Geschwisterblut 1. Sie saßen sich genüber bang Und sahen sich an in Schmerzen; Oh, lägen sie in tiefster Gruft Und lägen Herz an Herzen! – Sie sprach: »Daß wir beisammen sind, Mein Bruder, will nicht taugen!« Er sah ihr in die Augen tief: »O süße Schwesteraugen!« Sie faßte flehend seine Hand Und rief: »O denk der Sünde!« Er sprach: »O süßes Schwesterblut, Was läufst du so geschwinde!« Er zog die schmalen Fingerlein An seinen Mund zur Stelle; Sie rief: »Oh, hilf mir, Herre Christ, Er zieht mich nach der Hölle!« Der Bruder hielt ihr zu den Mund; Er rief nach seinen Knappen. Nun rüsteten sie Reisezeug, Nun zäumten sie die Rappen. Er sprach: »Daß ich dein Bruder sei, Nicht länger will ich's tragen; Nicht länger will ich drum im Grab Vater und Mutter verklagen. Zu lösen vermag der Papst Urban, Er mag uns lösen und binden! Und säß er an Sankt Peters Hand, Den Brautring muß ich finden.« Er ritt dahin; die Träne rann Von ihrem Angesichte; Der Stuhl, wo er gesessen, stand Im Abendsonnenlichte. Sie stieg hinab durch Hof und Hall' Zu der Kapelle Stufen: »Weh mir, ich hör im Grabe tief Vater und Mutter rufen!« Sie stieg hinauf ins Kämmerlein; Das stand in Dämmernissen. Ach, nächtens schlug die Nachtigall; Da saß sie wach im Kissen. Da fuhr ihr Herz dem Liebsten nach Allüberall auf Erden; Sie streckte weit die Arme aus: »Unselig muß ich werden!«