielt war, stand er auf. »Nun sei's genug! Es wird sich jetzt höchst wahrscheinlich der bekannte große Wagner-Pauker – oder ein Fräulein X ans Klavier setzen. Diese Genüsse wollen wir uns schenken.« Er zog die eichenen Türflügel zu, schob die schwere Samt-Portiere vor und setzte sich wieder. »Also: Sündenfall«, sagte er. * * * »Ich befand mich in der sechsten Klasse des Gymnasiums, aus welcher man damals gleich an die Universität kam, und hatte erst vor kurzem mein fünfzehntes Lebensjahr erreicht. Aber ich war ein früh entwickelter Knabe, der väterliche Zucht niemals kennen gelernt; denn ich stand unter der Obhut einer nach später und kurzer Ehe Witwe gewordenen Mutter, die ihr einziges, abgöttisch geliebtes Kind ohne sonderliche Ermahnungen gewähren ließ, überzeugt, daß alles, was es tat oder nicht tat, wohl getan und wohl unterlassen sei. So ging ich schon vorzeitig meine eigenen Wege, die mich auch bald genug auf Abwege führten. Ich geriet nämlich in die Gesellschaft der ›Großen‹. Sie wurden in der Klasse so genannt, weil sie um einiges älter waren als ihre Mitschüler und sich bereits auf die völlig Erwachsenen hinausspielten, wobei sie es, so weit dies hinter dem Rücken der Schule anging, an allerlei Ausschreitungen nicht fehlen ließen. Unter ihnen ragte um Haupteslänge ein gewisser Thoms hervor, ein sittenloser, verwilderter Bursche, dem schon ein rötlicher Krausbart um Kinn und Wangen sproßte. Er war in früheren Jahrgängen zurückgeblieben, hatte den fünften wiederholen müssen, und auch jetzt schlug er sich nur zur Not durch. Aber sein selbstbewußtes, oft freches Auftreten imponierte nicht bloß den Kollegen, sondern auch den Professoren, die, um nicht gegen ihn einschreiten zu müssen, über sein Unwesen hinweg sahen. So hatte er sich bald zum Senior eines kleinen Kreises aufgeworfen, der sich an bestimmten Nachmittagen in einem wenig besuchten Kaffeehause vor der Hernalser Linie versammelte. Dort wurde geraucht, Billard und Karten gespielt – und später begab man sich in eine nahe gelegene Schenke, deren Wirt, auf unlauteren Vorteil bedacht, den jugendlichen Gästen ein abgesondertes Zimmerchen zur Verfügung stellte. Da wurde nun, unter Absingen von Studentenliedern – die Märzereignisse des kommenden Jahres lagen schon in der Luft – eine Art Kneipe abgehalten, welche jedoch keineswegs kommentgemäß verlief, sondern meistens in eine zügellose Kneiperei ausartete. Hatten doch einige von den Spießgesellen bereits Liebschaften mit übel gehüteten Mädchen niederen Standes angeknüpft, die nicht selten an den Gelagen teilnahmen. In dieses wüste Treiben war ich also hineingeraten: weniger aus Neigung, als vielmehr durch knabenhafte Eitelkeit, die sich geschmeichelt fühlte, daß mich die ›Großen‹ als Fuchs in ihre Verbindung aufnehmen wollten. Ich hatte daher auch bald erkannt, wie sehr diese meinem ganzen Wesen gegen den Strich ging. Denn trotz meiner Selbständigkeit und mancher verfrühten Regung war ich doch noch eine kindliche, unverdorbene Natur, die eigentlich zur Einsamkeit neigte. Ich saß am liebsten über Büchern – freilich nicht über Schulbüchern, und die Romane, die ich stoßweise verschlang – damals war, neben Sue und Dumas, gerade Bulwer in der Mode – erfüllten mich mit phantastischen Träumen und schwärmerischen Empfindungen, welche in jenem Kreise keinen Anklang fanden. So steigerte sich die Unlust, mit der ich an den Zusammenkünften teilnahm, von Woche zu Woche. Die Kneipe, die sich zum Entsetzen meiner guten Mutter zuweilen bis spät in die Nacht hinein ausdehnte, war mir mit ihren Alkoholdünsten und dem stickenden Tabaksqualm ganz besonders zuwider; die weiblichen Gäste aber, wenn solche kamen, stießen mich um so mehr ab, als auch ihre äußere Erscheinung keine sehr bestrickende war. Ich blieb daher, so oft es nur anging, unter allerlei Vorwänden weg. Mich völlig loszumachen, vermochte ich nicht mehr, schon jenes Thoms wegen, der mich in seiner herrischen Art in Affektion genommen hatte. Er wußte mich nämlich im Besitz eines nicht ganz unbeträchtlichen Taschengeldes, das er sich bei der beständigen Ebbe in seinem Beutel gelegentlich zunutze machte. Endlich aber schien eine befreiende Wendung eintreten zu wollen. Unter unseren Mitschülern war auch einer, der Grewe hieß – Fritz Grewe. Ein zarter, in körperlichem Wachstum zurückgebliebener Knabe, mit feinen, gleichsam eingetrockneten Gesichtszügen, die ihm zuweilen ein greisenhaftes Aussehen verliehen. Man nannte ihn den kleinen Doktor Luther, denn er entstammte einer Mischehe und war wie sein Vater – ein nicht allzu hoher Beamter, der früher in der Provinz Verwendung gefunden hatte – Protestant. Dieser Knabe, der erst im laufenden Semester eingetreten und mein nächster Nachbar auf der Schulbank war, brachte mir eine schwärmerische Neigung entgegen, wie sie in solchem Alter vorzukommen pflegt, die er jedoch weniger mit Worten, als in Blicken und Gebärden, so wie durch allerlei mit zärtlicher Unterwürfigkeit erwiesene Aufmerksamkeiten offenbarte. Ich aber fühlte mich zu ihm nicht hingezogen, bezeigte mich kühl und gleichgültig – ja, ich schloß mich ihm, obwohl wir beide in der nahen Alservorstadt wohnten, nicht einmal auf dem Heimweg aus der Schule an, bis er mich endlich eines Tages, seine Schüchternheit überwindend, flehentlich darum bat, weil er sich fürchte, allein nach Hause zu gehen. Es gab damals noch keinen Antisemitismus; unsere jüdischen Kollegen saßen vielmehr als die Begabtesten und Fleißigsten ganz unbehelligt in den vordersten Bänken. Mit den Protestanten aber kam es bisweilen zu Zwistigkeiten. Besonders in den unteren Klassen, wo man überhaupt noch gerne handgemein wurde, suchte man Händel mit ihnen, die nicht selten in arge Schlägereien – ja, in kleine Schlachten auf der Schotten- und Mölkerbastei ausarteten. Aber die ›Evangelischen‹ waren schneidige und gewitzte Burschen, die sich trotz ihrer Minderzahl wohl zu verteidigen wußten, und die katholische Partei erlitt nicht selten eine vollständige Niederlage, was ihren Ingrimm begreiflicherweise nur noch steigerte. In der Fünften und Sechsten hörten diese Kämpfe allerdings auf, und somit hatte Grewe von seiner nächsten Umgebung nichts zu besorgen. Aber zwei kleine rauflustige Schlingel aus der Dritten waren ihm, wie er sagte, gestern ein Stück Weges herausfordernd nachgegangen und hatten endlich mit Angriffen begonnen, denen er sich nur durch die Flucht entziehen konnte. Ich möchte ihn also jetzt, da er Wiederholungen fürchte, in meinen Schutz nehmen – was ich natürlich gnädigst bewilligte. So war denn das Eis gebrochen, und von nun ab kam ich ihm auch innerlich näher. Denn er erwies sich in der Tat als höchst liebenswürdiger, gut gearteter Junge, den ich freilich noch immer mit einer gewissen zurückhaltenden Überlegenheit behandelte. Als wir eines Nachmittags wieder gemeinsam über die wüste Fläche schritten, auf der sich später die Votivkirche erheben sollte, sah er mich zuweilen mit verschämter Eindringlichkeit von der Seite an; er wollte mir offenbar etwas mitteilen, das er auf dem Herzen hatte. Schon den ganzen Weg über war er von schweigsamer Nachdenklichkeit gewesen; jetzt aber, da wir uns schon dem weitläufigen ›Roten Hause‹ näherten, wo er wohnte, sagte er plötzlich nach einem merkbaren Kampfe mit sich selbst und über das ganze vertrocknete Gesichtchen errötend: ›Ich hätte eine Bitte an dich.‹ ›Nun, welche denn, mein lieber Grewe?‹ Er schlug die Augen nieder und errötete noch stärker. ›Morgen ist mein Geburtstag. Da findet bei mir zu Hause ein kleines Fest statt, zu welchem einige Verwandte und Bekannte mit ihren Kindern geladen sind. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich mit einem Schattenspiel-Theater produzieren, das ich mir eigenhändig zurecht gemacht. Als Stück habe ich den Wilhelm Tell von Schiller genommen, freilich ganz zusammengedrängt, in aller Kürze. Und zum Schlusse etwas lustiges von eigener Erfindung. Ich habe auch alle Figuren selbst entworfen und ausgeschnitten. Es wäre die größte Freude für mich, wenn du zu uns kommen und zuschauen wolltest.‹ ›Nun, wenn dir das wirklich so erwünscht ist –‹ ›Und dann – meine Eltern möchten dich gerne kennen lernen. Sie wissen, wie lieb ich dich habe – und daß du jetzt immer mit mir nach Hause gehst. Auch meine Schwester möchte dich einmal sehen.‹ ›Deine Schwester?‹ ›Ja. Sie ist jünger als ich – erst dreizehn Jahre. Aber schon viel größer, weil ich gar so zurückgeblieben bin. Du wirst finden, daß sie ein liebes, gutes Mädchen ist.‹ ›Daran zweifle ich nicht. Wie heißt sie denn?‹ ›Seraphine.‹ ›Ein hübscher Name. Nun, ich werde jedenfalls kommen.‹ ›Ich danke dir!‹ sagte er, lebhaft meine Hand berührend. ›Um vier Uhr nachmittags erwarten wir dich. Wir fangen früh an, damit wir Zeit vor uns haben. Und merke dir: zweiter Hof, erste Stiege, erster Stock.‹ Damit enteilte er vergnügt und verschwand in einem der vielen Tore des Roten Hauses. Ich aber hatte sofort Ursache, mein gegebenes Versprechen als ein unüberlegtes zu empfinden. Denn morgen war Sonntag, und da pflegte ich den Nachmittag mit meiner Mutter bei einer verwitweten Cousine meines verstorbenen Vaters zuzubringen. Etwas älter als meine Mutter, besaß sie schon eine heiratsfähige Tochter, die sich aber keineswegs durch Schönheit und Anmut auszeichnete. Sie war vielmehr eine schmalbrüstige, säuerliche Jungfrau, die mich mit spöttischer Schärfe so recht als Knaben behandelte und mir mit ihren dünnen Lippen Sittenpredigten hielt. Die Mama war eine sogenannte ›praktische‹ Frau, die immer alles besser wußte und sich selbst als nachahmungswürdiges Muster hinstellte. In ihrer Sucht, zu tadeln und zu nörgeln, mischte sie sich in unsere häuslichen Angelegenheiten und Vermögensverhältnisse, wodurch sie meiner Mutter oft recht beschwerlich fiel. Da sie jedoch, wie die meisten ihrer Art, im Grunde auch teilnehmend und zur Hülfe bereit war, so hatte sie uns einmal einen wirklich beträchtlichen Dienst erwiesen, für den sich meine Mutter an Dank nie genug tun konnte. Daher besuchte sie auch unverbrüchlich die dürftigen jours fixes der Dame, zu denen sich stets ein Herr Doktor Wittenberg einfand, der als platonischer Verehrer der Hausfrau galt. Welcher Fakultät er eigentlich angehörte, war nicht recht herauszubringen, da er sich heute als Mediziner, morgen als Philologe geberdete. Er liebte es, mich mit seiner schnarrenden Stimme ins Examen zu nehmen, um sich von meinem Fortgang in der Schule zu überzeugen. Außer ihm pflegte sich noch eine dicke Majorsgattin einzufinden, die von ihrem Manne in geheimnisvoller Weise getrennt lebte. Dann ging es an eine sehr ernsthafte Whistpartie, während ich mit meinem Bäschen an einem Seitentische saß und das Vergnügen hatte, ihr beim Garnabwickeln behülflich zu sein; manchmal gab sie mir sogar Seidenfleckchen zu zupfen. So verliefen diese Abende für mich in der tödlichsten Langenweile und schlossen mit einem wässerigen Tee, bei welchem alles so knapp angetragen war, daß ich zu Hause immer nachessen mußte. Dennoch ging auch ich gewissenhaft hin, denn mein Wegbleiben würde sehr übel vermerkt worden sein, und meine arme Mutter hätte nur wieder den Vorwurf zu hören bekommen, daß sie ihren leichtfertigen Jungen, der ohnehin schon sehr bedenklich über den Strang schlage, allein in der Welt herumlaufen lasse. Diesmal aber, da ich nun schon Grewe zugesagt hatte, mußte ich doch mit der vollen Wahrheit entschuldigt werden, daß ich zum Geburtsfeste eines Mitschülers geladen sei. Am nächsten Tage begab ich mich also um vier Uhr in das Rote Haus. Die Wohnung hatte ich bald aufgefunden und trat, von Fritz schon auf dem Gang erwartet, in ein schlichtes, aber helles und sorgfältig gehaltenes Zimmer, wo neben mehreren Erwachsenen eine kleine Schar von Knaben und Mädchen versammelt war. Fritz führte mich gleich seiner Mutter zu, einer zarten, schmächtigen Frau, in deren Antlitz ich die Züge des Sohnes wiederfand. Der Vater war eine stattliche Erscheinung, bebrillt, glatt rasiert; sein auffallend dichtes Haar zeigte sich an den Schläfen schon ergraut. Man empfing mich sehr freundlich – und nun trat aus der Kindergruppe ein Mädchen hervor. ›Meine Schwester,‹ sagte Fritz. Denken Sie sich eine für ihr Alter ziemlich hohe Gestalt. Schlank, etwas eckig, in einem lichten Merinokleidchen, das bis über die Kniee reichte. Schmucke weiße Höschen mit Spitzenbesatz – die jungen Fräulein mahnten zu jener Zeit noch nicht an Ballettänzerinnen – und Schuhe mit Kreuzbändern. Das eigentümlich mattblonde Haar, nach einer damaligen Kindermode à la chinoise emporgekämmt, ließ die sanftgeschwungene Stirn völlig frei; große, dunkel bewimperte Augen schimmerten fast farblos hell. Der zarte Mund nicht allzu rot – und um das lilienweiße Hälschen schlang sich ein sein gegliedertes Goldkettchen. Ich senkte wie geblendet den Blick, während ich eine höchst linkische stumme Verbeugung unternahm. Sie aber machte lächelnd einen sehr graziösen Knix; sagte jedoch auch nichts. Jetzt wurden wir an den Kaffeetisch gewiesen, der, mit Kuchen und allerlei Süßigkeiten beladen, schon bereit stand. Obgleich man dicht gedrängt Platz genommen hatte, gab es doch nicht Raum für alle, und einige von den Kleinsten mußten sich an einem sogenannten Katzentischchen behelfen, wo Seraphine mit anmutiger Fürsorge die Wirtin machte. Unter den Kindern, die gleich mir bei den Erwachsenen saßen, befand sich auch ein etwa zwölfjähriges Mädchen, das durch anspruchsvolle Unschönheit auffiel. Eine plumpe, gestauchte Figur, die mehr in die Breite als in die Länge ging; dabei ein Kopf, der durch eine gekünstelte, beständig geschüttelte Lockenfülle nur noch unförmlicher erschien. Gleich beim ersten Anblick hatte ich eine Art Widerwillen gegen die kleine Person empfunden, die auch mich, wie derlei meistens gegenseitig ist, nicht gerade wohlwollend zu betrachten schien. Es war im November, und so brach auch schon, während man den Kaffee nahm und das Backwerk aufzehrte, die Dämmerung herein. Nun aber erhob sich Fritz und öffnete die Tür des Nebenzimmers, in das er die Anwesenden zu treten bat. Drinnen waren die Fenster verhüllt, und man sah in unsicheren Umrissen das Schattenspieltheater stehen, hinter welchem der kleine Mann durch einen Seitenvorhang verschwand. Die anderen aber nahmen auf einigen Sesselreihen Platz; ganz vorne die Kleinen, hinter ihnen die Größeren und Großen. Jetzt ertönte eine Klingel, der Vorhang ging empor und enthüllte die lichtdurchstrahlte Leinwand, auf welcher nunmehr, sehr hübsch und charakteristisch entworfen, allmählich fast sämtliche Personen des Schillerschen Dramas erschienen. Sie sprachen in kürzeren oder längeren Dialogen und Monologen, wobei Fritz seine Stimme abwechslungsvoll vertiefte und erhöhte. Dramatisches Leben – der Rütlischwur blieb als zu umständlich weg – kam in das Ganze erst mit dem auf die Stange gesteckten Hut, welchem einige höchst bewegliche Figuren wirklich Reverenz bewiesen; auch Leuthold und Frießhardt hielten sich sehr wacker. Sensation aber machte die große Szene mit dem Apfelschuß. Der Landvogt und sein Begleiter saßen auf sehr hohen Rossen – und man sah (worauf Fritz noch nachträglich stolz war) den Pfeil Tells tatsächlich durch die Luft fliegen und den Apfel vom Kopfe des Knaben Walter fallen. Mit diesem Höhepunkt, der stürmisch beklatscht wurde, schloß auch das Stück. Nun folgte eine komische Pantomime mit allerlei grotesken Karikaturen; schließlich erschien eine Anzahl von Teufeln, Kolbolden und Hexen, die zu allgemeiner Heiterkeit einen verworrenen Tanz aufführten. Man applaudierte, rief den Schauspieldirektor, der endlich aus seinem Versteck hervortrat und sich mit vielem Anstand verneigte. Alles umringte ihn mit Worten der Anerkennung, nur die kleine Person mit dem Lockenkopfe sagte nichts. Sie hatte auch schon früher keine Hand gerührt, und man sah ihr an, daß ihr das Ganze zu ›dumm‹ vorgekommen war. Man begab sich hierauf in den früheren, jetzt wohl beleuchteten Raum zurück, und kleine artige Gesellschaftsspiele, die von Fritz und seiner Schwester angegeben und geleitet wurden, kamen bei der Jugend an die Reihe. Sie verliefen sehr ergötzlich, wenn auch hin und wieder beeinträchtigt durch die Störrigkeit des Lockenkopfes, der sich dieser oder jener Anordnung, die das Spiel mit sich brachte, nicht fügen wollte. Schließlich ging es an das Auslösen von Pfändern. Die Knaben hatten dabei einem vom Zufall bestimmten Mädchen die Hand zu küssen. Mit freudigem Bangen sah ich meinem Schicksal entgegen, hoffend, daß es mich Seraphinen zuführen werde. Aber eine tückische Fügung bestimmte mir die widerliche Kleine, welche sich jedoch mit trotziger Miene weigerte, mir ihre Hand darzureichen. ›Sei doch nicht so kindisch!‹ rief ihr Seraphine in verweisendem Tone zu. ›Ich bin gar nicht kindisch‹, erwiderte die andere, ›aber ich mag nicht‹. Damit drehte sie mir den Rücken. Seraphine erblaßte leicht; dann streckte sie mir mit einem Blicke, der gleichsam für diese Unart um Verzeihung bat, langsam ihre Hand entgegen, auf die ich in seliger Verwirrung einen Kuß hauchte. In diesem Augenblick rief man zum Abendmahl, das im Nebenzimmer, wo inzwischen das Theater fortgeräumt und ein langer Tisch gedeckt worden war, stattfand. Fritz hatte sich zweierlei ausgebeten. Erstens: daß ich an seiner Seite sitze – und zweitens: Backhühner. Diese wurden aufgetragen, und obgleich sie eigentlich hors de saison waren – oder vielleicht gerade deswegen, fanden sie allgemein beifälligen Zuspruch. Schließlich entkorkte Herr Grewe eine dunkle Flasche und goß daraus schwerflüssigen süßen Wein in winzige Stengelgläschen, die vor jedem Gedeck bereit standen. Hierauf wurde auf das Wohl des ›Geburtstages‹ getrunken, und die Gläschen klirrten aneinander. Nun aber erhob sich Fritz und hielt drolligen Ernstes eine wohlgesetzte Rede, mit welcher er seinen geliebten Eltern, seiner Schwester und allen Anwesenden für die ihn so sehr beglückende, durch das Erscheinen seines teueren Kollegen – er wandte sich bei diesen Worten zu mir hin – verherrlichte Feier dankte. Damit war auch plötzlich die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, und in meiner Verlegenheit hätte ich bald versäumt, mit Seraphinen anzustoßen, die mir über den Tisch eifrig ihr Gläschen entgegenbrachte. Ihre Wangen hatten eine rosige, ihre Augen eine durchsichtig blaue Färbung angenommen; in ihren Haaren schimmerten goldige Lichtreflexe. So sah sie erregt und gespannt nach mir hin, als ich mich endlich gefaßt hatte und jetzt auch einige Worte sprach. Das unerbittliche Gesetz ›Sperrstunde‹ machte dem fröhlichen Fest nur zu bald ein Ende. Nachdem der Hausherr die Uhr gezogen und feierlich erklärt hatte, daß es halb zehn sei, erhob man sich, und unter allgemeinen Verabschiedungen drängte man in das Vorzimmer nach Mänteln und Hüten. Ich selbst zögerte so lange wie möglich, mich zu entfernen: ich wollte noch einen Blick von Seraphine erhaschen, die einigen kleineren Mädchen beim Umnehmen der winterlichen Hüllen sorgfältig an die Hand ging. Sie schien darauf gewartet zu haben und nickte mir aus der Entfernung einen lieblichen Abschiedsgruß zu. Ich kam nach Hause wie berauscht. Meine Mutter, diesmal von Doktor Wittenberg ritterlich bis zum Tor begleitet, war fast gleichzeitig mit mir eingetroffen und fragte sofort, wie ich den Abend bei meinem Kollegen zugebracht. Ich antwortete, daß es dort sehr hübsch gewesen. Auf weitere Schilderungen ließ ich mich nicht ein, sondern zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich noch lange wach im Bette lag und dem Bilde Seraphinens nachhing, bis mich endlich der Schlaf übermannte. Als ich am Morgen die Augen aufschlug, war sie mein erster Gedanke. Wann würde ich sie wiedersehen? Man hatte mich gestern zu weiterem Erscheinen nicht aufgefordert. Aber das war doch wohl auch überflüssig bei der Intimität, die jetzt zwischen mir und Fritz bestand. Ich konnte es kaum erwarten, mit ihm in der Klasse zusammenzutreffen; am liebsten wäre ich gleich vor das Rote Haus gelaufen, um ihn dort abzupassen. Ich unterließ es aber, denn meinem Ansehen wollte ich doch nichts vergeben. Dennoch richtete ich es unwillkürlich so ein, daß wir uns schon im Schulhofe fanden. Er gab mir auch gleich die Versicherung, daß man bei ihm zu Hause über mein Erscheinen sehr erfreut gewesen. Den Eltern habe ich ungemein gefallen. Seraphine lasse mich grüßen. Sie bedauere nur, daß sie eigentlich gar nicht mit mir habe sprechen können. So sehr mich diese Mitteilung entzückte, erwiderte ich doch nichts darauf. ›Nun, du wirst wohl jetzt öfter kommen,‹ fuhr Fritz fort, während wir die Treppe hinaufstiegen. ›Wenn es deinen Eltern recht ist‹ – ›Das ist doch selbstverständlich. Und dann –‹ er warf sich ein wenig in die Brust –›du besuchst mich. Ich habe ja mein eigenes Zimmer. Schon gestern wollt' ich dich hineinführen; aber es war keine Zeit dazu. Wenn du willst, zeig' ich es dir gleich nach der Schule.‹ Begreiflicherweise erhob ich keine Einwendung, und noch nie hatte ich das Glockenzeichen, das den Schluß der Lehrstunden anzeigte, mit solcher Sehnsucht abgewartet. Wir schritten also hierauf rascher als sonst dem Roten Hause zu. Als Fritz die Wohnungsklingel zog, öffnete eine derbe Magd die Tür; er selbst aber führte mich gleich durch die Küche in sein Zimmer. Es war eigentlich ein langes und schmales Kabinett, wo die seinem ganzen Wesen entsprechende symmetrische Ordnung herrschte. In einer Ecke stand sein kleines Bett; hart am Fenster ein Tisch mit Mappen, Reißbrettern und Zeichenrequisiten. Den meisten Raum aber nahm ein großer Bücherschrank ein, dessen Glastür Fritz sofort aufschloß. ›Da siehst du meine Bibliothek,‹ sagte er mit merklichem Stolze. Es war eine ganz reichhaltige Sammlung von Büchern, die mich aber damals sehr wenig anzogen: deutsche, lateinische und griechische Klassiker, ältere Geschichtswerke und Reisebeschreibungen. Alles in hübschen, zum Teil schon verblaßten Einbänden. ›Das Meiste ist mir geschenkt worden, einiges habe ich mit meinem Taschengelde antiquarisch erstanden,‹ fuhr Fritz fort. ›Ich habe große Freude an meinen Büchern, obgleich sie fast alle Lektüre für spätere Jahre sind. Jetzt lese ich eigentlich nur den Schiller.‹ Er zog einen Band heraus und schlug ihn auf. Es war die bei Mausberger erschienene Wiener Ausgabe mit den wunderlichen Kupfern im Stile Fügers. ›Und dort ist mein Zeichentisch.‹ Er hatte das Buch wieder versorgt, öffnete eine der Mappen und wies mir ängstlich saubere Nachbildungen von kleinen Landschaften und Blumenstücken. ›Das Zeichnen ist nämlich mein Hauptvergnügen, und ich glaube, daß ich einiges Talent dazu besitze. Seraphine hingegen findet ihre Freude im Klavierspielen, sie hat es auch schon ziemlich weit gebracht.‹ In diesem Augenblick wurde eine Tapetentür, die nach den anderen Wohnräumen führte, halb geöffnet, und der blonde Kopf seiner Schwester erschien forschend in der Spalte. ›Aha, da ist sie schon!‹ rief Fritz. ›Unsere Kathi wird dich angekündigt haben. – Na, komm' nur herein! Du siehst: ich hab' ihn gleich heute mitgebracht.‹ ›Das ist schön,‹ sagte sie, mich beim Eintreten mit einem Lächeln begrüßend. ›Ich bin froh, daß Sie so bald gekommen sind. Ich wollte Ihnen schon gestern ein paar Worte wegen der Resa sagen.‹ ›Resa?‹ ›Das Mädchen, das sich von Ihnen die Hand nicht küssen lassen wollte.‹ ›Daran hab' ich gar nicht mehr gedacht. Ich war ja froh, daß ich es nicht notwendig hatte – –‹ ›Nun ja. Aber es war doch sehr ungezogen. Und glauben Sie nur ja nicht, daß ich mit ihr befreundet bin. Wir mußten sie einladen, weil ihr Papa im Amt ein Vorgesetzter des unseren ist. Die Leute hätten es uns sonst übel genommen. Im übrigen verkehre ich sehr selten mit Resa, denn ich mag sie gar nicht.‹ ›Ich auch nicht,‹ warf Fritz sehr entschieden ein. Er trug es ihr offenbar nach, daß sie ihm gestern keinen Beifall gespendet. ›Aber weißt du, Seraphine, du könntest dem Rudolf gleich etwas vorspielen.‹ ›Wenn er will‹ erwiderte sie und sah mich fragend an. ›Sind Sie musikalisch?‹ ›Leider nein. Aber ich höre sehr gerne Klavier spielen – und wenn Sie – – ‹ ›Sie dürfen nicht zu viel erwarten. Ich lerne erst seit einem Jahre – Aber weißt du, Fritz, es ist doch jetzt eine recht ungelegene Zeit. Ich bin gerade mit Thildi – das ist unsere Näherin –‹ erklärte sie mit einem Blick auf mich, ›an einem Kleide für Mama beschäftigt.‹ Sie langte nach einem Strähnchen dunkler Seide, das halb um ihren zarten Nacken geschlungen war, und hob ein Ende leicht empor. ›Da sehen Sie nur! Ich muß ja auch das lernen! Und eben jetzt kann ich mich nicht gut losmachen. Kommen Sie doch lieber abends. Nicht wahr, Fritz?‹ ›Natürlich – gleich zur Jause.‹ ›Wollen Sie?‹ ›O gewiß –‹ ›Nun also. Dann spiel' ich Ihnen etwas Neues von Thalberg. Aber jetzt adieu! Ich darf Thildi nicht warten lassen.‹ Sie knixte anmutig und enteilte. ›Nicht wahr, ein liebes Mädchen?‹ sagte Fritz, während ich nach der Tapetentür blickte, hinter welcher sie mit ihrem leicht nachflatternden bunt karierten Hauskleidchen verschwunden war. ›Die kannst du einmal heiraten.‹ ›Ach geh',‹ erwiderte ich, und fühlte, wie rot ich geworden. ›Wie kannst du nur schon jetzt an so was denken –‹ ›Warum nicht?‹ entgegnete er, sich streckend. ›Wir sind nun bald sechzehn. In sechs Jahren haben wir unsere Studien beendet, und dann – –‹ ›Mein Gott, wer weiß, was bis dahin geschieht –‹ ›Das ist freilich wahr. Na, aber heute Nachmittag kommst du‹ ... Und ich kam. Kam heute, morgen – kam, so oft es nur anging. Ich saß dann mit Fritz in dem schmalen Kabinett, sah zu, wie er zeichnete, oder blickte in ein Buch, das ich aus den Reihen seiner Bibliothek hervorgezogen. War die Tapetentür geschlossen, so steckte Seraphine hin und wieder den blonden Kopf herein und rief uns ein paar freundliche Worte zu. Nachmittags aber war die Tür gewöhnlich offen, und ich konnte in das anstoßende Zimmer sehen, wo das liebliche Kind entweder an einem Nähtischchen beim Fenster saß, oder sich auf dem Klavier übte. Sie spielte eigentlich noch recht unbeholfen, meistens sentimentale Etüden, wie sie damals in der Mode waren; mir aber klang alles wie Sphärenmusik. Nach der Jause wurde die Lampe angezündet, und man griff zu dem heute ganz und gar vergessenen geselligen Würfelspiele: ›Hammer und Glocke‹, an welchem auch die Eltern teilnahmen. Diese bezeigten sich sehr herzlich gegen mich; es war ihnen offenbar erwünscht gekommen, daß Fritz kollegialen Anschluß gefunden. Der Vater liebte es, mich auf die Achsel zu klopfen, wobei er mich ›junger Mann‹, oder auch › amicule ‹ nannte. Er war überhaupt von einer feinen Jovialität und hatte durchaus nichts ›Protestantisches‹ an sich, wie denn in dem kleinen Familienkreise ein zarter, warmer, inniger Gemütston vorherrschte, wie man ihn jetzt kaum irgendwo mehr antrifft. Von mir wußte man nur, daß ich aus gutem Hause und der einzige Sohn meiner Mutter war; näher einzudringen vermied man – und von dem, was mich eigentlich hierher zog, hatte man keine Ahnung. Man fürchtete daher auch nichts – und es war nichts zu fürchten. Ich liebte Seraphine mit der schüchternen Seligkeit eines jünglinghaften Knaben – und sie brachte mir in stiller Unbefangenheit ein erwachendes Mädchenherz entgegen. Wir wußten es beide, sprachen es jedoch niemals aus. Auch kein vielsagender Blick – geschweige denn eine kundgebende Zärtlichkeit. Einmal aber, als Fritz, um ein neues Stück zu erproben, wieder sein Theater aufgeschlagen hatte, und wir als die einzigen Zuschauer in dem verdunkelten Zimmer nebeneinander saßen, streifte meine rechte Hand ganz zufällig ihre linke. Erschrocken zogen wir beide die Hände zurück – um sie gleich darauf zu sanftem, unschuldvollem Umfassen ineinander zu legen. Während dieser schönen, glücklichen Zeit hatte ich meine früheren Genossen mehr und mehr vernachlässigt. Man schien es anfänglich gar nicht zu bemerken. Die meisten mochten seit jeher das Gefühl gehabt haben, daß ich nicht recht in die Verbindung taugte, bekümmerten sich daher nicht viel um mich. Nur Thoms und ein paar seiner nächsten Kumpane zeigten mir finstere Gesichter, sagten aber auch nichts. Denn ich war doch noch an einigen Nachmittagen im Kaffeehause erschienen und hatte mich, häusliche Abhaltungen vorschützend, mit klingender Münze von den Kneipabenden losgekauft, was immerhin eine gewisse Befriedigung hervorrief. Als ich aber endlich geradezu wegblieb, regte sich in Thoms die Galle. Eines Tages, nach Schulschluß, winkte er mich gebieterisch zu sich heran und stellte mich zur Rede. Und da ich eine landläufige Ausflucht vorbrachte, sagte er: ›Ach was, faule Fische! Wir wissen schon, wo du jetzt deine Zeit zubringst. Bei dem kleinen Luther. Er soll eine hübsche Schwester haben. Freilich noch der reine Fratz! Na, das ist deine Sache. Wir aber werden es nicht ruhig hinnehmen, daß du uns so ohne weiteres den Rücken kehrst.‹ Der drohende Blick, den er mir dabei zuwarf, beleidigte mein Selbstgefühl. ›Nun, was wollt Ihr denn tun?‹ fragte ich gereizt. ›Das wirst du schon sehen‹, erwiderte er und kniff die Augen zusammen. ›Wenn du morgen bis sieben Uhr nicht in Hernals bist, so ziehen wir in corpore vors Rote Haus. Wir werden dich schon zu finden wissen.‹ Und da er sah, wie ich erschrocken zusammenzuckte, fuhr er mit bösartigem Behagen fort: ›Wirst es wohl nicht darauf ankommen lassen. Wir müssen diesmal vollzählig sein. Denn es ist die letzte Kneipe im Jahr, da man die Weihnachtstage doch in der Familie zubringen muß. Auch den Silvesterabend. Den aber wollen wir morgen gleich im voraus feiern. Wir werden Punsch trinken. Neuhauser, der auch kommt, hat versprochen, ein paar Flaschen Essenz mitzubringen. Also laß es dir gesagt sein!‹ Damit drehte er sich auf den Absätzen um und überließ mich meiner Fassungslosigkeit. Ja, ich war fassungslos. Seine Worte, das fühlte ich, hatten keine leere Drohung enthalten, wenn er kommandierte, ließen sich die übrigen zu jedem Unfug herbei. Es half nichts: ich mußte morgen erscheinen, so doppelt widerwärtig mir jetzt das ganze Treiben war. Und auch Neuhauser sollte kommen! Dieser Neuhauser, der Sohn eines reichen Fabrikanten in Schottenfeld, war bis in die fünfte Klasse hinein unser Mitschüler gewesen, hatte aber wegen absoluter Unfähigkeit – oder vielmehr Faulheit das Studieren aufgegeben und lebte jetzt im elterlichen Hause als bloßer Tagdieb. Dennoch hatte ihn Thoms gewissermaßen als Gast in die Verbindung aufgenommen, weil er über unbeschränkte Geldmittel verfügte und auch durch sonstige Eigenschaften dem verlotterten Senior besonders zusagte. Erst siebzehnjährig, war er bereits ein entnervter Wüstling, der in letzterer Zeit ein Liebesverhältnis mit einer Arbeiterin aus der väterlichen Fabrik angeknüpft und sie zu seiner Maitresse erhoben hatte. Sie war auch einmal mit ihm in die Kneipe gekommen. Was ich beim Anblick dieses Mädchens empfunden, läßt sich schwer in Worte fassen. Im Grunde war es Abscheu, der aber eine gleichzeitige Regung des Wohlgefallens nicht zu überwältigen vermochte. Wenn Ihnen das heute vielgenannte Gemälde Stucks ›Die Sünde‹ auch nur in der Reproduktion bekannt ist, so haben Sie eine annähernde Vorstellung. Ein breites, eigentlich häßliches Gesicht mit vorragenden Backenknochen und einem großen, verbissen sinnlichen Munde. Die niedere, in der Mitte leicht eingedrückte Stirn von schweren, glanzlos dunklen Haaren umwölkt. Die Formen voll, wuchtig, träg – dabei eine matte, gelbliche Hautfarbe, der aber, besonders an den schön geformten, langbefingerten Händen, ein perlmutterartiger Schimmer verliehen war. So saß sie, mit allerlei Schmuck behangen, neben dem weit jüngeren Neuhauser, der, obgleich er sie selbst hier eingeführt hatte, von krankhafter Eifersucht erfüllt schien. Offenbar wußte sie das und hatte, wie um ihn zu beruhigen, eine Hand auf seinem Arm liegen, während sie, nur wenig sprechend, ihre verschleierten Augen im Kreise wandern – und zuweilen auf mir ruhen ließ. Ich sah dann immer weg, aber ich empfand, wie etwas um mein Gesicht kroch, gleich unsichtbaren Spinnenfüßen. Und dann mußte ich doch wieder hinblicken – und da gewahrte ich, wie um ihren Mund ein flüchtiges Lächeln zuckte. Sie richtete aber kein Wort an mich; erst als sie bei der allgemeinen Bewegung des Aufbruches in meine Nähe kam, griff sie mir rasch und verstohlen unter das Kinn, wobei sie die Oberlippe wie in wilder Begehrlichkeit emporzog und einen kurzen, tierischen Laut ausstieß. Es war nur ein flüchtiger Moment gewesen; aber ich fühlte ihre heiße, etwas feuchte Hand um Hals und Kinn bis ich nach Hause kam, und noch vor dem Einschlafen rieb ich die Stelle mit meinem Taschentuche. Seitdem hatte ich Toni – so hieß sie – nicht wieder gesehen; der Eindruck hatte sich verflüchtigt – fast auch die Erinnerung. Jetzt aber, bei dem Gedanken, daß ich vielleicht morgen mit ihr zusammentreffen könnte, stand ihr Bild plötzlich mit voller Deutlichkeit vor mir. Ich sah die üppige Gestalt, die schweren, trägen Bewegungen, die lauernden Augen – und unwillkürlich griff ich dorthin, wo mich ihre Hand angefaßt hatte. Ich fürchtete mich ......... In dieser Seelenstimmung ging ich nach Hause, wo ich den Abend allein mit meiner Mutter zubrachte, die von dem allen keine Ahnung hatte. Als ich nach einer unruhigen Nacht in die Schule kam, fiel mir an Fritz eine eigentümliche Befangenheit auf; es war, als könne er mir nicht in die Augen sehen. Nach einer Weile flüsterte er mir plötzlich zu: ›Du mußt dann gleich mit mir kommen. Seraphine hat dir etwas zu sagen.‹ ›Was ist es denn?‹ ›Ich weiß nicht.‹ ›Du weißt schon – willst nur nicht mit der Sprache heraus.‹ Er kämpfte mit sich selbst. ›Irgend ein Tratsch,‹ erwiderte er endlich. ›Aber du wirst es schon von meiner Schwester hören. Mama hat heute ihren Einkaufstag und ist daher nicht zu Hause. Du kannst dich also mit Seraphine ungestört aussprechen.‹ Während der Lehrstunden wälzte ich allerlei Vermutungen in mir herum. Kein Zweifel: man hatte Nachteiliges über mich erfahren – und gewiß bezog es sich aus meinen Verkehr mit den ›Großen‹ ..... Als wir in der Greweschen Wohnung angelangt waren, hieß mich Fritz in dem Kabinett verweilen. Er selbst begab sich in das anstoßende Zimmer, kehrte aber gleich wieder zurück. ›Geh nur hinein,‹ sagte er; ›sie erwartet dich.‹ Klopfenden Herzens trat ich ein. Sie saß in ihrem karierten Kleidchen an dem kleinen Tisch beim Fenster; erhob sich aber rasch und schritt mir entgegen. Sie sah eigentümlich blaß, und doch wie erhitzt aus; ihre sonst so hellen Augen hatten eine trübe, fast dunkle Färbung. ›Kennen Sie eine Majorin Schmidt?‹ fragte sie ohne jede Einleitung. ›Allerdings‹, erwiderte ich, einigermaßen verblüfft. ›Sie kommt sehr oft zu meiner Tante –‹ ›Ganz recht, zu Ihrer Tante. Und wissen Sie, daß man dort gar nicht gut von Ihnen spricht?‹ ›Das kann ich mir wohl denken. Aber woher – –?‹ ›Von Resa hab' ich es erfahren‹, sagte sie und stützte sich auf die Lehne eines nahen Sessels. ›Ich habe gestern mit Mama dort einen Besuch gemacht, den wir schon lange schuldig waren. Die Majorin kommt zuweilen auch in dieses Haus – und hat allerlei von Ihnen erzählt – –‹ ›Nun, was hat sie denn erzählt?‹ ›Daß Sie mit jungen Leuten verkehren, die sich in Kaffee- und Wirtshäusern herumtreiben und sogar – –‹ Sie wendete das Haupt ab und ließ sich auf den Sessel nieder. ›Ich ahne, was Sie sagen wollen, Fräulein Seraphine.‹ ›Es ist also wahr?‹ ›Wahr und nicht wahr. Ich kann nicht leugnen, daß ich in dieser Gesellschaft –‹ ›Und weiß das Ihre Mutter, Rudolf?‹ ›Sie weiß es – und weiß es nicht. Aber sie kennt mich, und der scharfe Spürsinn meiner Frau Tante, den ich nur bewundern kann, wenn er mich auch keineswegs überrascht, wäre nicht imstande, mich in ihren Augen herabzusetzen. Und auch Sie sollten mich nicht verachten, Seraphine! Ja, ich bin in diese Gesellschaft hineingeraten. Ich weiß selbst nicht, wie. Doch niemals habe ich mich dabei wohlgefühlt, habe mich losgemacht, so oft es nur anging. Und seit ich Sie kenne, bin ich ganz weggeblieben.‹ ›Wirklich?‹ Sie sah mich forschend an. ›Ich lüge niemals, Fräulein Seraphine. Und Sie müssen fühlen, daß ich die Wahrheit spreche, denn Sie wissen, daß ich Sie – –.‹ Ich sprach das Wort nicht aus und ließ mich nur auf ein Knie nieder, ihre Hand ergreifend, die sich ganz kalt anfühlte. Sie entzog sie mir nicht und legte die andere still auf meinen Scheitel. So verweilten wir, ohne zu sprechen. Mit einmal spürte ich, wie ihr zarter Leib zusammenschauderte. ›Was ist – was haben Sie, Seraphine?‹ fragte ich, zu ihr aufblickend. ›Ich weiß nicht – schon seit zwei Tagen fühle ich mich nicht ganz wohl. Ich muß mich erkältet haben. Aber stehen Sie jetzt auf.‹ Und als ich vor ihr stand, sagte sie leise: ›Ich liebe Sie ja auch, Rudolf – habe Sie schon geliebt, eh' ich Sie noch kannte. Aber was soll daraus werden? Wir sind noch so jung – –‹ Ich erwiderte nichts. Man könnte zwar jetzt über diese vorzeitige Liebesszene lächeln, aber für uns war es ein ernster feierlicher Augenblick – ein Augenblick, wie man ihn nur in der ersten Frühe des Lebens kennt, wo Herz und Sinn noch rein, noch ganz von Idealen erfüllt sind ...... ›Freilich, wenn Sie mich wahrhaft lieben,‹ fuhr sie fort, während sie sich langsam erhob, ›dann – – Papa und Mama haben auch lange aufeinander gewartet. Werden Sie ausharren, Rudolf?‹ Ich legte die Hand beteuernd an die Brust. ›Ich glaube Ihnen‹, sagte sie still. ›Und nun kann ich auch gestehen, daß mich die hämischen Mitteilungen Resas nicht irre gemacht. Sie sind ja Ihren Jahren voraus und kein Knabe mehr, wie mein Bruder, der gerade deshalb so an Ihnen hängt. Es bekümmerte mich nur der Eltern wegen, die es nun ebenfalls erfahren werden – vielleicht schon erfahren haben. Mama war gestern Abend auffallend ernst und nachdenklich. Aber was auch erfolgen mag: mein Herz gehört Ihnen.‹ Sie war nur ganz nahe getreten, und ließ das Haupt an meine Schulter sinken. Ich umfing sie sanft und streifte ihr Haar mit den Lippen. Dabei fühlte ich wieder, wie ein starker Schauer durch ihren Körper ging. ›Ich habe Fieber‹, sagte sie. ›Gehen Sie jetzt. Mama kann jeden Augenblick nach Hause kommen. Adieu, Rudolf.‹ Ich trat in das Kabinett, wo mich Fritz mit Spannung erwartete. ›Nun?‹ fragte er. ›O, es ist gut! Es ist alles gut! Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen.‹ Damit nahm ich Mütze und Mantel und stürzte fort, die Treppe hinunter. Draußen hatte es zu schneien begonnen. Während die Flocken niederwirbelten, eilte ich nach Hause, wie von Flügeln getragen. In meinem Zimmer jedoch überfiel es mich mit ganzer Wucht, daß ich heute nach Hernals mußte. Aber mußte ich denn? Warum hatte ich Seraphine nichts davon gesagt? Sie war ein so kluges Mädchen und hätte mir gewiß guten Rat erteilt! Wenigstens wüßte sie darum! Es erschien mir jetzt wie schändliche Lüge, wie niederträchtige Verheimlichung, daß ich geschwiegen. Aber ich hatte ja gar nicht mehr daran gedacht – hatte in meinen seligen Empfindungen alles vergessen. Und nun war es zu spät. Ja, ich mußte nach Hernals, denn ich konnte sie und die Ihren dem bösartigen Mutwillen der Großen nicht aussetzen. Und es geschah ja zum letztenmal, daß ich dorthin ging! Es wird sich dann schon irgend ein Aus-weg finden lassen. Und immerhin konnte ich mich in der Nachmittagsschule ihrem Bruder anvertrauen, auf daß er ihr Mitteilung mache, wenn er es für gut fände. Doch Fritz empfing mich gleich mit den Worten: ›Seraphine läßt dich grüßen. Sie hat sich zu Bett gelegt. Mama wollte es.‹ ›Was mag sie nur haben?‹ ›Es wird eine Grippe sein.‹ ›Wenn sie nur nicht ernstlich erkrankt –‹ ›Das möge Gott verhüten! Es wären traurige Weihnachten. Nun, ich hoffe, ein paar Tassen Lindenblütentee machen sie wieder gesund. Jedenfalls aber bleibt sie morgen zu Bett. Du kommst ohnehin nicht. Denn morgen ist Sonntag, und da gehst du zu deiner Tante.‹ ›Zu meiner lieben Tante –‹ ›Ach was, laß die Tante Tante sein!‹ Ich sagte ihm also nichts und begleitete ihn nur nach der Schule bis vor das Rote Haus, wo wir uns trennten. Eine Stunde später trat ich die verhaßte Wanderung an, nachdem ich zuvor noch meiner guten Mutter bedeutet hatte, daß ich heute ziemlich lang ausbleiben dürfte.« »Ich sehe die Spelunke noch vor mir,« fuhr der Hofrat fort, »in der wir uns damals versammelten. Ein niederes, halb im freien Feld gelegenes Haus mit verfallendem Schindeldache und einem windschiefen Anbau, der den wüsten ländlichen Hof seitwärts abgrenzte. Wenn man durch das Tor trat, hatte man links die Gaststube, die eigentlich nur zur Zeit der Heurigenschänke besucht wurde; sonst blieb das düstere, modrig feuchte Lokal in der Regel leer. Von dort aus gelangte man über ein Paar Stufen in das uns angewiesene Zimmer-chen; es stieß schon an den Anbau, wo der halbbäuerliche Wirt mit drei Kindern und einer Magd als Witwer hauste. Der Raum war sehr niedrig, man konnte mit der Hand fast an die Decke langen. Nur ein Tisch stand darin, an welchem auf einer Bank und einigen gebrechlichen Stühlen ungefähr zwölf Personen Platz fanden. In der nächsten Ecke war ein winziges Blechöfchen zu erblicken, und an der Wand dämmerte ein erblindeter Spiegel mit dahinter gesteckten, vergilbten Palmzweigen. An einem hölzernen Kleiderrechen, dem mancher Nagel fehlte, hing eine alte Gitarre mit verschossenem blauen Bande. Dort also, beim Schein von zwei trüben Talglichtern, saßen wir jetzt: neun an der Zahl. Sieben junge Burschen – und, wie das bei solchem Anlaß vorauszusehen gewesen, zwei Mädchen, die mit ihren Liebhabern – sie hießen Stockinger und Rüttmann – gekommen waren. Obgleich Thoms mir gegenüber die notwendige Vollzähligkeit besonders hervorgehoben, fehlten doch zwei Mitglieder des Bundes; auch Neuhauser war noch nicht erschienen. Der Senior, der mich im Kaffee-Hause mit höhnischer Genugtuung begrüßt hatte, machte daher schon ein recht ärgerliches Gesicht; ich selbst aber schöpfte einige Hoffnung, daß mir ein Zusammentreffen mit Toni erspart bleiben werde. Aber schon trat sie mit ihrem Geliebten durch die Tür. Eine stürmische Begrüßung erfolgte. Man nahm Toni den Mantel, so wie zwei große, mit Papier umwickelte Flaschen ab, die sie in den Armen trug; dann wurde dem Paar ein Ehrenplatz zu gewiesen. Es traf sich, daß ich Toni etwas näher zu sitzen kam, als damals; sie aber schien mich gar nicht zu beachten, während ich nicht umhin konnte, den Blick auf sie zu heften. Sie trug heute eine leicht mit Pelz verbrämte Jacke, einen weitläufigen Korallenschmuck und hatte das Haar mit einem roten Bande durchflochten. So unterschied sie sich sehr eigentümlich von den anderen Frauenzimmern, die zwar auch in ihrer Weise Staat gemacht hatten, aber trotz unechter Geschmeide und bunter seidener Halstücher in verwaschenen Kattunkleidern recht ärmlich aussahen. Die eine, blond und mager, hektische Röte auf den Wangen, hatte das Haar an den eingesunkenen Schläfen in große Schnecken gedreht; die andere war ein kleines, sehr dralles Frauenzimmer, mit weißrotem Puppengesicht und kleinen, etwas schielenden schwarzen Glaskugelaugen. An dieser Schönen schien Thoms Gefallen zu finden. Er hatte sie schon früher an seine Seite gesetzt und bedrängte sie nunmehr, da er guter Laune geworden, mit Zärtlichkeiten – ganz unbekümmert um ihren Geliebten Rüttmann, der sich übrigens gar nicht eifersüchtig bezeigte, vielmehr das Mädchen willig dem despotischen Kollegen zu überlassen schien. Herr Schallmaier, der Wirt, welcher gegen Erlag von zwei Zwanzigern für jeden Teilnehmer – so billig konnte man es damals noch haben – die ganze Besorgung der Silvestervorfeier übernommen hatte, war inzwischen mit seinem kupfrigen Schelmengesicht ab und zu gegangen. Er tischte Rauchfleisch, Salami und Käse auf; sogar eine große Schüssel mit welschem Salat. Dazu eine mächtige ›Pitsche‹, bis an den Rand mit Bier gefüllt, das man, da hier nur Wein verzapft wurde, aus dem nächsten größeren Gasthause herüber geholt. Nun ging es ans Schmausen, und als das Bier alle war, erschienen einige Flaschen ›Gerebelter‹, der, wie Herr Schallmaier versicherte, den jungen Herrschaften besonders munden würde. Auch etwas Süßes für die ›Damen‹ brachte er: einen riesigen Gugelhupf, der Toni zum Anschneiden überreicht wurde. Der ›Gerebelte‹ den ich als abgesagter Feind des Bieres nun ebenfalls kostete, war wirklich gut – das heißt, wie zu jener Zeit alle Weine, noch unverfälscht. Er tat auch bald seine Wirkung: man begann lustig zu werden. Mit hochgeschwungenem Glase stimmte Thoms das Gaudeamus an, dem andere Burschengesänge folgten, die mit zahlreichen Libationen verbunden waren. Obgleich ich an meinem Glase jedesmal nur nippte, stieg mir doch das ungewohnte Getränk zu Kopf, und unwillkürlich wurde ich in die herrschende Stimmung mit hineingezogen. Erst als das Fuchslied: ›Was kommt dort von der Höh'?‹ an die Reihe gelangte, kam ich wieder zur Besinnung. Denn man hatte das Lied aus mich gemünzt und die Stellen: ›Was macht die Frau Mama? Was macht die Mamsell Sœur? ‹ mit besonders satirischer Betonung hervorgehoben. Sie schnitten mir ins Herz, und bei den Selbstvorwürfen, die sie weckten, versank ich in ein mißmutiges Schweigen. Ich achtete gar nicht darauf, daß jetzt Stockinger, ein vierschrötiger Bengel mit langen, studentisch hinter die Ohren gestrichenen Haaren, ein Solo ›Im tiefen Keller sitz' ich hier‹ zum besten gab. Er besaß eine wuchtige Bastßimme, auf die er sehr stolz war und welche er bei jeder Gelegenheit prahlerisch ertönen ließ. Als er geendet hatte, bemerkte ich, daß Toni die braunen, von bläulichen Lichtern durchzuckten Augen eindringlich auf mich gerichtet hielt. ›Na, junger Herr,‹ sagte sie, ›warum sitzen S' denn gar so tasig da? An was denken S' denn?‹ ›An was wird er denken!‹ rief Thoms höhnisch, ›an seine Geliebte denkt er.‹ Toni kniff die Augen zusammen. ›An seine Geliebte? I hab', g'laubt, er is no' a Unschuld.‹ ›Das wird er wohl auch sein, der zimperliche Fuchs‹, lachte Thoms. ›Seine Flamme geht ja noch in Hosen.‹ Ein allgemeines Gelächter folgte diesem Ausspruch. Toni aber wandte langsam den Kopf ab, während ich in meiner Verwirrung um so weniger eine Entgegnung fand, als inzwischen die hektische Blondine die Gitarre herabgelangt hatte und nun auf dem arg verstimmten Instrumente zu präludieren begann. ›Ah, die Mahltschi!‹ rief man von allen Seiten. ›Die Maltschi will uns was singen!‹ ›Singen net‹, sagte das Mädchen. ›I bin heut' net bei Stimm'. Mir tut die Brust weh.‹ Sie hüstelte. ›Na, so spiel' halt die Tanz'!‹ sagte Stockinger. ›Ja, ja, die Tanz'!‹ stimmte man bei. ›Die spielt ihr keiner nach!‹ ›Die Tanz' spiel 'i‹, erwiderte die Blonde, sichtlich geschmeichelt, griff mit Macht in die schrillenden Saiten und hub mit einer Reihe von Walzern und Ländlern an, die immer mehr Anklang fanden, bis sie endlich mit allgemeinem Händeklatschen und Fußgestampf begleitet wurden. Nur Toni schenkte den tollen Klängen wenig Aufmerksamkeit. Sie hatte aus einer kleinen, im Tisch angebrachten Lade ein abgegriffenes Spiel Karten hervorgeholt und schickte sich an, mit langsamen, trägen Handbewegungen eine Art Patience zu legen, die ihre Gedanken mehr und mehr zu beschäftigen schien. Neuhauser, der an ihrer Seite saß, beobachtete dieses Gehaben mit scheelen Blicken. Er hatte dem Wein über Gebühr zugesprochen; man sah, daß er bereits angetrunken war. Dennoch hatte sein auffallend langes, hageres Gesicht die gewöhnliche Fahlheit beibehalten; nur die weitgeschlitzten gelblichen Augen glühten. Endlich, da die Gitarrespielerin gerade eine Pause eintreten ließ, sagte er mit heiserer Stimme: ›Was schlagst denn Karten auf? Denkst schon wieder an ihn?‹ Toni zuckte zusammen. Sie wollte offenbar heftig erwidern; aber sie überwand sich. ›An ihn denk' i net mehr‹, sagte sie ruhig. ›I hab' nur aus den Karten etwas über dem seine Geliebte erfahren wollen.‹ Dabei deutete sie mit einer Kopfbewegung nach mir hin. ›Was kümmert dich die Geliebte von dem ?!‹ entgegnete er gereizt. ›Was kann dir d'ran liegen?‹ ›Nix liegt mir dran‹, versetzte sie und schob mit einem bösen Blick die Karten zusammen. ›Aber du bist schon wieder eifersüchtig. Trink' lieber net so viel. Es wird dir übel wer'n.‹ ›Willst mir schon wieder vorschreiben?‹ schrie er. ›Jetzt trink' ich erst recht! Wo bleibt denn der Punsch? He, Wirtshaus!‹ Er polterte mit einer leeren Flasche auf dem Tisch. Herr Schallmaier eilte aus der Gaststube, wo er sich bei seinem eigenen Wein aufhielt, herbei. ›Was ist's mit dem Punsch?‹ ›'s Wasser kocht schon längst, Herr von Neuhauser, aber –‹ ›Die Essenz fehlt! Dort am Fensterbrett steht sie. Die größere Flaschen. In der andern ist Rum. Den wollen wir selber nachgießen.‹ Der Wirt ergriff die Flasche, eilte ab, und es dauerte nicht lange, so wurde die Terrine samt frischen Gläsern hereingebracht. Neuhauser füllte diese eigenhändig mit einem blechernen Schöpflöffel. ›Profit!‹ rief er, nachdem die Arbeit getan war. Die Gläser klangen nun zusammen, und man schlürfte das dampfende, stark duftende Getränk, dessen Wirkung in den meisten Gesichtern immer deutlicher erkennbar wurde. Die Geliebte Stockingers, deren Wangen wie Feuer flammten, hatte wieder die Gitarre ergriffen und stieß jetzt aus ihrer keuchenden Brust einige kreischende, gesangartige Töne hervor. ›Bravo! d' Maltschi singt!‹ rief man im Kreise. ›Das is g'scheidt! Jetzt wird's erst lustig!‹ ›Na, es geht net!‹ erwiderte Maltschi. ›Die Brust tut mir zu weh.‹ ›A was, trink' nur no a Glas'l Punsch!‹ schrie Neuhauser. ›Der wird dir gut tun. So. Noch ein bissel Rum nach! Und jetzt sing'! Laß dich net bitten.‹ Er zog seine Börse und warf einen Fünfer auf den Tisch. ›Das ist von mir! Aussa mit die Vierzeiligen!‹ ›No, meint'wegen!‹ sagte das Mädchen, räusperte sich lange und ließ endlich eine Folge von kurzen Strophen vernehmen, wie sie damals der schamlose Humor der Wiener Volkshefe hervorbrachte. Immer frecher, immer lasziver wurde der Text, immer schallender das Johlen der Zuhörer, welche die ärgsten Zoten im Chorus wiederholten. Ein häßliches, orgiastisches Bild entfaltete sich. Thoms hatte die Kleine auf den Schoß gezogen und liebkoste sie, während die anderen Burschen lüstern beifällige Blicke auf die Gruppe warfen. Neuhauser war halb an Toni hingesunken; sein erschreckend bleiches Gesicht lag auf ihrer Schulter. So lallte er, die Augen verglast, von Zeit zu Zeit die unzüchtigen Worte nach, welche Maltschi, sich überschreiend, mit gebrochener Stimme sang. Plötzlich glitt er von der Bank herab und lautlos zu Boden. Man blickte bestürzt nach ihm hin; Maltschi verstummte. Nur Thoms blieb ruhig sitzen, die Kleine auf dem Schoß festhaltend, während man sich jetzt um Neuhauser drängte und ihn auf die Bank emporbrachte, wo er besinnungslos liegen blieb. ›I hab's ja g'wußt‹, rief Toni, keineswegs besorgt, sondern mit ärgerlichem Abscheu. ›Aber er laßt si nix sag'n. Jetzt liegt er da!‹ ›Schütt's ihn mit Wasser an‹, sagte Thoms lakonisch. ›Anschütten net!‹ entgegnete Toni. ›Aber schaut's, daß a Wasser kommt. I werd' ihm kalte Umschläg' auf'n Kopf machen.‹ Einige eilten fort und kehrten mit dem Wirt zurück, der einen Wasserkrug und ein nicht allzu reinliches Wischtuch mitbrachte. Während sich Toni anschickte, dieses einzutauchen, sagte der Wirt: ›Wissen's was, Fral'n? Tragen wir den jungen Herrn in mein Zimmer 'nauf. Dort legen wir ihn aufs Bett – und er kann glei' sein' Rausch ausschlafen.‹ Diese Szene brachte mich wieder zu mir selbst. Denn trotz des Ekels, den ich bisher empfunden, hatte ich doch den Punsch nicht ganz verschmähen dürfen. So hatten sich auch meine Gedanken, die ich in solcher Atmosphäre gewaltsam von Seraphine ablenkte, allmählich verwirrt, und meine Augen wie durch trübe Nebel nach Toni hingeblickt – der einzigen Nüchternen in dem mehr oder minder berauschten Schwarm. Sie nahm jetzt ihren Mantel um und folgte dem Wirt, der mit Hülfe Stockingers und noch zwei anderer den Volltrunkenen hinausschleppte. ›Gut, daß er draußen ist‹, rief Thoms. ›Der Kerl vertragt nix. Wir aber wollen uns jetzt einen Krambambuli machen!‹ ›Ja, ja, Krambambuli!‹ brüllte es ringsum. ›Na also! Schaut euch nach einer Blechschüssel um! Schallmaier soll Zucker hergeben. Wir werden ihn schon zahlen.‹ Rüttmann, Thoms gegenüber stets dienstbereit, eilte fort und kam bald mit dem Gewünschten zurück. Der Zucker lag schon in der Schüssel; nun wurde reichlich Rum darüber gegossen und angezündet, während gleichzeitig die beiden Talgkerzen, bis zur Neige herabgebrannt, von selbst erloschen. Inzwischen war auch Stockinger mit den Genossen wieder erschienen. Sie brachten die Nachricht, daß Neuhauser drüben zur Besinnung gekommen, aber sofort in tiefen Schlaf verfallen sei. Nun schnarche er, von Toni bewacht, im Bette des Wirtes. Ich aber nahm jetzt den günstigen Augenblick wahr, um mich zu befreien. Eine Weile noch verblieb ich unter den Gestalten, die um die bläulich wallende Flamme standen. Diese verlieh allen Gesichtern eine leichenhafte Färbung, während das Lied: ›Krambambuli, das ist der Titel des Tranks, der sich bei uns bewährt‹ mit ohrenzerreißendem Mißklang angestimmt wurde. Als sie ins Zucken und Verflackern geriet, benützte ich die beginnende Dunkelheit, um rasch mein Überkleid vom Nagel zu langen und aus dem Zimmer zu verschwinden. Draußen in der leeren Gaststube qualmte ein schwindsüchtiges Öllämpchen. Ich eilte an das Haustor. Es war verschlossen; der große plumpe Schlüssel steckte jedoch. Ich wollte ihn drehen – es gelang mir nicht; das eingerostete Ungetüm trotzte meinem vollsten Kraftaufwand. Ich beschloß also, das Freie durch den Hof zu gewinnen, wo, wie ich aus Erfahrung wußte, eine schadhafte Stelle des Staketenzaunes leicht zu überklettern war. Im Hofe angelangt, blieb ich unwillkürlich stehen und atmete in vollen Zügen die klare, kalte Winternachtluft ein. Rings war alles verschneit, und die weiße Fläche, von der sich der Zaun und einige kahle Bäume dunkel abhoben, schimmerte im hellen Licht des fast vollen Mondes. Als ich mich jetzt in Bewegung setzte, vernahm ich eine Stimme, die mir von oben halblaut zurief: ›Was machen denn Sie da, junger Herr?‹ Ich blickte empor. Auf dem offenen Außengang des Anbaues stand Toni, in ihren Mantel gehüllt. Ich war bei ihrem Anblick zusammengezuckt und fand nicht gleich eine Antwort. ›Ich gehe fort‹, sagte ich endlich. ›Schon jetzt? Ich hab's freilich bemerkt, daß es Ihnen da drunten net gar angenehm war. Mir auch net. Aber kommen S' a bissel herauf.‹ Sie winkte leicht mit der Hand. Nun überkam mich ein eigentümlicher Zustand, der sich heute vielleicht auf Suggestion zurückführen ließe. Ich wollte entfliehen, suchte die schadhafte Stelle des Zaunes mit den Augen – aber ich bestieg die schmale, hölzerne Freitreppe, die zu ihr hinanführte. ›So, das is schön‹, sagte sie, als ich oben war. ›Leisten S' mir a wenig G'sellschaft. Der Neuhauser schlaft da drin.‹ Sie wies nach einer nahen Tür. Aber es is z' kalt da heraußen. Gehn wir auch ›nein.‹ Sie ergriff meine Hand und führte mich in ein kleines Zimmer, das von einer langschnuppigen Kerze matt erhellt war. Auf einem wüsten Bette lag Neuhauser, den Kopf in ein eingesunkenes Federkissen halb vergraben; sein linker Arm hing schlaff über das schmale Lager hinab. Toni nahm das Licht vom Tische und beleuchtete ihn. ›Da schaun S' nur, wie er ausschaut. Grauslich. Und mit dem Menschen muß i geh'n!‹ ›Müssen? Warum müssen Sie denn?‹ ›Fragen S' do net so! I bin a arm's Madel. Vielleicht bring' i's no dahin, daß er mi heirat' – wenn er a jünger is als i. Aber gern hab' i'hn net. I hab' nur mein' Lois gern.‹ ›Lois?‹ wiederholte ich ganz gedankenlos. ›Ja, mein' Lois. Aber der will wieder mi net. Amal freilich hat er mi schon woll'n. Er hat mi ganz narrisch gern g'habt – aber jetzt mag' er mi nimmer. Und schau'n S'‹, – sie trat dicht an mich heran und blickte mir ins Gesicht –›schaun S', Sie segn ihm ganz gleich. Drum g'fallen S' mir auch so gut.‹ Sie zog die Oberlippe empor, wie damals, und griff mir mit heißer Hand unter das Kinn. Ich trat einen Schritt zurück, indem ich unwillkürlich an meinen Hals langte. ›No, i beiß' Ihna net!‹ sagte sie halb ärgerlich, halb gutmütig. ›Sein S' net so g'schamig. A Bussel können S' mir schon geben. Ihre Geliebte weiß's ja net.‹ Und schon hatte sie mich auch umschlungen und ihre geöffneten Lippen saugten sich an meinem Munde fest. Nun aber, obgleich von ihr selbst an Seraphine gemahnt, fühlte ich mich durchrieselt. Etwas noch nie Gekanntes, unwiderstehlich Mächtiges trieb mich, den vollen, blühenden Frauenleib zu umfassen, der sich an den meinen drängte. Aber ein ebenso Mächtiges wehrte sich dagegen. Ich trachtete Toni von mir zu zwingen, während ich mit den Augen nach dem schlafenden Neuhauser wies. ›Ach was‹, flüsterte sie, meinen Wink ganz anders deutend. ›Lassen S' den ! Der liegt wie a Toter. Da könnte ma a Kanon' abfeuern, so wacht er net auf Kommen S' nur!‹ – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Als ich bald darauf aus dem Zimmer trat, erfüllte mich öde, dumpfe Trauer. Was ich gegen Seraphine verbrochen, kam mir jetzt gar nicht zum Bewußtsein: ich empfand nur, daß ich etwas Unwiderbringliches verloren hatte.« * * * Ein längeres Schweigen trat ein. »Und was geschah weiter?« fragte ich. »Am nächsten Tage brach bei Seraphine der Scharlach aus. Eine diphtheritische Komplikation trat hinzu. Noch in derselben Woche starb sie, ohne daß ich sie wiedergesehen hätte. Was ich in jenen Tagen gelitten, mit welchen Empfindungen ich an der Seite des weinenden Fritz ihrer Leiche gefolgt bin, damit will ich Sie – und mich verschonen. Genug: ich glaubte damals nicht weiter leben zu können. Aber ich lebte weiter. Und leben heißt vergessen – wenn auch hin und wieder die dunklen Schatten der Vergangenheit auftauchen.« In diesem Augenblick wurde die Tür leicht aufgeklinkt, eine kleine, weiß behandschuhte Hand raffte die Portiere ein wenig zur Seite, und ein schöner, dunkeläugiger Frauenkopf spähte vorsichtig in das Zimmer. Hinter ihm kam in dämmernden Umrissen die Gestalt eines sehr berühmten Porträtmalers zum Vorschein. Als die Dame bemerkte, daß jemand im Zimmer war, ließ sie erschrocken den Vorhang sinken, und die beiden verschwanden lautlos. »Auch ein Sündenfall«, sagte der Hofrat nach einer Pause. »Aber kein erster.« Dann stand er auf, um sich wieder in die Gesellschaft zu begeben. Ich folgte ihm. Fünfter Teil Die Brüder 1. I. »Ich danke sehr – nein wirklich, bemühen Sie sich nicht«, sagte ich, während ich mich auf die Bank vor dem Pächterhause niederließ. »Ich fühle nicht das geringste Bedürfnis, etwas zu mir zu nehmen. Möchte mit Ihrer Erlaubnis nur ein wenig ausruhen und eine Zigarre rauchen. Kann ich Ihnen vielleicht auch – –?« Ich hielt ihm die offene Tasche hin. »Muß nun meinerseits danken. Ich rauche nicht.« »Sie rauchen nicht? Das nimmt mich wunder. Ein Landwirt ohne Pfeife und Tabak ist fast so selten, wie einer ohne Weib und Kind.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als sich auch schon das Gesicht des großen, breitschultrigen Mannes, der in einer abgenützten Lodenjoppe und hohen, die Spuren der Ackerscholle tragenden Stiefeln vor mir stand, schmerzlich verzog und helle Tränen aus seinen blauen, sanftmütigen Augen quollen. »Mein Gott,« sagte ich bestürzt, »hab' ich da vielleicht an etwas gerührt – –« »Ja«, erwiderte er, sein Taschentuch hervorziehend. »Aber es tut nichts. Und wie hätten Sie wissen sollen, daß gerade ich es bin, der sein junges Weib verloren hat. Denn von dem Fall selbst haben Sie bei Ihrem er sten Aufenthalt in dieser Gegend gewiß gehört.« Nun dämmerte es in mir auf. Ja, ich hatte von einer Pächtersfrau gehört, die einen plötzlichen Tod gefunden. Aber einige Jahre waren seither vergangen und meine Erinnerungen nicht mehr zuverlässig. »Ich entsinne mich allerdings«, sagte ich. »Es waren, glaub' ich, seltsame Umstände dabei –« »Ja, sehr seltsame Umstände.« »Ihre Frau ist – erschossen worden«, fuhr ich zögernd fort. »Ja, von meinem Bruder. Eigentlich war es ein Zufall – aber sie ist an meiner Statt gestorben.« »Das ist in der Tat merkwürdig. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß es Sie zu sehr angreift, so würde ich Sie bitten, mir näheres –« »Das will ich gern. Sie haben ja Verständnis für Unglückliche, und ich bin der Fügung dankbar, daß Sie von der Jagd ab und hierher geraten sind. Verwundern Sie sich nicht. Ich bin ja kein ganz ungebildeter Mensch, kein Bauer, wenn Sie mich auch hinter dem Pfluge angetroffen haben. Ich habe immer gern gelesen – und auch in letzter Zeit daran gedacht, wohl oder übel aufzuschreiben, was ich Ihnen jetzt mitteilen soll. Aber ich müßte weit zurückgreifen, müßte Ihnen zeigen, wie mein Bruder seit jeher das Unglück meines Lebens gewesen ist – und das dürfte Sie vielleicht ermüden.« »Gewiß nicht.« »Nun, dann will ich das Gespann nach Hause schicken, es ist morgen auch ein Tag.« Er rief den halbwüchsigen Burschen an, der bei den Zugtieren stand und nunmehr die Pflugschar hob. Während die stattlichen Rinder langsam auf dem feuchten Sturzacker herumgelenkt wurden, ließ sich der Pächter neben mir nieder und blickte in Gedanken nach einem fernen Höhenzuge, der über dunklen, aus dem Waldtal aufragenden Fichtenwipfeln zum Vorschein kam. Die Sonne glänzte noch hoch im wolkenlosen Blau des Herbsthimmels. Schimmernde Gespinste der Wanderarachne schwebten in der klaren Luft, die hin und wieder von fern verhallenden Schüssen durchzittert wurde. Sonst kein Laut. Endlich nahm der Mann das Wort. 2. II. »Unser Vater war ein angesehener Bürger, der in der kleinen Stadt Krumau im Böhmerwalde einen ausgebreiteten, altbewährten Handel mit Honig und Wachs betrieb. Außer einem stattlichen Hause mit einer sogenannten Lebküchlerei besaß er vor der Stadt zwei große Gärten mit Bienenständen und im Umkreise dieser Anlagen eine ergiebige Feldwirtschaft. Als stiller, zurückgezogener Mann hatte er sich erst spät verheiratet und zwar mit einem Mädchen, das gleichfalls nicht mehr sehr jung, aber von ganz außerordentlicher Schönheit war. Sie stammte aus einer Familie, die, obgleich seit Menschengedenken in Krumau ansässig, ihren Ursprung von einem italienischen Einwanderer herleitete. Schon der Name Fossatti ließ das erkennen, und in der späten Enkeltochter war die fremde Rasse wieder mit voller Deutlichkeit zum Durchbruch gekommen. Nicht bloß im Äußeren, das ganz den südlichen Typus aufwies, sondern auch im Temperament und Charakter. Es konnte kaum eine lebhaftere, reizbarere und heftigere Frau geben, als meine Mutter, und sie hat ihrem sanften, zur Ruhe und Bequemlichkeit neigenden Gatten das Leben oft recht schwer gemacht. Auch an Grund zur Eifersucht mochte es anfänglich nicht gefehlt haben. Denn unser Laden vertrat in der Kleinstadt gewissermaßen die Stelle einer Konditorei, der auch männliche Besucher nicht fern blieben; gewiß weit mehr durch die reizvolle Erscheinung der dunkeläugigen Frau angezogen, die den Verkauf leitete, als von den ziemlich derben Süßigkeiten, die mit einem allerdings sehr schmackhaften Met geboten wurden. Das soll keine Anklage sein. Ich bin vielmehr überzeugt, daß meine Mutter die angelobte Treue unverbrüchlich bewahrt hat. Vielleicht nicht ganz ohne Kampf mit ihrem heißen Blute, aber geschützt durch eine andere große Leidenschaft, die sie im Herzen trug und welche ihr sehr bald Sinn und Verständnis für alles übrige benahm. Sie hatte rasch nacheinander drei Kindern das Leben geschenkt. Das erste, ein Mädchen, starb bald nach der Geburt; das zweite war ich – das dritte mein Bruder, der bei der Taufe den Namen Franz Xaver erhielt. Zu diesem Knaben, der, als er das Licht der Welt erblickte, schon ihre Züge trug, faßte unsere Mutter eine an Raserei grenzende Liebe. Sie erdrückte ihn fast mit ihrer Zärtlichkeit, verhätschelte und verzog ihn in jeder Weise, von nun ab eigentlich nur mehr für ihren Xaver lebend. Dieser aber hatte auch ihr heftiges Naturell ererbt, das bei ihm als äußerste kindliche Bosheit zutage trat. Schon in der allerersten Zeit unseres gemeinsamen Aufwachsens hatte ich darunter schwer zu leiden. Kaum, daß er seinen Willen nur einigermaßen frei betätigen konnte, entriß er mir alles, was mein war: jedes Spielzeug, jedes Naschwerk – ja selbst die mir zugemessene Nahrung, obgleich er die seine stets reichlicher und auch, wenn möglich, schmackhafter erhielt. Dabei behandelte er mich als Sklaven. Ich sollte ihm auf den Wink gehorchen, und wenn das nicht sofort geschah, schlug er in sinnloser Wut mit geballten Fäusten auf mich los. In angeborener Gutmütigkeit ließ ich es mir meistens gefallen; auch widerstrebte es mir, meine weit überlegene körperliche Kraft dem zartgebauten, schmächtigen Bruder gegenüber zur Geltung zu bringen. Das aber reizte ihn nur noch mehr. Er überbot sich in seinen Angriffen, und wenn ich ihn dann, zur Abwehr getrieben, mit einer gelinden Tätlichkeit in die Schranken wies, begann er augenblicklich zu heulen und lief zur Mutter mit der Anklage, ich hätte ihn mißhandelt, was mir ihrerseits heftige Schelte und oft genug auch Schläge eintrug. Dann jubelte er schadenfroh. Infolgedessen wurde ich begreiflicherweise immer duldsamer; er aber verachtete mich darob und verspottete meine Furchtsamkeit, wie er mich später auch stets einen Feigling nannte, wenn ich an seinen schlimmen Knabenstreichen nicht teilnehmen wollte. Ließ ich mich manchmal doch dazu herbei, so schob er, wenn wir ertappt wurden, die Schuld der Anstiftung auf mich, und so hatte ich zuletzt stets das Bad auszugießen. Als ich anfing, die Schule zu besuchen, trachtete er, mich durch allerlei Schabernack im Lernen und bei meinen schriftlichen Arbeiten zu stören; sein größtes Vergnügen war, meine Hefte und Bücher zu besudeln oder zu zerreißen. Trotzdem machte ich, da ich fleißig und aufmerksam war, gute Fortschritte, um die er mich, da er sich endlich selbst der Schule bequemen mußte, beneidete. Und dieser Neid steigerte sich allmählich zum Haß. Denn obgleich es ihm keineswegs an Fähigkeiten gebrach, war er doch ein abgesagter Feind alles Lernens. Er blieb vollständig zurück. Auch über sein sonstiges Verhalten hatten die Lehrer stets zu klagen, während ich – leider muß ich es aussprechen – zum Verdruß meiner Mutter die besten Zeugnisse mit nach Hause brachte. Sie aber hatte für meine Erfolge nur düstere Blicke und ärgerliches Schweigen. Auch mein Vater, der jedem Anlaß zu häuslichem Unfrieden ängstlich aus dem Wege ging, wagte es nicht, mich zu loben, und so kam es, da ich, um drohenden Zerwürfnissen vorzubeugen, mein Licht selbst unter dem Scheffel barg. Ich stellte mich allmählich träg, leichtsinnig und unwissend, blieb also auch schließlich in der Klasse weit zurück. Das aber gab ihm plötzlich den Ansporn, mich in seiner zu überflügeln, was ihm jetzt leicht genug gelang – zur großen Freude der Mutter, die mich nunmehr weniger lieblos behandelte, während er, hochmütig und stolz auf seine Siege, mich bei jeder Gelegenheit einen Dummkopf und Faulpelz nannte. Das waren die ersten Güsse des bitteren Trankes, mit dem mir mein Bruder den Kelch des Lebens füllte ... 3. III. Xaver galt also jetzt als der Begabtere, und vielleicht war er es auch, denn an Fähigkeiten fehlte es ihm, wie gesagt, nicht. Er sollte daher, den ehrgeizigen Plänen unserer Mutter gemäß, einer höheren Laufbahn zugeführt werden: er sollte ›studieren‹. Und so faßte man anfänglich das Gymnasium für ihn ins Auge. Dagegen aber sträubte er sich entschieden. Er wollte kein Bücherwurm, kein Kanzleihocker werden – viel lieber Techniker, Ingenieur oder Baumeister. Dieser Wunsch hing mit einer Familientradition zusammen, nach der ein Luigi Fossatti zu Padua ein berühmter Architekt gewesen sein sollte. Diesem nun wollte es Xaver seinerzeit gleichtun. Die Mutter, die keinen anderen Willen kannte, als den seinen, ging sofort lebhaft auf dieses Vorhaben ein, der Vater stimmte wie immer bei, und so sollte Xaver fürs erste die Realschule in Budweis besuchen. Obgleich unser Vater dort einige angesehene Geschäftsfreunde hatte, ja sogar ein näherer Verwandter von uns in dieser Stadt lebte, wollte doch die Mutter ihren Liebling um keinen Preis fremder Fürsorge anvertrauen; sie zog mit ihm nach Budweis, während ich bei dem Vater zurückblieb, um von ihm in das Geschäft eingeführt zu werden, das ich dereinst übernehmen sollte. Begreiflicherweise hatte ich die beiden nicht mit allzu schwerem Herzen ziehen gesehen, und ich glaube, daß auch der Vater meine Empfindungen teilte. Denn obgleich er seine Frau sehr liebte, vor Xaver schien er, gleich mir, eine Art Furcht zu haben. Jedenfalls war ihm das stille, unbehelligte Leben, das wir nun begannen, nicht unwillkommen, und da er keinen Grund mehr hatte, seine Zuneigung zu verbergen, so ließ er mir eine sanfte, gleichmäßige Zärtlichkeit zuteil werden, die mir unendlich wohl tat. Auch die Tätigkeit, der ich mich jetzt hingeben mußte, sagte mir zu. Freilich nicht so ganz die im eigentlichen Geschäft, desto mehr aber jene, welche mit unserer ausgebreiteten Landwirtschaft zusammenhing. Schon früher war es meine liebste Erholung gewesen, mit den Knechten und Mägden auf die Felder hinauszuziehen, zu ackern und zu säen und bei der Ernte Sichel oder Sense zu schwingen. Nun konnte ich gleich mit der Wintersaat beginnen, und wenn auch bald der Winter selbst hereinbrach, so boten mir doch die langen Abende Muße zum Lesen. In unserem Hause gab es einen großen Schrank voll alter Bücher, die niemand ansah. Ich selbst hatte zwar öfter darin gekramt, aber nur Bände hervorgeholt, die Kupfer oder Holzschnitte enthielten. Nun musterte ich alle durch, und wenn mir auch die meisten unverständlich erschienen, so fand sich doch einiges, das mich anzog und fesselte. Außerdem trug ich meine Spargroschen in die einzige Leihbibliothek des Städtchens, die von einem alten Tabakkrämer so nebenher geführt wurde. Da gab es denn, was mich entzückte: Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten. Aber ich stieß auch auf anderes, das in mir, wenn es mir auch nicht gleich behagen wollte, den Sinn für Besseres und einen gewissen Bildungstrieb erweckte. Ich bestimmte meinen Vater, eine damals weitverbreitete belletristische Monatsschrift zu halten, die auch gemeinverständliche wissenschaftliche Abhandlungen brachte. So war ich denn reichlich versorgt und kannte auch im Sommer kein schöneres Vergnügen, als nach getaner Arbeit oder an Sonntagen in einem unserer weitläufigen Gärten zu sitzen, ein Buch in der Hand. Das Glück dieses ruhigen Daseins wurde stellenweise unterbrochen durch das Eintreffen der Mutter und des Bruders. Außer den mehrwöchentlichen Ferien geschah dies regelmäßig zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Xaver benahm sich während seiner Anwesenheit derart, daß ich diesen festtäglichen Zeitpunkten stets mit dem größten Bangen entgegensah. Er fühlte sich jetzt ganz als ›Student‹ und ließ mir die verletzendste Geringschätzung zuteil werden. Besonders in Gegenwart anderer. Er nannte mich dann immer nur den ›jungen Lebküchler‹, und vor gleichaltrigen Mädchen, wenn wir mit solchen zusammen trafen, wurde er nicht müde, mich zu hänseln und in jeder Weise herabzusetzen. Frühreif, wie er war, ging er schon damals dem anderen Geschlechte nach; die Dienstmädchen im Hause wußten davon zu erzählen. Dennoch war er der allgemeine Liebling – und ich selbst konnte ihm eine gewisse Zuneigung nicht versagen. Seine jugendliche Schönheit, sein lebhaftes, wenn auch oft freches Wesen hatten etwas unwiderstehlich Anziehendes. Und er war ja doch mein Bruder! Wenn ich ihn auch begreiflicherweise nicht liebte – die Empfindung, daß uns eine Mutter geboren, wirkte in meinem Innern fort, und wenn er mir je zuweilen ein gutes Wort, einen freundlichen Blick gönnte, war ich fast bereit, alles zu vergeben und zu vergessen. Aber da ereignete sich etwas, das dieses Grundgefühl brüderlicher Zuneigung für immer in mir austilgte. Es war zu Ostern – und er mit der Mutter für drei Tage nach Krumau gekommen. Infolge einer Ausbesserung, die in unserer Wohnung vorgenommen werden mußte, schliefen wir in einer Stube. Sonst war es nicht der Fall gewesen, da er stets ein Zimmer für sich allein verlangte. In einem länglichen, ziemlich schmalen Raume standen unsere Betten; jedes an einer Seitenwand. Auf den Nachttischen hatten wir beide ein großes, mit Wasser gefülltes Glas stehen. Als wir uns zur Ruhe begaben, beliebte es ihm, wieder Unfug zu treiben. Er ergriff sein Glas und schüttete Wasser nach meinem Bette hinüber. Dieses Spiel wiederholte er in kurzen Zwischenpausen, so daß ich mich schon stark durchnäßt fühlte. Ich bat ihn jetzt, doch endlich aufzuhören. Statt dessen goß er das noch halbvolle Glas über mich aus. Darauf erwiderte ich mit einem ärgerlichen Ausruf den Guß, aber nur in geringem Maße. Niemals könnte ich den Ausdruck satanischer Wut vergessen, in der sich sein schönes Antlitz verzerrte. Und schon hatte er sein Glas mit solcher Gewalt nach mir hingeschleudert, daß es hart über meinem Kopf an der Wand zersplitterte. Wäre ich nicht instinktartig unter die Decke geschlüpft, er würde mich schwer verletzt – vielleicht getötet haben. Was ein anderer an meiner Stelle getan haben würde, weiß ich nicht. Mir selbst versagte jeder Laut; ich war wie erstarrt über diese Handlung, die mir den ganzen Abgrund seiner Herzlosigkeit aufdeckte. Er aber blies befriedigt das Licht aus, drehte sich gegen die Wand und schlief ein ... 4. IV. Die Fortschritte, die Xaver in der Realschule machte, waren nur gering. Im ersten Jahre schien er zwar ein fleißiger Schüler zu sein und hatte ein ganz hübsches Zeugnis aufzuweisen. Im zweiten aber ließ er nach – und im dritten versagte er ganz, so daß eine Wiederholung der Klasse in Aussicht stand. Als nun die Ferien zu Ende gingen, erklärte er, er wolle nicht weiter lernen, sondern Soldat werden. Die Lust dazu erwachte in ihm durch den Umstand, daß ein Infanterie-Bataillon nach Krumau in Station gekommen war. Das bunte militärische Treiben, das er täglich vor Augen hatte, das schmucke Äußere der Offiziere und das Ansehen, in dem sie standen, verlockten ihn um so mehr, als der Major und einige Offiziere, die unseren Laden besuchten, an der Erscheinung des lebhaften jungen Menschen – er war eben siebzehn Jahre alt geworden – Gefallen fanden und ihn gewissermaßen aufforderten, als Kadett einzutreten. Obgleich ihm unsere Mutter, wie gesagt, alles zu Willen tat, so widersetzte sie sich doch sehr heftig diesem Vorhaben. Denn wie hätte sie es übers Herz bringen können, ihren Liebling den Fährlichkeiten des Soldatenstandes preiszugeben, auch bebte sie schon vor dem bloßen Gedanken einer möglichen Trennung zurück. Da er aber mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit darauf bestand, und der Major wiederholt den Fürsprecher machte, so willigte sie endlich ein, halbwegs durch die Zusicherung getröstet, daß Xaver vorderhand in Krumau bleibe und höchstens nach Budweis, wo sich der Regimentsstab befand, versetzt werden könne. Der Vater wurde nicht lange gefragt; man nahm seine Zustimmung vorweg. So zeigte sich denn Xaver bald zur Augenweide aller jungen Mädchen in der funkelnden weißen Uniform mit rosenroten Aufschlägen, welcher Anblick auch die Mutter mit der unwillkommenen Berufswahl auszusöhnen schien. Aber auch ich setzte jetzt die Erfüllung eines langegehegten Wunsches durch. Ich durfte einen landwirtschaftlichen Kurs in dem benachbarten Städtchen Hohenfurt durchmachen. Dort stand ich unter der Obhut eines alten kinderlosen Ehepaares, das mich in jeder Hinsicht knapp hielt. Da es mir bloß ums Lernen zu tun war, gab ich mich ganz zufrieden; auch war mir ja überall wohler als daheim ... Als ich nach Ablauf eines Jahres zurückkehrte, traf ich Xaver nicht mehr an. Das Regiment war plötzlich wider alles Vermuten nach Innsbruck versetzt worden. Der Abschied, den die Mutter von ihm genommen, mußte ein herzzerreißender gewesen sein. Noch jetzt fand ich sie in trostloser Verzweiflung, nur an den Entfernten denkend, der ihrer Sehnsucht und Besorgnis nicht oft genug Nachricht geben konnte. Er aber ließ sie immer lange warten, schrieb kurz und flüchtig – meistens nur dann, wenn er Geld brauchte, das ihm natürlich sofort gesendet wurde. So vergingen zwei Jahre, und der Feldzug von 1859 bereitete sich vor. Da kam eines Tages von Xaver die Mitteilung, er sei Offizier geworden. Die Freude der Mutter war unbeschreiblich, und der Vater konnte nicht rasch genug die zur Equipierung nötige Summe abschicken. Bald darauf traf eine Photographie ein, die den jungen Leutnant darstellte. Dieses Konterfei wurde als Heiligtum betrachtet. Die Mutter wollte es gar nicht aus den Händen lassen. Es stand, sorgfältig eingerahmt, tagsüber vor ihr auf dem Tische, des Nachts an ihrem Bette. Jedermann mußte kommen und es bewundern. Aber dieser Jubel dauerte nicht lange, denn der Krieg begann, und Xaver war nach Italien abgezogen. Und nun kamen die von mütterlicher Angst durchtobten Tage und Nächte, die um so qualvoller waren, als Xaver gar keine Nachricht gab – vielleicht nicht geben konnte. So war man auf die zugänglichen Tagesblätter angewiesen, deren Berichte vom Kriegsschauplatze mit Zittern gelesen wurden. Endlich brachten sie die Kunde, daß der Feldzug zu Ende und der Friede geschlossen sei. Und nun schrieb auch Xaver, daß er bei Magenta und Solferino glücklich durchgekommen, Oberleutnant geworden sei und demnächst mit Urlaub zu Hause eintreffen werde. Alles Leid war jetzt vergessen und die Mutter konnte in ihrem Freudentaumel die Stunde des Wiedersehens kaum erwarten. Ich aber – so unnatürlich traurig war ich vom Schicksal gestellt – sah der Ankunft des Bruders mit doppeltem Bangen entgegen ... Ich hatte nämlich eine erste Herzensneigung zu der Tochter eines Kaufmanns gefaßt. Das Mädchen war zu Linz in einem Kloster erzogen worden und befand sich erst seit einem halben Jahre wieder dauernd im elterlichen Hause. Eine anmutige Blondine mit braunen Augen, die fröhlich in die Welt hineinblickten. Sie schien meine Empfindungen zu teilen; auch ihren Eltern, die mit uns näher bekannt waren, konnte eine eheliche Verbindung nicht unwillkommen sein. Wir galten also im Städtchen gewissermaßen als Verlobte, obgleich eine bestimmte Erklärung noch nicht erfolgt war. Und nun sollte mein Bruder kommen! Ich hatte sofort die Überzeugung, daß er mir das Mädchen entfremden – daß er es zu sich hinüberziehen werde. So geschah es. Kaum war er da, so hatte auch Hedwig kein Auge mehr für mich: es war, als hätte sie nur darauf gewartet, sich ihm in die Arme zu werfen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß sich zwischen den beiden ein Liebesverhältnis entspann, das ich insofern begünstigte, als ich mich mit dem bitteren Gefühl, gegen Xaver nicht aufkommen zu können, schweigend zurückgezogen hatte; auch schien den Eltern, die ziemlich wohlhabend waren, der glänzende Offizier als Eidam erwünschter zu sein, als der – Bauer, wie er mich jetzt nannte. Xaver hatte einen achtwöchentlichen Urlaub, der ihm auf sein Ansuchen um vierzehn Tage verlängert wurde. Endlich rückte die Zeit des Abschiedes heran. Da trat er eines Tages – ich war gerade von unseren Feldern nach Hause gekommen – in mein Zimmer. ›Nun,‹ sagte er ohne jede Einleitung, ›wann wirst du denn die Hedwig heiraten?‹ ›Ich?‹ erwiderte ich erstaunt. ›Ja, du. Du bist doch mit ihr verlobt.‹ ›Das war ich nie. Und wenn ich es auch gewesen wäre, so bist ja jetzt du –‹ ›Nun ja, ich hab' sie gern. Aber heiraten werd' ich sie nicht.‹ ›Warum denn nicht?‹ ›Ach was! Als Offizier – und so ein Mädel! Der Alte könnte zwar die Kaution hergeben. Aber es fällt mir nicht ein, so früh ins Joch zu kriechen.‹ ›Nun, das ist deine Sache‹, sagte ich und wollte das Gespräch abbrechen. ›Allerdings ist es meine Sache‹, fuhr er aufbrausend fort. ›Aber die Hedwig kann nicht so allein bleiben. Sie muß heiraten – und das bald.‹ Nun war mir alles klar. Er hatte Hedwig verführt – und ich sollte die Folgen auf mich nehmen! Die Ungeheuerlichkeit dieser Zumutung traf mich wie ein Keulenschlag vor die Stirn. Ich fand kein Wort der Erwiderung. Endlich hatte ich mich soweit gefaßt, daß ich sagen konnte: ›Darauf geb' ich gar keine Antwort.‹ ›Brauchst auch keine zu geben. Triff nur deine Anstalten, Hedwig ist ganz einverstanden.‹ Jetzt hatte ich auch die Erklärung für das rätselhafte Benehmen des Mädchens, das in letzter Zeit, gewiß auf seine Veranlassung, jede Gelegenheit benützt hatte, sich mir mit einschmeichelnder Freundlichkeit wieder zu nähern. Ein Abgrund tat sich vor mir auf Elender! wollte ich ausrufen – aber ich bezwang mich. Denn ich wußte: mit Heftigkeit war ihm gegenüber nichts auszurichten. Ich sagte daher, indem ich mich von ihm abwandte, mit möglichster Ruhe: ›Du begreifst, daß von dem allen zwischen uns nicht mehr die Rede sein kann.‹ ›Oho!‹ schrie er: ›Sträube dich nicht, es nützt dir nichts. Ich habe bereits die Sache mit unserer Mutter durchgesprochen. Du wirst Hedwig heiraten – und damit basta!‹ Er verließ das Zimmer, die Tür hinter sich zuwerfend. Als ich allein war, sank mir der Mut. Ich erkannte, daß sich da ein Netz über mich zusammengezogen hatte, dem ich nur durch einen Gewaltstreich entrinnen konnte. Welche verzweifelten Kämpfe standen mir jetzt bevor! Je länger ich darüber nachdachte, desto wehrloser fühlte ich mich .... Da geschah es, daß wir in der Nacht durch Feuerlärm geweckt wurden. Es brannte im oberen Stadtteil, wo sich das Haus des Kaufmanns befand. Dort war auch das Feuer ausgebrochen; im Magazin eingelagerter Spiritus hatte sich entzündet. So wurde das Gebäude von unten hinauf ergriffen und die Inwohner befanden sich in der entsetzlichsten Lage. Dennoch gelang es, sie zu retten. Hedwig aber, die aus ihrem Zimmer über eine schmale, bereits glimmende Holztreppe flüchten wollte, verlor, von der Glut umqualmt, die Besinnung, stürzte und erlitt schwere Brandwunden, denen sie schon am nächsten Morgen erlag. ›Schad' um das Mädel‹, sagte Xaver zu mir. ›Aber sei froh! Du brauchst sie jetzt nicht mehr zu heiraten.‹ 5. V. Rücksichtsloser Egoismus war der Grundzug seines Wesens. Aber er verband damit Eigenschaften, die nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst verderblich wurden. Er war im höchsten Grade leichtsinnig, und sein Hang zu ausschweifendem Wohlleben kannte keine Grenzen. Budapest, wo jetzt sein Regiment lag, bot ihm alle Gelegenheit, sich die Zügel schießen zu lassen. Es war unglaublich, welche Summen er dort im Laufe zweier Jahre verausgabte. Nun waren wir allerdings wohlhabend, jedoch nur in schlicht bürgerlichem Sinne. Ein Sohn, der verschwenderisch in den Tag hineinlebte, mußte die Familie zugrunde richten. Das Gesicht unseres Vaters, der zu kränkeln begonnen hatte, wurde immer sorgenvoller – schließlich erklärte er, sich zu weiteren Leistungen nicht mehr herbeilassen zu können. Da berief sich die Mutter auf das Vermögen, das sie mitgebracht. Mein sie vergaß, wie geringfügig dieses gewesen, und daß es, wenn sie es mit Hinweis auf Xaver in Anschlag brachte, längst verausgabt war. Zudem kam noch, daß sich im Laufe der Zeit und ihrer Wandlungen ein allmählicher Niedergang unserer Verhältnisse bemerkbar gemacht hatte. Vor allem im Handelsgeschäft, das einst unter unseren Vorfahren den Wohlstand des Hauses begründet hatte. Der Begehr nach Wachs und Honig wurde immer geringer; auch unser Laden war inzwischen wirklich durch den eines Zuckerbäckers in den Schatten gestellt worden, daher sich unser Vater entschloß, das wenig einträgliche Gewerbe einem Mieter abzutreten. Wir waren also jetzt hauptsächlich auf unsere Liegenschaften angewiesen, die sich allerdings noch sehr ergiebig zu erweisen schienen. Als aber der Vater plötzlich starb, da zeigte sich, daß er, was ich bereits geahnt, schon längst gezwungen war, Geld auszunehmen, so zwar, daß er damit unseren ganzen Besitzstand schwer belastet – oder eigentlich überlastet hatte. Diesen durch pünktliche Verzinsung aufrecht zu erhalten, war jetzt im Einverständnisse mit unseren im allgemeinen nachsichtigen Gläubigern meine Aufgabe, an die ich mit redlichem Eifer ging, indem ich fürs erste alle Ausgaben auf das Notwendigste einschränkte. Mein Bruder, der, wie er mitteilte, diensteshalber bei dem Leichenbegängnisse nicht erscheinen konnte, erkundigte sich gleichwohl sofort nach seinem Erbteil. Der gerichtliche Bescheid, den er erhielt, tat ihm kund, daß er nicht das Geringste zu erwarten habe. Dennoch änderte er seine Lebensweise nicht, und da er kein Geld bekam, machte er Schulden, deren Zahlung er auf mich und die Mutter anweisen ließ. Um ihn nicht ins Verderben zu stürzen, geschah das Möglichste. Aber es nützte nichts. Eines Tages schrieb er, er habe gespielt – und ihm anvertraute Regimentsgelder verspielt. Wenn er nicht binnen achtundvierzig Stunden fünfhundert Gulden erhalte, sei er verloren – und es bleibe ihm nichts übrig, als sich zu erschießen. Das Geld hätte also sofort abgesendet werden müssen. Aber woher es nehmen? Zu erborgen war es in so kurzer Zeit nicht. Man kannte in der ganzen Stadt unsere Verhältnisse und war überall rückhältig und schwierig geworden. Die Mutter wußte jedoch, daß bei mir eine größere Summe in Bereitschaft lag. Es war der Zinsenbetrag für einen übelwollenden Gläubiger, der unserem Vater auf zwei große, für uns sehr wertvolle Grundstücke ein bedeutendes Darlehen gegeben hatte. Ich wußte: des Mannes Sinn stand nach den Grundstücken; erhielt er die Zinsen nicht am bestimmten Tage, so kündigte er das Kapital und verlangte die Feilbietung. Ich weigerte mich daher, das Depot anzugreifen. ›Willst du deinen Bruder morden?‹ rief die Mutter aus. ›Und auch mich? Denn das wisse nur: ich folge ihm nach!‹ Konnte ich anders? Ich sandte an Xaver die verlangte Summe. Was aber tat der Unselige? Er setzte sich damit noch in zwölfter Stunde an den Spieltisch – und verlor alles. So verfiel er seinem Schicksal. Er erschoß sich zwar nicht – aber er wurde kassiert und zu zweijähriger Festungshaft in Komorn verurteilt. Als die Mutter davon Kunde erhielt, fiel sie, wie ein gefällter Stamm, der Länge nach zu Boden. Der Schlag hatte sie gerührt. Sie erholte sich zwar wieder, aber sie blieb gelähmt. – Noch größeres Leid stand ihr bevor. Denn in ihrer allverzeihenden Liebe hatte sie sich früher, als man geglaubt hätte, mit den Ereignissen ausgesöhnt. Lebte doch Xaver! Was lag daran, daß er seine Charge verloren, daß er nunmehr vor der Welt entehrt dastand? Wenn er nur in zwei Jahren in ihre Arme zurückkehrte! Diese Erwartung, diese Zuversicht sprach aus ihrem schönen, jetzt schon durchfurchten Antlitz, leuchtete aus ihren dunklen Augen, wenn sie tagsüber regungslos im Lehnstuhle saß. Obgeich sie nie davon sprach, wußte ich doch, daß sie die Monde, Wochen, Tage und Stunden zählte. Wie vernichtend mußte es für sie gewesen sein, als sie endlich erfuhr, was ihr so lange wie möglich verschwiegen wurde! Xaver war mit einem anderen Sträfling, einem ehemaligen Geniehauptmann, der sich große Unterschleife hatte zuschulden kommen lassen, in einer stürmischen Spätherbstnacht aus der Festung entwichen. Trotz aller Bemühungen konnte man ihrer, da die Entweichung erst am nächsten Tage bemerkt wurde, nicht mehr habhaft werden. Es mußte den Flüchtlingen, so nahm man an, gelungen sein, in die Türkei zu entkommen. Ein furchtbares, markerschütterndes Stöhnen drang aus der Brust der unglückseligen Frau. Dann aber verstummte sie. Auch in den nächsten Tagen kam kein Laut über ihre Lippen, sie verschmähte Trank und Speise – bis sie endlich nach und nach das Dasein wieder aufnahm, in der erwachenden, nie sich erfüllenden Hoffnung, doch noch etwas von Xaver zu vernehmen. Ich, ihr erstgeborener Sohn, dessen Anblick, das fühlte ich, ihre Qualen verdoppelte, konnte ermessen, was in ihr vorging. So duldete sie noch drei Jahre. Dann fand man sie eines Morgens entseelt in ihrem Bette.« 6. VI. Der Pächter tat einen tiefen Atemzug und schwieg. Nach einer Weile fuhr er fort: »Schon während des letzten Lebensjahres der Mutter hatte ich unser Hauswesen nur mit äußerster Anstrengung aufrecht erhalten können. Die beiden bedeutenden Grundstücke waren natürlich schon damals unter den Hammer gekommen. Da nun schon der Anfang gemacht war, so folgten nach und nach auch die anderen Gläubiger dem Beispiel, unbekümmert darum, daß sie doch ihre Zinsen regelmäßig erhielten. So blieb uns zuletzt nichts als das Haus mit dem vermieteten Geschäft – und einige nicht sehr ergiebige Felder, aus denen ich zur Not unseren Lebensunterhalt herausschlug. Aber auch das war eigentlich unser Eigentum nicht mehr; ein wohlhabender Bäcker konnte jeden Tag davon Besitz ergreifen. Es erwies sich als gutmütiger Mann, und solange die Mutter lebte, verzichtete er darauf. Jetzt aber machte er seine Ansprüche geltend, indem er zu mir sagte: ›Seht, Herr Petzold, was nützt Euch der Rest, da ja doch alles andere verloren ist. Ihr verblutet Euch nur daran. Aber ich will Euch in anderer Weise unter die Arme greifen. Ein Bruder von mir, das wißt Ihr, ist Gutsinspektor auf einer Herrschaft in Mähren. Dort will man einen kleinen, aber recht ergiebigen Hof, seiner stark exponierten Lage wegen, verpachten. Doch nicht an den Nächstbesten, man sucht einen vertrauenswürdigen Mann. Als solchen kenne ich Euch – zudem seid Ihr ein ganz tüchtiger Ökonom, wenn Ihr auch unter fatalen Verhältnissen nicht habt aufkommen können. Reist also hin und seht Euch den Hof an. Gefällt er Euch, und glaubt Ihr, dort wirtschaften zu können, so will ich Euch gegen mäßige Verzinsung so viel vorstrecken, als Ihr braucht, um die ersten Anschaffungen zu machen und für ein paar Jahre hinaus mit dem Pachtschilling gedeckt zu sein.‹ Freudigen Herzens nahm ich das Anerbieten an. Wäre die Mutter nicht gewesen, für die mir zu sorgen oblag, ich würde mich schon längst nach einer Stelle umgesehen haben – und hätte ich mich irgendwo als Schaffer verdingen müssen. Nun aber war mir die unverhoffte Gelegenheit geboten, ein neues Heim zu gründen – und zwar nicht für mich allein. Das hing so zusammen. Unser Laden hatte im Laufe der Jahre wiederholt die Mieter gewechselt. Zuletzt war eine Frau an die Reihe gekommen, die Witwe eines Lebküchlers aus Hohenfurt, der dort mit seinem Geschäft zugrunde gegangen war; die Frau aber wollte sich mit Hilfe eines bewährten Altgesellen, der die Ware auf den Jahrmärkten vertreiben sollte, in Krumau wieder aufbringen. Sie hatte auch ein junges Mädchen mitgebracht. Ein zartes, schlankes Geschöpf mit mattbraunen Haaren, das als Verkäuferin hinter dem Ladentische saß und dabei mit Nähen von Weißzeug beschäftigt war, denn es kamen nicht allzu viele Kunden. In ihrem feinen blassen Gesichtchen lag eine stille Traurigkeit, die mich eigentümlich anzog, so daß ich, so oft ich vorüberkam, in den Laden spähte, um sie zu sehen. Zuweilen trat ich auch unter irgend einem Vorwand hinein, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln und den sanften Klang ihrer Stimme zu vernehmen. Als dies wieder einmal geschah, fand ich das Mädchen wie gewöhnlich allein und bemerkte, daß die Lider ihrer großen hellgrauen Augen feucht und gerötet waren. ›Sie haben ja geweint‹, sagte ich. Statt aller Antwort brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus. ›Mein Gott, was haben Sie denn?‹ ›Ich muß fort‹, erwiderte sie tonlos. ›Fort? Weshalb denn?‹ ›Die Frau will mich nicht länger behalten, weil ich nicht genug verkaufe. Kann ich dafür, daß die Leute so wenig Lebkuchen essen und keinen Met trinken wollen?‹ ›Gewiß nicht ... Aber sind Sie denn so gerne hier, daß Sie – –‹ ›Gerne? O nein! Die Frau hat mich immer schlecht behandelt. Sie gibt mir auch keinen Lohn, nur das bißchen Lebensunterhalt. Selbst von dem, was ich mir da mit Nähen verdiene, muß ich ihr die Hälfte ablassen. Aber ich bin doch irgendwo zu Hause. Und nun soll ich fort – und weiß nicht wohin.‹ ›Haben Sie denn niemanden – –‹ ›Nein. Ich bin eine Waise und stehe ganz allein.‹ Sie blickte vor sich hin wie ins Leere, in ihrer ganzen Erscheinung ein Bild verzweifelter Hilflosigkeit, die mir das Herz zerschnitt. ›Sie sind aus Hohenfurt – nicht wahr?‹ ›Ja. Aber dorthin zurück gehe ich nicht mehr – eher in den Tod!‹ Ihre Miene drückte eine solche Seelenangst, solches Entsetzen aus, daß mir jede weitere Frage auf den Lippen erstarb. Aber eine plötzliche Eingebung erfaßte mich. ›Verzweifeln Sie nicht‹, sagte ich nach einigem Besinnen. ›Vielleicht kann ich Ihnen helfen.‹ Sie faltete die Hände und sah mich mit erwartungsvollem Flehen an. ›O, wenn Sie das könnten!‹ ›Sie dürften wohl wissen,‹ fuhr ich fort, ›daß ich eine kranke Mutter habe. Seit einiger Zeit ist sie vollständig gelähmt und daher besonderer Pflege und Wartung bedürftig. Die Personen, die bis jetzt neben unserer alten Hausmagd damit betraut waren, haben sich teils ungeschickt, teils unzuverlässig erwiesen. Wie wäre es, wenn Sie? – – Aber freilich, es ist ein anstrengender, aufreibender Dienst‹, setzte ich mit einem unwillkürlichen Blick auf ihren schmächtigen Körper hinzu. ›O, ich bin nicht so schwach, wie ich aussehe‹, sagte sie rasch. ›Ich muß ja hier auch morgens und abends die Dienste einer Magd verrichten. Und in der Krankenpflege bin ich erfahren. Meine arme Mutter hatte ein schweres Gichtleiden und konnte vor ihrem Tode ein Jahr hindurch gar nicht mehr vom Bett aufstehen. Ich war ganz allein um sie – und dabei mußte ich noch für alles andere sorgen. Nehmen Sie mich nur, Sie werden zufrieden sein.‹ So traf Johanna – das war ihr Name – schon in den nächsten Tagen mit einem kleinen Koffer, der ihre wenigen Habseligkeiten enthielt, bei uns ein. Unsere alte Margaret betrachtete sie mit Mißtrauen, meine Mutter mit sichtlichem Widerwillen. Bald jedoch zeigte sich, welch einen Schatz von Sorgfalt, Hingebung und Umsicht wir an ihr gewonnen hatten, so daß die Kranke gezwungen war, ihre innere Abneigung zu verhehlen. Mir aber war jetzt in unserer öden, traurigen Häuslichkeit ein Lichtstrahl aufgegangen, der immer heller leuchtete, und von Tag zu Tag wuchs meine Neigung zu dem stillen, sanften Mädchen, das gleich mir schon früh das Unglück des Lebens kennen gelernt hatte. Sie war, wie ich nun von ihr selbst erfuhr, als uneheliches Kind geboren worden. Ihre Mutter hatte sich als Witwe eines untergeordneten städtischen Beamten, mit dem sie in kinderloser Ehe gelebt, noch in späteren Jahren vergangen und wurde infolgedessen von allen Verwandten und Bekannten in Acht und Bann getan. Sie ergab sich in ihr Los und fristete, da man ihr selbst die geringfügige Pension entzogen hatte, unter den dürftigsten Umständen sich und ihrem Kinde das Leben. Die Kleine aber hatte schon in der Schule die Härte und Grausamkeit der Lehrer, den Hohn und die Verachtung der Mitschülerinnen – und als sie heranwuchs, jede Pein weiblicher Armut zu erdulden. Sie nähte mit ihrer Mutter Weißzeug für die Leute. Aber auch da machte sich der Fluch ihrer Geburt für beide geltend. Denn verfemt, wie sie waren, konnten sie nur Arbeit erhalten, wenn sie diese um einen Spottpreis herstellten. Dadurch aber erregten sie Haß und Verfolgung bei anderen Näherinnen, die sich in ihrem Gewerbe beeinträchtigt sahen. Als die Mutter erkrankte und die Tochter sie betreuen mußte, stand der Hungertod vor der Tür. Was blieb übrig, als um Erbarmen zu flehen – und bei mütterlichen Anverwandten zu betteln. Welche Abweisungen, welche Erniedrigungen hatte sie da erfahren! Zuletzt noch, als die Mutter schon auf dem Sterbebette lag, einen schändlichen Antrag – fast eine Gewalttat, der sie sich nur mit Aufgebot ihrer ganzen jungfräulichen Kraft hatte entringen können. O, nun wußte ich, warum sie lieber in den Tod gehen, als nach Hohenfurt zurückkehren wollte! Doch nun fühlte ich auch, daß wir für einander bestimmt waren. Und als wir beide allein an der Leiche meiner Mutter standen, und Johanna mit gesenktem Haupt leise fragte, was jetzt mit ihr geschehen würde, breitete ich die Arme aus und schloß sie an die Brust. Im Frühling zog sie mit mir als mein Weib da herauf. 7. VII. Mein Bruder war verschollen. Obgleich ich wußte, daß er meiner Mutter Tag und Nacht im Sinne lag, hatte ich seiner doch immer weniger gedacht – und im ersten Jahre meines Glückes hatte ich ihn vergessen. Dann aber tauchte seltsamerweise die Erinnerung an ihn ganz plötzlich wieder in mir auf. Was war aus ihm geworden? Wo mochte er weilen? Diese Fragen begannen mich öfter und eindringlicher zu beschäftigen, und bei dem Gedanken, daß er eines Tages zurückkehren könnte, schnürte sich mir die Brust zusammen. Aber es gab ja gar keinen Anlaß zu solcher Befürchtung, und so suchte ich den gespenstischen Schatten immer wieder zu verscheuchen. Eines Abends – es war im Juni, und das Korn fing schon zu reifen an – saßen wir, Johanna und ich, auf dieser Bank. Wir hatten eben Milch und Brot eingenommen und blickten, die Hände ineinander gelegt, nach der untergehenden Sonne, deren letzte Strahlen den Waldrand vergoldeten. Da zeigte sich dort unten, den ansteigenden Feldrain betretend, eine männliche Gestalt in städtischer Sommertracht, einen hellen Hut auf dem Kopfe. Das ist Xaver! zuckte es in mir auf. Und er war es, der jetzt, Plaid und Reisetasche am geschulterten Stock tragend, emporschritt und bestäubt und sichtlich erschöpft auf uns zukam. ›Da ist ja endlich die Kaluppe!‹ rief er mit heiserer Stimme. ›Dachte schon, sie läge am Ende der Welt.‹ Damit ließ er seine Bürde zu Boden fallen und setzte sich auf die Bank, von der wir uns erhoben hatten. ›Na, was siehst du mich denn so an?‹ fuhr er gegen mich gewendet fort. ›Du wirst mich wohl noch kennen?‹ Ich vermochte nichts zu erwidern. ›Scheinst nicht sehr erfreut zu sein. Gleichviel. Ich bin nun einmal da. Und das ist wohl die Frau Schwägerin?‹ Er betrachtete die schlanke, hier oben zu zarter und lieblicher Fülle gediehene Gestalt Johannas mit jenem frech begehrlichen Blick, der ihm, Mädchen und jungen Frauen gegenüber, seit jeher eigen gewesen. ›Kein übler Geschmack. Aber gebt mir zu trinken! Die Zunge klebt mir am Gaumen. Wein mit Wasser. Ihr habt doch Wein?‹ Er sah mißtrauisch nach der Milchschüssel hin, die noch auf dem Tische stand. Wir hatten ein paar Flaschen im Keller, obgleich wir niemals davon tranken. Johanna ging ins Haus. Er folgte ihr mit den Augen. Dann blickte er in der Dämmerung um sich. ›Ihr lebt da von aller Welt abgeschieden. Das ist mir gerade recht. Aber du hast keine Lust, zu reden. Auch gut.‹ Er zog ein Tabaketui hervor und begann eine Zigarette zu drehen. Ich hatte mich einigermaßen gefaßt und betrachtete ihn, wie er so dasaß. Trotz feiner Kleider und einer goldenen Uhrkette an der Weste, sah er herabgekommen aus. In seinem Antlitz machte sich ein fremder, finsterer Zug geltend, den ein langer dunkler Bart noch schärfer hervorhob. ›Woher kommst du?‹ fragte ich jetzt. ›Woher? Von überall und nirgends. Zuletzt allerdings von Wien. Dort habe ich jemanden nach Krumau schreiben und Erkundigungen einziehen lassen – sonst könntest du dich wundern, daß ich dich so ohne weiteres aufgefunden habe.‹ ›Und was willst du hier?‹ ›Was ich will? Dableiben will ich. Denn hier vermutet mich niemand.‹ Johanna war mit Wein erschienen. Hinter ihr brachte die alte Margaret, die wir mit uns heraufgenommen, Wasser und einen Teller mit Brot und Butter. Als Xaver sie erblickte, rief er aus: ›Was! Die ist auch da! Das nenn' ich patriarchalisch!‹ Margaret aber trat ihm mit gefalteten Händen näher und sah ihm forschend ins Gesicht. ›Mein Gott, Herr Xaver, so seid Ihr es wirklich? Wenn das die Frau Mutter noch – –‹ Sie brach in Tränen aus. ›Plärr' nicht!‹ herrschte er sie an. ›Davon bin ich kein Freund.‹ Er mischte sich den Wein und leerte rasch nacheinander ein paar Gläser. Den Teller schob er zurück. ›Gegessen hab' ich schon,‹ sagte er gähnend, ›unten im Markt. Aber ich bin hundemüd' und möchte schlafen. Es gibt doch ein Zimmer für mich?‹ Es gab eines, das schon früher immer als Gaststube gegolten. Auch wir hatten ein Bett hineinstellen lassen. Ratlos, wie ich noch immer war, erteilte ich Margaret den Auftrag, ihn hinzuführen. ›Also komm, alte Wetterhexe!‹ sagte er. ›Nimm dort die Sachen auf! Gute Nacht, schöne Schwägerin. Auf Wiedersehen morgen. Wir wollen gute Freunde werden. Eine Flasche könnt ihr mir noch bringen lassen!‹ Er ging und wir blieben allein in der Dunkelheit zurück, die inzwischen hereingebrochen war. ›Das also ist dein Bruder?‹ sagte Johanna tonlos, nachdem wir beide lange geschwiegen. Ich bejahte stumm. ›Ein entsetzlicher Mensch.‹ Sie schauderte. ›Das ist er. Allem Anscheine nach wird er verfolgt und will sich hier verbergen.‹ ›Mein Gott! Was werden wir da tun?‹ ›Das weiß ich nicht. Aber er muß fort – und wenn es zum äußersten käme.‹ Sie sah mich angstvoll an. Dann gingen wir ins Haus, wo wir eine schlaflose Nacht zubrachten. 8. VIII. Am nächsten Morgen hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich setzte mich hin und schrieb eine Anzeige an das Bezirksgericht, daß mein Bruder Franz Xaver Petzold, der im Jahre 1863 aus der Festungshaft in Komorn entwichen war, sich seit gestern abend bei mir befinde. Dann siegelte ich das Papier ein und steckte es zu mir. ›So,‹ sagte ich zu Johanna, die totenblaß aussah, ›jetzt gehe ich zu ihm hinüber und werde ihn auffordern, unser Haus zu verlassen.‹ ›Er wird es nicht tun.‹ ›Das glaube ich auch. Aber dann werde ich ihm sagen, daß ich ihn anzeigen muß.‹ ›Das willst du ihm sagen!‹ rief sie. ›Ich lasse ihm die Wahl. Ihn ohne weiteres anzuzeigen, wie ich eigentlich sollte, geht trotz allem, was er mir angetan, wider mein Gefühl.‹ ›Du bist gut‹, sagte sie. ›Er aber – – Nimm dich in acht! Er ist zu allem fähig.‹ ›Ich weiß es und bin daher auch auf alles gefaßt. Du kannst einstweilen unserem Knecht den Auftrag geben, daß er sich zu einem Gang nach dem Marktflecken bereit halte.‹ Sie sah mich mit ihren schimmernden Augen in stummer Seelenangst an. Dann warf sie sich an meine Brust und umschlang mich mit beiden Armen. ›Geh' nicht!‹ flehte sie. Ich machte mich mit sanfter Gewalt los und strich mit der Hand über ihren braunen Scheitel. ›Beruhige dich. Es geschieht nur, was geschehen muß. Er hat mich immer schwach und hilflos wie ein Kind gesehen. Nun aber zwingt mich das Schicksal, ihm als Mann gegenüberzutreten – und er wird ihn an mir finden.‹ Mit diesem Gefühl suchte ich das Zimmer im Hinterhause auf, wo sich mein Bruder befand. Der kurze Seitengang, der dahin führt, ist um einige Stufen erhöht. Das Zimmer selbst hat zwei Fenster. Ein größeres, dem Hofe zu; ein kleineres, das mit einem Vorhang verhüllt war, geht nahe der Tür auf den Gang hinaus. Als ich bei Xaver eintrat, lag er noch im Bett und rauchte eine Zigarette. Neben ihm auf dem Tisch stand eine Tasse mit schwarzem Kaffee, den ihm Margaret auf sein Geheiß bereitet hatte. ›Ah, du bist's‹, rief er mir entgegen. ›Da kannst du gleich von mir hören, daß das Bett miserabel ist, ihr müßt das Zeug umtauschen.‹ ›Das wird nicht mehr notwendig sein‹, erwiderte ich. ›Wieso nicht notwendig?‹ ›Weil du nicht mehr hier schlafen wirst.‹ Er runzelte die Brauen. ›Warum nicht?‹ ›Weil du wohl selbst einsehen wirst, daß ich dich nicht länger beherbergen kann.‹ Er hatte sich im Bett aufgesetzt und betrachtete mich mit einem bösen Blick. ›Was soll das alles heißen? Warum kannst du mich nicht länger beherbergen?‹ ›Weil du ein Flüchtling bist, und ich mich nicht der Gefahr aussetzen kann, daß man dich hier findet.‹ ›Immer der alte Feigling!‹ sagte er verächtlich. ›Und was wäre denn dabei, wenn man dich auch einmal für ein paar Monate hinter Schloß und Riegel setzte? – Aber wer soll mich denn finden? Glaubst du, ich habe den Leuten in Ägypten auf die Nase gebunden, daß in Österreich ein Bruder von mir lebt? Ich heiße schon lange nicht mehr Petzold.‹ Er war aufgestanden und langte nach seinen Kleidern. ›Du kommst also aus Ägypten –‹ ›Ja, von dorther komme ich‹, erwiderte er, während er die Schuhe anzog. ›Aber auf Umwegen über Marseille, wo ich glücklich durchgewischt bin. Du siehst also, daß mich niemand hier suchen wird. Denn an die Festungsgeschichte denkt kein Mensch mehr.‹ ›Aber ich denke daran‹, sagte ich. ›Und es verträgt sich nicht mit meinem Gewissen, dir Aufenthalt zu gewähren.‹ ›Mit deinem Gewissen!‹ höhnte er. ›Ich kümmre mich den Teufel um dein Gewissen. Ich bleibe jetzt da, bis ich anderwärts Luft kriege.‹ ›Und wenn ich dich anzeige?‹ Er verfärbte sich. Aber wie ich sehr wohl erkannte, nicht vor Schreck, sondern aus Zorn darüber, daß ich ein solches Wort auszusprechen wagte. ›Anzeigen willst du mich, du Memme? Sag' das noch einmal!‹ ›Ich sage es nicht, ich werde es tun!‹ Es war, als wollte er auf mich losstürzen. Aber in seiner Art, mich für nichts zu achten, wandte er sich mit einer Gebärde der Geringschätzung ab. ›Lächerlich!‹ sagte er. ›Du wirst es nicht lächerlich finden, wenn man dich in zwei Stunden verhaftet. Die Anzeige – ich wies sie ihm – ist schon geschrieben, und der Knecht wartet, der sie zu Gericht bringen soll.‹ Nun merkte er, daß es Erust werde. Sein Antlitz verzerrte sich wie damals, als er das Glas nach mir geschleudert hatte. Rasch trat er auf seinen Reisesack zu, der offen auf einem Stuhl lag, und riß ein Doppelterzerol daraus hervor. Beide Hähne knackten. ›Wenn du mich anzeigen willst, muß ich dich niederschießen wie einen Hund!‹ knirschte er, bebend vor Wut. In diesem Augenblicke glaubte ich draußen leise Schritte zu vernehmen. Die Situation jedoch war derart, daß ich sie nicht beachten konnte. Ich fühlte, daß er schießen werde. Nur wenn ich mich sofort auf ihn warf, konnte ich es verhindern. Ich tat es. Aber er hatte auch schon losgedrückt. Der Knall ertönte, die Kugel pfiff und schlug durch die Scheiben des Fensters nächst der Tür. In dem atemlosen Ringkampf, der jetzt entstand, entlud sich der zweite Lauf gegen den Boden. Nun schleuderte ich Xaver von mir, daß er bis an das Bett zurücktaumelte. ›Dein Glück!‹ rief ich ihm zu. ›Sonst wärest du dem Henker verfallen!‹ Ich öffnete die Tür, trat hinaus – und erstarrte. Unter dem Fenster lag mein Weib mit blutender Stirn. Unser Knecht war über sie gebeugt. ›Da seht nur her‹, stammelte er. ›Die Frau hatte Angst um Euch – sie wollte am Fenster horchen – da kam die Kugel – Jesus Maria!‹ Was soll ich Ihnen weiter sagen – sie war tot ......« * * * »Und Ihr Bruder?« fragte ich jetzt. »Mein Bruder lebt – im Kerker. Aber er wird wieder frei werden. Wer weiß, was mir noch von ihm bevorsteht. Denn das Kapital, das mir der Bäcker in Krumau vorgestreckt hat, ist noch lange nicht abgezahlt. Und ich möchte keine Schuld zurücklassen, wenn ich aus der Welt gehe.« Die Parzen 1. I. In einer jener ausgedehnten, entlegenen Straßen, die sich, früher zur »Vorstadt« gehörend, im Laufe der Jahre so unbeträchtlich verändert haben, daß sich darin noch heute fast alles so ausnimmt wie in meiner Jugend, befand sich bis ins letzte Dezennium hinein ein Kaffeehaus, das ich im Winter 1854 täglich zu besuchen pflegte. Denn ich versah damals den Dienst eines Aufsichtsoffiziers im Garnisonsspital Nr. 2 und war auf dieses Lokal angewiesen, das sich schon zu jener Zeit höchst unvorteilhaft von den einladenden Interieurs anderer Wiener Kaffeehäuser unterschied. Die niedrig gewölbten Räume waren bis zur Unkenntlichkeit der einst lichtgrün gewesenen Tapeten verräuchert, die altmodischen Tische wackelten, und dem abgenützten Nohrgeflecht der Stühle drohte der Durchbruch. Zwei plumpe Billards, wahre Ungetüme, standen mehr im Wege, als daß sie benützt wurden; zog man aber doch hin und wieder die krummen Kugelstäbe aus der Lade, schepperten sie bedenklich. Zudem waren die dargereichten Getränke keineswegs von besonderem Wohlgeschmack, und da auch Beleuchtung und Beheizung zu wünschen übrig ließen, so erschien, namentlich im Winter, die übliche Bezeichnung »das kalte Kaffeehaus« nur zu gerechtfertigt. Infolgedessen war auch der Besuch ein geringer. Mit Ausnahme einiger alter bürgerlicher Stammgäste waren meistens bloß Offiziere des Trainregiments, das seine Kaserne ganz in der Nähe hatte, hier zu finden; ein unbekannter Zivilist, der sich zufällig von der Straße herein verirrte, wurde immer mit dem größten Erstaunen betrachtet. Der lahmbeinige und einäugige Mensch, der gemeinhin auf den Ruf »Zyklop« hörte und sich in einem schäbigen Frack als Marqueur gebärdete, brauchte sich also um so weniger anzustrengen, als er bei der Bedienung der Gäste von den Eigentümerinnen des Lokals unterstützt wurde, die – wohl hauptsächlich ihrer Dreizahl wegen – die »Parzen« genannt wurden. Es waren die hinterlassenen Töchter des früheren Besitzers, dessen Geschäft sie in wahrhaft patriarchalischer Weise fortführten. Wer die Eltern nicht gekannt hatte und daher keinen Schluß auf maßgebende Vererbungen ziehen konnte, dem mußte beim Anblick dieser Damen die Vermutung ferne liegen, daß er drei Schwestern vor sich habe, so grundverschieden waren sie in jeder Hinsicht voneinander. Die Erstgeborene, namens Berta und über die Dreißig schon hinaus, war eine rundliche, vollbusige Person mit einem kugelförmigen, von dichten schwarzen Haarflechten umwundenen Kopfe. Lebhafte Augen, frische Wangen und Lippen verliehen ihrem stumpfnasigen Gesicht einen gewissen Reiz, und da sie sich überdies einer höchst zutunlichen Koketterie befliß, so fehlte es unter den Offizieren nicht an solchen, die ihr in richtiger Erkenntnis ihres liebebedürftigen Wesens flüchtig den Hof machten, wobei sie nicht unterließen, sie um die Taille zu fassen oder ihr kurzfingeriges, fleischiges Händchen zu küssen. Einer jedoch liebte sie wirklich. Es war dies ein Stabsoffizier des Trains, kahlköpfig und einen sehr langen Haynauschnurrbart zur Schau tragend. Sie aber, so versicherte sie, machte sich gar nichts aus dem alten »Schippel«. Nichtsdestoweniger ging sie ihm, wenn er zur gewohnten abendlichen Whistpartie erschien, mit der weißen Patschhand sehr aufmunternd um den Bart. Die Nächstälteste, die den höchst unpassenden Namen Laura führte, erschien als der gerade Gegensatz ihrer Schwester. Sehr hoch gewachsen, war sie von erschreckender Magerkeit, die sie aber, jeder weiblichen Eitelkeit bar, weit eher ans Licht stellte, als verbarg. Sie trug statt der damals modischen Krinoline ein ganz schlaffes Kleid, das sie sackähnlich umschlotterte und die Eckigkeit ihrer Formen allenthalben erkennen ließ. Um den langen, knöchernen Hals hatte sie stets ein weißes oder eigentlich weiß sein sollendes Tüchlein gebunden. Denn sie litt an einem chronischen Kehlkopfkatarrh, der ihre Stimme teils rauh und schartig, teils schrill und kreischend er klingen machte. Das Tüchlein also, dessen Knoten und Zipfel sich beständig verschoben, so daß sie bald an der Seite, bald hinten zu sitzen kamen, bildete mit dem fahlen, stets mehr oder minder zerzausten Haar die unzertrennliche Folie zu einem hageren, fleckig geröteten Gesichte, das an Bissigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Diesem wenig einnehmenden Äußeren entsprach auch Lauras Wesen, das ihr ad personam den Supernamen »Furie« eingetragen hatte. Die meisten Kaffeehausgäste fürchteten sie, besonders die jüngeren. Denn sie sagte jedem unaufgefordert die unangenehmsten Wahrheiten ins Gesicht, wobei ihre kleinen, wimper- und brauenlosen Augen sehr boshaft in grünlichem Feuer leuchteten. Dennoch war sie im Grunde des Herzens teilnehmend und zu jeder Gefälligkeit bereit, wenn es auf eine solche wirklich ankam. Vor allem aber war sie grundgescheit, und wer sich einmal mit ihrer Häßlichkeit und absprechenden Art ausgesöhnt hatte, verkehrte mit ihr ganz gerne. Sie besaß einige selbsterworbene Bildung und blickte mit klarem Sinn in Welt und Leben hinein. Mit wahrer Leidenschaft las sie Zeitungen, besonders den politischen Teil. Höchst ergötzlich war es, zu vernehmen, wie sie dabei Kaiser, Könige und Minister abkanzelte, während sie gleichzeitig über die Frechheit und Niedertracht der Zeitungsschreiber loszog. Unter den Strich ließ sie sich nur selten hinab, und das nur, um zu sehen, welche Abgeschmacktheit dieser oder jener Feuilletonist wieder zu Markte gebracht habe. Mit der Belletristik stand sie überhaupt auf gespanntem Fuße. Denn diese beschäftigte sich, ihrem Ausspruche nach, eigentlich bloß mit der Liebe, welche die größte Dummheit sei, die es auf Erden gebe. Das Recht zu dieser Dummheit gestand sie zwar notgedrungen der Jugend zu; wer aber schon in gewissen Jahren stand und sich noch mit derlei befaßte, den verachtete sie gründlich; ihre Schwester Berta nannte sie nie anders, als die alte verliebte Gans. Nichtsdestoweniger besaß auch sie einen Anbeter, den sie freilich mit besonders scharfer Hervorhebung des Wortes nur als ihren »Fraint« bezeichnete. Dieser Freund war ein schmächtiges, säbelbeiniges Männchen, das eine goldene Brille trug und an einem benachbarten Knabenpensionate als Lehrer angestellt war. Jeden Nachmittag, Schlag fünf, trat der Herr »Professor«, einige Bücher unter dem Arm, ins Kaffeehaus und ließ sich an einem zunächst der Tür stehenden Tische nieder, wo ihm Laura eigenhändig die »Jausen-Melange« kredenzte. In diesem bedeutungsvollen Moment nahm sein breites, rosenrotes Antlitz, das ein kurzes, fuchsiges Backenbärtchen zierte, einen strahlenden Ausdruck an, und seine wasserblauen Augen verklärten sich unter der Brille. Laura setzte sich dann ihm gegenüber, und es begann eine intime Unterhaltung, der man sich in schweigendem Einverständnis möglichst ferne hielt. Diese Unterhaltung dauerte so lange, bis die sogenannte »Kurze«, die sich der Professor nach andächtig genossenem Kaffee behutsam anbrannte, zu Ende geraucht war. Dann verschwand der Freund, nachdem er Laura ehrerbietig die Hand gedrückt, lautlos wie er gekommen. Die jüngste Schwester, Selma genannt, war ein zartes, blutleeres Geschöpf, das sich durch prachtvolles aschblondes Haar und große braune Augen auszeichnete. Wenn sie – diese Obliegenheit war ihr bei der Arbeitsteilung zugefallen – in dem altmodischen Kassagehäuse saß, das Spiegelkästchen mit den Likörflaschen im Rücken, konnte man sie aus der Entfernung für eine Schönheit halten. Trat man aber näher, so erkannte man, daß ihre Gesichtszüge sich wie verzeichnet ausnahmen. Dazu ein trocken gelblicher Hautton und ein etwas schiefgestellter Mund mit schadhaften Zähnen, die sie durch krampfhaftes Zusammenpressen der farblosen Lippen zu verbergen trachtete. Sie war daher nicht leicht in ein Gespräch zu verwickeln und gab meistens nur pantomimische oder kurz geflüsterte Antworten. Zu lachen getraute sie sich schon gar nicht. Überhaupt war sie eine schwermütige, sentimentale Natur und überließ sich am liebsten ihren Gedanken und Empfindungen, die sie, wie ihre Rehaugen, nur einem einzigen Gegenstand zukehrte – aller dings einem Gegenstande, der solcher Ausschließlichkeit nicht unwert erscheinen mochte. Unter den militärischen Gästen sah man auch einen Rittmeister von den Kürassieren. Er hieß De Brois und war Reitlehrer an dem höheren Equitationsinstitute, das sich gleichfalls in dieser Gegend befand. Von ganz besonderer männlicher Schönheit, gehörte er zu den auffallendsten Straßenfiguren jener Zeit. Wenn er über den Graben und Kohlmarkt ging oder sich sonst an öffentlichen Orten zeigte, bewunderte man allgemein seinen ebenmäßig hohen Wuchs und sein vornehmes, dunkel gefärbtes Antlitz, das den Ausdruck strengen Ernstes trug. Er war sich des Eindrucks, den er hervorbrachte, voll bewußt und sichtlich stolz darauf, wenn er auch, hochmütig zurückhaltend, nie darüber sprach. Laura nannte ihn einen Hohlkopf und behauptete, er warte nur auf den Augenblick, wo ihm irgend eine Millionärin das Schnupftuch zuwerfen würde. Aus einer verarmten, seit langem in Österreich naturalisierten lothringischen Familie stammend, war er auf seine Gage angewiesen und daher gezwungen, sich in jeder Hinsicht einzuschränken. Während seine Schüler, die fast durchgehends dem hohen und höchsten Adel angehörten, gleich nach dem Unterrichte mit Fiakern in die Stadt fuhren, dort in den ersten Hotels dinierten und dann ihren vielseitigen Vergnügungen nachgingen, lebte er im allgemeinen sehr zurückgezogen. Er speiste bei dem Traiteur des Instituts und nahm hierauf den »Schwarzen« mit einem Gläschen Kirsch im Kaffeehause, wo er Selma in herablassender Weise den Hof machte. Er richtete bei seinem Erscheinen einige Worte an sie und brachte ihr hin und wieder auch irgend eine Blume, die sie mit seligem Erröten ins Haar oder vor die Brust steckte. Im übrigen gönnte er ihr das Glück seines Anblicks. Und dieses Glück wurde ihr in reichlichem Maße zuteil, wenn er auch abends eintrat, um mit dem Verehrer Bertas und noch zwei anderen Herren einige Robber zu machen. Der Spieltisch befand sich der Kassa ziemlich nahe, und so konnte Selma oft und lange genug den so einzig schönen Mann betrachten, der auch sie zuweilen mit einem Augenaufschlag begnadete. Wie Selma dem Rittmeister, so verhielt sich ihr gegenüber ein junger Mensch, der das lange fahle Haar hinter die Ohren gestrichen trug und seit einiger Zeit gleichfalls abends erschien, obgleich er sich in der soldatischen Umgebung sehr beengt fühlen mußte. Er war offenbar Student – und wie sich bald herausstellte, der Sohn eines wohlhabenden Hausbesitzers aus der Nachbarschaft. Dieser Jüngling nahm stets an einem der entlegensten Tische Platz, von welchem aus er jedoch die Kassa, oder vielmehr Selma ins Auge fassen konnte, die er über ein vorgenommenes Zeitungsblatt hinweg unverwandt anstarrte. Diese stumme Huldigung wurde anfangs gar nicht bemerkt, dann aber hartnäckig ignoriert. Dessenungeachtet fand der junge Mann den Mut, seinen Gefühlen durch ein Veilchenbukett Ausdruck zu geben, das der mit einem ansehnlichen Trinkgeld bestochene Zyklop verstohlen überreichen sollte. Der hinkende Liebesbote benahm sich aber so ungeschickt, daß man allseits gewahren konnte, wie Selma das Sträußchen befremdet betrachtete und gleich darauf mit einer entschiedenen Handbewegung zurückwies. Trotzdem fand sich schon am zweitnächsten Morgen im Kassabuche das Manuskript eines schwärmerischen Gedichtes vor. Dieses Blatt kam aber durch einen unglücklichen Zufall zuerst in die Hände Lauras, die sich schon längst über den faden Toggenburg lustig gemacht hatte und nun die ätzendste Lauge ihres Spottes über den »gereimten Blödsinn« ausgoß. So standen die Dinge, als ich eines Tages infolge dienstlicher Verzögerung viel später als sonst zum Frühstück erschien. Ich fand das Kaffeehaus ganz leer; nicht einmal der Zyklop war zu sehen, auch saß Selma nicht an der Kassa. Um meine Anwesenheit kund zu geben, ließ ich den Säbel klirren. Da noch immer niemand kam, pochte ich eindringlich. Nun vernahm ich aus der Kaffeeküche heraus die kreischende Stimme Lauras: »Gleich!« Und schon zeigte sie sich selbst in dem düsteren Hinterzimmer, um nach dem Dränger zu forschen. »Ah, Sie sind es! Was wünschen Sie denn?« »Mein Frühstück, verehrte Laura.« »Richtig! Sie haben heute noch nichts genommen. Bitte, nur einen Augenblick Geduld!« Sie verschwand wieder, und es dauerte noch eine Weile, bis sie den Kaffee vor mich hinstellte. »Er wird nicht mehr am besten sein«, sagte sie, ein Körbchen mit Weißbrot herbeischaffend. »Daran bin ich selbst schuld, weil ich so spät gekommen. Aber was haben Sie denn? Sie sehen ja ganz aufgeregt aus.« In der Tat war ihre Frisur noch zerzauster, ihr Gesicht noch fleckiger als sonst, und die Zipfel des Tüchleins standen wie zwei Lanzenspitzen nach der Seite ab. »Ach ja. Manchmal kommt alles zusammen. Ich bin heute der einzige Mensch hier. Jean hat einer Zeugenaussage wegen Vorladung zu Gericht erhalten. Auf neun Uhr – da hat er schon um sieben Toilette gemacht. Berta mußte in einer wichtigen Angelegenheit nach der Stadt, und Selma ist unwohl – liegt zu Bett. Zu allem Überfluß haben wir heute noch Waschtag. – Aber wissen Sie schon das Neueste?« fuhr sie fort, indem sie sich rasch mir gegenüber niederließ. »Das Neueste –?« »De Brois heiratet.« »Heiratet? Wen denn? Doch nicht –« Ihre Schwerster wollte ich sagen, brach aber ab. Sie hatte mich trotzdem verstanden. »Wie kann Ihnen nur so ein Unsinn einfallen! Übrigens wär' es nicht weniger dumm, als das andere. Die Cortesi heiratet er.« »Die Cor – –« »Ja, ja: die Cortesi. Diese Lionne! Diese stadtbekannte Kokette, die mehr Liebhaber hat, als Haare auf dem Kopf!« »Na hören Sie – bei der Lockenfülle der Dame –« »Ach was! Das war so eine Redensart. Jedenfalls hat sie so viel Anbeter, wie täglich Herren mit ihr in den Prater reiten.« »Aber De Brois gehört ja zu denen gar nicht –« »Das ist's eben. Er hat sie erst kürzlich auf dem Balle des Kavallerieinspektors kennen gelernt. Und da hat sich alles im Handumdrehen gemacht. Schon im Mai soll die Hochzeit sein. Die Sache kommt mir nicht richtig vor.« »Warum denn nicht? Die Cortesi wird sich in ihn verliebt haben. Das ist ja kein Wunder. Ein so schöner Mann –« »Lassen Sie mich in Ruhe mit dieser Stallmeisterschönheit!« »Nun gerade. Das stimmt zusammen. Sie ist eine passionierte Reiterin – und er –« »Ach was! Pferde longieren können auch andere. Und so verblüht ist sie noch lange nicht, daß sie just einen De Brois nehmen müßte. Ihn aber wird hauptsächlich die Mitgift verblendet haben. Die dürfte jedoch so großartig nicht ausfallen. Der Herr Bankier hat seit jeher den luxuriösesten Aufwand getrieben, und wenn sich nicht die Geschichte mit dem Prinzen zugetragen hätte, wär' er vielleicht heute ein Bettler.« »Mit dem Prinzen?« »Das wissen Sie nicht? Vor sechs Jahren diente in der Armee ein junger Prinz W ..., der, sowie andere hohe Aristokraten, auch in den Salon Cortesi kam. Der ausländische Grünling verliebte sich wie ein Narr in die Tochter, die gerade in ihrer Blüte stand und, man muß es sagen, schön war wie ein Engel – wenn auch damals schon geschminkt. Es hätte zu einer morganatischen Ehe kommen sollen. Aber im entscheidenden Augenblick wurde der junge Herr an seinen kleinen Hof abberufen, und man suchte von dort aus die Sache mit Geld zu applanieren. Papa Cortesi, der eben vor dem Bankrott stand, nahm es – und einen Orden dazu. Seitdem ist er wieder flott.« »Ich staune, wie genau Sie unterrichtet sind!« »Ja, ich weiß alles, mein Lieber«, erwiderte Laura und sah mich mit ihren grünlichen Augen durchdringend an. »Übrigens aus dem Finger hab' ich es nicht gesogen. Vox populi – – « »Sie meinen wohl die weibliche Volksstimme«, sagte ich nun auch ein wenig boshaft. »Weiblich hin, weiblich her. Ich sage Ihnen nur, diese Heirat nimmt kein gutes Ende.« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der Zyklop trat herein. Statt des gewohnten Fracks trug er einen defekten schwarzen Rock; den fragwürdigen Zylinder nahm er schon auf der Schwelle ab. »Ah, da ist Jean!« rief Laura. »Nun verlasse ich Sie, Sie liebe Unschuld. Es ist Zeit, daß ich nach den Wäscherinnen sehe.« Damit ging sie. Ich bezahlte Jean meinen Kaffee und entfernte mich gleichfalls. Auf dem Heimweg überdachte ich alles, was Laura mit ihrer giftigen Lästerzunge vorgebracht. In manchem mochte sie nicht unrecht haben, jedenfalls übertrieb sie. Sollte sie nicht doch ihrer Schwester wegen gar so sehr gegen diese Heirat voreingenommen sein? Gleichviel. Was kümmerte es mich? Und so sah ich zuletzt im Geiste nur das zukünftige, so ausgezeichnet schöne Paar vor mir, wie es Arm in Arm durch die Straßen Wiens schreiten würde. Er, im blendend weißen Waffenrock, das Antlitz gebräunt, dunkeläugig; sie, fast in gleicher Größe, ganz eigentümlich schlank und elastisch, das rötlich blonde Haar – diese Nuance war damals durch die Kaiserin Eugenie zu besonders hohem Ansehen gekommen – in langen Locken weit über den Rücken hinabfallend. 2. II. Das Gespräch, das ich mit Laura gehabt, war das letzte gewesen. Denn sehr bald darauf mußte ich zum Regiment einrücken, das gleichzeitig den Marschbefehl erhielt. Es kam daher nur zu einem ganz raschen Abschied von den Parzen – das heißt, eigentlich bloß von zweien, weil Selma noch immer nicht zu sehen war. Ich ging also nach Böhmen ab, woselbst ich bis zum Beginn des italienischen Feldzuges verblieb. Inzwischen aber hatten sich die schlimmen Prophezeiungen Lauras merkwürdigerweise in sehr kurzer Zeit erfüllt. De Brois war kaum ein Jahr nach seiner Hochzeit im Duell gefallen. Es war eine mysteriöse Geschichte, die niemals vollständig aufgehellt wurde. Man erzählte sich jedoch (die Zeitungen mußten damals über derlei Ereignisse schweigend hinwegsehen) mit allerlei Variationen folgendes. De Brois sei zum Major befördert und als Flügeladjutant zum Korpskommando in Budapest versetzt worden. Dort habe er eines Tages seine Frau tête à tête mit einem hohen ungarischen Magnaten überrascht und diesen mit der Reitpeitsche behandelt. Dem Magnaten blieb natürlich nichts übrig, als ihn zu fordern und beim ersten Schusse in den Sand zu strecken. Die Gattin De Brois' aber habe aus Schreck und Aufregung eine Frühgeburt getan, infolge deren sie gleichfalls gestorben sei. Der Vorfall mochte in gewissen Kreisen großes Aufsehen erregt haben; auf Fernerstehende wirkte er nur als pikantes Tagesgespräch, wurde daher bald vergessen. Selbst von mir. Erst als sich das Regiment gleich nach beendetem Feldzuge wieder in Wien befand, wurde ich daran erinnert, und zwar hauptsächlich durch das kalte Kaffeeehaus, das ich ja doch einmal aufsuchen mußte. Es kam nicht so bald dazu. Denn ich war damals gerade im Begriff, den Dienst zu quittieren, und hatte mich in Erwartung meines Abschiedes schon aller militärischen Leistungen entheben lassen. In Bücher und Schriften versenkt, blieb ich tagsüber auf meinem Zimmer in der Getreidemarktkaserne, ließ mir das Essen bringen und unternahm erst zu ziemlich später Stunde längere Spaziergänge, die mich jedoch nach ganz anderen Richtungen hinführten. Endlich, an einem neblichten Oktoberabende, lenkte ich meine Schritte dem Parzensitze zu. Als ich in die bekannten Räume trat, hatte ich die Empfindung, daß sich hier gar nichts verändert habe. Die Wände dunkelten wie früher; selbst der Zyklop war kaum lahmer und hinfälliger geworden. Auch die Gäste schienen dieselben geblieben zu sein – bis zu den Whistspielern in der Nähe der Kassa, wo Selma, still wie einst, vor dem Kästchen mit den Likörflaschen saß. Allerdings erkannte ich bald, daß es Offiziere eines anderen Trainregiments waren, die sich im Lokal befanden, und bei der Whistpartie fehlten De Brois und der Verehrer Bertas. Auch diese vermißte ich jetzt. Laura jedoch saß in einer Ecke; ihre zerzauste Frisur kam über einem Zeitungsblatt zum Vorschein, in das sie vertieft war. Als sie zufällig nach der Seite blickte, erkannte sie mich sofort und streckte mir sichtlich erfreut die Hand entgegen. »Das ist schön, daß man Sie wiedersieht! Sie waren in Italien unten und haben den Krieg mitgemacht – nicht wahr?« »Eigentlich ja. Aber das Bataillon, bei dem ich stand, ist gar nicht ins Feuer gekommen. Ich habe die Kugeln nur in der Ferne pfeifen gehört.« »Desto besser. Es war ein unglückseliger Feldzug. Aber ich hab's vorausgesagt!« »Sie sind eben eine Prophetin, Fräulein Laura«, sagte ich, unwillkürlich lächelnd. »Kann ich dafür, daß mir die Tatsachen recht geben? Erinnern Sie sich noch, was ich damals über die Heirat des De Brois – – Sie werden doch erfahren haben –« »Allerdings. Aber lassen wir die Toten ruhen. Und was mich betrifft, so werde ich nicht lange mehr Soldat sein.« »Sie wollen austreten?« »Ja.« »Und was werden Sie dann anfangen?« Bei der mir bekannten Mißachtung, die Laura gegen alles Belletristische hegte, hielt ich mit meinen Absichten hinter dem Berge und sagte bloß: »Ich weiß noch nicht recht – ich bin eben auf der Suche –« »Na, Sie werden schon etwas finden. Es ist übrigens ganz vernünftig von Ihnen. Beim Militär ist jetzt nichts mehr zu holen.« »Für mich gewiß nicht. – Aber sagen Sie mir, haben Sie in Ihrer Familie vielleicht einen Verlust erlitten?« Es war mir nämlich inzwischen aufgefallen, daß Selma in Trauer gekleidet war. Laura allerdings trug wie sonst einen farblosen Habit. »Verlust? Gott sei Dank, nein. Seit unsere Eltern tot sind, haben wir nicht viel mehr zu verlieren. Aber Sie meinen das wahrscheinlich, weil Selma in Schwarz ist? So ziemt es sich ja für eine trauernde Witwe.« »Witwe?« »In ihrem Sinn. Sie ist nämlich überzeugt, daß De Brois eigentlich sie geliebt und die Cortesi nur geheiratet hat, weil er infolge seiner Stellung eine reiche Partie machen mußte. Damit versöhnte sie sich also schließlich, weil sie selbst ihm nichts, oder nur äußerst wenig hätte mitbringen können. Aber sie war seine Seelenbraut – und im Geiste hatte er die Ehe mit ihr geschlossen. Daher betrachtet sie sich jetzt auch als Witwe.« »Das ist aber –« »Ein Wahnsinn ist's. Sie befindet sich jedoch sehr wohl dabei. Sie hat ja seit jeher in Einbildungen gelebt und stets ihr Glück im Unglück gefunden. Doch was sagen Sie zu dem dort?« Sie deutete mit den Augen nach einem Herrn, der an einem entfernteren Tische saß und uns halb den Rücken zukehrte. »Zu dem – –?« »Erkennen Sie ihn nicht mehr?« »Bei Gott, das ist ja – –« »Freilich ist er's. Unser Toggenburg. Aber nicht mehr Student, sondern wohlbestallter Hausbesitzer, da sein Papa das Zeitliche gesegnet hat. Er ist auch, wie Sie sehen, inzwischen ziemlich feist geworden und hat einen Bart gekriegt. Er liebt Selma noch immer. Drei Heiratsanträge hat er ihr schon im Laufe der Jahre gemacht – und immer einen Korb erhalten. Nach jedem blieb er eine Zeitlang weg – nach dem letzten sogar sechs Monate. Ich dachte schon, jetzt hat er genug – aber er hat sich wieder eingefunden – und sitzt dort wie ein angemalter Türk.« »Er setzt also seine Bewerbungen fort?« »So scheint's. Und diesmal möglicherweise nicht ohne Erfolg. Selma zeigt sich jedenfalls mürber. Sie gestattet ihm, daß er für einen Augenblick an die Kassa tritt. Sie nimmt Blumen in Empfang, auch Gedichte. Er hat sich nämlich jetzt ganz auf die Dichterei geworfen und gibt Bücher auf eigene Kosten heraus.« »Vielleicht nimmt sie ihn noch –« »Ich hätte nichts dagegen. Obgleich es ein Unsinn wäre. Der Mensch ist wenigstens zehn Jahre jünger als sie. Aber wenn er durchaus will, geb' ich meinen Segen. Um so mehr, als wir jetzt das Kaffeehaus verkaufen werden.« »Warum denn das?« »Sie sehen ja, in welchem Zustand sich das Lokal befindet. Es ist schon eine wahre Schande. Um es jedoch von Grund auf restaurieren zu lassen, dazu fehlen uns die Mittel. Würde auch nicht viel nützen. Denn das Kaffeehaus ist doch zu entlegen, als daß trotzdem mehr Gäste kämen. Und da sich ein Käufer gefunden hat, so geben wir's her. Just zur rechten Zeit, denn auch ich werde heiraten.« »Sie!« »Nicht wahr, da staunen Sie? Aber ich begehe keine Torheit. Ich heirate meinen Fraint. Also eine Vernunftehe, wie sich's gehört. Der Inhaber des Pensionats ist alt und müde geworden, er will die Anstalt aufgeben. Mein Zukünftiger wird sie übernehmen. Das heißt, eine andere, größere ins Leben rufen.« »Ich gratuliere.« »Danke. Wir werden schon prosperieren. Denn wir wollen alles aufs zeitgemäßeste einrichten. Haben auch schon ganz passende Lokalitäten in einem neu gebauten Hause der Marokkanergasse in Aussicht. Ich leite das Ökonomische. Auch sonst bin ich nicht auf den Kopf gefallen.« »Das ist bekannt, verehrte Laura. Aber so geht jetzt die Schwestertrias auseinander. Und zwar auf dem ganz naturgemäßen Wege der Ehe. Wenn ich recht vermute, hat Fräulein Berta diesen Weg bereits betreten.« »Ja. Die hat schon vor drei Jahren geheiratet. Ihren Oberstleutnant.« »Also doch.« »Gewiß. So dumm sie ist, ihren Vorteil hat sie doch wahrgenommen. Dabei ist sie aber die alte Närrin geblieben. Noch immer den Kopf voll mit Liebesgedanken – und desperat, daß sie ihren Mann, der krankheitshalber in Pension ging, Pflegen und warten muß. – Aber wenn man sie nennt, kommt sie gerennt.« Laura wies nach der Eingangstür. Diese war hastig geöffnet worden, und herein trat Berta in auffallendem Straßenputz, das runde Antlitz dicht verschleiert; auf den noch immer sehr vollen dunklen Haaren saß ein unter Blumen und Federn verschwindender Hut. Kaum hatte man sie wahrgenommen, so sprangen auch schon einige Offiziere von ihren Sitzen auf und eilten ihr entgegen. Sie ergriff und schüttelte die dargereichten Hände, wobei sich sofort ein lautes Geschäker entwickelte. »Da sehen Sie nur,« raunte mir Laura zu, »wie sie sich schön tun läßt! Der Mensch ändert sich nicht.« Nun trat Berta auch an uns heran. Es gab eine Erkennungsszene. Berta war sehr liebenswürdig. Da sie endlich sagte, sie sei gekommen, ihrer Schwester eine Mitteilung zu machen, nahm ich die Gelegenheit zum Aufbruch wahr und empfahl mich. »Leben Sie wohl«, sagte Laura. »Und kommen Sie bald wieder. Sie dürften uns nicht lange mehr hier antreffen.« 3. III. Ich sah die Parzen nicht wieder. Zwar hatte ich mir vorgenommen, das Kaffeehaus wenigstens noch einmal zu besuchen, aber es kam allerlei dazwischen – und als ich endlich doch hingelangte, war es bereits in anderen Besitz übergegangen. So schwanden die drei Schwestern aus meinem Gesichtskreis und im Laufe der nächsten Jahre auch ganz und gar aus meinem Gedächtnis. Da schrieb mir eines Tages ein Bekannter, der auf dem Lande lebte, er sei gesonnen, seinen nunmehr zehnjährigen Knaben in einem Wiener Privatinstitute unterzubringen. Er baue dabei auf mich, und ich möchte fürs erste Erkundigungen einziehen, dann würde er auf meinen Rat hin das Weitere beschließen. Mir fiel natürlich sofort das Institut ein, das Laura mit ihrem Zukünftigen errichten wollte. Ihre damaligen Angaben erschienen mir vertrauenswürdig, und so wollte ich jedenfalls nachsehen, der Ort war mir ja bekannt. Nachdem ich eines schönen Morgens – es war im Juni – im Stadtpark gefrühstückt hatte, schlenderte ich gemächlich nach der Marokkanergasse. Ich nahm auch bald eines der neuern Häuser wahr, an welchem eine schwarze Tafel mit der Inschrift prangte: Institut Feichtenböck. Laura hieß also jetzt Frau Feichtenböck, was ich nicht wissen konnte, da man ihren Freund immer nur den »Professor« genannt hatte. Im ersten Stockwerk angelangt, las ich gleich an der nächsten Tür das Wort »Direktion«. Ich drückte an die Klingel. Ein nettes Stubenmädchen in weißem Häubchen öffnete und nahm mir auf die Anfrage, ob die »Gnädige« anwesend sei, meine Karte ab. Nach einer Weile kam sie mit dem Bescheid zurück: die Frau Direktor lasse bitten, in das Sprechzimmer zu treten, sie werde gleich dort erscheinen. Ich begab mich also in den mäßig großen, ziemlich kahlen Raum. An den Wänden das Bildnis Pestalozzis und eingerahmte Veduten in photographischer Aufnahme. Ein schmales, grünbezogenes Sofa, einige Stühle mit sehr hohen geraden Lehnen. Jetzt öffnete sich eine Seitentür, und Laura erschien, die ich beim ersten Blick nicht wieder erkannte, so sehr hatte sie sich verändert. Sie war nämlich, wie das bei mageren Personen zuweilen vorkommt, unförmlich dick geworden. Ein wahrer Koloß stand vor mir, und ich hatte Mühe, ein Auflachen zu unterdrücken. »Sie sind es also wirklich?« fragte sie jetzt gedehnt, indem sie mich mit ihren hinter den Wangenwülsten fast verschwindenden Augen nicht allzu freundlich ansah. »Was wünschen Sie denn eigentlich?« Sie musterte dabei ziemlich mißtrauisch meinen äußeren Menschen. Jedenfalls hatte sie Kenntnis von meinem Berufe und vermutete vielleicht irgend ein mißliebiges, rein persönliches Anliegen. Da ich aber sogleich mit knappen Worten auf meinen Gegenstand zu sprechen kam, erhellte sich ihr nunmehr vollständig kupfriges Antlitz. Sie lud mich ein, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, und nach einer kurzen, energisch geführten Verhandlung waren wir vollständig im Reinen. »Also abgemacht!« sagte sie, halb kreischend, halb fauchend. »Ihr Freund wird allen Grund haben, zufrieden zu sein. Wir werden auf den Knaben besonders achten. Zu Beginn des nächsten Schuljahres kann er aufgenommen werden. Auch sofort, wenn es besonders gewünscht wird.« Das Geschäftliche war somit erledigt. Eine kleine Pause trat ein. Dann aber wandte sich mir Laura mit halbem Leibe zu und sagte wieder einigermaßen gedehnt: »Sie sind also unter die Dichter gegangen?« »Leider, Frau Direktor, leider –« »Nun, Sie haben ja Erfolge aufzuweisen. Aber freilich, ein Schiller oder ein Goethe kommt nicht wieder.« Ich ließ diese sehr richtige Bemerkung schweigend über mich ergehen. »Und wie geht es Ihnen sonst?« fuhr Laura fort. »Erträglich. Jedenfalls nicht so gut wie Ihnen. Sie sehen wahrhaft blühend aus.« »Ja. Ich habe sehr zugenommen in den letzten Jahren. Auch sonst macht sich alles aufs beste. Die Anstalt floriert.« »Und haben Sie vielleicht Familie?« fragte ich anzüglich. Die Möglichkeit war ja nicht völlig ausgeschlossen. »Familie? Was fällt Ihnen ein! Damit befassen wir uns nicht. Das lassen wir anderen Leuten über.« »Wenn jeder so dächte, Verehrte, wie stände es da um Ihr Pensionat? – Aber was machen denn Ihre Schwestern?« Laura tat einen Ruck nach seitwärts. »Meine Schwestern? Die haben einen sehr traurigen Ausgang genommen. Selma sitzt im Irrenhause.« »Im Irrenhause?« »Wie vorauszusehen war. Übrigens gab ein eigentümlicher Umstand die nächste Veranlassung. Sie hatte sich zuletzt doch entschlossen, ihren Toggenburg zu nehmen. Es war schon alles in Ordnung gebracht und der Hochzeitstag festgesetzt. Da erkältet sich der glückliche Bräutigam, bekommt eine Lungenentzündung – und stirbt. Dieser Tod erschütterte den schwachen Geist Selmas. Nicht daß sie etwa diesen Verlust sehr schmerzlich empfunden hätte. Er ließ sie vielmehr ziemlich gleichgültig. Aber sie betrachtete ihn als höhere Fügung. Sie hatte immer bigotte Anwandlungen gehabt und erkannte nunmehr, daß sie zur Himmelsbraut bestimmt sei. Sie wollte durchaus ins Kloster gehen. Aber es gab da Schwierigkeiten. Sie hatte ja das Novizenalter längst überschritten, nur ein Orden der Barmherzigkeit würde sie aufgenommen haben. Dazu jedoch fehlte ihr das Zeug. Sie wurde also Betschwester in optima forma. Von früh bis abends saß und kniete sie in der Universitätskirche. Dabei vernachlässigte sie ihr Äußeres, daß es ein Jammer und eine Schande war. Das reine Kerzelweib, sage ich Ihnen. Endlich kam der religiöse Wahnsinn mit einer fixen Idee zum Durchbruch. Sie bildet sich ein, sie sei die unbefleckte Jungfrau Maria, die den Heiland gebären muß. Unheilbar.« »Sehr bedauerlich. – Und Berta?« »Von der sollte man eigentlich gar nicht reden. Mich wundert nur, daß Sie ihr Schicksal nicht durch die Zeitung erfahren haben.« »Es muß mir jedenfalls entgangen sein.« »Nun also. Sie hatte das Unglück – oder ihrer Empfindung nach das Glück, ihren Mann zu verlieren. Er starb an der Wassersucht. Das Vermögen, das er ihr hinterließ, war nicht unbeträchtlich; sie selbst besaß einiges – und überdies hatte sie Anspruch auf Pension. Sie hätte also ein sorgenloses Wittum gehabt. Aber die Liebe! Denken Sie nur – man schämt sich ordentlich, es auszusprechen: sie vernarrte sich in einen ganz jungen Menschen – in den Kommis einer Modewarenhandlung, der übrigens aus ziemlich gutem Hause war. Ein sehr flotter Jüngling, der sich um so mehr zu einem fliegenden Verhältnis herbeiließ, als ihm Berta ein höchst angenehmes Leben bereitete. Übrigens übte sie ja noch immer höchst merkwürdigerweise eine gewisse Anziehungskraft aus. Als sie aber weiterging und ihm mit einer Heirat auf den Leib rückte – sie wollte für ihn ein ansehnliches Stadtgeschäft erstehen – da riß er aus. Und als sie jetzt nicht nachgab, ihn verfolgte und mit ihren Zärtlichkeiten bestürmte, wurde er brutal. Darüber geriet sie außer sich, bekam Nervenzufälle, magerte ab bis zum Schatten. So ging sie umher, ein Bild der Verzweiflung, mit zitternden Armen und Händen. Nach einem letzten fruchtlosen Versuche, ihn wieder zu fesseln, lief sie in das nächste Haus, stieg zum obersten Stockwerk hinan und stürzte sich durchs Fenster auf das Pflaster hinab.« Ich erwiderte nichts. »Und mit solchen aberwitzigen Sachen haben jetzt Sie sich zu beschäftigen! Müssen noch ärgere erfinden! – Aber das Merkwürdigste dabei war, daß sie dem Treulosen testamentarisch ihr ganzes Vermögen vermacht hat. Übrigens muß zu seiner Ehre gesagt sein, daß er es nicht annehmen wollte. Aber seine habgierigen Eltern – er selbst war ja noch nicht einmal majorenn – hatten die Frechheit, in seinem Namen darauf zu bestehen. Wir haben natürlich Einsprache erhoben, denn der geistige Zustand der Erblasserin war kein normaler. Es kam zum Prozeß, den wir allerdings nur halb gewannen. Das heißt, bloß die Hälfte des Kapitals konnte für uns gerettet werden.« Inzwischen war die Seitentür leise aufgegangen und der Herr Direktor im Gemach erschienen. An ihm hatte sich nichts verändert; nur in dem schütteren Haupthaar und in dem fuchsigen Backenbärtchen zeigten sich Silberfäden. Er trat näher, wobei er mich mit seinen kurzsichtigen wasserblauen Augen forschend durch die Brille betrachtete. »Der Herr ist wegen Aufnahme eines neuen Zöglings gekommen«, sagte Laura, die gleich mir vom Sofa aufstand, mit erhobener Stimme. »Du kennst ihn wohl noch? Aus dem Kaffeehause –« Der Gatte brachte mir das rosenrote Antlitz noch näher, schüttelte jedoch den Kopf. »Herr –«, sie nannte meinen Namen. »Ah, der – der –« »Dichter!« schrie Laura. Herr Feichtenböck schien etwas schwerhörig zu sein. »Richtig, richtig – sehr bekannt –« »Und ich wünsche ihm Glück auf seiner weiteren Laufbahn«, sagte Laura, die mir jetzt wohlwollend die Hand zum Abschied reichte. »Freilich, ein Goethe oder Shakespeare –« Sie vollendete den Ausspruch nicht und verschwand, während mich der Herr Direktor äußerst höflich ins Vorzimmer hinaus komplimentierte. Der Burggraf 1. I. Eines Nachmittags hatte ich von Döbling aus, wo ich mich damals eben eingemietet hatte, einen Spaziergang über Grinzing nach der Wildgrube unternommen. Diese Gastwirtschaft war mir noch in guter Erinnerung, denn ich hatte sie früher bei geselligen Ausflügen nach dieser Gegend wiederholt besucht. Inzwischen schien sie einigermaßen in Verruf geraten zu sein. Trotz des prachtvollen, fast sommerlichen Septemberwetters waren nur wenige Gäste anwesend, so daß ich ziemlich einsam bei meiner Tasse Kaffee sah. Ich war es aber ganz zufrieden; konnte ich doch desto ungestörter die Aussicht über die Donau und ihre bereits bunt gefärbten Auen genießen. Auch hatte ich ein Buch bei mir, in dem ich lesen wollte. Es war Gracians Handorakel der Weltklugheit, übersetzt von Schopenhauer. Ich kannte es schon; da ich es aber Jahre hindurch in meiner Bücherei neben den Werken des Frankfurter Philosophen vermißte, so hatte ich das schlanke Bändchen, das ich erst kürzlich von einem Freunde zum Geschenk erhalten, heute zu mir gesteckt und wurde jetzt von dem Inhalt wieder mehr und mehr angezogen. Inzwischen war die Sonne immer tiefer gesunken. Ich dachte also an den Rückweg. Und zwar über den »Kobenzl« und den »Himmel« nach Sievering hinunter. Auf der Avenue des Schlosses, in dem einst der geniale Freiherr von Reichenbach seinen odisch-magnetischen Studien obgelegen, fesselte mich noch ein prachtvoller Sonnenuntergang; dann schlug ich einen Seitenpfad ein, der mich, wie ich annahm, rascher die Höhe hinableiten sollte. Aber er führte tiefer in den Wald hinein. Bei meinem mangelhaft ausgebildeten Ortssinn verirrte ich mich, und als ich endlich nach mancherlei Kreuz- und Quergängen die ersten Häuser von Sievering erreicht hatte, war die Dunkelheit längst hereingebrochen. Die schmale, langgedehnte Ortschaft lag bereits in nächtlicher Ruhe vor mir. Die Haustore waren geschlossen, die Lichter verlöscht; nur durch die Fenster einzelner größerer und stattlicherer Häuser schimmerte es noch. Auch die Buschenschenken, die hier zur Herbstzeit offen stehen, und von der Stadt aus so zahlreich besucht werden, zeigten sich still und verödet. Nur in einer, der ich mich jetzt näherte, ertönte noch lustige Musik. Vor dem Eingang stand ein verwaister Einspänner, dessen Kutscher sich gewiß da drinnen beim Heurigen gütlich tat, während sein hagerer Gaul mit hängendem Kopf stumpfsinnig vor sich hindämmerte. Ein plötzliches Verlangen überkam mich. Ich wollte wieder einmal ein Stück Volksleben auf mich wirken lassen; auch hatte ich schon lange keinen jungen Wein mehr verkostet und konnte da gleich mein Abendbrot einnehmen. Ich trat also durch das halb offen stehende Tor. Aber schon im Hofe fühlte ich mich enttäuscht. Denn der angrenzende kleine Garten, offenbar zum Versammlungsort fröhlicher Zecher bestimmt, erschien fast leer und wurde nur sehr matt von einem einzigen, mit Glas geschützten Leuchter erhellt, in dem eine schlechte Talgkerze schwelte. In diesem Halbdunkel saßen ein paar Männer vereinzelt an verschiedenen Tischen und lauschten den Klängen einer Geige, einer Klarinette und einer Harmonika, die von drei Musikanten aus Leibeskräften gehandhabt wurden. Ich wollte schon umkehren. Da mich aber der bäuerliche Wirt, der in Hemdärmeln und blauem Fürtuch auch die Dienste eines Kellners versah, bemerkt hatte, so trat ich doch in den Garten und ließ mich an einem Seitentische nieder, der mit zwei anderen unter einer schützenden Holzdachung stand. Der Wirt indes schien über mein Kommen nicht besonders erfreut zu sein. Denn er stellte mit sehr verdrossenem Gesicht ein zweites Licht vor mich hin und fragte dann ziemlich barsch nach meinem Begehren. Während er ging, das Verlangte herbeizuschaffen, wurde meine Aufmerksamkeit einem der Gäste zugelenkt, der an dem Tische mit dem Leuchter saß. Ich mußte ihn schon irgendwo gesehen haben. Es war ein junger Mann in den Dreißigern, nachlässig und mit sehr schadhafter Eleganz gekleidet. Der trübe Kerzenschein beleuchtete ein vornehmes, markantes Gesicht, das aber durch ein ungewöhnlich stark zurückweichendes Kinn entstellt wurde und einen hektischen Zug aufwies. Die langen hageren Beine weithin unter den Tisch gestreckt, die Hände in den Hosentaschen, blickte er mit eingesunkener Brust nach den Musikanten, die eigens für ihn aufzuspielen schienen, denn sie standen in nächster Nähe vor ihm. Jetzt brachen sie ihr Stück mit einem überstürzten Finale ab und nahmen die Instrumente unter den Arm. »Spielt's weiter!« sagte der junge Mann in befehlendem Tone. Seine Stimme klang heiser und gebrochen. »Verzeign S', gnä' Herr,« versetzte der Geigenmann als Leiter des Trios, »verzeign S', mir mürssen no' nach Salmansdorf umi. Mir san dort b'stöllt, wal tanzt wird. Es is eh' scho' d' hechste Zeit. Mir bitten also um unser Dussär.« Damit nahm er die Mütze ab und hielt sie, um den erhofften Lohn zu empfangen, dem Gast entgegen. Dieser sah ihn ausdruckslos an. Dann wendete er den Kopf nach dem Wirt, der mir eben Wein und Imbiß gebracht hatte, und sagte nachlässig: »Geben Sie den Leuten fünf Gulden.« Der Wirt sah ihn über die Achsel an. »Was? I soll ihna fünf Gulden geb'n? I? Dös mürssen Sö tuan, i nöt!« »Ich habe nicht gewechselt.« »Nöt g'wexelt hab'n S'? I wir Ihna scho' wexeln. Sö wer'n do nöt glei' an Tausender bei Eahna hab'n! Auf an Zehner kann i scho' aussa geb'n. Wird eh' g'rad glenga mit der Zech. Und es is Zeit, daß S' dö zahl'n. Es is scho' spät und i mecht' zurspirn.« »Ich habe kein Geld bei mir«, erwiderte der andere kurz. »Was? Ka Geld? Und da sitzen S' scho' zwa Stund' da und lassen Ihna geb'n, was guat und teier is? Und extra no' d' Musikanten aufhalten und vorspüln lassen! Ah, da legst di nieder!« »Und i kriag no' mei' Fuhr!« schrie der Kutscher des Einspänners, aus dem Dunkel hervortretend, in dem er bis jetzt verweilt hatte. »Aus der Stadt hab' i 'hn aussag'fihrt – und jetzt so lang warten –« »Dös a no'!« rief der Wirt drohend. »O Sö Fallott!« Der junge Mann war bei dem allen gleichmütig sitzen geblieben. Nunmehr aber hob er stolz den Kopf und sagte: »Ich bin der Graf ....« Er nannte einen Namen von hocharistokratischem Klang, der mir sofort auf die Spur half. Ich wußte jetzt, wann und wo ich den Gast schon gesehen hatte. »Was? A Graf? Dös kunnt' a jeder sag'n!« »Du, Floder,« warf jetzt ein alter, verkommen aussehender Mann in halb bäuerlicher Tracht ein, der sich inzwischen gleichfalls genähert hatte, »mir scheint, er is a Graf. Er wohnt, glaub' i, in Unterdebling –« »Plausch nöt, du B'suf!« erwiderte der Wirt, etwas betroffen. »Wer waß, wen du manst! Und wann er wirkli a Graf is, muaß er do' was bei eahm hab'n! A Uhr, an Ring – oder so was. Hab'n S' was?« wandte er sich an den Gast. Dieser zuckte die Achseln. »Nix? No, da ziagn ma Ihna halt in Rock aus!« Er machte Miene, gleich zur Tat überzugehen. Der Angegriffene erhob sich aber mit halbem Leibe und stieß ihn kräftig zurück. »Was? Stessen tuan S'!« brüllte der Taumelnde. »Na wart'n S', Sö Lump! Schorschl!!« Dieser Ruf galt einem halbwüchsigen Jungen, der eben im Hofe am Brunnen Wasser schöpfte. »Lauf umi, Schorschl, auf d' Sicherheitswachstub'n, daß aner herkummt! Den saubern Grafen wer'n mer glei' hab'n! Pack' mer'n derwal!« setzte er, die Umstehenden anfeuernd, hinzu. Die Situation war nun wirklich eine sehr kritische geworden; ich begann mich für den Bedrohten zu schämen. »Lassen Sie den Herrn!« rief ich eindringlich von meinem Tisch hinüber. »Ich werde für ihn bezahlen.« Der Wirt drehte sich um und sah mich verdutzt an. Aber auch ärgerlich. Es schien ihm gar nicht er wünscht zu sein, daß der Handel gütlich geschlichtet werde. »Sö woll'n zahl'n?« fragte er geringschätzig. »Wer san denn Sö?« »Das braucht Sie nicht zu kümmern. Genug, daß Sie Ihr Geld bekommen. Machen Sie die Rechnung.« »Dö wird glei' g'macht sein«, erwiderte er unwillig. »Drei Viertel Heurigen und zwa Flaschen alten Nußberger. Und a kalt's Hendl. Und was der Konfertabl g'habt hat –« »An Liter!« schrie dieser. »Und d' Musikanten – dö warten scho',« betonte der Wirt. »Da haben Sie zehn Gulden«, sagte ich. »Geben Sie den Leuten, was ihnen zukommt.« »Es g'lengt nöt, wann d' Musikanten –« »Mir san mit zwa Flörln z'frieden«, riefen die Spielmänner im Chorus. »Her damit!« Dann gingen sie, vom Wirt entlohnt, im Eilschritt davon. Auch der Kutscher entfernte sich, nachdem er das Seine erhalten. Allerdings nicht sehr befriedigt. Man hörte ihn noch im Hof ein Scheltwort ausstoßen und draußen mit der Peitsche auf den armen Gaul einhauen, bis das Gefährt von dannen gerumpelt war. Der Urheber aller dieser Szenen war inzwischen ohne aufzublicken auf seinem Platze geblieben. Jetzt schien er in Verlegenheit, was er tun sollte. Endlich stand er auf und ging vornüber geneigt mit schwanken Tritten auf mich zu. »Ich weiß nicht,« sagte er, gleichsam herablassend, »mit wem ich – wie so Sie – ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen –« »Aber ich kenne Sie, Herr Graf. Sie waren vor ungefähr acht Jahren Leutnant bei den Dragonern – nicht wahr?« »Allerdings.« »Und lagen damals in Schwechat?« »Ganz richtig. Waren Sie vielleicht auch –« »Ich befand mich bei einem Infanteriebataillon in Kaiser-Ebersdorf. Und da sind wir einige Male zusammengetroffen – freilich nur ganz flüchtig.« »Ihr Name?« Ich nannte mich. »Kann mich nicht entsinnen. Aber gleichviel. Wir waren früher Kameraden. Es kann mir also nur angenehm sein, einstweilen Ihr Schuldner zu bleiben. Und wir wollen jetzt gleich eine Flasche miteinander trinken. He!!« »Lassen wir das lieber. Nach dem, was vorgefallen –« »Ach was! Ich will noch trinken. Das wäre nicht übel, wenn man sich genieren müßte. – He!!« Sein klanglos kreischender Ruf verhallte. Es kam niemand. Endlich zeigte sich der Wirt. »Noch eine Flasche Nußberger!« Der Wirt sah ihn grimmig an, ging aber doch um den Wein. »Das is d' letzte«, sagte er grob, als er die Flasche auf den Tisch stellte. »A End' muaß sein. Dös is ka Wirtshaus. I hab' bloß ausg'steckt.« »Beruhigen Sie sich«, entgegnete ich. »Wir werden bald aufbrechen. Nehmen Sie gleich die Bezahlung.« »Ich begreife Sie nicht«, sagte der Graf, als wir wieder allein waren. »Wie können Sie sich nur mit solchen Leuten in Unterhandlungen einlassen?« »Immer besser, als sich Roheiten aussetzen, denen gegenüber man machtlos ist. Es ist übrigens wirklich schon spät.« »Spät? Wie viel ist es denn?« Er griff an die Westentasche, in der sich keine Uhr befand. Ich sah nach der meinen. »Über Zehn.« »Das ist ja gar keine Stunde«, rief er, die Gläser füllend, und leerte das seine mit einem Zuge. »Aber was haben Sie da für ein Buch?« Ich hatte es auf dem Tische liegen; er griff danach und blätterte es an. »Wie kommen Sie dazu, derlei zu lesen?« fragte er hochfahrend. »Nun, ich lese es eben.« »So. Sie scheinen also wissenschaftliche Bildung zu besitzen. Auch ich habe studiert. Könnte Doktor Juris sein. Ich glaube, Sie zweifeln?« Er sah mich mit einem drohenden Blick an. »Keineswegs.« »Mein Latein und Griechisch habe ich noch nicht verschwitzt. Und den Gracian da vermöchte ich im Original zu lesen. Auch kann ich, wenn Sie befehlen, mit einigen orientalischen Sprachen aufwarten.« »Da wüßt' ich allerdings nicht Bescheid.« »Wie meinen Sie das?« fragte er und lehnte sich herausfordernd zurück. Er hatte inzwischen ein zweites Glas hinuntergestürzt und mit dem dritten begonnen; in seinem schmalen Antlitz wiesen sich bereits Anzeichen der Trunkenheit. »Ich meine es nicht anders, als daß ich diese Sprachen nicht verstehe.« »Aber ich! Denn ich habe die orientalische Akademie besucht. Man hatte mich für die diplomatische Karriere bestimmt. Doch sie taugte mir nicht – ebensowenig wie später der Militärdienst. Ich kann mich nicht binden. Ich liebe die Freiheit. Aber dazu braucht es ein großes Vermögen – ausgedehnte Besitzungen. Die fehlen mir. Und so habe ich mich auch mit der Misère des Lebens herumzuschlagen.« Er ließ den Kopf sinken und stierte, die Augen verglast, mit hängender Unterlippe vor sich hin. So trat eine Pause ein, während der ich ihn betrachtete. Er sah jetzt mit seinem wie weggeschnittenen Kinn geradezu häßlich aus. Das lebhafte Sprechen schien ihn angestrengt zu haben; seine eingefallene Brust bewegte sich keuchend auf und nieder. »Noch eine!« rief er plötzlich, indem er sich gewaltsam aus offenbar sehr trüben Gedanken emporraffte und den Rest der Flasche in sein rasch geleertes Glas goß. »Nein, durchaus nicht«, sagte ich. »Ich kann Sie natürlich nicht hindern. Aber was mich betrifft –« »Sie sind Temperenzler«, bemerkte er verächtlich. »Nicht doch. Aber es ist wirklich Zeit, daß wir uns von hier entfernen.« »Nun, wenn Sie durchaus wollen – meinetwegen! So versäume ich wenigstens morgen nicht wieder die Messe.« Ich sah ihn unwillkürlich erstaunt an. »Ich pflege nämlich jeden Tag die Frühmesse zu besuchen,« fuhr er nachdrücklich fort. »Haben Sie vielleicht etwas dagegen?« »Was könnte ich dagegen haben –« »Aber Sie finden es lächerlich.« »Keineswegs.« »Sie finden es lächerlich! Ich seh' es Ihnen an.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Offenbar gehörte er zu denen, in welchen geistige Getränke Streitlust erregen. »Sie irren«, sagte ich. »Ich irre mich nicht. Aber ich werde mich in keinen Meinungsaustausch einlassen. Sie verstehen das einfach nicht. Ich höre die Messe, weil ich es von. Kindheit an gewohnt bin. Es liegt uns im Blute.« Er hatte die letzten Worte mit stolzem Emporwerfen des Kopfes ausgesprochen. Ohne Zweifel sollten sie mir den Unterschied klar machen, der zwischen uns beiden bestand. Gleich darauf aber langte er nach dem Buche, das ich, zum Aufbruch bereit, eben an mich nehmen wollte. »Das leihen Sie mir«, sagte er gebieterisch und steckte es, ohne meine Einwilligung abzuwarten, in die Hintertasche seines fadenscheinigen Jacketts. »Ich werde es Ihnen nächster Tage mit dem, was Sie mir vorgestreckt, zurückstellen. Wo wohnen Sie?« »In Döbling.« »Also auch in Döbling. Gasse?« »Alleegasse.« »Nummer?« »13.« »Also Alleegasse 13. Das merk' ich mir schon. Und nun gehen wir!« Er hatte noch den letzten Tropfen aus dem Glase geschlürft, erhob sich mühsam und suchte wankend nach Hut und Stock. Dann verließen wir den Garten und das Haus, dessen Tor der Wirt hinter uns abschloß. Auf der menschenleeren Straße fing mein Begleiter zu taumeln an; es fehlte nicht viel, so wäre er über einen Schotterhaufen zu Boden gestürzt. Ich wollte ihn schon unter dem Arm fassen. Aber ich unterließ es; er sollte nicht wissen, daß ich seinen Zustand bemerkte. So setzten wir in der mondlosen Nacht unseren Weg fort, mit dem der Graf beständig zu kämpfen hatte. Nun waren wir an dem alten Friedhof vorübergekommen und erreichten die ersten Häuser von Unterdöbling. Bei einer der nächsten Gassen angelangt, blieb er stehen. »Da wohne ich«, sagte er. »Gute Nacht!« Und ohne den Hut zu lüften, bog er in die Gasse ein. Ich sah ihm nach, wie er sich in Schlangenlinien fortbewegte, bis er endlich vor einem ziemlich großen, weiß getünchten Gebäude hielt, das in sonderbaren Umrissen zwischen dunkleren, hüttenähnlichen Nachbarhäusern aufschimmerte. 2. II. Am nächsten Mittag aß ich wie gewöhnlich im Gasthause »Zum Hirschen«. Und zwar an einem Tische mit dem Direktor der Volksschule, dessen Familie sich noch auf dem Lande befand, während ihn selbst die Amtspflicht bereits zurückberufen hatte. Es war ein liebenswürdiger, unterrichteter Mann, mit dem ich mich gerne unterhielt. Im Laufe des Gespräches ließ ich ein Wort über den Grafen fallen; ich wollte wissen, ob er dem Direktor bekannt sei. Dieser lächelte und sagte: »Ach ja, Sie meinen den Burggrafen.« Ich sah ihn fragend an. »Man nennt ihn so, weil er in der ehemaligen Sodawasserfabrik wohnt, die einst ein geschmackloser Architekt ganz in mittelalterlichem Stil erbaut hat. Ein Witzling hatte sie sofort die kohlensaure Burg genannt, und diese Bezeichnung erhielt sich bis heute, obgleich der Besitzer der Fabrik längst zugrunde gegangen ist und das Gebäude als Mietkaserne für die ärmere und ärmste Klasse unserer Bevölkerung dient. – Aber wo haben Sie den verkommenen Menschen kennen gelernt?« »Ich erinnere mich seiner noch aus meiner Militärzeit. Und gestern bin ich zufällig mit ihm zusammengetroffen.« »Hat er Sie da nicht gleich angepumpt?« »Nicht eigentlich. Aber der Eindruck, den ich empfing, war ein höchst trauriger. Ich begreife nicht, wie man bei solcher Abkunft so tief sinken kann.« »Um das zu ergründen, müßte man mit allen genealogischen Verhältnissen aufs genaueste vertraut sein. Der Himmel weiß, von wem er sein Dekadententum ererbt hat. Sein Vater war ein ziemlich hoher Staatsbeamter, der sich nebenher auf den Gelehrten hinausspielte. Als dritter Sohn war er ohne Vermögen, wurde jedoch von seinem ältesten Bruder standesgemäß unterstützt. Er blieb bis in sein späteres Alter Hagestolz, dann aber heiratete er ein Fräulein aus einer gänzlich verarmten freiherrlichen Familie. Aus dieser Ehe stammt unser Graf.« »Da hat man ihn vielleicht als nicht ganz ebenbürtig behandelt?« »Keineswegs. Seine Mutter, die eine etwas exzentrische Dame gewesen sein mochte, scheint man sich allerdings vom Leibe gehalten zu haben. Als sie aber gestorben war, löste sich jede Spannung. Sein Vetter gewann ihn sogar äußerst lieb und setzte ihm, als er das Majorat übernahm, eine Apanage von zehntausend Gulden aus. Das war um so reichlicher, als ja das Vermögen des Hauses nicht gerade ein enormes genannt werden kann. Aber was waren zehntausend Gulden für den Grafen Leupold! Sie wissen wohl, daß er so heißt. Womit er ein Jahr auslangen sollte, das war in ein paar Monaten durchgebracht. Verspielt und vertrunken. Das letztere Laster scheint bei ihm sehr früh zum Durchbruch gekommen zu sein. Also das Fixum reichte nicht und er machte Schulden. Ungeheure Summen, die wiederholt gezahlt wurden, da mehr als einmal die Ehre des Namens auf dem Spiele stand. Endlich aber mußte sein Vetter ein Ende machen. Er sah sich gezwungen, öffentlich zu erklären, daß er nicht länger für den Verschwender aufkomme, den er unter Kuratel setzen ließ. Trotzdem gibt er ihm jährlich noch so viel, daß eine ganze Familie sehr anständig davon leben könnte.« »Er bezieht also noch eine Rente?« »Dreitausend Gulden. Daß er damit nicht auskommt, begreifen Sie. Auch werden ihm seine Einkünfte immer gleich entrissen. Denn es gab doch noch Wucherer, die ihm borgten. Diese Leute zogen ihn förmlich aus, so daß er nach und nach ins größte Elend geraten ist – und seit einem Jahre in der kohlensauren Burg wohnt, wo er von den Hausmeisterleuten erhalten wird.« »Von den Hausmeisterleuten?« »Das heißt insofern, als er oft monatelang ohne einen Kreuzer Geld ist. Da verköstigen sie ihn denn wohl oder übel, sorgen für die Bedienung und sonstige geringe Bedürfnisse. Soweit es angeht, entschädigt er sie dann. Er hat sich nämlich zuletzt auch auf das Schreiben von Bettelbriefen geworfen, die er an hohe und höchste Persönlichkeiten richtet. Schändlicherweise mit der Begründung, daß ihn sein Vetter hartherzig verhungern lasse.« »Woher wissen Sie das alles?« »Von ihm selbst. Denn er ist nicht der Mensch, der mit seinen Verhältnissen hinter dem Berge hält. Er kam früher täglich in dieses Gasthaus, und ich gestehe, daß ich anfänglich nicht ungern mit ihm verkehrt habe. Denn er ist doch vielseitig gebildet; auch war es mir interessant, die heterogenen Eigenschaften zu beobachten, die er in sich vereinigt. So seine starre Vigotterie bei sonstigem vollständigen Indifferentismus. Er nimmt vor jeder Kirche, vor jedem Heiligenbild auf der Straße den Hut ab und betrachtet es fast als Verbrechen, wenn er einmal die Messe versäumt.« »Das ist mir bekannt«, warf ich ein. »Und dann sein grenzenloser aristokratischer Hochmut neben einer ganz unglaublichen Nichtachtung und Wegwerfung der eigenen Persönlichkeit! Es ist ganz merkwürdig. Eines Abends, als er mir wie gewöhnlich über seine mißliche Lage vorjammerte, bemerkte ich halb im Scherz, halb im Ernst, daß es ihm ja nicht schwer fallen dürfte, seinen Namen zu einer vorteilhaften Heirat zu verwerten. Da hätten Sie ihn sehen sollen! Auf den Tisch schlug er, daß Teller und Gläser klirrten. Was ich denn von ihm halte, da ich ihm zumute, eine Mesalliance zu machen? Sich an eine reiche Jüdin zu verkaufen! Er konnte gar kein Ende finden und wurde zuletzt aufs äußerste beleidigend. Ich verzieh es ihm halb und halb, da ich wußte, wie leicht ihm der Wein zu Kopfe steigt. Schließlich war ich aber doch froh, daß er Zechschulden halber wegblieb, und verzichtete gern auf die Rückerstattung gewisser Darlehen, wie einiger Bücher, die ich ihm geborgt und die er wahrscheinlich bei irgend einem Antiquar verkauft hat.« 3. III. Nicht lange nach diesem Gespräch mit dem Direktor saß ich eines Vormittags am Schreibtisch, als es an meine Tür pochte. Auf das Herein trat eine Frauensperson ins Zimmer, bei deren Anblick ich fast erschrocken zurückprallte, so ganz ungemein häßlich war sie. Eine große, derbknochige Gestalt mit ungeheueren, abgearbeiteten Händen und plumpen Füßen, die in schadhaften Hausschuhen staken. Auf den struppigen, schon leicht ergrauten Haaren saß eine schwarze Tüllhaube mit verschossenen blauen Bändern und erhöhte die Fahlheit des grotesken Gesichtes, das dem einer geblendeten Eule glich. Über das rechte Auge war das obere Lid vollständig herabgesunken, das linke blinzte matt und unsicher. So stand die Person vor mir, ein altes, schalartiges Tuch, das einst gelb gewesen sein mochte, um die Schultern geschlagen. »San Sö der Herr, der neuli' mit'n Grafen in Sievring war?« fragte sie mit krächzender Stimme. »Jawohl. Was wünschen Sie?« »Er laßt Ihna bitten, Sö mechten zu eahm kummen. Er is krank und liegt im Bett.« »Was fehlt ihm denn?« »I waß 's net. Hursten tuat er. Der Doktor mant, es kunnt a Entzintung wer'n.« Ich überlegte. Denn ich verspürte gar keine Lust, dem Verlangen nachzukommen. Aber er war krank, ließ mich zu sich bitten – und da konnte ich wohl nicht anders. Auch begann sich Neugier in mir zu regen; ich wollte seine Behausung sehen. »Nun gut«, erwiderte ich. »Sagen Sie dem Herrn Grafen daß ich gleich kommen werde. Sie sind wohl –« »I bin die Tochter vom Hausmaster.« Damit machte sie kehrt und schritt ohne Gruß zur Tür hinaus. Ich glaubte inzwischen bemerkt zu haben, daß sie gesegneten Leibes war. Nachdem ich mich zum Fortgehen angekleidet, schlug ich den Weg nach dem Hause ein, das ich damals in der Dunkelheit hatte aufschimmern sehen. Ich gewahrte jetzt, daß es sich seiner ganzen Bauart nach mit einer wartturmähnlichen Flanke wirklich wie eine kleine Feste ausnahm. Die Sendbotin erwartete mich schon am Tor. Sie führte mich zwei Treppen hoch und dann über eine schwanke hölzerne Seitenstiege in ein Giebelzimmer, das zwar nicht ungeräumig, aber grenzenlos vernachlässigt war. In einem dürftigen Bette lag der Graf. Er schien zu fiebern, und das hektische Rot auf seinen eingesunkenen Wangen brannte wie Feuer. Als er mich wahrnahm, zog er, um seine schadhafte Wäsche zu verbergen, eine abgenützte karrierte Decke bis zum Kinn empor. »Sie sehen mich zu Bett«, sagte er, mühsam atmend, indem er, um mich zu begrüßen, seine schmale, langfingerige Rechte vorsichtig unter der Decke hervorstreckte. »Infamer Katarrh! Ich leide zwar öfter daran, aber diesmal ist er ganz besonders stark zum Ausbruch gekommen. Wahrscheinlich infolge einer Erkältung. Konnte daher nicht zu Ihnen gelangen und mußte Sie bitten lassen, sich zu mir zu bemühen. Sie könnten mir einen ganz besonderen Dienst erweisen.« »Ich bin nach Möglichkeit bereit«, erwiderte ich und ließ mich auf den harten Sessel nieder, den mir die Eule auf seinen Wink in die Nähe des Bettes gerückt hatte. »Gehen Sie jetzt«, sagte der Graf zu ihr. Es war, als hörte sie ihn nicht. Sie wollte offenbar im Zimmer bleiben. »Hinaus!!« schrie er und verfiel infolgedessen in ein heftiges Husten. Ihr Gesicht nahm den Ausdruck stumpfsinnigen Trotzes an. Aber sie entfernte sich langsam. »Also gleich in medias res!« begann jetzt der Graf keuchend. »Ich befinde mich in einer verzweifelten Lage. Bin ohne alle Mittel – dabei von Gläubigern aufs äußerste bedrängt. Kurz: wenn ich nicht schon in nächster Zeit über einige tausend Gulden verfügen kann, bin ich verloren. Ich habe das wiederholt in sehr dringenden Briefen meinem Vetter – dem Chef unserer Familie – mitgeteilt, aber keine Antwort erhalten. Ich erkenne daraus, daß er die Absicht hat, mich zugrunde gehen zu lassen – ja, daß es ihm höchst erwünscht ist, wenn ich zugrunde gehe. – Sie sind Schriftsteller, nicht wahr?« »Ja.« »Ich habe das mittlerweile in Erfahrung gebracht. Wie wäre es, wenn Sie an meinen Vetter schrieben? Sie könnten fürs erste hervorheben, daß Sie mit mir in der Armee gedient haben. Schildern Sie ihm die Verhältnisse, in denen Sie mich jetzt angetroffen.« Er ließ die Blicke bedeutungsvoll im Zimmer umherschweifen. »Entwerfen Sie ihm ein Bild meines Elends – und fordern Sie geradezu, daß mir geholfen werde. Widrigenfalls Sie mein Schicksal durch einen Zeitungsartikel vor das Forum der Öffentlichkeit bringen. Sie könnten dabei mit der Bekanntgabe gewisser Details drohen, die ich Ihnen zur Verfügung stellen würde.« Im ersten Augenblick war ich über diese Zumutung sprachlos. Dann übermannte mich Entrüstung, und ich stand im Begriffe, mir mit den schärfsten Worten Luft zu machen. Aber der Anblick des Jammermenschen, der sichtlich in den ersten Stadien der Lungenschwindsucht vor mir lag, dämmte meinen Zorn zurück. »Davon bitte ich nicht weiter zu sprechen«, sagte ich mit möglichster Ruhe. »Und warum nicht? Es würde ja Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie sich in dieser einfachen Sache –« Ich bezwang mich wieder. »Es ist keine einfache Sache. Sie müssen sich da an einen Revolverjournalisten wenden.« »Was wollen Sie damit sagen?« brauste er auf. Aber er schien mehr erstaunt als entrüstet zu sein. »Sie haben mich sehr wohl verstanden«, erwiderte ich, indem ich mich erhob. In diesem Augenblick ertönten draußen auf der Holztreppe schwere und hastige Tritte. An der Tür wurde gepocht und ein Postbote trat, ohne das Herein abzuwarten, ins Zimmer. Er hielt dem Grafen einen Brief mit fünf Siegeln entgegen. »Von meinem Vetter!« rief der Graf, nachdem er einen Blick auf die Adresse geworfen. Er erbrach die Siegel mit zitternder Hast, wobei seine hageren, halb entblößten Arme zum Vorschein kamen, und verschlang den Inhalt des kurzen Schreibens, dem einige Banknoten beigelegt waren, mit den Augen. Ich hatte mich inzwischen schon zum Fortgehen gewendet. »Alles bewilligt!« rief er mir nach. »Schon in den nächsten Tagen bin ich im Besitz der ganzen erforderlichen Summe. – Tinte und Feder! Ich muß das Rezepisse unterschreiben.« Dieser Befehl galt der Eule, die hinter dem Briefträger erschienen war. Ich aber ging ärgerlich und verstimmt nach Hause. Es war ja nicht das erstemal, daß ich, wenn auch nicht gerade einen solchen, so doch immerhin den Beweis erhielt, welche Meinung man von dem Beruf hegte, dem ich mich geweiht. * * * Ich war froh, dem Grafen, der sich wohl körperlich wieder erholt hatte, nicht mehr zu begegnen; er mochte seine Behausung aufgegeben haben. Verfügte er doch jetzt über Geldmittel, und eines Tages glaubte ich, ihn auf der Ringstraße in einem Fiaker fahren zu sehen. Im Frühling aber hatte ich einen Ausflug auf den Kahlenberg unternommen und kehrte erst bei einbrechender Nacht zurück. Als ich die dunkelnde Grinzinger Allee durchschritt, gewahrte ich auf einer der dort angebrachten Bänke einen Mann sitzen. Weit zurückgesunken, die langen Beine von sich gestreckt, hatte er die ausgebreiteten Arme auf der Banklehne ruhen. Es war der Graf. Ob er mich erkannt, ja auch nur wahrgenommen, weiß ich nicht. Er war offenbar volltrunken und starrte, als ich an ihm vorüberkam, zum gestirnten Nachthimmel empor, der eben jetzt durch den aufsteigenden Mond weithin erhellt wurde. Er schien also die kohlensaure Burg doch nicht verlassen zu haben. 4. IV. Bald darauf verließ ich Wien. Hin und wieder kehrte ich für kürzer oder länger zurück; dauernden Aufenthalt nahm ich dort nicht mehr. So waren etwa drei Jahre verflossen. Eines Nachmittages, im August – ich war eben wieder eingetroffen –, hatte ich mich von der Stadt aus, wo ich wohnte, nach der »Hohen Warte« begeben. Ich hoffte einen Bekannten zu finden, von dem ich wußte, daß er dort den Nachmittagskaffee einzunehmen pflegte. Ich traf ihn jedoch nicht an. Nachdem ich eine Stunde fruchtlos gewartet, entfernte ich mich und schlug den wenig begangenen Feldweg ein, der nach Unterdöbling führt. Es wurden damals in dieser Gegend zahlreiche Neubauten in Angriff genommen, die teils schon ziemlich weit geführt, teils erst in wüsten Baugründen abgesteckt waren. In der Nähe der ersten Gassen dehnte sich noch ein dürftiger Wiesengrund aus. Einige ärmlich gekleidete Kinder, Knaben und Mädchen, spielten dort im Strahl der niedergehenden Sonne. Am Rande des vergilbten Rasens saß ein strickendes Weib. Als ich näher kam, erkannte ich, daß es die Tochter des Hausmeisters war. Sie sah ganz so aus wie damals, nur ihre Haare waren jetzt vollständig ergraut, so daß sich die schwarze Tüllhaube – es schien noch immer dieselbe zu sein – trotz starker Bestäubung schärfer davon abhob. Auch bemerkte ich jetzt, daß ein schmächtiges blasses Knäblein mit auffallend großem Kopfe dicht an ihrer Seite saß. Ich trat auf sie zu und begrüßte sie. Sie blinzelte mich eine Weile stumpfsinnig an. Dann sagte sie: »I kenn' Ihna net.« Ich half ihr auf die Spur. »A jo, richti! Sö san der Herr aus der Alleegassen –« »Können Sie mir vielleicht sagen, wie es dem Herrn Grafen geht?« »Der is tot.« »Tot? Wann ist er denn gestorben?« »A Joahr wird's her sein. Net lang nach seiner Heirat.« »Ja, hatte er denn –?« »Frali. A Matreß hat er g'heirat't.« »Wen –?« »A Matreß. Die frih're G'lirbte von an reichen Herrn. Sie hat woll'n Gräfin wer'n.« »Und die hat er? –« »Frali. Ibrigens woars ka richtige Eh'. Sö san glei' nach der Trauung ausanand gangen. A jed's für sich. Aber viertausend Gulden 's Joahr hat er kriagt. Sie hat's leicht geb'n kiena. Denn er woar eh' scho' halbtot. D' Ärzt' hab'n a glei' da wo abi g'schickt ans Meer.« Sie machte eine vage Bewegung mit der Hand. »An die Riviera –« »Jo, i glaub', so haßt's. Und dorten is er a g'sturb'n.« Ich hatte mittlerweile das Knäblein betrachtet, das regungslos und mit erloschenem Blick auf ein paar gelbliche Blümchen niedersah, die es zwischen wachsbleichen Fingern hielt. »Und ist für Sie – hat er Ihnen –?« »Ob er mir was g'lassen hat, manen 'S? Den da hat er ma g'lassen. Sonst nix. Das haßt, er hat mer zahlt, was er ma schuldi war. Und dös hab' i für den ang'legt.« »Aber konnte denn nicht sonst etwas für Sie – hat nicht die Gräfin – –« »Dö? Dö is froh, daß er nimma lebt. Sie is a Geizkrog'n. 'S Kind hat's ma woll'n abkaufen – um zwatausend Guld'n. Awer i hab's net hergeb'n. Es g'hert mei'. I wir's scho' daziagn.« Beklagenswerter Wurm, dachte ich mit einem letzten Blick auf den Kleinen, der die Züge seines Vaters im Antlitz und den Todeskeim der Schwindsucht in der Brust trug, deine Mutter wird nicht lange an dir zu erziehen haben. Und das ist wohl das Beste für dich, du armes, schuldloses Halbblut! »Leben Sie wohl«, sagte ich, von Wehmut ergriffen, und wendete mich zum Gehen. »Adje!« erwiderte sie kurz, die unterbrochene Strickarbeit aufnehmend. Nicht die leiseste Spur einer Empfindung war in ihrem fahlen Gesicht wahrzunehmen. Der Brauer von Habrovan 1. I. Die Bevölkerung der Ortschaft, woselbst ich so manchen Sommer und Winter zugebracht, wurde eines Tages durch ein außerordentliches Ereignis in die größte Aufregung versetzt. Ein dort ansässiger Schuhmacher hatte sein junges Weib aus – wie es hieß – grundloser Eifersucht ermordet und sich dann, nachdem er eine Zeitlang in den nahen Wäldern umhergeirrt, dem Gerichte gestellt. Wie begreiflich, wurde für das entseelte Opfer allgemein Partei ergriffen. Namentlich die Frauen konnten kein Ende finden, den entmenschten Wüterich zu verdammen, den sie schon jetzt am Galgen baumeln sahen. Sie priesen laut die häuslichen Tugenden, durch die sich die Tote im Leben ausgezeichnet, und schwuren hoch und teuer, daß sie, wenn auch ein wenig gefallsüchtig, doch das treueste Weib gewesen, das jemals auf Erden gewandelt. Aber auch die Männer, die in dieser Hinsicht nur wenig Korpsgeist besitzen, zogen über den Übeltäter los. Sie nannten ihn einen elenden Säufer und hirnverbrannten Narren, seit jeher unwert des schönen Weibes, das er, der ruppige, pechgeschwärzte Kerl, besessen. Und schön war sie, die Schustersfrau, das konnte ich selbst bezeugen. Zwar ihr Gesicht verdiente diese Bezeichnung nicht eigentlich. Denn es war breit, stumpfnasig und überdies stark mit Sommersprossen behaftet. Aber lebhafte schwarze Augen, leicht gekraustes rotbraunes Haar und ein eigentümlich lachender Zug um den frischen Mund verliehen diesem Gesicht um so mehr Reiz, als auch die ganze Gestalt in ihrer biegsamen Schlankheit höchst anziehend war. Zumal in der heißen Jahreszeit, wo sie sich immer möglichst leicht bekleidet sehen ließ. Wenn sie so, außerdem noch hochgeschürzt, blink und blank bis über die Knöchel in dem seichten Wasser des an ihrem Hause vorüberfließenden Baches stand, Geschirr oder Wäsche reinigend, da konnte man nicht umhin, sie wohlgefällig zu betrachten. Sie wußte das auch und vollführte dann, durchaus nicht ohne Absicht, die anmutigsten Bewegungen, so daß mir jetzt die Eifersucht ihres Mannes keineswegs unbegreiflich erschien. Mein nachbarlicher Freund, Doktor Hulesch, hatte die gerichtliche Obduktion vorzunehmen. Als ich mit ihm später darüber sprach, hob er die ganz besondere Grausamkeit hervor, mit der der Schuster den Mord vollbracht. Denn nach den ersten tödlichen Stößen, die er mit einer Ahle nach dem Herzen seines Weibes geführt, hatte er in unstillbarer Mordgier ringsumher weiter gestochen, und so habe sich fast die ganze Vorderseite der Leiche wie tätowiert ausgenommen. Ich fragte den Doktor, wie er eigentlich über die Sache denke. Sein volles, kräftig gerötetes Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an. »Wenn Sie mich aufs Gewissen fragen«, antwortete er, »so will ich bekennen, daß ich in solchen Fällen immer auf der Seite des Mannes bin, wenn ich ihm auch selbstverständlich nicht das Recht einräume, ein Verbrechen zu begehen.« »Sie glauben also, daß die Frau des Schusters –?« »Ich glaube nichts. Noch weniger behaupte ich etwas. Ich möchte nur den Satz aufstellen: jeder, der eifersüchtig ist, hat auch Grund, es zu sein.« »Das ist eigentlich auch meine Meinung«, erwiderte ich. »Die nur von wenigen geteilt wird. Man fordert in der Regel Beweise und erkennt nicht, daß die Eifersucht an sich schon der triftigste Beweis ist. Sie entspringt einem Mangel an Selbstgefühl, herbeigeführt durch das mehr oder minder deutliche Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit einer geliebten Person gegenüber. Daher das beständige Mißtrauen, der stets lauernde Verdacht – ein höchst qualvoller Zustand, der bei Individuen von schwächerer Gehirntextur schließlich zur Raserei führen kann. Daß sich die Eifersüchtigen meistens auf falscher Fährte befinden, ist wohl wahr, aber der Hauptsache nach behalten sie immer recht. Das hat mir ein ganz merkwürdiger Fall bewiesen, den ich vor Jahren gewissermaßen miterlebte.« Da es mich begreiflicherweise interessierte, Näheres zu vernehmen, so ließ sich Hulesch auch gern zur Erzählung herbei. 2. II. »Es war zu Anfang meiner zivilärztlichen Praxis. Ich hatte mich in einem kleinen, aber nicht ganz unansehnlichen Städtchen niedergelassen, das außerdem nicht allzuweit von meiner Vaterstadt Olmütz entfernt lag. Dort lebte ein Mädchen, das ich zu ehelichen gedachte; deshalb hatte ich mich auch vom Militärdienst, zu dem ich als Zögling des ehemaligen Josephinums verpflichtet gewesen, nach dem letzten Kriege loszumachen gewußt. Die Sache zog sich jedoch anderer Umstände halber in die Länge und fand durch den unvermuteten frühen Tod meiner Verlobten ein trauriges Ende. Damals aber lebte ich noch in schönen Hoffnungen, nebenher die Leiden und Freuden eines Landarztes kennenlernend. Eigentümlich war es mir stets erschienen, daß der Sonntag auch für den Arzt zu einer Art von Ruhetag wird. Es ist, als wollten selbst die Krankheiten feiern, denn ich habe gefunden, daß die wenigsten gerade an einem Sonntag ausbrechen oder tödlichen Ausgang nehmen. Aber ich lasse das dahingestellt sein und sage nur, daß ich an Sonntagen nur selten neue Patienten bekam. Das war mir natürlich sehr angenehm. Nicht bloß der nötigen Erholung wegen, sondern vielmehr deshalb, weil mir diese Pausen wissenschaftliche Lektüre ermöglichten, zu der ich sonst, oft weit in der Umgegend hin und her fahrend, kaum gelangen konnte. Ich verbrachte also meine Sonntagnachmittage immer zu Hause; des Sommers in meinem kleinen schattigen Garten, des Winters in der traulichen, wohlgeheizten Stube. So erfreute ich mich auch einmal – es war im Dezember, und der Schnee fiel draußen in dichten Flocken – der lieben Ruhe. Ich hatte mir einen guten Jausenkaffee bereiten lassen, die lange Pfeife angebrannt und mich in den Lichtkreis der frühen Lampe gesetzt. Mir war sehr behaglich zumut, und mit wahrer Wonne vertiefte ich mich in eine erst vor kurzem erschienene neue Monographie Hyrtls, die aufgeschlagen vor mir auf dem Tische lag. Die Stunden vergingen, und die Zeit des Abendessens, das ich in einem nahen Gasthause einzunehmen pflegte, rückte heran. Plötzlich vernahm ich, wie ein schwerfälliger Schlitten – ich erkannte das an dem Geläut' – in die Seitengasse einbog, in der ich wohnte. Sollte das mir gelten? dachte ich unwillkürlich. Richtig: der Schlitten hielt unter meinen Fenstern. Und schon kam auch die Frau, die für meine Bedienung sorgte, die Treppe hinan und in das Zimmer geeilt. ›Machen Sie sich nur gleich fertig, Herr Doktor! Sie müssen nach Habrovan fahren.‹ ›Nach Habrovan? Zu wem denn?‹ ›Zum Brauer. Das Kind ist schwer krank.‹ ›Gibt's denn dort eines?‹ ›Na freilich. Im August hat's die Frau geboren.‹ ›Davon wußt' ich gar nichts.‹ ›Wie hätten Sie's auch wissen sollen? Sie waren ja damals noch nicht bei uns. Übrigens hat man auch bloß die Hebamme geholt. Zum Glück ist alles gut gegangen. Denn der Brauer ließe seine Frau lieber sterben, als daß er sie so von einem Arzt –‹ Das stimmte nun freilich zu dem, was ich über den Mann schon gehört. Er stand in dem Ruf eines Sonderlings, der sein schönes Weib gleich einer Gefangenen halte. Früher in einer ansehnlichen Brünner Brauerei bedienstet, hatte er vor zwei oder drei Jahren das kleine zum Teil schon verfallene Habrovaner Bräuhaus samt einigen Grundstücken von der Gutsverwaltung gepachtet. Das Geschäft betrieb er, so hieß es, nur lässig, und zwar mit Hilfe eines bejahrten Küfers und eines verheirateten Knechtes, die er beide mit dem fundus instructus übernommen. Im übrigen behalf er sich mit Tagelöhnern, die er jeweilig dingte. Ich hatte mich schon darangemacht, meine Handapotheke instand zu setzen. Nun zog ich Schneestiefel an und warf den Fahrpelz um die Schultern; den Fußsack ließ ich mir von der Frau nachtragen. So ausgerüstet, bestieg ich das höchst primitive Gefährt, dessen Kutscher, die Kapuze seiner schadhaften Halina über den Kopf gezogen, den vorgespannten Gaul antrieb, indem er ihm mit dem Leitseil auf den Rücken schlug. Die Fahrt durch das weitläufige Städtchen ging ziemlich glatt. Als wir aber ins freie Feld gelangt waren, wo uns ein scharfer Nordwest anfiel, befürchtete ich Schlimmes. Denn die Gegend ist dort flach und nach allen Seiten hin offen, daher auch die Landstraße starken Verwehungen ausgesetzt. Wirklich gab es bald genug Schwierigkeiten; das bereits von der Herfahrt ermüdete Pferd hatte an mancher Straßeneinsenkung alle Mühe, den wuchtigen und nicht einmal beschlagenen Schlitten durch die angehäuften Schneemassen zu bringen. Endlich ging es nicht mehr vorwärts. Wir mußten an einer besonders getieften Stelle abspringen und nachschieben. Als sich das, nicht allzuweit mehr vom Ziele, wiederholen wollte, verlor ich die Geduld. Ich ließ den Pelz im Schlitten zurück und machte mich auf die Stiefel. Bei jedem Schritt fast bis an die Knie einsinkend, erreichte ich schließlich, trotz der Bärenkälte in Schweiß gebadet, den bereits nachtschlafenden Ort und schlug den Weg nach dem Brauhause ein, das sich, ganz einsam gelegen, dunkelschwarz von der weißen Fläche abhob. Kein Licht war zu erblicken; nur ein Teil des Daches zeigte sich vorn Hof aus, wo ein etwas höheres Wohnhaus aufragte, leicht beschimmert. Ich pochte an das verschlossene Tor. Ein wütendes Hundegebell erhob sich, aber es kam niemand. Endlich nahten schlurfende Tritte, der Schlüssel wurde gedreht und eine dünne, meckernde Stimme fragte durch die Torspalte, wer draußen sei. Ich hatte Mühe, mich in meiner Eigenschaft erkennbar zu machen. Dann wurde ich eingelassen und befand mich einem hageren, greisenhaften Menschen gegenüber, der, soviel ich bei zweifelhaftem Licht wahrnehmen konnte, in einer schmutzigen Flanelljacke steckte und den Kopf mit einer Pudelmütze verwahrt hatte. Er führte mich durch den Hof, wo allerlei Braugerät wüst durcheinanderlag, nach dem Wohnhause. Eine kurze Treppe hinan – und ich stand in der Schlafstube des Brauers. Als mir dieser, den ich niemals vor Augen gehabt, jetzt entgegentrat, blickte ich ihn erstaunt an. Eine Kolossalgestalt, die fast bis zur Decke reichte. Der Bauch weit vorspringend, der feiste Rücken gewölbt. Einen so dicht an den Rumpf gewachsenen Kopf hatte ich noch nicht gesehen; dem Manne schien der Hals vollständig zu fehlen. Dazu eine niedere, unter wirrem Kraushaar nahezu verschwindende Stirn, eine unförmliche Nase, wulstige Lippen – und doch war dieses Gesicht nicht eigentlich häßlich oder brutal zu nennen. Es lag vielmehr ein Zug von Weichheit und Seelengüte darin. Auch klang die Stimme des Brauers, der jetzt einige begrüßende Worte sprach, um so sanfter, als ich eigentlich das Gebrüll eines Stieres zu vernehmen erwartet hatte. Erst nachdem er beiseite getreten war, konnte ich den Stubenraum überblicken. Und da gewahrte ich bei den ehelichen Betten die Wiege mit dem Kind; davor, in ein Knie gesunken, die Mutter. Ich will sie Ihnen nicht beschreiben und sage bloß: ein wahres Madonnengesicht, das, von einem Kopftuch umrahmt, mit großen Augen angstvoll nach mir hinsah. Ich trat rasch heran und warf einen forschenden Blick auf das kleine Geschöpf, das mit geschlossenen Lidern und zyanotisch gefärbt in den Wiegekissen lag. ›Mein Gott!‹ rief ich erschrocken aus, ›das Kind muß ja schon längere Zeit krank sein!‹ Die Frau schwieg. Der Mann aber zuckte trotz sichtlicher Verstörtheit die Achseln und sagte: ›Nun ja, es hat ein paar Tage gehustet.‹ Ich hatte mich schon an die nähere Untersuchung gemacht und erkannte eine hochgradige Bronchitis. ›Gewiß hat es gehustet‹, sagte ich. ›jetzt aber hustet es nicht mehr – und schwebt zwischen Leben und Tod!‹ Die Frau schluchzte auf. Er aber erwiderte, meinem vorwurfsvollen Blick ausweichend: ›Das haben wir nicht vorausgesehen, sonst hätten wir ja schon früher –‹ ›Das hätten Sie unter allen Umständen müssen!‹ fiel ich ein und war im Begriff, eine heftige Standrede zu halten. Aber ich verschluckte meinen Unwillen; ich wußte ja aus Erfahrung, daß man sich auf dem Lande meistens erst in zwölfter Stunde entschließt, nach dem Arzt zu schicken. Auch galt es vor allem, Hilfe zu leisten, denn die Atmung war schon aufs äußerste gehemmt, der Puls kaum mehr zu fühlen. Ich entnahm also meiner Handapotheke etwas Belebendes, das auch Wirkung tat. Das Kind schlug die Augen auf und begann leise zu wimmern. Hierauf flößte ich mit Hilfe der Mutter das kräftigste Expektorans ein, das ich in diesem Falle zu reichen vermochte. ›So‹, sagte ich. ›Das muß in einer halben Stunde wiederholt werden. Die Wirkung der ersten Dosis will ich hier noch abwarten.‹ Dabei sah ich mich unwillkürlich nach einem Sitz um, denn ich fühlte mich nach der zwar nicht langen, aber höchst anstrengenden Fußwanderung ganz erschöpft. Der Brauer bemerkte es. ›Möchten Sie sich's nicht im andern Zimmer bequem machen, Herr Doktor?‹ fragte er. ›Und wenn Ihnen vielleicht ein Nachtessen gefällig wäre –‹ ›Nun, das verschmäh' ich nicht. Ich bin in der Tat hungrig – und auch durstig. Aber keine Umstände, wenn ich bitten darf. Ein Trunk Bier, ein Stück Brot mit Butter oder Käse genügen mir vollständig.‹ ›Ach, es ist ja Selchfleisch im Hause‹, nahm jetzt die Frau das Wort. ›Auch Eier können Sie haben –‹ ›Geht hinunter, Okac‹, wandte sich der Brauer an den Alten, der mir das Tor geöffnet hatte und, wie ich erst jetzt bemerkte, mit abgelegter Pudelmütze in einer Ecke des Zimmers stand. ›Franzka soll hergeben, was da ist. Und holt einen Krug Bier aus dem Keller – vom guten Lager. Ich will den Herrn Doktor einstweilen hinüberführen.‹ ›Wo ist denn das Zimmer?‹ fragte ich, da ich keine Seitentür bemerkte. ›Gleich da drüben – keine zwei Schritte weit. Sie können jeden Augenblick wieder hier sein.‹ Ich beugte mich noch einmal über das Kind, das eine bessere Färbung zu zeigen schien; auch hatte sich der Puls ein wenig gehoben. ›Nun also‹, sagte ich zur Frau, ›verzweifeln Sie nicht. Ich werde bald wieder nachsehen. Sollten Sie sich inzwischen ängstigen, so rufen Sie mich.‹ Hierauf folgte ich ihrem Manne über das schmale Vorhaus in ein geräumiges Gemach, das durch eine Hängelampe erhellt war. ›Dort können Sie Platz nehmen‹, sagte der Brauer, auf einen mit Leder bezogenen Diwan weisend. ›Mein Küfer wird gleich alles heraufbringen. Und später werde ich mir erlauben, Ihnen Gesellschaft zu leisten.‹ Damit ging er und ließ mich allein. Ich blickte umher. Es war offenbar die Prunkstube, in der ich mich befand. Wohl auch das Arbeitszimmer des Brauers. Denn in der Nähe des Fensters stand ein Pult mit Regal, auf dem Rechnungsbücher lagen. An den Wänden hingen einige Ölfarbendrucke in dürftigen Goldrahmen. Auch ein verblaßtes Daguerreotyp, den Brauer und seine Frau als Brautpaar vorstellend, war zu erblicken. Dem Diwan gegenüber gleißte ein Glasschrank mit allerlei Schaugeschirr und buntem Krimskrams, wie man ihn bei festlichen Anlässen geschenkt erhält. In einem großen Kachelofen glosteten noch Überreste der letzten Feuerung. Ich hatte mich noch nicht lange gesetzt, als auch schon der Küfer auf Filzsohlen hereinschlurfte und den Tisch zu decken begann. Erst jetzt konnte ich ihn näher betrachten. Ein widerlicher alter Gesell mit einem Bocksgesicht, das durch einen ergrauten Spitzbart noch mehr in die Länge gezogen ward und ganz zu der meckernden Stimme paßte, die ich am Tor vernommen. Nachdem er Speise und Trank vor mich hingestellt, fragte er, ohne mich anzusehen: ›Soll ich Holz nachlegen?‹ ›Nun, wenn Sie wollen. Es ist nicht gerade übermäßig warm.‹ Er näherte sich dem Ofen und schob einige von den bereitliegenden trockenen Scheiten hinein, die alsbald laut aufprasselten. Dann blieb er noch eine Weile stehen und rieb die Handflächen lauernd aneinander. ›Und wie ist's mit dem Kinde, Herr Doktor‹, fragte er plötzlich. ›Wird es aufkommen?‹ ›Ich hoffe‹, antwortete ich kurz. Seine Stirnhaut schnellte empor, so daß ein Büschel weißgesprenkelter Haare, das darüber stand, in Bewegung geriet. Und mit einem sonderbaren Aufhüpfen verschwand er aus dem Zimmer. Ich nahm mir nicht Zeit, über den Kerl nachzudenken; das Rauchfleisch, das er gebracht, duftete gar zu einladend. Es mundete auch vortrefflich, weit besser als der dünne Gerstensaft, von dem ich, um meinen brennenden Durst zu löschen, fürs erste ein Glas hinuntergestürzt. Ich war eben daran, mein rasches Mahl zu beenden, als der Brauer eintrat. ›Wohl bekomm's, Herr Doktor! Lassen Sie sich nicht stören.‹ ›Ich bin fertig‹, entgegnete ich, den Teller von mir schiebend. ›Dann ist Ihnen wohl eine Zigarre gefällig. Ich selbst bin zwar kein Raucher, aber da ist ein kleiner Vorrat –‹ ›Ich danke‹, sagte ich und nahm einen von den trockenen Glimmstengeln. ›Aber ich will doch noch früher drüben nachsehen –‹ ›Wie Sie wollen. Notwendig, glaub' ich, ist es nicht. Die Frau hat ihm grade die Medizin gegeben. Sie können schon noch eine Weile mit mir sitzen bleiben. Und ich bitte Sie darum, denn ich möchte Ihnen ein Bekenntnis ablegen.‹ ›Ein Bekenntnis?‹ ›Ja, eine Beichte.‹ ›Was werde ich da vernehmen?‹ fragte ich, befremdet durch den ernsten, zitternden Ton seiner Stimme. ›Nichts Gutes. Vor allem sollen Sie wissen, daß meine Frau schon vor zwei Tagen nach Ihnen schicken wollte. Aber ich hab' es verhindert.‹ Ich legte die Zigarre, die ich mir eben anzünden wollte, beiseite. ›Und warum haben Sie das getan?‹ ›Weil ich wollte, daß das Kind stirbt.‹ Ich fuhr mit halbem Leibe empor. ›Bleiben Sie ruhig, Herr Doktor. Ich habe gesagt, daß ich eine Beichte ablegen will. Sie brauchen mich ja nicht zu absolvieren. Sie können die Anzeige machen. Dann soll mit mir geschehen, was da will. So kann ich ohnehin nicht mehr leben.‹ Er saß jetzt wie gebrochen mir gegenüber; sein groteskes Gesicht hatte einen unsagbar schmerzlichen Ausdruck angenommen. Ich wurde unwillkürlich ergriffen. ›Und warum wollten Sie, daß das Kind stirbt?‹ fragte ich nach einer Pause. ›Weil ich glaube, daß es nicht meines ist.‹ ›Haben Sie Grund zu dieser Annahme?‹ ›Wir sind nun an die acht Jahre verheiratet – und meine Frau hatte früher nie –‹ ›Das beweist gar nichts. Der Kindersegen kann sich auch spät einstellen. Ich kenne ein Ehepaar, das sich sehr jung vermählt hatte – und erst nach achtzehn Jahren – –‹ ›Das ist wohl möglich. Aber das Kind konnte doch von einem andern Vater – –‹ ›Allerdings. Schon dem alten Spruche nach, daß der Vater immer ungewiß ist. Zum Glück ist nicht jeder Ehemann so mißtrauisch wie Sie. Aber trotzdem! Auf das allein hin können Sie einen so schwerwiegenden Zweifel nicht hegen. Sie müssen doch noch andere Anhaltspunkte – –‹ ›Die hab' ich auch. Im vorigen Spätherbst hatte ich wieder einmal gebraut. Und da trafen wie gewöhnlich zwei Aufseher von der Finanzwache hier ein. Bisher waren es immer ältere, gesetzte Männer gewesen; diesmal war ein junger dabei, der es offenbar auf meine Frau abgesehen hatte.‹ ›Hat er näher mit ihr verkehrt?‹ ›Das konnte er nicht. Die Leute waren in der Brauerei untergebracht. Das Essen ließ ich ihnen im Wirtshaus reichen. Und meine Frau hab' ich nicht aus den Augen gelassen.‹ ›Und dennoch glauben Sie –?‹ ›Aber ich mußte mich in einer wichtigen Angelegenheit von hier wegbegeben. Ich konnte es nicht gut aufschieben, denn es handelte sich um eine gerichtliche Vorladung. Zudem sollten die Aufseher, da der Sud vollbracht war, schon am nächsten Morgen von hier abgehen. So entschloß ich mich dazu, wenn auch mit schwerem Herzen.‹ ›Wie lange waren Sie fort?‹ ›Kaum vierundzwanzig Stunden. Und dem Küfer hatte ich den Auftrag gegeben, meine Frau zu überwachen.‹ ›Dem Küfer? Diesem Alten da?‹ ›Er ist ein verläßlicher Mann und mir sehr ergeben.‹ ›Und trotzdem!? Aber wie konnten Sie nur Ihrer Frau zutrauen, daß sie während Ihrer kurzen Abwesenheit – –? Hatte sie Ihnen denn schon Anlaß gegeben zu einer so schmählichen Voraussetzung?‹ ›Nein – eigentlichen Anlaß nicht‹, erwiderte er tonlos. ›Also bloße Vermutungen? Fühlen Sie denn nicht, wie sehr Sie dadurch Ihre Frau – und sich selbst entwürdigen?‹ Er blickte vor sich hin. ›Ja, das sag' ich mir oft selbst und mache mir schwere Vorwürfe. Doch es ist stärker als ich. Ich kann den Gedanken nicht losbringen –‹ ›Das grenzt an Wahnsinn.‹ ›Mag sein. Aber ich habe seit jeher die Empfindung gehabt, daß, wenn es auf sie ankäme – –. O, Sie wissen nicht, was ich gelitten. Deshalb konnt' ich auch in Brünn nicht länger bleiben, wo es so viele Leute gibt – Fabrikanten, Offiziere, Beamte, die schönen Weibern nachstellen. Ich hätte dort noch einen Mord begangen!‹ Er ballte die Fäuste, die Adern an seinen Schläfen schwollen an; er keuchte. Ich betrachtete ihn schweigend. ›Sie sind eben von krankhafter Eifersucht besessen‹, sagte ich endlich. ›Das waren auch immer ihre Worte, wenn ich ihr vorwarf, daß sie nach diesem oder jenem hingeblickt. Und sie hatte nichts dagegen, als ich den Entschluß faßte, aufs Land zu ziehen. Ich würde dort weniger Anlaß finden, sie zu quälen, meinte sie. Und so war es auch. In der Abgeschiedenheit begann ich aufzuatmen. Ich wurde ruhiger und bat ihr oft auf den Knien ab, was ich ihr früher in meiner beständigen Aufregung angetan. Auch sie schien sehr zufrieden zu sein. Der Obst- und Gemüsegarten, die Wiesen und Felder beschäftigten sie und machten ihr Freude. Ich fühlte mich schon so glücklich! Da kam das Kind.‹ ›Nun wieder das Kind! Dieser fixen Idee müssen Sie um jeden Preis Herr werden. Denn nach allem, was ich da vernommen, sage ich Ihnen: Sie tun Ihrer Frau schweres Unrecht. Das Kind ist das Ihre.‹ Der Ton innerster Überzeugung, mit dem ich das gesprochen, schien ihn mächtig ergriffen, schien den qualvollen Verdacht in seiner Seele überwältigt zu haben. Sein Antlitz hellte sich auf, seine Brust dehnte sich wie befreit. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Gleich darauf fiel er wieder in sich selbst zurück. ›Aber es hat keinen Zug von mir!‹ rief er aus. ›Das ist wahr. Es sieht jetzt seiner Mutter ähnlich. Aber das verschlägt nichts. Die körperlichen Entwicklungsstadien eines Kindes sind immer mit Veränderungen verbunden. Die Kleine kann noch ganz nach Ihnen geraten. jedenfalls aber dürften im Laufe der Zeit ganz untrügliche Wahrzeichen zutage treten, die Ihnen dann jeden Zweifel benehmen werden.‹ ›Und wie lange kann das dauern?‹ fragte er angstvoll. ›Je nach Umständen. Es kann sehr bald geschehen – in Wochen, in Monaten, allerdings auch erst in einigen Jahren.‹ ›In einigen Jahren!‹ rief er verzweifelt. ›So lange soll ich die Ungewißheit ertragen? Das ist mir nicht möglich!‹ ›Aber was wollen Sie denn tun?‹ Er ließ das Haupt sinken. ›Das weiß ich nicht‹, versetzte er dumpf. In diesem Augenblick steckte der Küfer den Kopf zur Tür herein, um mich zu rufen. Das Kind habe einen plötzlichen Hustenanfall bekommen. Ich eilte, von dem Brauer gefolgt, hinüber. Der Anfall war ein konvulsivisch heftiger, aber er zeigte sich auch von der erhofften Wirkung des Medikaments begleitet; es erfolgte eine Lösung, die reichlich vor sich ging. Ich konnte daher die Hauptgefahr als gehoben betrachten und an den Heimweg denken; denn es war schon spät, und am Morgen harrten meiner die Kranken im Städtchen. Ich fragte nach dem Schlitten. Der sei vor einer Stunde heimgekehrt, hieß es. Der Brauer befahl, ein frisches Pferd vorzuspannen. Bis dies geschehen war, beschäftigte ich mich noch mit dem Kinde. Beim Fortgehen sagte ich zur Mutter: ›Haben Sie keine Sorge mehr, es wird gesund werden. Von der Medizin geben Sie ihm jetzt jede Stunde einen kleinen Löffel voll. Morgen vormittag komme ich mit eigener Gelegenheit wieder, um nachzusehen. Auch bei Ihnen ‹, wandte ich mich an den Brauer, ›denn Sie brauchen gleichfalls einen Arzt.‹ Ich betonte die letzten Worte sehr nachdrücklich, der Frau wegen, die als schweigende Dulderin, die sie zu sein schien, mein Mitleid erregte. Der Schlitten war bereit, und der Brauer begleitete mich vors Tor. ›Also auf morgen! Da sprechen wir weiter‹, sagte ich bedeutungsvoll. Er erwiderte nichts und grüßte nur mit dankender Gebärde zum Abschied. Zu schneien hatte es aufgehört. Der Mond war aus den Wolken getreten und warf blendenden Schimmer auf die weiße Fläche. Das Pferd zog kräftig an, und so ging die Rückfahrt besser vonstatten. Gleichwohl schlug die Turmuhr des Städtchens bei meiner Ankunft die zweite Stunde nach Mitternacht. Als ich am nächsten Vormittag in Habrovan erschien, fand ich das Kind in entsprechend besserem Zustande, den Brauer aber als Leiche. Er hatte sich im Gebälk des Malzbodens erhängt.« 3. III. »Die Geschichte ist nicht zu Ende«, sagte ich, da der Doktor eine Pause eintreten ließ. »Gewiß nicht; es würde ja sonst die Pointe fehlen. Also hören Sie nur weiter. Ich gestehe, daß mich der Selbstmord des Brauers zwar überrascht, aber nicht besonders befremdet oder erschüttert hatte. Der Mann war jedenfalls psychopathisch veranlagt, wie sich denn bei der Sektion die Gehirnhäute ungemein verdickt und stellenweise mit der Schädeldecke verwachsen zeigten. Welche Martern wären ihm, welche Martern der Frau und nun gar dem Kinde noch bevorgestanden, wenn dieses nicht bald genug deutliche Merkmale seiner rechtmäßigen Abstammung würde zur Schau getragen haben. Ich hielt also das Ereignis weit eher für einen Glücks- als für einen Trauerfall und verwunderte mich gar nicht, daß die Witwe keinen sonderlichen Schmerz an den Tag legte, sondern sich mehr mit der Sorge zu beschäftigen schien, wie sich nunmehr die Verhältnisse für sie gestalten würden. Es zeigte sich, daß der Brauer einiges Vermögen hinterlassen hatte, das natürlich dem Kinde und somit auch fürs erste ihr zufiel. Da sie nun vollständige Freiheit der Bewegung besaß, kündigte sie den Pachtvertrag und siedelte nach Wischau über. Dort lebten nähere Anverwandte von ihr, die sie jedoch niemals hatte besuchen dürfen, wie auch ihr selbst jeder Empfang verwehrt gewesen. Nach beendetem Trauerjahr verheiratete sie sich mit einem dortigen Gastwirt. Von ihren späteren Schicksalen aber hatte ich um so weniger etwas erfahren, als nicht lange darauf meine Berufung als Werksarzt hierher erfolgte. Da geschah es nach Ablauf von vollen zwanzig Jahren, daß ich mich für kurze Zeit nach Wien begeben mußte. Ich nahm Absteigequartier in der Weintraube, einem kleinen, aber vielbesuchten Hotel auf der Wieden, das meinen Verhältnissen angemessen und überdies für meine Zwecke sehr bequem gelegen war. Tagsüber von Geschäften in Anspruch genommen, besuchte ich abends öffentliche Vergnügungsorte, vor allem die Theater, und nahm dann das Nachtmahl im Hotel ein, in dessen Speiselokalitäten auch zahlreiche auswärtige Gäste erschienen. In einem kleineren Zimmer, wo ich gewöhnlich Platz nahm, befand sich ein sogenannter Stammtisch, an dem eine Gesellschaft älterer Herren zu erblicken war. Dem Aussehen nach Beamte und Geschäftsleute aus der Umgegend. In diesem ziemlich lauten Kreise fiel ein Mann in Uniform besonders auf. Es war ein Finanzwache-Kommissär, der sich sehr selbstgefällig auf den Offizier hinausspielte. Wie eitel er sein mußte, erkannte man sofort an der Geschniegeltheit seines Äußeren und an der Art, wie er mit seiner gepflegten, am kleinen Finger stark beringten Hand den Schnurrbart zwirbelte. Er führte stets das laute Wort und schien überhaupt das unterhaltende Element der Gesellschaft zu sein. Die Tischgespräche drehten sich wohl auch um politische und andere Tagesereignisse, lenkten aber, wie dies im Kreise alternder Männer nicht selten der Fall zu sein pflegt, sehr bald in ein nicht allzu lauteres Fahrwasser ein, auf welchem der Herr Finanzwache-Kommissär besonders gerne segelte. Trotz einer sehr in die Augen fallenden Glatze schien er noch immer auf Abenteuer aus zu sein. Jedenfalls hatte er zahlreiche hinter sich und gab sie auch, mehr oder minder verschleiert, dem aufmerksamen Auditorium mit sichtlicher Vorliebe zum besten. Am Abend vor meiner Abreise war ich sehr spät erschienen. Alle Gäste hatten sich schon entfernt, nur die Tischgesellschaft fand ich noch fröhlich beisammen. Ich saß nun ganz allein in einer Ecke und konnte, da man sich drüben nicht den geringsten Zwang auferlegte, jedes Wort der Unterhaltung vernehmen, bei welcher sich die hohe Stimmlage des Herrn Kommissärs wieder so recht geltend machte. ›Glauben Sie mir, meine Herren‹, hörte ich ihn sagen, ›wir haben eine viel zu ideale Vorstellung von dem Wesen der Frauen, vor allem aber von der sogenannten weiblichen Tugend. Ich kann Sie nur versichern, daß es mit dieser nicht viel besser bestellt ist als mit der männlichen – ja in vielen Fällen noch weit schlimmer, so daß man gar keine Ahnung davon hat, was in dieser Hinsicht einer Frau alles zuzutrauen ist. Ich könnte Ihnen da ein Erlebnis aus meinen jungen Jahren erzählen, das Ihnen ganz unglaublich erscheinen wird – und doch beruht es buchstäblich auf Wahrheit.‹ Da er nun selbstverständlich dringend aufgefordert wurde, fuhr er fort: ›Es war zu Anfang der Sechzigerjahre. Ich hatte mich schon längere Zeit hindurch in einer sehr fatalen Lage befunden. Ich war nämlich, wie ich heute mit einiger Beschämung gestehen muß, kein sehr fleißiger Student gewesen, war bei der Matura durchgefallen, und nachdem ich mich in verschiedenen Berufszweigen ohne besondere Vorliebe versucht hatte, trat ich endlich zu Brünn, das, wie Sie wissen, meine Vaterstadt ist, in die Finanzwache, wo sich mir, da ich doch immerhin Kenntnisse genug besaß, Aussichten zu eröffnen schienen. Gleich bei meiner Aufnahme wurde ich zu einer Abteilung versetzt, die auf dem platten Lande detachiert war. Mein erster Dienst bestand darin, einen alten, griesgrämigen Aufseher nach einem kleinen Dorfe zu begleiten, wo sich ein Bräuhaus befand. Eine miserable, baufällige Kaluppe, deren ganzer Betrieb sich auf ein paar lumpige Pfannen belief. Es war gar nicht der Mühe wert, hinzugehen; man hätte dem Brauer ruhig freie Hand lassen können. Den aber hätten Sie sehen sollen, meine Herren! Ein wahres Monstrum, sage ich Ihnen, das man in einer Jahrmarktsbude hätte ausstellen können; sein Wanst mochte allein einen halben Zentner gewogen haben. Und dieser unförmliche Talgriese, schon in den Vierzigern, hatte ein junges, schlankes Weib, das an Schönheit seinesgleichen suchte. Eine Blondine mit großen blauen Augen, die unter langen Wimpern hervorschmachteten. Ich hatte schon damals einen scharfen Blick für alles Weibliche und was damit zusammenhängt, erkannte daher sofort, daß sie in wenig glücklicher Ehe lebe. Da kann geholfen werden, dachte ich und suchte gleich meine Netze für diese holde Turteltaube aufzurichten. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Mastodon gemacht, an das sie gekettet war. Der Brauer war nämlich eifersüchtig wie ein Türke und hielt seine Frau hinter Schloß und Riegel. Man konnte sie nur jeweilig am Fenster wahrnehmen. Obgleich ich nun merkte, daß sie sich gerne sehen ließ, so zog sie sich doch, wenn ich mit Blicken oder Zeichen nach einer Anknüpfung suchte, gleich wieder zurück, sie wußte sich offenbar beobachtet. Denn da war auch ein Küfer, der aussah wie ein alter Ziegenbock und, wahrscheinlich im Auftrage, stets um das Wohnhaus herumschlich, wenn sich der Brauer nicht drinnen befand. So war denn der Liebe Müh' umsonst. Aber gerade dadurch wurde meine Sehnsucht nach dem reizenden Weibe jeden Tag stärker. Ich fühlte mich schon ganz elend, Essen und Trinken mundete mir nicht, und nachts wälzte ich mich schlaflos hin und her, während mein Kollege, der auf das schlechte Bier, das er sich weidlich schmecken ließ, immer noch einige Schnäpse aufsetzte, wie eine Sägemühle schnarchte. Da geschah es gerade in der Zeit, da das Gebräu schon eingelagert war und wir am nächsten Tage bei unserer Abteilung einrücken sollten, daß der Brauer irgendeine Berufung erhielt, die ihn zwang, eine Nacht fernzubleiben. Als ich das vernahm, war auch sofort mein Plan gefaßt. Das Wohnhaus grenzte dicht an einen ausgedehnten Garten. Vor einem Seitenfenster der ehelichen Schlafstube, die ich schon ausgekundschaftet hatte, ragte ein ziemlich hoher Birnbaum auf. Diesen Baum wollte ich bei einbrechender Nacht besteigen. Denn ich war überzeugt, daß sich, sobald ich mich irgendwie würde bemerkbar gemacht haben, das Fenster öffnen werde – und dann konnte ich, gewandt, wie ich damals war, mit einem kühnen Schwunge oder Sprunge in das Zimmer gelangen. Es war eine rauhe Spätherbstnacht und insofern dem Unternehmen günstig, als vollständige Dunkelheit herrschte. Aber gerade diese Dunkelheit erschwerte es mir auch, mich in der Krone des Baumes erkennbar zu machen; zudem sauste ein scharfer Nordwind und drohte jedes leisere Geräusch, mit dem ich mich allenfalls ankündigen konnte, zu verschlingen. Dennoch erkletterte ich, als mir die richtige Zeit gekommen schien und ich das Fenster erleuchtet sah, den Baum. Hinter den Scheiben befand sich ein Vorhang, der aber nicht vollständig schloß; die Stelle, die er frei ließ, war groß genug, um mir Einblick zu gewähren. Was ich nun vor Augen hatte, entzieht sich der näheren Schilderung, meine Herren. Das schöne Weib, dessen blondes Haar, vom gewohnten Kopftuch befreit, in losen Flechten herabfiel, war eben daran, sich langsam zu entkleiden. In regungsloser Spannung stand ich zwischen den Ästen, mein Herz jedoch pochte wie ein Hammerwerk. Nun galt es aber, mich bemerklich machen, doch wie? Alles Lärmende, das möglicherweise erschrecken konnte, mußte vermieden werden. Ich brach also einen längeren dürren Zweig, um damit sacht, aber vernehmlich in kleinen Zwischenpausen an die Scheiben zu tippen. In diesem Augenblicke öffnete sich im Zimmer die Tür – und der Alte mit dem Bocksgesicht kam hereingehüpft. Und, ohne die Mütze abzunehmen, gerade auf die Frau los, die halb entblößt dastand, um sie – es war wie ein Blendwerk der Hölle – zu umarmen und zu küssen. Sie machte zwar eine Armbewegung, um ihn abzuwehren, aber sie ließ sich doch von ihm weiter seitwärts ins Zimmer hineindrängen, so daß ich jetzt nichts mehr sah als undeutliche Schatten an der Wand .... Meine Situation können Sie sich vorstellen, meine Herren! Ich war außer mir vor Wut und wollte schon das Fenster einschlagen, um mit Gewalt ins Zimmer zu dringen; aber ich hielt an mich, denn ich fühlte mich auch vor mir selbst beschämt, und glitt lautlos auf den Boden hinab. Dort raffte ich eine Handvoll Sand zu einem kräftigen Wurf nach den Scheiben auf; denn ihren Schrecken sollten die Sünder doch haben. Schlafen konnte ich begreiflicherweise nicht und wälzte noch allerlei unsinnige Entschlüsse im Kopf herum, die ich am Morgen wieder fallenließ. Als uns aber beim Abzuge der Küfer mit sichtlich verstörter Fratze gerade noch in den Wurf kam, versetzte ich ihm einen Rippenstoß, daß er an die Wand taumelte, und raunte ihm zu: »Ich weiß alles, du alter Schurke!« Nun wird das Pärchen doch in beständiger Angst leben, dachte ich, und später wandelte mich auch noch die Lust an, dem Brauer irgendeine anonyme Mitteilung zukommen zu lassen. Aber ich tat es nicht und fand schließlich eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken, daß der ausbündige Großtürke von seinem Eunuchen – obwohl diese Bezeichnung im eigentlichen Sinne hier nicht zutraf – gehörnt werde.‹« * * * »Also der Brauer hatte doch recht mit dem Kinde«, sagte ich, als der Doktor schwieg. »Nein, er hatte nicht recht. Und das ist ja das punctum saliens der Geschichte. Das Kind war wirklich das seine. Darüber habe ich im vorigen Jahre vollständige Gewißheit erlangt.« Ich blickte ihn verwundert an. »Sehen Sie, ich bin ein großer Obstfreund. In unserer Gegend gedeiht nicht viel Gutes, und so pflege ich meine Einkäufe gelegentlich auf dem Brünner Markte zu machen. Das geschah auch einmal im verflossenen Sommer, gerade zur Zeit der Melonen, von denen ich ein besonderer Liebhaber bin. Wie ich mich nun auf dem weiten, herrlich von Blumen und Früchten durchdufteten Platz umsehe, gewahre ich eine Händlerin, deren Äußeres eine solche Ähnlichkeit mit dem des Brauers hat, daß ich glaube, er sitze, beiläufig um ein Drittel verkleinert, in Weiberkleidern da. Ich gehe auf die Händlerin zu, die sich in der Nähe weit jünger ausnimmt als vom weiten, und frage: ›Na, Frauchen, haben Sie schöne Melonen?‹ ›Freilich‹, erwiderte sie mit gequetschter, gleichsam in Fett erstickender Stimme. ›Sie sehen sie ja. Sind aus Wischau.‹ ›Aus Wischau? Sie beziehen sie also von dort?‹ ›Wir ziehen sie selbst. Mein Mann ist Handelsgärtner, und um die Zwischenhändler zu ersparen, hab' ich mir die Erlaubnis verschafft, viermal die Woche hier meinen Stand aufzuschlagen.‹ Sie war offenbar eine gute Seele, die sich mit den Käufern gern in ein Gespräch einließ. ›Haben Sie Kinder?‹ fuhr ich fort. ›Natürlich. Drei Stück.‹ ›Und was machen denn die, wenn Sie so oft vom Hause weg sind?‹ ›Auf die Kinder gibt die Mutter acht. Sie hat ein Wirtsgeschäft.‹ ›Und führt sie das allein?‹ ›Mit ihrem zweiten Mann. Von dem hat sie aber keine Kinder.‹ ›Sie sind also aus erster Ehe?‹ Das fortgesetzte Verhör schien sie nun doch schon zu befremden. ›Freilich‹ versetzte sie etwas barsch. ›Warum fragen Sie denn?‹ ›Weil ich glaube, daß ich Ihren Vater gekannt habe. War der nicht ein Brauer?‹ ›Ja, in Habrovan. Und dort bin ich auch geboren. Aber kaufen Sie Melonen?‹« Außer Dienst An einem klaren, aber kalten Maitage, dessen scharfe Lust mich sehr eindringlich an Heines Wort vom »grün angestrichenen Winter« erinnerte, langte ich in einer elenden Postkutsche bei dem Städtchen an. Ich will es nicht nennen, um diese Zwischenstation mit ihrer landschaftlichen Umgebung nicht in Verruf zu bringen, desto freimütiger jedoch kann ich mich darüber äußern. Ich hatte bisher die Überzeugung gehegt und oft ausgesprochen, daß es eine eigentlich häßliche Gegend nicht gebe, daß die Natur nie und nirgend unschön sein könne. Denn um ihren Zauber voll zu empfinden, brauche ich nicht etwa den Golf von Neapel oder irgend eine großartige Alpenlandschaft: mir genügt ein Stückchen Flur oder Feld, von ein paar Bäumen bestanden, oder ein schütteres Kiefernwäldchen auf einem sandigen Hügel; selbst vereinsamt klaffende Bodenrisse, in denen sich allerlei Gestrüpp und Unkraut angewuchert hat, können mich durch ihren malerischen Reiz in Stimmung versetzen. Nun: Flur und Feld mit vereinzelten Bäumen darauf, eine erhöhte schüttere Waldung und weithin klasfende Bodenrisse gab es auch hier. Aber es war alles so wie durcheinander geworfen am unrechten Fleck angebracht; das Auge konnte keine Linie verfolgen und suchte umsonst nach einem Ruhepunkte. Das fahle Grün der Vegetation verschmolz gleichsam mit dem bräunlichen Grau des Bodens, eine Mischung, die sich wie Schmutz ausnahm. Diesen Farbenton wies auch das Städtchen auf. Mit seinem halb in sich zusammengesunkenen Kirchturm und den windschiefen Dächern lag es wie ein Haufen Elend und Verkommenheit da, und zwei angerußte Fabriksgebäude in nächster Nähe machten das Bild nicht lieblicher. Ich empfand also auch nicht die geringste Lust, während des kurzen Aufenthaltes, der mir hier bevorstand, die Gassen und den mutmaßlichen Hauptplatz in Augenschein zu nehmen, sondern zog es vor, im Gasthause zum »Posthorn« zu bleiben, das gleich am Eingange des Städtchens lag, und wo nunmehr die Pferde, der Kutscher und auch meine Wenigkeit abgefüttert werden sollten. Was mich betraf, so verspürte ich bereits große Eßlust. Denn nach einer nächtlichen Eisenbahnfahrt hatte ich nichts anderes zu mir genommen, als ein Glas jenes berüchtigten Milchkaffees, der an Bahnhöfen verabreicht wird. Aber das Aussehen des »Posthorns«, sowie seine ganzen inneren Einrichtungen ließen keine sehr leckere Mahlzeit erwarten. Dagegen hatte das kleine Herrenzimmer neben der allgemeinen Gaststube etwas den Appetit Niederschlagendes. Es war offenbar seit längerem nicht gelüftet worden und roch nach Feuchtigkeit und altem Tabakqualm. Aber was war zu tun? Resigniert setzte ich mich an einen der wenigen Tische und ließ mir meinen Mittag auftragen. Während ich noch die wässerige, mit ockergelben Fettaugen überdeckte Suppe löffelte, trat ein Mann herein, der mich mißmutig von der Seite betrachtete und sich schwerfällig an einem anderen Tische niederließ. Er schien hier Stammgast zu sein, denn hinter ihm erschien sofort die Aufwärterin und stellte mit barscher Vertraulichkeit die Suppenschale vor ihn hin. Er saß mir schräg gegenüber, und das Zimmer war so schmal, daß wir einander sehr deutlich ins Auge fassen konnten. So erkannte ich auch jetzt in ihm einen Regimentskameraden aus meiner Militärzeit. Verändert hatte er sich allerdings in hohem Maße. Früher schlank und zierlich gewachsen, war er jetzt zu unförmlicher Leibesfülle gediehen, die ihm um so übler ließ, als seine ursprünglich schönen und feinen Gesichtszüge gleichsam im Fett zerflossen waren. Dazu noch vor der Zeit gelichtetes, schon leicht ergrautes Haar und vernachlässigte Kleidung, die aus einer Lodenjoppe, ziemlich abgetragenen Beinkleidern und hohen Stieseln bestand. Ich hatte das Gefühl, daß auch er mich erkannt habe; da aber keiner den Anfang zu einer Kundgebung machen wollte, so verzehrten wir beide schweigend unser kärgliches Mahl. Endlich, nachdem die Teller abgeräumt waren, fragte er mit einer Art Verdrossenheit zu mir herüber: »Bist du's, oder bist du's nicht?« »Ich werd' es wohl sein'«, erwiderte ich. »Und du bist es wohl auch.« »Freilich bin ich's«, sagte er und blickte mich dabei wie herausfordernd an. »Aber du bist mit dem Postwagen gekommen und fährst weiter nach B ...?« »Nicht nach B ..., nur nach K ...« »Aha, nach K ...! Gewiß zu der dortigen Herrschaft, die dich geladen hat? Du bist ja, wie ich zufällig in der Zeitung gelesen habe, ein berühmter Mann geworden.« Um seine schlaffen Mundwinkel zuckte es wie verbissener, mit Hohn vermischter Ärger. Derlei halbe Ausfälle schon gewohnt, ließ ich diese Äußerung unbeachtet. »Nein,« sagte ich, »ich bin nicht bei der Herrschaft geladen; ich kenne sie gar nicht. Ich besuche nur einen Freund, der in K ... ein kleines Anwesen hat; dort will ich den Sommer zubringen. Aber wie kommst du hierher?« »Wie ich hierher komme? Ich lebe hier in Pension.« »In diesem Nest?« »Wo soll ich denn leben? Etwa in Wien – damit ich dort verhungere?« »Nun, es gibt noch andere Orte –« »Keinen gibt's, wo man mit einer Oberleutnantspension auskommen könnte. Es wäre denn irgend ein ganz weltverschlagenes Dorf. Und dahin könnte ich mich auch nicht ziehen, weil ich doch in einem gewissen Kontakt mit den Militärbehörden bleiben muß. Also eine Stadt taugt für mich nicht – und alle größeren Ortschaften auf dem Lande haben längst angefangen, sich zu modernisieren und in Sommerfrischen oder Luftkurorte umzuwandeln. Davon ist hier keine Rede.« »Das glaub' ich«, sagte ich. »Die Gegend ist nicht danach angetan.« »Zum Glück nicht. Denn siehst du, gerade diese Gegend ist mir ans Herz gewachsen. In ihr fühl' ich mich wohl – soweit ich mich überhaupt wohl fühlen kann.« »Aber wie ist es eigentlich mit dir?« fragte ich zögernd. »Warum bist du denn in Pension gegangen?« »Gegangen!« hohnlachte er. »Gegangen! Aber freilich, du bist ja schon viel früher weg, und da kannst du nichts wissen. So will ich dir's kurz auseinandersetzen. Bekannt ist dir, wie aufsässig mir unser Oberst seit jeher gewesen. Warum, weiß ich eigentlich selbst nicht.« »Nun, Anlaß hast du ihm hin und wieder schon gegeben.« »Was für Anlaß?« erwiderte er giftig. »Im Dienst hab' ich immer meinen Mann gestellt, das wirst du mir nicht bestreiten können. Nur die Gage hat bei mir nie gelangt. Und da hab' ich Schulden gemacht. Aber das war so ziemlich allgemein. Bist du vielleicht mit den dreiunddreißig Gulden ausgekommen?« »Allerdings nicht.« »Na also! Und der Conte Smechia – und der Desy – und wie sonst die Günstlinge des Trentusch hießen, die verspielten Hunderte im Macao und wurden von dem Prager Juden auf Wechsel geklagt, ohne daß es ihnen bei dem gestrengen Herrn geschadet hätte. Aber weil ich bei dem Gastwirt in der Nähe der Kaserne mit dem Kostgeld in Rückstand geblieben war – und den Schuster und die Waschfrau nicht bezahlen konnte, drohte er mir mit Entlassung. Ich war eben ein armer Teufel, der sich nicht zu helfen wußte. Von Hause bekam ich gar nichts. Denn meine arme Mutter lebte selbst nur sehr kümmerlich von einem kleinen Witwengehalt. Das allein hat mich in seinen Augen schon herabgesetzt, denn er wollte nur vermögende Offiziere im Regiment – oder Komißknöpfe, die die Kunst verstanden, von Wasser und Brot zu leben. Wie oft er mich bei der Beförderung zum Oberleutnant übergangen hat, wird dir doch wohl noch in Erinnerung sein. Auch daß ich während des Feldzuges im Jahre 59 zum Depotbataillon versetzt worden bin, nur damit ich nicht etwa Gelegenheit fände, mich auf dem Schlachtfelde auszuzeichnen. Als der Friede geschlossen war, konnt' ich wieder einrücken. Du hast damals quittiert, ich aber mußte als Leutnant weiter dienen, während einige meiner Rangsgenossen schon Hauptleute waren. Was ich dabei litt, kannst du dir denken. Aber was hätte ich anfangen sollen? Zum Glück kam ich nach einiger Zeit in ein anderes Regiment. Zu Nr. 80. Dort unter Fremden war die Sache erträglicher. Auch traf ich auf einen wohlwollenden Oberst, der Anteil an meinem Geschick nahm. Aber was half's? Befördern konnte er mich doch nicht; es gab ja jetzt Überzählige genug. Erst im Jahre 64, als wir in Schleswig-Holstein für die Preußen die Kastanien aus dem Feuer holten, und das Regiment dorthin abzog, eröffneten sich Aussichten. Aber gleich im ersten Treffen bei Overselk bekam ich zwei dänische Kugeln in den Leib. Die eine da ins linke Bein, die andere in die rechte Seite zwischen die Rippen. Und die hab' ich noch in mir.« »Die hast du noch?« »Freilich hab' ich sie. Sie konnte nicht aufgefunden werden. Da war an kein Weiterdienen zu denken. Schon des Hinkebeins wegen, das mir geblieben ist. Und so bin ich denn noch glücklich als Oberleutnant pensioniert worden.« »Und die Kugel macht dir keine Beschwerden?« »Nicht sonderlich. Sie wandert so in mir herum. Einmal spür' ich sie da, einmal dort. Und dann stellen sich auch Beklemmungen und Atemnot ein.« »Aber da würde ich mich doch gründlich untersuchen lassen.« »Was nützt alle Untersuchung! Ich kann mir doch den Leib nicht zerschneiden lassen.« Ich schwieg, denn Röntgens Entdeckung war noch nicht gemacht. »Die Ärzte haben mir damals gesagt,« fuhr er fort, »daß die Sache solange nichts auf sich habe, bis sich die vermaledeite Bohne an irgend ein edles Organ macht. Dann freilich könne es sehr arg werden. Na, und das wart' ich ab.« »Das ist sehr traurig«, sagte ich nach einer Pause. »Lustig ist's nicht. Aber ich habe mich nachgerade an diesen Zustand gewöhnt und bin schließlich froh, daß ich mein verpfuschtes Dasein in Ruh' und Frieden ausknirschen kann.« »Hättest du nicht doch trachten können, irgend eine Beschäftigung zu finden –« »Beschäftigung?« erwiderte er, den Kopf zurückwerfend. »Etwa als Schreiber bei einem jüdischen Advokaten? Oder so was. Dafür dank' ich ergebenst. Ich ziehe es vor, unabhängig zu leben. Und dazu ist dieser Ort, an den ich durch einen Zufall geraten bin, wie geschaffen.« »Aber bringt dich hier nicht die Langeweile um? Was tust du denn den ganzen Tag?« »Mein Lieber, darauf kann ich dir mit der alten Anekdote aus den Fliegenden Blättern antworten. Ein Professor fragt einen Ziegenhirten auf freiem Felde, woran er den ganzen Tag denke? Ich bin nicht so dumm, versetzte der Ziegenhirt, daß ich an etwas denken müßte. Und siehst du: ich bin nicht so dumm, daß ich etwas tun müßte. Ich habe mir meinen Tag eingeteilt, und da vergeht er mir sehr rasch –« »Da wär' ich doch neugierig.« »Wirst es gleich hören. Des Morgens – allzu zeitig erwache ich nicht – nehm' ich den Kaffee im Bett und rauche meine Pfeife dazu, denn Zigarren trägt es mir nicht. Dann kleid' ich mich langsam an und mache trotz meiner Schwerfälligkeit einen ausgiebigen Rundgang um das Städtl. Immer denselben Weg, nur daß ich ihn zur Abwechslung einmal von rechts, einmal von links beginne. Dabei freue ich mich, daß ich stets auf die bekannten Gegenstände treffe. Aha, denk' ich mir, da steht der alte Birnbaum, den die Raupen jeden Sommer kahl fressen. Und jetzt komm' ich bald an den breiten Graben, den ich nur mit Mühe übersetzen kann. Und dort seh' ich schon die verfallene Hütte, vor der die zerlumpten Kinder lungern und mich anbetteln. Zuweilen schenk' ich ihnen auch einen Kreuzer. Na, und so vergeht die Zeit bis Mittag. Da verzehr' ich, wie du gesehen hast, meinen Schlangenfraß. Er könnte noch schlechter sein, denn der Wirt hat mich gegen Überlassung von zwei Dritteln meiner Pension in Wohnung und Verpflegung genommen. Ob er etwas dabei verdient, weiß ich nicht; jedenfalls läßt er mich merken, daß er mir eine Gnade erweist. Nach Tisch rauche ich auf meinem Zimmer wieder meine Pfeife. Dabei fange ich zu lesen an. Romane natürlich. Lauter solche, die heute schon ganz aus der Mode gekommen sind; in der hiesigen Leihbibliothek kriegt man eben keine anderen. Begonnen habe ich mit Sue und Dumas. Die Geheimnisse von Paris, der ewige Jude – und auch der Montechristo sind ganz großartige Werke. Auch von Boz einiges. Die Pickwicker und den Oliver Twist habe ich mehrmals nacheinander gelesen. Ich glaube nicht, daß einer, der heute schreibt, ähnliches zustande bringt. Aber auch der Hauff, der Zschokke und der Van der Velde sind ganz tüchtige Kerle. Nun bin ich freilich schon zu Clauren, Cramer und Spieß hinauf- oder eigentlich herabgekommen – und so wird es nicht mehr lange weitergehen; werde nach alten Zeitungen greifen müssen. Also wie gesagt: nachmittags lese ich. Dann hänge ich in den Dämmerstunden meinen Gedanken nach und lasse meine ganze Vergangenheit an mir vorüberziehen. Lauter böse Erinnerungen. Aber sie schmerzen mich nicht. Vielmehr ist es mir ein eigenes Behagen, bei den ärgsten zu verweilen und mir alle Einzelheiten so recht im Geiste auszumalen. Dabei sag' ich mir mit einer Art Genugtuung: siehst du, das alles hast du erleben müssen!« »Aber du wirst doch auch angenehme Erinnerungen haben?« »Keine! Keine einzige! Nicht einmal aus meiner frühen Jugend, wo doch jeder mal, und wenn es ihm auch sonst noch so schlecht erging, seine Freuden gehabt hat. Mein Vater war sehr früh gestorben, und so wurde mir meine Knabenzeit durch einen Vormund vergällt. Der hatte beständig an mir zu nörgeln und zu hofmeistern. Ich lernte ihm immer zu wenig, und sein größtes Vergnügen war, in Gegenwart meiner Mutter die Prophezeiung auszusprechen, daß ich es niemals zu etwas bringen würde. Na, und eigentlich hat er ja recht gehabt.« »Du bist doch Offizier geworden.« »Mit Müh' und Not! Anderen kam das goldene Portepee nur so zugeflogen. Ich aber habe mich fünf Jahre lang als Kadett schinden müssen. Unter dem Hauptmann Wucic, dem rohen Kroaten – und unter dem heimtückischen Pasch. Das war eine Höllenzeit!« »Aber später als Leutnant. Du warst doch ein hübscher Bursche, und soviel ich weiß, hat es dir an Liebschaften nicht gemangelt.« »Liebschaften!« rief er unwillig aus. »Verliebt war ich freilich oft genug, aber wie Nestroy in einem seiner Stücke sagt: mit der Gegenliebe hat es gehapert. Ich bin niemals an die Rechte gekommen.« »Wie war's denn mit der schönen Juwelierstochter in Prag, die aussah wie eine Neapolitanerin. Die soll doch – –« »Hör' mir auf mit der! Die war nichts als eine abgefeimte Kokette, die mit dreien von uns zu gleicher Zeit angefangen hatte. Mit mir, dem Hübl und dem Paravicini. Jedem hat sie Blumen geschickt, jedem auf Rosapapier die ganz gleichen Briefchen geschrieben und ihn dahin bestellt oder dorthin. Ins Theater, ins Konzert – oder auf die Sophieninsel. Schließlich sind wir ihr darauf gekommen; du kannst dir denken, was für Gesichter wir gemacht haben. Und auf den Schlag waren fast alle, denen ich wie ein Narr nachgerannt bin.« »Aber die schlanke Blondine, mit der man dich so oft gesehen hat. Die hättest du ja, glaub' ich, heiraten sollen?« »Freilich hätt' ich! Und ich war auch nahe daran, die Torheit zu begehen und ihretwegen in den Finanzdienst zu treten. Kaution hatte sie ja keine. Aber ich habe noch zu rechter Zeit erfahren, daß sie vor mir ein Verhältnis mit einem Studenten gehabt hatte, das nicht ohne Folgen geblieben war. Die hatte sich mir allerdings an den Hals geworfen, aber geliebt hat sie mich nie. Ich sage dir: mich hat nur einmal ein Mädel wirklich gern gehabt: die kleine Fanuschka in Znaim.« »Die –?« »Mach' kein so verächtliches Gesicht! Das war eine Perle – wenn man sie auch bei der Madame Kokum haben konnte. Ihre eigene Mutter hat sie hingeschickt, wenn sich kein Kreuzer Geld im Hause befand.« »Du hast dich also näher mit ihr eingelassen?« »Nun ja – wie man's nimmt. Mir gefiel das arme Ding, das gleich beim ersten Zusammentreffen eine Neigung zu mir gefaßt hatte. Die erste im Leben, wie sie mir sagte. Sie war ja auch noch blutjung, kaum siebzehn. Die Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen, waren schauderhaft. Einen Vater schien sie nie gekannt zu haben. Ihre Mutter, ein noch ganz hübsches Weib, war dem Trunk ergeben und hing überdies an einem verlumpten Kerl. Außerdem war eine alte Großmutter im Hause, stocktaub und seit Jahren gelähmt. Daß ich unter solchen Umständen mit Geld aushelfen mußte, begreifst du. Es war freilich nicht viel, denn die Kleine machte gar keine Ansprüche und war zufrieden, wenn sie sich ein bißchen Kaffee kochen konnte. Auch die Mutter war bei all ihren Untugenden nicht gerade habgierig. Aber ich hatte ja selbst nichts und mußte mich schließlich an einen Wucherer wenden, der mir die Haut über die Ohren zog. Darum war ich auch froh, als der plötzliche Marschbefehl der Geschichte ein Ende machte, und kümmerte mich den Teufel um die Träuen des verzweifelten Mädels, das mich beim Abschied fast wie eine Irrsinnige umklammerte. Ich hatte noch die letzte Nacht bei ihr zugebracht und konnte nur mit Gewalt verhindern, daß sie mir um fünf Uhr morgens auf den Hauptplatz nachrannte, wo schon meine Leute mit dem Vorspannswagen auf mich warteten, denn ich hatte als Quartiermacher vorauszugehen. Ja, damals steckte ich auch noch voller Vorurteile und legte keinen Wert auf die Liebe des unglücklichen Geschöpfes. Heute möcht' ich sie mit meinen Nägeln aus der Erde herauskratzen.« »Aus der Erde? Ist sie tot?« »Freilich. Hier in meiner Einsamkeit hab' ich die Briefe gelesen, die sie mir nach Wien schrieb – und die ich damals unbeantwortet gelassen – ja oft gar nicht angesehen hatte. Ich sage dir: trotz der ganz unmöglichen Orthographie, um einen Stein zu erweichen. Und da hat mich eine solche Sehnsucht nach ihr überkommen, daß ich auf gut Glück nach Znaim schrieb. Eigentlich ein Unsinn, denn es waren ja fast zehn Jahre darüber hingegangen. Natürlich erhielt ich keine Antwort. Aber ich wollte nun einmal etwas über ihr Schicksal erfahren; wenn's halbwegs möglich gewesen wäre, hätte ich sie hierher genommen. Und so wendete ich mich an das dortige Gemeindeamt. Man ließ mich warten. Endlich kam die Nachricht, daß Franziska Bischof am 1. Mai 1856 gestorben ist.« Er schwieg und blickte vor sich hin. »Kannst du dich noch erinnern, wie sie aussah?« fragte er nach einer Weile. »So ganz deutlich nicht mehr. Ich habe sie ja auch nur ein paarmal flüchtig gesehen.« »Reizend war sie mit ihrem zierlichen Körperchen! Die lockigen goldbraunen Haare rundum geschnitten – ein wahres Engelsköpfchen. Und die lieben blauen Augen! Aber daß sie Anlage zur Schwindsucht hatte, ließ sich auch schon erkennen. An ihren Schläfen war die Haut so fein und durchsichtig, daß man die Äderchen darunter zählen konnte. Und das Rot, das oft auf ihren Wangen brannte, war kein gesundes.« Er strich mit der Hand über die Tischplatte. »Na, hin ist hin! Ich werd's auch nicht mehr lange machen. Und das ist gut. Morto io, morto un cane. « »Du solltest so nicht reden.« »Warum denn nicht? Ich bin überzeugt, daß du dir ganz dasselbe denkst. Und dann soll man mich auch einscharren wie einen Hund. Einen militärischen Leichenkondukt, den sie etwa aus B ... hierher senden möchten, werd' ich mir verbitten. Schad' ums Pulver, das dabei verschossen würde. – Aber mir scheint, da kommt schon der Kutscher, um dich zu holen. Es ist Abfahrtszeit.« Es war so. »Also, leb' wohl«, sagte er, während wir uns jetzt beide erhoben. »Wiedersehen werden wir uns wohl kaum mehr.« »Nun, vielleicht bei meiner Rückkehr.« »Ach was, bis dahin –« Es klang wie eine Ablehnung, und so drückte ich ihm schweigend die Hand. Er geleitete mich zum Tor, unter dessen Bogen er stehen blieb. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, winkten wir noch einander zu. Der Tag hatte sich inzwischen verdüstert. Graue Wolken waren aufgestiegen und trieben am Himmel hin. Zu beiden Seiten der Straße zeigten sich weitgedehnte fahlbraune Felder mit kümmerlicher Saat, aus welcher hin und wieder krächzende Dohlen träg aufflogen. Ich hüllte mich fester in meinen Mantel. Tiefe Traurigkeit überkam mich, während ich jetzt ein Menschenschicksal überdachte, das vielleicht auch mein eigenes hätte werden können ..... Die Heirat des Herrn Stäudl 1. I. »Danke, Herr Landesgerichtsrat. Ich setze mich nicht. Ich kann aufrecht vor Ihnen stehen.« Und Herr Stäudl richtete seine eingesunkene knochige Hünengestalt in ihrer ganze Höhe empor, so daß ihn der Untersuchungsrichter und sein Schriftführer mit einigem Erstaunen ansahen. »Nun, wie Sie wollen. Aber Sie haben das Recht, sich auf den Stuhl niederzulassen. Und es wäre mir angenehmer; Sie verdunkeln uns sonst den Tisch. Auch haben Sie ja viel vorzubringen.« »Das würde mir nichts machen, Herr Landesgerichtrat. Da Sie es aber wünschen so werde ich mich setzen.« Er tat es und legte die unglaublich großen, mit verschrumpften Hautfalten bedeckten Hände vor sich auf die Knie. Der lang hinabfallende, halb ergraute Zottelbart, die kahle, vielfach gehöckerte Schädeldecke, die weit aufgerissenen farblosen Augen, die starr auf den Richter geheftet waren, gaben dem Manne etwas unheimlich Wildes, das nur durch schmerzlichen Ausdruck in seinem schlaffen, bräunlich fahlen Antlitz gemildert wurde. »Sie können beginnen, Herr Stäudl.« »Nun alsdann. Aber um alles genau auseinanderzusetzen, werde ich von kleinauf anfangen müssen.« »Tun Sie das.« »Nun alsdann. Sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, ich hatte mich seit jeher von den Weibern ferngehalten. Nicht etwa, daß ich keinen Gefallen an ihnen gefunden hätte oder daß ich, wie so mancher, zu schüchtern gewesen wäre, mich an sie heranzumachen. Keineswegs. Aber ich bin immer sehr stolz gewesen auf meine Mannheit und habe es unter meiner Würde gehalten, mich mit ihnen abzugeben. Schon als ich noch die Schule besuchte, war es so. Damals saßen Buben und Mädel in einem Klassenzimmer beisammen, und da suchten bereits die meisten Knirpse mit den kleinen Flittchen anzubandeln. Sie steckten ihnen Zettelchen zu und waren froh; wenn sie in ihrer. Gesellschaft allerlei Schabernack treiben konnten. Ich aber hielt mich vollständig abseits und sprach mit keiner ein Wort. Ich merkte, daß sie sich deshalb über mich lustig machten. Sie spielten. mir allerlei Streiche und legten mir zuletzt förmliche Fallen, um mich an sich zu bringen. Aber ich wußte immer auszuweichen. Das verdroß sie nach und nach. Sie zogen mir schiefe Gesichter, und schließlich taten sie so, als wär ihnen nicht das geringste an mir gelegen. Ich aber fuhr fort, mit Verachtung über sie hinwegzublicken. Nur ein einziges Mal habe ich mich herabgelassen. Es war da ein schmächtiges, flachshaariges Ding, dessen Eltern gleich den meinen ziemlich weit draußen vor der Stadt wohnten. Ich meine Korneuburg, wo ich geboren bin. Die Franzl, so hieß die Kleine, hatte also denselben Weg zu machen. Es fiel mir aber nicht ein,. mich ihr anzuschließen. Ich grüßte sie nicht einmal und überholte sie stets mit langen Schritten. Eines Tages jedoch, im Winter, gab es einen argen Schneesturm. Dabei stellenweise scharfes Glatteis, so daß das arme Mädel nicht wußte, wohin es den Fuß setzen sollte. Sie trippelte und wankte hin und her, bis sie endlich der Länge nach auf den Rücken plumpste. Da hielt ich es denn doch für meine Pflicht, ihr aufzuhelfen und sie nach Hause zu führen, wobei sie sich gleich einer Klette an mich hängte. Seitdem ging ich mit ihr. Denn sie gefiel mir, weil sie ein sanftes, stilles Kind war, keine ausgelassene Schnattergans wie die anderen. Aber ich schloß mich nicht etwa gleich von der Schule weg an, sondern erst draußen, wo das freie Feld begann; denn meinem Ansehen wollte nichts vergeben. Das dauerte so ein paar Wochen, bis Tauwetter mit starkem Regen, eintrat. Als ich nun eines Nachmittags so recht im Gusse auf sie wartete, sah ich, wie sie einem anderen Jungen, den ich überdies seit jeher nicht hatte ausstehen können, herankam. Der hoffärtige Schlingel – er war der Sohn eines Beamten – hatte einen Regenschirm, während ich natürlich keinen besaß, und den hielt er über der Franzl ausgespannt, die darunter ganz. stolz seelenvergnügt einherging. Kaum hatte ich das gesehen, als ich auch schon kehrtmachte und nach Hause eilte. Seit diesem Tage sprach ich mit der Franz I kein Wort und grüßte sie nicht einmal mehr.« »Es scheint, daß Sie eifersüchtig waren«, sagte der Richter. »Keineswegs. Ich. dachte mir: Warum braucht. sie sich von dem Laffen mit einem Schirm begleiten zu lassen? Kann bis auf die Haut durchnäßt werden, kann sie es auch.« »Eine eigentümliche Auffassung.« »Mag sein. Aber ich war nun einmal so – und blieb es auch, als ich heranwuchs und mich der Gärtnerei widmete, zu der ich große Lust und Liebe hatte. Ich arbeitete zuerst in der Lehre bei einem benachbarten Nutzgärtner; später nahm mich über Verwendung meines Onkels, der in Wien lebte, ein Herrschaftsgärtner in Hietzing zu sich, und nach ein paar Jahren kam ich schon als Gehilfe in die großen Villengärten des Herrn Ritter von Artner. Sie werden sie wohl kennen oder wenigstens davon gehört haben, denn die dortigen Treibhäuser sind eine Sehenswürdigkeit. Der damalige Obergärtner hieß Nowak. Ein sehr hervorragender Mann in seinem Fache; als Rosenzüchter stand er weit und breit in Ruf. Er erkannte auch bald meine Fähigkeiten und zog mich im Laufe der Zeit den älteren Gehilfen vor. Die waren zwar nicht ungeschickt, aber faul und leichtsinnig. Sie taten was sie gerade mußten; im übrigen gingen sie ihrem Vergügungen nach. Ich aber blieb des Abends immer zu Hause, wo ich allerlei Bücher über die Gartenkunst las. Die andern verdroß das. Sie fingen an, mich zu hänseln und zu vexieren; zuletzt suchten sie gar, mit mir anzubinden. Ich aber, als sie mir einmal, ihrer drei, zu Leibe wollten, stieß ihnen mit diesen Händen« – Herr Stäudl hob sie mit ausgespreizten Fingern in die Luft – »die Köpfe aneinander. Da hatte ich Ruhe; sie erkannten und fürchteten meine Stärke. Auf diese Art stieg ich mehr und mehr im Ansehen, so daß mich sogar der Herr Ritter von Artner mit einer lobenden Ansprache auszeichnete. Dies, sowie meine zunehmende Fertigkeit ließen mich hoffen – und auch Herr Nowak war dieser Meinung –, daß ich Aussicht hätte, dereinst Obergärtner zu werden. Er selbst, schon an die Siebzig, wurde von Jahr zu Jahr gebrechlicher. Bei alledem führte ich mein eingezogenes Leben fort. Mäßigkeit war immer mein Wahlspruch gewesen, obgleich mich die meisten deswegen für einen Knauser hielten. Des Morgens ein Stück Brot und. einen Trunk Wasser. Mittags im nächsten kleinen Wirtshaus Suppe, Fleisch, Gemüse. Basta. Abends wieder ein Stück Brot und ein Seidel Wein, das, ich mir selbst nach Hause holte. Mich wie die andern mit Weibsbildern abzugeben fiel mir nicht ein. Aber ich dachte endlich im stillen daran, mich zu verheiraten. Denn das schien mir unerläßlich, wenn. ich, woran ich nicht mehr zweifelte, bald Obergärtner sein würde. Ich hatte auch schon ein Mädchen ins Auge gefaßt: die Tochter eines Handelsgärtners an der Nußdorfer Lände, mit welchem wir in Geschäftsverbindung standen, indem wir ihm Pflanzen und Setzlinge abließen und umgekehrt. Als ich Gertrud, so hieß das Mädchen, zum ersten Mal sah, stand sie gerade am Herd und kochte. In der Küche alles sehr sauber und nett. Sie selbst eine stattliche, kräftig gebaute Person, die mir wohlgefiel. Die würde, so schloß ich, eine tüchtige Hausfrau abgeben – um so mehr, als sie auch, ihrem ganzen Benehmen nach, sehr züchtig und tugendhaft zu sein schien. So ließ ich denn meine Absicht den Vater merken, der darüber sehr froh war, da er um meine Aussichten wissen mochte. Es kam zu näherem Verkehr, und ich und das Mädchen galten schon als Verlobte. Aber in alle Ehren. Das Haus betrat ich nur an Sonntagen. Und zwar nachmittags zur Jause. Dann gingen wir, immer im Beisein des Vaters, in den Nußdorfer Bockkeller zum Bier oder nach Heiligenstadt zum Heurigen. Das tat ich eigentlich nur dem Alten zulieb, der nicht ungern ins Glas guckte. Aber um neun Uhr mußte es ein Ende haben, denn ich war seit jeher gewohnt, früh schlafen zu gehen. So zog sich die Sache fast ein Jahr hin. Mit einmal ganz plötzlich, wurde ich zum Ritter von Artner gerufen. Er teilte mir mit, daß Nowak mit Neujahr zur Ruhe gesetzt werde und ich an seine Stelle ernannt sei. Ich dankte ehrerbietig, aber aufrecht. Denn sosehr mich die Ernennung freute, war es doch auch ein Vorteil für den Herrn Ritter von Artner, daß er einen Mann wie mich als Obergärtner bekam, Aber im Innern war ich doch sehr aufgeregt, und da trieb es mich, meine Zukünftige von dem Ereignis in Kenntnis setzen. Wie gesagt, kam ich an Wochentagen niemals hin. Aber heute war gerade erst Montag; ich hätte also die Woche warten müssen. Freilich hätte ich auch schreiben können; aber das fiel mir zum Glück nicht ein, sondern ich eilte schnurstracks hinab an die Nußdorfer Lände. Trat ohne weiteres ins Haus, das mitten in dem großen Gemüsegarten lag – und dann gleich rechts in die Küche hinein, wo ich die Gertrud um diese Zeit sicher anzutreffen hoffte. Sie war auch dort. Aber dicht bei ihr, gewissermaßen Kopf an Kopf, stand der Bäckerjunge, der in dieser Gegend Brot und Semmeln austrug – ein bartloser Bursche von siebzehn oder achtzehn Jahren. Am linken Arm den Korb, hatte er den rechten um ihre Mitte geschlungen, es sah aus, als hätt sich die beiden soeben geküßt. Ich das sehen und kehrtmachen und nach Hause gehen war eins. Dort erst fing mich die Sache zu wurmen an. Aber mein Stolz behielt die Oberhand. Ein Mädchen, das sich von einem Bäckerjungen. küssen läßt, ist nicht wert, daß du noch an sie denkst. So sprach ich zu mir selbst. Und dabei blieb es, ob mir auch der Alte ganz weinerlich auf die Bude gerückt kam und alles nur auf den Bäckerjungen schieben wollte, dessen unziemlicher Frechheit sich seine Tochter nicht hätte erwehren können. Ich erwiderte darauf gar nichts und wies ihm bloß mit einer bezeichnenden Handbewegung die Tür. Einen dicken Schreibbrief, den mir die Gertrud schickte, zerriß ich ungelesen. Kurz: so, als wäre gar nichts vorgefallen und als hätt ich das Mädchen niemals gesehen, trat ich zu Neujahr mein Amt an. Ans Heiraten dacht ich nicht mehr. Die einzige Sorge in dieser Beziehung machte mir die große Wohnung,. die ich jetzt bekam. Drei sehr geräumige Zimmer außer der Küche und sonstigem Zubehör. Aber da war ja bald geholfen. Ich sperrte die letzten zwei Zimmer ab. In das erste ließ ich das Bett schaffen, in dem ich bis jetzt geschlafen hatte; die andern notwendigsten Möbelstücke. kaufte ich mir – und führte ganz ruhig meine Junggesellenwirtschaft fort. Einen Augenblick dachte ich daran, eine Magd zu halten. Aber eine junge oder jüngere wäre nicht passend gewesen – und vor alten Weibern habe ich immer Abscheu empfunden. Schöpfte mir also auch als Obergärtncr beim Brunnen das Wasser, ging zum Mittagessen ins Wirtshaus holte mir abends meinen Wein herüber – und räumte täglich mit eigenen Händen auf. Ich hätte zwar das meiste durch einen Gärtnerburschen besorgen lassen können – und ein anderer hätte es auch getan. Ich aber hielt strenge Dienstordnung; es sollte nicht heißen, daß ich einen der Leute, die der Herr Ritter von Artner bezahlte, für mich verwende. So lebte ich also für mich allein, einen Tag wie den andern, fast zehn Jahre lang und befand mich wohl dabei – bis ich endlich – –« Herr Stäudl brach ab und blickte starr vor sich hin. »Bis Sie endlich doch heirateten«, sagte der Richter. »Lassen Sie hören, wie Sie dazu gekommen sind.« 2. II. »Ja, wie das gekommen ist« – sagte Herr Stäudl, ohne sich erregen. »Das ist so gekommen. Der Herr Ritter von Artner hatte einen Bedienten, der bei ihm und seiner Familie sehr in Gunst stand. Er verdiente es auch, denn er war ein brav Mensch, willig und unermüdlich – ein Böhme von Geburt. Er hieß Thomas. Da er, wie gesagt, sehr in Gnaden stand, war ihm gestattet worden, ein Mädchen zu heiraten, in er sich verliebt hatte. Auch eine Böhmin. Ins Haus aber durfte er sie nicht nehmen, sondern es wurde für sie in Nähe der Villa, wo die Herrschaft sich aufhielt, eine Wohnung genommen. Dort gebar sie in den nächsten Jahr zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Man nannte sie nach ihrem Manne die Thomasin. Sie galt als hübsch Weib und stand insofern auch im Dienste der Herrschaft, sie bei der Wäsche und sonstigen Verrichtungen mithalf. Ich selbst kannte sie kaum. Ich hielt mich ja fast den ganzen Tag in den Gärten auf, und wenn ich ihr je einmal begegnete, blickte ich – wie überhaupt bei meiner Größe über alle Weiber – auch über sie hinweg, denn die Freude machte ich keiner, mich zu bücken, um ihr unter das Kopftuch oder unter den Hut zu schauen. Kurz, ich wußte eigentlich gar nicht, wie sie aussah. Da geschah es, daß ihr Mann starb. Er hatte sich, wie es hieß, durch einen kalten Trunk, den er erhitzt getan ein Lungenübel zugezogen, das ihm den Garaus machte. Nun hatte die Herrschaft die Wittib auf dem Halse. Sie erhielt Pension und überdies freie Wohnung in einem kleinen, außer Gebrauch befindlichen Maschinenhause, wo Wasser aus der Donau heraufgepumpt wurde und das in einem der unteren Gartenteile lag. Als ich davon in Kennt gesetzt wurde, erlaubte ich mir, Einsprache zu tun. Denn gerade um das Häuschen herum lagen meine feinsten Obstkulturen, denen zwei übel gehütete Rangen großen Schaden tun konnten; auch war ja der ganze Blumenflor vor solchen Grasteufeln nicht sicher. Aber der Herr Ritterr von Artner, dem das Weib höchstwahrscheinlich den Aufenthalt in dem Häuschen abgebettelt hatte, bestand auf seiner Anordnung. Wenn ich merkte, sagte er, daß die Kinder etwas verwüsten, so möchte ich es nur melden, er würde dann schon Abhilfe zu treffen wissen. Da konnte ich denn nichts mehr einwenden, dachte aber bei mir: den Aufpasser und Ankläger mach ich nicht; ich werde schon selbst Vorsorge treffen. Beschloß also,. mit der Thomasin, sobald sie eingezogen war, ein Wort zu reden. Als ich sie – es war an einem schönen Maimorgen – aufsuchte, stand sie mit ihren Kindern gerade vor der Tür. Ich trat auf sie zu, und zwar mit sehr strenger Miene, so daß sich, wie ich bemerken konnte, die Kinder gleich vor mir zu fürchten anfingen, was ich gerade bezwecken wollte. ›Frau Thomasin‹, begann ich ohne jede weitere Begrüßung, ›Sie haben von der Herrschaft hier Wohnung erhalten. Gut. Aber sie liegt in den Gärten, und für diese bin ich verantwortlich. Ich verbiete also Ihnen und den Kindern, irgend etwas anzurühren. Weder Blumen noch Früchte. Auch kein Fallobst, denn selbst dieses wird aufgelesen und in Rechnung gestellt. Wenn Sie Gemüse oder sonstiges benötigen, so haben Sie sich an den ersten Gehilfen zu wenden, der es Ihnen zum billigsten Preis ablassen wird. Hoffentlich haben Sie mich verstanden, und ich mache Sie daher auch für die Kinder verantwortlich.‹ Das Weib war bei dem ganz verdutzt dagestanden und hatte mich mit halb offenem Munde angestarrt. Jetzt sagte sie in singendem Böhmisch-Deutsch: ›Aber Jesus! Was glauben S' denn, Herr Stäudl? Wer'n mir was anrühr'n? Bitt' ich Ihne! Könnt' uns einfall'n so was! Meine Kinderle sind brav. Schaun Sie S' nur an, sind ja liebe Kinderle!‹ ›Hab' sie schon gesehen‹ sagte ich und blickte weg. Das tat ich aber eigentlich nur, um die Thomasin nicht länger anschauen zu müssen. Denn die war wirklich ein hübsches Weib. So gegen die Dreißig. Nicht gar groß, aber auch nicht klein. Voll, aber doch schlank. Und eine Haut hatte sie milchweiß. Und braune Haare, die in der Sonne wie Gold glänzten; auch die Augen, die von derselben Farbe waren. Es war Zeit, daß ich ging, und so wendete ich mich einem kurzen, barschen Gruß. Sie aber suchte mich beim Arm festzuhalten, indem sie sagte: ›Sein S' doch nit so bös, Herr Stäudl! Mir wer'n Ihne kan Verdruß machen. Wer'n S' seh'n, wir wer'n ganz gut auskummen miteinand.‹ Und dabei lächelte sie mit einem ganz eigenen Zug um den Mund, rot war wie eine Granatblüte. Natürlich riß ich mich gleich los; aber meine Hand war zufällig mit der ihren in Berührung geraten, und da fühlte ich, wie es mir heiß durch den Arm hinaufging bis in die Brust. Eine ähnliche Empfindung hatte ich gehabt, als einmal ganz zufällig an das Atlaskleid einer jungen Dame streifte, die unsere Treibhäuser besichtigte. Die Hand der Thomasin war, trotz aller harten Arbeit, die sie verrichtete glatt und knisterig wie der Atlas an jenem Damenkleide. Ich konnte dieses Gefühl den ganzen Tag nicht aus dem Leib bringen. Dabei schwebte mir das Weib und ihre milchweiße Haut beständig vor Augen. Auch in der nächsten Zeit, bis ich endlich über mich selbst wild wurde und mir alle diese Phantasien gewaltsam aus dem Sinn schlug. So hatt' ich's auch untergekriegt. Aber dem Maschinenhaus wich ich immer in weitem Bogen aus: Ich fühlte, daß mir dort Gefahr drohte. Die Thomasin jedoch schien es darauf anzulegen, mir in den Wurf zu kommen. Denn sie begegnete mir manchmal da oder dort, wo sie nicht zu vermuten war. Dabei wollte immer unterwürfig grüßend, mit dem gewissen Lächeln ein Gespräch anknüpfen. Ich aber erwiderte kein Wort und ging ohne Gruß an ihr vorüber, obgleich es mir bei ihrem Anblick immer einen Riß gab. Eines Abends, da ich mich von der Arbeit weg gerade meine Wohnung begeben wollte, sah ich das Weib davorstehen und durch das offene Fenster in mein Zimmer gucken. Das brachte mich in Wut. ›Was hat Sie da zu schaffen!‹ schrie ich. ›Was spioniert Sie da?‹ ›Aber Jesus‹, antwortete sie, ohne im geringsten zu erschrecken, ›sein S' doch nit gleich so bös, Herr Stäudl! Was soll ich spioniern? Hab' mir nur wolln Ihr Zimmerle anschaun. Mein Gott‹ – sie schlug dabei ihre weißen Hände zusammen –, ›wie sieht's bei Ihne aus! Wie bei an Arrestant. Nit amal Vorhangl haben S'. Wie können S' nur so allanig bleibn, Herr Stäudl? Sie sollten a brave Frau habn. Da hätten S' Ordnung. Auch sonst möcht's Ihne gut gehn. Hätten S' Freud am Leben – und wären nicht immer so brummig.‹ ›Will Sie jetzt still sein, Sie unverschämte Person!‹ sagte ich. ›Ich brauch Ihren Rat nicht. Schau Sie, daß Sie weiterkommt!‹ ›No ja, i geh' schon‹, erwiderte sie und lächelte wieder. ›Aber bleiben S' nit so allanig, sag ich Ihne.‹ Damit entfernte sie sich langsam und griff dabei mit beiden Händen nach rückwärts, um den dicken Haarzopf aufzustecken, der ihr in den Nacken gesunken war. Ich fühlte mich wirklich höchst aufgebracht über ihre Reden. Als ich aber in mein Zimmer trat, mußte ich ihr unwillkürlich recht geben. Es sah in der Tat ganz gefängnismäßig bei mir aus. Auch ziemlich unsauber. Ich konnte mir ja nicht, immer die Zeit nehmen, ordentlich aufzuräumen. So war ich unzufrieden mit mir selbst – und blieb es auch. Ich fing sogar an, mich abends allein zu fühlen, und ging hin und wieder ins Wirtshaus, was ich früher niemals tat. Kurz, es war in mir etwas aus dem Geleis' gekommen – und ich konnte mich nimmer ganz zusammenfinden. Eines Tages, so gegen den Herbst zu, fühlte ich mich unwohl. Aber ich war nicht gewohnt, auf derlei zu achten. Ging also wie sonst meiner Beschäftigung nach, auch nicht zeitiger zu Bette, vielmehr ins Wirtshaus, weil ich mir dachte, ein Glas Rotwein würde mir guttun. Aber schon während der Nacht wurde mir ganz miserabel, und am Morgen konnt ich nicht mehr aufstehn. Es war der Typhus, und ich weiß nicht, wie viele Tage ich im Delirium gelegen bin. In diesem Zustand kam es mir vor, als ob die Thomasin im Zimmer und um mich beschäftigt sei. Sie legte mir Umschläge auf den Kopf und tat auch sonst alles, was bei einem Schwerkranken notwendig ist. Aber ich wußte nicht, ob ich es nur träumte oder ob das Weib wirklich da war. Als ich meiner Sinne wieder mächtig wurde, da merkte ich freilich, daß es sich so verhielt. Die Herrschaft hatte sie zu meiner Wartung befohlen. Und die verrichtete sie in einer Weise – ich brauchte sie nur anzublicken, so wußte sie gleich, was ich wollte. Ich lag noch immer ganz kraftlos da und konnte mich lange kaum rühren – und da tat es mir so wohl, wenn sie die Decke oder die Polster richtete – und mir dann mit ihrer glatten Hand über die Stirn strich ..... Was soll ich noch sagen, Herr Untersuchungsrichter? Als ich wieder gesund war, hab' ich sie geheiratet.« »Soweit wären wir also«, bemerkte der Richter nach einer Pause. 3. III. »Soweit wären wir«, wiederholte Herr Stäudl mechanisch. »Und ich muß sagen, daß ich mich zufrieden und glücklich fühlte. Denn ich lernte kennen, was das heißt, ein eigenes Hauswesen zu haben. Und die Thomasin – ich nannte sie auch nach meiner Verheiratung so – war eine ganz vortreffliche Hausfrau. In Wohnung und Küche alles immer spiegelblank wie sie selbst. Es war eigentümlich, daß an ihr niemals etwas haftenblieb, obgleich sie überall zugriff. Auf andern ist gleich jeder Fleck sichtbar, der vom Himmel fällt, trotz aller Sorgfalt. Bei ihr aber mußt ich im stillen immer an den Schwan denken, der in dem kleinen seichten Teich in einem der Gärten gehalten wurde. Sooft er auch unter das schlammige Wasser tauchte, er kam immer wieder zum Vorschein wie der frisch gefallene Schnee. Ja, so war sie. Und ich wußte nun auch, was es heißt, ein Weib zu besitzen. Den ehelichen Verkehr hatte ich mir den Umständen gemäß eingerichtet. Die Frau hatte Kinder, und die durften nicht etwa Zeugen von Zärtlichkeiten sein. Ich wies ihnen also das letzte Zimmer an, wo sie auch schliefen. In dem mittleren schlief die Thomasin; ich selbst blieb, wo ich immer gewesen, und obendrein wurde nachts die Tür zugemacht. Im übrigen waren wir eine Familie. Die Kinder, namentlich das Mädchen, waren wirklich lieb und gut; sie folgten mir auf den Wink, obgleich ich nicht ihr Vater war. Deshalb gab ich mich auch nicht viel mit ihnen ab. ›Es sind deine Kinder‹, sagte ich zur Frau; ›erziehe sie, wie du es für recht und gut hältst. Ich will nur, daß sie sich anständig benehmen.‹ Das taten sie auch, denn obgleich ich ihnen kein böses Wort gab, fürchteten sie mich wie den Teufel. Eigene Kinder wollten sich nicht einstellen, mir war es ganz recht. Denn das hätte jedenfalls Unordnung ins Haus gebracht; auch würde ich mich gewissermaßen vor den Stiefkindern geschämt haben, die ja doch schon heranwuchsen und sich jedenfalls über die Sache ihre Gedanken gemacht hätten. So lebte ich, wie gesagt, zufrieden und behaglich über zwei Jahre. Abends ging ich nie aus. Nur alle vierzehn Tage besuchte ich einen Verein, welchen die Gärtner der ganzen Gegend gegründet hatten und wo neben geselliger Unterhaltung auch allerlei ins Fach schlagende Gegenstände zur Sprache kamen. Ich war nie ein Freund von solchen Veranstaltungen, bei denen doch nichts anderes herauskommt, als daß ein paar vorlaute Leute den Ton angeben und sich geltend zu machen suchen. Wollte also anfänglich dem Verein gar nicht beitreten. Aber da hieß es: ›Was? Sie wollen sich ausschließen, Herr Stäudl? Sie, eine unserer ersten Kapazitäten? Und wir haben die Absicht gehabt, gerade Sie zu unserem Obmann zu wählen!‹ Da konnte ich wohl nicht anders und ergab mich darein, obwohl mir die ganze Sache höchst zuwider war. Nun, die Zusammenkünfte fanden jeden zweiten Freitag in einem Grinzinger Gasthause statt, wo bekanntlich guter Wein geschenkt wird. Eines Freitags also ging ich wie gewöhnlich so nach sechs vom Hause fort. Ich hatte schon ziemliches Stück Weges zurückgelegt, als mir plötzlich. Gedanke kam, ob meine Leute wohl das kleine Warmhaus geheizt haben möchten. Es war zwar schon im April und die Tag auch sehr sonnig gewesen, aber ein Nachtfrost w doch nicht ganz ausgeschlossen – und strikten Befehl ich nicht gegeben. Die Sache schien mir wichtig, einiger sehr seltener Keimpflanzen wegen, die dort untergebracht waren. Kehre also um, begehe mich durch ein Seitenpförtchen dessen Schlüssel ich immer bei mir trug, in den Garten, wo sich das Warmhaus befindet. Mache die Tür auf – was seh' ich? Meine Frau steht drinnen mit einem meiner Gehilfen – und zwar in einer Art und Weise, die mir keinen Zweifel darüber läßt, was da vorgeht. Ganz starr stand ich da. Auch die beiden. Dann fingen sie zu zittern an, daß ihnen fast die Knie einbrachen. Sie dachten wohl, nun würde ich auf sie losfahren. Aber nichts da! Ich drehte mich wie damals vor der Gertrud und dem Bäckerburschen auf dem Absatz um und ging. Aufrecht, ohne jedes Gefühl in mir als das der tiefsten Verachtung, ging ich nach Grinzing. Ich war um so ruhiger, als ich bei meinem Eintritt in das Warmhaus gemerkt hatte, daß geheizt war. Machte daher ganz ordentlich den Vereinsabend mit; nur des Trinkens enthielt ich mich soweit wie möglich, denn ich wollte nicht, daß mir das Geschehene, weil es mir jetzt doch allmählich zuzusetzen begann, über den Kopf wüchse. Vielmehr überlegte ich schon auf Heimwege – obgleich ich mit ein paar andern Gärtnern, mich begleiteten, unausgesetzt reden mußte, ganz gründlich, was nun zu tun sei. Sonst wurde ich immer von der Frau erwartet, wenn nach Hause kam. Diesmal nicht. Sie wagte es offenbar nicht, mir unter die Augen zu treten. Während ich bei mir, wo ganz finster war, Licht machte, hörte ich leises Geräusch im Nebenzimmer. Da sperrte ich die Tür gleich mit Schlüssel ab und legte mich zu Bett. Schlafen konnte ich allerdings nicht. Als aber der. Morgen graute, hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich stand auf, holte mir wie früher das Wasser vom Brunnen, wusch mich und kleidete mich völlig an. Dann drehte ich den Schlüssel wieder um und ging sogleich in den Garten, wo ich, als wäre nichts vorgefallen; meinen Verrichtungen oblag. Dabei sah ich mich nach dem Gehilfen um – ich hatte deren vier –, den ich gestern bei der Frau gesehen. Er war nicht zu erblicken, er mußte sich absichtlich von. mir fernhalten. Ich ließ ihn rufen. Es dauerte lange, bis er erschien, ganz blaß wie das böse Gewissen. Ich ließ mir aber gar nichts anmerken, sondern erteilte ihm bloß einige Aufträge; der Schuft sollte nicht etwa glauben, daß mir das Vorgefallene naheging oder gar Herzweh bereitete. So gegen. acht verließ ich den Garten und ging die Hauptstraße hinunter, gegen den Ort zu. Dort hatte man in den letzten Jahren eine Unmasse neuer Häuser gebaut, wo immer Wohnungen leerstanden und sofort zu mieten waren. Fand auch bald eine, die mir passend schien. Ich nahm sie auch gleich auf und bezahlte den vierteljährigen Zins. Dann kehrte ich nach Hause zurück, wo die Thomasin am Herd stand und das Mittagessen zu kochen anfing. Ich gab ihr einen Wink, mir ins Zimmer hinein zu folgen. Als sie jetzt vor mir stand, sah sie mich mit ungewissem Blick an und wollte etwas sagen. Ich aber schnitt ihr das Wort vom Mund ab. ›Thomasin‹, sagte ich ganz kurz, ›Ihr werdet übermorgen mit den Kindern mein Haus verlassen. Ich habe Euch eine Wohnung genommen. In der Panzergasse. Zimmer, Kabinett, Küche. Der Zins ist gezahlt und wird jedes Vierteljahr von mir gezahlt werden. Außerdem erhaltet Ihr monatlich soundso viel. Keine Widerrede! Mit den Gerichten geb' ich mich nicht ab. Wir sind geschiedene Leute. Übermorgen müßt Ihr mit den Kindern fort sein. Die Möbel, die sich in Eueren Zimmern befinden, könnt Ihr mit nehmen.‹ Sie erwiderte nichts, wollte aber meine Hand erfassen und vor mir auf die Knie sinken. ›Hinaus!‹ schrie ich, und zwar mit einer solchen Stimme, daß sie auch schon, wie geflogen, aus dem Zimmer war. Nun hatte ich Ruhe. In zwei Tagen war sie fort. Ihr Wegziehen machte natürlich das größte Aufsehen Kein Mensch außer dem jungen Schurken wußte es sich erklären; vorwitzige Frager fertigte ich kurzweg ab. Aber der Herr Ritter von Artner ließ mich zu sich bescheiden und wollte wissen, was da vorgefallen sei. Ich antwortete mit al1er Ehrerbietung, doch in einem Ton, der weiteres Forscher abschnitt: ›Herr Ritter von Artner, das geht mich allein an.‹ Er stutzte und schien ungehalten. Aber er besann sich sagte: ›Allerdings geht das Sie allein an. Sie werden Ihr Gründe gehabt haben.‹ ›Ganz gewiß‹, erwiderte ich empfahl mich. Damit war die Sache abgetan.« »Leider noch nicht«, sagte der Richter. »Die Hauptsache kommt erst.« 4. IV. »Ja, die kommt erst«, bekräftigte Herr Stäudl mit dumpfer Stimme, während er sich mit seiner vertrockneten Gigantenhand über die Stirn fuhr. »Wenn mir jemand gesagt hätte daß ich mich jemals so ganz und gar selbst verlieren könnte den hätt ich reif fürs Tollhaus erklärt. Denn ich habe mich immer für felsenfest und unerschütterlich gehalten. Und war es auch. Aber es muß schon so sein, für jeden kommt einmal die Stunde, die ihn niederwirft. Doch ich will fort fahren. Sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, als das Weib weg war, erschien mir auch alles wieder in Ordnung. Denn mein Herz hatte ich ja nicht an sie gehängt – wie überhaupt an keinen Menschen; nicht einmal an meine Eltern, die mir allerdings früh gestorben waren. Aber auch an keinen sogenannten Freund. Ich verkehrte wohl in meinen jungen Jahren mit diesem oder jenem nicht ungern, wie das schon der gemeinsame Beruf und sonstige Umstände mit sich bringen. Sobald aber einer mein Selbstgefühl irgendwie verletzte, war es aus. Ich kannte ihn nicht mehr. So war es auch mit dem Weibe. Sie hatte ein Verbrechen gegen mein Selbstgefühl begangen. Somit war sie für mich tot – oder schien es wenigstens zu sein, wie ich denn auch über den schuldigen Gehilfen; bis er eines Tages selbst den Dienst kündigte, vollständig hinwegsah, als wäre gar nichts geschehen. Auch im Häuslichen vermißte ich die Thomasin nicht allzusehr. Ich war das einsame Leben zu lange gewohnt gewesen, um es nicht ohne besondere Beschwerden wiederaufzunehmen. Nur die Abende begannen mir lang zu werden. Da fühlte ich mich einsam. Am Lesen fand ich keine rechte Freude mehr, und so stiegen allerlei Gedanken in mir auf, denen ich nicht gerne nachhing. Ich fing also an, ins Wirtshaus zu gehen. Aber in kein nahes, wo mich jedermann kannte, sondern hinunter ans Donauufer in eines der Einkehrhäuser für die Schiffsleute, die mit ihren Zillen und Flößen aus den oberen Gegenden, von Linz oder auch von Passau, kommen. Da ging es oft recht lebhaft zu. Das zerstreute mich, und ich begann sogar mit den Leuten Karten zu spielen, wobei ich natürlich auch immer mehr Bier oder Wein trank. Zwar nicht unmäßig, aber doch mehr, als ich sonst im Leben gewohnt war. Wie gesagt, das zerstreute mich. Aber es dauerte nicht lange, so stellte sich ein Unbehagen an mir selbst ein, das ich nicht loswerden konnte. Es fehlte mir etwas, und in diesem Zustande mußte ich immer häufiger an die Thomasin denken. Ich sah sie oft so deutlich vor mir mit ihrer milchweißen Haut, mit den glatten, schimmernden Armen und Händen, als stände sie leibhaft da. Selbst bei der Arbeit ließ mir das höllische Bild keine Ruhe. Schließlich empfand ich eine solche Sehnsucht nach dem Weibe, daß ich oft laut hätte aufbrüllen können vor Schmerz. Ich tat alles mögliche, um mein fortwährendes Verlangen zu übertäuben; ich versuchte sogar – nein, ich will nicht aussprechen, was ich da versuchte. Aber es half alles nichts: mein elender Zustand blieb sich gleich. Und ich kam ganz herunter dabei. Ich fühlte mich so schwach und hinfällig, daß ich kaum mehr kriechen konnte. Und da – ich schäme mich es zu sagen – kam mir auch der Gedanke, die Thomasin aufzusuchen, und nur die Vorstellung, daß sie mir vielleicht die Tür weisen könnte, hielt mich zurück, es zu tun. Um diese Zeit ließ ich wieder einmal mein Zimmer gründlich scheuern und ausfegen, wie das bei mir, seit das Weib fort war, jeden Monat geschah. Und zwar durch eine Taglöhnerin, die in den Gärten arbeitete und von mir für besondere Dienstleistung auch besonders bezahlt wurde. Es war eine bejahrte, gutmütige Person, die gern schwatzte. Obgleich ich ihr niemals Red und Antwort gab, suchte sie doch immer ein Gespräch anzuknüpfen. So auch diesmal, da ich gerade in die Wohnung getreten war, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. ›Sie sollten sich in acht nehmen Herr Stäudl‹, sagte sie. Da ich nichts erwiderte, wiederholte sie: ›Ja, wirklich, Sie sollten sich in acht nehmen.‹ Das machte mich stutzig, und ich sagte barsch: ›Wieso? Warum?‹ ›Ihre Frau lauert Ihnen auf.‹ Es gab mir einen Riß durch den ganzen Leib, und das Herz stand mir still. ›Was soll das heißen?‹ brachte ich mühsam hervor. ›Na, sie möcht' halt mit Ihnen zusammenkommen. Darum schleicht sie auch seit einiger Zeit, wenn's finster wird, draußen auf der Straße herum. In die Gärten hinein traut sie sich nicht. Aber sie wird Sie schon einmal erwischen, wenn Sie gerade ausgehen wollen oder bei der Nacht heimkommen.‹ Die Knie wankten mir. Aber ich sagte: ›Was redt Sie da für dummes Zeug! Warum sollt' sie –‹ Das Weib sah mich von der Seite an. ›No, sie soll in der Hoffnung sein. Aber nicht von Ihnen. Und da will sie halt, daß Sie der Vater sind.‹ Mir wurde ganz kalt, aber das Blut stieg mir dabei brennheiß zu Kopf. ›Woher weiß Sie denn das?‹ fragte ich mit versagender Stimme. ›Woher ich das weiß? Von der Greißlerin, wo sie einkauft. Dort soll sie g'sagt haben: es nutzt ihm nix. Er muß der Vater sein. So oder so. Und das Kind muß ihn beerben, wenn er einmal stirbt.‹ Jetzt brachte ich keinen Laut mehr hervor. ›Darum sag' ich Ihnen‹, fuhr das Weib fort, ›sein S' g'scheit, Herr Stäudl. Lassen Sie sich in nix ein.‹ Damit ging sie. In welchem Zustand ich zurückblieb, können Sie sich denken, Herr Untersuchungsrichter. Einesteils empfand ich eine so höllische Wut über diese Niedertracht, daß ich das Weib hätte zerreißen können, wenn sie dagewesen wäre. Andernteils aber überfiel mich eine solche Schwachheit, daß mir bei dem Gedanken an sie sogleich wieder ein wahnsinniges Verlangen aufstieg. Nun war ich fertig. Ich hatte weder Rast noch Ruhe mehr. Ich wagte mich nicht auf die Straße, und daheim konnt ich auch nicht bleiben. So ging ich doch wieder hinunter in das Wirtshaus an der Donau. Beim Fortgehen spähte ich immer früher durch die Torspalte, ob sie nicht etwa draußen stehe. Ich atmete auf, wenn ich mich überzeugt hatte, daß sie nicht da sei – und doch war mir's auch wie eine Enttäuschung. So ging's eine Zeitlang fort. Ich verwilderte dabei ganz und begann nun wirklich zu trinken. Vor Mitternacht ging ich nicht nach Hause, weil ich mir dachte, so lange wird sie auf mich wohl nicht warten, aber ich fühlte, daß es mir recht wäre, wenn sie es täte. Da – in einer finsteren Nacht geschah es. Ich war keineswegs betrunken, aber bis zum äußersten aufgeregt, das Blut pochte mir an die Schläfe. Es hatte sich starker Südwind erhoben und verlöschte das Licht der Laterne, die ich bei meinen nächtlichen Gängen immer mit mir trug. Ein scharfer Strichregen schlug mir ins Gesicht. Wenn sie jetzt da wäre! Ich wünschte es mehr, als ich es fürchtete. Wie ich nun an die Haustür trete, kauert etwas Dunkles auf der Schwelle. Sie war es. Es hatte mir den Atem verschlagen. Am ganzen Leibe zitternd, schloß ich die Tür auf und ging in den dunklen Gang hinein. Sie mir nach. Im Zimmer fiel ich sie an wie ein wildes Tier. Mit einem Schrei riß ich ihr die durchnäßte Jacke auf – warf sie aufs Bett und mich über sie. Aber in meiner wahnsinnigen Gier überkam im mich plötzlich der Gedanke an ihre ganze Schändlichkeit – und da – da – mit diesen Händen« – – Er hielt keuchend inne. »Haben Sie das Weib erwürgt«, ergänzte der Richter. Stäudl schwieg. Dann erhob er sich langsam und sagte: »Ja, ich – habe einen Mord begangen. Aber ich wußte nicht, was ich tat. Die Geschworenen werden mich freisprechen.« »Wir wollen es hoffen. Jedenfalls wird man mildernde Umstände finden.« »Man braucht keine zu finden«, entgegnete Stäudl, indem er seine knochige Hünengestalt wieder zu voller Höhe emporrichtete. »Was geschehen ist, ist geschehen. Das Weib hat seinen Tod selbst verschuldet. Sie ist gerichtet. Mich kann man nicht verurteilen. Aber ich werde mich selbst justifizieren, weil es mit mir so weit hat kommen können. Dieses Bewußtsein erträgt keiner, der beschaffen ist wie ich. Für die Kinder wird gesorgt sein, denn ich habe mir etwas erspart. Das hat auch die Thomasin gewußt.« Der Richter drückte an der elektrischen Klingel. Ein Justizwachmann erschien, um den Angeklagten abzuführen. Als er draußen war, wendete sich der Rat zu dem Schriftführer, einem schmächtigen jungen Mann, der eben die erste Zeit seiner Gerichtspraxis durchmachte. »Nun, Herr Doktor, was sagen Sie dazu? Wie ich höre, sind Sie ja auch Dichter. Hätten Sie da nicht Stoff zu einer Novelle?« Der junge Mann zog seine Nase in die Länge und die stark gewölbten Brauen noch höher hinauf, so daß sie über den kalten, unbeweglichen Augen zwei Rundbogen bildeten. »Nun ja«, sagte er mit einem geringschätzigen Achselzucken. »Aber ich befasse mich nur mit Zukunftsmenschen. Und dieser Stäudl ist nichts als ein atavistischer Schwachkopf, der an Größenwahn leidet und überdies mit verlarvter Epilepsie behaftet ist.« Der Rat sah ihn an, ohne etwas zu erwidern. Dann er nahm Hut und Überrock und ging. Der Hellene 1. I. Ich hatte die Ausstellung der Sezession besucht. Es war noch früh am Vormittage, und so durchschritt ich, von seltsam schönen und seltsam häßlichen Gemälden umgeben, fast allein die stillen, geheimnisvoll ineinander mündenden Räume. In dem größten war Klingers Beethoven ausgestellt. Während ich nun vor dem kunstvoll gearbeiteten Bildwerk, das mich weit mehr an die Gestalt Schopenhauers als an jene des großen Tonmeisters erinnerte, in Betrachtung stand, wurden nebenan Stimmen laut. Bald darauf traten drei junge Männer herein mit einer Dame, die, obgleich sie schon tief in den Dreißigern stehen mochte, von auffallender Schönheit war. Einen etwas zerknitterten grotesken Modehut auf der à la Cleo de Merode gescheitelten fahlblonden Haarfülle, trug sie einen enganliegenden grauen Regenmantel, der sich im Zuschnitt nicht wesentlich von den Frühjahrsulstern der drei Herren unterschied und die geschmeidige Fülle ihres hohen Wuchses sehr deutlich hervortreten ließ. Ihr Antlitz mit der zart geschwungenen Nase wies schon feine Fältchen auf, aber es leuchtete in einem kräftig rosigen Kolorit, und die lichten, langgeschnittenen Augen unter dunklen Brauen gaben diesem Gesicht, das ich schon einmal gesehen haben mußte, einen höchst eigentümlichen Reiz. Als jetzt der Blick der Dame auf mich fiel, schien auch in ihr eine Erinnerung aufzuzucken, denn der Ausdruck des Befremdens glitt über ihre Züge. Aber nur ganz flüchtig. Denn sie hatte sich schon wieder ihren Begleitern zugewendet, die sehr eindringlich auf die Schönheiten der Statue hinwiesen. Das Gespräch, das sich dabei entwickelte, überzeugte mich, daß es Künstler waren, die hier ihre Ansichten mit leidenschaftlichem Eifer zum Ausdruck brachten. Ich empfand das nachgerade als Störung und entfernte mich früher, als ich es sonst würde getan haben. Draußen in der Vorhalle fragte ich das weibliche Wesen, das in stilisierter Anmut an der Kasse saß, ob es nicht wisse, wer die Leute seien, die eben früher gekommen waren. »Ach ja,« lautete die Antwort, »das sind zwei Maler und ein Bildhauer.« Von den Namen, die auch gleich genannt wurden, war mir einer nicht unbekannt. »Und die Dame?« fragte ich weiter. »Ist, glaub' ich, eine Malerin aus München. Wie sie heißt, weiß ich nicht.« Ich wußte es auch nicht, oder doch: des Vornamens glaubt' ich mich jetzt zu entsinnen. Und während ich nun in den sonnigen Tag hinaustrat und längs der neuen Anlagen am Ufer der Wien dahinschritt, tauchten vor mir immer deutlicher, immer lebendiger Gestalten und Ereignisse aus vergangenen Jahren auf .... * * * Zur Zeit meiner literarischen Anfänge nahm ich oft an einer Tischgesellschaft teil, die sich allabendlich in einem schlichten Gasthause auf der Wieden zu versammeln pflegte und aus Künstlern und solchen, die es werden wollten, bestand. Vorwiegend waren es Maler und Bildhauer, die sich dort nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebten. Auch einige gebildete Laien hatten sich dem Kreise angeschlossen, wo bei aller Ungezwungenheit, ja oft Ausgelassenheit des Tones doch über die hohen und höchsten Fragen der Kunst verhandelt wurde. Unter den Malern, die man dort antraf, befand sich auch einer, der von seinen Kollegen gemeinhin der »Hellene« genannt wurde. Er war einer der späteren Schüler Rahls gewesen und setzte nach dessen Tode das Werk des Meisters insofern fort, als er seine Vorwürfe ausschließlich dem Mythos des griechischen Altertums entnahm. Da zu jener Zeit der Formalismus noch sehr in Ansehen stand, so fanden seine korrekten, trotz einer gewissen Trockenheit nicht ungefälligen Bilder bei den Ausstellungen des alten Kunstvereins Beifall und Käufer. Er erhielt sogar Aufträge zu Wandgemälden und Friesen für Prunkräume mehrerer damals eben neuerbauter Palais, die er denn auch ziemlich gleichmäßig mit Darstellungen aus der Odyssee oder dem trojanischen Kriege versah. Infolgedessen kam er auch mit der vornehmen Welt in Berührung. Er wurde häufig zu ihren Gesellschaften geladen, wodurch er selbst, mehr unwillkürlich als absichtlich, vornehme Allüren annahm. So unterschied er sich schon äußerlich von dem Kreise, in dem er sich meistens erst spät, von einem Diner oder einer Soiree kommend, einfand. Da saß er nun gar oft im Frack oder schwarzen Leibrock bei den ziemlich nachlässig gekleideten Tischgenossen, in deren Mitte er sich ausnahm wie sein steifer funkelnder Zylinder zwischen den vielfach zerquetschten Schlapphüten, die an der Wand hingen. Daß er in der Regel den Gerstensaft, der um ihn her reichlich genossen wurde, verschmähte und sich aus dem nächsten Kaffeehause eine Tasse Tee herüberholen ließ, machte ihn zu keinem sehr gemütlichen Gesellschafter, wie er denn überhaupt bei den meisten Anwesenden nicht sonderlich beliebt war. Sehr von sich eingenommen und überzeugt von der Vollkommenheit seiner Arbeiten, war er ein scharfer, unerbittlicher Kritiker fremder Leistungen, so daß es, wenn man ihn reden hörte, eigentlich keinen anderen Maler gab als ihn selbst. Er sprach beständig von der »großen« Kunst und ließ deutlich durchfließen, daß alles übrige nicht sehr hoch anzuschlagen sei. Dadurch fühlten sich begreiflicherweise diejenigen getroffen, die sich dem Genre und der Landschaft gewidmet hatten, und so kam es oft zu weitläufigen Debatten, wobei er, empfindlich und reizbar, wie er war, sehr heftig werden konnte. Einen gefährlichen Gegner hatte er an einem Bildhauer, dem man den Beinamen »Wasserspeier« gegeben hatte, weil er in immer neuen und wechselvollen Hervorbringungen solch fratzenhafter Gebilde unerschöpflich war. Sein Talent neigte überhaupt zur Karikatur, daher die Porträtbüsten, mit denen er sich zur Geltung bringen wollte, in ihrem übertriebenen Realismus mehr abstießen als anzogen. Er erhielt keine Aufträge und war gezwungen, um nur sein Leben zu fristen, sich beim Bau der Votivkirche zu verdingen, an deren Ornamentik er vom frühen Morgen bis zum späten Abend mitarbeitete. Möglich, daß er den Hellenen um seine materiellen Erfolge beneidete; aber die beiden waren eben die entschiedensten Gegensätze. Schon im Äußeren. Während der eine, hoch und schlank gewachsen, immer nach der Mode gekleidet war, ging der andere, klein, gedrungen und kurzhalsig, in einer abgeschabten Samtbluse einher, auf deren Kragen das straffe, weißblonde Haar lang hinabfiel. Ost erschien er auch gleich im Arbeitskittel und brachte den Hellenen, der immer nur feine Zigarren rauchte, schon da durch in Verzweiflung, daß er ihm den Qualm ordinären Knasters aus einer kurzen Holzpfeife unter die Nase blies. Aber der Zwiespalt lag tiefer. Der eine war eine pathetische, der andere eine zynische Natur, deren schlagfertiger Witz bei entbranntem Meinungsstreite stets die Lacher auf der Seite hatte. Inzwischen aber hatte sich außerhalb des kleinen Kreises im Laufe der Zeit ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Das »Künstlerhaus« war fertig geworden – und damit war auch eine neue Ära in der Wiener Kunstwelt angebrochen. Schon bei den ersten Ausstellungen tauchte ganz plötzlich eine glänzende Erscheinung auf: Hans Makart. Seine »Modernen Amoretten« und bald darauf »Die Pest in Florenz« erregten sensationelles Aufsehen und riefen die sich widerstreitendsten Urteile hervor. Natürlich am meisten bei den Künstlern. Während die alten und älteren entrüstet oder bedenklich die Köpfe schüttelten, waren die jungen und jüngsten in begeisterter Anerkennung Feuer und Flamme. Daß der Hellene zu den heftigsten Tadlern gehören würde, war vorauszusehen, und er verabsäumte nicht, bei erster Gelegenheit sein Mißfallen vor der versammelten Tischgesellschaft in den stärksten Ausdrücken kundzugeben. »Das ist gemalte Unzucht!« schrie er. »Immer noch besser, als gemalte Langeweile!« schrie ihm der Wasserspeier entgegen. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte der andere, indem er ihn herausfordernd ansah. »Daß Sie jetzt mit Ihren altbackenen Griechen einpacken können. Makart wird Epoche machen und den Leuten ganz andere Wandbilder malen als Sie.« »Ja, in Bordellen! Dorthin gehören seine Bilder. Aber auch davon abgesehen sind sie künstlerisch ganz schlecht. Der Mann kann nicht zeichnen. Er drängt seine Figuren in einen Raum zusammen, darin sie nicht Platz finden. Sie haben keinen Boden unter den Füßen. Daher quirlet auch alles molluskenhaft durcheinander. Es ist keine Perspektive darin.« »Aber die Farben!« wendete man von allen Seiten ein. »Welch reizvolle Abtönung! Welch zauberhafte Leuchtkraft!« »Ach was, Farben!« rief der Hellene. »Farben allein geben kein Gemälde, höchstens Farbenflecke. Man brauchte ja sonst nur ganz einfach die Palette gegen die Leinwand zu werfen.« »Schade, daß Sie das nicht tun!« höhnte der Wasserspeier. »Da würde doch etwas Saft in Ihre dürren Götter und Helden kommen.« Der Hellene bebte vor Wut. »Reden Sie nicht! Was verstehen Sie von Malerei! Sie sind nichts weiter als ein Steinmetz!« »Und Sie nichts anderes als der höhere Schildermaler!« Der Hellene erhob sich mit halbem Leibe. Er war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und einen Augenblick schien es, als wollte er sich an dem kurzhalsigen Gegner vergreifen. Aber er faßte sich, stand auf und langte nach Oberrock und Zylinder. Fast alle Anwesenden erhoben sich, um ihn mit begütigenden Worten zurückzuhalten. Er aber widerstand. »Meine Herren,« sagte er stolz, »Sie begreifen, daß ich nicht länger in Ihrer Mitte verweilen kann. Nicht etwa wegen jenes Menschen dort. Er ist nicht imstande, mich zu beleidigen; ich würde ihn von heute ab vollständig als Luft behandeln. Aber ich habe erkannt, daß meine künstlerischen Anschauungen den Ihrigen vollständig entgegengesetzt sind – und somit bin ich auch hier überflüssig.« Sprach's und ging. Draußen in der allgemeinen Gaststube rief er nach dem Kellner, um seine Zeche zu bezahlen. Mit sehr gemischten Empfindungen setzte man sich wieder. Was da vorgefallen, tat eigentlich keinem so recht leid. Dennoch mißbilligte man die rücksichtslosen Äußerungen des Bildhauers und machte ihm Vorwürfe, daß er so weit gegangen war. »Ach was!« rief dieser, mit starken Schlägen seine Pfeife ausklopfend, »dem eingebildeten Narren mußte einmal die Wahrheit gesagt werden!« Der Hellene erschien also nicht wieder in der Gesellschaft, die sich übrigens allmählich auflöste. Denn mit dem neuen Künstlerhause waren größere und bedeutendere Vereinigungen ins Leben gerufen worden, welchen beizutreten, im Interesse der Einzelnen lag. So fand man sich immer seltener in dem engen, verräucherten Lokal zusammen, das schließlich selbst zu den gewesenen gehörte, da das alte, baufällige Haus, in dem es sich seit einer langen Reihe von Jahren befunden hatte, niedergerissen wurde. 2. II. Die Vorhersagung des Wasserspeiers war eingetroffen: Makart hatte Epoche gemacht. Der mächtige Einfluß seiner Kunst erstreckte sich nach allen Richtungen hin. Die Pracht der Renaissance leuchtete durch ihn wieder blendend auf in Neubauten, Interieurs und in der Tracht der Frauen. Überall wurde man an den tonangebenden Geschmack des Meisters erinnert, dessen Atelier, dessen verschwenderisch ausgestattete Wohnräume der Sammelplatz der vornehmsten Welt geworden waren. Und neben Makart tauchten in Österreich andere bedeutende Künstler auf: die Maler Gabriel Max, Defregger, Leopold Müller, Rudolf Huber, Passini und der Bildhauer Tilgner. Alles früher Dagewesene trat zurück oder kam mehr und minder in Vergessenheit. Nicht zum wenigsten der Hellene, dessen Bilder immer seltener zu erblicken waren, bis sie endlich sogar von den dürftigen Ausstellungen im alten Schönbrunnerhause verschwanden. Ihn selbst hatte ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich lebte zu jener Zeit des Glanzes und Farbenrausches, der sich auch in der Literatur geltend machte, still und unbeachtet in Döbling, Erscheinungen und Mächte des Lebens, die außerhalb der allgemeinen Strömung lagen, in dichterischen Gebilden fest haltend. Nunmehr aber wurde ich durch allerlei Umstände bestimmt, Wien für längere Zeit, vielleicht für immer zu verlassen. So führten mich Angelegenheiten, die geordnet, Besuche, die abgestattet werden mußten, öfter als sonst nach der Stadt. Eines Tages hatte ich mich aufgemacht, um Verwandten Lebewohl zu sagen, die am Rennweg in einem ehemaligen Herrschaftshause wohnten, das schon längst nur mehr Mietparteien beherbergte. Ein nicht ungeräumiger Garten befand sich dabei, der sich in seiner Verwilderung ganz malerisch ausnahm. Auch dort hausten Leute in einem niederen Erdgeschoß, woselbst sich einst gräfliche Dienerschaft befunden haben mochte. Als mein Besuch abgetan war, stieß ich in der Einfahrt mit einem Herrn zusammen, der sich eben in das Haus begeben wollte. Wir blickten einander zweifelhaft an, eh' die gegenseitige Erkennung vor sich ging. Es war der Hellene. Er sah gealtert aus, und seine Kleidung, wenn auch noch immer sehr sorgfältig gehalten, erschien etwas abgetragen und fadenscheinig. Er zeigte sich bei der Begrüßung nicht sonderlich erfreut. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er mit säuerlicher Miene. »Ja, es ist eine Zeit her«, erwiderte ich. »Wie geht es Ihnen?« »O ganz vortrefflich. Ich male fleißig, wenn ich auch nicht mehr ausstelle. Man hat mir einmal ein Bild zurückgewiesen, und ich bin nicht der Mann, der ein zweites Mal kommt. Hab' es auch Gott sei Dank nicht notwendig. Es gibt noch immer Leute, die meine Bilder kaufen, ohne daß sie früher im Künstlerhause zu sehen waren. Wollen Sie einen Augenblick in mein Atelier treten?« »In Ihr Atelier?« »Ich habe hier die Gartenwohnung gemietet und das angrenzende Treibhaus, das seit Jahren unbenutzt gestanden, zum Atelier herrichten lassen. Vielleicht interessiert es Sie, meine neuesten Arbeiten kennen zu lernen.« »Gewiß«, sagte ich, obgleich mich die Einladung nicht sonderlich verlockte. »Nun, dann kommen Sie!« Er schritt mir über den Hof voran und öffnete die Gittertür des Gartens. Es war gerade die erste Frühlingszeit. Der vernachlässigte Rasen schimmerte in frischem Grün und aus den schwellenden Knospen der Sträucher drängten sich zarte Blättchen. Ein alter knorriger Birnbaum stand über und über in weißen Blüten. Das kleine Wohngebäude nahm sich mit seinen grauen, von der Feuchtigkeit beschlagenen Außenwänden in der hellen Lenzpracht recht düster aus. Wir gingen daran vorbei und traten in das Atelier, dessen Tür er aufschloß. Die südliche Glaswand war mit dickem Papier verklebt, nach Norden hin war ein hohes und breites Fenster ausgebrochen worden. In dem nicht allzu großen Raume standen in der Nähe eines Blechöfchens zwei Staffeleien, eine größere und einer kleinere, mit angefangenen Bildern. Einige fertige Gemälde hingen und lehnten an den Wänden. Er wies darauf hin. »Hier haben Sie meine Arbeiten aus jüngster Zeit.« Ich betrachtete sie. Der Hellene war seiner Richtung treu geblieben. Aber es fiel mir auf, daß er das Nackte jetzt weit mehr hervortreten ließ und Vorwürfe wählte, die nach der erotischen Seite hin lagen. Ich sah ein Urteil des Paris, eine Leda und eine Psyche, die den schlafenden Eros mit der Lampe beleuchtet. Aber gerade hierin zeigte sich auch weit mehr als früher die Reizlosigkeit seiner Darstellung. Alles Menschlichkörperliche erschien hart und kreidig, das Beiwerk dumpf und unbestimmt in der Farbe. »Nun, was sagen Sie?« fragte er nach einer Weile. Was konnt' ich anderes, als mich lobend äußern? »Nicht wahr?« rief er aus, »das sind ganz andere Gestalten als die hohlen Makartschen Farbenschemen! Und ganz ohne Modelle gemacht! Ich bin eben kein Abmaler, sondern ein Maler. Mag jener Herr im Gußhause immerhin pikante Frauen aus der Wiener Gesellschaft in sein Atelier laden, um sie auf unsinnigen Kompositionen – wie jener Einzug Karls des Fünften – in ganz unmöglichen Körperverrenkungen anzubringen; ich trage meine Bilder in mir. Übrigens wird sein Ruhm sich bald verdunkelt haben, wie die Farben auf seinen ersten Bildern, die sich heute schon wie verkohlt ausnehmen. Das habe ich erst kürzlich gesehen, als ich einen einstigen Gönner besuchte, der mir untreu geworden war und sich sein Arbeitszimmer von Makart mit Plafond- und einem Seitengemälde hat versehen lassen. Scheußlich, sage ich Ihnen! Alles nachgedunkelt; kaum daß man noch gelb und rot darauf erkennt. Und die Figuren leblos, die Bäuche wie mit Stroh ausgestopft. Meine Bilder werden noch in hundert Jahren so aussehen wie jetzt, denn ich schwindle nicht mit künstlich zubereiteten Farben. Und dann werden auch meine Arbeiten mit Gold aufgewogen werden. Sehen Sie nur dort an der Staffelei meine letzte: eine Nausikaa!« Ich wandte mich nach dem Bilde, das im ganzen erst untermalt war. Nur die Figur der phäakischen Königstochter trat schon ziemlich ausgeführt hervor. Und nun war ich aufs höchste überrascht: eine so liebliche Schöpfung hatte ich dem Hellenen nicht zugetraut. Besonders schön war das Antlitz der jugendlichen Gestalt, die sich am Meeresstrand höchst anmutig von denen der sie umgebenden Mägde abhob. Er stand mit leuchtenden Augen in Erwartung da. »Das wird sehr schön«, sagte ich. »Nicht wahr? Da durft' ich mich einmal an die Natur halten. Diese Nausikaa ist eigentlich ein Porträt. Nicht etwa, daß man mir dazu gestanden oder gesessen hätte, keineswegs. Aber ich habe das Original seit einem Jahre täglich vor Augen, und so brauchte ich eigentlich gar nicht darauf hinzusehen und konnte die Figur aus meinem Innern herausmalen.« »Und wer ist denn das Original?« erlaubte ich mir zu fragen. »Meine Schülerin. Die Tochter einer armen Frau, der Witwe eines Försters, die im Vorderhause eine kleine Wohnung inne hat. Die Mutter brachte mir eines Tages zeichnerische Versuche des noch halben Kindes. Ich fand Talent in den Umrissen und begann Unterricht zu geben. Ich hatte mich nicht getäuscht. Das junge Geschöpf machte erstaunliche Fortschritte – und jetzt kopiert es schon Bilder von mir. Ganz vortrefflich, wie Sie sehen.« Er wies nach dem Gemälde an der kleineren Staffelei. Es stellte irgend einen trojanischen Helden vor und war frischer und lebendiger gemalt als das Original, das dicht dabei an einen Stuhl gelehnt stand. Die Kopie war entschieden vorzuziehen. »Wirklich sehr gut«, sagte ich. »Ja, die beschreitet meine Bahnen! Und sobald ich wieder zu voller Geltung gelange, wird sie auch meine Erfolge teilen.« In diesem Augenblick wurde flüchtig an die Tür geklopft, und herein trat ein ganz junges Mädchen in einem abgenützten hellgrauen Kleide, ein weißes gehäkeltes Tuch leicht um die zarten Schultern geschlagen. Bei meinem Anblick prallte sie hocherrötend zurück. »Nur herein, liebe Steffi,« rief der Hellene, »nur herein! Es ist ein alter Bekannter von mir. Er hat soeben Ihre Kopie bewundert.« Sie näherte sich, noch immer sehr befangen, die großen hellen Augen unter dunklen Wimpern und Brauen halb zu Boden gesenkt. Wir wurden einander vorgestellt. »Fräulein Stephanie –« den Zunamen überhörte ich. Sie machte einen reizend linkischen Knix. »Ich wollte malen kommen«, sagte sie mit leiser, aber doch klangvoller Stimme. »Ja, Sie sind immer fleißig«, sagte der Hellene, indem er mit der Rechten sanft über ihr dichtes matt-blondes Haar strich, das rückwärts in zwei langen Zöpfen hinabhing. »Aber Ihr Fleiß wird sich auch lohnen.« »Ich will nicht stören«, sagte ich und machte mich zum Gehen bereit. »Auch meine Zeit ist gemessen.« »Nun, dann leben Sie wohl! Und kommen Sie bald wieder. Vielleicht finden Sie meine Nausikaa schon vollendet.« »Ich dürfte wohl kaum mehr erscheinen können,« erwiderte ich, »denn ich verreise.« »So. Wohin denn?« »Es ist eigentlich keine Reise. Ich ziehe mich aufs Land zurück.« »Ihr Dichter habt es gut«, sagte der Hellene nachdenklich. »Euch frommt die ländliche Einsamkeit. Ich habe Wien eigentlich auch satt, aber wir Maler brauchen nun einmal die Städte.« Er reichte mir die Hand; das Mädchen knixte wieder ganz lieblich. Als ich auf den Rennweg hinaus trat, klingelte eben ein Tramwagen heran. Ich stieg ein, und während der Fahrt meinen Gedanken nachhängend, kam ich zur Überzeugung, daß der zwar nicht alte, aber doch alternde Meister die junge Schülerin liebe. 3. III. Eine lange Zeit war verstrichen. In der Kunst und in der Literatur hatten sich inzwischen die verschiedenartigsten Wandlungen vollzogen. Manch glänzender Stern war verblichen oder erloschen. Auch der Makarts. Er selbst war nicht lange nach meinem Zusammentreffen mit dem Hellenen gestorben; der Wiener Festzug im Jahre 1879, dessen Gruppen und Kostüme er entworfen, war sein letzter Triumph gewesen. Und seltsam: so überwältigend der Einfluß seiner Kunst während seines Lebens sich erwiesen – er hörte auf, sobald ihm der Pinsel entsunken war. Denn schon war aus Frankreich die Freilichtmalerei herübergekommen; ihr folgte der Verismus, der Impressionismus und wie all die Richtungen hießen, die sich nun mit kaum mehr übersehbaren Gruppen von neuen Künstlern geltend machten. Und nebenher begannen Böcklins lang unbekannt gebliebene Schöpfungen aufzuleuchten. Die Erwartung des Hellenen aber, daß man auf seine Bilder zurückgreifen werde, hatte sich nicht erfüllt: er war und blieb verschollen – für mich wenigstens, der noch immer fern von Wien lebte. Endlich war ich dorthin zurückgekehrt. Bei einem Gange auf die Wieden, den ich eines Nachmittags unternahm, kam mir in der Nähe des alten Schikanedersteges ein kleiner, gedrungener Mann entgegen, in dem ich beim ersten Anblick den Wasserspeier erkannte. Er sah noch ganz so aus wie früher, es war als trüge er noch denselben abgegriffenen Schlapphut, dieselbe spiegelnde Samtjacke; nur sein straffes Haar hatte sich bis zu völligem Weiß entfärbt. Er achtete nicht auf mich und wollte an mir vorüberhasten. Ich hielt ihn an. Er betrachtete mich forschend. »Was!« rief er endlich aus, »Sie leben auch noch?« »Wie Sie sehen.« »Und was machen Sie?« »Nichts«, erwiderte ich gewohnheitsmäßig. »Und Sie?« »Ich? Ich steinmetze«, versetzte er mit seinem alten giftigen Zynismus. »Freilich nicht mehr an der Votivkirche, sondern wo man mich gerade brauchen kann. Als Künstler bin ich von Tilgner in den Grund gebohrt worden. Er hat getroffen, worauf ich zielte. So geht's, wenn man mit einer Sache zu früh kommt. Und so hat auch der Hellene mir gegenüber recht behalten. Sie erinnern sich doch noch seiner?« »Gewiß.« »Aber auch ich habe recht behalten. Denn er ist der höhere. Schildermaler geblieben bis an sein Ende.« »Ist er gestorben?« »Ja, vor zwei Jahren. Die Zeitungen haben ihm nicht einmal einen kurzen Nekrolog angedeihen lassen, so sehr war er in Vergessenheit geraten. Er hat einen recht üblen Ausgang genommen.« »Wieso?« »Nun sehen Sie. Er hatte immer auf den Niedergang Makarts gewartet, der sollte ihn emporbringen, meinte er. So sagte man mir wenigstens, denn ich verkehrte ja nicht mehr mit ihm. Nun war Makart wirklich tot, er aber wurde dadurch nicht lebendig. Einmal aber schien ihm doch ein Glücksstern leuchten zu wollen. Er hatte ausnahmsweise ein sehr hübsches Bild gemalt, eine Nausikaa oder so was, – ich selbst hab' es mir nicht angesehen. Es wurde im Künstlerhause ausgestellt und gleich von der Wand weg zu einem hohen Preise gekauft, so daß der Hellene schon im siebenten Himmel schwebte. Aber gerade dieses Bild wurde sein Unglück. Denn er hatte dazu seine Schülerin, die er heiraten wollte, als Modell benützt, für das man sich jetzt um so mehr zu interessieren begann, als der Meister die reizende Anfängerin in Künstlerkreisen zu poussieren trachtete. Und da hatte sie ihm auch im Handumdrehen eine junger Freilichtler weggeschnappt. Die schöne Helena war mit dem neuen Paris nach München durchgegangen, wo sie die Klassizität des Meisters aufgegeben und sich aufs Tierfach geworfen hat. Sie soll jetzt ganz vortrefflich Hunde und Katzen malen. Der alte Menelaos aber raufte sich das Haar. Dazu kam noch, daß die Bilder, die er später pinselte, wie seine früheren waren, und so wurden sie wieder ohne Schonung zurückgewiesen. Was wollen Sie? Die Kunsttrödler mußten herhalten, und nach und nach stellten sich auch körperliche Gebrechen ein, die ihm das Arbeiten erschwerten. Schließlich versagten die Augen. Er kam in Gefahr, zu verhungern. Ein plötzlicher Herzschlag hat ihn vor diesem Schicksal bewahrt.« »Das ist sehr traurig«, sagte ich. »Ja, sehr traurig«, wiederholte der Wasserspeier. Aber es klang etwas wie Schadenfreude hindurch. »Übrigens«, fuhr er fort, »hat es ja eigentlich keiner von allen denen, die sich einst im ›Goldenen Sieb‹ versammelten, zu etwas Rechtem gebracht. Ein paar sind schon jung gestorben, wie der vielversprechende Schlachtenmaler, der schöne Maly. Und von den anderen hat sich höchstens der Schindler, der jetzt auch schon tot ist, mit seinen Landschaften durchgesetzt. Freilich hat's lang genug gedauert, und kaum eingetreten, waren seine Erfolge auch schon vorüber. Die Herren Sezessionisten sind über ihn hinweggeschritten. Bin neugierig, was nach denen kommen wird. Wir können noch vieles erleben. Denn heutzutage gibt es keine Übergänge mehr, sondern nur Übersprünge. Schließlich kommt man zur Erkenntnis, daß alles Modesache ist. Ich sage Ihnen: die ganze Kunst ist nicht einen Pfifferling wert!« Damit schritt er, flüchtig an seinen Schlapphut greifend, von dannen. Dissonanzen Es war großer Jagdtag gewesen. Eine Anzahl von Gästen, die nach dem späten Diner ihre benachbarten Wohnsitze noch zu erreichen vermochten, fuhr in leichten Wagen durch das Portal in die dunkle, frostige Herbstnacht hinein. Desto behaglicher fühlten sich die Zurückbleibenden in dem durchwärmten, hell erleuchteten Rauchzimmer, das an die gewölbte Speisehalle stieß. Dort saßen sie nun weit zurückgelehnt mit gekreuzten Beinen, die langen Spitzen der funkelnden Lackschuhe vor sich hinstreckend, plauderten, lachten, schlürften Kognak oder Chartreuse, bis sie sich endlich anschickten, mit dem Schloßherrn ein kleines Baccarat zu machen. Auch eine schöne junge Gräfin, Schwester des Fürsten, die sich in ihrer blaßgelben Crêpe-de-Chine- Toilette zwischen den schwarzen Smokinganzügen der Herren gleich einer Teerose ausnahm, beteiligte sich an dem Spiel. Sie hatte schon die Jagd mitgemacht und langte jetzt, eine große Zigarre zwischen den Lippen, mit ihren nervigen, prachtvoll beringten Sportshänden nach den Kartenblättern, die ihr zugezählt wurden. Während sich nun hier unten die Aufregungen des Spiels immer lauter äußerten und stets neue Havannas aus den Stanniolhüllen gelöst wurden, so daß des angehäuften Rauches wegen ein Fensterflügel geöffnet werden mußte, war oben im Salon ein kleinerer, stillerer Kreis um die Fürstin-Mutter versammelt. Diese, eine stattliche Dame mit leicht ergrauten Haaren, saß in einem tiefen, äußerst bequemen Fauteuil und bewegte mit den feinen, schimmernden Fingern zwei Stricknadeln aus Elfenbein, mit denen sie, einen Knäuel Wolle vor sich, für arme Dorfkinder Jäckchen und Röckchen anfertigte. Dieser ruhigen, mechanischen Arbeit pflegte Fürstin Therese einen vorwiegend großen Teil ihrer Zeit zu widmen, während ihr beständig reger Geist nach allen Richtungen hin seine Fühler ausstreckte. Sie selbst nahm nur selten ein Buch zur Hand, was durch eine gewisse Schwäche ihrer Augen bedingt sein mochte. Aber vier Personen waren abwechselnd beschäftigt, ihr viele Stunden des Tages und der Nacht vorzulesen, so daß ihr keine nur irgend nennenswerte literarische Erscheinung fremd blieb. Russen und Deutsche liebte sie sehr; Franzosen, Engländer und Skandinavier standen in zweiter Linie, wenn sie auch diese keineswegs geringer schätzte, wie denn die Objektivität ihres Urteiles in den meisten Dingen Erstaunen erregen konnte. Auch wissenschaftliche Werke wurden zur Lektüre herangezogen, man war aber begreiflicherweise nicht imstande, sie erschöpfend durchzunehmen. Daher strebte die Fürstin auf solchen Gebieten nach Belehrung durch mündliche Unterhaltung, indem sie Gelehrte, Künstler und Schriftsteller in ihre kleinen Zirkel lud, wo die meisten sehr bald heimisch wurden, da sie fühlten, daß man ihnen hier wirkliches geistiges Interesse entgegenbrachte. Diesmal befand sich im Schlosse ein junger Doktor zu Gast, der in Wien als Privatgelehrter lebte. Eigentlich Polyhistor, hatte er sich seit einiger Zeit ganz auf die Sozialpolitik geworfen und durch eine Reihe publizistischer Artikel ungemeines Aufsehen erregt. Er wurde daher viel in Gesellschaft gezogen, selbst in die hervorragendsten Kreise, denn er besaß auch sehr angenehme weltmännische Eigenschaften. Er war ein ganz vortrefflicher Reiter und Tänzer und zeichnete sich besonders als kühner Radfahrer aus. Als die Fürstin, die mit ihm im Laufe des Winters an einem dritten Orte zusammengetroffen war, erfahren hatte, daß er in einer benachbarten Stadt Vorlesungen halte, schrieb sie ihm dort hin und bat ihn, auf der Rückreise das Schloß zu besuchen. Er hatte die Einladung verbindlichst angenommen, hatte sich gleich bei seinem Eintreffen den Jägern angeschlossen und saß nun in tadellosem Frack und weißer Halsbinde zur Rechten der Fürstin, die sich mit ihm über die soziale Frage unterhielt. Seine schmalen Lippen umspielte dabei ein halb dienstfertiges, halb ironisches Lächeln, während seine runden stahlblauen Augen in einem kalten Feuer glänzten. Sonst aber blieb sein Gesicht unbeweglich, wie die auffallend kahle Schädeldecke, die sich, nach oben etwas zugespitzt, wie ein halbes Straußenei ausnahm. Der Fürstin zugewendet, schien der berühmte Doktor bei seinen Auseinandersetzungen die übrigen Anwesenden gar nicht in Betracht zu ziehen. Unter diesen befand sich auch ein Schwager der Fürstin, Graf Erwin. Als zweiter Bruder ihres verstorbenen Gemahls hatte er niemals ein beträchtliches Vermögen besessen und auch dieses in seiner bewegten jungen und jüngeren Zeit nahezu aufgebraucht. Geistig begabt und im Theresianum erzogen, war er zum höheren Staatsdienste bestimmt gewesen. Aber er zog es vor, in die Armee zu treten. Als Rittmeister bekam er es satt und ließ sich der Gesandtschaft in Madrid attachieren, wo er bald Legationsrat wurde. Dennoch schien er es auch dort nicht nach seinem Geschmack gefunden zu haben. Denn als die Errichtung des mexikanischen Thrones im Zuge war, trat er als Major in die Dienste des unglücklichen Kaisers Max. Nachdem die Tragödie mit der Katastrophe von Queretaro ihren Ausgang genommen hatte, kehrte er, angegriffen vom tropischen Klima, als müder Mann nach Europa zurück, um fortan in vollständiger Zurückgezogenheit auf dem Familienstammgut zu leben. Er bewohnte, etwas abseits vom Schlosse, einen in Rokokostil erbauten Pavillon, der nunmehr mit dem ausgedehnten Park und der nächsten landschaftlichen Umgebung seine Welt geworden war. Bis auf die seinen Zigarren, die er rauchte, war er vollständig bedürfnislos und ließ sich, wenn er allein mit seinem Diener hier hauste, oder auch sonst, wenn es ihm gerade in den Sinn kam, von einer Gärtnersfrau ein sehr schlichtes Mahl bereiten. Auch dem Schneider gab er äußerst wenig zu verdienen und behalf sich mit seiner verjährten Garderobe, wobei er jedoch immer aufs geschmackvollste gekleidet war und selbst in fadenscheinigen Röcken höchst vornehm aussah. Alle noblen Passionen hatte er längst aufgegeben, selbst die Jagd; nur an mehrstündigen Morgenritten auf einem alten, aber noch immer schönen und feurigen Lipyizaner Schimmel hielt er fest. Langeweile kannte er nicht. Wollte sie ihn hin und wieder doch anwandeln, so griff er nach einem seiner Bücher, deren er allerdings nicht allzu viele besaß. Es waren nur Werke von älteren Autoren in eigentümlicher Auswahl. An der Spitze die französischen Enthymematiker: Montaigne, Chamfort, Larochefoucauld. Dann Voltaires Candide und Rousseaus Bekenntnisse. Englisches fand sich vor von Fielding, Smollet, Swift und Sterne. Deutsches: Brandts Narrenschiff, Lichtenbergs aphoristische Schriften, Thümmels Reisen im mittäglichen Frankreich – und Goethes Werther. Das war, einschließlich des Don Quixote, der Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen und einiger wissenschaftlicher Kompendien so ziemlich alles. Diese Prosaschriften – Verse konnte er nicht ausstehen – las er wieder und wieder, obgleich er sie bereits auswendig wußte. Daran, sagte er, war ihr unvergänglicher Wert zu erkennen. Er stand daher auch in stetem Widerspruch mit der Fürstin, die immer nur Neues las und in ihn drang, dies oder jenes kennen zu lernen. Aber er wies ihr Ansinnen hartnäckig zurück. Manchmal wenn, er sich unbeachtet glaubte, nahm er eines der empfohlenen Bücher zur Hand und blätterte darin. Ertappte man ihn dabei, so legte er es sofort weg und tat nach den paar Seiten, die er gelesen haben mochte, einen oft merkwürdig richtigen Ausspruch über das Ganze. Die Wände des Zimmers, in dem er sich tagsüber aufhielt, waren fast durchgehends mit eingerahmten Kupferstichen Hogarths bedeckt, den er neben Ruysdael für den größten Maler erklärte, den es je gegeben. Dazwischen hingen einige stimmungsvolle Landschaften ohne jede Staffage; über dem Schreibtisch aber war, nicht gerade von Meisterhand gemalt, das Bildnis einer spanischen Dame zu erblicken, die er in Madrid geliebt hatte. Wie man vermuten konnte, nicht glücklich. Dennoch trieb er mit dem Porträt eine Art Idolatrie, was ihn jedoch keineswegs abhielt, irgend einer Dorfschönen nachzustellen, an der er Gefallen fand. Den Damen seiner Kreise gegen über betrachtete er sich schon längst als außerhalb jeder Bewerbung stehend, obgleich er auch jetzt mit seiner schlanken, geschmeidigen Gestalt nicht alt aussah. Sein leicht gelocktes Haupthaar war noch immer dicht und braun; nur in dem feinen, zugespitzten Vollbart zeigten sich Silberfäden. So unterschied er sich sehr augenfällig von dem jungen Doktor, dessen Kahlkopf er unausgesetzt mit eingeklemmtem Monokel betrachtete, während er dem Vortrag mit zerstreuter Überlegenheit folgte. Desto andächtiger aber lauschte der Hofmeister des noch im Knabenalter stehenden jüngsten Sohnes der Fürstin. Verkündete doch der Redner das Evangelium, zu dem er sich, wie jetzt die meisten jungen Leute in ähnlichen Stellungen, selbst bekannte, wenn ihn auch die Verhältnisse zwangen, der Macht des Besitzes untertänig zu sein. Er hatte noch keine eigentliche Berufswahl getroffen, versuchte sich in allerlei Wissenschaften und war ein begeisterter Bewunderer Bismarcks, Richard Wagners und Nietzsches. Hierin traf er mit dem jungen Fräulein zusammen, das ihm gegenübersaß und eine Art Sekretärin der Fürstin war. In ihrer körperlichen Entwicklung etwas zurückgeblieben, hatte sie ein feines, längliches Gesichtchen und große schwärmerische Augen, die zaghaft und schüchtern in die Welt blickten. In ihrem zarten Busen jedoch trug sie eine feuerige Hingabe an die Ziele der modernen Frauenbewegung, an der sie leider nur aus der Ferne teilnehmen konnte. Aber ihre Begeisterung dafür kam bei jeder Gelegenheit zum Durchbruch, daher sie auch beständig mit einer alternden Französin in Konflikt geriet, die früher Gouvernante und jetzt Vorleserin war. Denn diese hielt mit aller Heftigkeit ihres Temperaments an dem überwundenen Begriff der »Weiblichkeit« fest, für die sie sich ebenfalls bei jedem Anlaß ins Zeug legte. Sie war überhaupt sehr reizbar und geriet in helle Wut, wenn man sie – was gerade deshalb scherzweise oft geschah – eine Deutsche nannte. Sie stammte aus einem kleinen Städtchen in jenem Teile Lothringens, den man den Reichslanden einverleibt hatte, infolgedessen auch ihr Preußenhaß ein grenzenloser war. In dieser Hinsicht hatte sie einen stillen Bundesgenossen an dem bejahrten Hausarzte, der als eingefleischter Altösterreicher dem deutschen Reiche keine Sympathien entgegenbrachte. Aber er hatte die Gewohnheit angenommen, über alles zu schweigen, was nicht mit seinem Amte zusammenhing, und so ließ er sich ebensowenig darüber aus, wie über die moderne Medizin, auf die er mit mißtrauischer Geringschätzung hinabsah, obgleich er in seinem weitläufigen Zimmer die neuesten chirurgischen Instrumente und medizinischen Schriften aufgestapelt hatte. Im Schlosse war er bis zum letzten Diener als hygienischer Tyrann gefürchtet. So flossen denn in diesem Salon mit seinen steifen Ahnenbildern und verblaßten Gobelins beständig die verschiedenartigsten Gehirnätherschwingungen zu einer eigentümlichen geistigen Atmosphäre zusammen, die etwas von Gewitterluft an sich hatte, wenn auch die taktvolle Objektivität der Fürstin Entladungen in der Regel zu verhüten wußte. Der Sozialpolitiker hatte eben jetzt eine längere Auseinandersetzung mit einem glänzenden Schlagwort geschlossen, und es wurde still. In diesem Augenblick traten auch zwei Diener, die schon vor der Tür gewartet hatten, mit Teebrettern ein und begannen zu servieren. Die Fürstin nahm eine Tasse, was ihr einen vorwurfsvollen Blick des Hausarztes zuzog, der ihr in letzter Zeit den abendlichen Teegenuß untersagt hatte. Der berühmte Gast folgte ihrem Beispiele, und auch der Graf ergriff eine Tasse, in die er noch ein Löffelchen Rum goß. Der Hofmeister langte nach einem Glase Bier, das Fräulein streckte die schmächtigen Finger nach einem belegten Brötchen, die Französin wählte einige kleine Näschereien aus, während der Arzt seine stoische Enthaltsamkeit durch eine abweisende Handbewegung kundgab. Als sich die Diener entfernt hatten, sagte die Fürstin: »Ich habe Ihnen noch vielmals zu danken, Herr Doktor. Ihre lichtvollen Belehrungen haben mir wirklich ganz neue Einblicke erschlossen – wenn mir auch, ich gestehe das offen, noch so manches nicht ganz faßlich erscheint.« »Das ist kein Wunder, liebe Resa«, warf Graf Erwin etwas ungalant ein. »Auf die sozialistische Doktrin läßt sich der Ausspruch anwenden, den Lichtenberg über die Kantsche Philosophie getan: daß man sie in gewissen Jahren eben so wenig zu lernen vermöge wie das Seiltanzen.« Der Doktor sah ihn überrascht und mit einiger Aufmerksamkeit an. Es wunderte ihn offenbar, dieses Zitat aus dem Munde des Grafen zu vernehmen. »Nun allerdings,« sagte er, »ist es ein Thema, an das man nicht früh genug herantreten kann. Denn später macht sich doch immer ein geheimer, kaum mehr zu überwindender Widerstand geltend.« »Bei mir gewiß nicht, Herr Doktor«, versetzte die Fürstin. »Ich kann Sie versichern, daß ich dem Gegenstande immer das wärmste, aufrichtigste Interesse entgegengebracht habe. Wir besitzen ja ausgedehnte Industrien, die uns alle diese Fragen seit jeher nahe gebracht. Und meinem verstorbenen Gatten war es ein Herzensbedürfnis, das Los seiner Arbeiter zu verbessern. Es ist vieles veranstaltet und geschaffen worden, das für die Leute als wirkliche Errungenschaft bezeichnet werden kann. Dem einzelnen sind natürlich durch die allgemeinen Verhältnisse Schranken gesetzt. Und in dieser Hinsicht habe ich mich stets wundern müssen, daß der Staat, der doch die Notwendigkeit von Reformen zugibt, nicht ein eigenes Ministerium kreiert –« »Dafür müßten wir uns bedanken«, unterbrach sie der Doktor hastig. »Das liefe auf bureaukratische Bevormundung hinaus. Nein, Durchlaucht! Wir werden unsere Forderungen schon selbst durchsetzen.« »Aber verzeihen Sie,« fuhr die Fürstin ziemlich hartnäckig fort, »gerade einige dieser Forderungen sind mir unverständlich geblieben. Zum Beispiel die sechsstündige Arbeitszeit. Ich bitte Sie, was sollen denn die Leute mit der anderen Hälfte des Tages anfangen?« »Sie sollen sich bilden.« Ein sarkastisches Lächeln zuckte über das Antlitz des Grafen. »Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus«, sagte er. Der Doktor warf das Kinn empor. »Gewiß ist es ein großes Wort! Es ist die Signatur – und die Forderung unserer Zeit.« »Leider«, erwiderte der Graf trocken. »Sie sind also ein Gegner der Bildung, Erlaucht?« »Keineswegs – wenn ich sie wirklich antreffe.« »Ich verstehe. Aber Sie müssen doch zugeben, daß Bildung nicht vom Himmel fällt. Sie muß eben erworben werden. Und so müssen die Arbeiter trachten, sich Bildung zu erwerben.« »Ich möchte wissen, wie sie das anstellen sollten.« »Wie? Er scheint Ihnen nicht bekannt zu sein, daß bereits allenthalben Volksbildungsvereine ins Leben gerufen sind – daß man bemüht ist, durch zahlreiche, jedem zugängliche Bibliotheken und Vorträge den Gesichtskreis derer zu erweitern, die bis jetzt, an ihre Webstühle gekettet oder in die dumpfe Nacht der Kohlenschächte gebannt, in vollständiger Unwissenheit gelebt haben.« »Darauf kann ich wieder nur sagen: leider!« »Ach, hören Sie nicht auf ihn, lieber Herr Doktor«, fiel die Fürstin ein. »Mein Schwager Erwin gefällt sich in Paradoxen. Aber Sie müssen mir doch erlauben, zu bemerken, daß ich alle diese gewiß sehr löblichen Anstalten ziemlich ungenügend finde. Sie können doch nur wenigen geistig Begabten, denen schon ein gewisser Bildungstrieb innewohnt, zugute kommen. Aber für die große Masse –« »Ist freilich fürs erste noch sehr wenig zu hoffen«, fuhr der Doktor mit einer erzwungen verbindlichen Gebärde fort. »Immerhin kann auf diese Art – gewissermaßen nach dem Gesetze der elektrischen Verteilung – auch in der großen Masse Bildungstrieb geweckt werden. Und vorderhand ist genug erreicht, wenn die geistig höher Veranlagten die erwünschte Anregung und Führung finden.« »Das ist durchaus nicht notwendig«, sagte der Graf. »Wer geistig veranlagt ist, findet überall Anregung und strebt von selbst seinen Zielen zu. Ich brauche Sie nicht erst darauf aufmerksam zu machen, wie viele Forscher und Erfinder, wie viele Schriftsteller und Künstler aus den ungünstigsten, ja widerstrebendsten Lebensverhältnissen heraus sich zu hohen und höchsten Stufen emporgeschwungen. Vielleicht, ich gebe es zu, auf manchem Umwege und mit verhältnismäßiger Einbuße an Kraft und Erfolg. Dennoch braucht man es einigen wenigen nicht leichter zu machen auf Kosten der unübersehbaren Mehrzahl, in deren Köpfen durch eine mangelhafte Erweiterung des Gesichtskreises nur eine heillose Verwirrung der Begriffe entstehen kann – ganz abgesehen von bis jetzt noch ganz ungeahnten Bedürfnissen und Begehrungen, die infolge solcher Bildungsversuche in den Massen hervorgerufen werden.« »Es wächst der Mensch mit seinen Bedürfnissen«, sagte der Doktor kategorisch. »Aber auch sein Elend.« »Das ist eine gänzlich veraltete Anschauung, Herr Graf. Man ist längst davon abgekommen, das Glück der Menschheit in der Beschränkung zu suchen. Vielmehr muß der ganze Reichtum des Daseins jedem einzelnen erschlossen werden, auf daß er teil habe an allen Lebensgenüssen – bis hinauf zu den reinsten Erhebungen durch die Kunst.« »Durch die Kunst!« hohnlachte der Graf. »Ja, durch die Kunst!« wiederholte der Doktor nachdrücklich. »Oder wollen Sie vielleicht dem Arbeiter das Recht auf die Freude am Schönen streitig machen? Wollen Sie ihm Museen, Theater und Konzertsäle verschließen, auf daß er nach wie vor stumpfsinnig vorübergehe an dem Adel und der Bedeutung unserer öffentlichen Bildwerke, an der Pracht unserer Gebäude – ja selbst an den Reizen der Natur?« »Keineswegs. Ich bin nur gegen eine vorbedachte Züchtung des sogenannten Kunstsinns. Dieser famose Sinn ruft den Nachahmungstrieb hervor und hat in unserer bereits gebildeten Welt Unheil genug angerichtet, da in ihr jeder zweite Mensch malt oder modelliert, komponiert oder dichtet. Soll dieser Wahnwitz auch noch die unteren Volksschichten erfassen?« »Es soll eben keine unteren Volksschichten mehr geben«, versetzte der Doktor giftig. »Ich weiß, daß Sie dies beabsichtigen, indem Sie das Oberste zu unterst kehren wollen. Glück zu! Wird aber nicht viel nützen. Schichten bleiben Schichten, ob sie nun aus diesen oder jenen Elementen zusammengesetzt sind. Denn daß die Menschheit jemals aus einer Einschicht bestehen werde, glauben Sie wohl selbst nicht.« »Oho!« rief der Doktor. »Wir glauben das ganz be stimmt. Es dürfen nur einmal durchaus vernünftige soziale Institutionen Platz gegriffen haben, so ist es nur eine Frage der Zeit, daß bei einer genau abgewogenen und streng durchgeführten Zuchtwahl, die alles Widerstrebende und daher Schädliche dem Absterben preisgibt, eine – wenn auch nicht gleichförmige, aber durchweg harmonisch gegliederte und geläuterte Menschheit entsteht.« »Ich gratuliere im voraus. Nur schade, daß bis dahin sich unser Planet im Zustand der Erstarrung befinden wird.« Schon bei Beginn dieser immer hitziger geführten Kontroverse hatte sich der Hausarzt, wie es bei ähnlichen Fällen seine Gewohnheit war, auf lautlosen Sohlen über die Teppiche des Salons in ein Nebengemach begeben, durch das er verschwand. Die übrigen aber folgten mit steigender Spannung und sehr verschiedenen Empfindungen dem Streite der beiden Gegner. Der Hofmeister sah mit weit aufgerissenen Augen unverwandt nach dem Doktor hin, dessen Worte er, die Lippen krampfhaft bewegend, im stillen nachsprach, während die Französin jede Bemerkung des Grafen, für den sie ein faible hatte, mit lebhaft zustimmendem Kopfnicken begleitete. Das Fräulein aber hielt voll innerlichen Bebens angstvoll den Blick gesenkt. Denn sie befürchtete, daß auch die Frauenfrage berührt werden könnte, auf die, wie sie wußte, der in seinen Ausdrücken nicht gerade wählerische Graf übel zu sprechen war. Sie selbst jedoch besaß bei allem Hange zur Emanzipation eine übertrieben feminine Empfindlichkeit gegen jedes derbere und freiere Wort, das ihr sofort das Blut in die schmächtigen Wangen trieb. Aber auch in dem Antlitz der Fürstin wurde allmählich ein ängstlicher Zug sichtbar. Sie hatte zwar derlei Wortgefechte in ihrer Gegenwart nicht ungern, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. An dieser Grenze schien ihr jetzt das Gespräch der beiden Herren angelangt zu sein, und sie überlegte eben, wie sie vermittelnd eingreifen solle, als die Gesellschaft, die unten das Spiel beendet hatte, sehr geräuschvoll über die Treppe herauf und in den Salon geschritten kam, an der Spitze die schöne Gräfin, die einen ganzen Pack zusammengeknüllter Banknoten in der Rechten hielt. »Da schau', Mama,« rief sie, auf die Fürstin zueilend, »das alles habe ich den Herren abgenommen!« »Ja, sie hat uns total ausgesackt«, bekräftigte Graf Zdenko, ihr Gatte. »Ach was,« lachte der Fürst, indem er sich in einen Fauteuil warf, »dir verschlägt es nichts! Mann und Frau greifen doch in eine Tasche.« Nun nahmen auch die übrigen Ankömmlinge das Wort, und es wurden alle Wechselfälle im Spiel sehr lebhaft durchgesprochen. Auch der Jagd wurde noch Erwähnung getan. Man stritt sich, wer den ersten Bock gefehlt habe, und rechnete wiederholt nach, wieviel jeder einzelne zur Strecke gebracht. Ein süperber Fuchs, den man ganz unvermutet aufgestöbert und geschossen hatte, wurde der Gegenstand besonderer Erörterungen. Damit aber verbreitete es sich rings wie frische, kräftige Waldluft und vertrieb die angehäuften geistigen Moleküle. Auch noch anderes kam an die Reihe. Man sprach jetzt von Wien, von den bevorstehenden Bällen, von Madame Francine und von neuen Roben, von der Wolter, die damals noch lebte, von der Heirat der Palmay und von Girardi. Ein noch sehr junger Baron versuchte eine Coupletstrophe in der Art dieses Künstlers vorzutragen, mit dem er im Äußeren einige Ähnlichkeit hatte. So wurde es immer lauter im Salon; nur Graf Erwin und der Doktor, die sich gegenseitig sonderbare Blicke zuwarfen, verhielten sich schweigend. Die Fürstin bemerkte die Verstimmung der beiden Herren und sagte endlich: »Na, Kinder, jetzt aber ist es Zeit, daß wir schlafen gehen.« Sie erhob sich etwas mühsam aus ihrem Lehnsessel und umarmte die Tochter. Dann reichte sie dem Doktor die Hand, die dieser mit einer sehr förmlichen Verbeugung an die Lippen führte. »Ich bedauere, daß Sie uns schon morgen vormittag verlassen wollen. Aber ich hoffe, Sie vor Ihrer Abreise noch zu sehen.« Nach diesen Worten bewegte sich die Fürstin, von den übrigen gefolgt, der Tür zu, und bald war alles mit lauten Gutenachtrufen in den weitläufigen Korridoren des Schlosses auseinandergestoben. Der Hofmeister aber wollte es sich nicht nehmen lassen, den Doktor nach seinem Zimmer zu geleiten. Er hatte die Brust zum Zerspringen voll; er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor. Dabei hoffte er, daß der Doktor zu ihm sprechen, ihn vielleicht auffordern werde, noch ein wenig bei ihm einzutreten. Aber es geschah nicht. Der andere reichte ihm an der Schwelle ziemlich kühl die Hand und sagte bloß: »Also auf Wiedersehen – morgen beim Frühstück.« Kaum im Zimmer, machte der Doktor seiner inneren Erregung dadurch Luft, daß er den großen getäfelten Raum .. ach allen Richtungen hin sehr geräuschvoll durchmaß. Den eintretenden Diener, der sich nach allfälligen Wünschen erkundigte, wies er barsch ab. Dann blieb er stehen und stampfte mit dem Fuße. Was war ihm da widerfahren? Überall lauschte man seiner Rede mit gläubiger Andacht, oder doch wenigstens mit schweigender Unterwürfigkeit. Und wenn man sich schon Einwendungen erlaubte, so geschah es mit ehrerbietigem Zögern und in den verbindlichsten Ausdrücken – wie es ja auch heute von seiten der Fürstin geschehen war. Aber dieser Graf hatte ihn von oben herab behandelt – hatte ihn mit hochmütiger Ironie abgekanzelt wie einen Lakai! Die Galle kochte in ihm bis an den Hals hinauf. Sollte er diesen Menschen nicht fordern?! Er griff in die Luft wie nach einer Pistole und streckte den Arm, als gelte es zu zielen. Diese Bewegung, die er mehrmals wiederholte, schien ihn allmählich zur Ruhe zu bringen. Er begann wieder auf und ab zu schreiten, doch in gemessener Haltung, und immer stolzer richtete sich sein Haupt empor. Endlich spuckte er verächtlich aus. »Aristokratischer Hohlkopf!« sagte er, indem er daran ging, sich auszukleiden. Aber auch der Pavillonbewohner war inzwischen in seinem Schlafzimmer auf und nieder geschritten. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er sich mit dem Doktor eingelassen. Denn er war ein kluger Mann und wußte sehr genau, wie ohnmächtig er mit seinen Anschauungen dem Zuge der Zeit gegenüber dastehe. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, seine Meinungen irgendwie geltend machen zu wollen, ja er vermied es, sie vor Fremden auszusprechen. Aber das ganze Wesen des Doktors hatte ihn gereizt. Sein bloßer Anblick war ihm auf die Nerven gegangen. Dieses kaltäugige Vogelgesicht! Dieser haarlose, zugespitzte Schädel! Er machte unwillkürlich eine Bewegung mit dem Arm, als schwinge er eine Reitpeitsche. Dann rief er mit starker Stimme: »Wenzel!« Ein bejahrter Diener erschien und war ihm wie ein Automat bei der Nachttoilette behilflich. Im Bette blieb Graf Erwin noch eine Zeitlang wach und folgte mit dem Blick dem Rauche seiner Zigarre, der sich langsam zu den Stuckverzierungen des Plafonds hinankräuselte. Jetzt warf er den Stummel in den Aschenbecher, blies das Licht aus und murmelte: »Moderner Esel.« Sechster Teil Die Familie Worel 1. I. In der Landeshauptstadt waren Arbeiterunruhen entstanden, die sich mehr und mehr steigerten und auch auf die benachbarten Fürstlich Roggendorffschen Eisenwerke überzugreifen drohten. Es galt also dort, einen voraussichtlichen Streik hintanzuhalten. Man erwartete das Eintreffen des Fürsten, der sich mit seiner Mutter und seiner jungen Gemahlin in Florenz befand, während die Leiter der Betriebe Tag und Nacht auf ihren Posten blieben, eingehende Verhandlungen in Aussicht stellend. Inzwischen aber war es in der Stadt zum Äußersten gekommen. Man hatte Militär aufbieten müssen; die bei solchen Anlässen unvermeidlichen Opfer hatten geblutet, worauf eine dumpfe, unentschiedene Ruhe eingetreten war. In dieser bang erwartungsvollen Zeit saß ich eines Abends mit dem Grafen Erwin in dem kleinen Salon des Schlosses. Es war ein traulicher Raum, nach einer Seite hin durch einen prachtvollen alten Gobelin abgegrenzt. An der Wand gegenüber hingen einige intimere Familienporträts, unter denen eines ganz besonders hervorleuchtete. Von Lampi gemalt, stellte es den Urgroßvater des Fürsten dar in der grünen Uniform eines Landsturmmajors aus den Befreiungskriegen. Hohe Intelligenz sprach aus den edlen, aber keineswegs scharfen Zügen des noch im kräftigsten Alter stehenden Mannes, der das Haar, der Tracht seiner Zeit gemäß, leicht gepudert und nach rückwärts in einen Beutel zusammengefaßt trug. Die Fabeln des meisterlichen Bildes waren noch so frisch, als stammte dieses von heute, und die ungemein lebensvolle Wiedergabe der bedeutenden und doch anmutigen Persönlichkeit reizte immer wieder zu längerer Betrachtung. So blickten wir beide auch jetzt schweigend darauf hin. Endlich sagte der Graf: »Ja, der Mann dort ahnte nicht, wie sehr sich die Verhältnisse, unter denen er seine – wenigstens für damals – großartige Schöpfung unternahm, im Laufe der Zeit ändern würden. Als er hier Erzlager erschloß, Hochöfen baute und so mit den Hüttenwerken die erste große Eisenindustrie des Landes ins Leben rief, schuf er auch den vergleichsweise nicht unbeträchtlichen Wohlstand der ganzen Gegend. Denn der Syenitboden hier herum ist nicht ergiebig; die Landwirtschaft hat niemals etwas Rechtes abgeworfen. So lebte, mit Ausnahme einiger größerer Besitzer, die Bevölkerung in Not. Nun waren mit einemmal unvermutete Erwerbsquellen erschlossen. Von meilenweit kamen die Leute herbeigeströmt, um Arbeit zu suchen und zu finden. Waren die Löhne auch gering, mußte auch bei Errichtung so manchen Objektes noch die Robot mithelfen: man segnete den unternehmenden Gutsherrn und nannte ihn den Wohltäter der Gegend. Heute nennt man uns die Ausbeuter. Vielleicht sind wir es auch, obgleich ich Ihnen ganz bestimmt versichern kann, daß mein Neffe, wenn er die Löhne nur einigermaßen nennenswert erhöhen wollte, aus den Werken nicht den geringsten Nutzen zöge. Aber vielleicht braucht er auch keinen zu ziehen. Denn es sind ja nur die Arbeiter, die das Unternehmen im Gang halten – und warum sollten sie den Roggendorffern durch ihre Mühen Gewinn schaffen müssen? Sie könnten doch den Betrieb selbst in die Hand nehmen und weiterführen. Dahin zielt ja, wie ich glaube, die sozialistische Bewegung überhaupt. Ich sage: ich glaube. Denn bestimmt weiß ich es nicht. Man kann, wie ich schon einmal, vielleicht zur Unzeit, ausgesprochen habe, diese Doktrin in gewissen Jahren sich ebensowenig zu eigen machen, wie das Seiltanzen. Aber immerhin. Daß die alte Gesellschaftsordnung im Absterben begriffen ist, erkenne ich sehr wohl, und es fällt mir nicht ein, für sie eine Lanze brechen zu wollen. Aber Institutionen, die durch das Leben selbst geworden sind und sich im Laufe von Jahrhunderten gewissermaßen eingefleischt haben, besitzen denn doch ein zähes Leben, so daß sich manches bereits Totgesagte plötzlich wieder zu ganz unerwarteter Daseinsfrische erhebt. Zum Beispiel die Macht der Kirche, die man nach dem Fall des Konkordats schon für immer gebrochen glaubte. Dagegen hat der Liberalismus, der sich damals so siegreich gebärdete, ein ziemlich rasches Ende gefunden. Ob der sozialdemokratischen Idee eine weitaus längere Dauer beschert sein kann, darüber erlaube ich mir keine Meinung. Jedenfalls wird sie das Schibboleth der nächsten Epoche sein, und den Tatsachen, wenn sie sich vollziehen, wird man sich beugen müssen. Das ist seit jeher meine Maxime gewesen, und so hab' ich mich den Ereignissen gegenüber stets objektiv verhalten, wenn mir auch begreiflicherweise der Feudalismus, in dessen Zeichen ich geboren bin, hin und wieder in den Nacken schlägt.« Ein bejahrter Kammerdiener war leise eingetreten und brachte den Tee. »Hört man Neues aus der Stadt?« fragte der Graf. »Nichts Gutes. Die Arbeiter bestehen noch immer auf ihren Forderungen. Wer weiß, ob es morgen nicht wieder losgeht. Und es hat doch genug Tote und Verwundete gegeben. Auch Weiber sind erschossen worden. Und wissen Erlaucht, wer darunter war?« »Na, wer denn?« »Die Tochter des Worel.« »Des Worel? Die Olga?« »Jawohl«, fuhr der Alte fort, während er den Tisch besorgte. »Seit sie ihren zweiten Mann geheiratet hat, ist sie die reinste Anarchistin geworden. Sie soll den ersten Stein nach den Soldaten geschleudert haben.« Der Graf erwiderte nichts. »Mein Gott, wer hätte das von dem schönen Mädel gedacht, das sozusagen im Durchlauchtigsten Hause aufgewachsen war! Aber ihr Vater, dieser eingebildete Narr, trug an allem die Schuld. Er hat seine Familie ins Unglück gebracht.« Damit entfernte sich der Mann. Der Graf schwieg noch immer. Nach dem Tee zündete er eine Zigarre an und sagte: »Sie haben gehört, was unser Mischko da berichtet hat, und werden erstaunt sein, wenn ich hinzufüge, daß ich einst dieses Mädel heiraten wollte.« Ich blickte ihn wirklich höchst überrascht an. »Staunen Sie übrigens nicht allzu sehr. Es war eben eine Stimmung – eine Laune, wenn Sie wollen. Aber die Absicht hatt' ich. Da wir just so hübsch allein beisammen sitzen, will ich Sie einmal etwas tiefer in mein Leben blicken lassen, indem ich Ihnen die Geschichte der Familie Worel erzähle. Angesichts der jüngsten Vorgänge ist sie in gewissem Sinne lehrhaft. Sie können daraus entnehmen, wie die Schicksale der einzelnen mit dem Zuge der Zeit im Zusammenhang stehen – wie die Menschen von ihm ergriffen und je nach Umständen emporgetragen oder dem Untergange zugetrieben werden.« 2. II. »In unserem kleinen Schlosse Blansek, das nun ganz leer steht, waren seinerzeit die herrschaftlichen Verwaltungen untergebracht: das Forstamt, das Rentamt, die Buchhaltung der Eisenwerke – und was eben sonst noch Bureaus benötigte. Auch wohnten dort einige Beamte. Dabei war ein der Tischlerei kundiger Mann angestellt, der die Dienste eines Hausbesorgers und Kanzleidieners zu verrichten hatte. Zu tun gab es für ihn genug, denn er wurde, da es damals keine Telegraphen, noch weniger aber Telephone gab, auch als Botengänger verwendet. Dafür bezog er keinen allzu hohen Gehalt. Aber er hatte ein kleines Nebengebäude mit vielfachen Räumlichkeiten zur Verfügung; dahinter einen Obst- und Gemüsegarten. Außerdem ein schönes Stück Feld, auf dem man abwechselnd Korn und Kartoffeln bauen konnte. So führte er mit seiner Familie eine den damaligen Verhältnissen entsprechende und zufriedenstellende Existenz. Er hieß Worel. Hoch und kräftig gewachsen, blond und blauäugig, wie er war, machte er beim ersten Anblick den Eindruck einer deutschen Reckengestalt. Sah man aber näher zu, so erkannte man an der runden, vorspringenden Stirn, an den stark entwickelten Backenknochen und der etwas verkümmerten Nase den Slawen. Seine Frau, eine zierliche, lebhafte Brünette, deren Augen wie zwei große schwarze Kirschen glänzten, gab ein ganz hübsches Gegenbild ab. Es war eine Freude zu sehen, wie sie in der kleinen Wirtschaft waltete und mit Hilfe ihrer Mutter, die im Hause lebte, die Feld- und Gartenarbeit verrichtete. Kinder hatten die Leute damals zwei, Mädchen. Das erste, der Großmutter ähnlich, ein unschönes, verwachsenes Geschöpf, das zweite hingegen, erst ein paar Jahre alt, ein höchst lieblicher Anblick – ein wahres Christkindl. So also nahm sich die Familie Worel aus, die wir jüngeren Geschwister nicht ungern aufsuchten, wenn wir zuweilen nach Blansek fuhren. Denn der Mann hatte immer etwas Besonderes vorzuweisen. Entweder einen ausgestopften schönen Vogel, oder den Wurf einer seltenen Kaninchenart, die er züchtete – und ähnliches. Und die Frau pflegte uns mit gewissen Kuchen zu regalieren, die sie sehr schmackhaft zu bereiten verstand. Da geschah es, daß mein erstgeborener Bruder, der um zwölf Jahre älter war als ich, heiratete, und ihm unser Vater Blansek als Ehesitz übergab. Die Bureaus wurden an den Ort der Betriebe verlegt und alle Räumlichkeiten des Schlosses durch eine Schar von Handwerkern in den notwendigen Stand versetzt. Auch Worel half treulich mit und zeigte dabei eine Anstelligkeit, die Erstaunen erregte. Mein Bruder gewann ihn daher sehr lieb, ernannte ihn zum Zimmerwärter und ließ ihm im Laufe der Jahre alle möglichen Vergünstigungen zuteil werden. Sie waren auch wohl verdient. Denn er waltete nicht bloß sehr eifrig seines Amtes, sondern legte überall Hand an, wo es etwas zu besorgen gab. So wurde er im Schlosse gewissermaßen das Faktotum. Wenn Ereignisse eintraten, die besondere Veranstaltungen notwendig erscheinen ließen, da hieß es gleich: ›Ach, das wird der Worel schon machen!‹ Und er machte es auch. Sogar ein ganz stattliches Haustheater stellte er einmal her, wobei er sich auch als Dekorationsmaler versuchte. Durch seine Verwendbarkeit kam die ganze Familie in Gunst. Man beschenkte die hübsche Frau Aninka, die inzwischen einen Knaben zur Welt gebracht, und die Kinder mit gefallsamen Kleidern, und als meinem Bruder ein Töchterchen geboren wurde, nahm man gleich die kleine Olga als künftige Gespielin in Aussicht. Ich selbst war zu jener Zeit als Zögling ins Theresianum getreten. Von dort kam ich nur in den Ferialzeiten nach Hause, dann aber natürlich auch oft genug nach Blansek Dabei konnte ich wahrnehmen, wie die Olga, die nun wirklich die Gespielin meiner kleinen Nichte geworden war, von Jahr zu Jahr schöner aufblühte. Sie geriet mehr dem Vater nach, hatte aber die großen schwarzen Augen der Mutter und eigentümlich blondes Haar, das wie blasses Kupfer schimmerte. Es war von solcher Fülle, daß es in seiner Schwere den Kopf des Mädchens nach rückwärts zog, wodurch dieses unwillkürlich eine stolze und hoheitsvolle Haltung annahm. Sie entwickelte sich auch sehr rasch, so daß sie mit neun oder zehn Jahren schon wie zwölfjährig aussah. Etwa fünfzehn mochte sie gewesen sein, als ich, des Studierens satt, gleich als Offizier – das ging ja damals – in die Armee trat. Bei kürzeren Sommer- oder Herbsturlauben – der Winter wurde ja meistens in der Stadt zugebracht – traf ich mit ihr oft im Blanseker Park zusammen. Sie war dort immer um meine Nichte beschäftigt, die sie sehr liebte. So entwickelte sich zwischen uns auch eine Art vertraulichen Verkehrs, der meinerseits freilich immer von oben herab blieb. Hauptsächlich vielleicht deshalb, weil ich fühlte, daß ich nahe daran war, Feuer zu fangen. Sie selbst hielt sich, wie auch der jungen Komtesse gegenüber, in den Schranken jener stillen Unterwürfigkeit, die ihre Stellung mit sich brachte; nicht eine Spur von Koketterie war an ihr wahrzunehmen. Als ich aber knapp vor dem Kriege mit Italien für ein paar Tage nach Hause kam, um von den meinen vielleicht auf Nimmerwiedersehen Abschied zu nehmen, traf ich sie zufällig allein. Sie saß in einer blühenden Geißblattlaube und blätterte in einem Bilderbuche, das meiner Nichte gehörte. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, denn die Laube war sehr tief. Aber ein brauner Dackel, der immer um die Mädchen war, kam herausgesprungen. Ich blieb am Eingang stehen. Olga erhob sich und legte das Buch weg. Ich trat hinein und reichte ihr die Hand hin. ›Adieu, Olga!‹ sagte ich. ›Heute abend reise ich wieder ab – und dann geht's ins Feld.‹ Sie blieb regungslos und sprach kein Wort. Aber sie war ganz blaß geworden, und ein Beben ging durch ihren schlanken Leib. Ich sah, wie sie gewaltsam an sich hielt. Plötzlich in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend, warf sie sich mir an die Brust. Einen Augenblick war ich ganz fassungslos. Dann aber, das warme Leben an mir fühlend, umschloß ich sie mit beiden Armen. ›Liebe, liebe Olga,‹ flüsterte ich, während ich ihr Haar, ihre Stirn, ihren Mund küßte. Jetzt riß sie sich los, und das Gesicht mit den Händen verhüllend, entfloh sie.« 3. III. »Sie begreifen,« fuhr der Graf fort, »daß mir dieses Erlebnis einen großen Eindruck machte. Ich konnte den ganzen Tag über an nichts anderes denken und war beim Abschied von meinen Angehörigen sehr zerstreut. Auch während der Fahrt zum Regiment befand ich mich in jenem süßen Taumel, den man sehr bezeichnend einen Seelenrausch nennt. Aber wie andere Räusche hielt er nicht vor. Schon als ich wieder den Dienst antreten mußte, begann er zu verfliegen. Dann kam der unglückliche Feldzug. Nach diesem verlor ich die Lust, das Soldatenspiel weiter zu spielen. Ich wollte ein größeres Stück Welt, wollte bedeutenderes Leben kennen lernen und beschloß, mich der Diplomatie zu widmen. Es war leicht durchzusetzen, daß ich einer Gesandtschaft attachiert wurde. So kam ich nach Madrid. Dort geschah, was so ziemlich jedem jungen Manne geschieht: ich verliebte mich in eine verheiratete Frau. Sie kennen sie nach dem Bilde, das über meinem Schreibtische hängt. Keine Spanierin, wie Sie vielleicht glauben könnten, sondern eine Italienerin. Ihr Gemahl, der in Madrid einen deutschen Mittelstaat vertrat, hatte die Komtessa als Legationsrat in Rom, seinem früheren Dienstposten, erehlicht. Er war ein hagerer, fadblonder und, wie es schien, auch blutloser Geselle, denn er benahm sich ungemein artig gegen die Liebhaber seiner Frau. Sie hatte deren, um es gleich zu sagen, sehr viele. Damals nahm ich ihr das höchst übel, heute ist es ihr längst verziehen. Denn sie war eine Frau, deren eigentümlich zarter Reiz alle Männer gleichmäßig anzog. Sie brauchte sich nur zu zeigen, mit ihren durchsichtig dunklen Augen zu lächeln und ein paar Worte zu sagen, so war jeder hingerissen. Konnte es da wundernehmen, daß sie, temperamentvoll wie sie war, von der Macht des männlichen Od, das ihr von allen Seiten so heiß entgegenströmte, leichter überwältigt wurde, als andere schöne Frauen, die man vielleicht bewundert, aber nicht sofort begehrt? Und sie verstand die große Kunst, sich mehrseitig hinzugeben, ohne dabei im Schlamm zu versinken. Sie tat es mit einer fast kindlichen Unbefangenheit und mit vollendeter Grazie. So mußte Josefine Beauharnais gewesen sein, die den großen Napoleon fesselte, obgleich er von ihrer Untreue überzeugt war. Nun, ich war kein Napoleon und verzieh ihr die Untreue nicht – mit Ausnahme der gegen ihren Gatten. Ich wollte der einzige sein, und da mir das nicht gelang, quälte ich sie mit rasender Eifersucht. Mehr als einmal hatte ich unsere Beziehungen abgebrochen, um doch immer wieder zu ihr zurückzukehren. Aber es kam auch immer wieder zu den unerquicklichsten Szenen. Ich bedrohte – ja, ich beschimpfte sie sogar. Mit einer wahren Engelsgeduld ließ sie alles über sich ergehen, was mir doch hätte zeigen können, daß ich ihr mehr war, als meine gutmütigeren Nebenbuhler. Als ich mich jedoch eines deutschen Malers wegen, der nach Spanien gekommen war, um Velasquez zu studieren, zu einer Mißhandlung hinreißen ließ, da wies sie mir mit einem kalten Blick die Tür. Natürlich war jetzt ich der Beleidigte und schnaubte Rache. Ich dachte daran, den Maler zu fordern – und was derlei Ausgeburten einer verstörten Gemütslage mehr waren. Zum Glück war aber meine Vernunft schon damals stark genug, solch wahnwitzige Regungen zu besiegen. Aber ich litt unsäglich. Von Tag zu Tag wuchs meine Sehnsucht nach dem geliebten Weibe, aber auch die Erkenntnis, daß jetzt alles zu Ende sei. Ihren Anblick jedoch, dem ich täglich ausgesetzt war, ertrug ich nicht. Ich nahm, da ohnehin die Zeit der politischen Windstille herannahte, sofort Urlaub. Mein Vater und mein zweitältester Bruder, der nun auch schon tot ist, befanden sich noch in Wien, mein anderer Bruder jedoch war schon in den ersten Frühlingstagen nach Blansek gezogen. Dorthin wollte ich, denn große Städte mit ihrem Highlife waren mir jetzt gründlich verhaßt. Dabei kam mir mit einem Mal Olga in den Sinn, die ich im Laufe der Ereignisse gänzlich vergessen hatte. Wie greifbar trat mir die Gestalt des schönen Mädchens vor die Seele – und sehen Sie: in diesem Augenblick faßte ich den Entschluß, es zu heiraten. Ich war immer etwas romantisch angehaucht gewesen. Und trotz aller weltmännischen Genußfähigkeit – und wenn Sie wollen, Genußsucht, auch immer mit einem unbestimmten Hange nach stiller, beschaulicher Zurückgezogenheit in irgendeinem Erdenwinkel behaftet. Das konnte ich jetzt haben, wenn ich mir auf unserem Grund und Boden – etwa zwischen Roggendorf und Blansek – ein komfortables Blockhaus mit waldigem Hintergrund und weiter Fernsicht erbauen ließ, um dort an der Seite eines schlichten, mir ganz ergebenen Weibes ein unabhängiges, wenn auch keineswegs müßiges Dasein zu führen. Denn ich hatte – auch das will ich Ihnen anvertrauen – zu jener Zeit schriftstellerische Neigungen. Montaigne und Larochefoucauld reizten mich zur Nachahmung. Auch als Familienvater dachte ich mich bereits und entwarf nach Rousseaus Emile weitgehende Erziehungspläne für meine präsumtiven Kinder. Daß man mir Schwierigkeiten machen könnte, sah ich wohl ein, ich achtete sie aber gering. Meine Brüder kannte ich als ziemlich vorurteilslos – und mein Vater, der allerdings zu fürchten war, mußte schließlich nachgeben. Es war ja damals nichts geradezu Horrendes, daß ein Fürst oder Graf eine Försters- oder Schafferstochter heiratete. Auch Wäschermädchen kamen vor. Heutzutage werfen sich meine Standesgenossen mehr auf Sängerinnen und Tänzerinnen, was wohl ein Zeichen höheren Geschmacks sein soll. Nun, ich erkor die Tochter des Worel. Papa und Mama waren nun freilich nicht besonders erwünscht, aber es waren brave Leute – und man konnte mit ihnen einen modus vivendi vereinbaren. Also mein Entschluß stand fest. Daß das Mädchen selbst einen Strich durch die Rechnung machen könnte, fiel mir nicht ein. Daß sie mich damals geliebt, darüber konnte kein Zweifel sein. Warum sollte sie es nicht auch jetzt – und mir etwa einen Korb geben, wenn ich ihr meine Hand antrug? Daß sie vielleicht inzwischen schon geheiratet haben könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. So sicher war ich der ganzen Sache. Mit diesem Gefühle fuhr ich durch das Schloßportal in Blansek ein. Da fiel mir gleich als sehr seltsam auf, daß Vater Worel in einer Art von Schlafrock, den Kopf mit einem türkischen Fez bedeckt, auf der Bank vor seiner Wohnung saß und eine lange Pfeife rauchte, die er jetzt, indem er gravitätisch aufstand und mit einer Verbeugung die rote Mütze lüftete, bei Fuß nahm. Von der übrigen Familie, die doch sonst bei ähnlichen Anlässen immer Spalier bildete, war niemand zu sehen. Als ich später meinem Bruder mein Befremden über dieses Verhalten äußerte, sagte er mißmutig: ›Ach ja, der Worel! Der hat mir den Dienst gekündigt.‹ Ich war sehr überrascht. ›Ja,‹ fuhr mein Bruder fort, ›in den Mann ist der Hochmutsteufel gefahren. Und eigentlich bin ich selbst schuld daran.‹ ›Wieso?‹ fragte ich. ›Wirst es gleich hören. Du kennst meine Lust an alten Sachen und weißt, daß ich ab und zu nach solchen alle Rumpelkammern durchstöbere. Das tat ich nun wieder einmal und fand dabei unter wertlosem Zeug ein ganz hübsches Treppengeländer aus Eichenholz mit geschnitztem Laubwerk. Ich freute mich sehr darüber und wollte es gleich an einer Mansardenstiege anbringen lassen.‹ Da zeigte sich aber, daß es nicht langte und überdies eines kurzen Kniestückes bedurfte. ›Na‹ sagte ich zu Worel, der mich bei meinen Forschungen immer begleitete, ›du bist ja ein Tausendkünstler!‹ – Ich erwähne hier, daß wir damals zu allen unseren Bediensteten noch Du sagten. – Also: ›Du bist ja ein Tausendkünstler – wie war' es, wenn du das Ding da vollständig machen und dich dabei auch einmal als Holzschnitzer versuchen würdest?‹ Der Mensch, der immer ziemlich eitel gewesen ist, wurde ganz rot vor Stolz. ›Das werd' ich schon machen, Erlaucht,‹ erwiderte er, ›wenn ich das richtige Holz bekomme.‹ Er bekam es und brachte wirklich nach einer gewissen Zeit das Geländer derart ergänzt, daß man, nachdem es gleichmäßig gestrichen und gefirnißt war, kaum einen Unterschied zwischen dem alten und neuen Teil wahrnehmen konnte. Ich belobte und entlohnte ihn für diese Arbeit, die ihm doch genug Mühe und Schweiß gekostet haben mochte. Seit diesem Tage dachte er nur mehr an derlei Leistungen. Er kramte nach Bruchstücken von Rokokomöbeln und vermorschten Wandtäfelungen, die er nachmachen wollte. Ich hatte ihm einmal zwei alte Quartbände geschenkt, die kunstgewerbliche Kupfer enthielten. Er hatte sie früher kaum angesehen, jetzt vertiefte er sich in ihr Studium. Darüber vernachlässigte er seine eigentlichen Arbeiten. Ich ließ es ihm hingehen, da ich wußte, daß er sehr empfindlich war; auch stand ja der Winter vor der Tür, den wir in Wien zubrachten. Zurückgekehrt, trafen wir im Schlosse auf ungenügende Vorkehrungen. Als ich Worel zur Rede stellte, warf er sich in die Brust und erklärte, daß er es an nichts habe fehlen lassen. Da ich mit meinen Leuten nicht gern hadere, schwieg ich und beschloß, sein weiteres Verhalten abzuwarten. Da zeigte sich sehr bald, daß aus einem ergebenen und beflissenen Diener ein starrköpfiges, von Größenwahn erfülltes Individuum geworden war, das die ihm zukommenden Verrichtungen unser seiner Würde hielt. Er hatte den Winter benützt, um in der Bibliothek, zu der er die Schlüssel hatte, allerlei Bücher zu lesen, und sich derart gebildet, daß er in einem geselligen Verein, der im Orte entstanden war, Vorträge hielt. Dieser Verein verfolgte tschechische Parteizwecke. Es war mir also höchst unangenehm, daß einer unserer Bediensteten daran teilnahm. Und mit dem Oberhaupt hat sich auch die ganze Familie verändert. Die Frau, deren Mutter inzwischen gestorben ist, scheint keine Lust mehr am Hauswesen zu haben. Sie überläßt alles der buckligen Maruschka und legt die Hände in den Schoß. Die Olga geht als junge Dame einher. Sie liest auch alle möglichen Bücher und bezeigt sich sehr hochnasig gegen unsere Minka. Meine Frau wollte sie als Kammerjungfer zu sich nehmen; daran war nicht mehr zu denken. Und der jüngste Sproß, der eben die Volksschule hinter sich hat, lümmelt den ganzen Tag müßig herum oder kratzt jämmerlich auf einer Geige. Dabei verlottert die ganze Wirtschaft. Der Garten ist verwildert, und das Stück Feld liegt brach da, von Unkraut überwuchert. So entgeht den Leuten ein gut Teil ihres Einkommens, und ich weiß nicht, wie sie ihr Auskommen finden. Alle diese Wahrnehmungen verstimmten mich, und ich sann hin und her, was ich nun mit dem Worel anfangen sollte. Ihn Knall und Fall zu entlassen, ging doch nicht an. Denn er hatte uns ja zwanzig Jahre hindurch treue und ersprießliche Dienste geleistet. Und eigentlich Übles konnte ich ihm nicht vorwerfen. Da brach er selbst das Eis, indem er bei mir – wie er sich jetzt ausdrückte – um eine Audienz nachsuchte. ›Ich komme,‹ sagte er, ›um Eurer Erlaucht eine Bitte vorzutragen. Mein Franz hat eine sehr gute Klassifizierung erhalten, und ich habe die Absicht, ihn das Gymasium machen zu lassen. Auch Olga will sich zu irgendeinem Berufe vorbereiten. Ich möchte also beide Kinder bei Bekannten in der Stadt unterbringen. Dazu fehlen mir aber die Mittel. Ich bitte daher, Erlaucht möchten die Gnade haben, für den Franz einen Erziehungsbeitrag zu bewilligen.‹ ›So?‹ sagte ich, ›du willst also – ich sah, wie sehr ihn das du verschnupfte – deinen Sohn studieren lassen? Ich hatte gedacht, du würdest ihn in dein Handwerk einführen, und er würde einst dein Nachfolger werden. Und die Olga wollte meine Frau als Kammerjungfer nehmen.‹ ›Das geht nicht, Erlaucht‹, versetzte er. ›Es sind geistig sehr begabte Kinder.‹ ›Das will ich nicht bestreiten‹, sagte ich. ›Aber einen Erziehungsbeitrag bewillige ich entschieden nicht.‹ Er wurde puterrot vor Zorn. ›Dann muß ich Euer Erlaucht bitten, mich meines Dienstes zu entheben. Ich habe schon vor einiger Zeit von einer großen Kunsttischlerei in der Stadt einen sehr vorteilhaften Antrag erhalten. Den würde ich jetzt annehmen und dort eintreten.‹ ›Das ist deine Sache‹, erwiderte ich. ›Und da du solange bei uns in Dienst gestanden, erhältst du eine Pension von jährlich vierhundert Gulden. Du kannst also in der Stadt deine Kinder ausbilden lassen.‹ Damit war die Sache im reinen. Zu Neujahr ziehen die Leute ab. Ich war natürlich über all das sehr erstaunt, aber doch begierig, die Olga zu sehen. Daß sie sich auf die junge Dame hinausspielte, konnte mir ja nicht wider den Strich gehen – und daß sie Bücher las, auch nicht. Es traf sich, daß sie, als wir nach Tisch auf der Terrasse den Kaffee nahmen, in einiger Entfernung an uns vorüberschritt. Es kam ihr zu, uns zu grüßen. Sie tat es auch. Aber so, daß sie ganz komtessenhaft nur das Kinn anzog. Sie hatte sich in den letzten Jahren voll entwickelt und war sehr groß geworden. Ihre Züge kamen mir härter und schärfer vor; auch hatten ihre Haare eine dunklere Kupferfarbe angenommen. Aber sie war jetzt ein wahres Prachtgeschöpf, dessen Erscheinung meine Absichten keineswegs erschütterte. Da geschah es, daß ich mich erkältete und ein paar Tage die Zimmer hüten mußte. Eines Nachmittags – es war Sonntag und mein Bruder mit den Seinen nach Roggendorf hinübergefahren – stand ich an einem Fenster, das auf einen Seitenpfad des Parkes hinausging. Ein mächtiger alter Ahornbaum stand davor und verdeckte es. Wie ich nun so durchs Gezweig hinuntersah, gewahrte ich Olga, die mit einem anderen, wahrscheinlich ihr befreundeten Mädchen vorüberkam. ›Na, du hast ja jetzt wieder deinen Grafen da‹, hörte ich das andere Mädchen sagen. ›Ach was, der!‹ erwiderte Olga wegwerfend. ›Heiraten würde er mich doch nicht, und nur so‹ – sie machte eine verächtliche Handbewegung. Noch niemals war es mir so deutlich geworden, daß, wie man zu sagen pflegt, der Ton die Musik mache. Gegen ihre Äußerung war ja nicht das geringste einzuwenden. Sie war vielmehr sehr löblich und hätte mich überzeugen können, wie ehrenwert ihre Gesinnung war. Aber die Art und Weise, wie sie ihre, noch dazu tschechisch gesprochenen Worte vorbrachte, wirkte auf mich erkältend wie Eis. Denn sie zeigte mir, daß meine Erkorene nicht die geringste Empfindung für mich hege. Es war bei ihr damals eben nichts anderes gewesen als eine vorübergehende Emotion der Pubertät, wie sie jeder Backfisch durchzumachen hat. Diese Erkenntnis stimmte mich plötzlich ganz froh, und von diesem Augenblick an war auch Olga für mich Luft. Ich machte noch die Jagden mit und kehrte dann auf meinen Posten nach Madrid zurück.« 4. IV. »Was ich dabei gefürchtet hatte, war das Wiederzusammentreffen mit jener Dame. Aber der Herr Gesandte war allein gekommen. Seine Gemahlin hatte in einem nordischen Seebade einen russischen Fürsten kennen gelernt und sich scheiden lassen. An der Seite des Russen soll sie in Petersburg noch eine sehr hervorragende Rolle gespielt haben – und tugendhaft geworden sein. Das kommt manchmal bei solchen Frauen vor, wenn sie zufällig auf den Richtigen treffen – und nebenbei ein wenig zu altern anfangen. Sie aber stand eigentlich noch immer in der Blüte ihrer Jahre, als sie plötzlich starb. Ich hatte es erst einige Zeit nach ihrem Tod erfahren. Aber die Kunde traf mich wie ein heftiger Schlag ins Innerste, der mich fühlen ließ, wie sehr ich dieses Weib geliebt hatte.« Er schwieg, in Gedanken versinkend. Dann fuhr er fort: »Das Leben in Spanien war mir inzwischen immer öder geworden. Die Liebschaften der dicken Königin Isabella und die beständigen Pronunziamentos langweilten mich mehr als sie mich aufregten. So griff ich endlich wieder zum Schwert und machte das Mexikanische Abenteuer mit. Nach dem unglücklichen Ausgang unternahm ich noch eine Reise nach Paris und London und kehrte in unsere mährische Heimat zurück. Mein Bruder residierte, da unser Vater gestorben war, schon als Fürst in Roggendorf, wo jetzt auch ich meine Tage beschließen will. An die Worels dachte man schon längst nicht mehr. Einmal aber kam doch die Rede auf sie, und mein Bruder sagte: ›Wie ich höre, ist es ihnen eine Zeitlang ganz gut gegangen. Er ist ja wirklich ein geschickter Mensch, und die ersteren Arbeiter in jener Kunsttischlerei sollen sehr gut bezahlt werden. Aber in seiner Familie hatte er Unglück. Die Olga, die in Blansek die Bewerbungen eines unserer Forstleute schnöd zurückgewiesen, hat sich in der Stadt mit dem Sohn eines reichen Fabrikanten eingelassen. Er soll ihr die Ehe versprochen haben. Als sie aber durch ihn in andere Umstände gekommen war, verließ er sie. Man sagt, es sei eine böse Geschichte gewesen, denn Papa Worel wollte es mit Gewalt durchsetzen, daß sie der junge Herr zu seiner Frau mache. Aber es nützte nichts; sie mußten sich mit einer nicht unansehnlichen Abfindungssumme zufrieden geben. Aber da war auch gleich ein Schwindler da, der die Vaterschaft und auch das Kapital auf sich nahm, indem er Olga heiratete. Er hatte die Absicht, eine Fabrik Zu errichten, in der alte Tuchreste zu frischen Stoffen verarbeitet werden sollten. Nach ein paar Jahren war das Geld zum Teufel gegangen, und da auch Wechselfälschungen mitspielten, kam der Herr Gemahl ins Zuchthaus. So mußte die Olga mit zwei Kindern zu ihrem Vater flüchten. Und der Schlingel von Sohn ist natürlich nicht einmal durch die zweite Gymnasialklasse gekommen. Er hat sich dem Violinspielen gewidmet, um es darin, wie der Alte versichern soll, zur Meisterschaft zu bringen. Nun, wir werden ja sehen.‹ Nicht lange nach diesem Gespräch wies mir mein Bruder ein Schreiben vor, das er eben von Worel erhalten hatte. Dieser teilte darin mit, daß er unverschuldet in eine große Notlage geraten sei, die jetzt um so drückender geworden, als ihn seine Frau wieder mit einem Kinde – einem Knaben, beschenkt habe. Er bitte daher, ihm einen Vorschuß von dreihundert Gulden zu gewähren, welche Summe er in kleinen Monatsraten dankbarst von seiner Pension zurückerstatten werde. ›Was wirst du tun?‹ fragte ich. ›Auf Ratengeschäfte lasse ich mich nicht ein‹, erwiderte mein Bruder. ›Aber ich werde ihm das Geld schicken, damit er sieht, daß man ihm nichts nachträgt.‹ ›Weißt du was?‹ sagte ich. ›Ich muß dieser Tage ohnehin nach der Stadt fahren, und werde ihm das Geld überbringen.‹ Mein Bruder sah mich etwas erstaunt an. Da ich aber erklärte, es interessiere mich, die Verhältnisse kennen zu lernen, in denen die Leute jetzt lebten, so stimmte er zu. Ich begab mich also schon am nächsten Tage nach der Stadt. Es war Sonntag und ich hoffte, da Worel in seiner Wohnung anzutreffen. Diese befand sich in einer breiten, entlegenen Straße, in der noch sehr viele alte und niedere Häuser standen. Dazwischen waren mehrstöckige neue Bauten aufgeführt worden. Echte Proletarierhäuser. In einer dieser Zinskasernen hauste er jetzt, hoch oben in der letzten Etage. Schon im Torweg schlug mir ein beklemmender Geruch entgegen, der sich in jedem Stockwerk in einen andern Mißduft auflöste. Endlich war ich vor der gesuchten Tür angelangt, die halb offen stand. Drinnen im Dunst des Herdes kochte die bucklige Maruschka das Mittagessen. Als sie mich erblickte und erkannte, ließ sie den Löffel fallen, stürzte nach der Zimmertür, riß sie auf und schrie hinein: ›Graf Erwin ist da!‹ Ich vernahm, wie die Leute überrascht und bestürzt durcheinander fuhren; sie wußten offenbar nicht, wie sie mich empfangen sollten. Ich aber war schon eingetreten. In der Mitte eines kleinen, mit allerlei brüchigem Hausrat vollgepfropften Zimmers war Worel zu sehen, seinen jüngsten Sprößling auf dem Arm. In einiger Entfernung von ihm, an allen Gliedern zitternd, sein gealtertes, abgehärmtes Weib. Links stand eine schmale Kammer offen, in welche zwei notdürftig bekleidete und widerstrebende Kinder hineinzuziehen Olga bemüht war. Ein Blick auf sie genügte mir, um zu erkennen, daß sie noch immer schön – aber ihr Antlitz auch schon von scharfen Furchen durchzogen war. In der Kammer saß, mager und dünnbärtig, ein junger Mann mit fahlem Gesicht und finster blickenden Augen. Als es gelungen war, die Kinder hineinzubringen, zog Olga die Tür hinter sich zu. ›Herr Worel,‹ sagte ich jetzt, während mir die Frau einen abgenützten Stuhl zurechtschob, ›ich überbringe Ihnen hier im Auftrag meines Bruders die erbetene Summe. An Rückzahlung brauchen Sie nicht zu denken, und wir wünschen nur, daß Ihnen damit geholfen sei.‹ Der Mann hatte sich inzwischen gefaßt. ›Ich danke sehr‹, erwiderte er gemessen, während er den Säugling in den Arm der Mutter legte, deren Augen bei meiner Rede feucht geworden waren. Es wird sich schon alles wieder machen. Ich hoffe auf einige größere Arbeiten außer Akkord. Es ist, wie ich mir mitzuteilen erlaubte, nur eine momentane Notlage. Der da' – er wies auf das Kleine – ›hat sie auf dem Gewissen. Im übrigen verspricht er, ein prächtiger Bursch zu werden. Sehen ihn Erlaucht nur an. Nicht wahr? Eine ganz tüchtige Leistung von Eltern in so späten Jahren.‹ Während ich nach dem Kinde blickte, das keinen Tropfen Blut in den Adern zu haben schien, aber jetzt heftig zu schreien anfing, ging die Zimmertür auf und der Sohn Worel trat mit einer kurzen Verbeugung herein. Breitspurig, aufgedunsen, das vulgäre Gesicht von langen Haaren umwallt. ›Das ist mein Franz‹, sagte Worel. ›Erkennen ihn Erlaucht noch? Er hat sich ganz auf die Musik geworfen. Er hofft auch bald im Orchester des Stadttheaters einen Platz zu finden.‹ ›Ich gratuliere‹, sagte ich, während der Virtuose mit einem blöden Lächeln vor sich hinstierte. ›Und nun leben Sie alle wohl‹, fügte ich mit einem letzten Blick auf die geschlossene Kammertür hinzu und ging, von Worel durch die Küche geleitet. Als ich langsam und vorsichtig die schmutzige Treppe hinunterschritt, vernahm ich, wie mir jemand nachgehuscht kam. Es war die Frau. ›Verzeihung, Erlaucht‹, flüsterte sie. ›Haben die Gnade, nur auf ein Wort –‹ ›Was wünschen Sie, liebe Frau Worel?‹ fragte ich, auf einem Absatz der Treppe stehen bleibend. ›Ach, mein Gott‹, erwiderte sie, und brach in Tränen aus. ›Wir sind so unglücklich!‹ ›Unglücklich? Ihr Mann sprach doch nur –‹ ›Ach der!‹ unterbrach sie mich. ›Der sieht immer alles ganz anders an. Wie er es eben haben möchte. Und dann schämt er sich auch. Und unsere jetzige Notlage wäre auch das geringste. Worel ist ja fleißig und verdient viel. Aber die Kinder!‹ Sie hielt sich schluchzend die Hände vor die Augen. ›Was ist es mit den Kindern?‹ ›Ach der Franz! Der ist ein Lump geworden. Mit dem Geigenspielen ist es nichts, rein nichts. Der Meister, zu dem er ging, hat ihn aufgegeben. Er soll gar kein Talent haben. Und nun lungert er den ganzen Tag herum, trinkt und macht Schulden. Das mit dem Theaterorchester hat er dem Vater vorgelogen.‹ Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte daher bloß die Achseln. ›Und dann die Olga! Ihre traurigen Schicksale werden in Roggendorff wohl bekannt geworden sein. Nun aber hat sie einen Menschen kennen gelernt, der in einer Spinnfabrik arbeitet. Die Leute sagen, daß er ein Sozialist ist und schlechte Gedanken im Kopf hat. In den hat sie sich verliebt. Zum erstenmal in ihrem Leben! Denn alles andere war doch nur so. Und nun, da ihr Mann im Gefängnis gestorben ist, will sie ihn heiraten – und selbst Arbeiterin in der Spinnfabrik werden. Denken Sie nur, Erlaucht, unsere Olga in einer Spinnfabrik!‹ Mir schien das nicht gerade das allergrößte Unglück zu sein. Aber ich dachte daran, daß ich sie einst selbst hatte heiraten wollen. ›Nun, wenn sie durchaus will,‹ sagte ich, ›so läßt sich nichts dagegen tun. Sie ist großjährig.‹ ›Ja, ja,‹ entgegnete die Frau, ›es läßt sich nichts machen! Sie hat einen harten Kopf, gerade wie mein Mann. Aber es wird kein gutes Ende nehmen.‹ ›Nun, wer weiß‹, sagte ich. ›Sie kennen ja den alten Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.‹ ›Ach Gott!‹ sagte sie, trostlos aufblickend. ›Und jetzt auch noch das Kind. Daß uns das hat geschehen müssen!‹ ›Sie müssen es jetzt eben hinnehmen. Aber verzweifeln Sie nicht. Wir werden Sie nicht verlassen.‹ ›O tausend Dank!‹ rief die Frau, wieder in Tränen ausbrechend. ›Auch Seiner Durchlaucht für die gütige Gabe!‹ Sie wollte meine Hand erfassen und küssen. ›Ist gern geschehen‹, sagte ich, mich losmachend. ›Und schreiben Sie nur, wenn Hilfe nottut.‹ Während ich jetzt die Treppe vollends hinabstieg und dem Innern der Stadt zuschritt, gedachte ich der Zeiten, da diese Menschen in einem behaglichen Heim, von frischer, gesunder Luft umweht, ein kräftig blühendes Dasein führten. Und jetzt atmeten sie dort oben in dem verpesteten Hause, in enge Räume Zusammengepfercht, dem Elend preisgegeben! Dieser Wandel der Dinge durchschauerte mich, als hätte ich ihn am eigenen Leibe erfahren, und unwillkürlich sprach ich wieder die banale Phrase vor mich hin: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.« * Fag* * »Alles Weitere ist bald erzählt«, fuhr der Graf nach einer Pause fort. »Welchen Ausgang Olga genommen, wissen Sie. Ihr älterer Bruder blieb ein Taugenichts, der in schlechten Wirtshäusern aufspielte. Schließlich wurde er zum Landstreicher und soll in einer offenen Scheune, darin er einmal bei starkem Winterfrost genächtigt, erfroren sein. Ein bezeichnendes Ende hat der Vater genommen. Er hatte sich durch sein selbstbewußtes, hochfahrendes Wesen schon lange bei seinen Mitarbeitern verhaßt gemacht. Als man einmal eine Lohnerhöhung durchsetzen wollte, arbeitete er während des Streiks im geheimen für den Besitzer der Tischlerei fort. Wohl durch Not dazu bewogen, aber noch mehr durch seine Eitelkeit. Denn es wurde ihm gesagt, daß nur er imstande sei, einen kleinen, besonders komplizierten Schrank anzufertigen, der von einer vornehmen Persönlichkeit dringend bestellt worden war. Die Sache wurde entdeckt und von den Ausständigen sehr übel aufgenommen. Sie überfielen ihn bei günstiger Gelegenheit und prügelten ihn weidlich durch. Das schien weiter keine Folgen gehabt zu haben. Nach und nach aber begann er zu kränkeln, und eines Tages starb er ohne bestimmt nachweisbare Todesursache. So sind jetzt nur mehr drei Familienglieder am Leben. Die Mutter, die älteste Schwester, welche beide sich mit ihrer Hände Arbeit durchbringen – und der Jüngste, der den romantischen Namen Jaroslav führt. Wie es heißt, ein hübscher, anstelliger Knabe. Er soll auch ein sehr fleißiger Schüler sein und genießt von uns einen Erziehungsbeitrag. Vielleicht ist er schon der Mensch der Zukunft.« Sappho 1. I. Eines Tages hatte ich ihn wieder in seiner einsamen Behausung aufgesucht. Wir sprachen wie gewöhnlich über das, was uns beiden am nächsten lag: über Literatur. Dabei kamen wir auch auf die schrankenlose Erotik, die sich im modernen Frauenschrifttum kundgibt. »Ja,« sagte er mit leichtem Lächeln, »die Erscheinung ist verwunderlich. Ich halte sie auch keineswegs für ein wesentliches Substrat der Frauenemanzipation, die ja mit ihren ernsten Zielen gerade in jener Hinsicht Beruhigung und Ablenkung anstrebt. Ich glaube vielmehr, daß derlei ekstatische Ausbrüche, derlei stürmische Angriffe aus eine veraltete Moral, die das Weib am vollen ›Sichausleben‹ hindert, größtenteils von unglücklichen Geschöpfen herrühren, die – wie ja auch so viele Männer – vom anderen Geschlechte nicht begehrt werden. Und zwar aus rein physiologischen und ästhetischen Gründen. Die meisten Vorkämpferinnen der freien Liebe würden, wenn selbst die letzte sittliche Hemmung verschwunden wäre, doch nur die traurige Erfahrung machen, daß sie nach wie vor zur Entbehrung verurteilt seien. Es ist begreiflich, daß sich die persönliche Eitelkeit gegen eine solche Annahme sträubt, und es wäre wirklich zu viel verlangt, daß die Frauen hierüber jemals zu deutlicher Einsicht gelangen sollten, wenn auch zuweilen in dieser oder jener eine Ahnung des wirklichen Sachverhaltes aufdämmern mag. Mir selbst wenigstens ist nur ein Weib begegnet, das sich über Ursache und Wirkung klar geworden.« »Und wer war dieses Weib?« »Auch eine Dichterin.« Er trat an einen kleinen Schrank, in dem er seine Papiere verwahrte, und entnahm ihm ein ziemlich umfangreiches Paket, dessen Aufschrift er mir wies. Sie lautete: Documenta feminina. »Alte Liebesbriefe?« fragte ich. »Sind auch dabei – aber nur sehr wenige an mich selbst gerichtet. Im einzelnen wie im ganzen jedoch sind es höchst charakteristische Kundgebungen, die ich im Laufe der Jahre aufgesammelt. Für einen Erforscher der weiblichen Psyche können sie von Wert sein. Auch kulturhistorisch sind sie nicht uninteressant. Denn sie umfassen mehr als ein halbes Jahrhundert und stammen aus allen Schichten der Gesellschaft. So weisen sie auch alle Bildungsgrade auf – von naiven und unorthographischen Ergüssen rückständiger Gretchen bis zu geistvollen Emanationen des auf der Höhe des heutigen Lebens angelangten Weibes.« Er öffnete das Paket und zog nach kurzem Suchen zwischen mehr und minder vergilbten Schriftstücken einige eng beschriebene Blätter hervor, auf die er eine Zeitlang in schweigenden Gedanken niederblickte. Dann sagte er: »Dieser Brief ist vielleicht der persönlich inhaltsvollste von allen, die Sie hier sehen. Er ist an mich gerichtet. Die Dichterin, von der ich sprach, hat ihn mir geschrieben. Denn ich habe in ihrem Dasein eine kurze, aber bedeutungsvolle Rolle gespielt. Da sie längst nicht mehr atmet und mit dem wenigen, das sie hervorgebracht, verschollen und vergessen ist, so kann ich Ihnen das Erlebnis mitteilen, das jetzt mit allen Einzelheiten in der Erinnerung vor mir auftaucht.« * * * »Es war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Ich hatte schon damals angefangen, aus der Mode zu kommen. In meinem Schaffen war ein Stillstand eingetreten, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich neuen, glänzenderen Erscheinungen zu. Dennoch verkehrte ich noch in der großen Welt, da sich einmal angeknüpfte Beziehungen nicht so leicht abbrechen lassen. So fand ich mich auch bei einer Soiree ein, die noch nach Schluß der Saison in einem prachtliebenden plutokratischen Hause stattfand. Gleich bei meinem Eintritt kam der Hausherr, der mit seiner Gattin zum Empfang der Gäste nahe der Tür stand, auf mich zu. ›Sie können mir eine große Gefälligkeit erweisen‹, sagte er, mich vertraulich unter dem Arm fassend. ›Es ist heute eine junge Dame hier, die verwaiste Tochter eines höheren Beamten, mit dem einst mein Vater in Verbindung gestanden. Sie versucht sich als Schriftstellerin, und meine Frau, die sich für sie interessiert, bestand darauf, daß sie eingeladen werde. Ich dachte, sie würde sich entschuldigen lassen, denn sie lebt ganz zurückgezogen in bescheidensten Verhältnissen. Nun ist sie aber doch gekommen und dürfte sich unter den vielen ihr unbekannten Menschen ziemlich vereinsamt fühlen. Da wäre es denn sehr edel von Ihnen, wenn Sie sich ihrer ein bißchen annehmen wollten. Möglicherweise ist Ihnen auch ihr Name nicht mehr ganz unbekannt, da sie doch schon einiges veröffentlicht hat.‹ Es zeigte sich nun, daß ich wirklich eine Novelle in Erinnerung hatte, die in einer Tageszeitung erschienen und mir durch sehr lebendige Milieuschilderung angenehm aufgefallen war. Sie spielte irgendwo auf einem adeligen Gute und war offenbar unter dem Einflusse Turgenjews entstanden, der damals viel gelesen wurde. Auch hatte ich in einem poetischen Jahrbuche von derselben Verfasserin zwei Gedichte gefunden, die eine ungewöhnlich tiefe Empfindung bekundeten. Obgleich ich der persönlichen Bekanntschaft mit Autoren beiderlei Geschlechtes immer gern aus dem Wage ging, so konnte ich jetzt doch nicht umhin, dem Hausherrn meine Bereitwilligkeit auszusprechen. ›Schön. Da werde ich Sie gleich vorstellen‹, sagte er und lenkte mich durch den bereits stark gefüllten Saal in ein Nebengemach, wo sich sitzende und stehende Gruppen von Herren und Damen befanden. In der Ecke eines kleinen Sofas war eine weißgekleidete Frauengestalt zu erblicken, die eine rote Kamelie im schlicht gescheitelten blonden Haar trug. Sie befand sich im Gespräch mit einem noch sehr jungen Manne, einem nahen Anverwandten des Hauses, der neben ihr in einem Fauteuil saß. Es war eine Dichterin und ihr Nachbar erhob sich sofort wie erlöst, als jetzt die Vorstellung erfolgte. Ich nahm seinen Platz ein und sagte der Dame einiges Verbindliche über ihre mir bekannten Leistungen. Sie errötete bis unter die Stirnhaare. ›Sie kennen also meine Versuche?‹ sagte sie mit vibrierender, etwas klangloser Stimme. ›Gewiß. Und ich kann nur wiederholen, daß sie mir sehr gefallen haben.‹ ›Wirklich?‹ erwiderte sie unsicher. ›Ich selbst halte sehr wenig davon.‹ ›Das ist ja ein gutes Zeichen.‹ ›Meinen Sie? Es beweist doch nur Mangel an Selbstvertrauen. Und das ist immer notwendig, wenn man etwas hervorbringen will.‹ ›Nun allerdings. Aber sehr oft haben gerade talentlose Leute das größte Selbstvertrauen.‹ ›Das ist wahr. Die meisten Menschen überschätzen – oder belügen sich. Ich habe gelernt, gegen mich aufrichtig zu sein. Und da glaub ich, mir sagen zu müssen, daß meine Begabung nicht ausreicht. Ich kann nichts erfinden. Nur ganz Persönliche Eindrücke regen mich an.‹ ›Das wäre ja das Richtige‹, warf ich ein. ›Aber auch da gestaltet sich mir alles nur sehr langsam. Ich ringe mit dem Ausdruck – das Schreiben macht mir viel Mühe –‹ ›Trösten Sie sich. Es ist manchem großen Schriftsteller so ergangen.‹ ›Ich weiß. Und doch, wenn ich sehe, wie leicht und sicher andere Frauen Buch um Buch fertig bringen, da verzweifle ich. Es fehlt mir zwar nicht an Plänen und Entwürfen, aber ausführen kann ich sie nicht. Ich finde nicht die nötige Ruhe und Sammlung. Mein ganzes Leben –‹ Sie brach ab und blickte vor sich hin. Wie sie so dasaß, etwa dreißigjährig, schmächtig und schmalschultrig, mit dem länglichen Gesicht und der stark entwickelten Nase, war sie keineswegs eine reizende Erscheinung. Aber sie hatte schöne, grünlich schimmernde Augen, und die Nase wies im Profil eine edle Linie. Zudem lag etwas Rührendes in der ganzen unscheinbaren Gestalt, und mit einer Art von Wehmut betrachtete ich ihr unmodisches Kleid, die sichtlich nur gemachte Blume in ihrem Haar und den alten, gebrechlichen Elfenbeinfächer, den sie in der Hand hielt. Ein Diener trat heran und servierte Tee. Sie nahm eine Tasse und ein paar kleine Süßigkeiten. Während sie den Tee schlürfte, erklangen im Saale die Töne eines Pianos. ›Mein Gott! Musik!‹ rief sie erschrocken aus und setzte die Tasse weg. ›Wenn nur nichts von Wagner gespielt wird!‹ ›Warum?‹ fragte ich. ›Lieben Sie Wagner nicht?‹ ›O ja. Seine Musik hat große Gewalt über mich. Aber sie regt auch meine Nerven fürchterlich auf!‹ Sie bewegte sich unruhig auf dem Sofa. Inzwischen nahm drinnen das Tonstück seinen Fortgang. ›Es ist nicht von Wagner‹, sagte ich. ›Ich glaube, eine Sonate von Brahms –‹ ›Nein, Wagner ist es nicht‹, erwiderte sie aufatmend. ›Ob Brahms, kann ich nicht sagen. Ich habe so wenig von ihm gehört. Überhaupt bin ich eigentlich ganz unmusikalisch.‹ Der Sonate folgten einige Lieder, von weiblicher Stimme gesungen. Wir hörten schweigend zu. Mittlerweile aber waren viele Personen, die mit uns im Zimmer gewesen, nach und nach in den Saal getreten, so daß wir uns jetzt fast allein befanden. ›Wollen wir uns nicht auch ein wenig die Gesellschaft ansehen?‹ fragte ich. ›O ja‹, sagte sie und erhob sich. ›Ich habe Sie ohnehin schon zu lange aufgehalten.‹ ›Keineswegs. Es war mir ein Vergnügen, an Ihrer Seite verweilen zu können. Da wir aber schon einmal hier sind, so dürfen wir uns nicht allzu sehr auf die Sonderlinge hinausspielen.‹ Wir gingen also in den Saal, wo es jetzt, da die Musik beendet war, bunt und glänzend durcheinander wogte. Zwischen den prachtvollen Roben und funkelnden Geschmeiden der Damen nahm sich die Dichterin in ihrem ärmlichen Putz seltsam genug aus. Sie wurde auch von allen Seiten ziemlich befremdet angesehen; man wußte offenbar nicht recht, was man aus ihr machen sollte. Endlich trat die Hausfrau an sie heran, die nun angelegentlich mit ihr sprach und sie dann einer kleinen Gruppe älterer Damen vorstellte. Auch ich fand nähere Bekannte, die mich in Anspruch nahmen, und so verlor ich sie aus den Augen. Nach einer Weile erblickte ich sie wieder. Sie schien mich gesucht zu haben und kam jetzt auf mich zu. ›Ah, da sind Sie!‹ sagte sie. ›Ich will mich nur von Ihnen verabschieden.‹ ›Sie wollen fort?‹ ›Es ist schon spät, und ich habe einen weiten Weg nach Hause.‹ ›Sie werden doch nicht allein gehen?‹ ›Gewiß. Das bin ich gewohnt. Aber so nach Mitternacht wäre es mir doch nicht angenehm.‹ ›Mit Ihrer Erlaubnis würde ich mich Ihnen sehr gern anschließen.‹ ›Das kann ich nicht zugeben. Sie hatten wahrscheinlich vor, bis zu Ende zu bleiben.‹ ›Keineswegs. Ich hatte die Absicht, mich noch vor dem Souper zu entfernen, das sich hier immer sehr in die Länge zieht. Wissen Sie was? Nehmen wir ein paar Bissen beim Büffet und dann gehen wir.‹ Sie war es zufrieden, und wir suchten das Büffetzimmer auf, das ganz leer war, da die Stunde des Soupers doch schon heranrückte. An einem kleinen Tische nahmen wir Platz, und ich ließ durch einen noch anwesenden Diener Sandwiches und kalten Aufschnitt herbeibringen. Auch zwei Gläser Médoc, davon eine Flasche entkorkt bereit stand. Unser Mahl war rasch beendet. In der Garderobe, die sich unten im Vestibül befand, nahm meine Begleiterin ein leichtes dunkelblaues Mäntelchen um und hüllte den blonden Scheitel in ein weißes Schleiertuch. ›Wo wohnen Sie?‹ fragte ich vor dem Tore des Palais, wo immer Mietwagen zur Verfügung waren. ›Auf der Wieden – weit draußen in der Nähe des Belvederes.‹ ›Gestatten Sie, daß ich einen Wagen nehme?‹ ›Ach nein. Wenn es Ihnen nicht zu entlegen ist, so gehen wir lieber. Die Nacht ist so schön.‹ Sie war es wirklich: eine echte mondbeglänzte Mainacht. Im Helldunkel der Anlagen längs der Ringstraße stand alles in Blüte: Kastanien, Flieder, Goldregen. Schimmernde Farben, wehende Düfte. Ich hatte ihr den Arm geboten, und wir schritten nebeneinander hin. ›Nun, wie haben Sie es heute abend gefunden?‹ fragte ich. ›Gefunden? Mein Gott, ich hatte ja nichts erwartet. Vielmehr bin ich wieder so recht zur Überzeugung gelangt, daß ich in solch eine Gesellschaft nicht passe. Ich wollte eigentlich auch gar nicht hingehen und entschloß mich nur dazu, um die Hausfrau, die sich meiner freundlich annimmt, nicht zu verletzen. Trotzdem würde ich es jetzt sehr bereuen, wenn ich nicht so unverhofft Ihnen begegnet wäre.‹ ›Auch ich hatte diese Begegnung nicht vermutet und freue mich darüber. Hoffentlich setzt sich unsere Bekanntschaft fort.‹ ›Sollten Sie das wirklich wünschen?‹ fragte sie, indem sie die Augen forschend zu mir aufschlug. ›Gewiß. Ich glaube, wir sind beide einsame Menschen, die vielleicht bestimmt wären, sich aneinander zu schließen.‹ Ihr Arm zitterte leicht unter dem meinen. ›Sie sind also einsam?‹ sagte sie nach einer Pause. ›Ich hätte eher das Gegenteil vermutet.‹ ›Man macht sich von anderen oft ganz unrichtige Vorstellungen. Vielleicht irr' ich mich auch in Ihnen.‹ ›In jener Hinsicht gewiß nicht.‹ Es trat wieder ein Schweigen ein. Die weitgedehnte Straße lag in nächtlicher Ruhe da. Die Trambahn klingelte nicht mehr; nur wenige Wagen, nur wenige Menschen kamen an uns vorüber. Plötzlich war in einiger Entfernung vor uns ein junges Paar zu bemerken, das aus einer Seitengasse eingebogen sein mußte. Zwei hohe, schlanke Gestalten, die sich im Gehen zärtlich aneinander schmiegten und jetzt einen Augenblick stillhielten, um sich flüchtig zu küssen. ›Sehen Sie dort?‹ sagte ich. ›Zwei Glückliche!‹ ›Ja‹, erwiderte sie. ›Aber wer weiß, auf wie lange.‹ ›Nun, jedem Glück ist schließlich eine Zeitgrenze gesetzt. Wenn man es nur einmal wirklich genossen hat!‹ ›Ich habe es nie genossen.‹ ›Nie?‹ ›Nein. Denn ich bin niemals geliebt worden. Das heißt –‹ Sie unterbrach sich. Ich erwiderte nichts. Aber eine eigentümliche Empfindung überkam mich. Auch ich war ja eigentlich niemals geliebt worden. Alle meine bisherigen Beziehungen zu den Frauen waren halbe geblieben, hatten mir mehr Qual als Glück gebracht. Wenn ich nun hier das weibliche Herz, die weibliche Seele gefunden hätte, nach der ich mich immer gesehnt ... Ich blickte auf ihr Antlitz nieder, das vom hellen Mondlicht verklärt wurde. ›Und wenn ich Sie lieben würde?‹ sagte ich, ihren Arm sanft an mich drückend. Ich fühlte jetzt, wie sie im Innersten erbebte. ›Sie würden mich nicht lieben‹, erwiderte sie und wandte das Haupt ab. Wir waren inzwischen auf dem Schwarzenbergplatz angekommen und lenkten der Heugasse zu, an deren oberem Ende sie wohnte. ›Also, wann seh' ich Sie wieder?‹ fragte ich, als wir uns dem Hause näherten. Sie kämpfte offenbar mit sich selbst; es schien, als wolle sie sagen: niemals! Dann aber plötzlich mit vor Erregung zitternder Stimme: ›Wann Sie wollen! Bei mir kann ich Sie nicht empfangen, denn ich wohne sehr eingeschränkt bei Bekannten zur Miete. Aber drüben im Belvedere können wir zusammentreffen. In dem kleinen Nebengarten, wo der Pavillon steht. Sie wissen doch? Dort ist es in den Mittagsstunden ganz einsam.‹ ›Also morgen – oder eigentlich heute, bald nach Zwölf.‹ ›Ja‹, sagte sie und zog die Klingel. Dann reichte sie mir die Hand, die ich festhielt. Wir hörten kommen. ›Gute Nacht!‹ sagte ich. ›Gute Nacht!‹ erwiderte sie mit gedämpfter Stimme und einem letzten Drucke der Hand. Das Tor wurde geöffnet und hinter ihr geschlossen. Als ich jetzt allein war und dem Stadtteil zuschritt, in dem ich damals wohnte, überkamen mich allmählich drückende Gedanken. Etwas wie Reue beschlich mich. Hatte ich mich da nicht zu einer vorschnellen Erklärung hinreißen lassen? Zu einer Erklärung, die ich kaum vor mir selber, noch weniger aber dem Weibe gegenüber verantworten konnte, dem ich sie getan? Würd' ich es wirklich lieben können? Bis jetzt hatte mich bei den Frauen immer nur Schönheit angezogen und gefesselt. Und die Dichterin war nicht schön. Aber in ihrem ganzen Wesen lag etwas, das mich rührte, das mich ergriff. Und sie hatte ja schöne Augen und, wie ich im Büffetzimmer, wo sie die Handschuhe abgestreift hatte, bemerken konnte, auch schöne Hände. Und noch edlere, höhere Reize waren ihr zu eigen! Sie besaß Geist, Tiefe der Empfindung – und war, das fühlte ich, inniger Hingebung fähig. Dieses Bewußtsein hob wieder meine gesunkene Zuversicht. Als ich zu Bett gegangen war, kamen mir vor dem Einschlafen zwei Verse in den Sinn, die ich einmal irgendwo, ich glaube in einem Album, gelesen hatte: Größer als die Sehnsucht, selbst zu lieben, Ist die Sehnsucht, sich geliebt zu sehn! 2. II. Dennoch war meine Stimmung keine ganz freie, als ich mich gegen Mittag auf den Weg nach dem Belvedere machte, und mit einer gewissen Befangenheit trat ich in den bezeichneten Garten, wo die Dichterin bereits in sichtlicher Erwartung nahe beim Pavillon auf einer Bank saß. Diese Befangenheit schwand aber, als sie sich jetzt erhob und mir zur Begrüßung entgegenschritt. Denn sie sah, mit bescheidenen Mitteln herausgeputzt, ganz anmutig aus. Sie trug ein hellgraues Kleid mit weißer Garnierung, und ein blaubebändertes Strohhütchen ließ ihr ganz gut zu den blonden Haaren und dem vor innerer Erregung rosig gefärbten Antlitz. Ich hatte mich jedoch kaum neben ihr niedergelassen, als auch schon mein scharfes und verwöhntes Auge Einzelheiten an ihr wahrnahm, die meinen Schönheitssinn aufs empfindlichste verletzten. Ich bemerkte vor allem leicht verkrüppelte, abstehende Ohren, die gestern irgendwie verdeckt gewesen sein mochten; ich bemerkte ein haarloses Genick, ein Mangel, der mich bei Frauen seit jeher höchst unangenehm berührt hatte. Ich nahm trockene, gewissermaßen verlechzte Lippen wahr, die fahle Zähne sehen ließen, und selbst die schönen Augen wurden mir dadurch verleidet, daß der blonde Brauenwuchs darüber sehr spärlich und mit Kohle nachgedunkelt war. Überhaupt trat jetzt im vollen Tageslicht das körperlich Unzulängliche der ganzen weiblichen Erscheinung immer deutlicher hervor. Natürlich trachtete ich, all diese Eindrücke in mir zu überwinden. Jedenfalls wollte ich sie nicht merken lassen und versuchte einen herzlich intimen Ton anzuschlagen. Aber ich war so aus der Fassung gebracht, daß ich eigentlich gar nicht mehr wußte, was ich sagen sollte. In meiner Verwirrung fragte ich die Dichterin, wie sie geschlafen habe, kam wieder auf den gestrigen Abend, kam wieder auf ihre Arbeiten zurück – kurz ich sprach von allem möglichen, nur von dem nicht, was sie erwartet haben mochte, erwartet haben mußte. Diese Enttäuschung drückte sich auch in ihrem Gesicht aus, der immer ernster, immer farbloser wurde. Sie gab, mit starren Augen vor sich hinblickend, sehr einsilbige Antworten, so daß unsere Unterhaltung schon in ein peinliches Stocken geriet. Mittlerweile aber war eine alte Frau in dem Garten erschienen, in dem wir bis jetzt allein gewesen, und hatte sich ganz nahe bei uns auf eine Bank niedergelassen. Sie zog aus ihrem Tragbeutel Strickzeug hervor und begann emsig mit den Nadeln zu hantieren, wobei sie uns jedoch nach Art unfeiner Leute mit rücksichtsloser Neugierde im Auge behielt. ›Das ist unerträglich!‹ sagte endlich die Dichterin, indem sie rasch aufstand. ›Gehen wir doch lieber hinunter in das Kastanienrondell, dort ist es auch schattiger.‹ ›Oder vielleicht in die Gemäldegalerie?‹ warf ich ein. ›Es ist, glaube ich, heute Eintrittstag.‹ ›Auch das, wenn Sie wollen‹, erwiderte sie gereizt. Wir traten also hinaus und bewegten uns schweigend den Stufen zu, die zum Schlosse hinanführen. Gleich bei unserem Eintritt war zu bemerken, daß die Galerie nur wenig besucht war. Auf den kühlen Marmorfliesen des Vorsaales angelangt, blickten wir unschlüssig nach rechts und nach links. ›Gehen wir zu den Italienern?‹ fragte ich, da ich wahrnahm, daß diese Abteilung einigermaßen von Menschen belebt war. ›Ach, sehen wir uns die Niederländer an‹, erwiderte sie. Wir bogen also nach links ein, und es zeigte sich, daß wir die einzigen in der weiten Zimmerflucht waren. Zerstreuter sind die herrlichen Bilder wohl noch nie betrachtet worden, als jetzt von uns. Ich blieb endlich, um ihn näher ins Auge zu fassen, vor einem Rembrandt stehen; sie aber ging gleich voraus in den Rubenssaal und ließ sich auf den rotsamtenen Puff nieder, der in der Mitte stand. Nach einer Weile folgte ich ihr, und während ich jetzt neben ihr saß, ließ ich die Blicke über die Gestalten des großen Vlämen schweifen, die uns geheimnisvoll umschwiegen. ›Eigentümlich‹, sagte sie. ›In meiner Jugend haben diese Bilder viel mächtiger auf mich gewirkt. Damals erschien mir Rubens als der größte Maler, den es je gegeben, wie ich denn überhaupt die Niederländer, ihres kräftigen Realismus wegen, den Italienern vorzog. Im Laufe der Jahre bin ich freilich davon zurückgekommen.‹ ›Ach ja‹, sagte sie wie abwesend und legte dabei ihre Hand auf die meine. Ich fühlte bei dieser Berührung gar nichts, aber ich konnte jetzt doch nicht umhin, mit einem leisen Drücken ihrer Hand zu erwidern. Kaum war dies geschehen, als sie mir auch schon mit geschlossenen Augen halb an die Brust sank, das Antlitz an meiner Schulter bergend. Ich war nahe daran, eine abwehrende Bewegung zu machen. Aber was blieb mir in dieser Situation übrig, als still zu halten? Ihre hingebende Wallung in irgendeiner Weise zu erwidern, war mir jedoch unmöglich. So verharrten wir einige Augenblicke. Plötzlich schnellte sie empor und eilte hinaus. Ich ihr nach. ›Wohin wollen Sie?‹ rief ich. Sie war schon im ersten Zimmer angelangt. Dort wandte sie sich um und machte eine heftig abwinkende Gebärde. ›Nein! Nein! Folgen Sie mir nicht! Leben Sie wohl!‹ Dabei rannte sie fast an einen dicken Herrn an, der eben, einen roten Bädeker in der Hand, eingetreten war und ihr jetzt sehr verwundert nachblickte. In großer Verlegenheit schritt ich an ihm vorüber und konnte draußen im Vorsaal noch gewahren, wie sie fluchtartig die Treppe hinabeilte. Sollte ich sie nicht doch einzuholen trachten? Ich wollte es auch. Aber schon auf der Treppe hielt ich an. Nein! Wozu? An eine Wiederannäherung war ja nach diesem Vorfall nicht mehr zu denken. Und so war es vielleicht ein Glück zu nennen, daß der Bruch so rasch stattgefunden hatte. Sie konnte ja noch keine tiefere Neigung zu mir gefaßt haben. Nur ein unbezwinglicher Ausbruch leidenschaftlichen Temperaments war es gewesen, der sie mir an die Brust sinken ließ. Aber wie beschämt mußte sie sich jetzt fühlen! Wie gedemütigt! Und nur durch meine Schuld! Ich machte mir die bittersten Vorwürfe und sann hin und her, wie ich alles einigermaßen wieder gut machen könnte. Sollte ich ihr eine schriftliche Selbstanklage zukommen lassen? Aber hieße das nicht den Stachel nur noch tiefer drücken? In dieser quälenden Gedankenrast verbrachte ich den Rest des Tages auf meinem Zimmer. Spät abends aber wurde mir durch einen Dienstmann der Brief überbracht, den ich Ihnen jetzt vorlesen will.« * * * »›Mein heutiges Benehmen wird Ihnen, dem Menschenkundigen, keineswegs rätselhaft erscheinen. Wenn ich es jetzt doch mit diesen Zeilen näher zu erklären und auch des weiteren auseinanderzusetzen suche, so geschieht es vor allem, um Sie möglicher Selbstvorwürfe zu entlasten. Dann aber, weil ich Sie vollständig mit dem Unglück meines Lebens vertraut machen will. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich niemals geliebt worden bin. In den Augen der Welt wird dies nicht gerade als besonderes Unglück erscheinen. Wie viele Frauen gibt es, die nicht geliebt werden! Auch sind ihrer nicht wenige, die gar kein Verlangen danach tragen. Das heißt, nicht in dem Sinne, wie ich es verstehe. Sie wollen gefallen, sich bei anmutigen Flirten unterhalten – und sich schließlich angemessen verheiraten. Daß sie dann wünschen und fordern, ihr Mann möge sie gern haben, ihnen die eheliche Treue bewahren, ist selbstverständlich. Leidenschaftliche Emotionen aber, allzu heißblütige Zärtlichkeiten begehren sie – wenigstens auf die Dauer – nicht, ja sie werden ihnen sehr oft unangenehm und lästig. Hingegen gibt es weibliche Naturen, die mit einem intensiven, nie sich erschöpfenden Hange zum Manne behaftet sind. Und das sind die Unglücklichen, wenn sie nicht jene Eigenschaften besitzen, die imstande sind, die Männer anzuziehen. Das Los solcher armen Geschöpfe hat Karl Beck mit wenigen Worten ebenso treffend wie ergreifend gekennzeichnet: »Wenn je das Schicksal fluchen will, So gibt es einem Weib Ein Herz begehrend tief und still, Doch ohne Reiz den Leib.« Zu diesen Fluchbeladenen gehöre auch ich. Es hat lange gebraucht, bis ich dahin kam, mich zu ihnen zu rechnen. Denn in meiner Jugend galt ich allgemein, wenn nicht für schön, so doch für hübsch, und wenn ich in den Spiegel blickte, glaubte ich mehr Reize zu besitzen, als so manche meiner Altersgenossinen, die ich aufs eifrigste umschwärmt sah. Die schlimmsten Erfahrungen, die bittersten Enttäuschungen waren notwendig, um mich von diesem Wahne zurückzubringen. Schon als ich noch ein Kind von zehn oder elf Jahren war, hatte sich jener unselige Hang in mir geregt. Man wird ihn also einen krankhaften nennen können. Aber wer kann dafür, daß ihm krankhafte Triebe innewohnen? Ist man denn vor eine Wahl gestellt? Aber immerhin ... Also schon als Kind empfand ich Liebessehnsucht. Und diese Sehnsucht fand auch bald ihren Gegenstand in der Person eines schönen Knaben, der sehr oft zu einer uns verwandten Familie kam. Er war ein Schulkamerad des Sohnes, der drei Schwestern hatte. Diese Schwestern besaßen nun wieder Freundinnen, und so kam es, daß dort an Sonn- und Feiertagen immer ein großer Kinderkreis versammelt war. Da zeigte sich auch, wie früh bei den Menschen, wenn auch ganz unbewußt und harmlos, die Aggregate der Liebe zutage treten. Die Mädchen rissen sich bei gemeinsamen Spielen förmlich um den schönen Robert, der es schon verstand, diese unschuldigen Regungen sich zunutze zu machen, indem er sehr oft die Gespielinnen der Reihe nach umhalste und küßte, oder sonst ein tolles Wesen mit ihnen trieb. Nur mich übersah oder überging er. Und wenn ich mich schüchtern an ihn herandrängte, sah er mich eine Weile an und sagte dann, indem er mir flüchtig die Wange streichelte: »Nun ja, du bist ja meine liebe Martha«. Ich war darüber tief unglücklich, und wenn ich nach Hause kam – ich war das einzige Kind meiner Eltern – weinte ich vor dem Einschlafen still in mein Kopfkissen hinein. Diese vorzeitigen Qualen dauerten übrigens nicht lange. Man war in jener Familie auf das Treiben aufmerksam geworden und wußte den Knaben fern zu halten. So beruhigte ich mich wieder, und in den Jahren meiner Entwicklung bewegte sich meine Sehn sucht im Reich der Träume, die nach und nach in teils unerwiderte, teils durch äußere Umstände wenig begünstigte Neigungen übergingen. Erst in reiferem Mädchenalter sollte ich endlich heiraten. Es war jemand in unserem Hause erschienen, der sich bemühte, meine Gunst zu erwerben. Ein junger Görzer, Doktor der Rechte, der im Bureau meines Vaters arbeitete. Dieser hielt viel von ihm, und da er seine Absichten bemerkte, so hatte er um so weniger dagegen einzuwenden, als der Freier aus angesehener Familie und auch nicht ohne Vermögen war. Wir verlobten uns. Daß es dem jungen Manne vielleicht nur darum zu tun war, seine bis jetzt noch provisorische Stellung im Ministerium zu festigen und zu fördern, fiel mir nicht ein, obgleich es mir seltsam vorkam, daß er auch jetzt noch in den Schranken zarter Aufmerksamkeit verblieb und intimere Vertraulichkeiten, wie sie unter Verlobten üblich sind, fast ängstlich vermied. Ja, er wehrte sie sogar ab, wenn ich mich dazu hinreißen lassen wollte. Wie gesagt, das befremdete mich. Aber ich suchte es mit einer strengen Ehrenhaftigkeit in Einklang zu bringen, die es ihm verbot, mir vor der Hochzeit näher zu treten. Diese sollte nun stattfinden. Das Aufgebot war erfolgt, Tag und Stunde der Trauung festgesetzt. Die Hochzeitsgäste, darunter auch ein Onkel des Bräutigams, dessen Vater durch ein schweres Leiden in Görz zurückgehalten wurde, hatten sich bereits teils bei uns, teils in der Kirche eingefunden – aber der Bräutigam fehlte. Mit Kranz und Schleier stand ich erwartungsvoll da, alles befand sich in größter Spannung, und schon wurde vom Pfarrer, der uns trauen sollte, jemand abgesandt, um nach dem Grunde der Verzögerung zu forschen, als ein in Görz aufgegebenes Telegramm an den Onkel eintraf: »Heirat unmöglich«. Meine Bestürzung, das allgemeine Erstaunen können Sie sich vorstellen. Man vermochte sich diesen plötzlichen Rücktritt in zwölfter Stunde nicht zu erklären und riet auf eine momentane geistige Störung. Als aber von dem Abtrünnigen ein Brief kam, des kurzen Inhalts: er sähe zwar ein, daß man ihm nie und nimmer verzeihen werde, gäbe jedoch die heilige Versicherung, daß er nicht anders habe handeln können, da glaubte man wieder an ein physisches Gebrechen, das den jungen Mann verhindere, die Ehe einzugehen. Ich selbst neigte mich dieser Annahme um so williger zu, als sie eine dunkle Ahnung in mir beschwichtigte, daß sich bei ihm nach und nach eine tiefe körperliche Abneigung gegen mich festgesetzt habe. Er selbst aber verzichtete nunmehr auch auf seine Stellung in Wien und widmete sich in seiner Vaterstadt der Advokatur. Bald nach diesem peinlichen Vorfalle starb meine Mutter, die seit langem gekränkelt hatte. Ich bezog nun mit meinem Vater eine andere Wohnung. Sie befand sich am Heumarkt. Die Nähe der dortigen Kasernen brachte es mit sich, daß dieser oder jener Offizier auf mich aufmerksam wurde und mir zu Gefallen öfter an dem Hause vorüberging. Auch ein Major, schon ein älterer Mann, aber hoch und schlank gewachsen, wie er war, eine vornehme, interessante Erscheinung. Er gefiel mir – und ich ließ es ihn merken. So dauerte es nicht lange, daß er mir, als ich eines Tages – es war im Winter – allein nach der Stadt ging, auf der Straße folgte und mich ansprach. Wir trafen uns nun öfter – und schließlich schlug er mir eine Zusammenkunst in seiner Wohnung vor. Nach allem Bisherigen werden Sie nicht zweifeln, daß ich, wenn auch nach längerem Widerstände, darauf einging. Er erwartete mich in abendlicher Dunkelheit, und dicht verschleiert wankte ich an seinem Arm zum ersten Stockwerk der Kaserne empor. In einem Zimmer, das nur von flackernder Ofenglut unsicher beleuchtet war, nahm er mir rasch Hut und Mantel ab und zog mich mit sich auf ein Sofa. Meiner Sinne nicht mächtig, bestürmt von dem Doppelgefühl der Scham und des Verlangens, schloß ich die Augen, und unsere Lippen begegneten sich. Aber schon nach den ersten Zärtlichkeiten ließ er von mir ab und rückte zur Seite. Eine Weile blieb er sitzen, dann stand er auf und zündete einen Armleuchter an. »Mein Fräulein«, sagte er, mit ernster Miene vor mich hintretend »ich war im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Ja, so muß ich es nennen, denn aus mehrfachen Gründen hätte ich Sie doch nie und nimmer zu meiner Frau machen können. Mein besseres Selbst hatte sich im letzten Augenblick geregt, und ich kam zur Besinnung. Verzeihen Sie, daß ich mich von meinem heißen Blute habe hinreißen lassen. Ich bereue es tief.« Ich blieb regungslos und gab keine Antwort. Er aber schritt langsam im Zimmer auf und nieder. Endlich sagte er, meinen Mantel aufnehmend: »Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie an den Heimweg denken.« Ohne etwas zu erwidern, erhob ich mich. Er legte mir den Mantel um und reichte mir den Hut, den ich mechanisch aufsetzte. Den Schleier ließ er selbst herab, dann bot er mir den Arm und führte mich auf die Straße, wo er sich mit einem ehrerbietigen Handkusse von mir verabschiedete. Mit welchen Empfindungen ich nach Hause gekommen war, wie ich die Nacht verbracht, davon hab' ich jetzt selbst keine deutliche Vorstellung mehr. Doch am nächsten Tage schrieb ich dem Major einen Brief voll leidenschaftlicher Selbstanklagen – aber auch voll leidenschaftlicher Vorwürfe, die ihn erkennen lassen mußten, wie sehr ich ihn liebe – und daß ich ihm bedingungslos angehören wolle. Es erfolgte keine Antwort. Und als ich hierauf, alles um mich her vergessend, am hellen Tage zu seiner Wohnung hinanschritt, erhielt ich von dem Diener den Bescheid, der Herr sei nicht anwesend, er habe sich auf eine Dienstreise begeben. Das war erlogen. Denn schon am nächsten Vormittag sah ich ihn, wie er, an der Spitze seiner Abteilung reitend, von einer Übung zurückkehrte. Wer weiß, was ich, im tiefsten verwundet, an allen Nerven gereizt, noch würde unternommen haben, wenn mein Vater nicht plötzlich erkrankt und gestorben wäre. Nun stand ich da, gänzlich verwaist und auch der Lebenssorge preisgegeben. Denn er war immer auf seinen Gehalt eingeschränkt gewesen. Die geringen Ersparnisse, die er zurückgelegt, hatte er, wahrscheinlich aus Sorge für meine Zukunft, zu Spekulationen verwendet, die, wie sich jetzt herausstellte, vollständig mißglückt waren. In dieser plötzlichen Hilflosigkeit und nur auf eine zu erhoffende geringe Gnadengabe angewiesen, wurde mir, als der Frühling kam, von befreundeter Seite der Vorschlag gemacht, die Stelle einer Erzieherin bei einer adeligen Familie in Ungarn anzunehmen. Es würden keine besonderen pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt; man wünsche nur eine Dame aus gutem Hause, die den noch in zartem Alter stehenden Kindern die deutsche Umgangssprache vermittle. Nach kurzer Bedenkzeit ging ich darauf ein, denn ich fühlte, daß mir eine andere Umgebung, eine andere Lebensluft notwendig sei. Ich brach also nach dem Gute auf, das sich nicht auf einer Pußta, sondern in einer ganz anmutigen Gegend Oberungarns befand. Ich wurde dort in nationaler, das heißt, höchst ungezwungener Weise empfangen, noch mehr aber durch den Anblick des Ehepaares überrascht. Denn man konnte sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als die beiden stattlichen, blühenden Gestalten, die sich gewissermaßen um den Vorrang in der Erscheinung stritten. Auch die Kinder, zwei Mädchen von acht und sechs Jahren, waren reizende Geschöpfe. Als wir beim Abendbrot saßen, berührte es mich sehr seltsam, daß mich der Gutsherr, ohne auf die Anwesenheit seiner Frau die geringste Rücksicht zu nehmen, oft sehr eindringlich, ja mit begehrlichen Blicken betrachtete. Am nächsten Tage beim Frühstück und am Mittagstisch setzte er dieses Benehmen, ohne viel zu sprechen, nur noch auffallender fort, so daß ich ganz verwirrt wurde und nachts keine Ruhe finden konnte. Ich hatte die Kinder, die nebenan schliefen, zu Bett gebracht, ich aber lag vor innerer Erregung wach in dem meinen. Da sah ich beim fahlen Schein eines Nachtlichtes, wie die Eingangstür meines Zimmers aufging und ein Mann – der Gutsherr – lautlos hereintrat. Ich stieß einen leichten Schrei aus. »Pst!«, lispelte er, den Finger an den Mund legend, »wecken Sie die Kinder nicht.« Und schon war er an mich herangekommen, hatte mich umfangen, und sein heißer Atem umquoll mir Stirn und Wangen ... Ich war wieder allein. Das Nachtlicht erlosch allmählich und der Morgen begann durch die Spalten der Vorhänge zu dämmern. Mit der Empfindung einer erlittenen Gewalttat lag ich da – und dennoch durchschauerte mich ein unsägliches Wonnegefühl. Wie konnte er nur? Im Besitze einer so schönen Frau! Liebte er sie nicht? Oder hätte ich, ohne es zu ahnen und noch weniger zu wollen, den Sieg über sie davongetragen? Mein lang unterdrücktes Selbstgefühl regte die Schwingen und trug mich weit über das Vorgefallene empor. Ich erwog gar nicht, wie sich nun alles gestalten würde, und ging fast leichten Sinnes mit den Kindern zum Frühstück hinunter. Er war noch nicht da, nur die Frau. Als er kam, begrüßte er mich kalt und förmlich. Das befremdete mich nicht sehr, denn ich fand es begreiflich, daß er sich vor den anderen nichts wollte merken lassen. Während des Frühstückes aber suchte mein Blick mehrmals den seinen. Er schien es nicht zu bemerken und sah gleichgülig über mich hinweg. Bei den späteren gemeinsamen Mahlzeiten verhielt er sich ebenso, und als ich einige unverfängliche Worte an ihn richtete, erwiderte er sie kaum. Nun befiel mich eine tiefe Seelenangst – und in marternder, ungewisser Erwartung, mit hochklopfendem Herzen durchwachte ich die Nacht. Aber der Morgen dämmerte wieder durch die Ritzen der Vorhänge – und er war nicht erschienen. Einige Tage vergingen so – ich ertrug es nicht länger. Eines Morgens war ich unter dem Vorwande, etwas vergessen zu haben, in das Frühstückszimmer zurückgekehrt, wo er, wie gewöhnlich allein geblieben, rauchend die Zeitung las. Wankend vor innerer Erregung war ich eingetreten. »Was wünschen Sie?« fragte er, leicht aufblickend. Ich mußte mich an eine Stuhllehne halten. »Was ich wünsche?« erwiderte ich mit zitternder Stimme. »Sie dürften es sich wohl denken können.« »Ich denke mir gar nichts«, sagte er kurz. Ich hatte mich inzwischen einigermaßen gefaßt, und der Zorn, der in mir bei seinem brutalen Wesen aufstieg, überwand meine zitternde Befangenheit. »Sie sind mir eine Erklärung schuldig«, sagte ich. »Welche Erklärung?« »Was nun geschehen soll?« »Was soll denn geschehen?« »Nun, wenn Sie das nicht wissen –« »Ich weiß gar nichts. Sie gefallen mir einfach nicht. Sie hätten das schon merken können. Ich ersuche Sie also, mich in Ruhe zu lassen.« Es verschlug mir den Atem. Ich rang nach Worten, konnte sie aber nicht finden. »Das ist zu viel!« stieß ich endlich hervor und brach in Tränen aus. Er erhob sich mit halbem Leibe. »Keine Szene, wenn ich bitten darf! Sonst sind Sie die längste Zeit hier gewesen.« »Elender!« rief ich aus, wandte mich und ging. In meinem Zimmer brach ich zusammen. Das Mädchen, das um die Kinder war, mußte mich laben, bis ich mich einigermaßen erholt hatte. Nun aber galt es, meiner Pflicht nachzukommen und mit den Kindern in den Park zu gehen, wo ich ihnen auf einer erhöhten, von alten Linden beschatteten Stelle vorzulesen pflegte. Weiter unten dehnte sich ein großer, mit Wasserpflanzen bedeckter Teich aus. Als wir dort angelangt waren, sagte ich den Mädchen, daß ich starke Kopfschmerzen hätte und sie heute selbst lesen müßten. Als sie sich dazu angeschickt hatten, schritt ich an den Teich hinunter und begann ihn zu umschreiten. Da hinein! rief es in mir. Da hinein – es bleibt mir nichts anderes übrig nach der unerhörten Schmach, die ich erlitten! Und nicht eigentlich diese war es, was mein Innerstes wie mit Schlangenbissen marterte. Das brutale Wort: »Sie gefallen mir nicht!« hatte wie ein Blitz alles Vergangene erhellt: ich war ein Weib, das nicht gefiel, das Abscheu erweckte! Ich erschien mir selbst als ein Zerrbild, als ein häßliches Unding, das vernichtet werden mußte. Also da hinein! Da hinein! Ein Gärtner ging zufällig vorüber. Ich wußte, daß er etwas deutsch verstand, und fragte ihn, ob der Teich tief sei. Der Mann bestätigte es mit der Warnung, ich möchte nur die Kinder in acht nehmen. Gut, dachte ich bei mir – heute Nacht! Als ich mich aber, während alles im Kastell schlief, hinuntergeschlichen hatte, fand ich nicht die Kraft, nicht den Mut, es zu tun. Der Mond stand so mild über den dunklen Wipfeln; ringsum war tiefe, selige Ruhe ausgebreitet. Und ich Unselige sollte jetzt hinein in die schlammige Flut, in die umstrickenden Wasserpflanzen! Ich schauderte. Das Leben in mir sträubte sich gegen den Tod. Nein, ich konnte es nicht! Doch fort von hier – fort ohne Aufschub! Aber wie ? Sollte ich entfliehen gleich einer Verbrecherin? Konnte ich einen kaum eingegangenen Vertrag so ohne weiteres brechen? Diese Erwägungen verursachten mir neue Qualen; ich wußte nicht mehr, was ich tun, was ich lassen sollte. Merkwürdig genug befreite mich am nächsten Morgen die Frau des Gutsherrn – er selbst war beim Frühstück nicht erschienen – aus diesem grausamen Zwiespalt. »Liebes Fräulein,« sagte sie mit einem Lächeln, das ich nie vergessen werde, »ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir uns infolge unvorhergesehener Umstände entschlossen haben, eine Reise anzutreten und dann für den Rest des Sommers ein Seebad aufzusuchen. Mitnehmen können wir Sie leider nicht, denn wir werden uns doch ein wenig einzuschränken haben. Ich bitte sie aber, ein halbjähriges Salär anzunehmen, damit Sie sich ohne Sorge nach einer anderen Stelle umsehen können.« Zum Glück war ich in der Lage, dieses Salär ablehnen zu können, und erwiderte, daß die Eröffnung nur meinem eigenen Wunsche entgegenkäme, da ich in Wien eine wichtige Angelegenheit durchzuführen hätte. So war ich frei und reiste noch am selben Tage ab. Während der langen Eisenbahnfahrt befand ich mich fast die ganze Strecke allein im Coup é. Wie ich nun so, in mich versunken, durch die geöffneten Fenster in die wechselnde Gegend hinausblickte, durchzuckte mich plötzlich der Gedanke, das entsetzliche Erlebnis zu einem Roman oder einer Erzählung zu gestalten. Ich hatte immer viel gelesen; aber nie hatte ich den Drang empfunden, mich schriftstellerisch zu versuchen. Nun aber war ich von diesem Drang unwiderstehlich erfaßt worden, und kaum in Wien angelangt, machte ich mich an die Arbeit. Da hatte ich aber gleich das Gefühl, daß ich das Ganze nicht so grell und graß, nicht so roh und unvermittelt hinstellen dürfe. Es galt, so schien es mir, seelisch tiefer zu motivieren, feinere Übergänge zu finden – kurz zu idealisieren, vor allem die Heldin, die ich ja selbst war. Das versuchte ich auch und nur rein Außerliches behielt ich fast unverändert bei. Dadurch aber bekam die Geschichte, die Sie ja kennen, etwas Halbes, Verfälschtes, Verlogenes. Sie befriedigte mich daher auch keineswegs, noch weniger aber befreite sie mich. Dennoch sandte ich das Manuskript an eine Redaktion, die es mit einer schmeichelhaften Erwiderung annahm und auch gilt honorierte. Eine neue Lebensbahn schien mir eröffnet zu sein. Ich betrat sie mit um so froherer Zuversicht, als die Befürchtung möglicher Folgen jener unseligen Nacht geschwunden war. So kam ich denn auch mit einigen literarischen Kreisen in Berührung. Es mangelte da nicht an Männern, die sich für mich interessierten und mir in dieser oder jener Weise näher treten wollten. Aber schon nach kurzer Zeit zog sich jeder zurück. Obgleich ich nach all dem Erlebten in meinem Selbstgefühle schon aufs tiefste erschüttert war, konnte ich doch noch immer nicht fassen, nicht begreifen, daß es mir ganz unmöglich sein sollte, auch nur einen einzigen an mich zu fesseln. Ich wußte und sah ja, daß selbst häßliche, alternde, ja sogar gealterte Frauen Leidenschaften erweckten – warum gerade ich nicht? Ich fing an, den Männern zu grollen, ihnen die Schuld beizumessen – und kam doch immer wieder auf die verzweifelten Worte zurück, die Heinrich von Kleist seine Penthesilea ausrufen läßt: »Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt!« Da – mit einem Mal, schien auch mir das Glück der Liebe aufleuchten zu wollen. Ich hatte einen jungen Schriftsteller kennen gelernt, der aus einer Provinzstadt gekommen war, um in Wien Boden zu gewinnen. Sein Talent war kein sehr bedeutendes, aber es schien mir echt und aller Beachtung wert. Er fand sie auch, aber man hatte zu dem, was er vorlegte, noch kein rechtes Vertrauen und vertröstete ihn immer auf spätere, stärkere Leistungen. So konnte er seine Arbeiten nicht verwerten und geriet mehr und mehr in eine höchst prekäre Lage. Von mimosenhaft zarter Empfindung, wie er war, vertraute er sich niemandem an. Ich aber, mit dem Instinkt des Weibes, erriet seine Sorgen und suchte einige wohlhabende Leute, die mir bekannt waren, für ihn zu interessieren. Sie händigten mir Geldbeträge ein, die ich ihm überbringen sollte. Er zögerte, sie anzunehmen. Es war rührend, dabei den Kampf zu beobachten, den in seinem Innern Stolz und Armut kämpften. Schließlich siegte die Armut. In Tränen ausbrechend, umarmte er mich. Dabei kam auch ganz unwillkürlich die Neigung zum Ausbruch, die er, wie ich ahnte, ja wußte, immer für mich empfunden, wenn auch mit der ihm eigenen Schüchternheit sorgfältig verhehlt hatte. Nun aber überließ er sich ganz seinen Empfindungen. Die innige, fast feminine Zärtlichkeit, die er mir bewies, versetzte mich in einen wahren Taumel des Glücks. Dadurch aber wurde das Verhältnis vom Manne zum Weibe fast umgekehrt. Ich wurde die Gebende, er der Empfangende. Schon nach einiger Zeit glaubte ich zu fühlen, daß ihn die Leidenschaftlichkeit meines Wesens bedrücke, beängstige. Ich jedoch – zum ersten Mal, da ich dies schreibe, erröte ich – betrachtete ihn als mein Geschöpf, mit dem ich nach meinem Willen schalten könne. Und als ich merkte, daß er mehr und mehr erkaltete, machte ich ihm heftige Vorwürfe. Er erschrak und tat sich mit erneuten Zärtlichkeiten Gewalt an. Ich erkannte das sofort und wurde nur um so erbitterter. Eines Tages, als ich auch einigen Grund zur Eifersucht zu haben glaubte, geriet ich ganz aus der Fassung und erging mich in häßlichen Drohungen. Er war totenfahl geworden. Ich sah, wie es in seiner Brust arbeitete; ich sah, wie er seine Empörung, seinen Zorn niederkämpfen wollte. Aber er vermochte es nicht. »Genug!« schrie er. »Lassen Sie mich! Ich will, ich kann Sie nicht mehr sehen.« Da erhob ich die Hand wider ihn. Mit starren, weit aufgerissenen Augen stand er da und regte sich nicht. »Schlagen Sie zu! Ich hab' es verdient, weil ich Ihnen noch immer Liebe geheuchelt. Sie waren mir schon längst widerlich geworden.« Das traf. Mein Arm sank herab, und ich ging, während er einen langgedehnten Schrei der Befreiung ausstieß .. Was soll ich Ihnen noch sagen? Ich war vernichtet. Denn da war ja wieder, hundertfach verstärkt, das entsetzliche Wort gefallen, das mich damals in den Tod treiben wollte. Und wieder dachte ich daran. Aber gerade die Wucht dieses letzten Schlages war es, was mich auch wieder aufrichtete. Er überzeugte mich, daß mein Schicksal ein unabwendbares sei. Verzichten . Ja, das war es: ich mußte verzichten! Und mit dieser Erkenntnis schien mich eine hehre Kraft zu überkommen, die mich über alles weitere Wünschen und Begehren emporhob. Es war ein beseligendes Gefühl. Aber wie alle Gefühle und Stimmungen, die mit unserem innersten Wesen in Widerspruch stehen, hielt es nicht vor. Der Kampf des Willens mit dem Intellekt begann in mir. Ich wollte arbeiten, aber wie ich Ihnen sagte, ich konnte meine Gedanken nicht sammeln. Es war ein aufreibender Zustand, ein beständiger Wechsel von dumpfer Resignation und immer wieder auftauchender Sehnsucht ... In dieser Gemütslage befand ich mich, als ich gestern mit Ihnen zusammentraf. Sie waren so lieb mit mir, so herzlich. Nicht bloß, daß Sie der Schriftstellerin anerkennende Worte sagten: ich schien Ihnen auch, während Sie mich – ich nahm es ja wahr – forschend und aufmerksam betrachteten, zu gefallen. Und als wir in der hellen Mondnacht über die Ringstraße schritten und Sie das Verlangen äußerten, unsere Bekanntschaft fortzusetzen, da zitterte es in mir wieder wie eine Hoffnung auf. Er ist nicht mehr jung, dachte ich; er scheint, gleich mir, traurige Erfahrungen hinter sich zu haben – vielleicht genüge ich ihm. Vielleicht konnten wir uns wirklich zu einem gegenseitig beglückenden Bunde aneinander schließen. Aber Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich widerstand – wenigstens widerstehen wollte. Ihre Frage, wann Sie mich wiedersehen würden, zögerte ich zu beantworten. Ich kämpfte mit mir selbst – endlich riß es mich hin. Sei es! dachte ich. Die erste Wiederbegegnung soll entscheiden, Sie hat entschieden – und mir zur letzten, dauernden Gewißheit verholfen. Leben Sie wohl und antworten Sie mir nicht!‹« Er ließ die Blätter sinken, und eine Zeitlang verhielten wir uns schweigend. Endlich sagte er: »Nun, wie finden Sie das? Glaubt man nicht, einen modernen Frauenroman in nuce vor sich zu haben? Nur mit dem Unterschied, daß es sich hier um innerlich wahrste, wenn auch unser Gefühl verletzende Bekenntnisse einer verzweifelnden Seele handelt, während dort alles auf eitle Selbstverherrlichung des Weibes abgesehen ist, das aus einer Hand in die andere geht, weil es den ›Rechten‹ nicht finden kann?« »Es ist so«, erwiderte ich. »Aber was geschah weiter?« »Sie werden es hören. Begreiflicherweise war ich durch den Brief sehr erschüttert worden. Und auch, trotz der ruhigen Fassung des Schlusses, beängstigt. Ich wollte antworten. Doch kaum, daß ich zu schreiben begonnen, ließ ich davon ab. Was hätte ich nach all dem noch vorbringen können? Hier war wirklich Schweigen der Rest. Aber längere Zeit hindurch fürchtete ich auf eine traurige Notiz zu stoßen, so oft ich eine Zeitung zur Hand nahm. Nach und nach beruhigte ich mich und trat eine Reise an. Nach meiner Rückkehr machte ich einen Besuch in jenem Hause, wo ich die Dichterin kennen gelernt, und erkundigte mich nach ihr. ›Ach‹, hieß es, ›die hat ein sehr vorteilhaftes Engagement als Gesellschafterin einer kranken Dame angenommen.‹ Merken Sie wohl: die unheilbar kranke Ehegattin, die seit Ibsens Rosmersholm in der Literatur gang und gäbe geworden, begann hier schon eine Rolle zu spielen. Die besagte kranke Dame war nicht mehr sehr jung, und ihr Mann noch nicht sehr alt. Zudem befand sich ein etwa achtzehnjähriger Sohn im Hause. Ich behaupte gar nichts, ich mutmaße nur, daß die ›letzte Gewißheit‹ keine dauernde gewesen. Denn als sich die Dichterin im Laufe der Zeit mit der ganzen Familie an die Riviera begab, hat sie sich von einem Felsen in der Nähe Genuas à la Sappho ins Meer gestürzt. Das heißt, sie wollte sich hineinstürzen. Der Felsen aber, ein sehr beliebter Aussichtspunkt, fällt nicht ganz steilrecht ab. Sie traf also auf vorspringende, vielfach gezackte Wandungen und langte mit zerschmetterten Gliedern und blutender Stirn unten an, wo nur die Strandwellen ihre Füße umspülten. Man brachte das Ereignis mit einem Schwindelanfall in Zusammenhang, der die Ärmste, die sich vielleicht zu weit vorgewagt, plötzlich ergriffen hatte. Immerhin möglich. Genug: sie starb am nächsten Tage. Friede ihrer Asche!« Hymen Die schlanke blonde Frau saß mir bei dem Diner gegenüber, fast verdeckt durch einen hohen Tafelaufsatz, hinter den ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz besonders aufgefallen. Bei der großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. Was ich erfuhr, genügte mir, um zu wissen, an wen mich ihr Gesicht erinnert hatte – und daß ich sie selbst schon einmal als Kind gesehen. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine beiden Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne. * * * 1. 1. I. Zu Anfang der siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut, obgleich mir der Hauptmann Sandek – so stand auf der Karte – einst als Leutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, wo er durch die harmonische Frische und Unbefangenheit seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine große Lern- und Wißbegierde an den Tag. Ich konnte ihm, als wir einander näher traten, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand, und die unausgesetzten, oft recht abgeschmackten Fragen, die er über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir um so ärgerlicher, als er dabei doch immer seine eigene verschrobene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher Mensch und liebenswürdiger Kamerad war. Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf das akademische Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besah eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich Zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältnis entspann, das für diesen verderbliche Folgen hatte. Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, bis dahin jünglinghaft unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt. Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältnis in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment voneinander nahmen, ein ziemlich kühler war .... Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht; nur die sein geschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes erschienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glanze an dunkle Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen. »Verzeih, wenn ich dich etwa störe«, sagte er. »Aber da mich der Zufall heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem Antrieb nicht widerstehen, dich aufzusuchen.« »Freut mich sehr«, erwiderte ich, »Aber wie wußtest du –« »Daß du hier wohnst? Nun, derlei erfährt man eben. Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien – als Frequentant des Stabsoffizierskurses.« »Du bist also schon so weit! Ich gratuliere.« »Danke«, erwiderte er etwas zerstreut, indem er mit der Hand über die Stirn fuhr. »Die Sache ist nicht leicht durchzuführen. Man stellt jetzt ganz unerhörte Anforderungen, und in gewissen Jahren nimmt die Lernfähigkeit ab. Aber wie geht es dir?« fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd über die ziemlich kahlen Wände meines Zimmers schweifen ließ. »So, so – den Umständen angemessen.« »Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe – – Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben«, unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster. Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang, und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns. »Herrlich!« rief er aus. »Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner Stadtwohnung nichts anderes vor mir, als eine trostlose Reihe von Fenstern und Dächern.« Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt nahm er den Faden des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder aus und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung trat in sein Antlitz. »Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund«, sagte er. »Ich bin nämlich nicht allein in diese Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde dort ein häufiger Gast sein und mir also erlauben, dich manchmal zu besuchen.« Er langte nach seiner Mütze. »Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt.« »Ganz mein Fall«, erwiderte er. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet und kann das Versäumte nur hereinbringen, indem ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!« Er ging, von mir hinausbegleitet. Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. Wohl mit einer Dame. Denn er hatte sich in dieser Hinsicht gewiß ebensowenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin. Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei – und hin und wieder mochte er ja kommen ... Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: so gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und mit einem Kartenabwurf davonzukommen. Aber er war zu Hause. Sein Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also das geräumige Zimmer, in das mich der Diener geführt. Es war ein ganz hübsches Garçoninterieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar gute Kupferstiche an den Wänden. Neben einem Bücherregal ein zierlicher Schreibtisch. Und aus diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinettphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber sie war mir im Laufe einiger Wintermonate fast täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie machte den Eindruck einer verheirateten Frau, befand dich jedoch immer in Begleitung eines Herrn, der zu den bedeutendsten Schriftstellern jener Tage zählte. Seine geistvollen Essays, seine scharfen Theaterkritiken wurden immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen. Aber er schrieb im ganzen wenig, und die Zeitungen hatten oft Mühe, etwas von ihm herauszubekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf literarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe; man sprach sogar von einer Verlobung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf Schlank und hager, hielt er sich im Gehen stark vornüber geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten sehr feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, ungemeine Willenskraft ausdrückte. Da die beiden, die sich hier offenbar zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne besaß. Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf einigermaßen gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtische Sandeks stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies es auf nähere Bekanntschaft hin. Aber da trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem leichten Hauch seinen Parfüms umweht. »Verzeih',« sagte er, mir die weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, »verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich ankleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, denn ich habe etwas sehr Wichtiges vor.« »Laß dich nicht stören«, warf ich ein. »Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns wohl noch öfter sehen.« »Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens eine Zigarette.« Er langte nach einer Schachtel, die auf dem Rauchtischchen stand. »Ich danke. Du hast Eile – und ich selbst habe noch einiges zu tun –« »Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen.« Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten wir die Treppe hinunter. »Gehst du nach der Stadt?« fragte er unten. »Ja.« »Mein Weg führt mich nach einer anderen Richtung. Also auf baldiges Wiedersehen.« Wir drückten einander die Hand und trennten uns. 2. II. Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf- und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich ihr Sohn. Obgleich ich nun Besseres zu tun hatte als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter hinüber und konnte nicht umhin, mich erkundigen zu lassen, wer in der Villa wohne. Ein Hofrat, hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen beleibten und wie es schien, behäbigen Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las. Öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen; darunter auch Sandek. Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir ganz recht sein konnte. So interessierte mich auch die Sache immer weniger, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig aus Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin und her gehen. Täuschte mich mein Auge? Das war ihr Begleiter von damals, der sich, wie den Journalen zu entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung nach Nizza begeben hatte. Ich nahm rasch mein Opernglas zur Hand. Ja, er war es. Und wieder waren die beiden in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien welliger ein Gespräch als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß den Gucker in die Lade. Meine Gedanken jedoch verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages Sandek ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte. »Warst du vielleicht unwohl?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah. »Ach nein«, erwiderte er, während wir uns setzten. »Aber die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig.« Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hin und her rückte. Endlich fuhr er zögernd fort: »Ich bin eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten.« Ich sah ihn erwartend an. Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Dann sagte er, die Worte in sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: »Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau – das heißt eine Dame, die über den Verdacht eigennütziger Absichten vollständig erhaben ist – ohne Liebe hingibt?« Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend. Zum Beispiel: ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held – dieses Wort betonte er sehr nachdrücklich – einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: »Gewiß halte ich es für möglich.« Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. »Du hältst es also für möglich?« stammelte er. »Aber es müßte doch irgendein Grund vorhanden sein – –« Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: »Es kann verschiedene Motive geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die einer bloßen Laune folgen; diese Fälle sind nicht allzu selten. Oder von einer momentanen sinnlichen Erregung hingerissen werden. Das ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft – und gerade bei starken weiblichen Naturen – kann es par dépit geschehen.« » Par dépit, « widerholte er mit bebender Stimme. »Du meinst also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus Ärger oder aus Verzweiflung –« »Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben – oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen andern wirken. Auch das wird meistens tief bereut. Aber warum fragst du denn eigentlich?« fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte. »O,« sagte er unsicher, »ich kenne jemanden, der über diesen Punkt – –« »Lieber Freund,« unterbrach ich ihn, »lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will.« »Woher vermutest du –?« erwiderte er betreten. »Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst.« »Gewiß, gewiß«, sagte er im Kampfe mit sich selbst. »Es ist mir ja darum zu tun –« »Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. Du liebst eine Frau – und diese Frau liebt einen anderen.« Er sah mich mit halb offenem Munde an. »Woher weißt du – –?« »Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe.« Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen. »Die eine dieser Persönlichkeiten,« fuhr ich fort, »wohnt hier in der Nähe. Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen anderen liebt. Und dieser andere – die alte Geschichte – hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine andere. Und darum hat sich jene Frau dir in die Arme geworfen.« Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemandem in die Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird dir auch die Situation klar werden, in der ich mich befinde.« Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann strich er sich über die Stirn und begann: »Ich wurde in jenes Haus durch einen Empfehlungsbrief eingeführt, der mir in Prag mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche an festgesetztem Tage wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien dem Militär nicht besonders gewogen zu sein. Auch ich fühlte mich nicht besonders angemutet. Der Hausherr machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten. Die Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräch anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien ihm zu imponieren – und von da ab wurde ich sehr oft zu ganz kleinen Whistabenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, je mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs schön, aber alles, was mich früher an ihr unangenehm berührt hatte, empfand ich jetzt als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus. Ich fing an, ihr zu hofieren. Es wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine Bemühungen Eindruck zu machen. Und als ich mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lang an und sagte: ›Sie lieben mich also?‹ Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: ›Nun, dann will ich Sie auch lieben.‹ Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und drückte einen sanften Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel – und eine Reihe seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte, – vormittags, nachmittags, abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. Sie bekümmerte das gar nicht, denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen; ich aber fühlte mich beengt, obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und nur formell aufrecht erhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art sarkastischer Befriedigung hinwegsah, fing an mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er, wenn er bei meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand. Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: ›Nun, der‹ – du wirst ja wissen, wen ich meine –, ›muß ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren. Da wird es endlich mit der Heirat ernst werden.‹ Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: ›Ich wünsche ihm alles Glück dazu.‹ Von da ab kam der Hofrat, so oft es anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand Zurück. Und als ich endlich fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: ›Ein alter Freund meiner Frau. Er ist Ihnen wohl als Schriftsteller bekannt.‹ Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was bei ihr immer ein Zeichen innerer Erregung war. Die Sache fing an, mich zu beklemmen, und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte. Eines Tages hatten wir aus irgendeinem Grunde keine Vorlesungen und ich benutzte diese zufällige Freiheit, um bei Maja – ein Kosename, den ich ihr beigelegt – zu ungewohnter Stunde mich einzufinden. Ich dachte sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, dessen ich ja nicht ganz sicher sein konnte. Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen uns gegenseitig mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß aneinander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er – der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen des Oberrockes behilflich gewesen, beeilte sich, mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas stieß. Von dort herüber vernahm ich ihre zornige Stimme: ›Was? Jetzt?‹ Und irgend ein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen fleckig gerötet. ›Sie sind hier?‹ fragte sie. ›Ich habe Sie nicht erwartet.‹ ›Das wußte ich‹, antwortete ich, über diesen Empfang betreten und gereizt. ›Aber ich habe zufällig diesen Vormittag frei und dachte –‹ ›Nun ja‹, erwiderte sie einlenkend, wenn auch noch unfreundlich. ›Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht.‹ ›Es war doch schon hie und da der Fall‹, sagte ich, ›und Sie Zeigten sich immer erfreut –‹ ›Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten –‹ ›O gewiß‹, versetzte ich, dem in mir aufgestiegenen Unmut freien Lauf lassend. ›Ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig.‹ Sie warf das Haupt empor. ›Was für Besuche?‹ ›Nun, von Ihrem alten Freunde.‹ ›Was wollen Sie damit sagen?‹ ›Daß mir im Vorzimmer ein Herr begegnet ist, der eben von Ihnen wegging.‹ ›Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?‹ ›Ohne Zweifel. Ich aber habe nicht Lust, mich in Nebenbuhlerschaften einzulassen.‹ Damit machte ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen. In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: ›Robert!‹ Ich blieb stehen. Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht. Bei den zärtlichen Empfindungen, die ich für sie hegte, hatte sie mich für demütig und unterwürfig gehalten; mein kurz angebundener Stolz imponierte ihr. ›Kommen Sie zu mir, Robert‹, sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand entgegen. Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen. ›Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er wirklich nichts anderes als ein alter Bekannter, dem ich doch mein Haus nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen, daß ich Sie liebe.‹ Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den meinen ruhen. – Und nun kamen Tage, lieber Freund,« fuhr er mit verzweifelter Gebärde fort, »die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in den einen erhoben, bald in die andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich – was mir eine innere Stimme zurief – den anderen liebt: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr vorwarf? Sie ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und warum sucht sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen will?« Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin. Ich schwieg. Dann sagte ich: »Nun die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach. Sie will eben den anderen, da die Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüberziehen – und dich dabei nicht ganz aufgeben.« »Aber das ist ja schändlich!« rief er aus. »So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner vielen Erfahrungen kennst. Glaubst du denn, daß auch nur eine in ihrer Lage den Mann, von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch wirklich?« »Wie ich noch nie ein Weib geliebt!« stieß er hervor. »Weil du zum erstenmal an eines geraten bist, das dir überlegen ist.« »Überlegen?« fragte er betroffen und hochmütig zugleich. »Ja, ich muß es dir offen sagen. Sie ist dir überlegen – vielleicht in jeder Hinsicht. Du müßtest dich ihr oben unterordnen.« »Unterordnen?! Wie meinst du das?« fuhr er aus. »Du müßtest dulden lernen, müßtest dich in ihren Seelenzustand zu finden wissen und mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden, um den anderen, da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgiltig bist, vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen.« Er sprang auf »Du meinst also,« schrie er, »daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!« Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese Bezeichnung verletzen mußte. »Unterschätze niemanden«, erwiderte ich ruhig. »Der Mann, von dem wir sprechen, steht geistig sehr hoch.« »Das mag sein«, knirschte er. »Aber er ist häßlich wie ein Affe!« »Darüber ließe sich streiten. Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz andere Anschauungen haben als wir. Bei ihnen geben Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat.« Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem er aufsprang und heftig im Zimmer hin und her schritt: »Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zugrunde!« »Das begreife ich«, sagte ich. »Höre!« fuhr er fort. »Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein paar Tage lang atmete ich befreit auf und vertiefte mich mit vollem Eifer in meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte – oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein – Erwartung, daß sie mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen würde. Da es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen – meine Gedanken versagten. So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon sehr spät – ich hatte mich doch ein wenig zurechtgefunden – saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja vor mir, in einen Theatermantel gehüllt, die Kapuze tief ins blasse Gesicht hineingezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war.« Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Ich schwieg gleichfalls. »Da wären wir ja wieder bei deiner ursprünglichen Frage angelangt«, sagte ich endlich. »Ja, ja«, rief er aus und sprang wieder auf. »Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können! Denn Maja war in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben – und noch immer hege ich Zweifel. Ich war im Augenblicke ganz zerknirscht und tat Abbitte.« »Und was geschah weiter?« »Was weiter geschah?!« Er warf sich in den nächsten Stuhl. »Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn deutliche Anzeichen der Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, bei solchen Ekstasen habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei«, fuhr er stotternd fort, »soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben – ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten – und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus. War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquellen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nur ein Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und rückhaltslose Erkenntnis, daß du sie selbst herbeigeführt.« Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an. »Ja,« fuhr ich fort, »du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne früherer Verschuldungen betrachten.« »Welcher Verschuldungen?« lallte er. »Denk' an all die Verhältnisse, die du mit Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du wiederholt unrecht gehandelt hast. Und jedes Unrecht muß früher oder später im Leben abgebüßt werden. Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen, dich – und auch jene Frau in irgend einer Weise aus der verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien, in der ihr euch beide befindet.« Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. Er ertrug die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger und stand auf. »Ja, ja,« sagte er, sich wiederholt über die Stirn fahrend, »du hast recht, du hast recht .... Aber« – er sah nach der Uhr – »es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet.« Damit reichte er mir die Hand und ging. Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses Mannes war schon zu weit vorgeschritten. Auch körperlich schien er mir gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände fühlten sich kraftlos und zitterig an. Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüberbegeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, aus Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die beiden nebeneinander auf und nieder gehen .... Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des andern wahrscheinlich während der Theaterferien stattfinden dürfte. 3. III. Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. Die Rosen in den Gärten waren verblüht; duftlose, aber farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen standen in den Beeten, während das Grün der Wipfel allmählich seinen Schimmer verlor. Von Sandek hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Auch drüben hatte ich ihn nicht mehr wahrgenommen. Dort war es jetzt überhaupt leer und still geworden; man schien sich bereits in einer Sommerfrische zu befinden. Was aber war mit Sandek geschehen? Die theoretischen Prüfungen mußten doch schon vorüber sein; vielleicht hatte er sich zu den praktischen in irgendein Übungslager begeben. Oder er war schon zu seinem Regiment eingerückt. Daß er sich von mir nicht verabschiedet hatte, befremdete mich nicht. Denn es war bei seinem Wesen nur natürlich, daß er mich nach unserer letzten Unterredung vermied. Und doch war ich über sein Schicksal beunruhigt und mußte öfter an ihn denken. Endlich entschloß ich mich, dort nachzusehen, wo er gewohnt hatte; irgend jemand würde mir wohl Auskunft geben können. Beim Hausbesorger, wo ich nachfragen wollte, fand ich, wie das in Wien nicht selten der Fall ist, die Tür verschlossen; ich stieg also die drei Treppen empor und drückte an der betreffen den Klingel. Nachdem ich es wiederholt getan, wurde die gegenüber befindliche Tür zur Hälfte geöffnet, und ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und freundlichen blauen Augen blickte heraus. »Wen suchen Sie?« fragte er. »Den Hauptmann Sandek.« »Sie sind wohl ein Bekannter von ihm – und haben ihn längere Zeit nicht gesehen?« »So ist es.« Der stattliche Alte trat heraus. »Mein Name ist Wernhart, Oberst in Pension.« Ich verbeugte mich und stellte mich gleichfalls vor. »Nun dann –« er unterbrach sich. »Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen.« Er führte mich durch ein schmales Vorzimmer in ein behaglich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt waren. Er bat mich Platz zu nehmen und setzte sich mir vertraulich nahe. »Ich bin Witwer«, begann er, »und habe meine beiden Töchter – einen Sohn besitze ich leider nicht – ausgeheiratet. Da ich aber doch die mir lieb gewordene Wohnung nicht aufgeben mochte, vermiete ich seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule. So hat auch der Hauptmann Sandek diesen Winter bei mir gewohnt, jetzt aber« – er dämpfte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern – »befindet er sich im Lainzer Irrenhause.« »Im Irrenhause –?« »Leider. Das ist die Folge, wenn sich die Herren im Studieren allzuviel zumuten. Es hat nicht jeder die notwendige geistige Spannkraft. Und wenn man sie erzwingen will, so reibt man sich dabei auf. Ich hatte an dem Hauptmann schon zu Beginn des Frühlings bedenkliche Anzeichen wahrgenommen und ihm den freundschaftlichen Rat erteilt, sich nicht so sehr anzustrengen. Schließlich hängt ja nicht das Leben an dem goldenen Kragen. Aber der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz! Man will doch den Anforderungen entsprechen, die heutzutage gestellt werden – und nicht etwa als Hauptmann in Pension gehen. Da war es zu meiner Zeit ganz anders. Man avancierte in der Tour, wenn auch natürlich die entsprechende Befähigung vorhanden sein mußte.« »Ja – und seit wann –?« »Ungefähr fünf Wochen ist es her, daß er plötzlich einen Anfall von Tobsucht bekam. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich und sein Diener – sowie die Leute im Hause, wir wußten uns gar nicht zu helfen, bis man ihn endlich nach Lainz gebracht hatte. Bemühen Sie sich nicht etwa hinaus. Sie können ihn nicht sehen. Sein Zustand ist ein ganz hoffnungsloser. Die Ärzte sprechen von einer rasch fortschreitenden Paralyse.« »Das ist höchst traurig –« »Gewiß. Er war ein so prächtiger Mensch! Wenn ich nicht ganz irre,« fuhr der alte Herr flüsternd fort, indem er sich die Hand vor den Mund hielt, »wenn ich nicht ganz irre, war auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele.« »So«, sagte ich, und erhob mich. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Oberst, für Ihre gütigen Mitteilungen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir über den weiteren Verlauf ein paar Zeilen zukommen zu lassen.« »O sehr gern«, erwiderte er, meine Karte in Empfang nehmend. Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir, während ich mich aus den Heimweg machte ... Nach einiger Zeit – von dem Oberst hatte ich noch keine Nachricht erhalten – trat ich eine schon früher beabsichtigte kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte, war es schon tief im Herbst. Unter den Briefen und Drucksachen, die ich auf meinem Schreibtische gehäuft vorfand, fiel mir auch ein schwarz gerändertes Parte ins Auge. Es zeigte an, daß der Hauptmann Robert Sandek nach schwerem Leiden an einer Gehirnlähmung verstorben war. Das Ende ... Ich trat aus Fenster. Öde, kahl und fahl lagen die Gärten vor mir. Ein rauher Nord, der düstere Wolken am Himmel trieb, fegte die letzten Blätter von den Bäumen. 4. IV. Jahre waren verflossen. Ich befand mich in Steiermark und hatte mich bestimmen lassen, dort eine Kuranstalt aufzusuchen, die auf halber Alpenhöhe lag und sich eines weitverbreiteten Rufes erfreute. Ein berühmter Arzt, einer der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung, gebracht, leitete sie. Als ich eintraf, neigte die Saison bereits dem Ende zu. Es hatte den Tag über in Strömen geregnet; tiefhängende graue Nebelschleier verhüllten die ganze Gegend. Ich war im Kurhause abgestiegen, und die ungewohnten, mit Petroleumlampen – elektrisches Licht gab es damals noch nicht – düster beleuchteten Räumlichkeiten hatten für mich etwas Unheimliches, Niederdrückendes. Auch die nicht sehr zahlreichen Kurgäste, die eben an der aus Milch und Schrotbrot bestehenden Abendtafel saßen, waren nicht sonderlich anziehend. Einen wahren Schrecken aber empfand ich, als ich unter ihnen einen Mann gewahr wurde, den ich lieber zu allen Teufeln gewünscht hätte. Es war dies ein wohlhabender Müßiggänger, der sich auf den Dichter hinausspielte und an jeden Schriftsteller herandrängte, wobei er allerdings die Maske großer Bescheidenheit vornahm. In Wahrheit aber strotzte er von Eigendünkel und glaubte mit seinen Novelletten und Gedichten, die er ab und zu in prächtiger Ausstattung erscheinen ließ, die Literatur zu bereichern. Im übrigen beschäftigte er sich mit gesellschaftlichem Tratsch, und da er in allen Kreisen verkehrte, so zeigte er sich auch mit der Wiener Skandalchronik aufs innigste vertraut. Hin und wieder konnte er ganz unterhaltend sein; aber den geschwätzigen und aufdringlichen Menschen einige Wochen hindurch beständig an der Seite zu haben, war eine trostlose Aussicht. Er erhob sich auch sofort und eilte mir entgegen. » Sie hier, Hochverehrter!« – das Wort »Meister« war damals noch nicht gebräuchlich. »Welch freudige Überraschung! Allerdings muß ich gleichzeitig mein Bedauern aussprechen, da Sie doch nur ein körperliches Leiden hieherführen kann. Aber Ihr Aussehen ist vortrefflich – und so wird es nicht so arg sein. Im übrigen werden hier wahre Wunderkuren vollführt. Auch leben läßt es sich ganz angenehm, wenn man auch gewissermaßen auf Wasser und Brot gesetzt ist. Erlauben Sie, daß ich Sie gleich der Gesellschaft vorstelle!« Er tat es mit großer Emphase, wobei ich wieder einmal die Genugtuung erlebte, daß die Leute von meinem Dasein keine Ahnung gehabt hatten und mich mit offenem Munde anglotzten. Ich verbiß meinen Ärger in ein paar Schinkenschnitte, die mir, da ich ja noch die Kur nicht angetreten hatte, ausnahmsweise vorgesetzt wurden. Um das Maß voll zu machen, Zeigte sich, daß mein Kollege im Kurhause auch mein Ziemlich naher Zimmernachbar war. »Also auf Wiedersehen morgen früh in der Wandelhalle«, sagte er, als wir uns zurückzogen. »Das schlechte Wetter scheint anhalten zu wollen, und da ist all einen Gang ins Freie kaum zu denken. Sobald es wieder schön ist, werde ich Sie die herrlichsten Waldwege führen.« In drei Tagen war es wirtlich schön geworden, und ich konnte seiner Begleitung nicht entgehen. Ich ließ sie mir auch insofern gefallen, als ich der Gegend unkundig war. Wir schritten anfänglich einen wohlerhaltenen Parkweg hinan, der die Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen vollständig überblicken ließ und eine immer weitere Rundsicht eröffnete, bis er endlich in ein felsiges Waldgebiet hineinführte. Wir hatten dieses kaum betreten, als uns zwei Gestalten entgegenkamen, die einen höchst malerischen Anblick darboten. Eine Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen. Beide trugen, wie dies hier nach der Morgenkur üblich war, die Haare aufgelöst. Die der Frau fielen in langen Strähnen hinab und umflossen sie wie ein dunkler Mantel; die des Kindes, von hellem Blond, umwallten das zarte, lichte Gesichtchen wie ein goldenes Vlies und waren kranzartig mit einem blühenden Genzianenzweig geschmückt, so daß die Kleine wie ein Elfchen aus dem Sommernachtstraum aussah, während die Mutter mit herben, finsteren Zügen an Lady Macbeth erinnerte. Mein Begleiter lüftete den Hut zu ehrerbietig lächelndem Gruß, der von der Frau mit kurzem Kopfnicken erwidert wurde. Nachdem die beiden weit genug hinter uns waren, fragte er mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: »Wissen Sie, wer die Dame ist?« Ich verneinte, obgleich ich sie sofort erkannt hatte und mir die große Ähnlichkeit des Kindergesichtes mit dem Sandeks überraschend in die Augen gesprungen war. Er aber fuhr in seiner Weise frivol geheimnisvoll fort: »Die Hofrätin –« er nannte den Namen. »Eine sehr bedeutende, geistvolle Frau, die ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie hat jahrelang mit« – er nannte wieder den Namen – »ein sehr intimes Verhältnis gehabt, das sich erst löste, als der schwarzgallige Lessing die blauäugige Undine vom Theater wegheiraten wollte. Diese aber hat sich ihm, das wissen Sie ja, wie schon vorher manchem anderen, mit ihrem glatten Fischleib im letzten Augenblick entwunden. Und da hat auch der Herr wieder das Sprichwort bewahrheitet: on revient toujours ... Allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande. Er hat ja immer an der Leber gelitten und scheint jetzt ganz und gar einzutrocknen. Erst kürzlich hat er die Dame, die schon sehr bald die Anstalt verläßt, hier besucht. Was aber die Kleine betrifft, die Sie jetzt gesehen haben, so kommt mir ihre Existenz etwas fragwürdig vor. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier näher getreten sein. Ich will nichts behaupten – aber das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner Gemahlin ähnlich« ... * * * Und nun saß dieses Töchterchen mit voll entwickeltem Frauenreiz mir gegenüber – an der Seite des jungen Modegelehrten aus der Schule Brandes' und Nietzsches. Es war ein gefährlicher Tischnachbar, der ihr da den feingeschnittenen orientalischen Kopf und die geistsprühenden Augen beständig zuwandte und sie mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien. Schon manche der jungen und jüngsten Damen, die sich zu seinen Vorlesungen drängten, war, wie es hieß, diesem Zauber erlegen. Er aber wußte bis jetzt nur Hoffnungen zu erwecken – keine zu erfüllen. Am anderen Ende der Tafel saß auch der Gemahl der blonden Frau, ein etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel. Er war zwischen zwei steife Standesdamen hineingeraten, mit denen er sich furchtbar zu langweilen schien. Er hielt sich jedoch am Menü schadlos und trank sehr viel Champagner, der gleich von der Suppe an gereicht wurde. Endlich tauchte man die Finger in die flachen Wasserschalen und begab sich in das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer, um den Kaffee zu nehmen. Auch dort wich der Beredte nicht von der Seite der jungen Frau, so daß ich mein Vorhaben, mich ihr zu nähern, aufgab. Ich zog mich in eine Ecke zurück und dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach. Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand? Die Männer, denen beiden sie gewissermaßen ihr Dasein verdankte, waren gestorben. Und die schöne, geistvolle Schauspielerin, die unbewußt mit in diese Wirrnisse verflochten gewesen, hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten Bühnendichter. Aber die Ehe war keine glückliche und wurde bald getrennt. Ich warf den Rest der Havanna in den Aschenbecher und entfernte mich unbemerkt, während sich der Baron eben ein Gläschen Mandarin eingoß. 5. V. Das Diner hatte knapp vor Ostern stattgefunden. Die Saison ging somit zu Ende, und die gesellschaftlichen Beziehungen lockerten sich, bis sie schließlich der Sommer gänzlich auflöste. Erst der November führte das mehr oder minder weit getrennt Gewesene allmählich wieder zusammen und die » jours « traten in ihr Recht. So konnte auch ich nicht umhin, mich bei dem der Dame des Hauses einzufinden, wo ich an jenem Abend geladen war. Eintretend, fand ich das Empfangsboudoir fast leer, nur eine Dame saß neben der Hausfrau auf dem Sofa. Zu meiner Überraschung war es die, welche mir damals so viel zu denken gegeben. Es war kaum die gegenseitige Vorstellung erfolgt, als in einer etwas auffallenden Besuchstoilette die schöne Schauspielerin hereintrat. Ja, sie war noch immer schön, obgleich ein Vierteljahrhundert über ihre Blütezeit dahingegangen und sie selbst einigermaßen korpulent geworden war. In das ältere Fach übergetreten, zeigte sie ihr Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich. Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: »Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahr traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?« Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. »Sie wissen also nichts?« erwiderte sie nach einer Pause. »Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer Kulissenwelt.« »Auch Ihnen ist nichts bekannt?« wandte sich die Hausfrau an mich. Ich verneinte. »Merkwürdig. Es wird doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?« Wir stimmten zu. »Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und nach London abzureisen. Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die Affäre auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat.« »Ach Gott!« sagte die Schauspielerin. »Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung – sie wird sich schon wieder zurecht finden.« »Das hoff' ich auch«, erwiderte die Dame des Hauses. »Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn der Baron ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen.« »Ja, die jungen Mädchen!« sagte die Schauspielerin. »Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht auf eine siebenzackige Krone im Trousseau.« »Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr litt. Der Baron war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders – und da hatte sie sich entschlossen.« »Lebt ihre Mutter noch?« fragte ich. »Kennen Sie sie?« »Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen.« »Sie kennen Sie also nicht näher. Eine ganz merkwürdige Frau. Sie war nie schön, aber höchst interessant. Dabei eine stolze, herrische Natur. Sie soll einst sehr leidenschaftlich gewesen sein – mir aber hat sie stets den Eindruck großer, fast eisiger Kälte gemacht. Jetzt ist sie – schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pflegerinnen sind um sie. Ihre beiden Kinder – auch der Sohn ist verheiratet – läßt sie nur selten vor sich.« »Wer weiß, wie das alles zusammenhängt«, bemerkte die Schauspielerin obenhin. »Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu widmen, betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. Und im übrigen wird sie auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis zu finden trachten.« Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend .... Die Pfründner 1. I. Es war im Vorfrühling. Einige außergewöhnlich schöne und warme Tage hatten in dem Garten des Versorgungshauses für Ortsarme den Rasen zum Grünen und an den Bäumen und Gesträuchen die Knospen zum Schwellen gebracht, ja an dem vernachlässigten Aprikosenspalier längs der Feuermauer des anstoßenden Hauses waren schon weiße Blüten zum Vorschein gekommen. Aber ein plötzlicher Wetterumschlag war erfolgt, und nach starken Regengüssen begann ein rauher Nordwest von der nahen Türkenschanze herüberzufegen. So war denn der Garten, wo sich alte bresthafte Leute schon gehend oder sitzend gesonnt hatten, wieder winterlich verödet. Nur der Pfründner Karl Schirmer betrat ihn noch nach der kärglichen Mahlzeit, die er in einer benachbarten kleinen Gastwirtschaft einzunehmen pflegte. Er wandelte dann trotz der feuchten Kälte, die sehr empfindlich in seinen von mehrfachen Übeln angegriffenen Körper eindrang, auf den verlassenen Pfaden umher. Denn er fühlte sich da unten doch wohler als oben im Hause, wo ihm die Stubengenossen sein jämmerliches Dasein nur noch mehr verbitterten. So war er auch jetzt wieder, die Schöße des abgetragenen Oberrockes fester an den Leib haltend, in seinem einsamen Rundgang begriffen, als er plötzlich auf entfernterer Bank eine weibliche Gestalt sitzen sah, die vom Kopf bis über die Hüften hinab in ein altes wollenes Tuch gewickelt war. Da er sie nicht kannte, so wollte er, ohne sie weiter zu beachten, an ihr vorübergehen. Als er aber doch näher hinblickte, schien ihm das schmale blasse Antlitz, das aus der Umhüllung halb zum Vorschein kam, nicht ganz fremd zu sein. Er blieb stehen und betrachtete das Weib forschend. Auch sie sah ihn mit sanften blauen Augen an. »Ich sollt' Sie kennen«, sagte er. »Freilich kennen S'mich, Herr Schirmer. Und ich hab' Sie auch gleich kennt. Schon von weitem an Ihrem Gang.« »Jesus!« rief er aus. »Sie sind ja – –« »Die Rosi bin ich, die bei Ihnen im Dienst war.« »Mein Gott, die Rosi! Ja, ja, das ist das alte liebe G'sicht –« »Alt ist's freilich worden – und ich auch.« »Na, wir sind's alle zwei worden. Aber was machen S'denn da, Frau – Frau –« »Weigel«, ergänzte sie. »Richtig! Warten S'auf jemand, Frau Weigel?« »Warten? Ich bin ja da in der Versorgung.« »In der Versorgung? Ich hab' Sie aber noch nie g'seh'n.« »Ich war im Spital. Fünf Monat'. Aber sein denn Sie auch –?« »Freilich«, erwiderte er mit bitterem Lächeln. »Seit'm neuen Jahr bin ich da.« »Mein Gott, Herr Schirmer wie sein S'denn nur so weit – – G'hört hab' ich wohl schon lang, daß's lhnen schlecht geht – –« »Aber so schlecht, hätten S' Ihnen doch nicht denkt. Na, da wär' viel drüber z'reden.« »Sie waren halt immer z' gut, Herr Schirmer. Viel z'gut –« »Ah was, z'gut!« unterbrach er sie. »Dumm bin ich mein Lebtag g'wesen – und schwach. Drum bin ich auch z'grund gangen.« »Und die Frau«, fragte sie zögernd, »ist die g'storben?« »Die lebt. Und ganz lustig auch noch – bei ihrem alten Liebhaber in Grinzing. Aber wie ist's denn mit Ihnen? Sie haben ja damals eine ganz gute Partie g'macht. Ihr Mann war ja Werkführer in der Parkettenfabrik.« »Ja, das war er. Und es ist uns die erste Zeit ganz gut gangen. Aber da ist der Teufel in ihn g'fahren. Er hat ein eigenes G'schäft anfangen wollen – in Favoriten. Aber es hat sich gar nicht rentiert, und wir sind mehr und mehr herunterkommen. Und da hat er z' trinken ang'fangen bis das Letzte vertrunken war, so daß ich nach sein' Tod im Elend z'ruckblieben bin.« »Also Witwe. Haben S' Kinder?« »Keine. Um eins bin ich kommen. Seit der Zeit bin ich auch nimmer recht g'sund g'wesen. Hab' mir daher auch nix verdienen können. Nach allem Möglichen hab' ich g'riffen. Z'letzt bin ich ins Bedienen gangen. Aber ich hab's nicht leisten können und hab' froh sein müssen, daß s' mich als Zuständige da aufg'nommen haben.« Er betrachtete sie teilnehmend. Die Sonne warf eben jetzt aus grauen Wolken heraus einen leuchtenden, wärmenden Strahl über den Garten. »Arme Frau«, sagte er leise, während er sich mit halbem Leibe neben ihr auf die Bank niederließ. »Und im Spital waren S'?« »Grad bin ich'rauskommen.« »Was hat Ihnen denn g'fehlt?« »Ganz ein' eigene Krankheit. Auf der schwarzen Tafel über meinem Bett war's aufg'schrieben. Ich kann mir's nicht merken.« »Haben S' Schmerzen g'habt?« »Schmerzen just nicht. Aber fast am ganzen Leib war ich steif. Ich hab' schon nicht mehr gehn können. Das ist drin besser worden durch die vielen Bäder und das Massieren. Da haben s' mich auch wieder'rausg'schickt. Aber die Arm' kann ich noch immer nicht recht bewegen, und die Händ' sind wie aus Holz. Schau'n S' nur her.« Sie zog unter dem Tuche eine aufgequollene, mißfarbige Hand hervor, deren Finger eigentümlich gekrümmt waren. Er befühlte sie zaghaft. »Mein Gott, wirklich wie aus Holz«, sagte er. »Aber trösten S's Ihnen. Wenn die Füß' besser worden sind, können's die Händ' auch werden.« Sie schüttelte den Kopf. »Das hoff' ich nicht. Die Arzt' haben selber g'sagt, daß ich die Sach' nimmer ganz losbringen werd'. Und manchmal krieg' ich auch solche Zuständ'. Da schnürt's mir den Kopf und die Brust z'samm', daß ich jetzt und jetzt glaub', es ist meine letzte Stund'!« Er seufzte tief auf. »Schrecklich! Die Krankheiten, die's auf der Welt gibt! Was ich alles hab', kann ich Ihnen gar nicht sagen.« »Ja, sein S' denn nicht g'sund?« »G'sund?! Ein Krüppel bin ich, ein elender Krüppel!« Sie blickte ihn erstaunt an. Sein gut gefärbtes Gesicht, seine noch hellen, nur an den Lidern etwas entzündeten Augen schienen diesen Jammerruf Lügen zu strafen. »Aber anmerken tut man Ihnen nix«, sagte sie. »Sie hab'n sich fast gar nicht verändert seit damals. Grau – oder eigentlich weiß sind S' freilich worden.« »Das ist's ja, was mein Elend noch ärger macht«, versetzte er. »Wenn mich einer so anschaut, glaubt er gar nicht, daß ich krank bin. Denn von den Martern, die ich ausz'steh'n hab', weiß er nichts. Umbracht haben s' mich freilich noch nicht. Aber auf ja und nein kann's kommen, daß man mich ins Spital'neinschleppt und unters Messer liefert. In Gott'snamen! Denn da herin ist's so nicht mehr zum Aushalten.« Sie blickte mit beistimmendem Kopfnicken vor sich hin. »Wo sind S' denn?« fragte sie dann. »Oben oder unten?« »Oben«, sagte er mit bitterem Hohn. »Sie haben mir ja die Ehr' antan und mich ins Herrenzimmer geben. Aber ich wär' viel lieber unten bei die alten Schnapsbrüder.« »Das glaub' ich. Denn da oben sind S' ja mit dem Weißeneder beisammen.« »Ja, das ist einer! Möcht' wissen, wo der Kerl den Hochmut hernimmt. Er behandelt einen grad so, als wär' man sein Bedienter. Und die andern zwei, die noch im Zimmer sind, stoßen in sein Horn. Denn er ist nun einmal der Stubenvater, mit dem sich's keiner verderben will.« »Unten bei die Weiber ist's auch nicht viel besser. Da führt die Professerstochter's Regiment. Die ist der reine Satan. Auf mich hat sie's seit jeher abg'sehn g'habt.« »Mich kann s' auch nicht leiden. Die alte Hex' möcht' haben, daß man ihr in einem fort Schönheiten sagt. Das bring' ich nicht übers Herz. Aber der Weißeneder halt's mit ihr. Man sollt's nicht glauben.« »Er weiß schon, warum er's tut. Bei dem gibt's nix umsonst. Vor die zwei muß man sich in acht nehmen. Drum fürcht' ich mich auch jetzt,'neinz'gehn, und hab' mich da im Garten niederg'setzt.« »Ja, wir haben's gut troffen, liebe Frau Weigel. Aber was woll'n wir machen? Müssen's halt aushalten, so lang's geht. Aber wissen S', mir ist's völlig ein Trost, daß wir jetzt beieinander sind.« Er langte nach ihrer Hand, die sie wieder unter das Tuch gezogen hatte, und drückte sie sanft, eingehüllt, wie sie war. Eine Kirchturmuhr schlug in der Ferne. »Zwei Uhr«, sagte er, sich rasch und ängstlich erhebend. »Ich muß'nauf, Karten spielen. Ich wüßt' nicht, was mir zuwiderer wär'! Ich verlier' dabei meistens meinen letzten Kreuzer. Aber ich kann mir nicht anders helfen, sonst seckieren s' mich wieder bis aufs Blut. B'hüt Ihnen Gott derweil, Frau Weigel.« Sie blickte ihm mit gesenktem Haupte nach. Der Himmel hatte sich inzwischen etwas aufgeheitert. Helles Blau kam über dem Garten zum Vorschein, und sonnige Lichter umspielten die Bank, auf der sie noch eine Weile in Gedanken versunken sitzen blieb. Endlich, mit sichtlich schwerem Entschlusse, erhob sie sich mühsam, nahm das Bündel auf, das neben ihr unter dem Tuch gelegen hatte, und bewegte sich der Weiberabteilung zu, die sich im rechten Erdgeschoß des Hauses befand. 2. II. Karl Schirmer, oder, wie er früher stets genannt wurde, der »Schirmer Karl« war eine jener im Grunde des Herzens ehrlichen, aber willensschwachen und kleinmütigen Wiener Naturen, wie sie noch heute nicht bloß als atavistische Erscheinungen vorkommen. Von seinem Vater, einem wohlhabenden Holzhändler an der Donaulände, hatte er Tatkraft und Betriebsamkeit nicht ererbt; der Sohn war mehr der Mutter nachgeraten, die eine sinnenfrohe, sorglose und in ihrer Weise sentimentale Frau gewesen. Ihr erstes und einziges Kind, ihren Karl, liebte sie abgöttisch und hatte seinetwegen, nachdem ihr Mann plötzlich am Herzschlag verschieden war, nicht wieder geheiratet, obgleich es der noch immer stattlichen Witwe an Bewerbern nicht gefehlt haben mochte. Der Geschäftsführer jedoch, der notgedrungen aufgenommen werden mußte, verstand es, sich bei ihr in Gunst zu setzen, so daß sie nach und nach fast ganz unter die Botmäßigkeit dieses rohen, dem Trunke nicht abholden Mannes kam. Nur in allem, was ihren Karl betraf, gab sie nicht nach und verteidigte ihn oft wie eine Löwin ihr junges gegen die derben Erziehungsversuche des Halbgatten. Infolgedessen kam es, daß der Knabe den Geschäftsführer haßte und, das Unlautere der häuslichen Verhältnisse instinktiv herausfühlend, die Mutter trotz ihrer Zärtlichkeit nicht sonderlich liebte. So wurde er gewohnt, in sich selbst hineinzuleben. Er suchte entlegene und einsame Räume des Hauses auf oder versteckte sich draußen zwischen dem hoch aufgeklafterten Holze, wo er oft stundenlang ohne jede Beschäftigung zubrachte. Auch das Spielen mit anderen Knaben freute ihn nicht. Denn die Kinder in der nächsten Umgebung waren nicht die feinsten und hatten ihn gleich bei den ersten Begegnungen tüchtig durchgebläut. Diesem inhaltslosen Jugenddasein entsprechend war auch sein Bildungsgang. Um einst das Geschäft zu übernehmen, brauchte er in jener Zeit nur lesen, schreiben und rechnen zu können, und das lernte er ja zur Not in der Normalschule, in die man ihn schickte. Endlich kam es auch dahin, daß er versuchen mußte, sich ein wenig im Geschäft umzutun und in die Bücher und Rechnungen Einsicht zu nehmen. Sooft er sich aber dazu anschicken wollte, wurde ihm diese Bemühung durch die Art und Weise des Geschäftsführers derart verleidet, daß er immer froh war, die Schreibstube wieder hinter sich zu haben. Schließlich beschränkte er sich darauf, bei dem Ausladen des Holzes gegenwärtig zu sein, das auf Schiffen oder Flößen die Donau herunter kam; aber er hatte da mehr den blauen Himmel und die grünen Baumwipfel der Brigittenau im Auge. Hingegen kam er durch nachbarliche und sonstige Beziehungen nach und nach in recht lockere Gesellschaft. Die Söhne wohlhabender Bürgerfamilien, die in den angrenzenden Vororten ihren Sitz hatten, wußten damals nichts Besseres zu tun, als es in ihrer Weise »umgehen« zu lassen. Sie kannten die besten Heurigenschenken, wo sie schon vormittags zu finden waren, und nachmittags fuhren sie in feschen Zeugeln in den Prater oder sonstwohin, wo es eine »Hetz'« gab. Auch nachts waren sie um Unterhaltung nicht verlegen und trafen in Lokalen zusammen, wo ihnen »saubere Madeln« Gesellschaft leisteten. Und der Schirmer Karl mußte mittun, ob er nun wollte oder nicht. Eigentlich wollte er nicht, denn er saß am liebsten für sich allein am Ufer des Kanals und fischte. Aber da kam ihm die ganze Rotte lärmend ins Haus gefallen und zog ihn mit Gewalt fort. So gewöhnte er sich allmählich, widerstandslos wie er war, Wein zu trinken, der ihm gar nicht mundete, und ließ sich ohne Vergnügen mit Frauenzimmern ein, die ihm schön taten, um ihm sein Geld abzunehmen. Dieses Leben ging so fort, bis seine Mutter, die zu kränkeln begonnen hatte, eines Tages starb. Nun war er wirklich der Herr. Statt aber den unleidlichen Geschäftsführer abzuschaffen, behielt er ihn der lieben Bequemlichkeit halber bei; er hatte sich ja auch überzeugt, daß der Mann insofern ehrlich war, als er nicht allzuviel für sich selbst auf die Seite brachte. Und es dauerte nicht lange, so heiratete der Schirmer Karl auch. Denn als er wieder einmal mit den Kumpanen beisammen war, hatte ihn der junge Menzinger – er hieß Franz – mit der Hand derb auf die Achsel geschlagen und gesagt: »Du, Karl, du mußt meine Schwester heiraten.« Dem Überraschten gefiel diese Schwester gar nicht. Sie war ihm hin und wieder flüchtig begegnet, wobei er gefunden hatte, daß sie nicht übel gewachsen war. Aber ihr Gesicht mit dem langen, vorspringenden Kinn und den starren schwarzen Glaskugelaugen hatte ihm mißfallen und ihre scharfe, schnarrende Stimme nicht bloß im Ohr weh getan. Aber der Menzinger Franz hatte ja gesagt und in nächster Zeit immer wiederholt, daß er sie heiraten müsse – und so tat er's. Es wurde ihm auch von verschiedenen Seiten sehr wohlmeinend erklärt, daß die Menzinger Theres wenigstens zehntausend Gulden mitbekommen werde, die doch im Geschäft sehr nutzbringend angelegt werden könnten. Und überdies: er sah ein, daß er eine Hausfrau brauche, denn es sah bei ihm schon recht unordentlich aus. Er freute sich, daß es nunmehr mit der wüsten Tagdieberei und Zecherei ein Ende haben und er in der Lage sein würde, endlich das Geschäft wirklich in die Hand zu nehmen. Er war dazu um so mehr gezwungen, als ihm der bisherige Leiter, der sein Schäflein ins trockene gebracht, den Dienst gekündigt hatte. Aber die behagliche Häuslichkeit, auf die er gerechnet, wollte sich nicht einstellen. Denn kaum daß die Honigmonde – wenn es wirklich solche waren – ihr Ende gefunden hatten, mußte er erkennen, daß die Menzinger Theres eher an alles andere dachte als an die Pflichten einer sorglichen Ehegattin. Sie wollte sich beständig unterhalten und zwang ihn, sie an öffentliche Vergnügungsorte zu führen, wobei sie sich an auffallendem Putz nicht genugtun konnte. Und als er endlich bescheidenen Einwand erhob und meinte, so könne das Leben nicht weitergehen, da erwiderte sie sehr gereizt, ob er denn glaube, daß sie ihn geheiratet habe, um mit ihm in der »Hütten« zu sitzen. So nannte sie mit Vorliebe das zwar niedere, aber sehr weitläufige Schirmersche Haus. Und was ihren Kleideraufwand betraf, so wies sie auf ihre Mitgift hin, die übrigens noch immer unverzinst bei Vater Menzinger steckte. Und als das Leben in der Tat nicht mehr so weiterging, wurde sie mürrisch, zänkisch und erklärte ihm bei jeder Gelegenheit, daß er das Geschäft nicht verstehe. Dieser Vorwurf traf ihn um so schmerzlicher, als er auf Wahrheit beruhte; er selbst sagte es sich ja oft genug im stillen. Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Zwischendurch kam freilich etwas, um das sinkende Schiff wieder zu heben. So zuweilen eine große Bestellung auf Bauholz, da ja die Stadterweiterung mehr und mehr in Zug kam. Aber im ganzen wollte das nicht viel besagen, und der einst so blühende Handel schleppte sich nur mühselig dahin. Und das Leben Schirmers wurde danach. Seine Frau kümmerte sich mit unverhohlener Verachtung immer weniger um ihn. Sie hatte sich ein paar flotte Freunde ins Haus gezogen, darunter einen reichen, vierschrötigen Weingärtenbesitzer aus Grinzing. Mit diesen Freunden, die immer mit Wagen angesaust kamen, fuhr sie über Land oder in die Stadt hinein, wo man gemeinschaftlich Theater besuchte oder zu Volkssängern ging, die sich gerade besonderer Beliebtheit erfreuten. Ihr Mann nahm sich das nicht sonderlich zu Herzen. Er hatte sie ja nie geliebt und war eigentlich froh, daß er jetzt abends allein sein und, wenn es die Jahreszeit erlaubte, wieder seinem alten Vergnügen, dem Angeln, nachhängen konnte. Um diese Zeit traf es sich, daß ein neues Dienstmädchen ins Haus kam. Sie hieß Rosalie Eder und war die Tochter eines Gemeindedieners. Schlank und zart gebaut, sah sie mit gesundblassen Wangen, blondem Kraushaar und mit großen Augen, die wie Kornblumen leuchteten, jünger aus, als sie wirklich war, denn sie mochte schon ziemlich tief in den Zwanzigern stehen. Sie hatte ein stilles, etwas schwermütiges Gehaben. Manchmal begann sie ganz leise vor sich hin zu trällern, verstummte aber gleich wieder, gewissermaßen vor sich selbst erschreckend. Es war kein Wunder, daß sie dem Vereinsamten von Tag zu Tag besser gefiel. Sie führte ihm ja eigentlich das Hauswesen und kam ihm daher oft genug vor Augen. Ihr Anblick erfüllte ihn immer mit Freude, aber auch mit Schmerz. »Wenn das meine Frau wäre!« sagte er zu sich selbst. »Wie glücklich wär' ich!« Und er konnte auch bemerken, daß ihn das Mädchen keineswegs gleichgültig ansah. Vielmehr lag etwas wie zärtliche Teilnahme in ihrem sanften Blick. Ja, ein anderer als der Schirmer Karl hätte nicht viel Federlesens gemacht und sie, wenn sie ihm so mit halbentblößten Armen das Essen auftrug, herzhaft an sich gezogen. Er jedoch tat es nicht. Wohl kaum aus moralischen Bedenken. Aber er war eine ängstliche Natur, und als solche bedachte er die Folgen. »Ich bin ein verheirateter Mann«, sagte er sich, »was sollte daraus werden?« So unterließ er es, seine Neigung kundzugeben; ja er schlug immer die Augen nieder, wenn er notgedrungen mit der Rosi reden mußte. Einmal nur, als sie ihm wieder das Nachtmahl vorsetzte, konnte er sich nicht enthalten, ihre Hand zu ergreifen, die trotz aller harten Arbeit stellenweise ganz blühweiß aussah, und sie eine Zeitlang festzuhalten. Aber er sah dabei dem Mädchen nicht in das erglühende Gesicht und sagte kaum hörbar, denn es verschlug ihm die Stimme: »Rosi, ich hab' Sie so gern.« – »Ich hab' Ihnen auch gern, Herr Schirmer«, erwiderte sie still. Dabei blieb es. Aber der Schirmer fing jetzt zu leiden an. Denn seit er die sanfte Wärme ihrer Hand gespürt, kam immer stärkere Sehnsucht über ihn, die er nur mit Gewalt zu unterdrücken vermochte. Er konnte kaum mehr das Essen hinunterbringen, das sie ihm vorsetzte. So atmete er fast wie befreit auf, als die Rosi eines Tages den Dienst kündigte. Sie werde heiraten, sagte sie. Einen Werkmeister in der Nußdorfer Parkettenfabrik. Als sie Abschied nahm, seine Frau war zufällig auch dabei, sprach er halb abgewandt: »Werden S' recht glücklich, liebe Rosi.« Er aber wurde jetzt immer unglücklicher. Denn bald nachdem Rosi das Haus verlassen und einer derben, grobknochigen Magd den Platz geräumt hatte, erlitt er im Geschäft einen furchtbaren Verlust. Ein unternehmender Architekt hatte von ihm eine Unmasse Bauholz auf Kredit bezogen. Eines Tages entleibte sich der Mann, und es stellte sich heraus, daß seine Gläubiger das leere Nachsehen hatten. Am ärgsten war Schirmer getroffen, und er erkannte, daß er nun selbst vor dem vollständigen Ruin stehe. Man riet ihm auch gleich von mehreren Seiten, Konkurs anzumelden, damit er doch vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch noch einiges für sich selbst errette. Aber das ging dem Schirmer gegen das Gefühl. Dazu war er im Grunde zu ehrlich oder zu wenig gescheit; auch hatte er in seiner angeborenen Ängstlichkeit seit jeher eine große Scheu vor allen gerichtlichen Verhandlungen empfunden. Er rechnete und fand, daß er sämtlichen Verpflichtungen doch zur Not nachkommen könne, wenn er seinen ganzen Besitz einem Käufer überließ, der sich angeboten hatte. Die Familie seiner Frau und diese selbst widersetzten sich aufs heftigste. Sie gaben ihm alle möglichen Namen, mit denen man den Mangel an gesunden fünf Sinnen zu bezeichnen pflegt. Aber es nützte nichts: er blieb fest. Hinterlistige Machenschaften waren nun einmal gegen seine Natur, und aus dieser konnte er trotz aller Schwäche nicht herausgebracht werden. Er schloß also den Handel um so mehr ab, als ihm der Käufer eine kleine Wohnung im rückwärtigen Teil des Hauses zusicherte und ihn, da ihm doch alte Einzelheiten des Geschäftes bekannt waren, zum vorläufigen Leiter gegen einen allerdings geringen Monatslohn in seine Dienste nahm. Das war nun freilich ein Anlaß für die Frau, zu erklären, daß sie unter solchen Umständen nicht länger bei ihm bleiben könne. Er war es auch ganz zufrieden und überließ ihr das Heiratsgut, das ja noch immer nicht ausbezahlt worden war. Sie aber ging zu ihrem Freunde, dem Grinzinger Weingärtenbesitzer, um ihm, dem Unbeweibten, die Wirtschaft zu führen. So eng und dürftig sich jetzt auch die Verhältnisse Schirmers gestalteten, er fühlte sich doch zum erstenmal im Leben glücklich. Denn er war jeder persönlichen Sorge ledig und hatte nur darüber zu wachen, daß sich die Arbeiten im Geschäfte ordentlich vollzogen. Und da war es merkwürdig, wie wohltätig die Erfüllung einer einfachen, aber bestimmten Pflicht auf den wenig umsichtigen Mann wirkte. Was er in seiner Jugend, träg und zerstreut, wie er gewesen, nur mißmutig getan, dem kam er jetzt mit Lust und Liebe nach. Er kannte zu dieser Zeit kein besseres Vergnügen, als auf dem Holzplatze oder am Kanalufer zu stehen, das Ab- und Aufladen genau zu überwachen und oft genug selbst mit Hand anzulegen. Die Arbeitsleute, die ihn, solang er noch der Herr war, mehr oder minder über die Achsel angesehen, bekamen jetzt Respekt vor ihm. Sie fanden es schön, daß er sich so willig selbst zur Arbeit herbeiließ, und fühlten eine Art ehrfürchtigen Mitleids mit ihm. So war auch der neue Besitzer mit ihm zufrieden und war froh, ihn zur Hand zu haben. Er aber lebte gleichfalls in Zufriedenheit seine Tage hin, stand frühmorgens auf, nahm seine schlichten Mahlzeiten in dem nahen Strandwirtshause »Zum König von Bayern« und ging früh zu Bett, um den Schlaf des Gerechten zu schlafen. So verstrich Jahr um Jahr, und er würde sich kein anderes Los gewünscht haben, wenn sich nicht körperliche Leiden eingestellt hätten. Seine Gesundheit, ob er auch seit jeher, wie ihm immer gesagt wurde, vortrefflich aussah, war niemals eine sehr feste gewesen. Er hatte immer zu Erkältungen geneigt, und seit er nun fast den ganzen Tag bei jedem Wetter im Freien zubringen mußte, wurde er mehr und mehr von Katarrhen und rheumatischen Schmerzen befallen. Auch hatte er sich, als er beim Heben eines sehr schweren abgeholzten Stammes mithalf, einen Schaden am Leibe zugezogen, den er, indolent, wie er war, anfänglich nicht beachtete. Nach und nach aber wurden die Beschwerden immer größer, und der endlich zu Rate gezogene Arzt konnte ihm nur mehr Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung verordnen. Das war nun leichter gesagt als getan, und so schleppte er sich mit dem stetig zunehmenden Übel mühselig dahin. Eines Morgens aber konnte er nicht mehr aufstehen. Sein linkes Bein war während der Nacht plötzlich von einer heftigen Ischias ergriffen worden, die ihn wochenlang ans Bett fesselte. Halbwegs genesen, vermochte er nur mit Hilfe eines Stockes zu gehen, und das erste feuchtkalte Herbstwetter warf ihn nochmals danieder. An fernere Dienstleistung war also nicht zu denken; jeder andere Brotherr als der seine würde ihn entlassen haben. Dieser aber empfand Mitleid und beließ dem gealterten Mann Wohnung und Gehalt, ohne weitere Anforderungen an ihn zu stellen. Die inzwischen herangewachsenen Kinder jedoch begannen den Alten, der hier das Gnadenbrot aß, mit scheelen Augen zu betrachten. Vor allen der älteste Sohn, der einst das Geschäft zu übernehmen hatte. Er stellte dem Vater vor, daß es mit dem Schirmer nicht so weitergehen könne. Das Hinterhaus, in dem er wohnte, sei aufs äußerste baufällig und erheische dringend umfassende Reparaturen oder wäre noch besser durch einen den Verhältnissen entsprechenden Neubau zu ersetzen. Man solle also trachten, den Alten in einer Bürgerversorgung unterzubringen, worauf er ja vollen Anspruch habe. Er erhalte dann auch das normalmäßige Pfründnergeld, und so könne er seine Tage in Ruhe beschließen. Das alles mußte sich Schirmer selbst sagen und erhob keinen Einspruch, als ihm sein Herr eines Tages mitteilte, er habe für ihn die Aufnahme in das Armenhaus der Gemeinde erwirkt. Er machte sich bereit, seine alte Heimstätte zu verlassen, und schied von ihr ohne besonderes Herzweh. Denn in dem Hause am Donaustrande, das einst sein Großvater erbaut, an den er sich, wie an seinen Vater, kaum mehr erinnerte, hatte er ja nur Schlimmes und Trauriges erlebt. Und bei seiner Gemüts- und Sinnesart würde er sich auch in der Versorgung ganz zufrieden gefühlt haben, wenn er dort abseits von den anderen Mitbewohnern hätte hausen können. Aber das gab's eben nicht. Denn selbst das Herrenzimmer im ersten Stockwerk, wohin man ihn aus besonderer Rücksichtnahme versetzt hatte, war für vier Insassen bestimmt. Er mußte also mit noch drei anderen beisammen sein. Und diese drei Kumpane waren derart, daß sie ihm das bißchen Daseinsgefühl gründlich verleideten. Sämtlich aus guten Bürgerfamilien stammend, hatten sie es durch Leichtsinn so weit gebracht, daß sie ihre ererbten Geschäftsbesitze gründlich vertan hatten. Mit verschiedenen späteren Unternehmungen hatten sie, nicht sehr bedenklich in der Wahl der Mittel, ihr Dasein zur Not weiter gefristet, bis sie endlich, auf Namen und Verdienste ihrer Vorvorderen pochend, in den Hafen der Versorgung eingelaufen waren. Diese geriebenen Leute hatten sehr bald erkannt, daß ihr neuer Genosse im Grunde des Herzens schwach und furchtsam war, und betrachteten ihn als willkommene Beute ihrer niedrigen Gesinnungen. Sie waren roh und herrisch gegen ihn, legten ihm allerlei auf, wozu er keineswegs verpflichtet war, und nahmen ihm bei erzwungenem Kartenspiel sein Geld ab. Auch sonst schikanierten sie ihn in jeder Weise. Besonders durch rücksichtsloses und boshaftes Bewerkstelligen von Zugluft, gegen die der an Rheumatismus Leidende ungemein empfindlich war. Das Haupt dieses Dreibundes war ein alter hagerer Wiener »Biz« mit einem frechen Gesicht und dünnen, an den Schläfen nach vorn gestrichenen grauen Haaren, der einst im Orte ein großes, sehr gut besuchtes Kaffeehaus besessen hatte. Auf diese Vergangenheit war Herr Weißeneder noch immer sehr stolz, wobei er jedoch vergaß, daß er später als Kognak- und Zigarrenagent verschiedener Unredlichkeiten halber einige Monate im »grauen Hause« gesessen hatte. Trotzdem war er jetzt als Ältester Stubenvater, eine Würde, die er mit großtuerischem Wesen ausnützte. Da er mit einer Venenerweiterung an den Beinen behaftet war, so blieb er meist den ganzen Vormittag im Bette, wobei er Schirmer alle möglichen Handreichungen auferlegte. Nachmittags aber suchte er seine Freundin in der Weiberabteilung auf. Diese Freundin, namens Leontine Hanstein, wurde allgemein nur die Professorstochter genannt. Ihr Vater hatte im Laufe der vierziger Jahre ein Knabenpensionat unterhalten, das sich eines sehr guten Rufes erfreute. Die anmutige Lage des Ortes, das Haus mit großem Garten, in dem es sich befand, bewog wohlhabende Eltern in der Provinz, ihre Söhne auf die Dauer der Lernzeit dort unterzubringen. Herr Hanstein verdiente also ein hübsches Stück Geld, und als er als Witwer starb, fand sich auch ein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen vor. Die Tochter aber, sein einziges Kind, brauchte es in ganz kurzer Zeit auf. Denn sie war vergnügungs-und gefallsüchtig und stets bemüht, ihrer zweifelhaften Schönheit durch ungemessenen Putz aufzuhelfen. Sie ließ sich in törichte Liebeshändel ein, die immer im Sand verliefen, bis sie endlich ein unternehmender Heiratsschwindler um den Rest ihrer Habe brachte. Nun war guter Rat teuer, und die alternde Kokette mußte mit ihren nicht ungeschickten Händen zu erwerben trachten. Sie erhielt Arbeit in einem Damenmodegeschäft. Aber sie blieb nicht lang bei der Stange und geriet mehr und mehr auf unsaubere Abwege, bis sie endlich, körperlich gebrochen und wirklich erwerbsunfähig, hier unterkriechen konnte. Aber eine Liebesnärrin, wie sie war, wollte sie noch immer gefallen und suchte sich mit gefärbten Haaren und falschen Zähnen den Anschein von Jugendlichkeit zu geben. Herr Weißeneder benützte diese Schwäche und spielte sich als Liebhaber auf, um sie zu allerlei Unterhaltungen führen zu können, wobei sie ihn natürlich freihalten mußte. Denn sie setzte auch in der Versorgung das langbetriebene Geschäft des Schreibens von Bettelbriefen fort, die meist an ehemalige, jetzt in hervorragenden Lebensstellungen befindliche Schüler ihres Vaters gerichtet waren und nicht seiten ganz erkleckliche Unterstützungen eintrugen. Den Schirmer aber haßte sie, weil er ihr die Huldigung, die sie von jedem neuen Ankömmling im Herrenzimmer erwartete, nicht dargebracht hatte. So war denn im ganzen Hause keine Seele, die dem Ärmsten wohlwollte; die alten Leute, die unten in der gemeinsamen Männerabteilung zusammengepfercht waren, hatten ja auch nur scheele Blicke für die bevorzugten Oberen. Nun aber war plötzlich ein Sonnenstrahl in das öde Dunkel seines Daseins gefallen. Frau Weigel, die Rosi, war mit ihm unter einem Dache. Nun hatte er jemand, mit dem er einmal vom Herzen weg reden konnte. Und er würde jetzt täglich das liebe gute Gesicht erblicken, das sich im Laufe der Jahre trotz Not und Krankheit nur wenig verändert hatte. Ein Gefühl aus der Zeit, da er mit ihr zusammen gewesen, überkam ihn. Es war wie ein Hauch der Jugend, der ihn anwehte, und leichter und schneller als sonst stieg er die Treppe zum Herrenzimmer empor, wo ihn, während Herr Weißeneder noch im Bette lag, die beiden anderen Kumpane schon zum Tarock erwarteten. Da er an Rosi dachte, spielte er noch schlechter als sonst und verlor zwei Sechser. Aber er war dabei ganz wohlgemut und fragte Herrn Weißeneder, als dieser endlich Anstalten machte, sich vom Lager zu erheben, ob er ihm nicht irgendwie behilflich sein könne. 3. III. Er konnte kaum den Augenblick erwarten, wo er die Rosi wiedersehen würde. Aber am nächsten Tage regnete es wieder, und auch in den nächstnächsten fand sich keine schickliche Gelegenheit. Denn auffällig wollte er es nicht machen, geschweige denn sie etwa in der Weiberabteilung aufsuchen. Da geschah es, daß unten ein alter Mann vom Schlage gerührt wurde und starb. An dem Leichenbegängnis mußten sämtliche Pfründner teilnehmen. Sie gingen paarweise geordnet hinter dem mit einem abgeschabten Bahrtuch bedeckten Sarge. Zuerst die Männer, dann die Frauen, die sich, so gut es ging, in eine Art Trauerstaat versetzt hatten. Gleich hinter dem Geistlichen aber und einem Gemeindevorsteher, der von Amts wegen bei der kargen Feierlichkeit anwesend sein mußte, schritten, gewissermaßen als Oberhäupter der folgenden Schar, Herr Weißeneder und Fräulein Hanstein. Diese hatte sich einen alten schwarzen Krepphut mit schleißigen Schwungfedern aufgeputzt, die über ihrer verwitterten und windschiefen Gestalt hoch hin und her schwankten. Der frühere Kaffeehausbesitzer aber trug einen fragwürdigen, schief aufs Ohr gesetzten Zylinder und einen fadenscheinigen Leibrock, der vorn an der Brust mit brüchiger Seide ausgeschlagen war. So bewegte sich der Zug zu dem Friedhof auf der Türkenschanze hinan, der erst seit einigen Jahren bestand und daher noch nicht viele Gräber aufwies; an einer großen Grufthalle für vornehme Tote wurde sogar noch gebaut. Nur im vordersten Teile drängten sich die Hügel aneinander, mit Blumen und Denksteinen geschmückt, während der übrige, weit bemessene Raum brach innerhalb der Umfassungsmauer lag. Links aber, nicht weit vom Eingang, befand sich das Schachtgräberfeld. Dort versenkte man die Armen, die keine eigene Ruhestätte bezahlen konnten und der Vergessenheit anheimfielen. Der Platz sah wüst genug aus. Eine holperige, von schütterem Graswuchs bedeckte Fläche, aus der hier und dort ein kümmerliches, rasch vergängliches Holzkreuz hervorragte. Die Grube für den alten Mann stand schon offen. Der Priester machte nicht viele Umstände. Er sprach ein kurzes Gebet, schwenkte ein paarmal das Weihrauchfaß, die Anwesenden ließen jeder eine Schaufel Erde auf den Sarg niederpoltern – und die Sache war abgetan. Die Würdenträger entfernten sich so rasch wie möglich, denn da es ein schöner wolkenloser Tag war, so brannte die Sonne schon sehr empfindlich auf den Nacken. Auch die Pfründner zerstreuten sich. Die einen, um wieder nach Hause zu gehen, die anderen, vorwiegend Weiber, um die vornehmeren Gräberreihen zu besichtigen. Nur die Weigel verweilte noch, während der Totengräber das frische Grab zuwarf. So blieb auch Schirmer in einiger Entfernung zurück. Er sah, wie sie jetzt an ein großes Kruzifix herantrat, das mit einem Betschemel versehen und als gemeinsames Denkmal bei dem Gräberfelde angebracht war. Dort sank sie in die Knie, faltete die Hände, die in groben Handschuhen staken, und begann andächtig zu beten. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, aus dem ihr schmales Antlitz mit der fein geschwungenen Nase licht hervorschimmerte. Rückwärts kam ein noch blonder Haarknoten halb zum Vorschein, der in der Sonne wie Gold glänzte. Wie schön sie noch immer ist! dachte Schirmer und war glücklich, sie betrachten zu können. Jetzt aber bekreuzte sie sich und stand auf. Dabei fiel ihr Blick auf Schirmer, der ganz leise näher getreten war. »Sie sein da, Herr Schirmer?« fragte sie ein bißchen verwirrt. »Schon die längste Zeit. Und hab' zug'schaut, wie andächtig Sie waren.« »Ich hab' für meine Eltern bet't – und auch für mein' Mann«, erwiderte sie still. »Aber die anderen sind schon alle weg«, fuhr sie umherblickend fort. »Ja. Und das ist gut. Da können wir doch ungeniert miteinander reden. Wie geht's Ihnen denn, Frau Weigel?« »Mein Gott, wie soll's mir denn gehn? So im ganzen ist mir ein bissel leichter.« »Sie schaun auch schon viel besser aus. Und schön sein S' auch noch immer.« »Ach gehn S'«, sagte sie und wurde rot. Dann begann sie sich langsam in Bewegung zu setzen. Er blieb ihr zur Seite, und bald waren sie bei den stattlichen Gräberreihen angelangt, die jetzt schon wieder still und verlassen dalagen. Sie traten in eine hinein. Ein schwerer Duft von Hyazinthen und Narzissen, die auf den Hügeln blühten, schlug ihnen entgegen. Sie betrachteten schweigend die Denksteine und die darauf angebrachten Skulpturen. Endlich sagte die Rosi: »Ja, die Reichen, die können so schön begraben werden. Unsereins wird verscharrt wie ein Hund. Und doch wär's gut, wenn man schon da unten liegen möcht'.« »Weiß Gott!« erwiderte er. »Ich hab' schon oft dran denkt, meinem elendigen Leben ein End' z'machen. Aber sehn S', Frau Weigel, seit Sie jetzt im Haus' sind, bin ich wie ausgewechselt. Das Leben freut mich wieder, denn mir ist, als wär' alles wieder wie damals. Erinnern S' Ihnen noch an die Zeit?« Sie senkte den Blick. »Warum soll ich mich denn nicht erinnern? Es war ja so schön da unten an der Donau.« »Und wissen S' noch, wie gern ich Sie g'habt hab'?« »Ich weiß's. Aber es hat ja nicht sein können.« »Es hätt' schon sein können. Aber wir haben uns nicht'traut.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es hat nicht sein können, denn es hätt' sich nicht g'schickt. Schwer is mir g'nug worden. Es hat mir völlig's Herz ab'druckt. Drum hab' ich auch den Weigel g'nommen, wie er um mich ang'halten hat.« »Also deswegen. Und Sie sein so unglücklich mit ihm worden.« »Die erste Zeit is angangen. Aber dann hat er mich mit Eifersucht g'martert. Und ich hab' ihm gar kein' Anlaß geben. Gern hab' ich ihn freilich nicht g'habt, und ich müßt' lügen, wenn ich sagen tät, daß mir nicht manchmal ein anderer g'fallen hätt'. Aber daß ich mich vergessen hätt' oder nur ein bisserl in was eing'lassen – drauf hätt' ich jede Stund' die Hostie nehmen können. Er aber hat mir nicht glaubt, und wie's G'schäft immer schlechter gangen ist, hat er mich in sein'm Rausch g'schlagen.« »G'schlagen? Arme Rosi! Ja, wir zwei haben's gut troffen in der Eh'. Aber wissen S', ich hab' mir schon die Tag' was ausdenkt. Wir sollten schaun, daß wir da aus der Versorgung'naus kommen. Mit unserm Pfründnergeld könnten wir vielleicht irgendwo z'sam menziehn. Wieviel haben S' denn?« »Sieben Gulden.« »Und ich fünfzehn. Das wären zweiundzwanzig im Monat. Da könnten wir uns schon ein Zimmer und ein Kucherl nehmen.« »Ja, wenn ich g'sund wär'. Aber mein Gott, mit diese Händ'!« Sie hob sie empor. »Ich kann ja gar nichts anrühren. Und Sie sagen ja auch, daß S' krank sind. Das wär' eine schöne Wirtschaft. Und das Geld tät' auch nicht langen. Wir müßten doch wenigstens dreißig Gulden haben, wenn wir uns ein Quartier nehmen wollten.« »Sie hab'n recht«, sagte er niedergeschlagen. »Aber mich freut's, daß Sie nichts dagegen hätten – und mit mir gehn möchten.« »Warum denn nicht?« erwiderte sie und blickte zu Boden. »Zwei so alte Leut' –« »Na, gar so alt sein wir doch nicht. Wenn wir g'sund wären, möchten wir beide unsere Jahr' nicht spüren. Sie nicht und ich nicht. Denn seh'n S', Frau Weigel, wir zwei haben ja nie was g'nossen. Unser' Jugend ist unterdruckt worden – drum ist sie auch noch in uns. Mir wenigstens ist jetzt, als wär' ich zwanzig Jahr' alt, und ich spür' fast meine Schmerzen nimmer.« Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich kann mir's eigentlich auch nicht recht denken, daß ich schon zweiundfünfzig bin.« »Sie schaun auch nicht danach aus. Denn wie ich g'sagt hab': Sie sind noch immer schön – und ich hab' Sie noch immer so gern wie damals.« Sie schlug die sanften blauen Augen langsam zu ihm auf. »Was nutzt's«, sagte sie mit einem leichten Seufzer. »Wir können jetzt ebensowenig zusamm'kommen wie damals.« »Aber wir sind doch beisamm'. Wir können uns ja jeden Tag sehn und miteinander reden.« »Reden nicht. Wenigstens nicht in der ersten Zeit. Denn wenn die andern merken, daß wir uns von früher kennen und gut miteinander sind, möchten s' uns gleich verfolgen. Bei uns ist ja der Neid und der Haß z' Haus'. Es kann's keiner sehn, daß der andere eine Freud' hat. Und gar der Weißeneder und die Professerstochter, die möchten uns das Leben völlig verleiden.« »Wahr is«, sagte er traurig. »Wir haben ein eigenes Schicksal. Aber ich will mit dem Anschaun z'frieden sein. Denn ich bin schon glücklich, wenn ich das liebe gute G'sicht vor mir hab'. Und denken kann ich ja auch den ganzen Tag an die Rosi – und glauben, daß sie mich auch noch ein bissel gern hat. Net wahr?« Er strich ihr sanft über die von dem Kopftuch halbverhüllte Wange. Sie schwieg. Aber in diesem Schweigen lag für ihn ein unsägliches Glück ... So standen jetzt die beiden inmitten der Gräber. Die Hyazinthen und Narzissen dufteten; zwei frühe Schmetterlinge gaukelten darüber hin. Und ringsum leuchtete der goldene Nachmittag, während am Horizont weiße schimmernde Wolken in das helle Blau des Himmels emportauchten. 4. IV. Sie waren, damit es nicht auffalle, jedes allein nach Hause gegangen, nach langer, langer Zeit mit einem Gefühl des Glückes in der Brust. Und da sie an Entbehren gewöhnt waren, so genügte es ihnen auch, daß sie sich nun öfter und öfter sehen und einander mit den Augen zulächeln konnten. Denn es wurde ja jetzt wirklich Frühling, und die alten Fliederhecken im Garten standen, vom warmen Sonnengold umglänzt, in voller Blüte. Und da saßen und gingen die Bewohner des Armenhauses wieder im Freien herum. Die Frauen waren in der Mehrzahl und hielten sich in jeweilig befreundeten Gruppen zusammen. Nur das Fräulein Hanstein fand das unter ihrer Würde und blieb zumeist in dem leeren Zimmer, wo sie ihren Freund ungestört empfangen konnte. Die Rosi aber hatte sich an ein altes Weiberl angeschlossen, das Hofbauer hieß und mit einer großen verhärteten Balggeschwulst an der rechten Seite des Halses behaftet war. Trotzdem zeigte sich die kleine schmächtige Greisin noch beweglich und rührig und half der Rosi in allem, was diese allein nicht zu leisten vermochte. Sie war ihr beim Ankleiden behilflich, reinigte für sie Zimmer und Gang, kochte für beide Kaffee und holte aus der nächsten Wirtschaft das gemeinsame Mittagsmahl herüber, das aus Suppe und etwas Gemüse bestand. Fleisch konnten die Ärmsten ja nicht erschwingen. Dennoch erholte und kräftigte sich Rosi zusehends, und Schirmer hatte die Freude, wahrzunehmen, wie sie von Tag zu Tag beweglicher wurde. Auch mit den Händen schien es besser zu werden; denn er sah, daß sie schon ab und zu Strickversuche machte, wobei sie freilich mit dem Halten der Nadeln große Mühe hatte. Eines Tages, als sich Schirmer zufällig allein im Herrenzimmer befand, erschien ein Postbote und überbrachte ihm einen Brief, dessen Empfang er bescheinigen mußte. Er war sehr überrascht, denn er konnte sich gar nicht erklären, wer ihm geschrieben haben sollte. Doch nicht etwa seine Frau? Als er aber zögernd und prüfend das Kuvert betrachtete und darauf die Amtsstampiglie eines Wiener Advokaten bemerkte, erschrak er heftig. Sollte es sich da um etwas Rückständiges, Vergessenes aus früherer Zeit handeln, das jetzt mahnend und fordernd an ihn herantrat? Mit zitternder Hand entfaltete er den Brief. Als er ihn aber gelesen hatte, bebte er am ganzen Leibe. Doch nicht aus Angst, sondern aus Freude. Er mußte sich setzen, sonst wäre er vielleicht umgesunken. Denn der Advokat schrieb, daß der Wiener Bürger Jakob Bürdell im Jahre 1831 eine Stiftung für verarmte Familienmitglieder errichtet habe, die den Namen Bürdell führen oder mütterlicherseits mit ihm zusammenhängen. Diejenigen, so diese Stiftung genossen hatten, seien im Laufe der Jahre mit dem Tode abgegangen; zuletzt ein altes Ehepaar, das vor kurzem fast gleichzeitig gestorben sei. Da sich schon seit langem niemand mehr um eine Präbende gemeldet, so habe er, der Advokat, als Rechtsanwalt der Stiftung, es für seine Pflicht erachtet, Nachforschungen anzustellen, da sonst das zu ziemlicher Höhe angewachsene Stiftungsvermögen dem Fiskus anheimfallen würde. Dabei habe er nun ermittelt, daß die Mutter Schirmers eine geborene Bürdell gewesen und daß nunmehr ihrem Sohne, da dieser gänzlich verarmt sei, der Anspruch auf eine Präbende von jährlich sechshundert Gulden zustehe. Schirmer möge daher in der nächsten Woche sich in der Advokaturskanzlei einfinden, wo man alles Weitere besprechen und veranlassen werde. Der saß noch immer da, das Blatt in den Händen. Er las es wieder und wieder, denn er traute seinen Augen nicht; es war ihm, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Aber keinen schmerzenden, sondern einen, der ihn in einen wonnigen Taumel versetzte. Nein, das Glück! Sechshundert Gulden aufs Jahr! Sollte das wirklich möglich sein! Aber da stand's ja schwarz auf weiß. Daß ihm auch seine Mutter nie von dieser Stiftung gesprochen hatte! Freilich, sie waren ja wohlhabende Leute damals, und da brauchte man an derlei nicht zu denken. Jetzt aber gab es kein Hindernis mehr, daß er und die Rosi zusammenziehen konnten in eine kleine hübsche Wohnung, irgendwo in einem billigen Vorort. Das sollte ein Leben werden! Und sie war ja auch fast gesund. Erst kürzlich hatte er wahrgenommen, daß sie die Zimmerfenster scheuerte. Sie konnte also auch schon ihre Hände wieder gebrauchen. Und so mußte sie es auch gleich erfahren, was für ein unverhofftes Glück ihnen jetzt bevorstand. Wenn er sie nur für einen Augenblick sehen und ihr rasch alles sagen könnte! Er schob den Brief sorgfältig in die Brusttasche und eilte die Treppe hinunter in den Garten. Dort saßen einige Weiber, aber die Rosi war nicht darunter. Er ging auf und ab in der Erwartung, daß sie vielleicht kommen würde. Aber sie kam nicht. In seiner Unruhe trat er unter die Einfahrt und blickte nach rechts in den Gang der Weiberabteilung hinein. Er war leer und still. Jetzt aber ging eine der beiden Zimmertüren auf, und Rosi trat heraus, einen irdenen Krug in der Hand. Sie näherte sich, ohne ihn zu gewahren, der Wasserleitung und drehte den Hahn. »Rosi!« rief er gedämpft. Sie erschrak und wandte sich um. »Erschrecken S' nicht«, flüsterte er. »Ich hab' Ihnen was zu sagen.« »Was denn?« fragte sie leise. »Etwas sehr Gutes. Aber so in der Eil' kann ich nicht alles herausbringen. Wär's denn nicht möglich, daß wir eine Viertelstund' lang miteinander reden könnten?« »Ja, wo denn?« Er dachte einen Augenblick nach. »Wissen S' was, kommen S' heut nachmittag um viere zur Barbarakapell'n in der Krottenbachstraßen. Dort gehen immer nur wenig Leut'. Und weit ist's auch nicht.« »Weit ises nicht«, sagte sie zögernd. »Aber –« »Kommen S' nur«, drängte er. »Es trifft sich ja auch gut, daß heut' der Weißeneder und die Hanstein ein' Ausflug g'macht haben. Ins Krapfenwaldl. Dort wollen s' z' Mittag essen. Denn es ist heut ihr Namenstag, und sie wird vielleicht irgendwoher ein Geld'kriegt haben. Also um viere wart' ich auf Sie bei der Kapellen. Ich hab' Ihnen wirklich was Wichtig's zu sagen. Ich hoff, Sie werden eine Freud' haben, Rosi.« Er sah sie dabei dringend und flehend an. Sie zögerte noch. Endlich sagte sie: »Na ja, ich werd' kommen. Aber jetzt gehn S'«, fuhr sie flüsternd fort und legte den Finger an den Mund, »mir scheint, ich hör' wen.« Wirklich knarrte die zweite Tür. Er war schon fort, als zwei Weiber heraustraten, die sahen ihn also nicht mehr. Er aber ging jetzt in die kleine schlechte Wirtschaft, um wie gewöhnlich dort zu essen. Er konnte jedoch kaum einen Bissen hinunterbringen, so aufgeregt war er. Und nachher mußte er wieder Karten spielen. Sie waren heute wieder nur zu drei, und die Mitspieler dachten ihn tüchtig zu rupfen. Aber merkwürdig; er, der sonst immer verlor, gewann heute in einem fort. Das ärgerte die beiden Kumpane, und endlich warf der fallierte Gemischtwarenhändler Wufka heftig die Karten auf den Tisch und schrie: »Der Schirmer hat heut ein Sauglück, ich spiel' nicht weiter!« Darüber war er natürlich sehr froh und machte, daß er in die Krottenbachstraße kam. Es war noch nicht viel über drei Uhr, und er konnte noch lange warten. Es war ein heißer Juninachmittag, und die weitgedehnte Straße lag im grellen Sonnenschein da. Die Häuser schienen ausgestorben, kein Wagen fuhr. Auch von der angrenzenden Türkenschanze kein Laut. Denn die Kinder, die dort auf den grasigen Abhängen zu spielen pflegten, waren noch in der Schule. Das heiße Licht und der weiße Straßenstaub, der es zurückwarf, blendeten ihn und taten seinen Augen weh. Er schritt bis zu der ziemlich weit oben liegenden Kapelle und noch ein Stück darüber hinaus. Da sah er ein kleines, abseitiges Wirtshaus, das er wohl so vom Vorübergehen kannte, in das er aber niemals hineingegangen war. Es lag feldeinwärts an der Straßenerhöhung und war mit einem terrassenförmigen Vorgärtchen versehen, in welchem Tische und Stühle standen. Auch hinter dem Hause befand sich ein schmaler Garten mit schattenden Wipfeln. Diese Gastwirtschaft, in der man auch Kaffee und Milch bekam, war an Wochentagen fast gar nicht besucht, nur an Sonn- und Feiertagen fielen oft zahlreiche Gäste ein, meistens Ausflügler, die hier ein Gabelfrühstück oder bei der Rückkehr ein spätes Nachtmahl einnehmen wollten. ›Dahinein werd' ich mit der Rosi gehn‹, dachte Schirmer. ›In dem hinteren Garten ist es einsam, und da können wir alles ungestört miteinander bereden.‹ Er freute sich, daß er die Entdeckung gemacht hatte, und kehrte wieder um. Es dauerte aber noch eine gute Weile, bis er endlich die Erwartete von weitem kommen sah. Sie ging nicht sehr rasch und hatte ein verwaschenes blaues Kopftuch zum Schutz gegen die Sonne tief ins Gesicht hineingezogen. Er eilte ihr entgegen. »Da bin ich«, sagte sie, seinen Gruß erwidernd, »wenn uns nur niemand sieht.« Dabei blickte sie ängstlich hin und her. »Wer sollt' uns denn sehen?« erwiderte er. »Und wenn auch, es liegt nix mehr dran. Kommen S' nur mit. Ich hab' ein gutes Platzl gefunden; wo ich Ihnen alles sagen kann.« Sie begriff nicht, was er eigentlich vorhatte, und schritt zögernd an seiner Seite hin. »Da ist die Kapellen«, sagte sie, als sie davor angelangt waren. »Ja, das ist sie. Aber wir gehn noch ein Stückel weiter«; er wies gegen das kleine Haus hin. »Dort oben setzen wir uns im Garten nieder.« »Das ist ja ein Wirtshaus«, sagte sie. »Freilich ist's eins. Und da können wir gleich eine Jausen nehmen.« »Ich hab' mein bissel Kaffee schon trunken«, warf sie ein. »Das macht nichts. Sie können noch ein' zweiten trinken. Oder ein Glas Bier. Das werden S' bei der Hitz' schon vertragen.« »Aber ich weiß gar nicht –« Sie sah ihn unschlüssig und forschend an. »Werden S' schon erfahren. Kommen S' nur, Frau Weigel.« Und so schritten sie jetzt die acht oder zehn Stufen empor, die an dem Vorgärtchen vorbei ins Haus und in den rückwärts gelegenen Garten führten. Sie setzten sich an einen der letzten rohgezimmerten Tische. Eine angenehme, dämmerige Kühle umfing sie. »Is da nicht schön«, sagte er, »unter die alten Nußbäum'?« »Ja«, erwiderte sie und schob ihr Kopftuch zurück, so daß die weiße Stirn und zwei schlichte, aber noch immer füllige Haarscheitel zum Vorschein kamen. Er sah sie an und wollte etwas sagen. Aber da erschien ein verschlafen aussehender Bursch in Hemdärmeln und fragte nach ihrem Begehr. »Bringen S' derweil eine Flaschen Bier«, sagte Schirmer. »Abzug oder Lager?« »A Lager! Wir brauchen nicht zu sparen«, fügte er, zu Rosi gewendet, hinzu, als der Bursch fort war. Die Rosi aber blickte noch immer unsicher und verlegen vor sich hin und nestelte an den dünnen Trikothandschuhen, die sie trug. Alte, zurückgelegte Waren, wie sie im Ausverkauf um ein paar Kreuzer zu haben war. Als das Bier auf dem Tische stand, öffnete Schirmer den Verschluß der Flasche und füllte die Gläser. »Für mich net so viel«, sagte Rosi abwehrend, »ich bin's nicht g'wohnt.« »Ach was«, erwiderte er. »Also jetzt anstoßen!« Er hob sein Glas und hielt es ihr entgegen. Sie tat ihm Bescheid und trank, aber eigentlich nur so den Schaum weg. Er jedoch leerte sein Glas fast mit einem Zuge, denn durch die Hitze und Aufregung war er sehr durstig geworden; die Zunge hatte ihm schon an dem Gaumen geklebt. »So. Und jetzt!« sagte er mit einem tiefen Atemzug und holte den Brief des Advokaten aus der Brusttasche hervor. Dann rückte er sich auf der Bank zurecht und begann den Brief langsam und deutlich vorzulesen. »Na, was sagen S' denn jetzt, Frau Weigel?« fragte er, als er fertig war. Sie war ganz blaß geworden, und ihre Hände zitterten. »Was soll ich denn sagen? Es ist ein groß's Glück für Sie, Herr Schirmer.« »Und für Sie auch! Denn jetzt können wir aus dem höllischen Haus fortkommen und miteinander wirtschaften.« Sie schwieg. Doch da er sie, auf eine Antwort harrend, dringend ansah, so sagte sie endlich: »So sollt's doch wahr werden?« »Freilich! Es kommt nur drauf an, ob Sie wollen?« Er suchte in ihrem Antlitz zu lesen, und da fand er auch, daß sie wollte, obgleich sie nichts erwiderte und die Augen auf die Tischplatte gesenkt hielt. »Na also«, fuhr er fort, »Jetzt haben wir nur mehr eine Wohnung z' finden, die für uns paßt.« »Ich wüßt' schon eine«, sagte sie nachdenklich. »So? Wo denn?« »In Salmannsdorf. Dort hab' ich eine Tant'! Ein arm's Weib, obwohl s' ein klein's Haus hat. Solang ihr Mann glebt hat, der als Anstreicher ein' guten Verdienst g'habt hat, haben s' auch allein drin g'wohnt. Aber seit er tot ist, muß sie eine Partei 'neinnehmen. Und da hat s' halt ihr Kreuz. Denn der Zins wird oft schuldig blieben oder gar net 'zahlt. Und da wär sie g'wiß froh, wenn s' ein paar ordentliche Leut' in die Wohnung krieget.« »Und ist die Wohnung sauber?« »Wie ich sie kenn', ist sie ganz gut. Zimmer, Kammer und Kuchel. Ein Gartl ist auch dabei.« »Das wär' ja grad, was wir brauchen täten. Und aufm Land lebt sich's auch schöner als in der Stadt, wo wir doch in so ein Zinshaus für kleine Parteien ziehen müßten und eine Menge Nachbarn hätten – weiß Gott, was für eine.« »Freilich. Und die Tant' ist auch ein seelengutes Weib. Wenn ich g'sund g'wesen wär' und ein bißl was hätt' leisten können, hätt's mich auch zu sich g'nommen, obwohl für mich eigentlich kein Platz g'wesen wär'. Denn sie hat mit ihrer Tochter selber nur ein ganz kleines Zimmerl.« »Na, alsdann. Da gehn wir halt miteinander nach Salmannsdorf und schaun uns die G'schicht' an.« »Ich hab' eh schon immer die Tant' heimsuchen wollen.« »Wissen S' was? Gehn wir gleich morgen. Morgen ist Sonntag, und da wird's auch der Tant' ganz recht sein, wenn wir kommen. Wir können uns wieder bei der Kapellen z'sammfinden. Aber schon in der Früh', daß wir nicht in die große Hitz' hineinkommen.« »Erst geh' ich in die Mess' mit der Hofbauer«, sagte sie. »Recht ist's. Beten S' für uns. Wir müssen auch unserm Herrgott danken, daß er uns ein so unverhofftes Glück g'schickt hat in unserm Elend. Lang g'nug haben wir's ertragen müssen, aber jetzt wollen wir, soweit's noch geht, froh und zufrieden leben.« Er legte seine Hand sanft auf die ihre. Sie fester anzufassen oder gar zu drücken, wagte er nicht, denn er fürchtete der Rosi weh zu tun. »Meine Händ' sind auch schon besser«, sagte sie still. »Sehn S', ich hab's g'sagt. Aber lassen S' einmal schaun.« Er zog ihr leise und vorsichtig den Handschuh von der Rechten und blickte forschend auf die Hand nieder, die nach und nach zum Vorschein kam. Sie hatte die krankhafte Mißfarbe verloren und erglänzte fast rosig. Aber gerade dieses Glänzen der Haut und eine stark gerötete Schwellung an den Fingerspitzen zeigten, daß die Hand noch immer nicht gesund war. »Und weich ist sie auch schon«, sagte er mit zartem Drücken. »Sie haben immer eine so schöne Hand g'habt, Rosi.« Sie erwiderte nichts, ließ ihm aber die Hand, die er in der seinen behielt. Und da fühlte er sich durchrieselt wie damals, als er sie zum ersten und einzigen Mal ergriffen hatte. Und es kam ihn an, sich darauf niederzubeugen und sie zu küssen. Aber er zagte wie damals und sagte nur innig: »Rosi!« Er sah, wie sie ganz blaß wurde, und fühlte, daß ein leichter Schauer durch ihren Körper ging. Und da rückte er unwillkürlich dicht an sie heran und sah ihr mit den ehrlichen braunen Augen tief in die sanften blauen, in die ein feiner, feuchter Schimmer getreten war. So weilten jetzt die beiden, von einer späten, vielleicht letzten Wallung ihres Blutes ergriffen. Er hörte ihr Herz schlagen, und sie vernahm seine tiefen Atemzüge, die heiß an ihre Wange drangen. »Rosi!« flüsterte er mit bebender Stimme. Sie schloß die Augen. Und da war es, als suchte sein Mund den ihren ... Plötzlich fuhren sie auseinander; Schritte waren vernehmbar geworden. Und vor ihnen standen in einiger Entfernung der Weißeneder und die Hanstein. Er in einem verschossenen karierten Sommeranzug, sie in einem hochgeschürzten alten Musselinkleid, auf den ungleich gefärbten Haaren einen zerknitterten, mit allerlei buntem Zeug überladenen Strohhut; in der Hand hielt sie einen großen Strauß von Wiesenblumen. Er aber hatte die seine in die Seite gestemmt und betrachtete mit giftigem Behagen das überraschte Paar, während seine Begleiterin hochmütig die schadhaften falschen Zähne fletschte. »Ah, dahier bleib'n mir net!« sagte endlich Weißeneder mit lauter Stimme. »Kommen S', gehn m'r ins Vorgartl.« Und die beiden wendeten sich mit einem letzten verachtungsvollen Blick und verschwanden. Der Schirmer aber und die Rosi waren noch immer wie versteinert. Endlich sagte diese mit tonloser Stimme: »Mein Gott, wie sein denn die herkommen?« »Das weiß der Teufel«, erwiderte er. »Daß uns grad die haben sehen müssen!« jammerte sie. »Na, was is' denn weiter!« sagte er, sich gewaltsam fassend. »Ich scham' mich soviel«, fuhr sie fort und blickte zur Seite. In Wahrheit schämte er sich auch. Aber er erwiderte: »Was haben wir uns denn zu schamen? Und grad vor denen da! Die zieh n ja immer miteinander herum, die zwei alten Vogelscheuchen.« »Na ja, aber –« »Kein ›aber‹, liebe Rosi. Wir sind einig miteinander, und da hat auch kein Mensch mehr was zu sagen.« »Sie wer'n schon sehn, was die zwei tun wer'n.« »Was können's denn tun?« brauste er auf. »Und wenn's uns etwa die letzten Tag' in der Versorgung verbittern möchten, so bin ich noch da!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Bei ihm bewährte sich jetzt das Sprichwort, daß Gut Mut gibt. »Nehmen's Ihnen nur vor dem Weißeneder in acht, das ist ein böser Mensch.« »Das weiß ich. Ich hab' g'nug von ihm hinunterschlucken müssen. Aber jetzt soll er mir nur kommen.« Sie machte eine ängstliche Gebärde und wollte etwas sagen, aber es war, als brächte sie es nicht heraus. In diesem Augenblick erschien der Bursch wieder, um nachzusehen. »Noch a Flasch'n Bier!« rief ihm Schirmer zu. »Und habt's was z' essen?« »An Käs und a Salami.« »Also bringen S' a Salami. Und a paar Brot!« Und als der Bursch abging, wandte er sich an Rosi: »Wissen S', ich hab' ein' Hunger, denn ich hab' den ganzen Tag vor lauter Aufregung kein' Bissen'nunterbracht. Und Sie werden doch auch ein bissel was nehmen!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab' gar kein' Appetit.« Er faßte wieder ihre Hand. »Aber sein S' doch nicht so niederg'schlagen, Rosi!« Sie schwieg und seufzte tief auf. »Aber gehn S', Sie machen mich ja ganz traurig. Und wir sollten doch lustig sein!« Sie bemühte sich zu lächeln, aber sie vermochte es nicht. Als jetzt das Angeschaffte gebracht wurde, fragte Schirmer: »Sein die zwei noch im Vorgartl?« »Grad sein s'weggangen. Sie haben bloß an Kaffee trunken.« »Gut is. Ich werd' auch gleich zahl'n.« Er tat es und gab sogar ein Trinkgeld, das er von seinem Spielgewinst nahm; im übrigen sah es mit seiner Kasse nicht zum besten aus, denn es war ja schon der zweiten Hälfte des Monats. Jetzt bat er die Rosi, doch etwas zu nehmen; sonst würd' es ihm, wie er sagte, auch nicht schmecken. Ihr zuliebe nahm sie zwei Schnitten auf den Teller und brach ein Stückchen vom Brot weg. Aber sie mußte sich Gewalt antun, während Schirmer mit Heißhunger zu essen begann. Die Sonne war inzwischen schon tiefer gesunken und warf von Westen her einen rötlichen Strahl durch die Wipfel, in denen ein paar kleine Vögel zwitscherten. Als Schirmer fertig war und auch das Bier schon zur Neige ging, sagte Rosi: »Ich glaub', wir gehn jetzt.« »Naja«, erwiderte er, sein Glas ausschlürfend. »Aber bereden wir gleich alles wegen morgen.« »Mein Gott, ich hab' schon völlig die Lust verloren –« »Wär' nicht übel! Das gibt's nicht. Wir haben's uns vorg'nommen und werden uns die Freud' nicht verderben lassen. Kurzum: Wir treffen uns morgen früh um achte bei der Barbara-Kapellen.« »Um achte noch nicht. Da fangt erst die Mess' an, und die versäum' ich morgen um keinen Preis.« »Na, also um Neune. Ist auch noch Zeit genug, wenn's da auch schon ein bissel heiß ist. Wir gehn halt recht langsam hinüber.« Es schien, als wollte sie noch etwas einwenden; da sie aber erkannte, daß er nicht abzubringen war, so stimmte sie schweigend zu. Darauf erhoben sich beide und traten den Heimweg an. Während des kurzen Weges wollte die Rosi immer etwas sagen, aber sie brachte es nicht übers Herz. So waren sie bei dem Hause angelangt, in das die Rosi gleich hineinging. Er aber kehrte wieder um, gegen die Türkenschanze zu. Denn trotz des Mutes, der ihn angewandelt hatte, war er infolge seiner Natur auch wieder etwas zaghaft geworden und wollte nicht gleich mit dem Weißeneder zusammentreffen. Er ging bis zu dem kleinen erhöhten Rondell, wo unter schmächtigen, spärlich belaubten Ahornbäumchen mehrere Holzbänke angebracht waren. Dort weilte des Abends immer eine Anzahl von Müttern und Kindermägden, kleine Rollwagen vor sich, in denen jüngste Sprößlinge sanft schliefen, während ältere sich lustig auf den umliegenden Sandhaufen tummelten. Auch liebende Paare gab es oft, die hier die frische Abendluft genossen. Er fand noch ein Plätzchen und dachte still darüber nach, was nun alles geschehen würde. Und obgleich es ihm auch nicht mehr ganz leicht ums Herz war, so freute er sich doch auf den morgigen Tag, den er mit der Rosi in Salmannsdorf verbringen würde – noch mehr aber auf die Zukunft. Die Rosi jedoch saß auf ihrem Bett und begann leise zu weinen. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war leer, denn die anderen Weiber, auch die Hofbauer, weilten noch im Garten. In dem anstoßenden kleineren Zimmer aber zankte die Hanstein mit einer hinfälligen, schwindsüchtigen Person, die ihr die Dienste einer Kammerzofe leisten mußte. 5. V. Als Schirmer nach Hause kam, lag Weißeneder schon im Bett und schien zu schlafen. Von den anderen Zimmergenossen hatte sich der eine gegen Abend mit der Bahn nach Klosterneuburg begeben, wo er Bekannte hatte, bei denen er den morgigen Sonntag zubringen wollte. So saß Herr Wufka allein am Tische bei einem Glase Bier und rauchte seine Pfeife. Schirmer begrüßte ihn flüchtig und trachtete gleich ins Bett zu kommen. Denn er fühlte sich sehr ermüdet und verspürte ziehende Schmerzen im linken Bein, was immer auf einen bevorstehenden Witterungswechsel deutete. Er schlief auch sehr bald ein. Aber schon nach ein paar Stunden erwachte er wieder und konnte keine rechte Ruhe mehr finden. Das Bein schmerzte stärker, und die Gedanken begannen in seinem Kopfe herumzugehen, während in einiger Entfernung von ihm Herr Wufka die gewohnten Schnarchtöne von sich gab. Und da fragte sich Schirmer auch wieder, was denn die Hanstein und den Weißeneder, die er im Krapfenwaldl vermutet hatte, in das kleine Wirtshaus in der Krottenbachstraße geführt haben könnte. Das hing so zusammen. Die Hanstein war eine Lotterieschwester, die immer auf eine Terne hoffte, obgleich sie niemals im Leben eine gemacht hatte. Trotz ihrer Bildung, mit der sie bei jeder Gelegenheit prahlte, war sie seit jeher sehr abergläubisch gewesen, und so fiel ihr plötzlich ein, daß sie an ihrem Namenstage besondere Chancen habe, auf dem Kieselgrunde des Sieveringer Brünndls unfehlbare Nummern wahrzunehmen. Sie änderte also in zwölfter Stunde das verabredete Ziel des Ausfluges und bestieg mit ihrem Galan einen nicht weit vom Versorgungshause vorüberfahrenden Stellwagen, der das Paar nach Sievering brachte. Dort hielten sie im Gasthause »Zur heiligen Agnes« Mittag und begaben sich dann durch eine kurze Waldstrecke zum Brünndl, wo denn auch die Hanstein mit Hilfe einiger in der Kabbala sehr bewanderter Weiber, die sich an diesem Orte immer geschäftsmäßig herumtrieben, die unfehlbaren Nummern wahrnahm und auf einem Stückchen Papier notierte. Dann ging sie mit Weißeneder tiefer in den Wald hinein, wo sich die beiden an geeigneter Stelle ins Gras niederstreckten und im kühlen Schatten der Buchen zwei Stunden fest schliefen. Als sie erwacht waren, handelte es sich darum, was man jetzt weiter unternehmen sollte. Die Hanstein fand, daß es für heute genug sei. Für morgen aber hatte ihr unternehmender Geist eine Nachfeier ihres Namenstages entworfen. Man sollte schon am frühen Vormittag nach der Stadt fahren und dem Hochamte in der Augustinerkirche beiwohnen. Diese religiöse Feierlichkeit spielte nämlich in ihren unvergänglichen Jugenderinnerungen die größte Rolle. Denn bei einem Hochamte in der Augustinerkirche, dem sie eines Sonntags ganz zufällig beigewohnt, hatte eine sehr hohe Persönlichkeit, die sich im Oratorium befand, mit ihr ein lebhaftes Augenspiel eröffnet. Und dieses Augenspiel setzte sich auch an mehreren folgenden Sonntagen fort, da sie es nunmehr nicht unterließ, jeden Sonn- und Feiertag in der Kirche zu erscheinen. Ja, es verstärkte sich so sehr, daß sie daran die kühne Erwartung knüpfte, es müsse jetzt und jetzt ein Abgesandter erscheinen und im Namen jener hohen Persönlichkeit einen Antrag auf morganatische Ehe vorbringen. Da dies nicht geschah, sondern vielmehr die hohe Persönlichkeit ebenbürtig heiratete und Wien verließ, so mußte sie auf diese Hoffnung verzichten. Sie hielt aber die innere Überzeugung aufrecht, daß hierbei nur die zwingendsten Standes- und Familienrücksichten ausschlaggebend gewesen seien und daß jene Persönlichkeit bis zu ihrem im Laufe der Jahre erfolgten Tode in unauslöschlicher Liebe der Dame in der Augustinerkirche gedacht habe. So wollte sie denn morgen eine süßwehmütige Gedächtnisfeier abhalten, dann mit Weißeneder im Michaeler Bierhause zu Mittag speisen und schließlich den Prater besuchen. Dabei würde allerdings das Geld, das sie, wie Schirmer richtig vermutet hatte, als reichliches Almosen aus der Ferne er halten, bis zum letzten Kreuzer aufgehen. Aber was lag daran? Wenn sie sich nur einmal wieder so recht unterhalten konnte! Dann mußte man sich eben wieder einschränken. Darum sollte es auch für heute genug sein und gleich der kürzeste Rückweg durch die Weingärten nach Hause eingeschlagen werden. Weißeneder, der infolge seiner Neigung zu Venenentzündungen kein guter Fußgeher war, beantragte zwar zu fahren; sie aber behauptete, daß sie das Gerütteltwerden im Stellwagen nicht gut vertrage, und so machten sie sich auf die Beine und langten endlich auf etwas beschwerlichen Pfaden in der Krottenbachstraße an, wo sie in der einladenden kleinen Wirtschaft eine leichte Erfrischung einzunehmen beschlossen. Schirmer also konnte lange nicht mehr einschlafen. Endlich so gegen Morgen geschah es. Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er blickte nach der alten Schwarzwälderuhr an der Wand. Es fehlte nicht viel auf acht. Da hieß es sich sputen, um zu rechter Zeit zu kommen – und nicht etwa gar durch irgendeinen Zwischenfall aufgehalten zu werden. Er wusch sich rasch und begann sich anzukleiden. Er war noch nicht ganz fertig damit, als er zu seinem Erstaunen – von den Plänen der Hanstein wußte er ja nichts – bemerkte, daß Weißeneder, nachdem er sich gestreckt und mehrmals laut gegähnt hatte, gleichfalls vom Lager aufstand und sich zu waschen begann. Das war dem Schirmer keineswegs angenehm, und er trachtete, in aller Eile ohne Gruß fortzukommen. Als er aber die Türklinke ergriff, vernahm er, wie Weißeneder mit barscher Stimme rief: »Schirmer!« Dieser hielt an und fragte, halb zurückgewendet: »Was wollen S' denn?« »Wo gehn S' denn hin?« »Fort geh' ich.« »Bleib'n S' da!« Gegen diesen Befehl sträubte sich Schirmer im innersten. Aber das Wort des anderen hatte eine suggestive Macht über ihn, und er blieb stehen. »Warum soll ich denn dableiben?« fragte er zögernd. »Wo wollen S' denn eigentlich hin?« entgegnete Weißeneder, sein schütteres Haupthaar vor einem kleinen, halberblindeten Hängespiegel mit Kamm und Bürste behandelnd. Schirmer wußte nicht, was er erwidern sollte. Auf diese inquisitorische Frage war er nicht vorbereitet. Auch hatte er niemals – schon als Knabe nicht – lügen können und war immer gleich mit der vollen Wahrheit herausgerückt, wenn ihm auch diese zum Nachteil gereichte. Eine schöne und seltene Eigenschaft, aber auch ein Beweis großer Schwäche. Diesmal aber wollte er doch nicht gestehen, daß er mit der Rosi eine Zusammenkunft habe, und sagte unsicher: »Ich hab' halt was z' tun.« Weißeneder begann vor dem Spiegel seine Halsbinde zu knüpfen. »Sie müssen heut' z' Haus' bleiben«, sagte er, ohne umzublicken. »Warum denn?« »Weil i fortgeh'. Und es is möglich, daß heut der Bürgermeister inspizieren kommt, und da muß jemand im Herrenzimmer sein.« »Es ist ja der Wufka da«, erwiderte Schirmer, auf diesen hindeutend, der noch im Bette lag. »Der hat heut an wichtigen Gang.« »Aber ich hab' auch einen«, versetzte Schirmer, der jetzt doch schon anfing, gereizt zu werden. Der andere hatte die Halsbinde geknüpft und drehte ihm die Vorderansicht zu. »So«, sagte er, ihn mit giftigem Hohn angrinsend, »vielleicht gar mit der Weigel?« Schirmer fühlte, daß es nun ernst werde, und wollte einlenken, damit er nicht gerade jetzt zum Äußersten gedrängt werde. Aber die Galle, die freilich nur die einer Taube war, begann ihm zu schwellen. »Na, und wenn ich einen Gang mit der Weigel vorhätt'!« stieß er hervor. »So«, sagte Weißeneder, nahe herantretend und ihn mit den kleinen undurchsichtigen Schlangenaugen anbohrend. »Wie sein S' denn eigentlich mit dem Weib bekannt wor'n?« Schirmer wand sich förmlich unter diesen Blicken, die ihn ängstigten und doch aufstachelten. »Was geht denn das Ihnen an?« sagte er. »Eigentlich nix. Sö aber sollten sich schamen.« »Warum denn?« »Weil's a Schand' ist, daß Sie mit ihr ins Wirtshaus gehn und sie dort abbusseln.« »Von abbusseln is ka Red'.« »So? Glauben S' vielleicht, ich hab's net g'sehn?« Schirmer konnte nicht mehr an sich halten. »Na«, sagte er herausfordernd, »und wenn Sie's auch g'sehn hätten? Sie haben am wenigsten drüber z' reden!« »Was!?« schrie der andere, die Arme in die Seite stemmend und den knöchernen Schädel mit der vorspringenden Nase zu dem kleineren Gegner niederbeugend. »Nein, Sie haben gar nix z' reden«, schrie dieser. »Kehren S' den Mist vor Ihrer eigenen Tür!« »Was? Was?« wiederholte kreischend Weißeneder. »Ich lass' mich von der Weigel net aushalten, wie Sie von der alten Hex'!« Das Antlitz Weißeneders verzerrte sich. Er öffnete den weitgeschlitzten zahnlosen Mund, als wollte er Schirmer verschlingen. »Sag'n S' das no' mal, Sö Fallott!« stieß er in pfeifendem Ton hervor. »Wenn Sie's no anmal hör'n wollen, so sag' i's halt no anmal. Sie lassen Ihnen von der Hanstein aushalten! Ob Sie s' auch abbusseln müssen, das weiß i net. Wann aber einer von uns ein Fallott is, so sein Sie's! Denn i bin net im Kriminal g'sessen.« Kaum hatte er diese Worte ausgestoßen, als er auch schon einen Schlag ins Gesicht bekam, daß er zurücktaumelte. Es war die erste tätliche Mißhandlung, die er als Erwachsener erlitten; selbst als Kind war er, dank seiner Mutter, körperlich niemals gezüchtigt worden. Einen Augenblick blieb er fassungslos. Dann griff er in ausbrechender Wut instinktiv nach dem Henkelglase, aus dem Wufka gestern abends Bier getrunken, um es als rächende Waffe gegen den stärkeren Feind zu gebrauchen. Er schwang es und stürzte damit auf Weißeneder los. Dieser aber hatte ihn schon mit beiden Händen, die den Fängen eines großen Raubvogels glichen, am Halse gepackt. Ein kurzes, heftiges Ringen entstand, wobei der sehnige Weißeneder den ungelenken und schwerfälligen Angreifer gegen die Wand drückte. Dort hielt er ihn fest, indem er ihm das Knie in die Weiche stemmte. Dabei traf er, ohne es zu wollen, die Stelle, wo Schirmer den alten Schaden am Leibe hatte. Der Bedrängte brüllte laut auf vor Schmerz, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und bewußtlos glitt er allmählich unter dem Drucke zu Boden. »Mein Gott! Was haben S' denn da gemacht!?« schrie Wufka und sprang aus dem Bett, wo er bis jetzt angesichts der beiden Streitenden als sich freuender Dritter verweilt hatte. »Sie hab'n'n ja um'bracht!« Er beugte sich forschend über Schirmer, der wie tot dalag. »A was!« sagte Weißeneder, indem er den leise Stöhnenden mit dem Fuße anstieß, »der Kerl wird schon wieder aufstehn!« Aber Schirmer stand nicht wieder auf. Sie mußten ihn ins Bett tragen und sich entschließen, den Armenarzt zu verständigen. Als dieser endlich erschien, fand er das ganze Haus in Bewegung und wurde ins Herrenzimmer gewiesen. Dort traf er den Schwerverletzten bei halbem Bewußtsein, laut jammernd und in rasenden Schmerzen sich windend. Nach rascher Untersuchung erklärte er, daß es äußerst schlimm stehe; nur von einer unverzüglichen Operation könne vielleicht Rettung erhofft werden. Aber es war zu spät. Schirmer starb während der Fahrt in dem Krankenwagen, der ihn in das Spital bringen sollte. 6. VI. In einer stillen Nebengasse der von Menschen und Fuhrwerk aller Art dicht belebten Gersthofer Straße, die in die lachenden Gefilde von Pötzleinsdorf hinausführt, befindet sich ein ausgedehntes, klosterähnliches Gebäude mit angrenzendem Garten. An der Stirnseite trägt dieses Gebäude in goldenen Lettern die Inschrift: »Haus der Barmherzigkeit«. Und diese Bezeichnung verdient es im vollsten, im eigentlichsten Sinne des Wortes. Denn in seinen weitläufigen Sälen und Zimmern beherbergt es Arme und Hilflose, die mit unheilbaren Übeln behaftet sind. Alle Gebreste und Krankheiten, deren bloßer Name Grauen und Schauder erweckt, sind hier anzutreffen, und die davon Befallenen werden mit unermüdlicher Hingebung von mildtätigen Nonnen betreut, bis sie der Erbarmer Tod von ihren Leiden erlöst. Den meisten geht er grausam jahre- und jahrelang vorüber; aber fast alle tragen ihr schreckliches Los in stummer Duldung, ja oft mit freudiger Ergebenheit, ein Beweis von der Leidensfähigkeit der menschlichen Natur und von der unendlichen Zähigkeit des Willens zum Leben ... Unter diesen Unglücklichen befand sich auch lange Zeit hindurch die arme Rosi. Sie hatte am Morgen jenes verhängnisvollen Tages andächtig in der Kirche gekniet und den Himmel inbrünstig angefleht, ihr und dem Schirmer gnädig zu sein. Denn sie hatte das Gefühl, daß ihr und ihm ein großes Unheil bevorstehe. Auch war es ihr, als hätte sie eine Schuld auf dem Gewissen. Denn sie hatte Schirmer etwas verschwiegen, das sie ihm hätte mitteilen sollen; aber bei der ihr angeborenen Schämigkeit hatte sie es nicht über die Lippen gebracht. Als sie in die Versorgung aufgenommen wurde, war sie, trotz einer gewissen Schwäche und Hinfälligkeit, die ihre beginnende Erkrankung mit sich brachte, noch eine ganz liebliche Erscheinung gewesen. Als solche erweckte sie die Aufmerksamkeit und nach und nach die senile Lüsternheit Weißeneders. Er stellte ihr Anträge, die sie mit Schrecken und Abscheu zurückwies. Zuletzt unternahm er bei günstiger Gelegenheit einen rohen Angriff, so daß sie um Hilfe rufen mußte. Es war niemand herbeigekommen, aber Weißeneder hatte von ihr abgelassen und sah sie seit jener Stunde, die eine ihren Zustand verschlimmernde Nervenerschütterung zur Folge hatte, nicht mehr an. Sie aber fühlte, daß sie der Mann nunmehr hasse und nur auf eine Gelegenheit warte, um sich zu rächen. Und nun hatte er sie mit Schirmer in dem Wirtsgarten getroffen, was ihm die Genugtuung bot, sie auch verachten zu können. Das schmerzte sie tief. Und jedenfalls würde er nicht säumen, seinen Groll an Schirmer auszulassen, der unter seiner Botmäßigkeit stand. Den mußte sie also, so schwer es ihr werden würde, von allem in Kenntnis setzen, damit er auf der Hut sei. Mit diesem Vorsatze war sie aus der Kirche weg zur Barbara-Kapelle gegangen, deren Vergitterung nur an ganz bestimmten Festtagen offenstand; heute war sie wie gewöhnlich geschlossen. Sie ging also davor erwartungsvoll auf und nieder. Der Tag hatte sich schon am frühen Morgen sehr heiß angelassen. Eine dumpfe Schwüle brütete rings, und die Sonne, deren Strahlen sengend und stechend niedergebrannt, verschleierte sich allmählich mit trüben Dunstmassen. Der Rosi wurde es ängstlich zumute. Eine bleierne Schwere lastete ihr im Nacken, sie konnte kaum mehr die Füße heben. Ihre kranken Nerven spürten ein herannahendes Gewitter, und wirklich tauchten schon hinter den Höhen des Kahlengebirges dunkle Wolkenspitzen hervor. Sie ließ sich auf eine kleine Rasenböschung in der Nähe nieder. Langsam, schier endlos schlichen die Minuten, schlichen fast zwei Viertelstunden an der Harrenden vorüber. Aber Schirmer kam nicht. Da mußte etwas vorgegangen sein! Eine tödliche Angst befiel sie. Sie erhob sich, um nach Hause zu eilen. Da vernahm sie rollenden Donner, und leichte Blitze zuckten aus dem dunklen Gewölk, das inzwischen höher und höher gestiegen war. Fort! Rasch fort! Aber schon erhoben sich heftige Windstöße, die sie mit entfesseltem Regenguß vor sich hinpeitschten. Als sie, triefend vor Nässe, im Hause anlangte, war das Entsetzliche längst geschehen. Regungslos, fast stumpfsinnig, vernahm sie die Kunde, bis sie endlich mit ausbrechendem Jammer an ihrem dürftigen Bette niedersank ... Die Eindrücke dieses grauenvollen Tages hielten in ihr ungeschwächt vor und waren fast ihre einzige Erinnerung, als sie nach einer Reihe von Jahren mit zum Teil eingeschrumpften, zum Teil entzündlich geschwellten Gliedern und bewegungslosem, starrem Antlitz im Hause der Barmherzigkeit lag. Alles andere schwebte ihr nur undeutlich vor: ihre Kinder- und Jugendjahre, ihre traurige Ehe – ja selbst die Gestalt Schirmers. Die sah sie wie aus weiter, weiter Ferne, von einem lichten Nebelschleier umhüllt. In bösen Träumen aber, die sie bisweilen hatte, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief, erschien ihr nicht selten der lange und hagere Weißeneder mit dem frechen Gesicht, der vorspringenden Nase und den kleinen Schlangenaugen. Er streckte die Krallenhände nach ihr aus, und die Hanstein stand dabei und fletschte die schadhaften falschen Zähne. Und dann erwachte sie bebenden Herzens und empfand es wieder als unverzeihliche Schuld, daß sie dem Schirmer nicht alles gesagt und ihn gewarnt habe. Auch von der Zeit träumte ihr öfter, die sie an der Klinik eines berühmten Professors zugebracht. Der hatte sie dort aufgenommen und zwei Jahre lang behalten, um seinen Schülern das langsame und wechselvolle Fortschreiten jener so seltenen, auf einer Verhärtung des Hautzellgewebes beruhenden Krankheit zu demonstrieren, von der sie ergriffen war. Bei diesen täglichen Untersuchungen und Bloßstellungen ihres jammervollen Leibes hatte sie unsäglich gelitten, bis sie endlich auf ihr flehentliches Bitten in das Asyl der Unheilbaren versetzt wurde. Auch die Hofbauer mit der großen Balggeschwulst am Halse erblickte sie zuweilen. Das gute alte Weib hatte mit ihr die Versorgung verlassen, weil ja dort für die Freundin keines Bleibens mehr war, und beide hatten hierauf in einer feuchten, dunklen Kammer bei einer Taglöhnerfamilie gewohnt und ein grenzenlos kümmerliches Dasein gefristet. Und dann erzählte ihr die Hofbauer, daß sich der Weißeneder wegen schwerer körperlicher Verletzung zu verantworten gehabt habe, aber infolge der Aussage des Zeugen Wufka ganz glimpflich davongekommen sei. Nun lebe er nicht mehr; die Hanfstein aber schleppe sich noch auf Krücken herum. Von alledem träumte der armen Rosi, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief. Von Schirmer aber träumte ihr seltsamerweise nie. Nur ein einziges Mal – sie wußte nicht recht, ob sie schlafe oder wache – war es ihr, als befände sie sich in seinem Hause an der Donaulände. Sie setzte ihm das Essen vor, und er ergriff ihre Hand. Und da durchströmte sie ein so süßes, so wonniges Gefühl, daß sie hätte aufjauchzen mögen vor Glück. Das war aber in der Stunde, wo sie der große Allerbarmer zu sich rief.