Die sechste Fabel. Von dem Wolf und Kranche. Der alt wolf het ein schaf zubißen, Vor großem hunger gar zerrißen; Er schlang es auf bei groben flecken; Im blieb ein bein im hals bestecken. Er lief umbher bei alle tier Und sprach: »Komt doch, zu helfen mir!« Da war niemand, der helfen wolt; Sprachen: »Es ist der sünde schult, Daß jetzt an im gestrafet werd, Was er gesündigt an der herd. Wir gönnen im des unglücks wol: Der wolf ist aller bosheit voll.« Er kam zum kranchen, bat in ser: »Durch dich mir wol zu helfen wer, Daß du mit deinem schnabel lank An mir begen möchtst großen dank. Des wolt ich dich genießen lon, Davor ein erlich gschenke ton.« Der kranch ließ sich bereden das; Sein schnabel stieß er im in fraß Und zohe im bald heraus das bein: Da ward dem wolf der rachen rein. Der kranch fordert vom wolf den lon, Daß er im solchen dienst het ton. Der wolf den kranchen da belacht Und sprach: »Bistu so unbedacht, Daß du jetzt forderst lon von mir? Dein eigen leben schenk ich dir, Welchs ich dir kurz het mögen machen, Da du mirn kopf stießest in rachen. Du soltst mir billich gelt zugeben, Daß ich dich jetzt hab laßen leben.« In disem wolf wird uns vermelt Die groß undankbarkeit der welt, Die jetzt so hoch und übermacht. Von anbegin der welt, ich acht, Daß nie so groß gewesen sei Undankbarkeit und triegerei. Wenn jetzt zum andern komt ein man, Umb hülf rüft in in nöten an, So laßen sich zu hand die frommen Bereden und zu hülfe kommen; Und wenn im denn geholfen ist, So zalt er in mit böser list, Hilft er im auf, er stößt in nider, Ert er in, er schendt in wider; Und da man sichs gar nicht versicht, Daselbs es im am ersten gschicht. Kein beßer kraut für disen feil, Denn daß man mit gedult mach heil. Wer gdult zu rechten zeiten bricht, Ob in denn schon der undank sticht, Der neidhart heftig auf in reit, Macht in gedult als unfals queit.