99. Kassandra Den 3. Juni 1796. Als Priam, wiederkehrend vom schrecklichen Achilleus, mit der Leiche des Sohnes kam, Als in der Morgenröte Schimmer Ilions Volk ihm entgegen strömte; Ergossen vor den Fluten des Volkes sich, Durch Wahnsinn stark, die Weiber! ihr Jammer scholl Erzürnten Göttern kläglich; Hektor! Rufte die Mutter, und sank in Staub hin. Und angeschmiegt dem göttlichen Helden, lag, Im Jammer göttlich, seine Andromache Auf Hektors Brust; es rang die Hände Helena, bleich nun und nun errötend. Wie vor Gewittern bald in dem Walde laut Die Windsbraut brauset, bald aus dem hangenden Gewölk sich Nacht und Stille senken, Daß nur der Fittich des Uhu rauschet; So tönte bald, daß Pergamos bebte, daß Des Xanthos Nymphen Schrecken ergriff, der Schmerz Des Volkes, bald vernahm der greise König der Einzelnen leises Ächzen. Da sprang Kassandra, schnell wie die Löwin auf Das Reh sich stürzet, aus der Betäubung auf; Dem Vater und dem toten Bruder Wandte den Rücken die hehre Jungfrau. Ihr Haar flog rückwärts hin vor dem Morgenhauch, Es glühten von Begeisterung und Morgenrot Die Wangen, ihre Lippen bebten, Ehe sie sprach, und die Augen flammten! Gerichtet gegen Ilion schaute sie In nahe Zukunft: Ilion! Ilion! Du Braut des Jammers! Ha wie stattlich Prangest einher du im Fackeltanze! Umgürtet mit dem Flammengewande, das Verrat und Tücke heimlich in Kammern lang Schon webten! – Selig, wer im Schlachtfeld Fiel, es beweinte noch frei das Weib ihn! Noch frei die Kinder! – Siehe! dort ziehn einher Die Töchter Trojas! hin vor der Geißel des Erzürnten Treibers, dessen Söhne Hektor erschlug und der Speer Sarpedons! Ihr Jungfraun, hebet! hebet! ihr Jünglinge, Aus blut'gem Staub die Leiche des Königes! Ach Vater Priam! Mutter! Götter Senden aus später Erbarmung Wut dir! Mir frühe Qual, den Blick in die Zukunft! Dir, O Volk, Bethörung! Nicht des Achilleus Speer (Ihn trifft des Paris Pfeil!), nicht Ajas' Speer (denn er stürzet ins eigne Schwert sich!) Nicht Diomedes' Lanze, noch Teukros' Pfeil, Wird dich vertilgen! Volk, es bereiten dir Verrat und Tücke dein Verderben, Und es entfliehn die erzürnten Götter! Es wehn die roten Flammen! es wirbelt sich Der Glut Gespiele, nächtlicher Rauch, empor! Die Fessel klirrt! es schwirrt die Geißel! Jünglinge werden geschleift von Hunden! Sie sprach es, tanzte wie die Mänade dann, Von heil'ger Wut gehoben! Dem Volke schien Sie toll; es wähnte, Morgenröten Schienen ihr Glut; und Verräter lachten. Der Strom der Zeiten rollte Jahrtausende Seitdem, bald rein und still wie der Waldsee, bald Mit trüben, lauten Wogen! niemals Trüber als nun, und noch nie so tosend! Seit sieben Ernten ward in die Zukunft mir Der Blick geöffnet. Aber Kassandra fand Nicht Glauben, ward verlacht! Wohlan denn, Deutsche! verlachet den Enkel Hermanns! Auf daß ihr höret bald – denn ihr achtet's nicht Zu sehn ihr Lächeln! – daß ihr sie höret bald, Die laute Lache der Verräter, Die euch mit gleißendem Zauber täuschen! Die euch verrieten lang, und verkauften lang, Die aus dem Sonnenscheine des Himmels euch Ins Labyrinth der Lehrgebäude Führen, bei wankender Fackeln Glanze; Bis ihres Mordbrands Gluten von Untergang Bis hin zum Aufgang lodern! O sehet doch Noch itzt den gleißenden Verrätern, Seht den Erleuchteten grad ins Auge. Merkt ihr verstocktes Schweigen, wenn Hochverrat Enthüllet wird! wenn Lästerung brüllet! wenn Auf Gottes Altar sich die Metze Stellt! wenn das Blut der Gerechten fließet! Ihr Heuchler! euer Lächeln bethört mich nicht! Verworfne! Abscheu lehret ihr, Furcht mich nicht! Den Frommen mischt ihr Gift, und Häuptern Irrender Völker den süßen Schlaftrunk! Als Vater könnt' ich zagen! – Wie blüht so schön Um mich die lautre Unschuld, wie hoffnungsvoll! – Doch soll nicht zagen, welcher Schalkheit Rüget, und rein ist, und Gott vertrauet!