Die sechsunddreißigste Fabel. Von einem Hirsch. Es kam ein hirsch zum lautern brunnen; Darin so schein die helle sonne. Der hirsch besah all seine glieder Von hörnern biß zun füßen nider, Wie er über all geschicket was, Vil baß denn in eim spiegelglas. Sein leib daucht in ganz wol geschickt, Daß ers mit freud im brunn anblickt; Die hörner aber hielt er fürs best, Die waren zacket wie tannenäst; Die schenkel aber wolt er nicht han, Sie warn zu dürr und vil zu ran. Dieweil der hirsch sich selbs visiert Und in dem brunnen contempliert, Da blies der jäger in sein horn: Von stund die hund hinder im warn. Der hirsch sah umb on alls gefer; Als er der hunde ward gewar, Der hirsch ganz eilend laufen tet, Wie ein pfeil fleuht, wie der wind wet. Zum grünen walde war im gach: Der jäger stellt im emsig nach; Wolt laufen durch ein dicke hecken; Daselben blieb der hirsch bestecken, Bei seinen hörnern da behangen; Vom jäger ward er bald gefangen. Da sprach der hirsch: »Ich hab geirrt, Da ich beim brunnen disputiert, Da ich mein schenkel tet verachten, Die mich aus allen nöten brachten, Mein hörner vor das best tet preisen, Die mir groß untreu jetzt beweisen.« Was schedlich ist, das wölln wir han, Was aber nutzt, stet uns nicht an. All menschen begern ein rusam leben, E sie versten, wers in kan geben. Nach gelt und gut laufen tag und nacht, Meinen, wenns vil zusamen bracht, Vil mü und sorg sich han erwegen, Daß denn darinne sei gelegen, Zu leben seliglich mit rüe, So doch darin vil angst und müe; Welchs Flaccus uns anzeiget schon In einem kurzen sapphicon Und sagt: »Die großen hohen tannen Mit sturm der wind tut weidlich zannen. Je höher die türn gebauet werden, Je größern fall bringens zur erden. Der Donder trifft die hohen berg.« Man schlecht den risen vor das zwerg. Gemeinlich falln die hohen klimmer; So ertrinken gern die guten schwimmer.